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David K. Freund Der Schlüsselknecht Ein „Tatsachen“-Roman David K. Freund Der Schlüsselknecht Ein «Tatsachen»-Roman 2. Auflage 2014 Buchgestaltung: edition salzlicht Gesamtherstellung: edition salzlicht, 4435 Niederdorf Druck: CPI buchbücher.de GmbH © 2014 edition salzlicht (www.salzlicht.org) © Titelfoto & Grafiken: Kurt Schenker Gedruckt auf FSC-zertifiziertem Papier Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotografischen, audiovisuellen und digitalen Wiedergabe, der elektronischen Erfassung sowie der Übersetzung bleiben der edition salzlicht vorbehalten und bedürfen der schriftlichen Zustimmung. Verlagsinterne Buchnummer 9523624-X1 Über das Buch Der Autor hat diese Geschichte unter einem anderen Namen verfasst. Soweit es die Namen der Personen im Altersheim betrifft, sind sie frei erfunden. Übereinstimmungen mit lebenden Personen wären rein zufällig. Zutreffend aber ist, dass er selber viele Jahre als Aufseher in einem U-Haft-Gefängnis tätig war. Er weiss also, wovon und worüber er schreibt, wenn er versucht, wie hier die Fortentwicklung einer Gesellschaft zu erklären. Es geht ihm aber nicht darum, Menschen, Institutionen oder Taten zu verunglimpfen. Im Wissen, selber nicht vollkommen zu sein, geht es dem Autor nur darum, aufzurütteln. Es ist ihm ein Anliegen, dass interessierte Leser ,die guten Willens‘ sind, sich mit dem Gelesenen auseinandersetzen können. Die engagierte Diskussion der alten Herren im Altersheim Sunnebode ist eine Möglichkeit dazu. Im Dezember 2011 David K. Freund Der Schlüsselknecht Draussen ist es regnerisch, windig und unangenehm kühl. Ich schaue aus dem grossen Fenster und sehe immer mehr dunkle Regenwolken vorbeiziehen. Dicke Wassertropfen beginnen auf den Fenstersims zu prasseln. Ein richtiger Apriltag, wie im Bauernkalender. Ich lehne mich zufrieden zurück und bin froh, dass ich in der gemütlichen Cafeteria sitzen kann. Jawohl, zufrieden ist das richtige Wort. Hier im Altersheim „Sonnenboden“ bin ich seit zwei Jahren zu Hause. Ich heisse Bruno Rauber und bin Junggeselle. Als ich noch im Arbeitsleben stand, hatte ich eine kleine Reinigungsfirma. Wie alle Pensionäre hier, sage ich einfach Sunnebode zu meinem neuen Wohnsitz. Ich liebe den heimeligen Platz in der Cafeteria, besonders bei diesem Wetter. Wenn es mir möglich ist, sitze ich jeden Tag hier – aber nicht ohne mein Kreuzworträtsel. Ich bin ein grosser Rätselfan. Die Sucherei nach den richtigen Wörtern macht mir Spass und ist erst noch ein gutes Training für mein Gedächtnis. Um ehrlich zu sein: Ich habe dieses Training weiss Gott nötig. Heute ist wieder so ein Trainingstag. „Aha, da ist noch eine Lücke im Rätsel – Grautier mit vier Buchstaben“, murmle ich vor mich hin. „Der erste Buchstabe ein E, drei fehlen noch. Na ja, schwierig ist das gerade nicht für einen alten Rätselfuchs. Esel, natürlich. Also …, E-S-E-L“, buchstabiere ich und schreibe mit dem Bleistift die gewünschten Buchstaben in die leeren Felder. „Na, wer kommt denn da die Treppe runter?“, entschlüpft mir spontan die Bemerkung. „Der Herr Rechtsteiner.“ Moritz Rechtsteiner, ein ehemaliger Anwalt. Er ist verwitwet. Seine Frau starb vor acht Jahren an einer heimtückischen Krebserkrankung ... Moritz kommt meistens zu Fuss vom dritten Stock in die Cafeteria. Er nimmt nie – fast nie – den Lift, um fit zu bleiben. Jetzt hat er mich entdeckt. Immer noch mit einer guten Körperhaltung gesegnet, kommt der sympathische, gutangezogene Herr auf mich zu. Ein Gentleman durch und durch. Rundum begrüsst er die anderen Bewohner in der Cafeteria. Mit einer leichten Kopfverbeugung versprüht er seinen Charme in die Richtung der vier jassenden Pensionärinnen, die am Tisch in der Ecke beim Aquarium sitzen. Die Damen lächeln verlegen zurück und fühlen sich geschmeichelt. Es ist deutlich zu sehen – und ich gönne ihnen die kleine Freude. Eine der Jasserinnen senkt sogar schüchtern den Blick und stochert in ihrem Stück Schwarzwälder Kirschtorte herum. „Hallo, Senkrecht, auch wieder hier! Hast du das Rätsel im Griff?“ So begrüsst mich Moritz Rechtsteiner grinsend und setzt sich zu mir an den Tisch. „Sicher habe ich das Rätsel im Griff“, kontere ich und spiele den Beleidigten. „Ich bin doch inzwischen ein Rätselgenie geworden; weisst du das noch nicht?“ „Apropos Genie“, meint Moritz. „Wo ist eigentlich der dritte Mann im Bunde?“, fragt er und schaut sich suchend in der Cafeteria um. „Macht er noch sein Mittagschläfchen?“ „Vielleicht“, erwidere ich. „Wie spät ist es denn?“ „Mit dem letzten Ton ist es genau vierzehn Uhr, bip!“ parodiert Moritz die Radio-Zeitansage aus längst vergangenen Tagen. „Dann wird er jeden Augenblick hier auftauchen. Er ist pünktlich. Nach ihm kannst du deine Uhr richten“, sage ich voller Überzeugung. „Und er wird mit dem Lift kommen“, füge ich noch hinzu. „Er hat im Moment ein Problem mit dem linken Knie.“ „So, so ... Ein Problem mit dem Knie? Tatsächlich, der Lift läuft“, stellt Moritz fest. „Mal sehen ob du recht hast, Senkrecht?“ „Ich heisse Bruno, Bruno Rauber, mein Lieber, wenn ich bitten darf“, korrigiere ich Moritz. Senkrecht ist eine seiner witzigen Anspielungen auf meine Kreuzworträtsel-Leidenschaft. „Natürlich, sorry, Bruno“, meint er entschuldigend... „Schau mal einer an, du hast recht, Bruno. Unser Freund ist wirklich pünktlich. Er kommt! Ich erkenne ihn sogar durch die Glastür.“ Die Lifttüre wird aufgestossen und unser dritter Mann betritt die Cafeteria ... Fredy Stark, wie er leibt und lebt, kurvt leicht hinkend um ein paar schlicht dekorierte Tische in der Cafeteria und gesellt sich lächelnd zu uns. „Jetzt ist die Altherren-Runde vollständig“, meint Moritz zufrie- den. Wir drei sind alle um die Achtzig. Fredy und Moritz knapp darüber und ich bin ihnen mit Jahren hart auf den Fersen ... Fredy ist verheiratet und wohnt mit seiner Frau Helen hier im Hause. Helen ist heute abkommandiert. Sie ist mit anderen Pensionärinnen zusammen. Die Frauen bereiten im Mehrzweckraum den Basar vom kommenden Herbst vor. – Fredy Stark hat seinen Namen übrigens zu Recht. Er ist auch im Alter noch eine sportliche Erscheinung, obwohl ihm mit den Jahren ein Bäuchlein gewachsen ist. In jungen Jahren muss er recht muskulös gewesen sein ... und erst noch Amateur-Meister im Boxen, wie er uns nicht ohne Stolz erzählte. „Seid gegrüsst, Gentlemen!“, sagt der sichtlich ausgeruhte und gut aufgelegte Fredy. „Salü, Fredy“, begrüsst ihn Moritz. „Hallo, Schlüsselknecht“, sage ich. Den Spitznamen Schlüsselknecht hat Fredy übrigens seinem ehemaligen Beruf zu verdanken – also nicht uns. Er war viele Jahre Aufseher in einem U-Haft-Gefängnis. „Schon gut, Bruno, schon gut“, erwidert er. „Schlüsselknecht ist doch ein schöner Name, oder nicht? Ich habe euch ja erklärt, dass es die alte Garde der professionellen Knastis war, die uns damals mit diesem ,Kosenamen‘ beehrte. Schuld daran waren also Einbrecher, Betrüger, Drogenhändler und Drögeler, die zu meiner Zeit mit der Präzision einer Schweizeruhr immer wieder in irgendeinem Gefängnis gelandet sind.“ „Richtig, Fredy. Das ist mir bekannt“, erklärt unser kluger Anwalt. „Soviel ich weiss, haben euch die Ganoven diesen Ruf – Knechte des Staates zu sein – darum verpasst, weil ihr sie in ihren Augen als unschuldige, brave Bürger eingesperrt habt.“ „So, so ..., unschuldige, brave Bürger“, motze ich dazwischen. „Dass ich nicht lache. Unschuldige Bürger, das hat gerade noch gefehlt.“ „Übrigens, wie geht es deinem Knie, Fredy? Ich habe den Eindruck, dass du noch hinkst.“ „Gut beobachtet, lieber Bruno. Ich habe tatsächlich ein wenig Schmerzen“, bestätigt er. „Es sind Abnützungserscheinungen, die sich auf die alten Tage bemerkbar machen. Arthrose, meint der Hausarzt ... Das Öffnen und Schliessen der schweren Zellentüren während meiner Jahre als Schlüsselknecht haben bei mir ihre Spuren hinterlassen. Aber das liebe Pflegepersonal hier im Hause versorgt mich zuverlässig mit Tabletten, mit vom Hausarzt verschriebenen selbstverständlich. So unterstütze ich alter Knabe die Pharmaindustrie zur Freude ihrer händereibenden Manager, besser gesagt, ihrer Bonus-Bezüger.“ „Bonus ist gut!“ wiederholen wir beide beinahe gleichzeitig und lachen laut heraus. Wir verstehen nur zu gut, was Fredy damit sagen will. „Ich höre immer Bonus“, nimmt Moritz den Faden auf. „Du spielst auf die leidigen Bonusgeschichten über die Manager an, mit denen uns die Medienschaffenden in den letzten Jahren beinahe täglich beglücken, stimmt’s?“ „Ja, natürlich stimmt es!“, bestätigt Fredy. „Gönnst du den Bankbossen, den Chemiebossen und den anderen ,Unterbezahlten‘ die kleine Lohnaufbesserung nicht, hä?“, mische ich mich ein. „Was heisst hier nicht gönnen, Bruno? Ich bin einfach der Meinung, dass jeder arbeitende Mensch seinen Lohn wert sein sollte – mit der Betonung auf arbeitend ... Aber soo geht das nicht. Was sich einige dieser Manager erlauben ist unanständig, ja, charakterlos. Wie die dicke Luft zurzeit im Lande beweist, bin ich nicht der Einzige, der so denkt. Ich glaube eben nicht, dass diese Herren, die den Rücken nie krumm machen müssen und nicht einmal Schwielen an den Händen bekommen, so viel mehr wert sind ... Basta!“ „Absolut richtig, Fredy“, schaltet sich Moritz ein. „Selbst dann, wenn sie verantwortungsvolle Kopfarbeit leisten, rechtfertigt das die riesigen Gehälter plus Boni nicht. Das ist nichts anderes als unverschämter Egoismus! Den selbstverständlichen Anspruch auf hohe Löhne und immer höhere Boni, den diese Herren stellen, ist für mich schlicht unverständlich. Darüber kann ich nur den Kopf schütteln ... Was meinst du dazu, Bruno?“ „Tja, das sehe ich genauso. Ausserdem gibt mir ihr Abzockerverhalten auch der sozialen Verantwortung unserer Gesellschaft gegenüber zu denken – sehr sogar. Mit dieser Mentalität, sich derart Geld unter den Nagel zu reissen, erinnern mich diese Finanz-Egomanen spontan an Dagobert Duck aus den Disney-Comics. Der schrullige, geizige Onkel Dagobert thront bekanntlich auch immer zuoberst auf seinem Geldhaufen und kontrolliert mit gierigem Blick den Pegelstand seines gelagerten Reichtums.“ „Ich kenne die Comics, Bruno“, sagt Fredy lachend. „Als Junge habe ich eine Menge von diesen Heftchen gelesen – jedenfalls lieber als die Geschichten über Banken, Versicherungen und ihren Managern von heute.“ Moritz lehnt sich leicht im Stuhl zurück und bestellt bei Frau Fröhlich drei Café crème, als sie gerade bei uns am Tisch vorbeikommt. „Diese Frau ist die gute Fee in unserer Cafeteria“, meint er respektvoll. „Ein echter Sonnenschein im Sunnebode!“ Wenig später ist sie bei uns am Tisch, stellt die Cafés hin und meint, freundlich wie immer: „Dreimal Café crème für die Herren. Zur Stärkung bei der heissen Diskussion.“ „Danke, Frau Fröhlich, für den Café, den können wir gebrauchen ... Und das sage ich Ihnen: Wenn wir drei diskutieren, heben wir die Welt aus den Angeln, dann sind wir dankbar für jede Stärkung.“ „Sie sind ein Spassvogel, Herr Rechtsteiner!“, meint sie scherzend und geht an einen Nebentisch. Dort hat Frau Monaco – die kleine, nervöse Italienerin – ihren Kaffee verschüttet. Die nette Signora ist untröstlich darüber. Sie beruhigt sich erst wieder, als ihr Frau Fröhlich verständnisvoll beisteht. „Apropos, Bruno. Hast du vorhin in deinem jugendlichen Übermut nicht etwas von sozialer Verantwortung gesagt?“, hakt Fredy wieder bei unserem Thema ein. „Ja …, das habe ich.“ „Sehr gut, sehr gut“, sagt Fredy bestimmt. „Dann erinnere ich euch zwei bei dieser Gelegenheit an den September , als das UBS-Debakel in den USA seinen Anfang nahm. Dort, im Lande der unbegrenzten Möglichkeiten, kam unverhofft ein Stein ins Rollen. – Ein riesiger Brocken – der das globale Finanzsystem in die Knie zwang. Losgetreten wurde das Desaster von verantwortungslosen Bankern.“ „Und wie der Stein rollte“, ereifert sich Moritz. „Tatsächlich unbegrenzt! Rund um die ganze Welt zog er seine Spur ... Zuerst in den USA, dann in Europa und letztlich bei uns in der Schweiz. Was dann in der Folge bei der UBS und bei anderen Banken ans Licht gekommen ist, demontierte bei mir jegliches Vertrauen in diese ,heiligen Kühe‘ und ihre Hirten. Das traurige Resultat dieses weltweiten ,Money‘-Tsunami war dann eine schnell eintretende Finanzund Wirtschaftskrise, mit anschliessendem, dramatischem Bankenund Arbeitsplatzsterben.“ „Ja, ja …, und wie die Arbeitsplätze purzelten – zu tausenden“, klage ich verärgert. „Millionen Jobs gingen verloren und Billionenwerte wurden vernichtet. Das angerichtete, elende Desaster zeigte unmissverständlich auf, wohin masslose Geldgier und extremes Gewinnstreben führen kann. Selbst coole Banker und risikofreudige Aktionäre bekamen Angstschweiss auf der Stirn und verschwitzte Hemden unter der feinen Krawatte. Ganz zu schweigen von den vielen betrogenen Anlegern und Kleinsparern, die wegen der Arroganz und dem Grössenwahn dieser Geldhaie ihre Existenzgrundlage verloren hatten.“ „Genau, Bruno. Da dürfte selbst für den spleenigen Dagobert Duck der Spass aufhören. Mit Sicherheit würde er unruhig auf seinem Entenhintern hin und her rutschen“, meint Moritz witzig. „Spass beiseite! Die ganze Sache – ich meine die risikoreiche Hypotheken- und Aktienjongliererei damals – war eine Sauerei – und die Folgen davon erst recht. Sie verursachte nur böses Blut in unserer Gesellschaft. Doch daraufhin ist die verschlafene ,Helvetia‘ wenigstens erwacht und wehrt sich endlich gegen die Machenschaften, die unser Land zu einer Bananenrepublik verkommen lassen.“ „Gut so, gut so, sage ich euch!“, posaunt Fredy hinaus. „Das soll doch immerhin ein paar verantwortliche Banker dazu veranlasst haben, um die siebzig Millionen Franken von ihrem unverschämt eingestrichenen Geld zurückzuzahlen.“ „Jaja, Fredy ... ja! Wenn es stimmt, ist es ein Tropfen auf einen heissen Stein, aber immerhin etwas“, meint Moritz. „Nur, das egoistische Verhalten einiger Top-Manager ärgert mich bis heute noch, weil sie nicht vom hohen Ross heruntersteigen wollen. Nach meiner Meinung haben diese Herren den Ernst der Lage nicht begriffen, damals nicht – und heute nicht.“ „Vielleicht wollen sie es nicht begreifen“, füge ich hinzu. „So eine Menge Geld, die diese Herren abzocken konnten – und noch können – kann schon begriffsstutzig machen.“ „Auf jeden Fall“, fährt Moritz weiter. „Das beweist allein schon die Tatsache, dass es immer noch Bank-Frontmänner – und auch Politiker – gibt, die sich nach wie vor vehement für eine nach oben offene Lohn- und Bonusskala einsetzen, obwohl der Schleuderkurs der UBS noch nicht abzusehen ist. Den Starrepräsentanten in dieser Branche ist es eben nicht ganz klar, dass nur Staatshilfe – sprich Geld vom Volk – das Schlimmste verhindern konnte.“ „Ein wahres Wort mutig ausgesprochen, Moritz“, sagt Fredy. „Jetzt bleibt uns nur die Hoffnung, dass die Herren Manager, die heute aktiv sind – und das nicht nur bei der UBS – für die Zukunft etwas gelernt haben.“ „Vergiss es, Fredy! Selbst wenn die UBS wieder aus dem Schneider ist und die Lobhudelei für ihre sogenannten Retter beginnt, werden sie schnell vergessen, wie nah sie, und die ganze Gesellschaft, am totalen Crash vorbeigeschlittert sind. – Übrigens: Neuerdings wird man schon wieder mutig. Laut Medienberichten im August 2010 butterte die UBS fünfzig Millionen in den Formel- -Rennsport. Eine saubere Sache. ,Brom…Brom…Brom‘, sagte der kleine Ösi und schiebt das Rennautöli an den Start.“ „Eben, eben, und das Ganze immer mit dem Geld anderer!“, rufe ich dazwischen. „Natürlich, Bruno, es ist immer das Geld der anderen, mit dem die entstandenen Löcher gestopft werden müssen“, argumentiert Fredy spitzfindig. „Wie immer kommt in so einem Fall, wie in der aktuellen Finanzkrise, postwendend das Gerede auf den Tisch, die Renten der Pensionäre und der AHV-Bezüger zu kürzen. Obwohl im gleichen Atemzug zehn Milliarden für den IWF locker gemacht wurden. Meine Güte, Kollegen…, Milliarden als Kredit für den Währungsfond, um die Weltkonjunktur anzuschieben. – So viel Geld zum Anschieben. Da müsste doch für das eigene Land auch noch etwas zum Schieben vorhanden sein … für die AHV / IV zum Beispiel.“ „Du sagst es, Fredy –, aber da bin ich eher misstrauisch was deine vorhin erwähnte Hoffnung betrifft“, bemerkt Moritz nachdenklich. „Den Beweis, dass die Herren Bank-Manager wirklich etwas gelernt haben, müssen sie erst noch erbringen. Denn so schnell und widerstandslos lassen die Absahner ihre einträglichen Felle nicht davon schwimmen. Darauf kannst du Gift nehmen.“ „Na ja, Gift nehme ich deswegen nicht, einen Schluck Kaffee schon“, erwidert Fredy. Dabei verzieht er den Mund und brummt: „Bäh, der ist kalt geworden.“ „Kürzlich habe ich in diesem Zusammenhang etwas Interessantes gelesen“, fährt er weiter: „Die Sonntags-Zeitung schrieb im September 2009 unter dem Titel: „Das üble Duzend – Ein Jahr LehmanPleite!“, einen vielsagenden Artikel.1 Dabei waren diejenigen Persönlichkeiten abgebildet, die mit ihrem Grössenwahn, ihrer Geldgier und ihren Fehleinschätzungen die Welt in die aktuelle Finanzkrise getrieben hatten ... Nur, sehr einsichtig oder sogar schuldbewusst sind mir die ,Gentlemänner‘ im Bericht nicht vorgekommen. Wieso auch, ihnen – oder sage ich besser den meisten von ihnen – passiert ja nichts! Und das zeigt mir einmal mehr, wie ungerecht es in dieser Welt zugeht.“ „Den unerfreulichen Artikel habe ich auch gelesen, Fredy“, bestätigt Moritz. „Dabei kommt mir ein bekanntes Sprichwort in den Sinn. Ich traue es kaum zu sagen – als ehemaliger Anwalt.“ „Und wie heisst das Sprichwort, Herr Rechtsanwalt? – Nur keine falschen Hemmungen!“ „Es heisst: ,Die Grossen lässt man laufen – die Kleinen hängt man auf!‘“ „Das ist nicht neu, aber treffend, Moritz“, sagt Fredy. „Und leider nur zu wahr, aber nicht erst seit heute und nicht nur im Zusammenhang mit Banken. Als Schlüsselknecht kann ich mich gut an die sogenannten ,Kleinen‘ im Gefängnis erinnern. Ein Beispiel gefällig: Da liess sich einer – dummerweise muss man fast dazu sagen –, beim Klauen von Jeans und T-Shirts in einem Warenhaus erwischen. Dafür handelte er sich mehrere Wochen Untersuchungshaft ein. Er, der kleine Fisch, musste in den Knast. Die grossen Fische dagegen, die bekanntermassen wesentlich mehr Schaden anrichten, nicht! Fehlen- de moralische Verantwortung ist eben kein Haftgrund, im Gegenteil, sie wurden – wie im Fall der Finanzkrise – für den angerichteten Schlamassel noch mit Millionen belohnt.“ „Ja, super …, und das erst noch rückwirkend!“ „Genau, Bruno. Da staunt der Laie und der Fachmann wundert sich“, meint Moritz etwas rhetorisch. „Nur, ich denke, diese ,Fachmänner‘ wundern sich überhaupt nicht – die freuen sich, denn sie wissen genau, wie der Karren läuft und wie man sich diese Freude erhalten kann.“ „Liebe Kollegen im Sunnebode!“, meldet sich Fredy feierlich zu Wort. „Vergessen wir nicht, dass uns nicht nur Manager mit dem Bonusgestürm nervten ... auch Politiker und Politikerinnen hatten in dieser Zeit die Bodenhaftung verloren. Ich denke spontan an die Abwahl von einem bekannten Bundesrat. Es muss im Dezember gewesen sein, wenn ich mich recht erinnere. Bei dieser kampfbetonten Bundesratswahl schien einigen Parlamentariern und Parlamentarierinnen die viel zitierte Toleranz – die sie immer vom politischen Gegner verlangen – abhandengekommen zu sein. Genauso der Anstand, der auch auf der Strecke geblieben ist. Ich habe seine Gegner jetzt noch vor Augen, wie sie von ihren Sitzen aufgesprungen sind, sich heftig umarmten und schadenfreudig jubelten, als das Resultat seiner Abwahl bekannt wurde. Gemeine Szenen spielten sich damals ab.“ „Recht hast du, Fredy! Ich erinnere mich auch noch an das Theater“, bestätigt Moritz. „Bei diesem Politspielchen vergassen scheinbar einige Volksvertreter und Volksvertreterinnen den Vorbildcharakter, den sie vor allem den jungen Menschen gegenüber haben sollten. Es war nicht erfreulich, sehen zu müssen, wie sich das berühmte Kollegialsystem im Bundeshaus aufführte … und dabei im Begriff ist, immer mehr zu einem System ohne Kollegen zu werden.“ „Allerdings, Moritz“, bestätige ich. „Ich habe die Übertragung damals auch gesehen und bin darum überzeugt, dass solche ,Parteispielchen‘ unter der Bundeshauskuppel, egal gegen wen sie inszeniert werden, Folgen haben – so oder so. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass das Vertrauen in unsere Regierung beim Volk immer mehr am Schwinden ist. Wie heisst es doch so schön: ,Der Krug geht zum Brunnen bis er bricht!‘ Das ist eine alte Weisheit, die sich im Bundeshaus in Bern alle merken sollten, egal ob von links oder von rechts. Nebenbei bemerkt: Ich bin sowieso der Meinung, dass in unserer Gesellschaft die Tugenden Toleranz und Anstand auf dem Misthaufen langjähriger, antiautoritärer Erziehung verloren gegangen sind.“ „Hört, hört, unsere beiden Philosophen haben gesprochen!“, frotzelt Fredy an unsere Adresse gerichtet. „Aber es stimmt, ihr habt recht ... Das war übrigens ein Grund dafür, dass viele junge Menschen, mit denen ich vor Jahren im Gefängnis zu tun hatte, nicht mehr wussten, was recht oder falsch, gut oder böse ist ... Woher denn auch? Von der antiautoritären Erziehung vielleicht? Sicher nicht! Nimm bei einer Autobahn die Leitplanken weg, und du musst nicht lange auf die ersten Blechschäden warten. Genau dieses Problem haben die jungen Menschen von heute, sie haben keine Leitplanken mehr, dafür umso mehr den Schaden. Mangelhafte oder vernachlässigte Erziehung hat eben ihren Preis. – Dazu kommt, dass Anstand und Rücksichtnahme gegenüber den Mitmenschen längst der Ansicht einer falsch verstandenen Toleranz zum Opfer gefallen sind.“ „Auch das stimmt haargenau, Fredy!“, bestätige ich. „Und ich weiss, wovon ich rede!“ „So, so, du weisst, wovon du sprichst, wie meinst du das?“, will Moritz, neugierig geworden, wissen. „Ja … nur so“, gebe ich ihm zur Antwort – und gehe nicht weiter auf seine Frage ein. „Auf jeden Fall ist es kein Zufall, dass zum Beispiel die Gewaltbereitschaft bei den Jugendlichen in den letzten Jahren in beängstigender Weise zugenommen hat. – Das ist dir sicher auch aufgefallen, Moritz? Und dir Fredy, denke ich, auch!“ „Natürlich, Bruno ... Schon in meinen Jahren als Schlüsselknecht stellte ich das tatsächlich fest. Praktisch von Jahr zu Jahr hatten Tötungsdelikte, Gewaltverbrechen und Sexualverbrechen zugenommen. Der stete Zerfall der Moral in unserer Gesellschaft und die Einwanderungswelle von Menschen aus anderen Kulturen, mit unterschiedlichsten Lebensgewohnheiten und Rechtsansichten, trugen ebenfalls dazu bei. Auffallend neu und ungewohnt für uns waren die Ehrenmorde mit islamischem Hintergrund.“ „Leider muss ich euch aufgrund der geschilderten Tatsachen recht geben“, meldet sich unser kluger Anwalt a.D. zu Wort. „Nur, macht ihr euch die Sache nicht zu einfach, wenn ihr die Zunahme der Kriminalität und die Gewaltbereitschaft Jugendlicher der antiautoritären Erziehung oder sogar der Zugehörigkeit zu einer anderen Kultur zuschreibt?“ „Das hast du aber schön gesagt, Moritz“ sagt Fredy grinsend. „Aber, wir machen uns gar nichts zu einfach. Zu dieser Erziehungsproblematik – und ich meine damit Anstand, Toleranz und Respekt – hatten die alten Denker und Philosophen wie Feuerbach, Marx, Nietzsche und andere, nachhaltige, aber nicht unbedingt glückliche Vorarbeit geleistet. Übrigens Kollegen, auch der berühmte Biologe Charles Darwin trug mit seiner Evolutionstheorie erheblich zu der heutigen Orientierungslosigkeit in dieser Sache bei. Im Kielwasser dieser einflussreichen Aufklärer haben die 68er-Reformer gründlich dafür gesorgt, dass unsere Gesellschaft von angeblich hinderlichen – sprich christlichen – Zöpfen und Zwängen befreit wurde. Im Gegenzug wurde dafür bedenkenlos dem antiautoritären Geist Tür und Tor geöffnet.“ „Eine schöne Befreiung ist das, tatsächlich“, kritisiere ich. „Vor allem wenn ich die Zeitungen aufschlage oder in den Fernsehnachrichten sehe, was in der Welt so an Befreiendem abgeht. Da komme ich aus dem Staunen nicht heraus. Gemeinheiten, Bosheiten und Verbrechen zuhauf.“ „Tja, lieber Bruno, da sehen wir jetzt die Folgen, und wohin uns die Ratschläge der meisten atheistischen Denker gebracht haben: auf einen mächtig übersteigerten Egotrip. Die Auswirkungen des masslosen Ichs durch zelebrierte Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung bis hin zur Selbsterlösung erleben wir tagtäglich. Eines ist mir bei meinem Job im Gefängnis deutlich klar geworden: Ohne die Einsicht, vernünftige Autorität zu akzeptieren und sittliche Richtlinien ebenso vernünftig anzuwenden, endet jede Gesellschaft in Anarchie und Chaos!“ „Hoppla! Pass auf Bruno, jetzt kommt’s“, spottet Moritz. „Unser Fredy kommt wieder zu seinem Lieblingsthema – der antiautoritären Erziehung. Sorry, Fredy, wenn ich das so sage, aber für dich scheint sie der Grund für alle Übel in unserer Gesellschaft zu sein.“ „Ja, sicher! – allerdings nicht für alle Übel, aber doch für viele“, erwidert Fredy standhaft. „Lieber Moritz“, kontert er. „Ich verspüre bei dir einen kritischen Unterton, wenn ich dieses Thema anschneide; stimmt das oder täusche ich mich?“ „Nein, du täuschst dich nicht!“ „Umso besser, Moritz. Trotzdem behaupte ich, dass die antiautoritäre Erziehung mehr Unheil angerichtet hat, als viele wahrhaben wollen. Ich meine, das Wort an sich beweist doch schon einiges. Laut dem ,Knauers Lexikon‘ heisst ,anti‘ im Griechischen ,gegen‘ oder ,wider‘. So meint ,antiautoritär‘ eigentlich nichts anderes als gegen Autorität sein oder noch deutlicher ausgedrückt, Autorität ablehnen. Und genau diese Anti-Haltung, die so charakteristisch ist, ist mir bei der jüngeren Generation von Männern und Frauen aufgefallen, die als Insassen ins Gefängnis gekommen sind.“ „Schön und gut Schlüsselknecht, schön und gut“, antwortet Moritz leicht gereizt: „Nobody is perfect!“ „Richtig, Moritz: ,Nobody is perfect‘, da gebe ich dir auch recht. Aber ich sehe das genauso wie Fredy. Auflehnung und Widerstand gegen Anordnungen und Vorschriften sind heute mehr oder weniger normal. Ebenso das raffinierte Umgehen von Gesetzen ... Das selbstherrliche Ego ist das Mass aller Dinge – sprich Undinge – geworden.“ „Ja, ja – zwei gegen einen!“, wehrt sich Moritz theatralisch. „Diese Attacke gegen meine Person kann ich nur mit einem Bierchen verkraften. Ich habe Durst! Und ihr, macht ihr mit?“ „Natürlich machen wir mit!“ „Ein Bierchen in Ehren, kann uns niemand verwehren…“, gibt Fredy belustigt von sich. Frau Fröhlich sieht die aufgestreckte Hand von Moritz, um auf sich aufmerksam zu machen, und kommt zu uns an den Tisch. „Haben die Herren einen Wunsch?“ „Ja, das haben wir, Frau Fröhlich. Und Sie können uns wunschlos glücklich machen“, sagt der alter Charmeur. „So, so … Kann ich das, Herr Rechtsteiner? Dann nehme ich an, dass ich mit drei Flaschen Bier richtig liege?“ „Und wie Sie richtig liegen, Frau Fröhlich. Sie kennen ihre alten Pappenheimer. Das müssen wir ihnen lassen.“ „Ja, sicher kenne ich meine Pappenheimer“, erwidert sie. Lachend geht sie zum Büfett, wo sie die Bierflaschen holt. Kurze Zeit später prosten wir einander zu und tauchen die trockenen Lippen in die kühle Schaumkrone, die wie eine weisse Wolke langsam vom Bierglas tropft. „Zum Wohl!“, meint Bruno. „Wie sagt der Zahnarzt immer? Bitte spülen! … Also Kollegen, spülen wir die ,Sache‘ runter!“ Nach einem kräftigen Schluck wischen wir uns, wie es sich für ältere Herren gehört, mit dem Handrücken den Schaum vom Mund ab. „Und jetzt? Wie machen wir weiter?“, will Moritz wissen. „Mit Nero! schlage ich vor“, sagt Fredy. „Mit Nero, was soll das? Was hat der Nachbarhund mit unserer Diskussion zu tun?“, fragt Moritz verwundert. „Eigentlich nichts … Ich meine auch nicht Nero, den Hund von unserem Hauswart nebenan. Ich meine Nero, den römischen Kaiser. Die berühmt-berüchtigte Figur aus der Antike.“ „Aha …“, erwidere ich. „Moritz hat recht. Wie kommst du ausgerechnet auf Nero, wenn ich fragen darf?“ „Tja, einfach so, Bruno. Nero ist ein gutes Beispiel dafür, dass früher – um diese abgedroschene Redewendung zu gebrauchen – auch nicht alles besser war“, antwortet Fredy. „Hochmut und Wahnsinn war damals schon ein Thema und manchmal ein Teil der (Un)Kultur.“ „Allerdings war nicht alles besser. Wenn ich mich an den Geschichtsunterricht in der Schule richtig erinnere – und das sind schon ein paar Jährchen her, ist Nero dieser irre Gottkaiser, der die Stadt Rom anzünden liess, nur um ein paar geistreiche Liederverse über das Feuer dichten zu können.“ „Perfekt Bruno, perfekt!“, lobt mich Fredy spöttisch. „Dein alter Lehrer wäre mächtig stolz auf dich“, meint er schmunzelnd und erklärt weiter: „Die Schuld für die eingeäscherte Stadt schob der ,Göttliche‘ dann den Christen in die Schuhe. Er liess sie daraufhin brutal verfolgen und als Sündenböcke im Kolosseum vor die hungrigen Löwen werfen. Der Pöbel auf den Tribünen amüsierte sich köstlich – genauso wie der ,Göttliche‘. So wie die alten Römer, versuchten auch andere Völker im Laufe der Geschichte mächtig und einflussreich zu werden. Einige mit diktatorischen Mitteln, andere mit heiligen Kriegen und Bomben, und wieder andere mit menschlicher Tüchtigkeit. Vielen ist es tatsächlich gelungen, doch sie sind trotzdem, über kurz oder lang, an ihrer eigenen Dekadenz zugrunde gegangen.“ „Richtig, Fredy – und so wie damals, ist es auch heute. Nur spielen sich diese Dinge nicht mehr zwischen beeindruckenden Marmorsäulen und gewaltigen Triumphbogen ab. Was sich während tausenden von Jahren änderte, waren nur die Kulissen auf der Weltbühne. Die Darsteller vor und hinter den Kulissen sind immer die gleichen troublemaker geblieben. Der Regisseur übrigens auch!“ „Das ist doch Schnee von gestern, das ist Geschichte!“, meint Moritz erregt und fast schon entschuldigend. „Moment mal, Moritz, da bin ich nicht deiner Meinung“, widerspricht Fredy. „Und ich bin auch nicht damit einverstanden! Wenn das Geschichte ist, wie du behauptest, Moritz, dann geht sie auf jeden Fall unbeeindruckt und unbelehrbar weiter. Als Beweis können wir ja ein wenig in der Gegenwart herumstochern.“ „Wenn es unbedingt sein muss, Bruno, ich höre.“ „Okay, Moritz!“ Dann beginne ich meine kurze Chronologie: „Da gab es zum Beispiel den Zweiten Weltkrieg, mit ,Cäsar‘ Adolf. Jahrzehnte später das Massaker der Roten Khmer in Kambodscha. Immer noch präsent dürfte der 11. September 2001 sein, mit dem teuflischen Anschlag auf das World Trade Center durch Islamisten. Ebenso bekannt die Menschen verachtende Geiselname in einer Schule in Beslan. Das blutige Gemetzel in Simbabwe, erst vor wenigen Jahren, ist ebenfalls noch gegenwärtig. Genauso wie die ewige, irre Vernichtungshetzerei gegen Israel durch den iranischen Staatspräsidenten Ahm...schad. Dieser Hetzer konnte nicht einmal an der Antirassismus-Konferenz in Genf gestoppt werden ... Und nicht zu vergessen – um bei der Schweiz zu bleiben – der Gewalt- Exzess auf einer Berufswahlschulreise nach München. Das war auch kein Ruhmesblatt. Dort prügelten im Juni 2009 drei 16-jährige Schüler ihnen unbekannte Passanten halbtot – einfach so.“ „Ja, Bruno, selbst Pausenplätze um unsere Schulhäuser werden von Gewaltaktionen nicht verschont“, ergänzt Fredy und schüttelt verständnislos den Kopf. „Stellt euch einmal vor: Schüler verprügeln Lehrer. Schülerinnen werden vergewaltigt. Eine Respektlosigkeit sondergleichen. So etwas gab es zu meiner Schulzeit auf jeden Fall nicht! In Fussballstadien, um den Schauplatz zu wechseln – werfen grossartige ,Helden‘ gefährliche Brandkörper in die Zuschauermenge, während sich Fans und Hooligans mit Bierflaschen die Köpfe einschlagen. Dabei hauen sie sich vermutlich den letzten Funken Anstand aus dem Hirn. Auf einer Landstrasse fuhren Jugendliche ihre Autos zu Schrott und eine junge Frau in den Tod. Leider ist das längst nicht alles! Jetzt frage ich euch: Ist das der befreiende, sittliche Höhenflug einer aufgeklärten, modernen Gesellschaft von heute?“ „Hugh, ich habe gesprochen!“, spottet Moritz – an Fredy und an mich gerichtet. „Aber ich gebe zu, mit einem befreienden, sittlichen Höhenflug hat das nichts zu tun, das können wir bei aller Blauäugigkeit nicht behaupten.“ „Sag ich’s doch!“, ruft Fredy aufgeregt. „Aber du weisst gar nicht, wie viele blauäugige, angeblich gebildete Menschen unter uns sind ... Entschuldigt die blöde Bemerkung. Aber das ändert auch nichts an der Tatsache, dass Gewalt, Mobbing, Betrug und sture Lüge Gewohnheit, ja, gesellschaftsfähig geworden sind. Selbst beim Sport wird da wacker mitgemischt. Was mich dabei am meisten ärgert – vieles ist entschuldbar geworden, einfach entschuldbar. Sorry, Moritz, wenn ich das sage, aber unsere Kuscheljustiz und die Samthandschuh-Rechtsprecher haben ebenfalls zu dieser falschen Nachsichtigkeit beigetragen. Heute heisst es oft: Mindeststrafe hier, Unzurechnungsfähigkeit da oder ein wenig Geldbusse dort ... Pardon, Freunde, für den Ausdruck, aber für mich ist das zum Kotzen!“ Mit grossen Augen schaut mich Moritz an. „Mensch Fredy, du legst dich aber mächtig ins Zeug! So kenne ich dich ja gar nicht!“ „Das kann ich mir denken, dass du mich so nicht kennst. Aber bitte, habe ich denn Unrecht? “ „Nein, das hast du nicht. Schon zu meiner Zeit, als ich noch als Anwalt tätig war, staunte ich darüber, wie unverbesserlich gewisse Menschen sind. Besonders diejenigen Klienten, die trotz guter Vorsätze immer wieder rückfällig geworden sind, gaben mir zu denken – und das waren nicht wenige. In einigen von diesen Fällen hätte man durchaus härter durchgreifen können.“ „Unverbesserlich ist gut“, sagt Fredy darauf. „Was die Rückfälligkeit betrifft, kann ich deine Erfahrungen nur bestätigen. Deshalb bin ich immer wieder erstaunt darüber, dass die Menschheit unbeirrt weiter daran glaubt, aus eigener Kraft eine bessere Welt schaffen zu können, obwohl doch die Wiederholung der Geschichte das Gegenteil beweist.“ „Tja, über so viel Optimismus kann man sich wirklich nur wundern“, wende ich ein. „Dieser ewige Wunsch nach einer besseren Welt treibt manchmal eigenartige Blüten.“ „So, so …, kannst du uns vielleicht etwas über diese Blüten verraten?“, fragt Moritz neugierig. „Ja, sicher kann ich das. Ich sage nur ein Wort.“ „Mach es nicht so spannend!“ Moritz schaut mich erwartungsvoll an. „Und das Wort wäre?“ „Orgasmus!“ „Spinnst du jetzt, Bruno?“, fragen beide verwundert. „Nein, nein – nur keine Panik, ich spinne nicht! Ich muss dazu nur die passende Erklärung abgeben. Also …, kürzlich las ich in einer Zeitung, die fast in jedem Haushalt zu finden ist, folgenden Satz: ,Unsere Orgasmen und unsere Freude werden die Welt heilen.‘ Diese geistreiche Empfehlung, als ,Zitat der Woche‘ wohlverstanden, gab eine Sex-Expertin allen Ernstes von sich.“2 „Entschuldige, Bruno. Willst du uns auf den Arm nehmen?“ „Von wegen, ich doch nicht, Moritz.“ „Wow, das ist ja eine grossartige Prognose – und soo motivierend“, argumentiert Moritz. „Da können wir nur hoffen, dass Politikerinnen und Politiker, die rund um den Globus von Friedenskonferenz zu Friedenskonferenz jetten, diesen Artikel auch zu Gesicht bekommen. Dann kann uns nichts mehr passieren.“ Gekünstelt ruft er aus: „Hört her, liebe Männer und Frauen, Freude herrscht: Kriege sind Schnee von gestern. Orgasmen sind gefragt und die Welt ist geheilt!“ „Aha …“, sagt Fredy. „Ich verstehe. Die gute Expertin glaubt: ,Das Heil der Welt komme sozusagen aus dem Unterleib. – Was für eine befriedigende!? Lösung. Wenn dem aber so wäre, stünden bei uns alten Knackern die Chancen sowieso nicht mehr gut“, meint er und grinst. „Andererseits müsste bei der sexuellen Freizügigkeit, die heute auf unserer gebeutelten Erde gelebt wird, die ,Heile Welt‘ aus allen Nähten platzen. Nur, davon habe ich noch nichts bemerkt. Vielleicht schaffen es die glücklichen Nacktwanderer, oder die ebenso nackten Velofahrer, wenn sie ihre textilfreien Hintern durch die schöne, unverdorbene Natur bewegen.“ „Wie dem auch sei ... alles Blödsinn“, brumme ich. „Auf jeden Fall ist das nicht der Weg, um die Welt zu heilen! Wenn es erlaubt ist, sage ich jetzt etwas Provozierendes.“ „Nur zu, Bruno, sei mutig!“, sagt Fredy. Und Moritz nickt zustimmend. „Also, was ich sagen will, ist Folgendes: ,Seit dem Sündenfall versuchen wir Menschen mit allen möglichen Tricks die Welt zu heilen. Das ist zweifellos ein edles Unterfangen, nur die augenscheinlich falsch angewendeten Mittel lassen die Bemühungen leider Bemühungen bleiben – trotz Orgasmus. Nichtsdestotrotz, geben wir uns weiterhin allen möglichen Illusionen hin. Und das nur, um nicht zugeben zu müssen, dass wir es nicht schaffen, oder eben nicht geschafft haben.“ „Das hört sich nicht gerade ermutigend an“, klagt Moritz. „Haben wir alten Knacker wirklich nichts Erfreulicheres zu berichten?“ „Tja, Moritz! Ich würde liebend gerne der alten Erde und uns als ihren Bewohnern ein erfreulicheres Kränzchen winden, nur, das ist nicht so einfach. Da fehlt mir, um ehrlich zu sein, der Glaube.“ „Das kann ich verstehen, Bruno“, bestätigt unser Schlüsselknecht. „Es bringt jetzt gar nichts, wenn wir uns hier etwas vorgaukeln. Ich mache das schon seit Jahren nicht mehr, dafür bin ich zu lange Gefängnisaufseher gewesen. Die Grossen und Mächtigen bei uns – und in der Welt – können das besser. Sie sind es doch, die uns laufend etwas vormachen. – Sie reden beharrlich von Gerechtigkeit und Frieden, von Sicherheit und Wohlstand für alle. Aber wie sieht der Globalisierungs-Traum in der Realität aus, hä? Ein paar Stichworte gefällig? Wie wäre es zum Beispiel mit: Bankgeheimnis, Steuerbetrug, Bonus-Gier, Arbeitslosigkeit oder Pleite-Staat? Mit Pleite-Staat meine ich die europäischen Staaten, die jahrelang grosszügig über ihre Verhältnisse gelebt haben. – Und davon gibt es bekanntlich immer mehr. Die Hilfeschreie der angeschlagenen Euroländer nach Geld, nach viel Geld, sind nicht zu überhören. Dass Banken auch hier wieder mit von der Partie sein werden, ist keine böswillige Unterstellung von mir. Nur, wie die Sache ausgeht ist noch nicht klar. Für die Mitschuldigen am Finanzdesaster, das über die Welt hereingebrochen ist, ist es immer ein Versuch wert, das angeschlagene Vertrauen wieder aufzupolieren. Ein wenig Licht in geheimnisvolle Angelegenheiten zu bringen, kann nie schaden.“ „Ja … ja, Fredy, du sagst es. Übrigens, Vertrauen ist auch so ein Begriff, der nicht mehr das ist, was er einmal war“, füge ich ergänzend hinzu. „Das nicht nur im Zusammenhang mit Managern, Banken und Politikern. Die ganze Gesellschaft krankt daran. – Schulkinder zum Beispiel und alte Menschen vertrauen manchmal vergeblich darauf, dass sie nicht von Automobilisten angefahren werden, weil diese in zügiger Fahrt und verbotenerweise mit dem Handy hantieren. Viele der sportlichen Velo-Biker sind keinen Deut besser. Sie vertrauen stur darauf, dass sie möglichst kein Tempo wegnehmen müssen, wenn sie lautlos, von hinten kommend, an einem Fussgänger vorbeirasen. Dass ein älterer Mensch vielleicht nicht mehr gut hört…, daran denken sie nicht. Verunsicherte Arbeitnehmer andererseits vertrauen mit Bangen und Hoffen darauf, den Job nicht zu verlieren, während junge Menschen kaum mehr annehmen, endlich einen zu bekommen. In Bundesbern ringt man seit nach GPK, PUK und Bonus-Gestürm darum, nicht noch mehr an Vertrauen einzubüssen. Und hat damit alle Hände voll zu tun. In den Entwicklungsländern hoffen die Ärmsten der Armen darauf, nicht zu verhungern, während ihre übergewichtigen Regenten darauf vertrauen, mit Gewalt, mit Korruption und unsauberen Wahlen am Ruder zu bleiben. So ist das doch, Kollegen, mit dem angeblichen gegenseitigen Vertrauen.“ „Sehr gut argumentiert, Bruno“, sagt Moritz anerkennend. „Aber so wie ich die Sache sehe, gibt es jetzt für mich ein Wort, auf das ich vertraue – und das heisst Bier! Heisse Diskussionen trocknen mir nämlich die Kehle aus.“ „Uns auch! Da stimmen wir dir problemlos zu. Wo du recht hast, hast du recht, Scherzkeks. Zum Wohl!“ Gemeinsam heben wir die Gläser, prosten einander zu und nehmen einen kräftigen, erfrischenden Schluck. Dazu stopft Moritz eine Hand voll öliger Salznüsse in den Mund, die uns Frau Fröhlich in aufmerksamer Weise hingestellt hat. Wir stellen gerade die Gläser hin, als wir merken, dass eine Pensionärin unauffällig zu uns an den Tisch kommt. Es ist Frau Wüthrich. Wir sind nicht überrascht. Sie macht das oft so – manchmal bei uns, manchmal bei anderen Bewohnern des Hauses. Plötzlich steht sie unverhofft da und redet stets den gleichen Satz ... Halblaut kommen die Worte: „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“, über ihre Lippen. Dabei schaut sie hilflos von einem zum andern. Nach zweibis dreimaligem Wiederholen des Satzes geht sie genauso unauffällig weg, wie sie gekommen ist … Die gute Dolores Wüthrich. Sie leidet an Alzheimer. Dass sie immer wieder die geflügelten Worte von Goethe zitiert, ist nicht verwunderlich. Ein halbes Leben lang war Dolores Lehrerin für Geschichte und Sport an einer Oberschule für Mädchen. In ihrem geliebten Fach Geschichte gehörte der grosse Dichterfürst zum Unterrichtsstoff wie heutzutage der unverzichtbare Taschenrechner in der Mathematik. Wie es scheint, hat Goethe bei ihr bis ins hohe Alter einen unvergesslichen Eindruck hinterlassen. Trotzdem, weder die zeitweilig auftretende Verwirrtheit noch die langsam fortschreitende Krankheit, kann etwas daran ändern, dass Dolores in jungen Jahren eine hübsche und aufgeweckte Person gewesen sein muss. „Liebe Leidensgenossen an Alter und Schönheit“, meint Fredy sichtlich nachdenklich. „Es bedrückt mich ungemein, Dolores in diesem Zustand sehen zu müssen. Sie tut mir leid.“ „Tja, Fredy – mir auch“, meint Moritz kleinlaut. „Und keiner von uns weiss, was ihm noch bevorsteht.“ Nachdem Dolores gegangen ist, sagt Fredy: „Nehmt es mir nicht übel, wenn ich behaupte, dass dieser geflügelte Satz von Goethe, den Dolores oft zitiert, zwar gut tönt – aber eigentlich nicht stimmt. Ich denke, wenn wir dabei ehrlich sind, geben uns doch die Probleme, die uns in dieser Welt beschäftigen, recht.“ „Na ja, Fredy, ob wir recht haben, bin ich mir nicht sicher“, wendet Moritz ein. „Aber ich stelle fest, dass du nicht der Ansicht bist – wie ein paar alte Philosophen, die meinten: ,Der Mensch an sich ist gut, nur das Umfeld macht ihn schlecht!‘“ „Entschuldige Moritz. Das ist doch ein Schmarren!“, ereifert sich Fredy und schlägt sich heftig auf die Oberschenkel. „Sicher ist, dass uns Menschen das Umfeld prägt, ohne Zweifel, das streite ich nicht einmal ab, aber letztlich sind wir es doch selbst, die das Umfeld schaffen. Oder etwa nicht?“ Dann poltert er weiter und schimpft noch: „Das ist doch wirklich nicht schwer zu begreifen.“ „Zu begreifen nicht, aber zuzugeben schon“, sage ich vorsichtig dazwischen. „Na, klar, Bruno. Daran hindert uns die humanistische Schlitzohrigkeit. Dieses ewige Gerede vom Gutmenschen ist nichts anderes als Sand in die Augen streuen – und führt erst noch in die falsche Richtung. Denn mit dem guten Kern in uns Menschen, der angeblich nur aktiviert werden muss, ist es wirklich nicht weit her.“ „Wieso denn nicht, Fredy…?“, fragt Moritz herausfordernd. „Das musst du mir erklären!“ „Na gut! Hier ist meine Erklärung. Wenn wir behaupten, dass der Mensch gut ist – wirklich selbstlos gut, klopfen wir uns etwas zu voreilig auf die Schultern. Wie wir herausgefunden haben, beweist die Menschheitsgeschichte das Gegenteil. Nach meiner Meinung stützen wir mit dieser Aussage von Goethe schlicht und einfach ein falsches Menschenbild. Im Übrigen bin ich als Schlüsselknecht im Gefängnis diesem falschen Menschenbild tagtäglich begegnet. Das war mir Beweis genug, dass wir – im Sinne Goethes – nicht gut sind. Und nebenbei bemerkt, trifft das hier im Altersheim ebenfalls zu.“ „Was soll das jetzt wieder, Fredy?“, bekomme ich von Moritz zur Antwort. „Was heisst bei dir falsches Menschenbild?“, sagt er gereizt. „Selbst uns Alten hier fährst du an den Karren, du bist mir ein schöner Kollege!“ „Entschuldige, Kollege Moritz. Es liegt mir fern, irgendjemandem an den Karren zu fahren. Ich stelle ohne überheblich sein zu wollen fest, dass wir Menschen uns nicht richtig einschätzen.“ „Okay, Fredy, okay. Wie sieht denn die richtige Einschätzung aus, wenn ich fragen darf?“ „Lass mich dazu die Bibel zitieren, die gibt darauf die richtige Antwort.“ „Muss das sein, Fredy … die Bibel?“, brummt Moritz etwas ungehalten. „Wir sind doch nicht in der Sonntagsschule.“ „Nein, das sind wir nicht. Trotzdem zitiere ich sie. Ihre Antwort ist perfekt, Moritz.“ „Na ja, das ist Glaubenssache, Fredy ... Auf die Antwort bin ich aber gespannt.“ „Ich auch!“ „Jetzt du auch noch, Bruno. Ich gebe mich geschlagen“, jammert Moritz. „So gib uns deine Antwort, Fredy, wenn es unbedingt sein muss.“ „Gut, warum nicht. Der alte Goethe meinte damals: ,Edel sei der Mensch – hilfreich und gut.‘ Also mit dem Wörtchen ,sei‘ sprach er eine Erwartung an uns aus, von der er vielleicht selber nicht überzeugt war, dass sie so auch stimmt ... Wenn sie nämlich stimmen würde, wäre die Aufforderung sie zu tun, gar nicht nötig. Mir scheint eher, dass der Wunsch der Vater des Gedankens gewesen ist, denn die Geschichte der Menschheit bewies schon zu seiner Zeit, dass es beim Wunsch bleiben wird. Persönlich bin ich davon überzeugt, dass wir besser darauf hören sollten, was Gottes Wort zu dieser Sache zu sagen hat.“ „Wenn du meinst, Fredy ... Wie sieht denn Gott die Sache?“ „Schon im Alten Testament sagte Er über uns, ich zitiere: ,Und der Herr sah, dass die Menschen voller Bosheit waren. Jede Stunde, jeden Tag ihres Lebens hatten sie nur eines im Sinn: Böses planen, Böses tun.‘3 – Das Beeindruckende dabei ist, dass Jesus ein paar tausend Jahre später unser Wesen und unser Verhalten noch treffender beschreibt – und hier kommen wir genauso schlecht weg. Ich zitiere wieder: ,Aus dem Herzen kommen die bösen Gedanken wie: sexuelle Zügellosigkeit, Diebstahl, Mord, Ehebruch, Habsucht, Bosheit, Betrügerei, ausschweifendes Leben, Neid, Ver- leumdung, Überheblichkeit und Unbesonnenheit. Das kommt von innen heraus, und das macht die Menschen vor Gott unrein.“‘4 „Schön und gut, Fredy. Ich weiss, dass so etwas in der Bibel steht – und wie immer auf das Sünder-Image hinausläuft. Das stimmt doch, oder nicht?“ „Ja, so ist es, Moritz!“ hake ich jetzt ein. „Fredy hat genau den richtigen Vers zitiert.“ „Hoppla, da kommt Bruno! … Sag jetzt nicht, dass du seiner Meinung bist?“ „Doch, das bin ich. Was in diesen Versen beschrieben wird, stimmt absolut mit der Realität auf unserer Erde überein. Oder, um es mit anderen Worten auszudrücken: Die Saat geht auf – und das weltweit! Zudem hast du in dieser Hinsicht als Anwalt auch deine Erfahrungen machen müssen, genauso wie Fredy als Schlüsselknecht im Gefängnis. – Und ich doch auch. Nebenbei erwähnt, du hast mit dem Wort Sünde, respektive Sünder, den Nagel auf den Kopf getroffen.“ „So …, habe ich das?“ „Ja, das hast du, Moritz!“ „Mensch, Bruno! Bist du etwa auch ein Frommer?“, ruft Moritz unverblümt aus. Vorsichtshalber nimmt er die Lautstärke seiner Stimme zurück, um die andern Pensionäre in der Cafeteria nicht zu erschrecken. Dabei schaut er mich verständnislos an ... Plötzlich macht er grosse Augen, weil ihm ein Licht aufging. „Moment mal, Bruno … Moment! Was soll das heissen: „Fredy hat als Schlüsselknecht im Gefängnis seine Erfahrungen gemacht – und ich doch auch. Bist du im Gefängnis gewesen? Du Bruno, ausgerechnet du?“ „Wenn du mich so fragst, Moritz. – Ja! Ich bin im Gefängnis gewesen!“ „Jetzt verstehe ich, Bruno, warum du vorhin gesagt hast: „Ich weiss, wovon ich rede.“ „Ja, Moritz, wir sprachen da über mangelhafte Erziehung und falsch verstandene Toleranz. Nur, zu der Zeit als ich mir den Aufenthalt im Knast eingehandelt hatte, war in dieser Beziehung noch nicht alles derart aus dem Ruder gelaufen wie heute. Aber leider er- kannte man damals genauso wenig wie heute, wie massiv der Zeitgeist unsere Gesellschaft beeinflusst.“ „Wie ist es denn so weit gekommen, dass du im Gefängnis gelandet bist?“, fragt Moritz interessiert. Die Neugier purzelt ihm fast aus den Augen. „Ach, das ist eine verkorkste Geschichte. Eigentlich gab es für mich ja keinen Grund, in so eine dumme Sache hineinzuschlittern. Ich hatte ein gutes Elternhaus, vielleicht ein zu gutes. Meine Eltern waren einfache, rechtschaffene Leutchen, die mir vielleicht zu viele Freiheiten liessen. – So sehe ich das jedenfalls im Nachhinein. Das soll aber kein Vorwurf an sie sein. Gerade weil ich sie liebte, wäre mein Abstecher ins Gefängnis nicht nötig gewesen. Beide litten sehr darunter. Besonders mein Vater. Er schämte sich deshalb vor seinen Arbeitskollegen, weil es sich rumsprach, dass sein Sohn im Gefängnis sitzt. Damals empfand man so etwas noch als Schande. In den neunzehnfünfziger Jahren war ich ein junger, unbekümmerter Mensch, der alles locker nahm und den Ernst des Lebens nicht sehen wollte. Vernünftig leben war nicht meine Stärke.“ „Das kenne ich“, bestätigt Fredy. „Als ich damals meinen Beruf wechselte und in den Gefängnisjob eingestiegen bin, sind mir solche Biografien bei Häftlingen häufig begegnet. Vor allem junge Menschen sind wegen ihrer Unbekümmertheit im Drogensumpf gelandet – und dann bei uns. Diese Seuche breitete sich damals mehr und mehr aus. Ich betone aber ausdrücklich, dass nicht alle, mit denen ich im Gefängnis zu tun hatte, hoffnungslose Kriminelle waren ... Obwohl es diese Sorte auch gab.“ „Richtig, Fredy, die gab es. Zu meiner Rechtfertigung darf ich doch sagen, dass ich nicht zu dieser Sorte gehörte. Ich bin als knapp Zwanzigjähriger wirklich wegen einem Blödsinn in der Untersuchungshaft gelandet.“ „Was war das denn für ein Blödsinn?“, will Moritz wissen. „Da bin ich wirklich neugierig.“ „Wie ich schon erwähnte, war ich so um die Zwanzig ein junger Mann, der das Leben nicht allzu ernst nahm. Der Zweite Weltkrieg und das sinnlose Morden durch die Gutmenschen von damals lag erst ein paar Jahre zurück ... Das Wissen, dass wir mit einem blauen Auge davongekommen sind, war in der Schweiz allgegenwärtig. Um diese traurige Zeit möglichst schnell zu vergessen, rappelte sich das geschundene Europa wieder auf. Die Menschen rundum, die den Schlamassel überlebten, versuchten neu Tritt zu fassen. Daher herrschte auf vielen Gebieten wahre Aufbruchstimmung. In diesem Umfeld wollte die Nachkriegsjugend ihre Chance packen und wieder nach oben kommen, wenn möglich an einen Platz an der Sonne. Das wollten wir auch. Wir waren eine Clique von fünf übermütigen Burschen. Dummerweise brachte uns dieser Übermut die Schwierigkeiten ein, die mir den Gefängnisaufenthalt bescherten.“ „Mit anderen Worten, ihr habt einen ,Seich‘ gemacht“, stellt Moriz fachmännisch fest. „Genau! Unser Seich wie du sagst, war, dass wir manchmal zu viel ,becherten‘. Der Umgang in diesem Kollegenkreis tat mir nicht gut. – Und der berühmte Gruppendruck war schon damals ein Thema. So kam es, wie es kommen musste. Ich glaube es war , an einem Samstagabend kurz vor Mitternacht. Unsere Clique war an diesem lauen Sommerabend in der Stadt unterwegs. Wir hatten drei nette Mädels dabei und blödelten mit ihnen herum. Die Stimmung war gut. Der Alkohol trug das Seine dazu bei. Betrunken waren wir nicht, aber angeheitert schon. Auf unserem Streifzug durch die Strasse eines Aussenquartiers kamen wir an der Rückseite eines grossen Lebensmittelladens vorbei. Ein Grossverteiler hatte hier eine seiner Filialen. Zufällig blieben wir bei der Hofeinfahrt zum Areal stehen. Frank und Küde zündeten eine Zigarette an. Fränky blies ruhig den Rauch aus und zeigte mit der Zigarette zwischen den Fingern auf die Türe vom Lieferanteneingang, die sich unmittelbar neben der Laderampe befand. Spitzbübisch sagte er: „Freunde, es wäre ja möglich, dass das Personal nach Ladenschluss vergessen hat, diese Türe abzuschliessen. Wir können das kontrollieren. Wenn es zutrifft, finden wir vielleicht etwas Brauchbares. Eine Kiste Bier, ein paar Flaschen Hochprozentiges, etwas zu futtern – und so.“ „Spinnst du, Fränky! Wir können doch nicht einfach an der Türe rummachen“, erwiderte ich besorgt. „Wenn uns jemand beobachtet, haben wir ein Problem!“ „Ach was …, die schlafen doch alle, und zudem ist es viel zu dunkel“, sagte Fränky selbstsicher. Er wendete sich von uns ab, kickte gekonnt einen Stein vor sich her und schlenderte lässig über den Hof. Ich sehe ihn heute noch vor mir, wie er unauffällig auf die Metalltüre zuging. „Der hat wirklich zu viel gesoffen“, sagte die kesse Sonja etwas ärgerlich. Sie war eines der Mädels, die ab und zu mit uns ausgingen. „Die Sache gefällt mir nicht, da mache ich nicht mit, ich gehe!“ „Ich auch!“, sagte einer der Kumpels. „Ich komme mit dir!“ und schloss sich ihr an. Beide gingen tatsächlich weg. Wir blieben etwas unschlüssig zurück. Inzwischen werkelte Fränky am Türschloss rum und meinte: „Die Türe ist zwar abgeschlossen, aber es ist absolut kein Problem sie zu öffnen.“ „Ach …, ich weiss nicht, ob das richtig ist, was du vor hast, Fränky. Mir ist es nicht wohl bei der Sache.“ „Unsinn, Bruno. Ein bisschen Spass muss sein!“ „Bevor mir und den anderen, die zurückgeblieben waren, bewusst wurde, auf was für einen Blödsinn wir uns eingelassen hatten, war Fränky schon dabei, mit seinem Sackmesser das Schloss aufzuwürgen. Er war ein geschickter Handwerker und hatte erst vor kurzem mit Erfolg seine Berufslehre als Bauschlosser abgeschlossen ... Trotzdem, einfach war es auch für ihn nicht, die massive Türe aufzubrechen. Das Schloss hatte bei dem Murks arg gelitten!“ „Nur zu, Bruno, ich weiss worauf die Geschichte hinausläuft“, meldet sich Moritz, unser Anwalt im Ruhestand. „Einbruchdiebstahl nennt man das.“ „Ja, leider ging der Blödsinn so weit, Moritz. Es war keine besonders gute Idee, sich von Fränky dazu anstiften zu lassen.“ „Allerdings, Bruno“, sagt Fredy mit ernster Miene. „Was habt ihr denn geklaut, pardon gestohlen, wenn ich fragen darf?“ „Na ja, weltbewegend war unser Diebesgut nicht“, erwidere ich. „Wenn ich mich richtig erinnere, waren es zwei Kistchen Bier, drei Stangen Zigaretten, ein paar Tafeln Schokolade, drei oder vier Kon- servendosen und andere Kleinigkeiten, so genau weiss ich es nicht mehr. – Aber kein Geld! An der Kasse hatten wir uns auf jeden Fall nicht vergriffen. Wir nahmen einfach nur so viel mit, wie zwei Mädels und drei Burschen in den ladeneigenen Papier-Einkaufstaschen tragen konnten. Ein Kollege war bei der Hofeinfahrt als Aufpasser zurückgeblieben. Er schloss sich uns an, als wir uns nach getaner Arbeit verdünnisierten und in den nahen Stadtpark gingen.“ „Alles klar, Bruno. Wie ging die Sache weiter?“ „Schlecht! Was wir zu dieser Zeit nicht wussten … alle schliefen nämlich nicht, wie Fränky irrtümlich annahm. Vor allem ein Securitaswächter nicht. Er war bei seinem Rundgang in der Nähe, auch an diesem Lebensmittelgeschäft vorbeigekommen. Dabei ist er auf uns aufmerksam geworden. Das muss ein alter Hase in seinem Job gewesen sein. Er verhielt sich gekonnt im Hintergrund, so, dass wir ihn nicht bemerkten. – Er uns aber schon. Der Wachmann beobachtete uns ruhig weiter, als wir mit der Ware in Richtung Stadtpark abzogen. Dort hatten wir nicht einmal Zeit, um in aller Ruhe ein Bierchen zu trinken, als die Polizei aufkreuzte. Jetzt bekamen wir eine trockene Kehle und hatten erst noch ziemlichen Ärger am Hals.“ „Und dieser Ärger brachte dich in die Untersuchungshaft.“ „Ja …, natürlich, Fredy. Nicht nur der Ärger, vor allem die Verdachtsgründe. Fränky und ich, nur wir beide, wurden in U-Haft gesetzt. Der Grund dafür war so blöd, wie der stümperhafte Einbruch. Wir wussten nämlich nicht, dass genau in diese Filiale zweimal kurz hintereinander eingebrochen worden war. Allerdings mit wesentlich mehr Erfolg für die Täter, was den Inhalt in der Kasse betraf. Dummerweise für uns, konnte die Täterschaft bis zu diesem Zeitpunkt nicht ermittelt werden. So lag es natürlich für die Polizei und für den Untersuchungsrichter auf der Hand, dass wir zum Kreis der Tatverdächtigen gehören mussten.“ „Klar Bruno, das ist nur logisch“, pflichtet mir Moritz bei. „Klar ist es logisch! Darum bezog ich ja wenige Tage später meine Zelle im U-Haft-Gefängnis, nachdem ich das peinliche EintrittsProzedere hinter mir hatte. Obwohl ein netter Aufseher diesen Check vornahm, bei dem ich mich zwecks Leibesvisitation nackt ausziehen musste, war mir komisch zumute. Das Unbehagen ver- stärkte sich noch, als ich mit meinen wenigen Effekten in der Papiertragtasche im Zellenbau vor ihm hergehen musste. Er kam mit kurzem Abstand hinter mir her und dirigierte mich durch die langen Gänge, bis ich dann vor der Zelle stand, die ich ab jetzt für unbestimmte Zeit beziehen musste ... Der enge, fensterlose Zellengang und die schwere Metalltüre mit dem klobigen Schloss empfand ich sehr bedrückend – schliesslich war ich nicht Al Capone.“ „Gut für dich, lieber Bruno, dass du nicht wie Al Capone warst, sonst wären dir garantiert ein paar Jährchen im Knast sicher gewesen“, meint Moritz grinsend. „Ja, schon gut, Moritz. Schon gut. Mir ist damals das Grinsen vergangen. Ich erinnere mich daran wie wenn es gestern gewesen wäre. Nach zwei bis drei Wochen hatte ich mich einigermassen eingelebt. Gewöhnungsbedürftig war der Umstand, dass ich nicht allein in einer Zelle sein konnte. Ich hatte einen Zellengenossen. Mit ihm musste ich mich in diesem ungastlichen Raum so gut wie möglich arrangieren. Die Zellenwände waren fleckig und vom Zigarettenrauch meiner vielen Vorgänger vergilbt. Überhaupt schmeckte alles nach erkaltetem Nikotin, die Wolldecken, die Matratze, der Schrank, einfach alles. Zwischen den dicken Eisenstäben hindurch, die das vergitterte Fenster schmückten, drang ein wenig Sonnenlicht in den düstern Raum. Das Fenster war verschmutzt, der Sims verkackt mit Taubendreck und es reichte in seinen Ausmassen von der Zimmerdecke bis auf Kopfhöhe hinunter. Mein Zellenkumpan, auch ein Schweizer, war mit mir Stunde um Stunde, Tag für Tag in diesem engen Raum zusammen. Abwechslung brachte nur der tägliche, halbstündige Spaziergang im Gefängnishof. – Ein Kajütenbett mit Stahlfedern und Stahlrahmen und ein einfacher Wandschrank aus Holz gehörten zum Inventar wie die dicke Tischplatte mit Sitzbank, beides solide in die Wand eingelassen. Rechts davon gab es ein Lavabo. Nur mit kaltem Wasser. Daneben eine arg strapazierte, rissige Klo-Schüssel, mit WC-Sitz ohne WC-Deckel, aber abgeschirmt durch eine Schamwand. Das alles gehörte zu unserer ,komfortablen‘ Bleibe auf Zeit.“ „Na ja, Bruno. Toll war das gerade nicht: Essen, schlafen, kacken – alles im selben Raum. Ich hoffe nur, dein Zellengenosse hatte nicht noch Fussschweiss?“, frotzelt Moritz. „Nein, das hatte er Gott sei Dank nicht!“, wende ich ein ... „Den mühsamen Bedingungen zum Trotz, kamen wir gut miteinander zurecht. Toni war ein paar Jahre älter als ich; ein umgänglicher Kerl, aber für meine Verhältnisse redete er zu viel. Er lag mir mit seinen heissen Dingen ständig in den Ohren, die er gedreht hatte. Ein unverbesserlicher Einbrecher und Tresorknacker, der sich gerne mit seinen Taten brüstete. Ein richtiger Profi eben, nicht wie ich mit meinem lächerlichen Delikt.“ „Tja, mitgegangen … mitgehangen, lieber Bruno!“ „Blablabla! … Unser Anwalt hat gesprochen. Aber du hast recht, ich gebe es zu!“ Nachdem Fredy lange Zeit geschwiegen hat, fragt er plötzlich: „Bist du während der Untersuchungshaft die ganze Zeit mit diesem Tresorknacker zusammen gewesen?“ „Nein, Fredy, das bin ich nicht. Ich hatte grosses Glück und konnte ein paar Wochen später in eine Einzelzelle wechseln. Der Grund dafür war: Der Stockchef benötigte ab sofort einen neuen ,Abwäscher‘. Der Insasse, der diese Arbeit bis jetzt machte, ist von einer Minute auf die andere aus der Untersuchungshaft entlassen worden ... Scheinbar hatte ich beim Stockchef einen Stein im Brett. Auf jeden Fall bot er mir den Job an. Ich denke, nicht zuletzt darum, weil ich von ihm als ungefährlicher und anständiger Typ eingestuft wurde.“ „Was wiederum für dich gesprochen hat, sonst wären wir jetzt nicht mit dir im Altersheim zusammen“, argumentiert Moritz scherzhaft. „Dass du diesen Job bekommen hast, war immerhin erfreulich für dich, oder etwa nicht?“ „Natürlich, Moritz, sehr erfreulich ... Wie dem auch sei. Ich war heilfroh, dass ich jetzt eine Zelle für mich hatte. Genau neben dem Abwaschraum, meinem neuen Arbeitsplatz. Der Abwaschraum war schmal, meistens feucht und auf dem Boden mit einem Holzrost ausgelegt. Es war nur so viel Platz vorhanden wie nötig war, um das Essgeschirr abzuwaschen und anschliessend in einem fahrbaren Blechkorb zu stapeln. Geschirr ist zwar etwas hochgegriffen, es waren einfache Blechteller und Blechnäpfe – sogenannte Gamellen. In den berühmten ,Blechnäpfen‘ mit den zwei angenieteten Haltegriffen wurde damals die Suppe, das Menü, der Tee oder Kaffee serviert. Dank meinem Abwäscher-Job hatte ich wenigstens drei Mal am Tag eine sinnvolle Beschäftigung. So schrubbte ich also das schmutzige Geschirr bis ich schweissgebadet war. Die Wärme und der Dampf im engen Raum pressten mir das Wasser buchstäblich aus allen Poren, obwohl das Oberlicht schräg offenstand. Nach zirka einer Dreiviertelstunde war ich mit der schweisstreibenden Arbeit fertig. Kurz darauf wurde ich von einem Aufseher aus dem Abwaschraum geholt und nebenan wieder in meine Zelle eingeschlossen. Peng! – Die schwere Türe war wieder zu und der Schlüssel ratterte im Schloss.“ „Interessant dein Abstecher ins ,Hotelfach‘, sagt Moritz augenzwinkernd. Und Fredy meint mit erhobenem Zeigfinger: „Diese Erfahrung hättest du dir zweifellos ersparen können!“ Dann fährt er weiter: „Die berühmten Blechnäpfe habe ich in meinen ersten Jahren als Aufseher auch noch kennengelernt. Als die Zeit reif war, wurden die Dinger, die einige jahrzehntelang für einen Knast typisch waren, endgültig abgeschafft. In der Folge ist die Gefängnisküche mit zeitgemässem, handlichem Geschirr ausgerüstet worden.“ „So ist das, Fredy –, die Zeiten ändern sich eben. Ich bin mir sicher, dass es heutzutage beim täglichen Spaziergang im Gefängnishof ebenfalls anders zu und her geht als zu meiner U-Haft-Zeit vor rund sechzig Jahren.“ „So erzähl uns doch, wie es zu deiner Zeit zu und her ging, Bruno!“, fordert mich Moritz auf. „Okay! Lasst hören aus alter Zeit. Eine halbe Stunde täglich durften wir damals gruppenweise an die frische Luft. Wenn unsere Gruppe, ungefähr 15 bis 20 Männer, unten im Spazierhof angekommen war, begannen wir die Runden zu drehen. Und das bei jedem Wetter. Der kurze Aufenthalt an der frischen Luft war den meisten von uns ein echtes Bedürfnis. Bei Sauwetter hatten wir wenigstens die Möglichkeit, beim Eintritt in den Hof eine Pelerine zu fassen. Umgeben von den hohen Gefängnismauern, spazierten wir mit einem Abstand – ich glaube es waren zwei Meter von Mann zu Mann –, auf dem mit Steinplatten ausgelegten Weg. Dieser war in der Form eines grossen Rechtecks angelegt. In der Mitte des Hofes gab es eine mit Blumen eingefasste Rasenfläche und dazwischen ein paar Vitaparcours-Posten für die sportliche Betätigung: Klimmzüge, Liegestützen und so weiter …Wie eine Herde Elefanten in der Savanne trotteten wir gegen den Uhrzeigersinn hintereinander her. Sprechen und Rauchen war dabei verboten. Insassen, die sich nicht daran hielten, wurden vom Aufsichtspersonal diskussionslos in die Zelle zurückgeführt.“ „Potz Blitz, Bruno! Habe ich da richtig gehört? Miteinander sprechen war verboten? … Das waren ja Sitten wie im Mittelalter. Da fehlte nur noch die Kette mit der schweren Eisenkugel am Fussgelenk“, spottet Moritz. „Die Kette mit der Kugel gab es nicht mehr, mein Lieber. Dennoch, du hast recht, man kann sich so etwas heute kaum mehr vorstellen, obwohl es noch gar nicht lange her ist.“ „Das stimmt Bruno!“, bestätigt Fredy. „Doch zu meiner Zeit, einige Jahrzehnte später, war das nicht mehr so.“ Er beginnt seinerseits zu erzählen: „Die ,Spaziererei‘ mit Abstand und das Sprechverbot gab es nicht mehr, das Rauchverbot hingegen schon noch. Genau aus diesem Grund versuchten die Raucher, die für sie unangenehme Vorschrift mit Tricks zu umgehen. Die Schlaumeier unter ihnen versteckten die brennende Zigarette in der hohlen Hand oder sogar im Hosensack, wenn sie bei uns vorbeikamen. Wenn sie sich dann unbeobachtet fühlten, nahmen sie schnell einen Zug an der Zigarette und bliesen den Rauch möglichst unauffällig aus, nicht selten mit einem schelmischen Lächeln auf dem Gesicht, um uns zu ärgern.“ „Ist irgendwie verständlich, Fredy. Das war wohl die Zeit, in der ihr euch den Kosenamen Schlüsselknecht definitiv eingehandelt habt?“, wirft Moritz neckisch dazwischen. „Nicht unbedingt. Diese ,Würdigung‘ ist älteren Datums. Sie wurde schon Jahrzehnte früher von den Repräsentanten der Subkultur in der Gefängniswelt kreiert.“ „Wenn ich dich richtig verstehe, Fredy, wurde der Spazierbetrieb von euch überwacht.“ „Natürlich, Moritz, der Spazierbetrieb der Häftlinge musste überwacht werden. Drei Aufseher – eben Schlüsselknechte, patrouillierten damals gleichzeitig und ungeschützt mit ihnen im Hof. Nichtsdestotrotz hatten wir den Auftrag darauf zu achten, dass das Rauchverbot eingehalten wurde. Dass wir uns damit nicht gerade beliebt machten, versteht sich von selbst. Zu gegebener Zeit wurde dann dieses Verbot beim Spaziergang im Hof aufgehoben – ganz zur Freude der leidgeprüften Raucher.“ „Ein vernünftiger Entscheid“, findet Moritz und zeigt Verständnis für diese Insassen. „Immerhin waren das erwachsene Männer.“ „Erwachsen ja. Aber nicht alle benahmen sich so. Seltsame Typen waren manchmal schon dabei. Unter ihnen war tatsächlich alles zu finden, was an kriminellen Delikten möglich war.“ „Genau, Fredy!“, sage ich dazwischen. „Für mich war das damals eine Situation, an die ich mich zuerst gewöhnen musste. Hinter Gefängnismauern ist einfach alles anders. Es war eine andere Welt. Eine, die bedrückend ist, wenn du nicht durch und durch kriminell veranlagt bist. Und das war ich nicht, das wage ich immerhin von mir zu behaupten. – Auf jeden Fall war mir schnell klar, dass ich meine Zeit an der frischen Luft im Kreise von Betrügern, Einbrechern, Zuhältern, Vergewaltigern und Mördern verbrachte.“ „Ich kann verstehen, dass dir das nicht gefallen hat, Bruno“, meint Fredy verständnisvoll. „Wenn ich dich vorhin richtig verstanden habe, Fredy“, sagt Moritz anschliessend, „so seid ihr vom Aufsichtspersonal ungeschützt mit einer Gruppe Gefangener im Hof zusammen gewesen.“ „Du hast mich richtig verstanden, Moritz, so war das.“ „Dann war das nicht ganz ungefährlich … denke ich?“ „Stimmt! – Doch mir ist über all die Jahre keine ernsthafte Tätlichkeit gegen das Personal bekannt. Moment, doch, an einen Fall erinnere ich mich ... Er ist mir gerade in den Sinn gekommen. Es war aber eher eine blödsinnige Macho-Show eines Insassen, die gegen einen Kollegen von mir gerichtet war.“ „Und, was ist da passiert, Fredy? Komm erzähl!“ „Du willst es wieder genau wissen, Moritz? Also, ich schicke voraus: Wegen Kollusionsgefahr war jegliche Kontaktaufnahme zwischen Häftlingen untersagt. Beim Spazieren war aber eine Kontaktaufnahme durchaus möglich. Durch Zurufen von Informationen, vom Zellenfenster in den Hof oder umgekehrt vom Hof zum Zellenfenster. Ebenfalls nicht erlaubt war, dass Zeitschriften oder Zeitungen in den Spazierhof geworfen wurden. Denn auf diesem Weg wäre es nämlich genauso möglich gewesen, Informationen weiterzugeben – sogar schriftlich. Mein Kollege schilderte mir nun Folgendes: „Eines Tages warf ein Insasse eine Zeitung aus seiner Zelle in den Hof. Sie war für einen Landsmann von ihm bestimmt. Schön zusammengerollt fiel sie diesem vor die Füsse. Er hob sie unauffällig auf – und nahm sie an sich. Ich beobachtete den Vorgang und verlangte von dem Insassen die Zeitung, weil ich sie kontrollieren wollte. Damit war er aber absolut nicht einverstanden. Nun, der junge Mann vom Balkan war ein Hitzkopf, der schnell jähzornig wurde. Anstatt mir die Zeitung auszuhändigen startete er einen Fusskick, der knapp an meinem Kopf vorbeiflog. Er war ein trainierter Kickboxer, schlank und gross, mit langen Beinen. Ich spürte den Luftzug förmlich, als sein Fuss nur wenige Zentimeter vor meinem Gesicht vorbeizischte. Das hätte leicht ins Auge gehen können, wenn er mich getroffen hätte“, meinte der Kollege zu Recht. „Das Erfreuliche bei dieser Attacke gegen mich war, dass ein anderer kräftiger Insasse den jungen Hitzkopf von hinten packte und zur Vernunft brachte. Immerhin entschuldigte er sich später bei mir, als der Oberaufseher und ich den Häftling in seiner Zelle aufsuchten, um mit ihm über den begangenen Leichtsinn zu reden. Kleinlaut sagte er: ,Entschuldigung, Chef!‘ – Ich akzeptierte seine Entschuldigung, weil ich den Eindruck bekommen hatte, dass sie ehrlich gemeint war. Wir verliessen ihn in der Hoffnung, er habe aus der beinahe Tätlichkeit etwas gelernt.“ „Tja, da können wir für den jungen Mann nur hoffen, dass er damals etwas gelernt hat“, kommentiere ich den geschilderten Vorfall. „Und dein Kollege auch – der hat wirklich Schwein – ähm Glück gehabt.“ „Du sagst es, Bruno. Übrigens, die Delikte der Insassen haben sich über die vielen Jahre nicht wesentlich geändert“, fährt Fredy weiter, „wenn wir von der Zunahme der Gewaltbereitschaft einmal absehen. Es ist schon eine komische Sache ... Die Menschen werden immer gemeiner und brutaler, die Rechtsprechung hingegen immer toleranter und nachgiebiger. Ein unerfreuliches Kapitel, das aber absolut dem aktuellen Zeitgeist entspricht.“ „Daher kommt es ja nicht von ungefähr, dass von einem notwendigen Übel gesprochen wird, wenn der Volksmund über Gefängnisse diskutiert“, philosophiert Moritz. „Auf diese ungeliebte Institution kann leider keine Gesellschaft verzichten!“ „Interessant …, das von dir zu hören. Ausgerechnet von einem Ex-Anwalt. Wir beide kommen nämlich zum gleichen Schluss. Das notwendige Übel, wie du es richtigerweise nennst, hat eigentlich den Zweck von ,Spezialprävention‘. Das heisst ungefähr: Ein Täter soll bestraft werden, weil er das Recht gebrochen hat. Er soll dafür büssen, damit er inskünftig nie mehr gegen das Gesetz verstösst. Andererseits sollen alle Bürger abgeschreckt werden durch Verbote, durch die Verfolgung von Rechtsbrechern und letztlich durch den Vollzug von Strafen. Das Ganze nennt sich – wenn ich mich nicht irre – ,Generalprävention.‘“ „Alle Achtung, Fredy, wie du in deinen alten Tagen den gesetzlichen Auftrag des Strafvollzugs mit wenigen Worten beschreiben kannst“, stänkert Moritz. „Mach keine Sprüche, mein Lieber ... Du bist der Anwalt und weisst da besser Bescheid. Was ich aber weiss, ist die Erkenntnis, dass diese Präventionen nur teilweise – wenn überhaupt – von Erfolg gekrönt sind. Pass auf, Moritz, ich rede noch weiter gescheit daher und sage dir: In dieser ,Generalprävention‘ ist nämlich der Erziehungsgedanke verwurzelt. Das Problem ist nur, dass die Erziehung nicht erst hinter Gittern beginnen sollte – da ist es meistens zu spät. Darum trifft dann das Sprichwort zu ,was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr!“‘ „Ein wahres Wort, mutig ausgesprochen, Fredy, das kann ich nur bestätigen.“ „Tja, Bruno, ich bin eben ein mutiges Kerlchen“, bemerkt Fredy grinsend. „Nein …, Spass beiseite! Sicher ist, dass in unserer Gesell- schaft viel unternommen wird, um diese Probleme besser in den Griff zu bekommen. Das bestätigt zum Beispiel ein Artikel, den ich kürzlich in einer Zeitung gelesen habe. Im Hinblick auf den Vorschlag für die Problembewältigung bin ich aber eher skeptisch. Da wurde argumentiert, dass die Gewaltbereitschaft im Allgemeinen und bei der Jugend im Speziellen, ein gesellschaftliches Problem sei. Es müsse politisch angegangen werden, mit mehr Möglichkeiten im Bereich der Repression. Na ja, so weit, so gut! Die Politik soll es also richten? – Das ist ja wunderbar! Die Feststellung, dass es ein gesellschaftliches Problem ist, ist meiner Meinung nach schon richtig, nur frage ich mich, ob unsere Gesellschaft das Problem auch wirklich ernsthaft angehen will.“ „So, so, du meinst allen Ernstes, dass das nicht der Fall ist?“, fragt Moritz vorwurfsvoll. „Ist das nicht eine überhebliche Unterstellung von dir, hier Zweifel anzubringen?“ „Ich denke nicht, Moritz ... Obwohl ich mir bewusst bin, dass ich mich mit dieser Ansicht gehörig in die Nesseln setze. Aber hier im Altersheim kann ich mir das erlauben. Wir alten Hasen werden sowieso nicht mehr ernst genommen!“ „Meinst du das wirklich, Fredy?“ „Klar, Bruno. Schau dir doch den Kult um den Jugendwahn an, da haben wir Alten nichts mehr zu bestellen.“ „Stimmt, so gesehen hast du recht, Fredy. Auch wenn jede kommende Generation alt und älter wird – dank Wellness, Fitness, Botox und Viagra – einen ewigen Jungbrunnen gibt es nicht. Der Alterungsprozess ist schöpfungsmässig gegeben, und das ist gut so. Ein weiser Mensch soll einmal gesagt haben: ,Es gibt nur eine Statistik, die wirklich stimmt, und die sagt: von hundert Menschen sterben auch hundert!“‘ „Aufhören! Da wird man ja schwermütig“, begehrt Moritz auf. „Themawechsel – und zwar sofort!“ Verärgert nimmt er einen kräftigen Schluck Bier. „Okay, Moritz, beruhige dich“, sagt Fredy beschwichtigend und fährt vorsichtig weiter: „Die Erziehung, um auf den zitierten Artikel zurückzukommen – wurde aber mit keinem Wort erwähnt. Das, obwohl genau in die Erziehung gesät werden muss, was einmal als gute Frucht im Staate aufgehen soll. Nur, mit dem Säen ist das so eine Sache. Die Frage heisst doch: Wer sät? Was säen wir? Und auf was für Boden säen wir? Mit anderen Worten: Die Grundlage ist entscheidend.“ „Und wie sie entscheidend ist, da bin ich ganz deiner Meinung, Fredy. Zu unserer Zeit war diese Grundlage in den Schulen die ,Christenlehre‘, später wurde der ,Religionsunterricht‘ daraus. Und heute, im Zeitalter der ,Neuen Toleranz‘, wo alles und nichts verbindlich ist, der ,Ethikunterricht‘. Wobei der Ethikunterricht aus meiner Sicht nur ein Vorwand ist, um in multikulturellen Schulklassen und bei Eltern aus Freidenker-Kreisen nicht anzuecken.“ „Eine interessante Feststellung, Bruno“, sagt Moritz und meint dazu: „Trotzdem musst du zugeben, dass es nicht einfach ist, in einer multikulturellen und freidenkenden Gesellschaft einen gangbaren Weg für alle zu finden.“ „Das stimmt, Moritz. Nur, das Problem entsteht letztlich deshalb, weil nicht alle zugewanderten Kulturen und anders denkenden Menschen die gleiche Vorstellung von Ethik haben. Meistens ist sie ja stark von der herkömmlichen Religion, von einer Philosophie, vom Clan oder Sippendenken geprägt.“ „Richtig!“, meint Fredy dazwischen. „Deshalb halte ich es für grundfalsch, wenn wir in der Schweiz aus lauter ,Political Correctness‘ – sprich Nachgiebigkeit, respektive Heuchelei – die altbewährten christlichen Grundwerte der Bibel fallen lassen.“ „Oder fallen lassen müssen, Fredy, wie gewisse antichristliche Kreise gerne möchten!“, das muss ich noch hinzufügen. „Diese blinden Blindenführer – anders kann man es nicht sagen – sind sich nicht im Klaren, dass sich das langfristig als Eigentor erweisen wird.“ „Jaja, Bruno. Vor allem dann, wenn Eltern die Verantwortung der Erziehung einfach an die Schule, respektive an die Lehrer delegieren; die Lehrer an den Schulsozialdienst – und der Schulsozialdienst an den Schulpsychologischen-Dienst. Plausible Gründe zum Abschieben haben ja alle. Manchmal sind sie sogar berechtigt. Dann habe ich vollstes Verständnis. Trotzdem ist diese Entwicklung schlecht, weil sie in der Hauptsache auf Fremderziehung hinausläuft. So sind Kinder und junge Menschen, die ihre Erziehungsgrundlage in der Familie bekommen sollten, philosophischen und religiösen Einflüssen von fremden Erziehern ausgesetzt. Das kann sich in der Entwicklungsphase negativ auswirken. Dabei erlaube ich mir, auf Druck hinzuweisen, der unter anderem von der islamistischen Seite her zu erwarten ist.“ „Der Druck kommt nicht nur von dieser Seite, Bruno. Neuerdings machen die Freidenker und ihre Sympathisanten von sich reden. Für sie ist es ein Kreuz mit dem Kreuz! Mit dem Kreuz von Golgatha, meine ich.“ „Entschuldige, Schlüsselknecht“, sagt Moritz. „Ich habe da eine Frage!“ „Und die wäre, lieber Moritz?“, erwidert Fredy. „Auf was für Boden säen wir denn deiner Meinung nach? Ich bin gespannt, was du darauf zu sagen hast.“ „Nach meiner Meinung wird heute auf den Boden des sogenannten geistigen Fortschritts gesät. Genauer gesagt, auf den Boden der New-Age-Utopie. Das hört sich zwar etwas überdreht an, ist es aber nicht.“ „Was ist es denn? – Etwas Übersinnliches vielleicht?“ „Genau! Da liegst du richtig, Moritz. New Age heisst auf gut Deutsch ,Neues Zeitalter‘. Es ist die Bezeichnung für eine spirituellreligiöse Strömung. Sie hat das übergreifende Ziel, Individuum und Gesellschaft durch ein spirituelles Bewusstsein zu verändern ... So ungefähr habe ich es irgendwo gelesen. New Age bezeichnet, wie ich gerade erwähnte, eine Utopie, ein neues Zeitalter der Harmonie und des geistigen Fortschritts. Dabei bezweckt diese Strömung vor allem nur eines: Sie will – auch hier – das biblische Christentum samt seinen Werten abschaffen, um im Gegenzug dem Antichristentum mit seiner neuen Weltordnung zum Durchbruch zu verhelfen. Ganzheitliches Denken und Bewusstseinsveränderung soll die neue seligmachende Lösung sein! Diese Lehre schmeichelt uns Menschen gewaltig, denn sie verkündet: ,Der Mensch ist Gott, indem er sein Einssein mit dem Universum vollzieht und realisiert.‘ Genaugenommen verkündet sie nichts ,Neues‘ unter der Sonne. Kalter Kaffee wird neu aufgewärmt! Trotzdem hat die Lehre weltweit grossen Einfluss. Das ganzheitliche, respektive umfassende Denken hat im Übrigen die Einstellung zur Medizin, zur Umwelt, zur Familie, zum Arbeitsleben und zum angestrebten Weltfrieden massgebend beeinflusst; logischerweise natürlich auch weite Kreise in der Politik, in der Wirtschaft, der Wissenschaft – und eben auch in der Erziehung.“ „Aaach, ja! – Einssein mit dem Universum, Weltfrieden, Harmonie, habe ich richtig gehört? Dass ich nicht lache, so weit her ist es mit diesem erhofften Segen aber nicht!“ „Tja, leider, Bruno! Und das ist nicht zum Lachen. Nebenbei erwähnt: Das angeheizte Gestürm in letzter Zeit, um angeblich massives, intolerantes und diskriminierendes Verhalten gegen Ausländer in der Schweiz und in Europa, ist ebenfalls ein Produkt, das uns von diesen neuen Denkern vorgeworfen wird.“ „Wie meinst du das?“ „Ich meine: Du darfst heute jede erdenkliche Ansicht vertreten – nur keine christliche. Die Selbstvervollkommnungs-Idee hingegen – mit ihrem verdeckten, babylonischen Geist, lässt im Gegensatz dazu keine überprüfenswerte Kritik gelten.“ „Na, na, Fredy, du bist jetzt aber ein elender Miesmacher“, wendet Moritz ein. „Was um Himmelswillen ist daran schlecht, wenn man versucht, die Gesellschaft positiv zu verändern? Das bringt uns doch alle weiter.“ „Entschuldige, Moritz! Ich bin kein Miesmacher! – Es könnte ja auch sein, dass ich ehrlich besorgt bin über diese Entwicklung. Selbst wenn ich diese Bemühungen respektiere, so viel Positives sehe ich hinter dieser Veränderung nicht. Ich habe eher den Eindruck, dass die New-Age-Bewegung dem wieder auflebenden Heidentum zu neuem Glanz verhelfen will ... Dafür sprechen für mich verschiedene Anzeichen: unter anderem die neu aufblühende Esoterik, der Okkultismus und die dazu gehörende Tätowierungs- und Piercingwelle. Dabei sind es vor allem gewisse Motive von Tattoos, die mir zu denken geben ... Totenköpfe, Teufelsfratzen, Monsterfiguren und anderes mehr.“ „Jawohl! Mir gibt das auch zu denken, Fredy. Nicht zu vergessen, den Drang zum nackten Wandern und Velofahren“, füge ich hinzu. „Überhaupt bin ich mir nicht sicher, ob bei dieser HosenrunterManie noch etwas anderes heruntergekommen ist? Auf jeden Fall scheinen die Nudisten erst dann glücklich und zufrieden zu sein, wenn sie die Tattoos auf dem Hintern und die Piercings, wo auch immer angebracht, zur Schau stellen können.“ „Das sind dann eben nackte Tatsachen, Bruno!“, wirft Moritz mit Augenzwinkern dazwischen. „Wenn du schon von Tatsachen sprichst, Moritz, erlaube ich mir noch eine andere zu erwähnen.“ „Und die wäre, Bruno?“ „Dass sich in der Zeit, in der ich in U-Haft sass – und das sind Jahre her –, bis auf den heutigen Tag nicht wirklich viel zum Bessern verändert hat ... Wir Menschen sind, was wir sind, und stehen uns für eine bessere Welt selbst im Wege. Natürlich haben wir in den letzten hundert Jahren auf vielen Gebieten Fortschritte gemacht – und zwar ganz gewaltige. Das ist diskussionslos. Wenn ich nur an die Errungenschaften in Technik, Wissenschaft und Medizin denke, wäre es vermessen von mir, etwas anderes zu behaupten. Nur, ich frage euch: Sind wir auch als Individuen, als Bewahrer von geistlichen und sittlichen Werten weitergekommen?“ „Nicht unbedingt, Bruno! ... Ich wage das sogar zu bezweifeln“, sagt Fredy. „Ich auch, das muss ich vernünftigerweise zugeben“, meint Moritz unverhofft. Plötzlich steht Moritz etwas unbeholfen auf und sagt: „Ich bin ganz verkrampft. Ich muss mich ein wenig bewegen. Das lange Sitzen drückt mir auf die angeschlagene Bandscheibe. Ich gehe eine rauchen und hole mir anschliessend bei Frau Fröhlich ein Bier. Willst du auch eins, Schlüsselknecht?“ „Ja, gern! Ein kleines Alkoholfreies.“ „Und du, Bruno …?“ „Ja, bitte! Aber für mich einen Orangensaft, Moritz!“ „Okay, für Fredy ein kleines alkoholfreies Bier und für Bruno einen Vitaminschub“, murmelt er vor sich hin und macht sich auf, um im Gartensitzplatz neben dem Speisesaal seine Zigarette zu rauchen. „Inzwischen gehe ich auch mal kurz weg“, sagt Fredy. „Ich muss austreten!“ Leicht hinkend geht er mitten durch die gutbesuchte Cafeteria zu den Toiletten. „Mensch, es regnet immer noch wie aus Giesskannen!“, sagt er, als er zurückkommt. „Genau das richtige Wetter zum Diskutieren ... Wie ich sehe ist Moritz auch zurück.“ „Ja, das bin ich!“ „Dann können wir mit unserer gesellschaftskritischen Debatte weitermachen“, schlägt Fredy vor. „Die Sache ist noch lang nicht vom Tisch. – Vom Tisch tönt doch gut, oder nicht?“ „Klar! Richtig witzig, Fredy! Wie bei einem Politiker“, entgegnet Moritz. „Die unerfreuliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte, die wir besprochen haben, ist aber weniger witzig“, gibt Fredy zu bedenken. „Sie zeigt bestenfalls, dass wir Erdenbewohner nicht viel dazu gelernt haben. Den Beweis dafür liefern die Medien täglich ... Deshalb bleibt nichts anderes übrig, als ehrlicherweise zuzugeben, dass unsere liebe Erde seit dem Sündenfall nichts Paradiesisches mehr an sich hat.“ „Du sagst es, Fredy. Das sehe ich genauso.“ „Schön, dass du mir beipflichten kannst, Bruno. Ich möchte nämlich mit meinen kritischen Einwänden nicht als unverbesserlicher Pessimist dastehen.“ „Für mich haben deine Einwände nichts mit Pessimismus zu tun, Fredy. Sie sind schlicht und einfach die Bestätigung der Wahrheit. Dass es auf vielen Gebieten in unserer Gesellschaft chaotisch und manchmal sehr gemein zu und her geht, wird wohl niemand ernsthaft bestreiten wollen? Dass sich unerfreuliche Sachen in Fussballstadien unter Rowdys und auch bei anderen Events abspielen, überrascht daher eigentlich nicht. Genauso wenig wie die Tatsache, dass darum viel Geld und Personal in die allgemeine Sicherheit – und wenn ich die Politik und Wirtschaft dazu nehme, in PUK‘S und GPK’S – investiert werden muss. Für alles und jedes braucht es heute Aufpasser. Dabei sind doch alle so nett! Ich denke, wir alten Hasen können es uns erlauben, hier ein Urteil abzugeben, schliesslich sind wir ja nicht erst seit gestern auf der Welt!“ „Sehr schmeichelhaft von dir, Bruno …, dass du uns daran erinnerst, alte Hasen zu sein“, meint Moritz mit säuerlicher Miene. „Natürlich ist es nicht zu übersehen, dass ich ein alter Hase bin, wenn ich an meine grauen Haare denke“, meint er grinsend. „Aber du mit deiner beinahe Glatze stehst auch nicht besser da! – Zurück zum Thema“, sagt er und fährt fort: „Es ist nicht zu übersehen, dass in der Völkerwelt eine ungute Entwicklung im Gange ist. Manchmal frage ich mich, wieso das so ist?“ „Ich glaube, ich habe eine gute Erklärung dafür“, erwidert Fredy. „So, so …, dann lass die Katze aus dem Sack. Ich bin einmal mehr gespannt auf deine kluge Antwort“, stichelt Moritz. „Also gut, auf los geht’s los. Der bekannte Apologet Francis A. Schaeffer, er lebte zwischen 1912, schrieb zum Thema Wahrheit: ‚Indem der Mensch sich von Gott und der von Gott gegebenen Wahrheit abgewandt hat, ist er auf lächerliche Weise töricht geworden, und zwar hinsichtlich der Erkenntnis seines eigenen Wesens und der Beschaffenheit des Universums. Damit bleibt der Mensch in einer Lage zurück, in der er nicht leben kann, und er ist in einer Vielzahl intellektueller und persönlicher Spannungen verfangen.‘“5 „Der Mann hat recht! sage ich euch.“ „Schon gut, Bruno!“, murrt Moritz kurz dazwischen. „Mach weiter, Fredy!“ „Schaeffer erklärt in seinem Buch, das ich gerade lese, noch Folgendes: ,Die Bibel sagt uns, wie der Mensch in diese Lage geriet: ,…weil sie Gott kannten, ihn aber weder als Gott verherrlichten noch ihm Dank darbrachten; deshalb wurden ihr Urteilsvermögen, ihr Verstand, ja ihr Leben töricht. Dieser Abschnitt der Bibel bezieht sich auf die Ursünde, aber er handelt nicht von der Ursünde allein. Er spricht von jeder einzelnen Epoche, in der die Menschen die Wahrheit kannten und sich vorsätzlich davon abwandten.‘ – Er bringt die Sache auf den Punkt!“ „Stopp, Fredy! …, das ist ja wie im Religionsunterricht.“ „Eben nicht, Moritz! Das hat nichts mit Religion zu tun, sondern mit der Wahrheit. Und weil dem so ist, wird die Gottlosigkeit immer mehr überhandnehmen. Du, als ehemaliger Rechtsanwalt, musst doch zugeben, dass die Menschheit auf lächerliche Weise töricht geworden ist. Als Aufseher ist mir das im täglichen Umgang mit Gefängnisinsassen immer wieder bewusst geworden ... Bruno hat das übrigens vorhin mit seinen Bemerkungen ebenfalls bestätigt. Und er war ja etliche Jahre vor mir – als U-Häftling – im Gefängnis.“ „Wie ist dir das denn bewusst geworden, Fredy?“ „Ganz einfach, Moritz. Weil ich der Bibel glaube! Sie sagt, dass wir Menschen eine Ganzheit von Geist, Seele und Leib sind. Das ist eine göttliche Tatsache ... Kommt in diese schöpfungsmässige Ordnung Unordnung hinein, gibt es ein bedenkliches ,Chaos‘. Und das haben wir heute! Ausserhalb und eben auch innerhalb von Gefängnissen. Ich behaupte, du kennst das aus eigener Erfahrung.“ „Ich gebe es nur ungern zu, Fredy, aber es stimmt. Tatsächlich habe ich oft darüber nachgedacht, als ich noch als Anwalt tätig war. Es war mir ein Rätsel, wie einige der Täter oder Täterinnen, selbst mit einem brutalen Tötungsdelikt auf dem Gewissen, ohne erdrückendes Schuldbewusstsein durch die Untersuchungshaft gekommen sind.“ „Genau, darüber habe ich mich auch gewundert, Moritz ... Und wenn sich das Gewissen dann doch noch regte, hatten wir jede Menge von Psychopharmaka zur Verfügung, die wir auf ärztliche Verordnung hin abgeben durften. Ich bin mir fast sicher, dass das Denken in Hinsicht auf das Schuldbewusstsein zu Brunos U-HaftZeit nicht so oberflächlich war. Nach meiner Meinung hängt diese Entwicklung eben mit dem Zeitgeist zusammen. Heute wird oft einem Täter oder einer Täterin das Schuldgefühl nahezu ausgeredet ... So wird natürlich die Sensibilität für begangenes Unrecht mehr und mehr entstellt. Dabei fällt mir auf, dass es in der Rechtsprechung, aber auch in unserer Gesellschaft ganz allgemein, in die Richtung geht, das Böse gut und das Gute böse zu heissen.“ „Hast du Schuldbewusstsein gesagt, Moritz?“, fahre ich dazwischen. „Habe ich richtig gehört? Das ist doch auch nur noch ein Wort, das niemand mehr ernst nimmt.“ „Ja, leider Bruno. Das ist aber eine fatale Entwicklung. Und diese wird nicht besser, selbst dann nicht, wenn wir nach den neusten Zielsetzungen von Wissenschaftlern auf den Mars auswandern, oder besser gesagt, abhauen können!“ „Auf den Mars abhauen? Ein raffinierter Gedanke, Moritz“, höhne ich. „Um dort oben weiterhin unser Unwesen zu treiben? – Gott bewahre!“ „Du hast recht, Bruno! Wir bleiben wohl besser da, wo wir sind“, entgegnet darauf Fredy. „Als ich damals in Untersuchungshaft sass – um darauf zurückzukommen –, ging es mir moralisch oft schlecht. Ich staunte selber darüber, dass mir die Situation, eingesperrt zu sein, so hart zusetzte. Es war die eingeschränkte Bewegungsfreiheit, die mir grosse Mühe machte. Im Gefängnis musst du auf vieles verzichten, was draussen selbstverständlich ist. Du musst einfach warten können. Sogar Briefe, die du abschickst oder dir zugestellt werden, gehen zuerst zum Untersuchungsrichter zum Visum, wie das in der Fachsprache heisst. Das macht nervös und du bekommst den Eindruck, alles gehe zu langsam. Wenn du dann noch allein in einer engen, spärlich eingerichteten Zelle sitzt, sind die Tage und Nächte lang. Dann hast du erst recht Zeit zum Studieren. Die Gedanken fangen an zu drehen. Es war ja nicht so, dass unsere Clique damals ein grosses Verbrechen begangen hatte – und doch, es war ein Einbruch mit Sachbeschädigung. Und der hatte eben seine Folgen. Die ganze Untersuchung wäre eigentlich schnell erledigt gewesen, wenn die Täterschaft der Einbruchserie in den Laden, vor unserem Bubenstreich, bekannt gewesen wäre. Und wenn Fränky nicht noch eine gemeine Rolle in unserer Sache gespielt hätte. Er versuchte nämlich, mir den Einbruch anzuhängen. Das war fies von ihm. Ich war ziemlich enttäuscht ... Immerhin waren wir seit der gemeinsamen Schulzeit gute Kollegen. Zu meinem Glück liessen sich der Untersuchungsrichter und der Polizeisachbearbeiter von ihm nichts vormachen. Schliesslich gab er zu, dass er es war, der die Türe gewaltsam aufgebrochen hatte. – Nach knapp drei stressigen Monaten wurde ich, um eine Erfahrung reicher, aus der U-Haft entlassen. Ich war noch nie so erleichtert wie in diesem Moment, als ich an dem schönen Herbstmorgen, mit meinen wenigen Effekten in der Papiertragtasche, durch das schwere Eisentor in die Freiheit spazie- ren konnte. Trotz allem: Die Zeit im Gefängnis hatte auch ihre gute Seite!“ „So, so! Das auch noch! Und das Gute daran war?“, fragt Moritz. „Das Gute war eine Bibel. Sie gehörte zum Zelleninventar und lag ramponiert und respektlos verschrieben auf dem obersten Tablar im Wandschrank. Aus Langeweile begann ich darin zu blättern – und zu lesen. Obwohl ich vieles nicht richtig verstand, blieb ich doch an ein paar Versen hängen, die mir mächtig eingefahren sind. Eingefahren ist das richtige Wort. So wie es die jungen Leute heute verwenden. Auf jeden Fall ist mir diese Bibelstelle immer noch gegenwärtig, die langfristig mein Leben veränderte. Es waren Worte aus dem Römerbrief, Kapitel , die Verse 10- .“ „Und die Worte sind, lieber Bruno!“ „Auswendig kann ich sie nicht zitieren, Moritz. Mein Gedächtnis ist nicht mehr das Beste, aber ich habe eine kleine Taschenbibel im Hosensack, daraus kann ich die Worte vorlesen.“ „Unser Bruno, ein Frommer! Mensch, wer hätte das gedacht?“, sagt Moritz verwundert. „Also doch Religionsunterricht“, ergänzt er noch. „Dann lies vor, wenn es sein muss.“ „Okay, Moritz! – Ohren steif, ich lese: ,Es gibt keinen, auch nicht einen Einzigen, der ohne Sünde ist. Es gibt keinen, der einsichtig ist und nach Gott fragt. Alle haben sich von ihm abgewandt und sind dadurch für Gott unbrauchbar geworden. Da ist wirklich keiner, der Gutes tut, kein Einziger. Ihre Worte bringen Tod und Verderben. Durch und durch verlogen ist all ihr Reden, und was über ihre Lippen kommt, ist bösartig und todbringend wie Schlangengift. Ihr Mund ist voller Flüche und Gehässigkeiten. Sie sind schnell bereit, Blut zu vergiessen. Sie hinterlassen eine Spur der Verwüstung und des Elends. Den Weg zum Frieden kennen sie nicht, denn sie haben keine Ehrfurcht vor Gott… Deshalb kann sich keiner herausreden. Alle Menschen auf der Welt sind vor Gott schuldig.‘“6 „Das wär‘s, Moritz ... Und jetzt, was sagst du dazu?“ „Was, und jetzt, Bruno? Was soll ich dazu sagen? – Lass mir einen Augenblick Zeit!“ Nach einer kurzen Pause sagt Moritz: „Das sind deutliche Worte! So deutlich, dass sie mich ärgern und ich mich dagegen auflehne. Und doch, ich muss zugeben: Es ist sinnlos, die Wahrheit dieser Worte abzustreiten.“ „Ich kenne diese Bibelstelle auch“, meldet sich Fredy zu Wort. „Ich kann sie nur bestätigen: Jedes Wort ist wahr! Den Beweis dazu, dass sie stimmt, erbringen wir Menschen tagtäglich. Ebenso die vollen Gefängnisse hier und die übervollen Gefängnisse im Ausland. Obwohl – unter uns gesagt – nicht einmal alle in einem Gefängnis sitzen, die eigentlich hineingehören. Was die Bibelworte beschreiben, ist seit Menschengedenken so. Wir finden die Bestätigung in Zweierbeziehungen, in Familien, in der Wirtschaftswelt, in der hohen Politik und in den vermummten Köpfen fanatischer Terroristen. Darum nennt uns Gottes Wort Sünder, aber das wollen wir so nicht hören, geschweige denn wahrhaben. Ich kenne liebenswerte Menschen, die wütend werden, wenn ich in ihrer Gegenwart das Wort Sünde in den Mund nehme. Einigen von ihnen gefällt es weit besser, vom Zufall oder vom Affen abzustammen. Sie meinen, dass so das Problem mit Gott und der Sünde aus der Welt geschafft ist. Und doch: Alle wollen in den Himmel, oder sonst irgendwo im Jenseits ihre Ruhe haben. – Nur, diese Ruhe, die sie sich vorstellen, dürfte ein grosser Irrtum sein!“ „Du scheinst deiner Sache sehr sicher zu sein, Fredy?“, wendet Moritz kritisch ein. „Ja, das bin ich! Für mich ist es beruhigend zu wissen, dass Gott, das heisst Jesus Christus, einmal gerecht richten wird ... Abschleichen ist nicht möglich! Zu allen Zeiten gab es nämlich Verbrechen, deren Täter hier nie zur Rechenschaft gezogen werden konnten, weil sie zu raffiniert oder zu mächtig waren. Aber das ist nicht das Ende der Fahnenstange. Darum sind für mich die Evolution und die Affentheorie einfach lächerlich. Mit Sicherheit kommt die Zeit, wo alles ans Licht kommt, und das steht auch in der Bibel! Eines steht fest: An Jesus Christus kommt niemand vorbei: ‚Vor IHM werden einmal alle auf die Knie fallen: alle im Himmel, auf der Erde und im Totenreich. Und jeder ohne Ausnahme soll zur Ehre Gottes, des Vaters bekennen: Jesus Christus ist der Herr!‘7 Bei IHM stimmt dann das Urteil. Er ist absolut gerecht. Er kennt unsere Herzenshaltung genau und weiss um unsere Zurechnungsfähigkeit oder Unzurechnungsfähigkeit. Faule Ausreden und „bedingte Strafen“ wird es nicht geben. – Alle Religionen, alle Philosophien, alle selbsternannten Götter und alle, die die Lüge liebten werden verstummen, ganz einfach verstummen. Oder glaubst du etwa auch, dass nach dem Tode alles aus ist …? Dass wir klammheimlich verduften können, egal was wir getan haben, egal was wir zu verantworten haben? Das glaube ich definitiv nicht!“ „Pah …, Fredy! Das sind ungewohnte Töne“, sagt Moritz verlegen. „So fromm, so absolut! Trotzdem, nachdenklich stimmt mich die Sache schon. Gerecht wäre deine Sicht der Dinge auf jeden Fall.“ „Eben! Nehmen wir nur den Satz aus dem Text von vorhin: ,Sie sind schnell bereit, Blut zu vergiessen. Sie hinterlassen eine Spur der Verwüstung und des Elends. Den Weg zum Frieden kennen sie nicht…‘ Dass wir den Weg nicht kennen, bestätigt unter anderem ein ETA-TerrorAnschlag mit einer Autobombe auf der Ferieninsel Mallorca, im Juli 2009. Zwei junge Polizisten kamen bei diesem hinterlistigen Anschlag ums Leben. Die Bombe war unter ihrem Fahrzeug versteckt. Ihre Körper wurden auf der Strasse buchstäblich in Stücke gerissen. Zurück blieb eine Spur der Verwüstung. Bumbum!… und Tod. Eine feige, sinnlose Tat, die Not und Elend über unschuldige Familien brachte. In so einem Moment tröste ich mich damit: Auch wenn die Täter und ihre Antreiber entkommen – die Aufhetzer und Fanatiker im Hintergrund – Gott kennt sie alle. IHM entkommen sie nicht!“ „Was ist, Bruno? Du bist so still. Sag auch einmal etwas. Bist du ebenfalls Fredy’s Ansicht, dass Gott alle kennt?“ „Ja, das bin ich. Und ich denke, wir drei sind lange genug auf dieser Welt, um sagen zu können, das allein aufgrund dieser zwei Sätze in der Bibel ein gerechtes, endgültiges Gericht wünschenswert ist.“ „Aha! … Dann nehme ich an, dass du wie Fredy der Meinung bist, dass unsere ,irdischen‘ Gerichte und ihre verhängten Strafen nicht gerecht sind?“ „Tja, lieber Moritz, du warst doch Rechtsanwalt – glaubst du es denn?“, sage ich keck. „Eine gute Frage, Bruno“, wendet Fredy lächelnd ein und meint: „Woher kommt denn das wachsende Misstrauen in die Justiz, Moritz – und wieso ist in diesem Zusammenhang in unserer Gesellschaft immer mehr von Kuscheljustiz die Rede. Das muss doch einen Grund haben, und den gibt es zweifellos, auch wenn du das nicht gerne hörst.“ „Du musst es ja wissen, Fredy“, knurrt unser Anwalt a.D. beleidigt. „Nimm die Sache nicht zu tragisch.“ „Da hast du nicht einmal unrecht, Moritz, ich muss die Sache nicht tragisch nehmen. Aber die Staatsanwälte, Rechtsanwälte und Richter umso ernster ... Übrigens, was soll das: Du musst es ja wissen. Das ist ja gerade das Problem, dass man nicht mehr weiss, was man glauben darf und was nicht. Mit anderen Worten: Was ist die Wahrheit oder wo wird gelogen? Es sind vor allem die ungenauen Medienberichte, oft geschürt von einer voreiligen, sensationshungrigen Presse, die mich und andere verunsichern. Sie verfälschen unter Umständen die Glaubwürdigkeit. Gerade bei strafrechtlichen Untersuchungen von Verbrechen bekommt man ein falsches Bild und das führt zu einer ungerechten Meinungsbildung. Dazu kommt oft noch ein schwerverständliches hin und her von Psychologen und Gutachtern. So lange bis ein Täter oder eine Täterin beinahe unschuldig dasteht ... Diese Entwicklung habe ich jedenfalls schon damals im Gefängnis beobachten können.“ „Da gebe ich Fredy einmal mehr recht, Moritz. Seine Darstellung ist nicht aus der Luft gegriffen. Ich stelle hin und wieder fest, dass Medienberichte dementiert werden müssen, weil sie heute nicht mehr stimmen, obwohl sie gestern noch als Tatsache hingestellt wurden. Häufig werden Details an die Öffentlichkeit gezerrt und breitgeschlagen, bevor sie seriös recherchiert und sich als richtig und wahr erwiesen haben. So ist doch für uns Leser eine faire Meinungsbildung einfach nicht möglich.“ „Okay, Bruno …, hast du ein Beispiel?“, fragt Moritz. „Ja, zum Beispiel den ,Vergewaltigungsfall‘ des Wetter-Moderators Kachelmann im Jahre . Nur, das war bei weitem nicht der einzige Fall. Es gab noch andere Fälle, bei denen die Wahrheitsfindung oft einer Komödie gleichkam. Aber das ist nichts Neues. Ich kann mich erinnern, wie im Fall Kachelmann das Magazin Stern in einer Ausgabe desselben Jahres – ich glaube es war im Juli – einen Artikel mit dem Titel: ,Die Suche nach der Wahrheit‘ veröffentlichte. Inzwischen ist die Suche vorbei und die Wahrheit – na ja, lassen wir das. Diese Geschichte bestätigte mir einmal mehr, wie gut sich das dargestellte Sexualleben eines Prominenten in der Pressewelt vermarkten lässt.“ „Genau, Bruno.“ „Oder wie bei dem anderen Fall“, ergänzt Fredy, „dem Loveparade-Drama im selben Jahr in Duisburg. Wo der Schwarze Peter bei der Suche nach den Verantwortlichen hin und her geschoben wurde. So kommentierte jedenfalls eine ,Gratiszeitung‘ das undurchsichtige Vorgehen bei der Untersuchung des schrecklichen Unglücks.“ „Tja, dann wäre da ja noch der Sport, Freunde“, fügt Moritz hinzu. „Mit seinen chemischen Superleistungen. Vor allem im Radsport sind die Doping-Fahnder hinter unverbesserlichen Helden der Landstrasse her. Sie geraten samt ihren Ärzten und Betreuern immer wieder in die Schlagzeilen. Die aufgetischten, zum Teil lächerlichen Lügen dieser Saubermänner enttäuschen mich als ehemaligen Hobbyfahrer ganz besonders.“ „Da kann ich dich absolut verstehen, Moritz“, antwortet Fredy. „Als alter Sportsfreund und einstigem Amateurboxer geht es mir genauso. Wegen diesen endlosen, naiven Doping-Geschichten samt Entschuldigungen bin ich auf meine alten Tage um eine Illusion ärmer geworden.“ „Alles gut und recht, Schlüsselknecht – nur, was hat das mit dem Gefängnis zu tun? Das will ich jetzt von dir wissen!“ „Sehr viel, Moritz. Weil alles, was seit eh und je in einer Gesellschaft abgeht, immer dem aktuellen moralischen und sittlichen Zustand entspricht. Und dieser wirkt dann auch durch die Insassen in die Gefängnisse hinein. Weil das so ist, bleibt im Hinblick auf Verbrechen mit jeder Garantie alles beim Alten. Das Kommen und Gehen oder ,Rein in den Knast! – Raus aus dem Knast!‘, wie wir damals gesagt haben, eben auch.“ „Meine Güte Fredy, ist das hoffnungslos! Gibt es denn gar keine Möglichkeit, dass wir das ändern können?“ „Ich denke nicht! Auf jeden Fall nicht aufgrund unserer menschlichen Veranlagung. – Das schaffen wir nicht, davon bin ich überzeugt. Wir bleiben, was wir sind, eine von Gott abgefallene Schöpfung. Dazu sagt die Bibel mit Recht: ,Alle haben sich von ihm abgewandt und sind dadurch für Gott unbrauchbar geworden.‘8 Unser egoistisches Ich und, wenn wir in Massen auftreten, das ebenso rücksichtslose Wir, bleibt weiterhin unser grösstes Problem. Auch wenn die heutigen ,Weltweisen‘ anderer Meinung sind. – Nebenbei bemerkt, Moritz: Wieso macht eigentlich die Evolution hier keine Fortschritte, die doch von vielen geglaubt wird? Warum benehmen wir uns nach angeblich Millionen von Jahren immer noch so gesetzlos, lieblos und dumm? Wo bleibt da die Entwicklung vom Niederen zum Höheren, wie sie die Jünger von Darwin proklamieren, hä? Warum gelingt es uns nicht, besser zu werden? Vom Gletschermenschen Ötzi zum Beispiel wird angenommen, dass er von 3350 bis 3100 v. Chr. gelebt haben muss. Man weiss auch, was er zuletzt gegessen hat – und dass er ermordet wurde. Wann er zum letzten Mal gerülpst hat, wissen die Wissenschaftler vielleicht auch. Aber auf die wichtige Frage: ,Warum schaffen wir es nicht besser zu werden?‘, haben auch sie keine Antwort.“ „Wieso die Evolution keine Fortschritte macht? Was fragst du mich?“, giftelt Moritz. „Das weiss ich doch nicht!“, murrt er noch. „Vielleicht brauchen wir einfach weitere Millionen Jahre bis die ,Besserung‘ eintritt.“ „Das ist nicht überzeugend, lieber Moritz“, sage ich, um ihn ein wenig zu ärgern. „Blablabla …, schon gut Senkrecht! – Du hast ja deine Bibel.“ „Bingo, Moritz. Die habe ich seit jenem Tag, als ich im Gefängnis diesen Römer-Text gelesen habe. Und sie begleitet mich bis auf den heutigen Tag. Das eine sage ich dir: Sie überzeugt mich mehr, als das Geschwätz gescheiter Leute, die die Welt neu und ohne Gott erfinden wollen. ,Gott ist unnötig!‘9, so lautet die zitierte Aussage des berühmten Astrophysikers Stephen Hawking in einer Gratiszeitung. Weiter meinte er: ,Unser Universum habe spontan und aus sich heraus entstehen können.‘10 Wenn der gute Mann das tatsächlich so gesagt hat, tut er mir leid. Ich will nicht lieblos erscheinen, aber hier drängt sich doch die Frage auf, ob sein hoch technisierter Rollstuhl auch aus sich heraus entstanden ist?“ „Wow! Das ist hart ausgedrückt, Bruno! – Aber irgendwie logisch“, erwidert Moritz. „Mag sein, Moritz, dass das hart tönt. Nur, diese berühmten Leute beeinflussen mit ihrem Denken eben auch andere. Vor ein paar Jahren nahmen die Freidenker ebenfalls einen Anlauf in diese antigöttliche Richtung. Wenn ich mich richtig an den Bericht erinnere, war es in London und in Barcelona. Auf grossen Plakattafeln an Bussen war weithin zu lesen: ,Wahrscheinlich gibt es keinen Gott. Kein Grund zur Sorge, geniesse dein Leben.‘ Mit diesem Slogan warben sie für ein Leben ohne Gott. In Deutschland wollte man den Satz noch ergänzen, mit den Worten: ,Werte sind menschlich. Auf uns kommt es an.‘ Mensch Kollegen! – Auf uns kommt es also an. Schön und wunderbar, dann sind wir ja bedient. Seit weit über 2000 Jahren kommt es schon auf uns an – und was ist dabei rausgekommen, hä?“‘ „Das kann ich dir sagen, Bruno“, setzt Fredy hinzu: „Mehr Gottlosigkeit, mehr Chaos, das haben wir erreicht! Die Bibel prophezeit das schon im Alten Testament. Im Buch der Sprüche, mit den Worten: ,Je mehr gottlose Menschen, desto mehr Verbrechen.‘11 Mehr Werte wünschen sich die Freidenker, schön und gut … Mehr Ethik vielleicht? Auch gut! Nur, ich lese und höre eigentlich mehr über Lust und Frust, über Gewalt und Bomben. Und das rund um den Globus. Aber eben, damit lassen sich ,Werte‘ nicht erzwingen. Genauso wenig den Himmel, selbst mit religiösen Bombengürteln nicht.‘“ „Das ist sehr kritisch formuliert, Fredy“, unterbricht ihn Moritz. „Das hören nicht alle gern. So gottlos, wie du sagst, können wir Menschen doch gar nicht sein, dagegen sprechen allein schon die vielen Religionen in der Welt.“ „Natürlich hast du recht, Moritz. Dabei kommt es aber darauf an, wie Gottlosigkeit definiert wird. In diesem zitierten Spruch bedeutet Gottlosigkeit: ,Losgelöst sein vom wahren Gott!‘ Abgesehen davon, trifft er den Nagel auf den Kopf, weil hier von dem Gott – von Jesus Christus – die Rede ist, den viele absolut nicht wollen.“ „Amen!“, knurrt Moritz demonstrativ. „Wieso bist du so sicher, dass dieser Gott, den du meinst, der Richtige ist?“ „Weil Er der Einzige ist, der etwas für unser Seelenheil und für unsere Errettung getan hat. Während bei allen anderen Religionen der Mensch etwas für seine Gottheit oder Götter tun muss, um dieses Heil zu erlangen.“ „Was hat Er denn für uns getan?“, fragt Moritz unverblümt. Und ich bin mir sicher, dass er genau weiss, worauf Fredy mit seiner Antwort hinaus will. „Er hat am Kreuz mit Seinem Leben für unsere Sündenschuld bezahlt“, antwortet Fredy respektvoll. „Aus Liebe gab der Sündlose für die verlorene Menschheit Sein Leben. Für alles das, was jeder Einzelne von uns an Schlechtem anstellt –, aber nicht mehr Sünde nennen will. Dafür haben wir heute andere Worte – entschuldigende –, ja, nichtssagende Worte. Sünde tönt zu sehr nach Christentum, sagen viele. Das ist doch vorbei, das wollen wir nicht mehr! Wir sind doch aufgeklärte Menschen! Nebenbei bemerkt: Was das ,tönen nach dem Christentum‘ betrifft, irren sich die lieben Mitmenschen. Sünde ist nämlich auch in anderen Religionen ein bekannter Begriff. Man weiss also darum. Und genau deshalb gibt es sie ja, die Religionen!“ „So, so …, aufgeklärt sind wir!“, erwidere ich energisch. „Das sehen Wissenschaftler beim CERN in Genf bestimmt auch so. Mit Millionen teuren Teilchenbeschleuniger-Experimenten wollen sie die Entstehung der Welt beweisen. Natürlich ohne Gott. Dabei geben sie sich alle erdenkliche Mühe, den ,Kreationisten‘ dieser Welt wegzuforschen. Und das, obwohl sie selber tagtäglich mit hochstehenden, technischen Geräten arbeiten, die zweifellos kreiert und konstruiert worden sind. Selbst die simplen Kugelschreiber, die sie im Labor benützen, sind nicht aus dem Nichts ins Dasein geknallt worden. Selbst diese Schreibstifte waren ohne einen Planer und Konstrukteur nicht möglich. Darum wurden sie feinsäuberlich in einer Schreibwarenfirma geplant und hergestellt ... Kollegen, ich habe echt Mühe, die Gedankengänge von klugen Forschern, die der Evolution anhangen, zu verstehen…“ „Du bist einfach zu wenig klug, mein lieber Bruno!“, spottet Moritz. „Und du nimmst mich nicht ernst!“ kontere ich. „Sicher werden diese Schreibstifte irgendwo hergestellt“, meint Fredy „und wenn es durch einen gebastelten Roboter geschieht. Auf jeden Fall ist im CERN der Schatten an der Wand von Darwin nicht zu übersehen. Und Darwin hat nach meiner Meinung einiges zu der heutigen Gottlosigkeit beigetragen. Schon die Kinder in der Schule werden mit dem Geist seiner Evolutionstheorie gefüttert, obwohl sie weder bewiesen noch hieb und stichfest ist.“ „Nimmst du den Mund nicht zu voll, Fredy?“, frotzelt Moritz und fügt lächelnd hinzu. „Kannst du denn beweisen, dass diese Theorie nicht bewiesen ist?“ „Alle Achtung Moritz, für diesen Kalauer“, sagt Fredy und wiederholt den Satz noch einmal: „Kannst du denn beweisen, dass diese Theorie nicht bewiesen ist? Eine originelle Formulierung, du bist ja ein richtiger Dichter! Aber Spass beiseite. – Ich kann es nicht. Schliesslich kommt es doch darauf an, was man glauben will. Sicher habe ich einiges darüber gelesen. Gute Literatur von anerkannten Fachleuten, die sich zu diesem Thema geäussert haben. Dabei ist mir aufgefallen, dass die Vertreter der Evolutionstheorie ein Problem haben. Ihr Problem ist: Dass die einzige Alternative dazu der Schöpfungsakt eines Gottes ist, und das ist für sie undenkbar. Trotz der Tatsache, dass diese Theorie nicht bewiesen ist, wird die Schöpfungslehre immer mehr aus den Schulzimmern verbannt, mit sträflichen Folgen für nachfolgende Schüler-Generationen. Denn sie, die angeblichen, ehemaligen ,Primaten‘, die durch die Mühle der neuen Weltordnung geschleust werden, prägen eines Tages unsere Gesellschaft.“ „Übrigens, Bruno. Hältst du es auch für möglich, dass die Evolutionstheorie einen so grossen Einfluss auf die Entwicklung junger Menschen hat?“ „Ja. Moritz. Das halte ich durchaus für möglich.“ „Und warum?“ „Weil durch sie eine dicke Mauer dem Glauben an Gott gegenüber aufgebaut wird. Wenn es dann noch gelingt, die Lehre, der Mensch sei ja nichts anderes als ein höher entwickeltes Tier, in ihre Köpfe zu pflanzen, ist der Mist geführt. Da es Gott angeblich nicht gibt oder nicht geben darf, führt dieser Glaube unweigerlich dazu, dass Menschen glauben, jeder moralischen Verantwortung enthoben zu sein. Das Resultat kennen wir ja. Je gottloser eine Gesellschaft wird, desto gesetzloser und haltloser wird sie. Die Ironie der Geschichte ist: Gute Gesetze gibt es eigentlich genug, nur der Wille sie zu respektieren lässt zu wünschen übrig. Damit ist für mich das Thema Evolution vom Tisch, Kollegen.“ „Wie dem auch sei“, meldet sich Fredy zu Wort. „Auf jeden Fall haben das Duo-Pack Evolutionstheorie und antiautoritäre Erziehung deutliche Spuren in der Gesellschaft hinterlassen. Wie ich schon erwähnte, sind sie als Auswuchs des Zeitgeistes erst recht in Gefängnissen zu beobachten. – Ein typisches Beispiel ist unter anderem das Drogenproblem, Bruno! – Ich bin überzeugt, dass dieses Problem seit deiner U-Haft in den 50er Jahren, bis hin zu meiner Zeit als Aufseher, gewaltig zugenommen hat. Wenn ich mich recht erinnere, ging die Drogen-Sache nach dem Woodstock-Festival im Sommer 1969 erst richtig los. Das war damals ein riesen Event. So sagt man dem doch heute. Auf jeden Fall wurde im Anschluss daran der Drogenkonsum und der freie Sex durch die Hippiebewegung hemmungslos lanciert und ausgelebt. Berühmte Musiker gingen in den folgenden Jahrzehnten mit dem guten Beispiel voran und merkten selber nicht, dass sie Verführte und Verführer zugleich waren.“ „Ja, leider, Fredy! Und viele Nachahmer folgten dem guten Beispiel dieser Vorbilder“, setze ich hinzu. „Um dann nach einer Überdosis auf irgendeinem Friedhof zu landen. Grosse Idole brachten sich so, oder aus Verzweiflung um, trotz Erfolg und Ruhm. Einer der ganz Grossen – Elvis – starb, wie alle Welt weiss, aufgedunsen, einsam und vollgepumpt mit Drogen im Badezimmer seiner Villa. Sein Tod war ein riesiges Drama. Schade für ihn und für jedes Menschenleben, das ähnlich blödsinnig enden musste.“ „Ich sehe, ihr beiden Oldies wisst über das Rock-Business Bescheid“, frotzelt Moritz. „Das ist erstaunlich und beweist immerhin, dass wir alten Herren im Kopf noch gut beieinander sind.“ „Gott sei Dank ist das so. Aber selbstverständlich ist es nicht, das sehen wir hier im Sunnebode jeden Tag“, erwidert Fredy. „Allerdings ist es nicht selbstverständlich“, sage ich dazwischen. „Gerade darum wissen wir darüber noch Bescheid, lieber Moritz.“ „Jaja! Ein wenig Bescheid weiss ich auch. Schliesslich hatte ich als Anwalt mit Drogenkonsumenten zu tun. Und für euch zwei ist es ebenfalls nicht neu, dass damals jede grosse Schweizer Stadt mit dem Drogenproblem zu kämpfen hatte. Zu Hunderten lungerten die süchtigen Junkies in den berüchtigten Parks und Hinterhöfen herum und beschäftigten jahrelang die frustrierte Polizei. Ich denke, es war für die Polizei nicht gerade ein Highlight, zwischen weggeworfenen, schmutzigen Fixerspritzen, übel riechender Kotze und Urin ihren Job zu machen. Viele der Junkies boten nebenbei ein trauriges Bild. Sie konnten sich kaum auf den Beinen halten, wenn sie sich eine Spritze setzten und das mühsam beschaffte Gift in die zerstochenen Adern pressten.“ „Tja, Moritz, das Szenario ist mir nur zu bekannt“, bestätigt Fredy. „Viele von diesen abgestürzten jungen Menschen lernte ich mit der Zeit als Insassen im Gefängnis kennen. Da sah ich die entzündeten und vernarbten Einstichstellen zur Genüge.“ „Ihr könnt es glauben“, fährt Moritz weiter. „Die an den Armen und an den Beinen und sogar am Hals zerstochenen Junkies taten mir ehrlich leid, wenn ich sie von Berufes wegen im Gefängnis besuchen musste. Hier landeten sie meistens wegen Drogenhandel oder Beschaffungskriminalität. Der Stoff sei für den Eigengebrauch, wehrten sie sich heftig. Nervös und misstrauisch sassen mir die erbärmlichen Gestalten im engen Besuchszimmer gegenüber. Ausgezehrt, mit bleichem Gesicht und eingefallenen Wangen. Die Augen tief in den Augenhöhlen liegend. Meistens in schmuddeligen Jeans, die voller eingetrockneter Eiter- und Blutflecken waren. Bemitleidenswerte junge Menschen beiderlei Geschlechts, hoffnungslose arme ,Kreaturen‘, auf Deutsch gesagt!“ „So ist es, Moritz“, sagt der Schlüsselknecht. „Entreissdiebstahl von Handtaschen bei alten Menschen, um an Geld zu kommen und Überfälle in Drogerien und Apotheken, um an Gift zu kommen, war unter anderem ein Grund dafür, dass sie uns früher oder später über den Weg liefen. Die Geldbeschaffung für die benötigten Drogen war für die Süchtigen ein Riesenstress, das sagten sie uns immer wieder. Und dafür waren sie zu jeder Gemeinheit bereit, die sie im Nachhinein oft bereuten. Unverständlich ist, dass es bis heute immer wieder Neueinsteiger gibt, trotz der guten Aufklärung über die kaputt machenden Drogen.“ „So unverständlich ist das nicht, Fredy“, erwidere ich. „Von der Bibel her weiss ich heute, dass hinter der Drogensucht eine andere Macht steht, die selbst Fachleute nicht erkennen, geschweige denn anerkennen wollen.“ „Natürlich hast du recht, Bruno. Ich weiss das auch. Es kommt schliesslich nicht von ungefähr, dass ich auf Jeansjacken von drogensüchtigen Insassen die Zahl 666 entdeckte. Manchmal sah ich diese Zahl auf einem Handrücken oder einem Unterarm tätowiert. Das müsste doch zu denken geben. – Nicht einmal die damit einhergehenden Folgen in den sozialen Abstieg genügten den Drogenkonsumenten als Warnung. Aber eben, wenn man den Hintergrund dieser Zahl nicht kennt, ist das auch nicht verwunderlich.“ „Und, was bedeutet denn diese ominöse Zahl?“, fragt Moritz. „Es ist die Zahl des absolut Bösen“, erklärt Fredy. „Die Zahl satanischer Macht. Nachzulesen in der Bibel, im Buch der Offenbarung.12 Diese Macht – eine Person wohlverstanden – ist es, die Menschen wie mit Ketten in der Abhängigkeit ihrer Sucht festhält!“ „Entschuldige Fredy! Ist das nicht eine mittelalterliche Vorstellung von dir, beim Drogenproblem den Teufel ins Spiel zu bringen? Die ganze Suchtproblematik lässt sich doch psychologisch und wissenschaftlich erklären.“ „Das glaubst du, Moritz! Ich aber nicht!“, widerspricht Fredy vehement. „Mir gegenüber haben einige Süchtige zugegeben, in den Klauen dieser teuflischen Macht zu sein, von der es nicht einfach sei, loszukommen. Wer wie ich Süchtige bei einem schmerzvollen, kalten Entzug erlebt hat, weiss, wovon sie reden ... Punkt! Übrigens: Neueinsteiger gibt es nicht nur bei denen, die oft respektlos Junkies genannt werden, sondern genauso bei denen, die zur Elite gehören, den Gebildeten, den Karrieristen und Sportlern. Die haben auch ab und zu einen chemischen Aufsteller oder Aufputscher nötig, um Erfolg zu haben oder bestehen zu können.“ „Das ist ein gefährliches Spiel mit dem Feuer“, meint Moritz nachdenklich. „Dazu kommt mir eine traurige Geschichte in den Sinn. Sie berührte mich damals sehr und ist bis heute noch einigermassen in meinem Gedächtnis gegenwärtig.“ „Dann lass uns die Geschichte hören“, motiviere ich Moritz. „Wir sind ganz Ohr.“ „Okay, Bruno! Vor vielen Jahren hatte ich zweimal den gleichen Klienten. Einen jungen Mann, der einfach nicht aus diesem Drogenwahnsinn rausgekommen ist. Eines Tages brach er mit einem Leidensgenossen in eine Apotheke ein. Sie brauchten dringend ihren Stoff, hatten aber Nachschubprobleme. In der Apotheke – dachten sie – gibt es genug davon. Beide waren keine ,Profieinbrecher‘ und liefen nur kurze Zeit später der Polizei in die Finger, respektive in die Handschellen. Nach einer kurzen U-Haft-Zeit von wenigen Wochen, tauchte er wieder in der Szene unter und ich verlor ihn aus den Augen. Durch mein Mandat in seinem ersten Fall, lernte ich seine Mutter kennen. Eine fleissige, alleinerziehende Frau. Sie hatte ihren Mann durch einen dummen Unfall verloren. Um etwas dazu zu verdienen, arbeitete sie täglich als Putzfrau in einem Bürohaus. Da sie nach Büroschluss die Reinigungsarbeiten verrichten musste, kam sie meistens spät nach Hause. Daher hatte sie für ihren heranwachsenden Sohn Ralf leider nicht immer die Zeit, die für ihn gut gewesen wäre. Eines Tages bekam ich von ihr einen Brief, mit der Kopie von Ralfs Abschiedsbrief. Auf schmutzigem Papier standen ergreifende Sätze, die ich bis heute nicht vergessen habe. Natürlich kann ich die Worte nach so langer Zeit nicht wortwörtlich wiedergeben. Sinngemäss aber schon. – Er schrieb seiner Mutter, dass sein Leben nicht mehr lebenswert sei. Dass er die Ziele, die er sich gesteckt habe, wegen diesen elenden Scheissdrogen nie mehr erreichen könne. Wenn ich mich richtig erinnere, schrieb er, dass er zuerst Hasch nahm, nachher Heroin und LSD. Er gab zu, die Sache sträflich unterschätzt zu haben. Wenn er gewusst hätte, dass er so ins Elend komme, hätte er die Finger davon gelassen. Nachher folgten rührende Trostworte an seine Mutter. Ungefähr so: Dass sie jetzt stark bleiben muss. Seine Kraft gehe zu Ende ... Jeden Tag auf der Gasse und in Hinterhöfen den Drogen nachjagen, das schaffe er nicht mehr. Und menschenunwürdig dahinvegetieren wolle er auch nicht mehr. Er sei lieber tot, als so weiterleben zu müssen. Was mich besonders berührte war der Schluss des Briefes. Hier stand auf welligem, durch Tränen aufgeweichtem Papier: , Ich liebe dich, dein Ralf! ‛ Ralf ist an einer Überdosis gestorben. Als ich damals die verschmierten Zeilen des verzweifelten jungen Mannes las, hatte ich einen dicken Kloss im Hals. Da ich Ralfs Anwalt war, kannte ich ihn einigermassen gut und hatte beinahe ein väterliches Verhältnis zu ihm. Er war kein schlechter Kerl, nur zu sensibel für diese Welt. Die Drogen nahmen aber keine Rücksicht darauf. Unbarmherzig forderten sie ihren Preis. Für seine Mutter war der Schmerz beinahe zu gross. Sie ist fast nicht über den Verlust ihres ,Buben‘ hinweggekommen und wurde für mehrere Wochen ernsthaft krank.“ „Ich kann verstehen, Moritz, dass dir sein Brief nahegegangen ist. Mir ging es in ähnlichen Fällen oft genauso. Selbst wenn ich als ehemaliger Boxer wie ein Weichei dastehe, gebe ich zu, dass mich die traurigen Lebensgeschichten einiger Gefängnisinsassen beschäftigt hatten. Besonders die Sinnlosigkeit, in die sie wegen der Sucht hineingeschlittert sind, war nicht einfach zu verstehen ... Das liegt zwar alles weit zurück, und doch tauchen jetzt, wo ich darüber rede, vor meinem geistigen Auge Gesichter, Namen und Geschichten auf, wie wenn es gestern gewesen wäre.“ „Wie ich schon sagte, Kollegen“, erwidert Moritz. „Das ist eine traurige Sache. Auf der einen Seite die Sucht, auf der andern Seite der rücksichtslose Handel. Der weltweite Handel – bandenmässig organisiert – ist ein zu lukratives Geschäft, um wegen Menschen, die dabei vor die Hunde gehen, Skrupel zu haben. Die traurige Wahrheit ist: Der Drogensumpf ist zäh und nicht einfach auszutrocknen!“ „So sieht es leider aus, Moritz. Über zwanzig Jahre war ich Aufseher oder eben ein Schlüsselknecht – und über zwanzig Jahre hatte ich mit diesem Problem zu tun. Als ich in diesem Job anfing, waren die Händler der Libanon-Connection am Drücker, nachher die Dealer vom Balkan, dann Boys aus der Karibik und bevor ich in Pension ging, die Händler aus Schwarzafrika. Aber konsumiert haben den Drogendreck mehrheitlich junge Schweizer.“ „Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit, Fredy, meinen Respekt hast du. Mir waren schon die drei Monate in Untersuchungshaft lange genug. – Eines ist sicher: Auf ein Ende des Suchtproblems können wir wohl noch lange warten.“ „Du sagst es, Bruno. Das Problem ist nicht wirklich gelöst – es wurde nur verlagert“, kritisiert Fredy. „Die offene Drogenszene, wie zum Beispiel die auf dem berühmten Platzspitz, rund um das Landesmuseum in Zürich, gibt es zwar nicht mehr. Der schöne Park hat wieder seine Bestimmung zurückbekommen und wird wieder rege von Touristen besucht. Realität ist aber auch, dass einfach andernorts weiter gekifft, gespritzt und gesoffen wird.“ „Also, Suchtproblem hin oder her“, meldet sich Moritz: „Ich gönne mir jetzt einen Schluck Bier, ob es euch gefällt oder nicht.“ „Tja, das gefällt uns schon, Moritz … wir machen auch mit! Uns kann nämlich gar nichts passieren. Wir wissen, was sich gehört. Ich habe ein alkoholfreies Bierchen und Bruno hat seinen Orangensaft“, fabuliert Fredy munter daher. „Drogenabhängigkeit kann übrigens recht erfinderisch machen“, meint er und kommt wieder auf das leidige Thema zurück. „Dazu habe ich eine originelle Geschichte, obwohl die Sache eigentlich zu ernst ist.“ „Und wie lautet die Story?“, fragt Moritz. „Na ja, eine grosse Story ist es nicht ... aber sie zeigt doch, was sich stark Abhängige und ihre Freunde einfallen lassen, um sich einen Kick zu verschaffen. Ihr wisst ja, dass alles, was in ein Gefängnis hineinkommt, kontrolliert werden muss. So ist es auch mit der Briefpost. Diese wird von den Insassen und Insassinnen verständlicherweise sehnsüchtig erwartet. Vor allem, wenn sie vom ,Schatz‘, von der Familie, von Freunden oder im besten Fall von der Entlassungsbehörde kommt. – Nun, ein Berufskollege erzählte mir vor Jahren folgendes: ,Eine unserer Insassinnen erhielt aus Österreich eine schöne Postkarte. Im Vordergrund auf der prächtigen Karte waren grasende Kühe zu sehen, im Hintergrund herrliche Berge und darüber ein stahlblauer Himmel.‘“ „Komm zur Sache, Fredy“, sagt Moritz ungeduldig. „Easy Moritz, easy! Es geht gleich weiter. Mein Kollege fuhr dann fort: ,Weisst du, unser Nachbarland Österreich hatte damals ein paar recht grossformatige Briefmarken in Umlauf. Beim Sortieren der Post kam mir die Postkarte, die an die Insassin adressiert war, in die Hand. Dabei bewegte ich zufällig den Daumen über die grosse Marke. Mir fiel auf, dass die Briefmarke nicht flach, sondern unnatürlich erhöht war. Obwohl sie abgestempelt war, fühlte sie sich in ihrer Mitte wie gepolstert an, und das war ungewöhnlich. Daraufhin habe ich genauer kontrolliert. Vorsichtig ritzte ich die dicke Marke an einer Ecke etwas auf und dann bröselte fein säuberlich weisses Pulver auf meinen Arbeitstisch – eine Prise Kokain.“‘ „Auf diese Idee muss man zuerst kommen, das Pulver vor dem Aufkleben unter die Briefmarke zu verteilen“, stellt Moritz anerkennend fest. „Ausserdem braucht es schon eine gehörige Portion Frechheit, um einer inhaftierten Person auf diesem Weg – sozusagen auf dem Postweg – einen Kick im Gefängnis zu ermöglichen.“ „Da muss ich dir recht geben, Moritz“, mische ich mich ein. „Diese Episode bestätigt nur, wie Sucht die Menschen in Abhängigkeit halten kann. Dass sie –, wie in diesem Fall die Insassin – noch von ,draussen‘ unterstützt werden, spricht für sich. Schlitzohren sind das, auf beiden Seiten! Einfach Schlitzohren! – Hhm! … Da kommt mir ganz spontan ein Gedanke in den Sinn.“ „So, und der Gedanke wäre, Bruno?“ „Ich frage mich: Machen vielleicht zu hohe ,Boni‘ Manager und CEOs auch süchtig? Möglich wäre das schon – wenn man sie so hört und sieht. Dann wäre eigentlich Suchtprävention angesagt!“ „Bruno, du bist unverbesserlich!“, meckert Moritz dazwischen. „Kann sein, mein Lieber, kann sein. – Mit Humor ertrage ich solche Sachen einfach besser. Damit meine ich neben den Bonusgeschichten auch andere Storys. Zum Beispiel die über goldene Fallschirme, Steuerbetrugs-Affären, Pauschalbesteuerungs-Geschenke und so weiter. Und das erst noch von und für diejenigen, die es nicht nötig haben.“ „Tja, Bruno! Jeder ist sich eben selbst der Nächste“, meint Fredy. „Fairerweise gebe ich zu, dass es nicht nur Vertreter der Finanzwelt sind, nicht nur die Reichen, die Politiker – oder eben immer die Anderen, die uns ein wenig nerven. Nein, nein, nicht nur sie ... Wir alle sind letztlich Mitgestalter am Wohlergehen – oder Fall – unserer Gesellschaft. Und das nicht nur hier bei uns. Siehe Irland, Griechen- land, Portugal und so weiter … Hoffentlich gehören wir nicht auch eines Tages zu dieser Konkursmasse. Wie ich vorhin schon erwähnte, kommt der Zeitgeist, der in unserer Gesellschaft am Wirken ist, auch in die Gefängnisse hinein. Und was ich da gesehen und erlebt habe, lässt mich an unseren Mitgestalter-Fähigkeiten für eine bessere Welt zweifeln. Der Erfolg dürfte eher mässig ausfallen.“ „Entschuldige, Fredy. Du bist ein ewiger Pessimist!“ gibt Moritz zackig zur Antwort. „Ich denke nicht, dass ich ein Pessimist bin, Moritz. Ich mache mir einfach nichts vor, was uns, respektive die Menschheit betrifft. Darum komme ich noch einmal auf das Drogenproblem zurück. Die kleine Episode mit der Briefmarke, die mein Berufskollege erzählte, ist nur ein leiser ,Pfupf‘ gegenüber dem, was im Umfeld von Drogen wirklich abgeht. In dem internationalen Geschäft geht es laut und mit viel Rabatz zu und her, da fliegen nicht selten die Kugeln. Da ist so viel Geld im Spiel, dass es den Drogenbaronen auf ein paar Tote mehr oder weniger nicht ankommt. – Es wird richtiggehend Krieg geführt. Millionen, ja Milliarden werden verdient, weil oft auch noch der weltweite Waffenhandel hineinspielt. Ich glaube es war im August 2010, als sich in Mexiko die mächtige Drogenmafia mit der Polizei einen blutigen Drogenkrieg lieferte: ,Mexikos Drogenbosse fordern den Staat heraus. Militär kommt zum Einsatz.‘ So konnte man lesen.13 Diese Typen schrecken vor nichts zurück, obwohl im Verlaufe dieser Auseinandersetzung einer der gefährlichsten und meistgesuchtesten Gangsterbosse verhaftet werden konnte.“ „Das ist ja wunderbar! – Aber, wie dem auch sei“, sage ich. „Ein Boss geht, ein anderer rückt nach und spinnt die Fäden an diesem bösartigen Netzwerk weiter.“ „Richtig, Bruno! Netzwerk ist das richtige Wort. Wie ein grosses Spinnennetz werden die Drogen-Transportrouten über die Welt gespannt. Nicht nur von Mexiko aus kommen die Drogen nach Europa. Weitere Kontinente wie zum Beispiel Asien oder Afrika und die Länder vom Balkan und Ostblock sorgen ebenfalls dafür, dass sich die Konsumenten in Europa und in der Schweiz den Kopf voll- stopfen können. Selbst Länder wie Afghanistan, Pakistan und der Iran, wo fromme Extremisten von einem Gottesstaat träumen, sind mit von der kriminellen Partie. Sie benützen den Drogenhandel als ,Schmiermittel‘ für den religiösen Terror. Wie ich schon sagte, glaube ich hier ebenfalls nicht an die Fähigkeiten der Repräsentanten dieser Staaten, um Frieden und Wohlergehen in ihrer eigenen Gesellschaft herstellen zu können – geschweige denn darüber hinaus. Meiner Meinung nach hatte sich der berühmte Herr Goethe in der Hinsicht getäuscht, als er den Wunsch aussprach: ,Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.‘ Ich finde es absolut nicht edel, wenn Menschen als Drogenkuriere missbraucht werden ... Natürlich ist keiner unschuldig, wenn er bei dieser Sache mitmacht. Aber meistens sind es Menschen aus ärmeren Verhältnissen, die sich als Drogentransporteure losschicken lassen. Und die kriminellen Bosse im Hintergrund wissen ganz genau, wie sie die Leute mit Geld ködern können. Daher ist es gut zu verstehen, dass sie den verlockenden Aussichten nicht widerstehen können, endlich einmal ein Stück vom Wohlstandskuchen im eigenen Land abschneiden zu können.“ „Verständlich ist das schon – aber lebensgefährlich“, erwidert Moritz. „Ganz bestimmt ist es das!“, bestätigt Fredy. „Wenn du schon von lebensgefährlich sprichst. Es ist eine altbekannte Tatsache, dass Drogen häufig mit Fingerlingen im Magen transportiert werden. Und wenn so ein Fingerling im Magen platzt, wird es wirklich gefährlich.“ „Das muss eine echte Tortur sein, 70, 80 oder mehr Fingerlinge hinunterzuschlucken. Wenn ich nur daran denke, wird es mir schon schlecht.“ „Das ist eine Tortur, Bruno. Die Dinger sind aus Latex und immerhin etwa so gross wie der kleine Finger an einer Männerhand. Die ,Bodypacker‘ – wie die Transporteure in der Fachsprache heissen – müssen die ,Schluckerei‘ dieser Fingerlinge trainieren.“ „Und wie trainieren sie das, Fredy? Gehen sie ins Fitnessstudio?“ „Nix Fitnessstudio, Bruno. Sie trainieren mit Trauben. Mit schönen, möglichst grossen Trauben.“ „Habe ich richtig gehört …, mit Trauben?“ „Ja, du hast richtig gehört. Satte, süsse Trauben sind dazu ideal. Sie haben ungefähr die gleiche Grösse wie die Latexdinger, und rutschen dank ihrer glatten Haut ähnlich gut in den Magen. Vielleicht bekommt der Schmuggler nach dem Training Blähungen und Durchfall, aber was solls.“ „Durchfall ist gut, Fredy“, meldet sich Moritz und schüttelt den Kopf. „Stell dir einmal vor, Bruno, was passiert, wenn ein Fingerling während oder nach der Reise platzt!“ „Das kann tödlich sein!“, erklärt Fredy. „Das liest man immer wieder. Wenn ein Transporteur oder eine Transporteurin – es gibt ja auch Frauen, die das machen – den Zwischenfall überleben, können sie Gott danken. Ich weiss von einem Fall, bei dem das vor vielen Jahren passiert ist. – Das konzentrierte Drogengift, das sich im Magen ausbreitete, brachte den Schmuggler beinahe um. Im Spital wurde er notfallmässig operiert und, wie man so schön sagt, zusammengeflickt. Mit einer zugenähten Bauchdecke und auf dem Weg der Besserung kam er in die Untersuchungshaft.“ „Wenn ich das höre, Fredy, frage ich mich ernsthaft: Warum das alles? Warum tun sich die Menschen das an?“ „Tja, wie ich vorhin sagte, Bruno: wegen des Geldes. Wie dieser gute Mann aus Südamerika. Ich nenne ihn mal Paolo. Er war nicht einmal mehr der Jüngste – und sicher auch nicht der Reichste. Für gutes Geld, das es zu verdienen gab, war Paolo bereit, das Risiko einzugehen. In der Hoffnung, dass sein Unternehmen gelingt, reiste er nach Europa und hier in das ,reiche‘ Land Schweiz. Dabei hatte Paolo immer sein Geld – die Pesos – vor Augen, die ihm daheim versprochen wurden. Leider ging die Aktion wegen dem geplatzten Fingerling daneben. Das war für Paolo nicht weiter tragisch. Er hat überlebt, das war die Hauptsache, und im Gefängnis hatte er es gut! Hier wurde ihm mehr Lebensqualität geboten als in seinem Heimatland.“ „Apropos reiche Schweiz, Fredy. Was willst du alter Brummbär damit sagen?“, meint Moriz herausfordernd. „Ich höre bei dir einen ironischen Unterton heraus.“ „Erstens: Will ich damit sagen, dass ich den Spruch: ,Schweiz reich, Schweiz haben Geld!‘ von ausländischen Insassen öfters zu hören bekam. Aufgrund dieser Meinung reagierten einige von ihnen ziemlich keck – selbst in schlechtem Deutsch – wenn sie etwas nicht erhielten, was sie selbstverständlich bekommen wollten. Mir schien damals, dass sie das fordernde Verhalten nicht aus dem Daumen gesogen hatten. Wie dem auch sei: Auf jeden Fall kannten sie den Weg zu den Sozialwerken gut, meistens besser als ihre Pflichten unserem Staat gegenüber.“‘ „Langsam, Fredy, langsam. Wirf mir nicht alle in den gleichen Topf!“ „Das mache ich nicht, Moritz. Ich habe ganz klar von einigen gesprochen.“ „Okay, Fredy! Du sagtest: ,Erstens‘, dann wird es sicher ein ,Zweitens‘ geben?“ „Genau! – Zweitens: Sicher ist, dass die Zuwanderung ausländischer Mitmenschen in den letzten sechzig Jahren zugenommen hat. Zum grössten Teil war das erwünscht und für beide Seiten gut – Stichwort: Vorhandene Arbeitsplätze und fehlende Arbeitskräfte. Zu einem kleineren Teil war es nicht erwünscht und eben nicht gut. Und das wirkte sich wiederum bis in unsere Gefängnisse hinein aus. Als Schlüsselknecht habe ich die Zunahme von Ausländern, die kriminelle Taten begingen, im Gefängnis eins zu eins erlebt. Die Durchsicht der Insassenkartei sprach hier eine deutliche Sprache und war Beweis genug. Dass die stete Zunahme von gewissen Kreisen immer wieder verharmlost und schöngeredet wird, ist für mich VogelStrauss-Politik. Ich denke, dass du das auch bestätigen kannst, Bruno, oder etwa nicht?“ „Doch, Fredy, das kann ich. Ich habe diese Entwicklung seit meiner U-Haft-Zeit etwas verfolgt. Vor allem in den letzten Jahren. Da wurde nicht zuletzt wegen unserer Einwanderungspolitik mehr darüber debattiert als auch schon. Die Multikulti-Euphorie ist inzwischen zu einem Problem geworden. Genauso wie die Druckmacherei der EU, die sich überall einmischt und uns vorschreiben will, wie wir die Probleme zu lösen haben. Ich erinnere nur an die MinarettAbstimmung. Hier konnte man deutlich sehen, wie der neue EUGeist rebellierte und an unserem demokratischen Volksentscheid rumstänkerte, sogar mit tatkräftiger Unterstützung einheimischer Kirchenführer und Politiker. Darum will der Bundesrat neuerdings heikle Volksinitiativen vorprüfen, damit wir ja nicht gegen Völkerrecht verstossen!?“ „Stimmt Bruno!“, bestätigt Fredy. „Das ist ganz im Sinne der EU, die versucht, bei jeder Gelegenheit die Globalisierung in Richtung neue Weltordnung voranzutreiben.“ „Seid ihr beiden Multikulti-Kritiker jetzt fertig!“, meckert Moritz. „Pha …, Moritz! Du bist uns ein schöner Freund“, wehrt sich Fredy heftig. „Wir sind weder Multikulti-Kritiker noch Meckerer. Wir alten Knacker stellen nur fest, was die Spatzen zum Thema zu recht von den Dächern pfeifen.“ „Absolut korrekt!“, stärke ich Fredy den Rücken. „Danke, Bruno! Duu… bist eben ein wahrer Freund“, sagt Fredy grinsend und schaut verstohlen zu Moritz hinüber. Im Übrigen bin ich mit ,Zweitens‘ noch nicht fertig.“ „So, so, was kommt denn jetzt noch?“, sagt Moritz knapp. „Zu ,Zweitens‘ möchte ich noch ergänzen, dass es nach meiner Meinung Politikerinnen und Politiker gibt, die ebenfalls ihren Beitrag zu diesem fordernden Verhalten einiger ausländischer Gefängnisinsassen beitragen.“ „Wie denn, lieber Fredy?“ „Nämlich dann, Moritz, wenn sie die noch reiche Schweiz und unsern Wohlstand über den grünen Klee loben. Und dazu noch die langjährige Wohltätertradition in die Welt hinausposaunen. Da muss ja im Ausland der Eindruck entstehen, dass wir alle nur so im Geld schwimmen. Darum wundert es mich nicht, dass es die EU und die Welt auf unser Geld abgesehen hat. Das fällt gerade jetzt in der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise richtig auf.“ „Halt Fredy, Stopp! Hast du unser Geld gesagt?“, wendet Moritz ein. „Also, da bin ich mit dir nicht einverstanden. Ob das nämlich in jedem Fall unser Geld ist – und uns auch wirklich gehört, ist gar nicht sicher.“ „Natürlich, Moritz. Wo du recht hast, hast du recht. Trotzdem, der Internationale Währungsfonds freute sich im 2009 garantiert über den 10 Milliarden Geldsegen aus der Schweiz. Und ich denke, dass der Appetit auf ,Schweizerfränkli‘ noch lange nicht gestillt ist.“ „Da könntest du allerdings recht haben, Fredy“, stimme ich zu. „Ich denke schon, dass ich recht habe, Bruno“, erwidert Fredy. „,Wir müssen unseren Beitrag leisten, wir stehen in der Pflicht. Sonst fliegen wir am Ende noch raus! ‘, mahnte unser damaliger Finanzminister im Hinblick auf unsere Mitgliedschaft beim IWF.“ „Fredy, bist du frustriert?“ Unverhofft und direkt kommt die Frage von Moritz über den Tisch. Fredy ist gerade dabei sein Bierglas hinzustellen. Frau Fröhlich, die zufällig bei uns vorbeikommt, reagiert leicht konsterniert, als sie die Frage an Fredy aufschnappt. Sie bleibt stehen, dreht sich um, kommt zurück an unsern Tisch und meint: „Der Herr Stark frustriert? Das glaube ich nicht! Das passt nicht, Herr Rechtsteiner, das kann ich mir nicht vorstellen!“ „Tja, liebe Frau Fröhlich, ich weiss es nicht, ich weiss es nicht“, sagt Moritz mit einem Augenzwinkern. „Bei dem, was der Herr Stark alles so erzählt? … Also, ich weiss nicht …“ „Toll, Moritz, wie du mich bei Frau Fröhlich hinstellst. Mein guter Ruf ist dahin“, erwidert Fredy theatralisch ... Das war aber genauso wenig ernst gemeint, wie die Stichelei von Moritz. „Nun, zurück zu deiner Frage: Ich verstehe sie und dass du so von mir denkst ebenfalls, aber frustriert bin ich nicht. Sicher nicht im üblichen Sinn.“ „Wie ist denn der unübliche Sinn zu verstehen, hä?“ „Ich sage es einmal so, Moritz: Es ist mehr Enttäuschung als Frust, weil ich feststelle, in welche Richtung sich unsere Gesellschaft entwickelt. Das hört sich pessimistisch an, ist es aber nicht! Diese Bedenken überkamen mich schon damals im Gefängnis. Vor allem weil ich in diesem Umfeld erkennen musste, dass bei vielen Insassen und Insassinnen Strafen, Psychotherapien und gut gemeinte Gespräche wenig nützten. Viele dieser Menschen änderten sich nicht. Das ist bis heute nicht anders. Ich brauche beispielsweise nur auf die Vergewaltiger und Autoraser hinzuweisen. Oft sind es unbelehrbare Wiederholungstäter. Die einen sind sexuell abnorm, die andern arrogant und rücksichtslos. Und gerade sie profitieren manchmal noch von der weichen Welle in der Rechtsprechung.“ „Das hört sich aber recht kritisch, beinahe hoffnungslos an, Fredy“, wendet Moritz ein. „Ich weiss, Moritz. Aber es gibt eine Hoffnung. – Ich komme noch darauf zurück. Erfahrungsgemäss weiss ich, wie viele aufwendige Therapiestunden von Fachleuten des psychologischpsychiatrischen Dienstes in diese Leute investiert werden. Mit welchem Erfolg? Ich meine, mit welchem nachhaltigen Erfolg, um dieses moderne Wort zu gebrauchen. Natürlich gab und gibt es auch Positives zu berichten, ohne Zweifel. Nur stellen Schreckensmeldungen diese Erfolge immer wieder infrage und das nicht nur in der Schweiz.“ „Apropos Schreckensmeldungen, Fredy!“ Du erinnerst mich an den Horror-März 2009. Unter diesem Titel dokumentierte damals eine Gratiszeitung eine Serie grauenhafter Verbrechen. Sicher erinnert ihr euch noch an den brutalen Mord an dem hübschen Au-pairMädchen Lucie und an ein ebenso schreckliches Familiendrama in Carouge?“ „Ja, genau, Bruno ... Jetzt erinnere ich mich wieder daran. Zur gleichen Zeit gab es einen Parkplatzmord in Volketswil, in der Nähe von Zürich“, ergänzt Moritz. „Er ist mir im Gedächtnis geblieben, weil ich früher einmal in dieser Gegend wohnte.“ „Ja, und zwei Amok-Verbrechen fielen ebenfalls in diesen Monat“, fügt Fredy hinzu. „Eines in Deutschland und eines in Alabama. Sie alle erschütterten unsere Gesellschaft mächtig, aber wie meistens nur für kurze Zeit. Das Verrückte an dieser Gewaltserie war, dass sie sich innerhalb von sieben Tagen ereignete.“ „Wie sagte doch Goethe: ,Edel sei der Mensch – hilfreich und gut!‘ Ach, Kollegen, was für eine Fehleinschätzung ist da dem guten Dichterfürsten unterlaufen; das muss doch einmal gesagt werden.“ „Ein wahres Wort mutig ausgesprochen, lieber Bruno!“ „Ja, sehr mutig, unser Bruno! Beinahe schon waghalsig“, frotzelt Moritz. „Zu diesen Horror-Verbrechen habe ich im Nachhinein eine Aussage gelesen, die ich euch nicht vorenthalten will“, fährt Fredy weiter. „So! Das kann ja heiter werden. Und die Aussage wäre, Fredy? Wir sind ganz Ohr!“ „Die Aussage lautete: ,Warum hatte sich diese unheimliche Serie ereignet?“‘ „Warum …? Ja, warum wohl? Das wirst du uns hoffentlich erklären, oder nicht?“, meint Moritz in aufforderndem Ton. „Jawohl! Das werde ich: Die Mordserie im 2009 habe sich nämlich darum ereignet, weil der Planet Uranus die Führung übernommen hatte.“ „Wer hatte die Führung übernommen? Kannst du das noch einmal wiederholen“, fragt Moritz sehr erstaunt. „Der Planet Uranus! So jedenfalls nach der Meinung einer Astrologin. Ich fragte mich damals, ob das eine ernst zu nehmende Erklärung für diese Dramen sein soll. Na ja, gedruckt wurde sie auf jeden Fall. Es ist interessant, wie schnell sogenannte Experten eine Erklärung zur Hand haben. Persönlich denke ich, dass in solchen Fällen eher der Drogengeist, oder der Geist von Computer-Kampfspielen, von Killergames und Porno-Videos die Führung übernommen hat ... Aber aufgepasst, Kollegen! Neuerdings gibt es immerhin ernsthafte Studien, die den negativen Einfluss von brutalen Computerspielen bestätigen. Besonders bei labilen Konsumenten. Das Suchtpotenzial sei hier enorm, geben sie wenigstens zu. Somit dürfte klar sein, dass Gräueltaten nicht ausbleiben können! – Die Gefängnisse lassen grüssen!“ „Danke, Fredy, für die Grüsse“, erwidert Bruno ironisch. „Aber ich habe lieber Grüsse, die nichts mit dem Gefängnis zu tun haben. Und die Uranus-Erklärung für diese schrecklichen Dramen ist mir zu einfach.“ „Das denke ich auch“, meint Fredy. Er fährt fort: „Ich komme bei solchen Ereignissen einfach immer wieder auf die Bibel zu sprechen, wenn das ,Ewigthema‘ von bösen Taten wie hier zur Sprache kommt. Sie gibt die richtige Erklärung, wenn sie sagt: ,Aus dem Herzen kommen die bösen Gedanken wie: Mord, Ehebruch, sexuelle Zügellosigkeit – und so weiter…‘14 Den Planeten Uranus halte ich dabei für unschuldig; lassen wir ihn besser aus dem Spiel.“‘ „Du und Bruno! Bei jeder Gelegenheit argumentiert ihr mit der Bibel!“ „Ja, natürlich!“, wehre ich mich. Und Fredy nickt zustimmend. „Wir zitieren sie aus Überzeugung. Einfach deshalb, weil es wahr ist, was sie zu dieser Problematik zu sagen hat. Sie redet nicht von Hu- manismus, Philosophie und von Menschenweisheit, sondern von göttlicher Wahrheit. Sie deckt den zu optimistischen Glauben an die Macht der Vernunft von uns Menschen auf und zeigt, wo das Problem wirklich sitzt. Sie sagt klipp und klar: Euer Herz ist das Problem, nicht ein Planet, nicht die Sterne und schon gar nicht die Gene, wie man neuerdings glaubt. Wir Menschen machen es uns zu einfach, wenn wir den Planeten, den Sternen und Genen die Schuld für unsere Untaten in die Schuhe schieben. Genau darum, weil die Bibel das unmissverständlich klarstellt, hat sie unzählige Gegner, auch in anderen Religionen. Sie wollen sie loswerden. Wie die schlimmen Fälle in der Gratiszeitung zeigen, ist tatsächlich unser verführbares Herz der RisikoFaktor. Unser Charakter wird für das Böse anfällig und nicht selten dadurch verdorben. Diese Beobachtung habe ich jedenfalls schon während meiner dreimonatigen Untersuchungshaft vor sechzig Jahren gemacht. Nicht nur an den Anderen – auch an mir.“ „So, so! An dir und an anderen!“ , brummt Moritz dazwischen. „Apropos Charakter, Bruno“, nimmt Fredy den Faden erneut auf. „Als ich noch zur Schule ging, sagte einer unserer Lehrer häufig: ‚Die Handschrift ist das Spiegelbild des Charakters.‘“ „Recht hatte der Mann!“, bestätigt Moritz. „Das wurde uns auch eingeschärft. Das war damals eine gängige Redensart. Zweifellos ist etwas Wahres daran.“ „Bestimmt ist da etwas Wahres daran“, bestätigt Fredy. „Heutzutage kann man das Gleiche von Gefängnissen sagen. Sie sind das Spiegelbild, sozusagen die Visitenkarte einer Gesellschaft.“ „Das werden aber nicht alle gerne hören – ich warne dich Fredy. Es ist gefährlich, laut so darüber zu denken. Das ist für viele beinahe schon eine Beleidigung!“ „Mag sein, Bruno. Nur …, ich war als Schlüsselknecht über zwanzig Jahre täglich mittendrin, umgeben und konfrontiert mit all den kriminellen Taten, die möglich sind. Von der kleinen Trickdiebin aus dem Elsass, bis zum Betrüger und Doppelmörder – ich war hautnah mit diesen Menschen zusammen. Im täglichen Umgang und das oft über längere Zeit, lernte ich einige von ihnen besser kennen. Und man höre und staune –, manchmal war ich sogar beeindruckt, wenn ich mehr über ihren Lebenslauf erfahren durfte. Versteht mich bitte nicht falsch. Damit entschuldige ich ihre begangenen Verbrechen nicht, absolut nicht. Ich habe einfach erkannt, dass wir alle für das Böse anfällig sind, und nicht über unseren Schatten springen können. Das hast du gerade vorhin ebenfalls bestätigt, Bruno. Es ist wahr: ,Nichts ist so undurchschaubar wie das menschliche Herz, es ist unheilbar krank. Wer kann es ergründen?“‘15 „Dann wäre es für uns Menschen definitiv besser, wenn wir über unseren Schatten springen könnten“, gibt Moritz zu verstehen. „Klar, Moritz! Und weil ich darum weiss, dass wir das nicht können, versuchte ich wenigstens jedem Insassen und jeder Insassin vorurteilslos zu begegnen, egal was sie oder er auf dem Kerbholz hatte.“ „Okay! Das nehme ich dir ab“, sagt Moritz und nickt Fredy freundschaftlich zu. „Danke für die Blumen, mein Lieber.“ „Schon gut, keine Ursache…“ „Übrigens Bruno, hast du jemals wieder etwas von, ähmä – wie heisst er noch? Von diesem Fränky gehört?“, will Moritz plötzlich wissen: „Er war ja zur gleichen Zeit wie du in Untersuchungshaft!“ „Nein! Das habe ich nicht. Wir haben uns beim Bezirksanwalt zum letzten Mal gesehen. Als ich nach drei Monaten entlassen wurde, habe ich den Kontakt zu ihm nicht mehr gesucht. Wie ich bereits erzählte, war ich damals ziemlich sauer auf ihn, weil er mir den Ladeneinbruch in die Schuhe schieben wollte ... Heute trage ich ihm das allerdings nicht mehr nach.“ „Das hat sicher mit deiner Bibel zu tun!“ „Genau, Moritz! Das hat es.“ „Tja, die Bibel hat schon recht“, argumentiert Fredy, „wenn sie uns Menschen als eine Herde Schafe beschreibt, die keinen Hirten hat.16 Bei meinen verschiedenen Diensten als Schlüsselknecht konnte ich das immer wieder feststellen. Dabei war es egal, wen ich als Häftling vor mir hatte. Selbst das Geschlecht, die Herkunft, die Religion und Kultur spielten hier keine Rolle ... Ob es sich um bessere Herren mit Betrugsdelikten, muskelbepackte Zuhälter, Dirnen, Einbrecher, Drogenhändler oder heruntergekommene Drögeler handelte, im Knast waren die meisten wie hilflose Schafe ohne Hirten. Doch das wollten sich gerade die Männer nicht unbedingt anmerken lassen und markierten den starken Kerl. Nur, den wirklich Hartgesottenen ging das alles mehr oder weniger problemlos am Allerwertesten vorbei. Meistens waren das auch die Gefährlichen.“ „Das ist eine interessante Bemerkung, Fredy!“ Und ich frage dich: „Hältst du das wirklich für möglich, dass es solche gab, denen die ganze Sache problemlos am Allerwertesten vorbeigegangen ist? Ich kann mir das nicht so recht vorstellen.“ „Natürlich kann ich das nicht mit Bestimmtheit behaupten, Bruno. Ich sagte ja nur: Sie taten so. Sicher ist, dass wir alle ein Gewissen haben und das macht sich doch ab und zu bemerkbar, ob wir das wollen oder nicht. Wie die Erfahrung leider zeigt, vor allem bei Gewaltverbrechern und Terroristen, ist es aber durchaus möglich, das Gewissen zum Schweigen zu bringen. Selbst wenn es zugeschüttet und abgetötet wird, wie man das den menschenverachtenden Sprüchen von Terroristen entnehmen kann, erliegen sie einer gewaltigen Täuschung. Denn das vergossene Blut aller sinnlos Ermordeten auf dieser Welt schreit zum Himmel.17 Und spätestens in der Ewigkeit, im Gericht vor Jesus Christus, wird ihr Gewissen wieder ein Thema sein. Gerechterweise betrifft das nicht nur die Gewalttäter und andere Verbrecher ... Wir alle, werden einmal unser Leben vor ihm verantworten müssen. Wohl dem, der sich auf Psalm , berufen kann!“ „Und was steht in diesem Psalm?“, fragt Moritz vorsichtig. „Da steht: ,Glücklich ist der Mensch, dem Gott seine Sünden nicht anrechnet, und der mit Gott kein falsches Spiel treibt!“‘ Für einen Moment herrscht unter uns betretenes Schweigen. So lange, bis sich Moritz nach einem herzhaften Schluck Bier räuspert und wieder zu Wort meldet. „Wow, Fredy! Das ist happig, was du da von dir gibst!“, gibt er kleinlaut zu verstehen. „Ja, sicher ist das happig! – Trotzdem glaube ich der Bibel und gebe ihr recht, wenn sie uns Menschen sagt, dass wir durch die Sünde verdorben sind; dafür gibt es in der Tat genug Beweise. Ich bin überzeugt, dass uns weder die gepredigte Gelehrsamkeit von Huma- nisten, noch die Vernunft, noch frommer Eifer aus dieser misslichen Ecke herausbringen, in die wir uns verrannt haben. – Das kann nur Gott!“ „Verrannt ist gut ausgedrückt“, entgegne ich. „Es heisst ja nicht vergebens, dass wir uns vor falschen Lehren – und ihren ,Propheten‘ in Acht nehmen sollen.“18 „Eben!“, meint Fredy. „Ich habe sie ja schon erwähnt die falschen Propheten: Die Weltweisen, die Religionswissenschaftler, die selbsternannten Sektenexperten und freien Denker, die mit dem alten babylonischen Hochmut eine neue Weltordnung einführen wollen. Ein neuer Ego-Turm soll es werden, der bis an den Himmel reicht. Und dann versuchen einige erneut, Gott aus dem Himmel zu werfen.19 Nachher soll die Menschheit – ohne Ihn – eine einzige, grosse Familie werden und in Frieden, Eintracht und Harmonie zusammenleben?“ „Hört, hört, wie wunderbar!“, rufe ich aus. „Das Vorhaben ist so edel wie der Wunsch. Und das meine ich nicht einmal abschätzig. Aber, dass es so weit kommt und dann Frieden, Eintracht und Harmonie herrschen wird, daran glaube ich nicht!“ „Das kannst du laut sagen“, kommentiert Fredy und meint: „Stellt euch einmal vor: Es gäbe keine Gewalt, keinen Terrorismus, keine Ungerechtigkeit, keine Armut und keine Hungerbäuche mehr. Raser auf den Strassen und prügelnde Hooligans in den Sportstadien wären Schnee von gestern. Alle lägen sich geläutert und in Nächstenliebe nur noch in den Armen.“ „Ja, grossartig! Und räumen brav den gedankenlos weggeworfenen Littering-Dreck weg“, füge ich ärgerlich hinzu. „Nur, mit dem Aufräumen würden sie aber zu tun haben. Wenn ich auf meinem Gesundheitsspaziergang sehe, was alles rumliegt, staune ich, was die Evolution alles hervorbringt. Da blühen zwischen Gartenhecken und Spielwiesen zerknitterte Power-Drink-Büchsen, halbleere Getränkeflaschen, angegessene Pizzas, aufgerissene, unappetitliche Kehrichtsäcke, Zigarettenstummel und vieles mehr. Wirklich ein erfreulicher Anblick. Vielleicht sind unter den Verursachern dieser Umwelt-Augenweide Freunde von Greenpeace, Pazifisten, Waffengegner, Weltbewahrer und andere Saubermänner und Sauberfrauen zu finden. Was für einen gewaltigen Fortschritt machen wir doch!“ „So ist es, Bruno!“, spöttelt Moritz. „Das Sennentuntschi und Tausende von Kinobesuchern, die sich lüstern diesen und andere blutrünstige Horror-Filme hineinziehen, gibt es auch nicht mehr. Horror ist nicht mehr gefragt. Nur noch eine heile und saubere Welt – innen und aussen? – Obwohl wir gerade das bis heute nicht geschafft haben.“ „Das hast du gesagt, Moritz!“, erwidere ich. „Aber es stimmt! Ich kann nur noch so viel dazu sagen: Die mächtigen Welt-Erneuerer erkennen nicht, dass sie mit der erhofften, antichristlichen ,Neuen Weltordnung‘, die beinahe alles erlaubt, auf Sand bauen.20 Sie erkennen ebenfalls nicht, dass alles, wenn es auf diesen Untergrund gebaut wird, am Ende aus allen Fugen gerät und zusammenfällt.“21 „Mensch, jetzt müssen wir mit dem Jammern aufhören!“, ereifert sich Moritz. „Wir sind elende Pessimisten und verbreiten Weltuntergangsstimmung.“ „Bingo, Moritz!“, sagt Fredy. „Wenn du meinst, lassen wir das und machen dem elenden Pessimismus den Garaus! Was willst du denn hören?“ „Noch ein paar schöne Geschichten aus deiner SchlüsselknechtZeit“, meint er genüsslich. „Aha! … Schöne Geschichten willst du hören. Du bist gut, Moritz. Aber vergiss nicht, alles was ich jetzt erzähle, ist bei mir vor dem Hintergrund meiner kritischen Argumente zu verstehen. Vor allem vor dem eindrücklichen Bild mit den Schafen ohne Hirten!“ „Es war ungefähr in den 80er Jahren, als jede grosse Schweizer Stadt mit einer offenen Drogenszene zu kämpfen hatte. Da war es nur logisch, dass uns viele Junkies auch in den Gefängnissen auf Trab hielten. Die meisten von ihnen waren ja nicht bösartig, nur manchmal mühsam, weil sie wegen brutalen DrogenEntzugserscheinungen stark leiden mussten. Die jahrelange Sucht machte sie körperlich und psychisch kaputt. Wie den jungen Schweizer, der von Brasilien zurückgekommen ist. Er wurde am Flughafen verhaftet, weil er Drogen transportierte. Er war schon jahrelang süchtig und wollte sich in Übersee mit genügend Stoff eindecken. – So kam es, wie es kommen musste. Eines Tages lag er bei uns in einer Zelle. Über mehrere Tage habe ich da- mals seinen kalten Entzug miterlebt. Heftige Schmerzen plagten ihn Tag und Nacht. Zusammengekrümmt und geschwächt, lag der bedauernswerte junge Mann auf seinem Bett. Er konnte nicht einmal mehr den Abgang seiner Exkremente kontrollieren. Trotz der anhaltenden Schmerzen klagte er nie. Im Gegenteil, er blieb immer anständig, litt vor sich hin und war für unsere Betreuung dankbar. Er schätzte es sehr, wenn wir ihm seine verdreckten Leintücher mehrmals am Tag wechselten.“ „Das kann ich mir denken, Fredy“, sagt Moritz. „Hilflos im eigenen Dreck zu liegen, war entwürdigend genug –, auch wenn er sein Elend selber verschuldet hatte. Für mich ist es einfach erschreckend, was Drogen anrichten! Und trotzdem werden sie immer wieder konsumiert.“ „Tja, leider, Moritz! Und dabei bleiben nicht nur der Körper, sondern auch die Seele und der Geist auf der Strecke. Ohne die tägliche Drogenration, die sie auf der Gasse oder in den Drogenstationen konsumierten, wurde die Zeit in der Untersuchungshaft für jeden Junkie zum blanken Horror. Darum versuchten sie bei uns im Gefängnis alles, um irgendwie einen Ersatz für das fehlende Gift zu bekommen.“ „Und wie machten sie das, Fredy?“ „Geduld, Bruno! Geduld! In diesem einen Falle machten sie es so: Eigentlich war es eine lustige Situation damals, obwohl die ganze Drogen-Problematik zu ernst ist, auch heute noch. Ich erinnere mich noch gut an die zwei jungen Giftler, die wieder einmal bei uns eingefahren sind.“ „Was heisst das: Wieder einmal eingefahren …, Fredy?“ „Das heisst nichts anderes, Bruno, als dass sie wie viele andere Junkies mehrmals bei uns ein- und ausgegangen sind. Obwohl gerade sie bei jeder Entlassung hoffnungsvoll beteuerten: „Das war das letzte Mal, Chef … ehrlich, ich komme nie wieder, ich habe die Sucht voll im Griff!“ „So, so! Ich habe die Sucht im Griff“, kommentiert Moritz. „Na ja, wie man‘s nimmt. Das war wohl ein frommer Wunsch? Ich habe da andere Erfahrungen mit ihnen gemacht.“ „Ich auch, Moritz, leider. Zurück zu der Geschichte: Es war in einem Nachtdienst. Da ereignete sich Folgendes. Mein Kollege und ich waren auf einem Kontrollgang im Gefängnis unterwegs. Wir gingen von Stock zu Stock und von Zellengang zu Zellengang. Plötzlich hörten wir, dass es in irgendeiner Zelle sehr laut und sehr lustig zuging. Wenn ich von irgendeiner Zelle spreche, muss ich darauf hinweisen, dass es im Hause immerhin über hundertvierzig Möglichkeiten gab, verteilt auf mehrere Stockwerke. Um die betreffende Zelle ausfindig zu machen, brauchten wir also etwas Zeit. Als wir dann die betreffende Zelle orten konnten, näherten wir uns auf leisen Sohlen der Zellentüre. Einen Augenblick lang blieben wir ruhig davor stehen. Vorsichtig öffneten wir die Klappe in der Türe einen Spalt weit. Durch diese Klappe – eigentlich eine Durchreiche – sahen wir, dass in der Zelle Licht brannte. Und gleichzeitig sahen wir die Bescherung. Die beiden lärmenden Insassen waren, grob ausgedrückt, stockbesoffen!“ „Tja, wunderbar“, meint Moritz etwas überrascht. „Gar nichts war wunderbar, Moritz. Sie torkelten hin und her, blödelten und randalierten in der Zelle herum, ohne zu merken, dass sie von uns beobachtet wurden. Ihr Rausch war schon so weit fortgeschritten, dass wir befürchten mussten, dass sie trotz Verwarnung das Zelleninventar auseinandernehmen. Bevor es dazu kommen konnte und die beiden alles zu Kleinholz verarbeiteten, mussten wir ihnen zuvorkommen.“ „Gut, Fredy, das versteht sich. Dann habt ihr sie verhaftet!“ meint Moritz geistreich. „Ja klar, du Spassvogel. Nebenbei bemerkt: Ich habe während meiner Karriere als Schlüsselknecht Zellen gesehen, in denen Insassen alles, aber auch alles der Einrichtung kurz und klein geschlagen hatten. Da wurde die WC-Schüssel demoliert. Das Lavabo und der hölzerne Kleiderschrank von der Wand gerissen. Die Bettlatten aus der Verankerung gebrochen und zusammengetreten. Selbst die Fensterscheiben haben sie mit einem festen Stück Holz eingeschlagen und den Fernsehapparat – für die Insassen eine heilige Kuh – wurde ebenfalls zu Kleinmaterial verarbeitet. In so einer Zelle sah es nachher aus wie auf einer Schutthalde.“ „Ganz im Sinne der Steuerzahler“, murrt Moritz verärgert dazwischen. „Ich denke, dass das eher nicht im Sinne der Steuerzahler ist, lieber Moritz. – Um die Demoliererei hier zu verhindern, boten wir die Polizei auf. Polizisten der Einsatzzentrale übernahmen wenig später den Job und führten die betrunkenen Randalierer mit festem Griff zur Ausnüchterung in eine Sicherheitszelle. Auf wackligen Beinen, gestützt und geschoben, führten die Polizisten die zwei ,Alkoholiker‘ durch die Zellengänge. In der Sicherheitszelle angekommen, fielen sie wie nasse Säcke zu Boden und schliefen sofort ein ... Eingehüllt in eine mächtig stinkende Alkoholfahne. Diese stieg uns noch am folgenden Morgen ätzend in die Nase, als wir die Zellentüre öffneten.“ „Aber, aber, Fredy. Das nennst du eine lustige Situation, wenn sich Insassen im Gefängnis besaufen können. Wo hatten die beiden Helden den Alkohol her, wenn ich fragen darf?“ „Den hatten sie selber gemacht!“ „Selber gemacht, das ist ja noch schöner. Wie denn?“ „Ganz einfach, sie haben ihn angesetzt. Damals verkauften wir im Insasseneinkauf noch Traubensaft. Wenn du Brot in Traubensaft einlegst und ein paar Tage stehen lässt, entsteht durch den Gärungsprozess Alkohol. Diesen Trick kannten die beiden Junkies natürlich und versteckten daher das Gebräu gut vor uns. Wie die Geschichte zeigt, ist ihnen das perfekt gelungen. Mit dem Eigenbrand kamen sie wenigstens zu einem ordentlichen Rausch, wenn schon ein Drogentrip für sie nicht möglich war.“ „Ach, so einfach ist das?“, wundert sich Moritz. „Ja, Moritz, so einfach war das. Alles konnten wir nicht verhindern. Ab sofort wurde Traubensaft aus dem Einkaufs-Sortiment genommen. – Später erklärten die zwei Schlaumeier noch, dass sie die Wirkung des Alkohols mit Rasierwasser verstärkt hatten.“ „Ja, super! Mit Rasierwasser? Bäh! – Prost, Kollegen!“ erwidert Moritz. „Da ist mir mein Bierchen lieber.“ „Was die Menschen nicht alles machen“, sage ich verwundert und füge hinzu: „Auch wenn diese Episode im Angesicht des Drogenproblems nicht nur lustig ist, so ist sie wenigstens zum Schmunzeln.“ „Da gebe ich dir recht, Bruno“, antwortet Fredy. „Diese Episode ist wirklich zum Schmunzeln. Wenigstens auf der einen Seite. Auf der anderen Seite stimmte sie mich traurig! Als ich die beiden auf dem Weg in die Sicherheitszelle vor uns hergehen sah, betrunken, hin und her taumelnd, geführt und gestützt von den Polizisten, taten sie mir einfach nur leid. Ich kannte die zwei ja schon länger, von früheren Abstechern in die U-Haft. Dabei kam mir einmal mehr das Bild mit den Schafen in den Sinn, die keinen Hirten haben. Den hatten die beiden leider nicht! – Darum das sinnlose Leben: Rein in den Knast, raus aus dem Knast! Und rein mit dem Gift! Immer abhängig, hoffnungslos an der Nadel hängend, und das jahrelang. Arme Süchtige … ,dem raubenden und zerstreuenden Wolf ausgelieferte, bemitleidenswerte Menschenkinder.‘22 Ausgelieferte waren nicht nur die armen Junkies aus der Drogenszene. Es gab auch die sogenannten besseren Schafe, die im Lacoste-Pullover oder im feinen Anzug, die trotz besserer Bildung und höherer Stellung zwei- bis dreimal mit dem Gesetz in Konflikt geraten und bei uns gelandet sind.“ „Dieser Hinweis auf den Wolf ist sicher wieder aus der Bibel?“, stellt Moritz fest. „Erraten, Moritz! Das ist er!“, bestätigt Fredy. „In einem Knast gibt es einfach solche Geschichten“, fährt Fredy weiter: „Manchmal lustige, manchmal gefährliche, hin und wieder tragische und schwerverständliche. Am meisten Aufsehen erregt in der Öffentlichkeit natürlich ein Ausbruch aus einem Gefängnis. Vor allem wenn die Flucht filmreif gelingt. Für die Verantwortlichen ist ein solcher Vorfall ärgerlich und beunruhigend. Dann hagelt es gewöhnlich landauf und landab harsche Kritik. Was wiederum verständlich ist, wenn plötzlich einer in der Freiheit rumgeistert, der eigentlich hinter Schloss und Riegel gehört. Wenn es sich dann noch um einen gefährlichen Zeitgenossen handelt, ist der Zapfen erst recht ab.“ „Was durchaus zu verstehen ist“, meine ich. „Sicher, Bruno. – An einem schönen Sonntagmorgen im September 2010 ist das einem jungen Albaner gelungen“, bestätigt Moritz. „Sämtliche Medien in der Region berichteten ausführlich über seinen gelungenen Fluchtversuch aus dem Gefängnis. Sie rühmten seine tolle Fitness und die akrobatischen Fähigkeiten, die er an den Tag legte, als er über die fünf Meter hohe Mauer des Spazierhofes abhaute ... Mit Schnürsenkeln und einem Gürtel zog sich der sportliche Mann an der Fassade hoch und turnte im wahrsten Sinne des Wortes über die Mauer: ,Es ging einfach zu schnell‘, konnte man nachher lesen. Und: ,Er sei nicht der erste Insasse, der ein Gefängnis nicht durch den Haupteingang verlässt.‘ Zwischenzeitlich sitzt der sportliche Mann wieder. Er wurde knapp einen Monat später von der Polizei geschnappt.“ „Toll!“, sage ich. „Es ist schon interessant, wenn sie draussen sind, machen viele jeden Blödsinn, dass sie hineinkommen ... Und wenn sie drinnen sind, versuchen sie alles Mögliche, dass sie wieder rauskommen.“ „Tja, so ist das, Bruno“, bestätig Fredy. „Das trifft tatsächlich auf diesen jungen Mann zu. Eine Zeitung schrieb dazu: ,Er sass wegen widerrechtlicher Einreise im Gefängnis. Weil er vor drei Jahren wegen Drogenhandel verurteilt und des Landes verwiesen wurde und trotzdem wieder in die Schweiz einreiste.‘ Aber, was das betrifft, verrate ich ja kein Geheimnis. Dass es so läuft, pfeifen die Spatzen schon längst von den Dächern.“ „Apropos Dach, Fredy“, entgegnet Moritz: „Da kommt mir ein verhängnisvoller Fall in den Sinn, bei dem vor mehreren Jahren der Ausbruchsversuch aus dem Gefängnis tödlich endete. Ich kann mich daran erinnern, dass der Blick damals in seinem Bildbericht ein Foto veröffentlichte, auf dem die Absturzstelle vom Dach des Gebäudes, das unmittelbar an die Gefängnismauer grenzte, mit einem langen roten Pfeil markiert war.“ „Ich weiss, Moritz. Ich kenne den Fall. Das war damals eine tragische Sache. Wenn ich mich nicht irre, geschah diese Flucht ebenfalls an einem Wochenende. Genau wie bei dem vorhin erwähnten Ausbruch des jungen Albaners. Ein Berufskollege erzählte mir später, dass dieser Häftling, ein junger Mann aus dem Ostblock, auch eine sensationelle sportliche Leistung vollbracht hatte. Es gelang ihm nämlich, eine ebenso hohe, wenn nicht noch höhere Gefängnismauer zu überwinden.“ „Hatte der Mann eine Feuerwehrleiter zur Verfügung?“, meint Moritz spasshaft. „Jaja, mach du nur deine Witze! – Nein, das hatte er definitiv nicht. Aber dass er eine Klettervorrichtung dazu benötigte, liegt auf der Hand.“ „Da bin ich sogar ganz sicher, Fredy. Im Actionfilm nehmen die Helden dazu ein Seil oder machen einen Strick aus Leintüchern.“ „Du wirst es kaum glauben, Moritz ... Laut meinem Kollegen benutzte er tatsächlich Leintücher. Daraus soll er angeblich Streifen gerissen oder geschnitten haben. Diese Stoffstreifen verknotete er zu einem langen, reissfesten Strang. Den Strang befestigte er gut und sicher an einem Gitterstab seines Zellenfensters. Kurz vor Spazierbeginn seiner Gruppe liess er den Stoffstrang unauffällig aus grosser Höhe in den leeren Spazierhof hinunter. Mein Kollege meinte dazu: ,Spätere Recherchen ergaben, dass er den Leintuchstrang vermutlich mit Kaffee oder Kaffeesatz eingefärbt hatte, damit er für das Personal an der fleckigen Hauswand des Gefängnisses nicht zu erkennen war.“‘ „Clever, der Mann! Das muss man ihm lassen“, bemerke ich. „Allerdings war das clever, Bruno!“, bestätigt auch Moritz. „Übrigens, ich kann mir gut vorstellen, dass er die Leintücher beim wöchentlichen Wechseln der Hauswäsche abzweigen konnte. Ich kenne die Prozedur aus meiner U-Haft-Zeit. Wenn die schmutzige Wäsche gegen saubere ausgetauscht wird, ist das durchaus möglich.“ „Wie dem auch sei, Bruno. Auf jeden Fall schaffte es der Insasse die Hauswand hochzukommen. Vielleicht nicht zuletzt darum, weil der Kollege, der den ,Spazierbetrieb‘ zu beaufsichtigen hatte, von einer Gruppe Insassen abgelenkt wurde. Sie verwickelten ihn in ein Gespräch. Ob das Ablenkungsmanöver mit Absicht geschah oder nicht, konnte laut meinem Kollegen nie ganz geklärt werden. Tatsache ist, dass der Flüchtende – wie Sylvester Stallone im Film ,Cliffhanger‘ – die hohe Gefängnismauer Meter um Meter überwand. Auf der Videoaufzeichnung der Überwachungskamera sei das gut zu sehen gewesen, meinte mein Informant. Dabei habe man deutlich beobachten können, dass ihm das Übersteigen des breiten Dachvorsprungs grosse Mühe bereitete. Als es ihm nach der kräfteraubenden Turnerei in grosser Höhe endlich gelang, schwang er sich wie ein Artist über den Dachvorsprung, gelangte so auf das Dach – und verschwand aus dem Blickfeld der Kamera.“ „Sportlich gesehen war das tatsächlich auch eine tolle Leistung“, sagt Moritz voller Bewunderung und ergänzt: „Der junge Mann muss einen gewaltigen Freiheitsdrang gehabt haben, dass er bereit war, das Risiko eines möglichen Absturzes auf sich zu nehmen.“ „Tja, das Risiko war für ihn definitiv zu gross, wie es sich nachher herausstellte“, erwidert Fredy. „Er ist bei dem gefährlichen Abstieg vom Dach des Gebäudes abgestürzt. Im Verlaufe der Untersuchung wurde angenommen, dass ihm gegen Ende der Flucht die Kraft fehlte, die er beim schwierigen Aufstieg verbraucht hatte. Die Kraft muss ihm förmlich aus den Muskeln gewichen sein, als er über das Dach hetzte und dann an der Dachrinne hinunterklettern wollte. Er konnte sich nicht mehr halten, musste loslassen und stürzte ab.“ „Was für ein Drama!“, rutscht es mir heraus. „So kurz vor dem Gelingen der Flucht abzustürzen. Für ihn waren das die entscheidenden Meter in seinem Leben. Entscheidend zwischen Leben und Tod.“ „Und der Ewigkeit“, fügt Fredy noch hinzu. Ich sehe, dass Moritz die Augen missmutig etwas zusammenkneift. Demonstrativ reagiert er auf unsere tiefsinnigen Bemerkungen nicht. Stattdessen lenkt er davon ab, wendet sich an Fredy und meint: „Lieber Fredy, Themawechsel! – Mich beschäftigt eine andere Frage. Sie hat nichts mit diesem fatalen Fluchtversuch zu tun, aber ich möchte sie trotzdem loswerden!“ „Okay, Moritz! Und die Frage wäre?“ „Seit wir diskutieren, hast du dich immer gegen Gewalt ausgesprochen oder mindestens dagegen protestiert, stimmt’s?“ „Ja, das ist richtig, Moritz! Und wo liegt das Problem?“ „Als du jung warst, hast du geboxt. Du warst sogar Amateurmeister. Nach meiner Meinung hat Boxen auch mit Gewalt zu tun – und das bringe ich bei dir nicht zusammen. Du bist doch Christ!“ Fredy wird etwas verlegen und rutscht auf dem Stuhl unruhig hin und her. Nach einer kurzen Denkpause nimmt er die Frage von Mo- ritz auf und sagt: „Hm … Das ist ein Widerspruch, das gebe ich zu. Aber, darf ich meinen Kommentar dazu abgeben?“ „Natürlich, Fredy! Darum geht es mir ja.“ „Also: Wie du erwähnt hast, habe ich früher einmal geboxt. Damals war ich ein Fan dieser Sportart – und noch nicht Christ. Die Boxerei faszinierte mich. Die Bewegungsabläufe gepaart mit Kraft, und beides fair gegen einen Gegner im ,Faustkampf‘ eingesetzt, fand ich damals eine tolle Sache. Andererseits erforderte das Boxen einiges an schweisstreibendem Training. Genau dieses Training war es, das mir enorm Spass machte. Das vielseitige Konditionstraining mit Seilspringen, Schlagschule beim Sparring, am Sandsack und am Punchingball kam meinem Bewegungsdrang entgegen. Um für die 3 mal 3 Minuten im Ring genügend Puste zu haben, rannte ich kreuz und quer durch den Wald. – Damals hiess das bei uns noch Waldlauf, heute nennt man das Joggen. Da ich angeblich Talent hatte, wurde ich von unserem Trainer im Club gefördert. So wurde ich schliesslich zweimal Landesmeister im Leichtgewicht. Eines aber ist sicher: Zu unserer Zeit ging es bei diesem Sport noch nicht so brutal zu und her wie heute. Bei den Amateuren war das sowieso kein Problem. Da achteten die Trainer und Ringrichter noch streng darauf, dass die sportlichen Regeln eingehalten wurden. Im Hinblick auf die Gesundheit war das enorm wichtig. Dafür bin ich ihnen bis heute dankbar.“ „Das kann ich mir denken“, wende ich ein. „Die Gesundheit, um genau zu sein die kostbaren Hirnzellen, müssen ja nicht mit aller Gewalt zu einem blutigen Brei geprügelt werden: Es genügt, wenn das beim Profiboxen vorkommt!“ „Allerdings, Bruno, dieser Ansicht bin ich auch“, entgegnet Moritz. „Wenn du in der Vorschau zu einem grossen Boxkampf Bilder von diesen Athleten siehst, die sich mit nacktem Oberkörper und riesigen Muckis zur Schau stellen, wird klar, dass sie das problemlos fertigbringen. Aber eben, die Werbetrommel für den bevorstehenden Kampf muss gerührt werden. Selbst die grossmäuligen Sprüche, die einige von sich geben und leider immer primitiver werden, gehören ebenfalls zum Geschäft. Sie heizen die Sache zusätzlich an.“ „Tja, bei diesem Geschäft geht es eben um Millionen“, ergänzt Fredy. „Da ist es kein Wunder, dass die Grenzen des Verstandes – und der Gesundheit – überschritten werden. Beim WM-Kampf im Oktober 2010 zwischen Shannon Briggs und WBC-Champion Vitali Klitschko, war die Grenzüberschreitung klar zu sehen. Herausforderer Briggs musste viele knallharte Schläge einstecken und darf Gott danken, dass er überhaupt noch lebt. Die beängstigende Verformung seines Gesichts nach den präzisen Kopftreffern von Klitschko sprach Bände, und die darauf folgende operative Behandlung in einer Klinik ebenso ... So extreme Bilder habe ich noch nie gesehen. Ich wünsche Briggs ehrlich, dass er nicht von Spätschäden eingeholt wird – er wäre nicht der erste Boxer.“ „Das ist ihm wirklich zu wünschen, Fredy, das er keine Spätschäden bekommt“, stimmt Moritz zu. „Der Preis wäre eindeutig zu hoch gewesen, trotz der ansehnlichen Gage.“ „Das denke ich auch!“, meint Fredy. „Genau wegen dieser unguten Entwicklung hat sich meine Beziehung zu diesem Sport geändert. Die Flamme der Begeisterung ist ziemlich erloschen. Nicht zuletzt darum, weil die Zunahme der Brutalität im Sport allgemein mit der Zunahme der Gewalt in unserer Gesellschaft einhergeht. Auf der Gasse, in Eisenbahnzügen und im Nachtleben kommt es vermehrt vor, dass frustrierte, gewaltbereite junge Menschen, mit ein paar eingeübten Kampfsportschlägen, andere auf gröbste Weise verletzen.“ „Den Satz, betreffend den Sport und die Gesellschaft, kannst du problemlos umkehren – er stimmt auch so!“, füge ich hinzu. „Für mich ist es unverständlich, dass man so rücksichtslos miteinander umgeht.“ „Wie recht du hast, Bruno“, antwortet Fredy darauf. „Ich muss allerdings gestehen, dass es für mich ein langer Prozess war – und immer noch ist –, dem Box- und Kampfsport gegenüber umzudenken. Nicht zuletzt wegen der leidigen Tatsache, dass ich auch bei mir manchmal den Hang zu nicht gewaltfreien Gedanken und Äusserungen feststellen muss.“ „Alle Achtung, Fredy, dass du das so freimütig zugibst!“, sagt Moritz beeindruckt. „Tja, Moritz, das ist ja gut und recht, dass ich das zugebe, aber in so einem Moment gefällt mir mein schlechtes Verhalten absolut nicht. – Um von meinem Entwicklungs-Prozess zu sprechen, der mich über längere Zeit in dieser Sache zum Umdenken beeinflusste, muss ich bis ins Jahr 1968 zurückgehen. Ich erinnere mich noch genau. Es war an einem schönen, warmen Juniabend. Helen und ich sassen gemütlich auf dem Balkon. Ich las die Zeitung und suchte wie üblich zuerst den Sportteil. Als ich eine Seite aufschlug, sprang mir sofort die Überschrift: „Tod durch K.o.“, in die Augen. Ein Blick auf den abgebildeten Boxer genügte mir, um zu erkennen, um wen es sich dabei handelte. – Ich war echt betroffen, als ich das realisierte.“ „Was war denn geschehen?“ „Ein Drama, Moritz! Es ereignete sich beim Europameisterschafts-Titelkampf im Mittelgewicht zwischen dem Kölner Boxer Jupp Elze und dem italienischen Titelverteidiger Carlos Duran. Laut dem Sportbericht boxte Herausforderer Elze gut – am 1 . Juni 1968. Nach 14 der 15 Runden führte er nach Punkten. Der langersehnte Titelgewinn lag in seiner Reichweite. Der Gong zur 15 Runde ertönte und läutete die letzte und entscheidende Runde ein. Riesenspannung herrschte in der vollbesetzten Kölner-Messehalle und bei den Betreuern in der Ringecke von Elze ... Der Deutsche mobilisierte noch einmal seine letzten Kräfte. Er setzte alles auf eine Karte und versuchte mit einer Serie von Schlägen, Duran entscheidend zu bezwingen. Doch Duran traf Elze noch einmal hart am Hinterkopf. Er ging zu Boden. Kurz nachdem er wieder aufgestanden war und seine Aufgabe signalisierte, sackte er bewusstlos zusammen und fiel ins Koma. Er ist nie mehr aus dem Koma erwacht. Am 20. Juni starb er nach einer Gehirnblutung. In einem Kommentar konnte man später lesen: ,Die Obduktion ergab, dass Jupp Elze mit drei verschiedenen Substanzen gedopt war, unter anderem mit Pervitin. Pervitin unterdrückt nebst anderem Müdigkeit und Schmerzen. Und genau das wurde Jupp zum Verhängnis. Ohne Doping, respektive ohne Pervitin, hätte er die schweren Treffer, allein über 150 am Kopf, kaum aushalten können.‘ So viel zum Kommentar. Ich denke, ohne Pervitin wäre er vorher K.O. gegangen, oder der Kampf wäre abgebrochen worden. Viel- leicht hätte er dann überlebt? Sein Tod im Boxring löste in Deutschland heftige Emotionen aus und warf viel Staub auf ... Doping tauchte plötzlich als unerwartete und geheimnisvolle Realität im Boxsport auf. Jupp Elze starb als erster deutscher Profisportler der Neuzeit nachweislich an den Folgen von Doping.23 Betroffen und traurig sass ich da. Hielt die Zeitung in der Hand und konnte kaum glauben, was ich eben gelesen hatte. Nicht einmal das Feierabend-Bierchen schmeckte mehr. Helen überliess mich meinen Gedanken ... Sie hatte sowieso für das Boxen nicht viel übrig. In dieser Zeit interessierte ich mich immer noch sehr für das Geschehen rund um den Boxsport. Daher waren mir Namen wie Jupp Elze, Bubi Scholz, Peter Müller, der auf Kölsch die Aap, der Affe, genannt wurde, und viele andere Boxer ein Begriff ... Karl Mildenberger zum Beispiel boxte – wenn ich mich nicht irre – gegen Muhammad Ali, alias Cassius Clay. Soweit ich mich erinnere, lieferte Mildenberger gegen den Superboxer Muhammad Ali einen grossartigen Kampf ... Trotzdem, gegen das berühmte ,Grossmaul‘ Cassius Clay, wie er eigentlich richtig hiess, konnte er nicht gewinnen. Jupp Elze war ein guter Boxer! Schade für den sympathischen jungen Mann. Sein Todesfall prägte mich nachhaltig. Ich ging zwar ab und zu noch zum Training. – Altherren-Boxen, harmlos und nur für die Fitness. Für Boxkämpfe konnte ich nicht mehr die alte Begeisterung aufbringen.“ „Das leuchtet ein“, doziert Moritz. „Für dein edles Gesicht war es bestimmt besser so“, spöttelt er und fügt hinzu: „Wenn ich an die brutalen Bilder in der Sportberichterstattung denke, wo das entstellte Gesicht von Briggs abgebildet war, als er wieder einen Bums von Klitschko einfing, siehst du daneben noch richtig gut aus.“ „Danke für das nette Kompliment, du Spassvogel!“ „Moritz hat recht, Fredy!“ gebe ich meinen Senf dazu. „Es wäre wirklich schade um dich, wenn du heute im Kopf gaga wärst. Muhammad Ali hat bekanntlich einen teuren Preis dafür bezahlt, der Grösste im Boxring gewesen zu sein. Seit Jahren leidet er an der Parkinson’schen Krankheit.“ „Jaja, Bruno, du auch noch ... Okay, okay! Ihr habt ja recht!“, windet sich Fredy heraus. „Ich gebe mich geschlagen! Jetzt sitze ich mit euch im Altersheim und gebe zu, dass Boxen halt doch mit Gewalt zu tun hat. Aber nicht nur beim Boxen, auch bei anderen Kampfsportarten ist das so. Die Aktiven von diesen Sportarten – zu denen zunehmend immer mehr Frauen gehören – werden das natürlich nicht gerne hören. Nur, das Wort ,Kampf‘ spricht halt doch für sich. Im (Zwei)Kampf aktivieren wir Menschen die niederen Instinkte in uns, um alles zu geben, stark zu sein und um als Sieger vom Platz zu gehen. – Das war schon bei den Gladiatorenkämpfen so! Nach meiner Meinung funktioniert das auch bei denen so, die vorgeben, dank eingeübter spiritueller Selbstbeherrschung alles im Griff zu haben. Daher überrascht es mich nicht, dass einige Kampfsportarten aus Asien zu uns gekommen sind, samt den oft dahinterstehenden Religionen. Wer sprach denn in den 1950er Jahren schon von Karate, Kung Fu, Thai- und Kickboxen oder von der noch brutaleren Form von Zweikämpfen, die heute aus den USA importiert wird, der Ultimate Fighting Championship UFC, den Kämpfen im Gitterkäfig? Praktisch niemand! Heute bin ich soweit, dass ich Gewalt grundsätzlich ablehne, sogar schon in den Gedanken. Leider gelingt mir das nicht immer! – Da geht es mir wie dem Apostel Paulus, der von sich sagte: ,Ich verstehe ja selber nicht, was ich tue. Das Gute, das ich mir vornehme, tue ich nicht; aber was ich verabscheue, das tue ich.‘“24 „Danke Fredy, für den interessanten Abstecher in das Box- und Kampfsport-Milieu“, sagt Moritz. „Und für deine ehrliche Meinung zum Thema Gewalt.“ „Dem kann ich nur zustimmen, Moritz! Ich schliesse mich deiner Meinung an, was das Bekenntnis von Fredy betrifft – und dem was Paulus sagte übrigens auch!“ „Das freut mich, dass ihr mich versteht!“, antwortet Fredy zufrieden. „Machen wir eine kurze Pause“, schlägt Moritz vor. „Ich muss wieder mal! Mein Bierchen drückt auf die Blase. Und nachher gehe ich eine rauchen.“ „Okay, Moritz. Ich komme mit. Mir kann es auch nicht schaden, die Füsse zu vertreten. Ich bin von der Rumsitzerei ganz verspannt.“ Als wir zurückkommen, sehen wir Fredy am Tisch bei den drei jassenden Frauen stehen. Sie lachen herzhaft. Was hat er ihnen wohl wieder erzählt? Er scheint sich während unserer Abwesenheit mit den alten Damen gut amüsiert zu haben. Wir haben kaum Platz genommen, da nimmt Moritz unsere Diskussion mit der Frage auf: „So wie ich dich verstanden habe, Fredy, siehst du also einen Zusammenhang zwischen der Zunahme von Gewalt im Sport und der Zunahme der Gewalt in unserer Gesellschaft?“ „Ja, ohne Zweifel“, antwortet er. „Und wie Bruno vorhin erwähnte, kann man den Satz problemlos umkehren, er stimmt auch so. Diese Übereinstimmung ist nun mal Realität.“ „Wem sagst du das, Fredy. Dieser Ansicht bin ich schon lange. Aber, so wie ich das sehe, gibt es Gewalt nicht nur beim Sport. Im soziologischen Sinn ist Gewalt eine Quelle der Macht und kommt daher mit Sicherheit auch in der Politik und in der Wirtschaft, ja, genaugenommen überall vor. Häufig wird dabei noch ein illegitimer Zwang ausgeübt.“ „Mensch, das tönt aber gescheit, Bruno“, frotzelt Moritz. „Ach, was, Moritz. Das ist ja nicht von mir. Das habe ich kürzlich so gelesen. Und glücklicherweise ist der Satz bei mir hängen geblieben. Sonst könnte ich mich damit nicht brüsten.“ „Das habe ich mir doch gedacht – du Brüstling!“, frotzelt Moritz. „Tja, gewisse Kreise machen es uns leicht“, meint Fredy ein wenig gereizt „dass wir diesen Zwang nicht vergessen. – Der Kreis der Superreichen zum Beispiel. Einige von ihnen meinen bescheiden, dass ein Vermögen unter 30 Millionen Peanuts seien. – So habe ich das jedenfalls in einem Bericht von Radio DRS gehört. Natürlich wurde das Wort Peanuts im Bericht nicht verwendet. Aber sinngemäss konnte man die Aussage durchaus so verstehen. Vielleicht habe ich die Sache auch falsch verstanden. Aber Tatsache ist, dass viel Geld viel Macht bedeutet. Und darum ist es eben möglich, offen oder verdeckt Zwang auszuüben.“ „Der Volksmund sagt nicht von ungefähr: ,Geld regiert die Welt!“‘ füge ich hinzu. „Genau, das sagt er mit Recht, Bruno“, entgegnet Fredy. „Denn die Politik wird von Lobbyisten und vom Geldadel regiert. Es ist immer das Geld, das entscheidend ist. An und für sich ist Geld nichts Anrüchiges, auch das Reichsein nicht. Nur zeigt es sich immer wieder, dass der Mammon uns Menschen meistens den Charakter verdirbt. Dass es daher nicht bei jedem Geschäft mit rechten Dingen zugeht, wissen wir alle; dafür gibt es in letzter Zeit wirklich genug Beispiele, nicht nur in der Schweiz. Es ist keine Überraschung, wenn wir hören, dass Millionen eines mächtigen Zeitgenossen, die sich auf wundersame Weise auf seinem Konto angehäuft haben, blockiert worden sind. Aber, das kennen wir ja, und haben diese leidige Angelegenheit schon bis zum Gehtnichtmehr besprochen.“ „Das haben wir!“, brummt Moritz dazwischen... „Darf ich trotzdem noch etwas Intelligentes zum Thema Gewalt und Macht ergänzen?“ „Natürlich, lieber Freund“, meint Fredy grinsend. „Wo drückt denn der Schuh?“ „Mein Schuh drückt überhaupt nicht! Ich will dazu nur sagen, dass es dabei um körperliche oder seelische Schädigung eines Anderen, oder von Andern geht, unter Androhungen von Gewalt. – Meistens, aber nicht immer, ist dann das Gefängnis Endstation.“ „Na klar, Moritz! Aber bei deinem intelligenten Satz über körperliche und seelische Schädigung ist der Jurist mit dir durchgebrannt“, moffelt Fredy. „Das hört sich wie ein Paragraf aus dem Strafrecht an ... Was hingegen das Gefängnis betrifft, da hast du recht. So gesehen ist diese Institution tatsächlich ein Sammelbecken, in dem kleine und grosse Gewaltanwender zu finden sind. Zweifellos kann es zutreffen, dass eine Person die in U-Haft sitzt, in irgendeiner Form mehr oder weniger Macht und Gewalt gegen andere ausgeübt hat. Meistens um egoistische oder ungesetzliche Interessen zu verfolgen.“ „Genau, Fredy. Dazu eignet sich Macht immer“, ergänzt Moritz. „Eine Machtaktion muss nicht zwingend auf eine körperliche Verletzung oder auf eine Sachbeschädigung hinauslaufen. Es ist nicht zwingend jemanden umzubringen, Bomben zu zünden, zu vergewaltigen, zu betrügen, zu stehlen oder einzubrechen. – Man kann Macht und Gewalt auch anderweitig ausüben. Wir müssen unserer Lieblosigkeit – sprich unserem Ego – nur den freien Lauf lassen, um zum Erfolg zu kommen. Das ist im Elfenbeinturm einer Bank ebenso möglich, wie hinter den Fassaden eines Wirtschaftsimperiums oder einer Diktatoren-Festung. Mit anderen Worten: Wer in dieser Welt Macht zu seinem Vorteil ausüben will, hat viele Möglichkeiten. Es kommt ja sogar vor, dass ,Machthaber‘ nicht einmal befürchten müssen, zur Rechenschaft gezogen zu werden, weil angeblich die gesetzlichen Grundlagen fehlen – oder zu ihren Gunsten angepasst worden sind. Während andererseits weniger Mächtige sich aus Angst nicht einmal getrauen, eine Klage vorzubringen.“ „Grossartig, wirklich Moritz, was du zu diesem Thema zu sagen hast“, entgegnet Fredy beeindruckt. „Schön wär’s, wenn dem nicht so wäre. Aber eben, eine gewaltlose Welt ist eine Illusion. Genauso wie eine Welt, in der Gerechtigkeit herrscht. Nebenbei bemerkt: Die Bibel lässt die Hoffnung an so eine Illusion in dieser Welt ebenfalls nicht zu. Das weisst du so gut wie wir.“ „Ehrlich Fredy, ich weiss es“, gibt Moritz zu. „Und darum überrascht es mich nicht, dass wir Menschen, die zugegebenermassen schon ein wenig Dreck am Stecken haben, in die Evolution flüchten wollen.“ „Ein wenig Dreck am Stecken ist gut, Moritz! Ausgerechnet du nimmst die Evolution in den Mund ... Da staune ich aber!“ „Ja, wieso denn, Bruno? Da gibt es nichts zu staunen. Ich bin doch nicht blöd! Ich weiss selber, dass der Glaube an die Evolution dem bösen Tun in der Welt entgegenkommt. Ich halte mich zwar nicht für einen schlechten Menschen, aber als Evolutionist brauche ich mich nicht vor einem Gott zu verantworten und das ist beruhigend, oder nicht.“ „Tja, wenn du dich da nur nicht täuschst, Moritz“, sage ich. „Gottes Diagnose über unser Tun ist mit Sicherheit anders!“ „Umso besser, Bruno!“, sagt er und meint: „Dann ist es nur gut, wenn wenigstens einige der richtigen Leute einem rechtmässigen Urteil zugeführt werden können und hinter Schloss und Riegel kommen.“ „Das mit dem rechtmässigen Urteil wird immer fragwürdiger“, wende ich ein. „Vor allem, wenn ich an unsere Kuscheljustiz und an die aufgeweichte Rechtsprechung denke ... Unverbesserliche Optimis- ten meinen zwar, dass wir es doch noch schaffen, der Welt ein friedfertiges Gesicht zu geben?“ „Ein friedfertiges Gesicht?“, höhnt Fredy. „Ist das vielleicht bei randalierenden Krawall-Touristen zu suchen, wenn sie wie im September 2011 in Zürich dabei sind, eine bessere Welt zu gestalten? Unsere Welt und friedfertig; hast du eine Ahnung, Bruno! Wie soll das gehen?“ „Schon gut, Fredy. Easy! Das mit dem friedfertigen Gesicht war ironisch gemeint!“ „Na, schön, dann brauche ich dir nicht zu sagen, dass es selbst in einem Gefängnis nicht immer friedfertig zugeht. Es kann auch hier zu Gewaltaktionen kommen ... Ich meine, unter Insassen. Das kennst du sicher aus eigener Erfahrung. Wenn da etwas abgeht, wird die gröbere Form gepflegt. Nicht die vornehme, auch nicht die rücksichtsvolle. Dann fliegen die Fäuste! – Allerdings war es zu deiner UHaft-Zeit schwieriger, Gewalt gegen andere Häftlinge anzuwenden. Ich erinnere nur an den Hofspaziergang mit Redeverbot und an den befohlenen Abstand von Mann zu Mann. Da war es nicht so einfach an einen Mann ranzukommen. Zu meiner Zeit als Schlüsselknecht war das nicht mehr so. Das habe ich ja erklärt. Da waren die Häftlinge diskutierend, lachend und blödelnd unterwegs. In lockeren Gruppen, in denen sich die Zusammensetzung der Männer hin und wieder auflöste und durch andere wieder ergänzt wurde. Nicht selten drehten Drogenhändler und Drogenkonsumenten gemeinsam ihre Runden. Meistens kannten sich Täter und Opfer von der Gasse und alberten wie grosse Kinder herum, als wäre das für sie die normalste Sache der Welt. Der eine verdiente an ihnen mit dem Gifthandel gutes Geld und die anderen ruinierten mit diesem Dreck ihre Gesundheit. – Im schlimmsten Fall bis auf den Friedhof. Aber das schien sie nicht zu kümmern. Ist das nicht schizophren?“ „Natürlich ist das schizophren, Fredy, und wie“, entgegne ich. „Für so eine verantwortungslose Lebenseinstellung habe ich wenig Verständnis.“ „Eben, ich auch!“, sagt Fredy. „Und trotzdem machte das übermütige Geplänkel zwischen ihnen auf mich den Eindruck von einer Sorglosigkeit, die dem Ernst der Sache, in der sie steckten, gar nicht gerecht wurde. Nur, der lockere, scheinbar harmlose Betrieb konnte täuschen! Und zwar so, dass wir durch das lebhafte Hin und Her der zirkulierenden Männer den Beginn einer Schlägerei in der Anfangsphase gar nicht erkennen konnten. Belanglose Wortstreitereien zwischen ihnen konnten manchmal schnell in eine handfeste Keilerei ausarten. Rassistisch gefärbte Sticheleien konnten durchaus ein Auslöser sein, da muss man sich nichts vormachen. Ich erinnere mich gut an eine äusserst brutale Aktion im Spazierhof, obwohl sie Jahrzehnte zurückliegt. So etwas vergisst man nicht so schnell! Der Auslöser der Schlägerei muss – wie erwähnt – eine wörtliche Auseinandersetzung unter Landsleuten vom Balkan gewesen sein. Genau konnten wir das damals nicht herausfinden. Die Burschen halten ja doch zusammen, wenn es darauf ankommt. Fakt war: Mehrere Insassen gingen auf einen von ihnen los. Bei der Rauferei deckten sie ihn mit Schlägen ein und nahmen ihn hart in die Mangel. Viele langten in dem Gewühl vielleicht auch einfach zu, um den eigenen Frust abzureagieren. Auf jeden Fall ging alles blitzschnell. Der junge Mann hatte gegen die Übermacht überhaupt keine Chance. Ein paar der Streithähne waren zu geübte Schläger. Die wissen, wie man so etwas macht.“ „Das kann ich mir denken!“, meint Moritz dazwischen. „Fatalerweise blieb es für den jungen Mann nicht nur beim Einstecken der Prügel. Bevor wir rechtzeitig eingreifen konnten, gelang es einem der Schläger, den Mann zu packen. Den Täter konnten wir in dem aufgebrachten Haufen nicht ausmachen. Auf jeden Fall war er kräftiger als sein Opfer. Er fixierte den Burschen mit einem festen Griff, sodass er sich nicht aus der Umklammerung herauswinden konnte und schlug dann den Kopf des Wehrlosen mehrmals mit grosser Wucht auf die steinharte Tischtennisplatte. Wie der arme Kerl nach dieser gemeinen Attacke aussah, stellt man sich besser nicht vor. Sein Gesicht war nur noch eine blutige Masse. In besorgniserregendem Zustand musste er mit der Sanität ins Spital eingeliefert werden.“ „Ich nehme an, dass der Fall untersucht wurde“, meint Moritz sichtlich verärgert. „Und der oder die Täter bestraft worden sind?“ „Ja, natürlich gab es eine Untersuchung“, bestätigt Fredy. „Über die Sanktionen der beteiligten Schläger weiss ich nicht mehr Bescheid. Die Sache liegt immerhin Jahre zurück!“ „Tja, Fredy! Diese Sache liegt Jahre zurück und ereignete sich in einem Gefängnis. Aber heute passieren solche Raufereien bald jeden Tag, nicht im Gefängnis, sondern ausserhalb. Auf der Gasse, in Clubs, bei Sportveranstaltungen usw. Das möchte ich doch zu bedenken geben. Tatsächlich vergeht kein Tag und kein Wochenende, an dem nicht irgendwo jemand angemacht, brutal zusammengeschlagen und ausgeraubt wird ... Ach ja! Beziehungsdelikte mit tödlichem Ausgang, Messerstechereien und Schiessereien gibt es auch noch. – Weit haben wir es gebracht, wirklich sehr weit! Dem ganzen Tun wird dann während der Untersuchung eines Falles gelegentlich noch die Krone aufgesetzt, wenn im Hinblick auf Tat und Täter Gutachter und Richter zum Zuge kommen. Was da ab und an über Untersuchungsergebnisse und Urteilsbegründungen zu vernehmen ist, kann ich nur mit Kopfschütteln zur Kenntnis nehmen.“ „So ist es, Bruno. Einmal mehr beweisen diese Vorkommnisse, dass die Bibel recht hat. Übrigens habe ich ja schon erwähnt, was der Prophet Jesaja im Alten Testament dazu zu sagen hat: ,Wehe denen, die Böses gut und Gutes böse nennen…‘25 Das ist doch haargenau der Trend, der heute überall festzustellen ist!“ „Das ist auch meine Meinung, Fredy. Dazu hat eben die jahrhundertelange Unterwanderung christlicher Werte geführt. – Ein Beispiel gefällig: ,Tot sind alle Götter: nun wollen wir, dass der Übermensch lebe.‘ Das lässt Nietzsche seinen Zarathustra ausrufen.26 So habe ich das jedenfalls kürzlich gelesen. Dass die Götter tot sind, damit hat Nietzsche zweifellos recht. – Der ,Übermensch‘ ist es aber auch, geistlich gesehen, nur merkt er es nicht! Er ist fleissig damit beschäftigt, alle Werte des ,einen wahren Gottes‘ aufzulösen und wie eh und je seine eigenen Weisheitslehren einzuführen. Das ist nichts anderes als menschlicher Grössenwahn. Und der führt nur noch weiter in den geistigen und moralischen Zusammenbruch hinein. Was ich in unserer weltweit kranken Gesellschaft – entschuldigt den Vergleich – zu hören und zu sehen bekomme, Stichworte: Fern- sehen, Filme, Internet und Zeitschriften, hat sehr viel mit diesem Zusammenbruch, besser gesagt Abbruch, zu tun. In einem Wörterbuch wird das Wort Abbruch mit: ,...die Beendigung eines Vorganges‘ erklärt. Wer nicht blauäugig ist, muss zugeben, dass nur schon Anstand und Respekt gegenüber dem Nächsten ein beendeter Vorgang ist! Der Vorgang ist so gründlich beendet worden, dass die zwischenmenschlichen Beziehungen nur noch schlecht funktionieren. Immer mehr ist der Alltag von Misstrauen und Mobbing geprägt. Die damit einhergehende Existenzangst knechtet uns Menschen zusehends. Die Aufklärungs-Philosophie mit ihrem Glauben an die Vernunft und an den Verstand von uns Gutmenschen hat sich als wahrer Trugschluss erwiesen. Nebenbei bemerkt: Friedrich Nietzsche bestritt die Existenz eines Gottes. Seine Vorstellung ohne Gott, als ,Übermensch‘ zu leben, hat er teuer bezahlt. Er verbrachte die letzten zwölf Jahre seines Lebens in geistiger Umnachtung.“ „Hört, hört!“, meint Moritz erstaunt: „Jetzt hast du dich aber gewaltig ins Zeug gelegt, Bruno! Einen mutigen Vortrag hast du uns gehalten, allerdings einen interessanten, das gebe ich zu.“ „Genau richtig für mich!“, deutet Fredy an. „So habe ich wieder die Gelegenheit, auf das Thema Knast zurückkommen!“ „Denk ich es mir doch!“, mault Moritz. „Na klar! Gut dass du so denkst, Moritz. Dann brauche ich nicht noch einmal darauf hinzuweisen, dass Gefängnisse Abziehbilder des moralischen Zustandes einer Gesellschaft sind.“ „Nein, das brauchst du nicht, Fredy. Das wissen wir jetzt!“, antwortet Moritz. „Und, dass die Gewalt und andere Übel zugenommen haben, ist uns auch klar.“ „Okay, Kollegen! Dann ist ja alles klar! Da ich sowieso auf dieses Thema zurückkommen wollte, kann ich wenigstens noch versuchen, die Entwicklung der Gewalt aus meiner Sicht zu erklären.“ „Gut, Fredy! Dann erklär mal, ich fordere dich hiermit auf!“ „Also: Ich denke, dass ihr euch an die Namen Deubelbeiss und Schürmann erinnern könnt? Uns alten Ruheständlern dürften die beiden immerhin noch ein Begriff sein, obwohl sich ihre Untaten in den 1950er Jahren in unserem Land abspielten.“ „Ja, sicher Fredy; die beiden sind mir noch ein Begriff“, bestätige ich. „Dito!“, antwortet Moritz. „Ich war zu der Zeit gerade im JusStudium. Dass wir Studenten darüber diskutierten, dürfte schon von daher klar sein. Ich weiss noch, dass die Untaten von Deubelbeiss und Schürmann, nur wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, die Schweizer Bevölkerung mächtig aufrüttelten. Uns Studenten – wir waren ja noch Greenhörner – natürlich auch. Vor allem deshalb, weil unser Land wenige Jahre vorher mit einem blauen Auge aus den Kriegswirren davongekommen ist. Nachdem was rundum in Europa los war, glaubten wir damals wirklich, auf einer friedlichen Insel zu leben …, und erschraken umso heftiger über diese neuen ,ChicagoGangstermethoden‘. Tatsächlich läuteten die beiden Schwerverbrecher eine neue Epoche in der Schweizer Kriminalgeschichte ein. Ich erinnere mich noch gut daran, dass sie – im wahrsten Sinne des Wortes – einen kriminellen Feldzug starteten. Es war 1951, als sie in Zürich-Höngg in ein Zeughaus einbrachen und daraus Maschinenpistolen sowie mehrere tausend Schuss Munition raubten, die sie in Verstecken in den umliegenden Wäldern vergruben. Ein paar Monate später entführten sie einen Bankier, weil sie hofften, dieser trage den Tresorschlüssel der Bank auf sich, die sie berauben wollten. Das war aber nicht der Fall ... Es war sein Pech und kostete dem Mann das Leben. Ich glaube er hiess Bannwart. In einem Waldstück ausserhalb von Zürich brachten die beiden Gangster den Bankier auf brutale Weise um. Nur wenige Wochen später versuchten sie, eine Poststation im Kanton Aargau zu überfallen.“ „Ja, genau!“, wirft Fredy ein: „Das war in Reinach. Da bin ich mir ganz sicher. Die Post in Reinach erlangte damals traurige Berühmtheit. Der Überfall misslang zwar, doch es kam zu einer der wildesten Schiessereien der Schweizer Kriminalgeschichte. So etwas waren wir nicht gewöhnt, das war neu! Über 100 Projektile zählte die Polizei in der Folge am Tatort.“ „Stimmt, Fredy“, bestätigt Moritz. „Dass du dich noch daran erinnerst?“, meint er anerkennend. „Deubelbeiss und sein Komplize Schürmann konnten glücklicherweise nach einer intensiven Fahndung verhaftet werden. Die ganze Sache wurde von der Öffentlichkeit fieberhaft am Radio mitverfolgt ... Tja, damals war das halt noch das gute, alte Radio. Ein massives Ding, mit einem Echtholzgehäuse, schönen, grossen Reglerknöpfen und einer imposanten Senderskala. Ebenso beeindruckend war die elfenbeinfarbige Tastatur ... Im Februar 1953 verurteilte man die beiden berühmt-berüchtigten Gangster zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe.“27 „Na ja“, meint Fredy. „Das war damals eine atemberaubende Geschichte. Was ich aber damit veranschaulichen will, ist Folgendes: In den 1950er Jahren wühlten diese zwei Gewaltverbrecher mit ihren Taten noch die ganze Nation auf. Tatsächlich war es so, dass die kriminelle Energie, die von den beiden Verbrechern ausging, zu dieser Zeit neu und aussergewöhnlich war. Die zeitgenössische Presse schrieb damals mit Recht: ,Das Gangstertum im ,Chicago-Stil‘ hat in der Schweiz definitiv Einzug gehalten.“‘ „Allerdings hatte die Presse damit recht!“, setze ich hinzu. Und was stellen wir heute fest? Ist es seit der Zeit, in der Deubelbeiss und Schürmann ihr Unwesen trieben, besser geworden? Ich meine jetzt nicht nur im Bereich der Kriminalität, sondern ganz allgemein. Gewiss nicht, behaupte ich! Ganz im Gegenteil!“ „Eben, du sagst es, Bruno“, meint Fredy. „Wir ,Übermenschen‘ lernen schlicht und einfach nichts dazu.“ „Das kannst du laut sagen“, insistiere ich. „Dabei kenne ich noch ein weiteres, eindrückliches Beispiel. – Aus der Zeit vom 14. April .“ „Hoppla, Bruno! Das liegt aber recht weit zurück“, meint Moritz etwas erstaunt. „Was war denn da los, …, das war ja nicht gerade gestern? – Lass mich raten: Fand eventuell eine Fussballweltmeisterschaft in der Wüste statt? In grossartigen Stadien, auf Sand gebaut und mächtig heruntergekühlt? Moment … nein, das passt nicht! war Sepp Blatter, unser FIFA-Präsident noch nicht dabei.“ „Du bist und bleibst ein Witzbold, Moritz!“, sage ich, und kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen: „Eine Fussballweltmeisterschaft in der Wüste? … Das habe ich eigentlich nicht gemeint. Aber, wer weiss, vielleicht kommt das noch? – Ich dachte eher an die ,Titanic‘.“ „So, so…! An die Titanic. Ja, wenn man es weiss, ist es einfach! Was hast du denn dazu zu sagen, lieber Bruno? Raus mit der Sprache!“ „Genau, das möchte ich auch hören!“, antwortet Fredy. „Wenn das so ist, dann muss ich wohl. Es wird aber wieder ernst. Am 14. April 1912 sank nämlich die Titanic. Ein Meisterwerk der Technik, der menschlichen Intelligenz und Planung. Das darf respektvoll gesagt werden. – Obwohl der ,Grössenwahn‘ nicht nur die Ausmasse des Schiffes betraf, der diesem letztlich zum Verhängnis wurde. Die Katastrophe war dem extremen Konkurrenzkampf zwischen Reedereien zu verdanken – wurde später erklärt. Tragischerweise brachten Gigantismus und Hochmut das prestigeträchtige Unternehmen im Nordatlantik zu Fall. Ich könnte mir vorstellen, dass der Kapitän des gigantischen Schiffes seine Passagiere am 10. April 1912 mit den folgenden Worten begrüsste: „Ladys and Gentlemen, herzlich willkommen an Bord des grössten, stärksten, schönsten und unsinkbarsten Schiffes der Welt. Unsere Schiffsmannschaft wird alles daran setzen, dass sie sich wohl fühlen und eine unvergessliche Reise erleben dürfen.“ Na ja! Die Jungfernfahrt von Southampton nach New York ist bis heute unvergesslich geblieben. Wie ich schon sagte: Der überhebliche Glaube, dass alles machbar ist, wurde durch die Kollision mit einem Eisberg mächtig erschüttert.“ „Das kann man wohl sagen“, meint Moritz. „Ich habe einmal in einem Bericht über die Katastrophe gelesen, dass bei der Abklärung der Schuldfrage einige Ungereimtheiten ans Licht gekommen sind ... So soll die stolze Titanic zu schnell durch gefährliche Gewässer gefahren sein und in den Rettungsbooten soll nur Platz für etwa die Hälfte der Passagiere und Mannschaft vorhanden gewesen sein. Traurig dabei war, dass bei dieser grössten Schiffskatastrophe zwischen 1400-1500 Personen im eiskalten Wasser ihr Leben verloren. Darunter befanden sich viele prominente Persönlichkeiten der europäischen und amerikanischen Gesellschaft und eine grosse Anzahl Kinder. Die überschäumende Euphorie, die beim Start in Southamp- ton herrschte, fand im Nordatlantik ein kühles Grab. In einer Tiefe von 3803 Metern.“ 28 „In der Tat, Moritz. Und dieses Drama hat bis heute nichts von seinem eindrücklichen Mythos verloren. Nicht zuletzt deshalb, weil man sich bewusst wurde, dass das Riesenschiff als eindrücklicher Zeitzeuge immer noch in grosser Tiefe auf dem Meeresgrund vor sich hin rostet. Umgeben von gespenstischer Dunkelheit und einer unheimlichen Stille.“ „Das hast du schön gesagt, Bruno, richtig poetisch“, höhnt Moritz. Moritz richtet sich im Sitzen etwas auf, zeigt mit dem Finger auf Fredy und meint: „Du sagtest vorhin, dass du wieder auf das Thema Knast zurückkommen willst. Stattdessen sind wir bei Deubelbeiss und Schürmann und bei der Titanic gelandet. Was hat das mit dem Gefängnis zu tun? Das frage ich dich.“ „Mindestens so viel, wie die beiden Ereignisse eindrücklich dokumentieren können“, kontert Fredy. „Nämlich, dass für mich das erste Ereignis für das Böse, die gewalttätige Seite, das Zweite schicksalhafte, für die gutgemeinte, fortschrittliche Seite steht. Und beide Ereignisse zeigen auf, zu was wir Menschen fähig sind, im schlechten wie im guten Sinn. Beim näheren Hinsehen stellen wir fest, wenn wir ehrlich sind, dass es meistens um Macht, Geld, Erfolg und Ansehen geht. Und das oft auf recht skrupellose Weise.“ „Wenn du das sagst, Fredy“, knurrt Moritz „Dann muss es ja stimmen.“ „Das ist halt meine Meinung – das habe ich ja betont. Und dabei denke ich, liegt das Problem nicht einmal beim Nichtwollen, oder Nichtkönnen, sondern in uns Menschen selbst. Unser egoistisches Wesen – das heutzutage immer mehr gepusht wird – macht uns unfähig, Zuverlässigkeit, Treue und Eigenverantwortung den Mitmenschen gegenüber zu übernehmen.“ „Mensch, Fredy! Das tönt aber wieder sehr nach Bibel, wenn ich mich nicht irre?“ „Tja, wenn du meinst, Moritz. Auf jeden Fall decken sich meine Argumente mit den Erfahrungen, die ich im Gefängnis gemacht habe. Und somit komme ich wieder zurück zum Thema!“ „Und …, woran liegt das“, will Moritz wissen, „dass du diese Entwicklung mit dem Gefängnis in Zusammenhang bringst?“ „Ich denke, ein wesentlicher Grund könnte der Wohlstand sein. Dieser hat in den letzten Jahrzehnten bei uns, erfreulicherweise für viele, stetig zugenommen. Das ist gut so, ich gönne es allen! Nur, dieser Segen kann auch gefährlich sein, wenn man nicht damit umgehen kann. Es besteht durchaus die Gefahr dass man seine Ansprüche, besser gesagt seinen Lebensstandart, zu hoch schraubt.“ „Da hast du recht, Fredy“, meint Moritz. „Ich hatte damals tatsächlich ein paar Klienten, die damit Mühe hatten.“ „Vielleicht ist einer der Gründe bei den Medien zu suchen“, erklärt Fredy. „Fernsehen, Internet und andere ,Werbeorgane‘ sind zwar nützliche Dinge, sie können aber, und das geschieht immer mehr, auch unnütze Dinge verbreiten. Wie die in unserer Diskussion besprochenen Vorkommnisse beweisen, haben sie grossen Einfluss auf den Charakter von uns Menschen –, vor allem auf die jungen Menschen. Sie können praktisch auf jedem Gebiet diejenigen leicht verführen, die Mühe damit haben, ihre Ansprüche und ihren Geltungsdrang vernünftig zu kontrollieren – Stichwort Ratenzahlungen. Leider begegnet uns der Werbe-Einfluss manchmal auch auf billige und lustbetonte Weise.“ „Aha …, meinst du eventuell die Busen- und Po-Storys in einer bekannten Schweizer Tageszeitung, hä? Wo junge Frauen endlich einmal ,Ein Star‘ sein dürfen und Werbung in eigener Sache machen können?“ „Ja, unter anderem, Moritz! Die Bilder-Storys beginnen meistens harmlos – im zweiteiligen Badeanzug – und enden beinahe in der Pornografie. Nur, die Männer sind da nicht besser. Immer mehr knackige Boys mit Waschbrettbäuchen lassen die Hosen runter und wollen zeigen, was sie wo haben. Auf jeden Fall gibt es für die Freizügigen genügend Möglichkeiten, einen fleischlichen Beitrag zu leisten. Dass sich dadurch die Moral zum Schlechten hin verändert, lässt sich nicht leugnen. Auch dann nicht, wenn man sich andernfalls als Leser über Vergewaltiger und Sittenstrolche aufregt! Nicht zuletzt werden – und jetzt wiederhole ich mich – dabei christliche Werte und allgemein gute, sittliche Grundsätze richtiggehend demontiert ... Ob das mit oder ohne Absicht geschieht, lasse ich einmal dahingestellt. Fakt ist, dass unsere Gesellschaft dafür einen Preis zahlt, der nicht zu übersehen ist, und das siehst du nirgendwo besser als in einem Gefängnis.“ „Das kann ich unterschreiben“, meint Bruno. „Das habe ich selber erfahren. Und ich habe den Eindruck bekommen, wie du, Fredy, dass sich unsere Gesellschaft in den letzten fünfzig Jahren immer mehr in eine dekadente Richtung entwickelt hat.“ „Das ist nur logisch, Bruno!“, erwidert Fredy. „Darum begegnest du diesem Abwärtstrend eben auch im Gefängnis. Das habe ich ja schon erwähnt. Ein Gewalttäter, der draussen ein Sicherheitsrisiko darstellt – ist es auch im Gefängnis. Genauso ein Psychopath, der in U-Haft gesetzt wird. Der wird auch hinter Gittern das Personal und alle, die mit ihm zu tun haben, mit seinem schwierigen Verhalten auf Trab halten. Ein unverbesserlicher Betrüger wird in den meisten Fällen ein charmantes Schlitzohr bleiben, und diese Institution früher oder später wieder aufsuchen müssen. Der Pädophile wird – was seinen Sexualtrieb betrifft – auch hier immer beteuern, dass er normal ist, die andern dagegen nicht. Ein junger Mensch, der nie richtig erzogen wurde, wird sich auch im Gefängnis hin und wieder als mühsamer Flegel aufführen – und so weiter.“ „Über Frauen in der Untersuchungshaft hast du noch kein Wort gesagt, Fredy“, deutet Moritz schmunzelnd an. „Waren die alle nett und problemlos?“ „Na ja! Nett waren sicher viele, einige sogar recht hübsch – aber problemlos? Das waren mindestens einzelne von ihnen nicht. Es ist einfach so: Frauen sind eben Frauen und daher ist der Umgang mit ihnen etwas einfacher. Wenigstens im Normalfall. Angenehmer bei ihnen ist sicher, dass die Veranlagung zu provozierendem und gewalttätigem Verhalten nicht so ausgeprägt ist, wie das bei Männern der Fall sein kann.“ „Darum sind sie ja auch das schwache Geschlecht!“, meint Moritz verschmitzt. „Ja klar, du Spassvogel! Eines möchte ich dabei aber festhalten. Das schwache Geschlecht, wie du schön sagst, hat mir im Gefängnis aber bewiesen, dass es leider genauso wie Männer betrügen, stehlen, mit Drogen handeln, Gewalt ausüben und morden kann. Die Veranlagung zum Bösen ist, wie die Bibel sagt, eben in uns Menschen drin. Daran ändert selbst das Geschlecht nichts. Das heisst jetzt aber nicht, dass die männlichen Insassen nur auf Provokation aus waren oder gar den Konflikt suchten ... so war es nicht! Eindruck schinden hingegen wollten einige von ihnen schon. Vor allem im kurzärmeligen T-Shirt, mit der dazu gehörenden Bizeps-Demonstration und groben Sprüchen. Da konnte es schon vorkommen, dass wir hören mussten: ,Verpiss dich, Mann!‘ Oder noch schöner, mit A….loch tituliert wurden. Das war dann die andere liebenswerte Variante. – Soweit reichte der deutsche Wortschatz immer.“ „Das war aber nicht gerade freundlich!“, meint Moritz und lächelt Fredy schadenfreudig ins Gesicht. „Ja … ja, schon gut, mein Lieber! Du bist mir ein schöner Freund. Dabei noch zu grinsen, ist nicht gerade nett. Aber Spass beiseite. Ohne rassistisch zu werden, es gab tatsächlich Vertreter von gewissen Kulturen, bei denen das Machogehabe mehr aufgefallen ist als bei den anderen. Selbst wenn das Imponiergehabe nicht ernst gemeint war, die Situation musste von unserer Seite her trotzdem richtig eingeschätzt werden. Nicht umsonst wurden hin und wieder beeindruckende Figuren vorsichtshalber als gefährlich eingestuft.“ „Okay, Fredy, das leuchtet ein!“ „Zu den Insassinnen wäre noch Folgendes zu sagen“, fährt Fredy weiter: „Die meisten von ihnen sind mit ihrer Situation in der UHaft recht gut zurechtgekommen. So habe ich das wenigstens in Erinnerung. Natürlich hing das von der Schwere des begangenen Delikts ab. Am ehesten litten die psychisch Labilen. Und das war ja nicht unbedingt ein schlechtes Zeichen. Einige hatten allerdings schon Grund dazu, wegen ihrer Tat zu leiden. Und das meine ich nicht respektlos und auch nicht, um über ihnen den Stab zu brechen. Ein Beispiel: Wenn eine junge Frau ihr Neugeborenes aus dem Fenster ihrer Wohnung wirft, ist das aussergewöhnlich. Man fragt sich: Wie kann so etwas passieren? Was ist in diesem Leben falsch gelaufen? Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Frau unter schwierigsten Umständen leben musste, ist der Tod des Babys so kaum zu begreifen. Die Bevölkerung, die Presse und die Untersu- chungsbehörden werden so eine Tat nicht kommentarlos zur Kenntnis nehmen. – Dass nach einer solchen Verzweiflungstat Schuldgefühle plagen, ist nicht mehr als normal. Und dass dann während der Untersuchungshaft Psychomedikamente zum Zuge kommen auch. Nur, Schuldgefühle können mit Psychopharmaka nicht definitiv beseitigt werden, das ist für mich ebenso klar. Echte Vergebung von Schuld – deutlicher gesagt von Sünde – gibt es nur bei Jesus Christus. Er sagt: ,Kommt alle her zu mir, die ihr euch abmüht und unter eurer Last leidet! Ich werde euch Ruhe geben.‘29 Er ist der einzige Seelsorger, der wirklich helfen kann.“ „Bei allem Respekt, Fredy. Aber ich denke, dass diese Therapie mit Jesus heute nicht mehr gefragt ist“, gibt Moritz zu verstehen. „Da hast du leider nicht unrecht, Moritz. Trotzdem, Sein Angebot gilt immer noch für diejenigen, die sich nach echter Hilfe sehnen. Dafür hatte sich der sündlose Jesus, Er, der Christus ist, ans Kreuz schlagen lassen.30 Aus Liebe zu uns, den verlorenen Sündern, ertrug er unmenschliche Qualen. Wenn einer weiss, dass wir wegen unserem selbstverschuldeten Elend leiden müssen, dann Er. Wenn einer weiss, was bedingungslose Liebe ist, dann Er. Wir reden ja auch von Liebe, von Liebe machen – und meinen Sex! Wir reden über Menschenrechte und Frieden – aber machen Kriege und sind korrupt!31 Darum sagt Jesus Christus: ,Kommt her zu mir alle…‘ Er ist die richtige Adresse! – Aber für viele ist das in diesem Sinne kein Thema, trotz alljährlich wiederkehrenden ,Christkindlmärkten‘ und sonstigem Weihnachtsrummel. Auch die gut besuchten Gospelkonzerte ändern nichts daran! Versteht mich bitte nicht falsch, was die erwähnte, angebotene psychologische Hilfe betrifft! Ich kritisiere die Arbeit von Psychologen, Pfarrern, Therapeuten und andern Personen, die auf diesem Gebiet tätig sind, nicht. Das wäre vermessen von mir. Im Gefängnis machten viele von ihnen gute Arbeit. Aber in letzter Konsequenz konnten sie eben doch nur Teilhilfe anbieten. Trotzdem hat die Psychologie ihren Wert, nur darf sie nicht überbewertet werden. Wenn bei der Aufarbeitung von Schuld Gott nicht mit einbezogen wird, bleibt gutgemeinte Therapie an der Seele eines schuldbewussten Menschen auf der zwischenmenschlichen Ebene hängen. Es gibt ein hin und her reden von Menschenweisheiten. Und die Schuldigen am angerichteten Schlamassel sind zum Schluss nicht selten andere. Darum gibt es – nebenbei bemerkt – für die Person, die Vergebung sucht, auch keine echte, innere Ruhe. Dennoch gebe ich zu: Wenn eine psychisch leidende Person im Gefängnis medikamentös gut betreut und eingestellt war – lief sie gut. Und das war wiederum gut für uns. Der Aufseherjob war dadurch etwas einfacher zu bewältigen.“ „Dann lief die Person gut!“, kritisiert Moritz. „Das sagst du einfach so. Ist dieser Ausdruck nicht etwas sehr herablassend?“ „Eigentlich nicht. Das war damals bei uns eine Redensart“, erklärt Fredy. „Sozusagen ein Fachausdruck. Und dieser Ausdruck war nicht herablassend gemeint. Damit sind einfach diejenigen Häftlinge – Mann oder Frau – gemeint, die anständig, sauber, kooperativ und umgänglich waren.“ „Das ist interessant, Fredy. – Als ich in U-Haft war, ist mir das alles gar nicht so aufgefallen! Okay, ich war nur drei Monate in dieser Situation und in der Zeit konnte ich natürlich nicht alles mitbekommen, was in einem Knast so alles läuft.“ „Tja, Bruno! Dein Aufenthalt im Gefängnis war wohl etwas zu kurz. Aber nach zwanzig Jahren als sogenannter Schlüsselknecht gibt es aus meiner Sicht schon Interessantes zu berichten. Nicht ganz einfach war zum Beispiel die Betreuung von Insassinnen – meistens junge Frauen –, die neben der normalen Belastung der Haft noch an einem Borderlinesyndrom litten. Sie waren leicht reizbar und hatten starke Stimmungsschwankungen. Damit wurden vor allem die Aufseherinnen in der Frauenabteilung konfrontiert. Um kein falsches Bild zu vermitteln, häufig waren Insassinnen mit dieser psychischen Störung nicht.“ „Wie wirkte sich denn diese Störung aus, Fredy?“ „Indem sie sich meistens an den Unterarmen mehrere Schnittverletzungen zufügten, Bruno. In einer kritischen Phase manchmal ein bis zweimal pro Woche. Und das trotz der guten Betreuung durch den Psychologischen Dienst und dem Gefängnispersonal.“ „Wie haben sie sich denn die Schnitte zugefügt?“, will Moritz wieder einmal wissen. „Eine gute Frage, Moritz! Das möchte ich auch gerne erfahren!“ „Meistens mit einer Glasscherbe“, erklärt uns Fredy. „Ein Stück Glas war leicht zu organisieren. Die Zellenbeleuchtung war damals eine einfache Einrichtung. Man musste nur die Glaskugel oder die Birne aus der Fassung drehen – und sie einfach fallen lassen. Scherben zu machen war also kein Problem. Ein zerbrochenes Trinkglas tat es zur Not auch. An Schneidbares sind sie immer rangekommen. Das Messer vom Essbesteck wäre ja auch noch eine Möglichkeit gewesen, nur war es nicht so scharf. Eine Glasscherbe war wesentlich schärfer. Eigenartigerweise löste das austretende Blut aus den Wunden bei diesen Frauen die inneren Spannungen. Mehrheitlich waren die Schnitte nicht tief, doch die gröberen Schnittverletzungen machten meistens eine Spitaleinweisung nötig, weil sie genäht werden mussten. Nach zwei bis drei Stunden Aufenthalt im Spital wurden sie von der Polizei wieder in das Gefängnis zurückgebracht. Abgesehen von den Unkosten, die diese häufigen Gefangenentransporte in den Spital mit sich brachten, hofften wir doch, dass es die jungen Frauen mit der Zeit schafften, in eine positivere Lebensphase ohne Selbstverstümmelungen hineinzukommen. Trotz diesem Aufwand bin ich heute noch der Meinung, dass es richtig war, die Schnittwunden, gerade bei einer jungen Frau, so gut wie möglich zu behandeln. Es entstanden auch so genug unschöne Narben, die noch lange zu sehen sind ... Wenn eine Frau diese verunstaltenden Selbstverletzungen über eine längere Zeit praktizierte, sahen ihre Unterarme wegen der quer angebrachten Schnitte wie eine Grillbratwurst aus.“ „Oho –, das ist nicht gerade ein charmanter Vergleich!“, tadle ich Fredy. „Zugegeben, Bruno. Entschuldige den dummen Vergleich mit der Grillwurst! Aber wegen der braunrötlich vernarbten Schnitte, die zurückgebliebenen sind, sah es tatsächlich so aus.“ „Es ist ein Jammer“, gibt Moritz zu verstehen, „wenn sich eine junge Frau so verunstaltet, ja, zwanghaft so verunstalten muss.“ „Das ist so, Moritz. Für uns ist das kaum zu verstehen.“ „Ich weiss, Fredy. Ich kenne das Problem ein wenig. Die Ursache dieser seelischen Erkrankung ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Wie man aber weiss, kann das Motiv der Selbstverstümmelungen auf erlebte Gewalt und sexuellen Missbrauch in der Kindheit zurückgeführt werden. Auch emotionale Vernachlässigung in diesen Jahren kann eine Ursache sein.“ „Wie dem auch sei, Moritz. Wenn ich auf meine Zeit als Schlüsselknecht zurückblicke, stelle ich Folgendes fest: Ob es sich um eine junge Frau handelte, die sich die Unterarme zerhackte, oder um einen Mann, der sich mit einer Rasierklinge die Bauchdecke aufschnitt, werde ich einmal mehr an das Bild von den hilflosen Schafen erinnert. Ich will mich nicht wiederholen, aber es ist nicht zu leugnen, dass wir Menschen, wenn wir den guten Hirten Jesus nicht kennen, eben hilflos, manchmal elend sind wie Schafe, die keinen Hirten haben. Wir gehen genauso in die Irre!“ „Willst du damit sagen, Fredy, das so etwas vorkommt und sich einer die Bauchdecke aufschneidet – einfach so?“, frage ich zaghaft. „Tja, solche Sachen sind durchaus möglich, Bruno, nur nicht jeden Tag“, meint er mit erleichterter Miene. „Dieser schwierige Zeitgenosse musste nach seinem Blutrausch operiert werden. Und das nur, um Wochen später in einem psychotischen Wutanfall seinen Kopf in die eisenharte Gittertüre der Zelle zu knallen. Ein malträtiertes und blutverschmiertes Gesicht war das Resultat. Ein trauriger und aufgeschwollener Anblick. Und das alles, nur um seinen Willen durchzusetzen. Dieser gipfelte darin, dass er sich schlicht und einfach für unschuldig hielt. Es gibt noch weitere Beispiele: wie das eines Satanisten, der einen Passanten auf offener Strasse mit mehreren Messerstichen im Auftrag des Teufels bestialisch ermordete. Oder der reuige Drogenhändler, der sich aus Angst vor seinen Auftraggebern in der Zelle erhängte. Auch der tragische Suizid eines jungen Nordafrikaners, der sich die Kniekehlen aufschnitt, weil er die starken Schmerzen seiner Kriegsverletzung nicht mehr ertragen konnte, erinnert ebenso an die grosse Not, die sich hinter Gefängnismauern offenbart ... Diese Sachlage bestätigt doch einmal mehr, dass wir ausnahmslos bemit- leidenswerte Geschöpfe sind. Die einen mehr, die andern weniger! Aber eben, nicht nur hinter Gefängnismauern ist die Not gross. Die ganze Welt ist voll davon. Wie es auch die ,Tage des Zorns‘ in der islamischen Welt vor nicht allzu langer Zeit beweisen. Nichts davon ist edel und hilfreich, wie Goethe meinte, gar nichts! Das Bild von den verirrten ,Schafen ohne Hirten‘ passt tatsächlich besser. Vor allem wenn ich in meinem ehemaligen Umfeld an weitere Delinquenten und Delinquentinnen denke.“ „Das sind recht extreme Beispiele, Fredy, die du uns auftischst“, unterbricht ihn Moritz. „Das kann doch nicht dein Alltag gewesen sein?“ „Klar, Moritz! Das war er natürlich nicht! – Trotzdem, vorgekommen sind solche Sachen schon. Aber, und jetzt kommt ein grosses ,Aber‘ und das betrifft die Untersuchungshaft: Nicht alle, die in U-Haft gesetzt worden sind, waren schuldige oder schwierige Mitmenschen! Das weisst du so gut wie ich. Dennoch, alle Menschen sind gemäss der Bibel authentische Zeugen einer gefallenen Welt. Mit anderen Worten – Sünder! Darum ist die ganze Welt Gott gegenüber straffällig geworden. Und daher ist es bestimmt falsch anzunehmen, Sünder gebe es nur im Gefängnis! … Fehlanzeige: Draussen gibt es sie auch! Ich zitiere: ‚Wenn wir behaupten, sündlos zu sein, betrügen wir uns selbst. Dann ist kein Fünkchen Wahrheit in uns.‘32 Dass die Wahrheit nicht in uns ist, dafür braucht es wohl keine weiteren Beweise!“ „Genau, Fredy! Ich stimme dir zu. Es ist auch nur von der Bibel her zu verstehen, warum die Unwahrheit in der Welt stetig zunimmt. Da es keine absolute Wahrheit geben darf, wird alles zu einer persönlichen Ansichtssache. Wahr ist dann, was man selber für richtig hält! Für die überzeugten Gottesleugner in der ganzen Welt, die die Menschheit so mehr und mehr in die Selbstzerstörung hineinführen, darf es eben keine absolute Wahrheit geben. Sie opfern diese lieber auf dem Altar des Neu-Heidentums.“ „Mit anderen Worten, Bruno, sagst du nichts anderes, als: ,Lest die Bibel!“‘ „Ja, Moritz! Genau das sage ich. Ich kann das nur empfehlen.“ Wir waren gerade dabei – jeder für sich –, über das Gehörte nachzudenken. Für einen Moment herrschte eine beklemmende Stille, als Frau Vasic Vesna von der Pflegeabteilung zu uns an den Tisch kommt. Etwas aufgeregt fragt sie: „Haben die Herren gesehen Frau Wüthrich? Wir wissen nicht, wo Frau Dolores Wüthrich isch!“ „Hoppla! Das ist eine beunruhigende Meldung, Frau Vasic“, bemerkt Moritz. „Hoffentlich hat die gute Dolores das Haus nicht verlassen.“ „Ja, ich hoffe es auch“, antwortet sie. „Das hat Frau Dolores auch schon gemacht. Sie geht einfach weg. Nachher sie findet den Weg nach Altersheim nicht mehr zurück. Sie sein doch so verwirrt. Hoffentlich wir finden sie!“ „Das hoffen wir auch, Frau Vasic. Es wird schon gut gehen!“, erwidere ich, um sie ein wenig zu beruhigen. „Danke, Herr Rauber, Sie sind sehr nett!“ Moritz nimmt sein Bier, trinkt es aus und meint: „Gut gemacht, Bruno! So wenig Anteilnahme braucht es, um Frau Vasic zu beruhigen. Deine Worte waren Balsam für sie. Unsere Vesna hat ein gutes Herz und macht sich schnell grosse Sorgen.“ „Das stimmt, Moritz“, bestätigt Fredy ebenfalls. „Sie bemüht sich sehr darum, dass wir uns hier im Sunnebode wohl fühlen.“ – Dann meint er: „Ich denke, Dolores wird schon wieder auftauchen. Vielleicht wird sie von jemandem zurückgebracht. Das wäre nicht das erste Mal. Diskutieren wir weiter, wir haben noch etwas Zeit bis zum Nachtessen.“ Als wir gerade dabei waren, das Gespräch wieder in Gang zu bringen, beobachte ich zufällig, wie die Lifttüre aufgestossen wird. Frau Muster, eine Pflegefachfrau vom 2. Stock, stösst einen Mann im Rollstuhl in die Cafeteria. Sie fährt den Mann zu Frau Fröhlich, die am Büffet gerade die kalten Getränke für das Nachtessen richtet. Ich sehe die beiden Frauen miteinander diskutieren. Frau Fröhlich nickt dabei mit dem Kopf, dreht sich um und weist mit der Hand in unsere Richtung ... Nach dem kurzen Gespräch mit ihrer Kollegin übernimmt sie den Mann im Rollstuhl und stösst ihn durch die Cafeteria zu uns an den Tisch. „Darf ich Ihnen Herr Marone vorstellen?“, sagt Frau Fröhlich, als sie den Mann zwischen uns in eine Lücke am Tisch parkiert. „Herr Frank Marone ist erst kurze Zeit bei uns; seit zwei Tagen, um genau zu sein.“ Herr Marone nickt freundlich, während sein Blick etwas verlegen von einem zum andern schweift. Als sein Blick an mir hängenbleibt, werden seine Augen gross und grösser. Auf sein Gesicht legt sich ein geheimnisvolles Lächeln. „Entschuldigen Sie meine Verlegenheit“, sagt er, „aber diesen Herrn hier …, den kenne ich!“ Und nach kurzem Zögern sagt er: „Grüss dich, Bruno!“ Für einen Moment bin ich platt wie ein Autoreifen, aus dem die Luft entwichen ist. Langsam realisiere ich, wer da in einem blauen Trainingsanzug vor mir im Rollstuhl sitzt. Die Überraschung ist perfekt und bringt mich ebenfalls in Verlegenheit. „Mensch …, Fränky! Du hier? Das darf doch nicht wahr sein!“ „Doch Bruno, es ist wahr! Vor zwei Tagen bin ich im Sunnebode eingetreten.“ „Das gibt es doch nicht … dass wir uns nach vielen Jahren ausgerechnet hier wiedersehen, ist wahrlich eine Überraschung, Fränky! Damit habe ich nicht gerechnet.“ Ich gebe mir einen Ruck und strecke ihm die Hand entgegen: „Ich freue mich, dass du hier bist, sei willkommen!“ „Danke, Bruno!“, antwortet er. Ich sehe, dass er sichtlich gerührt ist. Obwohl mein Willkommensgruss ehrlich gemeint ist, merke ich, wie Groll in mir aufsteigt. Die unverhoffte Begegnung mit Fränky hier im Altersheim reisst bei mir alte Wunden auf. Ich bin erstaunt darüber. – Dass mich sein plötzliches Auftauchen nach so langer Zeit dermassen aufwühlt, gibt mir zu denken. Die ganze U-Haft-Geschichte ist auf einmal wieder präsent. In den Gedanken sehe ich, wie ich damals den zackigen Fragen bei der Polizei und beim Untersuchungsrichter ausgesetzt war. Und alles nur wegen der falschen Beschuldigungen von Fränky, ich sei der Anstifter zum Einbruch gewesen. Diese Ausfragerei nervte mich gewaltig. Auch die Tatsache, dass ich mir eingestehen musste, die dumme Sache selber ein- gebrockt zu haben. Diese Gefängnis-Übung damals wäre wirklich nicht nötig gewesen. Schwamm darüber! Vorbei ist vorbei, denke ich, und wehre mich gegen den aufsteigenden Groll. Ich will nicht nachtragend sein und will auf keinen Fall, dass blödsinnige Gedanken unser Wiedersehen vergiften ... Schon gar nicht wegen einer dummen Einbruchgeschichte, die erst noch mehrere Jahrzehnte zurückliegt. „Fränky, darf ich dir bei dieser Gelegenheit die beiden andern Herren am Tisch vorstellen?“ „Sicher, darfst du, Bruno. Bitte!“ „Das hier ist Fredy Stark“, beginne ich die Vorstellungsrunde. „Unter Kollegen nennen wir ihn Schlüsselknecht. Seines Zeichens ehemaliger Gefängnisaufseher. Er wohnt mit seiner Frau Helen hier im Hause. Der graumelierte Gentleman neben ihm ist Moritz Rechtsteiner, er ist verwitwet. Als er noch keine grauen Schläfen hatte, verdiente er sein Geld als Rechtsanwalt. Und mich kennst du ja, ich bin Junggeselle. Ich bin es geblieben, nachdem meine grosse Liebe kurz vor unserer bevorstehenden Hochzeit einem Verkehrsunfall zum Opfer gefallen ist.“ „Oh! Das tut mir leid für dich, Bruno.“ „Ist schon gut, Fränky. Danke! Übrigens, Moritz nennt mich manchmal neckisch Senkrecht, weil ich ein Kreuzworträtsel-Fan bin. Als ich noch im Arbeitsleben stand, war ich Kleinunternehmer ... Ein sogenannter KMU, so heisst das doch heute. In meinem Fall war das Kleinunternehmen ein Putzinstitut mit Hauswartung. Ganz nach dem Motto: ,Alles sauber macht der Rauber!‘ Das wär’s Fränky!“ „Danke Bruno, für die Informationen! Ich bin sehr erfreut, Sie kennen zu lernen!“, meint unser neuer Gast im Sunnebode. „Danke gleichfalls, Herr Marone!“, erwidern Fredy und Moritz. „Ach, nennen Sie mich doch Fränky, wenn’s recht ist!“ „Okay, Fränky! Dann begrüssen wir dich offiziell als vierten Mann in unserer Altherren-Runde“, antwortet Moritz. „Ich danke euch für die freundliche Aufnahme. Ich bin wirklich froh, dass ich hier im Altersheim einen guten Einstand erleben darf. Um ehrlich zu sein: Ich bin mit gemischten Gefühlen hierhergekommen. Man hört viel Negatives über die Altersheime. Wegen der Betreuung und so. Vor allem aber, dass sie teuer sind, und der Altersbatzen dahinschmilzt wie der Schnee an der Sonne.“ „Na ja, so unrecht hast du nicht, Fränky!“, meint Moritz mit einem Lächeln und winkt verlegen ab, wie wenn er damit diese Tatsache wegscheuchen könnte. „Nur, ähmä ... Zu deinem Rollstuhl, was ist damit? Entschuldige, wenn ich dich so direkt frage.“ Fränky hebt die schlichte Deck weg, die ganz unauffällig über seinen Knien liegt. Sie ist so diskret darüber ausgebreitet, dass sie uns beim Begrüssungspalaver gar nicht aufgefallen ist. Jetzt, wo die Decke weg ist, sehen wir, dass der linke Fuss bei Fränky fehlt. „Sorry, Fränky! Das konnte ich nicht wissen“, sagt Moritz etwas irritiert. Und entschuldigt sich gleichsam auch für uns. Denn wir schauen genauso betroffen auf die Stelle, wo eigentlich sein Fuss sein sollte. „Schon gut“, erwidert Fränky. „Kein Problem. Ich habe mich damit abgefunden; und daran gewöhnt habe ich mich auch.“ „Wie ist das passiert? Hattest du einen Unfall?“, frage ich etwas verlegen. „Nein, Bruno! Einen Unfall hatte ich nicht. Unvernünftigerweise war ich jahrelang ein starker Raucher. Dazu macht mir noch seit ein paar Jahren eine Diabetes zu schaffen. Daran hat mein Herz auch keine Freude. Dank meinem Hausarzt, der mich medizinisch gut betreut und den vernünftigen Essgewohnheiten, die ich mir auferlegen musste, konnten wir den Schaden bis jetzt in Grenzen halten. Trotzdem wurde leider kurz nach meiner Pensionierung eine Amputation des Fusses nötig – und ich erhielt eine Prothese. „Was spielt denn der Rollstuhl jetzt für eine Rolle?“, fragt Fredy rücksichtsvoll dazwischen. „Im Moment eine wichtige. Normalerweise brauche ich den nämlich nicht!“, erklärt Fränky. „Mit der Prothese und einem Gehstock komme ich ganz gut zurecht. Nur kommt es ab und zu vor, dass sich mein Stumpf, der in der Prothese steckt, entzündet. Dann muss ich vorübergehend in den Rollstuhl, damit der Stumpf entlastet wird und die Entzündung abheilen kann. Das ist jetzt der Fall! Ich hoffe, dass die Entzündung in etwa einer Woche abgeklungen ist und die Sache wieder in Ordnung kommt.“ „Hast du Schmerzen?“, ergänzt Fredy seine Frage. „Schmerzen nicht unbedingt. Wie Entzündungen eben sind. Es ist einfach unangenehm, genau wie das Phantomgefühl. Aber dank der medikamentösen Behandlung und dem gut bandagierten Stumpf ist beides zu ertragen.“ „Gut, Fränky! Dann hoffen wir mit dir und wünschen deinem Bein gute Besserung!“ „Vielen Dank! Nett von euch!“ Moritz winkt Frau Fröhlich zu uns an den Tisch und sagt: „Ich bin der Meinung, dass wir mit einem guten Gläschen Wein auf das Wiedersehen von Bruno und Fränky anstossen sollten. Was meint ihr zu meinem Vorschlag?“ „Tja, was meinen wir dazu?“, bemerke ich witzig. Ich mache mich zum Sprecher von uns allen und sage: „Das ist eine sehr gute Idee, Moritz. Und der Wein geht auf meine Rechnung!“ „Na, also, dann schreiten wir zur Tat!“ Inzwischen ist Frau Fröhlich zu uns an den Tisch gekommen. „Wie ich sehe, scheint die Chemie zwischen Ihnen zu stimmen?“, stellt sie erfreut fest. „Kann ich noch etwas für die Herren tun?“ „Ja, das können sie, Frau Fröhlich!“, antwortet Fredy. „Stellen sie sich vor: Herr Marone und Herr Rauber sind alte Bekannte. Als junge Männer waren sie gute Kollegen, haben sich dann über Jahrzehnte aus den Augen verloren – und jetzt hier im Sunnebode wieder getroffen.“ „Das ist wirklich eine schöne Überraschung, fast schon ein kleines Wunder. Es freut mich sehr für sie beide“, sagt Frau Fröhlich. „Uns freut das auch, Frau Fröhlich!“, bestätigt Moritz „Darum wollen wir darauf anstossen!“ Er bestellt eine Flasche vom feinsten Gamay. Als der edle Tropfen vor uns auf dem Tisch steht, hebt Moritz feierlich das Glas. „Also dann! Zum Wohl lieber Bruno, zum Wohl Fränky!“ Dabei schwingt er sich zu der kurzen Ansprache auf: „Euer Wiedersehn soll gelingen, darum lassen wir die Gläser klingen!“ „Ein wunderbarer Trinkspruch, Moritz“, sage ich beeindruckt schmunzelnd. „Wo wären wir, wenn wir dich nicht hätten!“ Nachdem uns der gute ,Tropfen‘ so richtig den Gaumen verwöhnt hatte, fragt Fränky: „Wie lange seid ihr schon im Sunnebode?“ „Also, was mich betrifft“, meint Moritz. „Ich bin seit zweieinhalb Jahren hier!“ „Helen und ich sind wenig später eingetreten. Bei uns sind es zwei Jahre!“, antwortet Fredy. „Und ich bin seit einem Jahr hier!“, beantworte ich Fränky’s Frage. „Ja, und so schlecht, wie deine erwähnten Befürchtungen, Fränky, ist es hier auch wieder nicht“, ergänzt Moritz wohlmeinend. „Klar, das Personal ist unterbesetzt …, aber wo ist es das heute nicht? Nach meiner Meinung wird sowieso am falschen Ort gespart. Obwohl der Leistungsdruck überall an den Arbeitsplätzen zunimmt – wie auch hier im Sunnebode – machen die meisten vom Personal ihr Möglichstes.“ „Das stimmt, das kann ich auch bestätigen!“, antwortet Fredy. „Das Personal kann ja nichts dafür, wenn immer weniger Leute immer mehr leisten müssen. Für mich liegt das Problem bei den ,Schreibtischtätern‘. – Entschuldigung, wenn ich sie so bezeichne, aber es ist doch wahr. Nicht nur in den Altersheimen, auch in den Spitälern ist das so! Und dort kann es – nicht zuletzt wegen diesen ,Sparübungen‘ – für Patienten gefährlich werden ... Viele von diesen Schreibtischtätern, die es in jeder Sparte gibt – meistens in gut bezahlten Kaderpositionen –, kommen von den gescheiten Schulen und haben wenig praktische Erfahrung. Dafür umso mehr unrealistische Zielsetzungen, die sie dem Personal vorgeben und von ihm verlangen. Ich sage damit nicht, dass Schulung falsch ist, nur ersetzt sie die fehlende praktische Erfahrung nicht! Allgemeine Weiterbildung, Kommunikationskurse, Brainstorming und wie das alles heisst, sind ja gut und recht, aber wenn nur der Kopf geschult wird und das Herz nicht, macht es wenig Sinn. Die Fähigkeit, die zwischenmenschlichen Beziehungen unter dem Personal zu fördern und zu pflegen, ist eben mehr als Kopfwissen ... Ich rede von meiner eigenen Kurserfahrung, die ich in meinem Berufsleben gemacht habe.“ „Natürlich, das sind die Theoretiker, Fredy“, füge ich vorsichtig hinzu. „Meistens haben sie – nicht alle, aber einige schon – wenig Ahnung davon, was zum Beispiel das Personal in einem Altersheim wirklich leistet. Es ist einfach unrealistisch, wenn die obersten Planer in diesen Institutionen uns Alten in den Heimen täglich mehr Betreuung und Abwechslung bieten wollen. Das ist ja schön und gut, aber nur, wenn auch genügend Personal zur Verfügung steht.“ „Richtig, Bruno! – und das nötige Geld. Das ist die andere Seite der Medaille! Das muss auch noch gesagt werden“, ergänzt Moritz Daumen und Zeigfinger reibend. „Das stimmt, Moritz! Mir fällt auf, dass viele von uns Alten Jahr für Jahr älter werden und gleichzeitig bei einigen die Demenz zunimmt. Daher wird verständnisvolle, geduldige Betreuung immer wichtiger, zeitaufwendiger … und zu guter Letzt auch von den Angehörigen erwartet. – Das ist doch für das Personal, das heute für diese anspruchsvolle Aufgabe zur Verfügung steht, nicht mehr befriedigend zu bewältigen.“ „Gut gebrüllt, Löwe!“, meint Moritz zu meinem kritischen Einwand. „Die Betreuung und Pflege beansprucht nun einmal mehr Zeit, wie du richtig feststellst – und kann nicht einfach husch, husch, erledigt werden. Ganz abgesehen von den immensen Kosten, die ins uferlose steigen und bald nur noch von den Reichen bezahlt werden können. Da wird man sich für die Zukunft etwas einfallen lassen müssen.“ „So ist es!“, meint Fredy. „Unzufriedenheit ist bei uns fehl am Platz, sorgen wir uns nicht! Diese Probleme können wir sowieso nicht lösen! Im Moment dürfen wir uns noch glücklich schätzen. Geniessen wir dankbar diese Zeit! Zusammen mit unserem Neuling Fränky!“ „Du hast recht, Fredy! Ich will mich mit der Zukunft nicht belasten“, meint Fränky. „Ich freue mich einfach darüber, dass ich euch hier getroffen habe. Soweit es an mir liegt, werde ich versuchen, das Beste daraus zu machen.“ „Wunderbar, das ist die richtige Einstellung!“, doziert Moritz. „Und wenn du gerne über Gott und die Welt diskutierst, wird es dir in unserer Mitte nicht langweilig werden.“ „Tja, dann versuche ich einmal eine Diskussion zu starten“, meint Fränky und eröffnet das Gespräch mit einer Frage. „Bei der Vorstellungsrunde von Bruno ist mir aufgefallen, dass du Moritz und du Fredy beruflich in einem Gefängnis zu tun hattet. Ich nehme an, dass ihr bei den Diskussionen über Gott und die Welt darüber gesprochen habt. Ich meine, ihr habt sicher Berufserfahrungen ausgetauscht? Hat sich Bruno dabei auch geäussert? Entschuldigt meine Neugier, es ist für mich wichtig, das zu wissen!“ „Ja, Fränky! Ich habe mich dazu geäussert!“, beantworte ich seine Frage selber. „Stimmt, das hat er!“, bestätigt Moritz. „Aber wir können dich beruhigen Fränky. Bruno ist wegen der Gefängnisgeschichte nicht über dich hergezogen. Es hat sich im Gespräch einfach so ergeben, als er uns eröffnete, dass er in seinen Flegeljahren drei Monate in UHaft war. Das kam so: Wir diskutierten über den moralischen Zustand der Menschheit, der sich sukzessive auf Talfahrt befindet. Fredy versuchte uns diese Entwicklung, die wir auch in der Schweiz kennen, anhand der Bibel zu beweisen. Ich weiss, dass für Fredy die Bibel Gottes Wort ist und ihm viel bedeutet. Umso überraschter war ich, dass er für seine Argumente von Bruno Schützenhilfe bekam. Darum fragte ich Bruno rund heraus, ob er etwa auch ein Frommer sei. – Tja, Fränky, er bestätigte meine Vermutung. So war das doch Bruno, oder nicht?“ „Genau! So war das, Moritz.“ „Natürlich wollten wir jetzt von Bruno wissen, warum er im Gefängnis gelandet ist und was das mit seiner Frömmigkeit zu tun hat. Deshalb erzählte er uns die ganze Geschichte. Angefangen bei dem Einbruch in den Laden, in den 1950er Jahren, bis hin zu den paar Wochen hinter schwedischen Gardinen, wo er begann, die Bibel zu lesen. Bei der Einbruchgeschichte erwähnte er gezwungenermassen deinen Namen.“ „Aha ...! Dann wisst ihr also Bescheid? Obwohl ich nicht genau weiss, was Bruno alles erzählt hat, gibt es nach so vielen Jahren aus meiner Sicht nichts mehr hinzuzufügen – ausser, dass es mir ehrlich leid tut, Bruno, wie ich mich damals dir gegenüber verhalten habe. Ich hoffe, dass du mir jetzt noch … wie sagt man, ähm … vergeben kannst?“ „Ist schon okay, Fränky! Für mich ist die Sache längst erledigt. Ich trage dir nichts mehr nach, im Gegenteil, ich freue mich wirklich, dass wir uns hier wieder begegnet sind.“ „Da freuen wir uns mit!“, sagt Moritz und ergänzt: „Wenigstens gibt es hier zwei, die mit sich im Reinen sind. Darauf genehmigen wir uns einen Schluck Gamay!“ „Richtig, Moritz! Da können wir dich nur unterstützen … Zum Wohl, allerseits!“ „Übrigens, eine andere Frage“, wendet sich Fredy an Fränky. „Marone, ist ein italienischer Name, oder nicht?“ „Doch, so ist es, lieber Fredy. Du hast den Kopf auf den Nagel getroffen!“, meint er witzig, indem er das Sprichwort umdreht. „Dein Name Fränky ist es aber nicht. Das ist für mich nicht unbedingt Italienisch. Wie kommt es, dass du Fränky heisst?“ „Das hat einen originellen Grund. Mein Vater war ein grosser Fan von Frank Sinatra. Sinatra war bekanntlich der Sohn italienischer Auswanderer. Sein Vater stammte aus Palermo, genau wie mein Vater. Seine Mutter aus der Gegend von Genua ... Die Sinatras wanderten in die Vereinigten Staaten aus, meine Eltern in die Schweiz – wie ihr sehen könnt. Wie viele Italiener war mein Vater ein guter Sänger. Er liebte – wie meine Mutter übrigens auch – die Musik von Fränky Boy über alles. Vor allem wegen seiner charakteristischen Stimme, die ihm den Beinamen The Voice eintrug und wegen seinem Charme, mit dem er reichlich gesegnet war. Als echte Fans von Frank Sinatra gaben sie mir halt den Namen Frank. Etwas anderes kam für sie nicht in Frage. So bin ich eben Frank, mit der Zeit Fränky geworden.“ „Va bene, dann ist das auch geklärt“, fügt Moritz hinzu. „Nun, zu dir, Bruno, was ist aus dir geworden?“, will Fränky von mir wissen. „Was hast du in den Jahren gemacht, in denen wir uns aus den Augen verloren haben? Du erwähntest vorhin etwas von einem Putzinstitut! – Übrigens, den Slogan: ,Alles sauber macht der Rauber!‘ finde ich gut. Das war bestimmt die Beschriftung auf deinem Lieferwagen?“ „Ja, richtig! Das war mein Logo auf unserem Besenwagen“, scherze ich. „Genau in dem Jahr, in dem ich dreissig Jahre alt wurde, machte ich mich selbständig. Ich war ja wieder allein, nachdem ich meinen ,Schatz‘ bei dem Unfall verloren hatte. Ich musste mich neu orientieren und wollte etwas Eigenes auf die Beine stellen. Was mir mit dem kleinen Putzinstitut auch gelang. Um es kurz zu machen: Ich hatte geschäftlich gesehen viele gute Jahre. Obwohl es nicht immer leicht war. Die Arbeit war recht anstrengend, vor allem als ich älter wurde.“ „Ich nehme aber an, dass du nicht alleine gekrampft hast?“, unterbricht mich Fränky. „Nein, natürlich nicht. Ich beschäftigte einen türkischen Mitarbeiter. Er hatte eine Vollzeitstelle. Später, als seine zwei Kinder aus dem Gröbsten raus waren, arbeitete seine Frau ebenfalls mit. In einem 50% Teilzeitjob. Beide tüchtige Mitarbeiter. Später kam dann noch ihr Sohn Gökhan dazu. Vater und Sohn haben den Kleinbetrieb später übernommen, als ich nach 3 Jahren ,Putzerei‘ in Frühpension ging. Schweizer Interessenten für das Geschäft gab es natürlich auch. Nur fand ich es richtiger, meinen langjährigen Angestellten eine Chance zu geben.“ „Anständig von dir! Und, haben sie die Chance genutzt?“ „Doch, das haben sie, Fränky!“ „Wie du siehst, Fränky, leistete Bruno damals schon seinen Beitrag für eine gute Integration von ausländischen Arbeitswilligen“, setzt Moritz anerkennend hinzu. „Zweifellos! Ich finde das gut so“, antwortet Fränky. „Es entspricht auch meiner Meinung, dass arbeitswillige Zuwanderer einen Job bekommen sollten – wenn sie bereit sind, sich in unserem Land zu integrieren. Das heisst für mich, dass sie die Sprache lernen und unsere Gesetze respektieren müssen – wie meine Eltern damals, und ich später auch – basta! Dafür haben die zuständigen Organe und verantwortlichen Institutionen zu sorgen! Ich bin aber ebenfalls der Ansicht, dass wir als Staat nicht verpflichtet sind, für alle Einwanderungswilligen – denn alle sind ja nicht auf der Flucht – ein Open House anzubieten und die Gutmen- schen zu spielen. Das schon gar nicht, wenn nicht genug und geeignete Beschäftigungsmöglichkeiten vorhanden sind. Denn alles an vorhandenen Arbeiten machen diese Leute auch wieder nicht, das zeigt die Erfahrung. So war – und ist – der Weg für viele Asylanten in ein Gefängnis leider vorprogrammiert.“ „Auch das trifft zu, Fränky!“, bestätigt Fredy und meint: „Schon gegen Ende meiner Zeit als Schlüsselknecht waren mir die Folgen der Einwanderungswelle im Gefängnis aufgefallen. Vor allem junge Burschen aus Afrika füllten unsere Zellen im Gefängnis. Zu Tausenden kamen diese Männer in übervollen Booten über das Mittelmeer nach Europa. Und das hat sich bis heute nicht geändert. Es ist kaum nachvollziehbar, was auf Europa zukommt, wenn dort einmal der Teufel los ist.“ „Entschuldigung, Fredy! Ist der nicht schon los?“, fragt Moritz hinter vorgehaltener Hand. „Das ist eine heikle Frage, Moritz. Allerdings, wenn man die vielen Menschen sieht, die unter Lebensgefahr in bescheidenen Booten ihre Länder fluchtartig verlassen, ist das fast anzunehmen. Tatsache ist, dass viele von diesen Menschen, mehrheitlich junge, kräftige Männer am Ende ihres Fluchtweges auch bei uns landen – in irgendeinem Durchgangszentrum. Dort bleiben sie dann meistens hängen ... Ohne Papiere gibt es ja keine Arbeit!“ „Wunderbar – eine tolle Lösung ist das, Fredy!“, sagt Moritz mit kritischem Unterton. „Im Übrigen ist Fluchtweg aus meiner Sicht das treffende Wort. Es ist eine Riesenblamage für diverse Landesregierungen auf dem schwarzen Kontinent, mit den zum Teil psychotischen Regenten, wenn ihre Landsleute in Massen aus der Heimat flüchten müssen, um zu überleben. Obwohl in etlichen dieser Länder Öl-Milliarden und Entwicklungshilfe-Gelder vorhanden sind. Leider gelangen diese Gelder regelmässig in die falschen Hände und verschwinden auf geheimnisvolle Weise auf Bankkonten im Ausland.“ „Absolut zutreffend, Moritz. – Mit der Entwicklungshilfe klappt es dort nie so richtig“, gibt Fredy zu bedenken. „Die Korruption, sprich Bereicherung der regierenden Machthaber, funktioniert wesentlich besser! Aber nicht nur aus Afrika, auch aus Osteuropa kommen immer mehr Einwanderer, die der wirtschaftlichen Misere in ihrem Land entfliehen wollen. Viele werden hier zu Billiglohnbüe- zern und – ‚pssst‘ nicht weiter sagen – zu Schwarzarbeitern. Die Personenfreizügigkeit, respektive die löcherigen Grenzen lassen grüssen.“ „Nicht nur die Personenfreizügigkeit, Fredy, auch die weltweite Globalisierung“, füge ich hinzu. „Nach meinem bescheidenen Verständnis sollen diese globalen Verflechtungen von Wirtschaft, Politik, Kultur und Umwelt dafür sorgen, dass es – simpel ausgedrückt – allen Menschen einmal gut geht! Nur, wie ich uns Menschenkinder kennengelernt habe, wird auch hier die missbräuchliche Anwendung dieses Vorsatzes nicht zum gewünschten Ziel führen. Leider hat die Bibel einmal mehr recht!“ „So, so! Schon wieder die Bibel!“, motzt Moritz. „Inwieweit hat sie denn recht, Bruno? Wenn ich einfältig fragen darf.“ Ich nehme wieder meine kleine Taschenbibel aus der Hosentasche und sage: „Ich erlaube mir kurz etwas vorzulesen. Hier steht: ,Habt ihr denn noch nicht gemerkt, dass es gerade die Reichen sind, die euch unterdrücken und vor die Gerichte schleppen? Wie oft sind gerade sie es, die Jesus Christus verhöhnen …‘33 Für die Reichen kann man auch die Mächtigen einsetzten, meine ich, obwohl das Wort die Mächtigen hier im Text nicht vorkommt. Doch in der Realität passt häufig beides zusammen. Genaugenommen wird hier im Text zu Christen gesprochen. Sie sind die Betroffenen, auf die man es abgesehen hat! – Aber Nichtchristen sind dem genauso ausgeliefert, nur merken sie es nicht. Dass die Macht von den Reichen und Mächtigen dieser Welt ausgeht, ist nicht unbedingt das Problem. Das Problem beginnt erst dann, wenn sie dabei Gott verhöhnen. Und sie verhöhnen ihn, wenn unter ihrer Ägide der Angriff auf das Juden- und Christentum vorangetrieben wird. Wie ich eben erwähnte, ist es in erster Linie das Christentum, das ihren Attacken ausgesetzt ist. Das beweist die politische wie die religiöse Geschichte unmissverständlich. Juden und Christen mundtot zu machen, zu verfolgen und zu töten, gehörte immer schon zum teuflischen Plan verführter, fanatischer Gutmenschen – und das weltweit. Leider gehörte auch der religiöse, jüdische Theologe Saulus dazu, bevor er zum Paulus wurde. Selbst er verfolgte vor seiner Bekehrung Juden, um sie zu töten, weil sie zu Christus-Nachfolgern geworden sind! Saulus war damals unterwegs nach Damaskus, als er plötzlich von einem Licht aus dem Himmel umstrahlt wurde ... Er fiel zu Boden und hörte eine Stimme, die zu ihm sprach: ,Saul, Saul, warum verfolgst du mich?‘ ,Wer bist du, Herr?‘, fragte Saulus. ,Ich bin Jesus, den du verfolgst!‘, antwortete die Stimme. – Jesus sagte nicht: ,Warum verfolgst du die Juden, die an mich gläubig geworden sind‘, sondern Jesus sagte: ,Was verfolgst du mich?‘ 34 Diese Frage: ,Was verfolgst du mich?‘, muss doch auch noch heute zu denken geben! Denn in Wahrheit geht es ist immer um Jesus Christus, der von einzelnen Menschen, von Völkern, von Religionen und von Namenchristen verfolgt wird. Trotz allem, das letzte, endgültige Wort hat Er!35 Die Elite der Mächtigen betrügt sich und die weniger Mächtigen selber, wenn sie Gott bei ihren Weltverbesserungs-Reformen ausklammern. Das erst recht, wenn sie mit intellektuellem Gerede und ihrem Einfluss eine heile Welt heraufbeschwören wollen. – Das geht so lange, bis alle Völker dermassen gottlos sind, dass der Boden für den Antichristen zubereitet ist. – Nebenbei bemerkt: Noch nie war die Welt so instabil wie heute. Darum wundert es mich nicht, dass der Ruf nach einem starken Führer, der die Menschheit aus dem Chaos herausführen soll, selbst von den Mächtigen dieser Welt zu hören ist.“ „Das mit dem starken Führer kommt mir aber sehr bekannt vor, Bruno!“, unterbricht mich Moritz: „Das hatten wir doch schon!“ „Richtig, Moritz, das hatten wir schon! Der grössenwahnsinnige Österreicher mit dem markanten Schnauz. Er war nicht einmal der Erste, nicht der Letzte und schon gar nicht der Einzige“, erwidere ich. „Tja, die Herren Gaddafi, Mubarak, Gbagbo, Assad, Kim Jong-il und andere ihres Schlages, mit ausgeprägten Machtgelüsten, werden nicht die letzten sein!“, brummt Fredy grimmig dazwischen. „Zudem hätte ich noch eine Bemerkung zu Adolf H. anzubringen. Dem Mann mit dem markanten Schnauz.“ „Soo …, und die Bemerkung wäre, Fredy?“, fragt Moritz. „Adolf H. ist einer der vielen Zeitzeugen, die einmal mehr die Aussagen der Bibel bestätigen. Der Prophet Sacharja prophezeite nämlich schon im Alten Testament etwas Interessantes. Ich versu- che die Worte wiederzugeben. Es ist Gott, der sagt: ,Wer euch Juden ausplündert und unterdrückt, der verletzt, was mir am kostbarsten ist. Darum erhebe ich jetzt meine Hand und schlage eure Feinde nieder.“‘36 „Das ist tatsächlich interessant“, meint Moritz. „Dass es für Adolf H. und für das deutsche Volk so gekommen ist, kann niemand leugnen.“ „Eben!“, antwortet Fredy. „Das ,Dritte Reich‘ ist auf jeden Fall nicht tausend Jahre alt geworden, wie das Hitler unter seiner Führung glaubte. Ich gehe sogar noch weiter und behaupte: Wer sich mit Israel und den Juden anlegt, legt sich mit Gott an! Das geht klar aus Psalm 83 hervor. Hier steht: ‚Sie planen einen heimtückischen Anschlag auf dein Volk; sie halten Kriegsrat gegen jene, die du bisher beschützt hast. ,Kommt!‘, sagen sie, ,wir wollen dieses Volk ausrotten! Den Namen Israel soll niemand mehr kennen! Darin sind sie sich völlig einig, alle haben sich gegen dich verschworen…‘ Im zweitletzten Vers aber heisst es: ,Sie sollen scheitern und für immer verstummen, ja, lass sie in ihrer Schande umkommen!‘37 Das ist eine deutliche Warnung an alle, die Ähnliches versuchen oder versuchen wollen!“ „Na ja, bis es soweit ist und der falsche Messias auftritt, fliesst noch viel Blut, trotz den proklamierten Friedensbemühungen, davon bin ich überzeugt ... Der Egoismus, die Machtgelüste und das Böse nehmen so extreme Formen an, dass die Liebe in vielen erkalten wird.“ „So ist es, Bruno!“ „Darum heisst es nicht umsonst, um das noch in Grenzen zu halten: ,Liebe deinen Mitmensch wie dich selbst!‘38 Wenn wir versuchen, diese Liebe in die Tat umzusetzen, handeln wir richtig. Diese Liebe aber, die hier gemeint ist, kann nur ,in‘ Jesus Christus gelebt werden. Wenn nicht durch Ihn, und so sieht es leider aus, wird die Lieblosigkeit und Rücksichtslosigkeit in der Welt weiter zunehmen. Das ist dann definitiv eine Bestätigung dafür, dass wir mit falschen Baumeistern an einer falschen Arche bauen! Die Erschütterungen auf diversen Baustellen rund um die Welt sind bereits nicht zu übersehen, geschweige denn zu überhören.“ „Fängst du jetzt noch an zu predigen, Bruno?“, mault Moritz. „Na ja, Moritz. Ein wenig gepredigt habe ich schon, das gebe ich zu! Es ist mir halt wichtig, dass wir die Sache einmal von dieser Seite aus betrachten.“ „Lass es gut sein, Moritz“, meint Fränky sichtlich beeindruckt. „Für mich war das eine gute Rede. Nur, so tiefsinnig habe ich dich nicht in Erinnerung, Bruno ... Hat die Bibel diesen Gesinnungswandel hervorgebracht?“ „Ja, die Wahrheit in der Bibel – und ein wenig die Weisheit des Alters!“ „Weisheit des Alters. Das klingt richtig gut, so ehrwürdig, Bruno“, erwidert Fränky. „Das finde ich auch!“, antwortet Fredy zustimmend. „Wenn die Weisheit auf das Alter hin nicht zunimmt, vorausgesetzt man ist gesund im Kopf, hat man etwas falsch gemacht. Das meine ich nicht überheblich, das wäre unverschämt. Denn was die Klarheit im Kopf betrifft, sehen wir leider auch anderes im Altersheim Sunnebode: Notvolles und Trauriges! Gott sei Dank sind wir vier davon nicht betroffen.“ Fränky nickt zustimmend und setzt beinahe andächtig hinzu: „Das ist für uns erfreulich! Ich bin dankbar dafür, dass ich wenigstens im Kopf noch gesund bin. Obwohl ich meinen linken Fuss drangeben musste und mein allgemeiner Gesundheitszustand nicht der beste ist. – Trotz dem vielen Auf und Ab in meinem Leben darf ich zufrieden sein! Über das Auf und Ab erzähle ich ein anderes Mal, falls es euch interessiert.“ „Natürlich interessiert es uns, Fränky“, sagt Moritz. „Wir sind gespannt!“ „Ein ,Ab‘ in meinem Leben war sicher die Zeit in der Untersuchungshaft, das kann ich wenigstens vorwegnehmen. Darüber wisst ihr ja von Bruno Bescheid. Das andere ,Ab‘ war die Scheidung von meiner Frau Rosalia. Das Scheitern unserer Ehe liegt allerdings fünfundzwanzig Jahre zurück. Das ist eine lange Zeit, aber richtig überwunden habe ich die Trennung nie. Ich möchte aber betonen, dass wir im Guten auseinandergegangen sind. – Sicher spielte die Prostatakrebsoperation eine Rolle, die ich knapp zwei Jahre vor unserer Trennung über mich ergehen lassen musste. Die Operation verlief damals Gott sei Dank gut. Die nachfolgenden ärztlichen Kontrollen, die ich zweimal im Jahr machen musste, über fünf Jahre hinweg, ebenfalls. Nur, was der radikale Eingriff sowohl für einen Mann als auch für seine Frau bedeuten kann, dürfte euch bekannt sein. Ich war im besten Alter. Erst dreiundfünfzig! Impotenz ist ein Problem, das nicht alle Paare gleichermassen gut bewältigen können. Eigentlich mag ich nicht darüber sprechen. – Immerhin haben wir in den guten Jahren vorher eine Tochter zuwege gebracht, die uns viel Freude gemacht hat. Sie ist mit einem Schweizer verheiratet. Die beiden werden mich sicher besuchen. Dann stelle ich sie euch vor ... Später ist Rosalia wieder nach Italien zurückgekehrt und lebt heute wieder in einer Beziehung!“ „Tja, Fränky! – Wie das Leben so spielt, es kann manchmal sehr hart sein“, erwidert Moritz behutsam. „Ich kann dich gut verstehen. Ich habe meine Frau Ruth auch verloren. Ein heimtückischer Brustkrebs hat mir meine liebe Frau genommen … und manchmal die Lebensfreude. Die Krankheit traf Ruth unverhofft. Das Resultat einer reinen Routineuntersuchung bei ihrem Gynäkologen. Bis zu dieser Hiobsbotschaft führten wir eine glückliche, unbeschwerte Ehe, mit vielen schönen Jahren. Doch das Ende kam dann unerwartet schnell. Wenigstens musste Ruth nicht lange leiden. Es war ein bösartiger Tumor, der mich zum Witwer machte. – Und nichts war mehr wie früher. Aber eben, so ist halt das Leben. Ich musste da hindurch, genau wie du in deiner Situation, Fränky. Heute bin ich froh, dass ich noch meine beiden Kinder habe. Eine Tochter und einen Sohn. – Blöd! … Kinder sind es ja keine mehr. Beide sind gut verheiratet und haben ihre eigene Familie. Und trotzdem finden sie noch ab und zu Zeit, ihren alten Vater zu besuchen.“ Gedankenversunken schaut Moritz durch das grosse Fenster der Cafeteria und sagt beiläufig: „Ich weiss diese Besuche zu schätzen!“ Dabei legt sich ein zufriedenes Lächeln auf sein Gesicht. Inzwischen hat sich der böige Wind gelegt und der nasse Apriltag hat windstillen Abendstunden Platz gemacht. „Fredy hat es da besser als wir zwei alten, bemitleidenswerten Alleingelassenen“, meint Moritz plötzlich: „Er darf mit seiner lie- ben Helen hier sein. Das ist doch schön für euch beide. Und wir gönnen dir das von Herzen, Fredy – nicht wahr Fränky?“ „Natürlich, Moritz, neidlos!“ Für einen Augenblick verstummt die Diskussion. Wir kommen kurz ins Grübeln. Daraufhin gönnen wir uns zur Freude des heutigen Tages erst recht einen letzten Schluck von unserem Festwein. Dann räuspert sich Fränky und fragt: „Bruno, du hast vorhin erwähnt, dass wir – ich nehme an du meinst uns Menschen – an einer falschen Arche bauen und das erst noch mit falschen Baumeistern. Wie muss ich das verstehen?“ „Also! Ich versuche es zu erklären: Die falschen Baumeister sind für mich diejenigen, die den göttlichen Bauherrn nicht wollen und uns immer wieder einreden, dass wir Menschen es ohne Gott besser machen, eine erfolgversprechendere Welt zu gestalten. Diese erwünschte, grossartige Welt, vergleiche ich – nur bildlich gesprochen – mit der Arche aus der Bibel. Aber diese weltliche Arche, besser gesagt das eigene menschliche Bemühen, soll uns sicher durch die verderblichen Stürme in der Welt bringen, die wir notabene selber verursachen. Dieses Rettungsboot dürfte es aber schwer haben, da bin ich mir sicher. Wenn wir an unsere Diskussion denken … und dabei ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass wir Menschen für ein solches Unternehmen nicht sehr vertrauenswürdig sind. Die Frage zum Beispiel, was Lüge oder Wahrheit ist, macht uns nicht allzu grosses Kopfzerbrechen. Diese geistliche Verfinsterung gab es schon zu Noahs Zeiten. Und mit Noah bin ich wieder bei der Arche. Die Tage Noahs beschreibt die Bibel folgendermassen: … Moment, wo ist meine kleine Bibel? Ach hier! Da steht. Ich lese vor: ,Damals dachten die Menschen auch nur an Essen, Trinken und Heiraten. Selbst als Noah in die Arche stieg, glaubten die Leute nicht an das Unheil, bis die Flut sie alle mit sich riss. So wird es auch beim Kommen des Menschensohnes (Jesus Christus) sein.‘39 Die Menschen damals waren in ihrer Selbstsicherheit vollkommen verblendet und gleichgültig gegenüber dem, was auf sie zukam. Sie waren völlig in Anspruch genommen von den Vergnügungen des Fleisches – genau wie heute!“ „Jaja, Bruno! Vergnügungen des Fleisches, hä“, wirft Moritz schnippisch dazwischen. „Du meinst also, Gott gönne uns nicht einmal die kleinen Freuden des Lebens?“ „Das meine ich nicht und glaube ich nicht, Moritz! Ich bin eher der Meinung, dass es Ihm darum geht, dass alles, was wir Menschen tun, mit Anstand und Respekt Ihm gegenüber geschehen soll. Genau das haben unsere Vorgänger zur Zeit Noahs nicht getan – und wir tun es auch nicht. Die Folgen sind bekannt. Nur Noah und seine Familie blieb übrig und das, was mit ihm in der Arche war. ,Alle Lebewesen ertranken: das Vieh, die wilden Tiere, Vögel, Kriechtiere und auch die Menschen. Gott löschte das Leben auf der Erde aus. Niemand konnte sich retten. Nur Noah und seine Familie kamen mit dem Leben davon. Hundertfünfzig Tage lang blieb das Wasser auf seinem höchsten Stand.‘40 Für Noah, für seine Familie und für die Tiere war die Arche der rettende Zufluchtsort; für uns heute, ist es Jesus Christus. Versteht mich bitte richtig. Ich will mich nicht als Moralist aufspielen, aber ich denke, dass uns dieser Bericht über die Sintflut als Warnung gegeben ist.“ „Okay, Bruno!“, meint Fränky. „Jetzt habe ich noch eine Frage. Wenn ich dich richtig verstehe, sagst du, dass wir uns heute ebenso benehmen wie unsere Vorgänger damals. Da könnte uns genauso eine Art Untergang drohen … Wie retten wir uns? Die Arche Noah dürfte heute etwas zu klein sein. Meine Frage ist zwar naiv, aber ich hoffe, du verstehst, was ich meine?“ „Deine Frage ist überhaupt nicht naiv, Fränky. Im Gegenteil. Ich verstehe, was du meinst. Für uns Menschen, mit anderen Worten, was das Zusammenleben zwischen uns Menschen betrifft, ist es nur von Vorteil, wenn sich möglichst viele diese Frage stellen. Und für diejenigen, die sich die Frage tatsächlich stellen, ist es umso besser, wenn sie den richtigen Schluss daraus ziehen.“ „Entschuldige Bruno, du sprichst für mich in Rätsel!“, antwortet Fränky. „Das wundert mich nicht, dass Bruno für dich in Rätsel spricht!“, wirft Moritz dazwischen. „Darum ist er ja unser Rätselfuchs! – Oder nicht, lieber Senkrecht?“ „Nimm Moritz nicht ernst, Fränky!“, kontere ich mit einem Lächeln. „Das ist nur der Neid, der pure Neid!“ „Stopp, Kollegen!“, mischt sich Fredy ein, der kurze Zeit geschwiegen hat und unsere kleine Stichelei unterbricht. „Wir sind Fränky noch eine Antwort auf seine Frage schuldig.“ „Was heisst da wir, Fredy?“, erwidert Moritz. „Ich denke das ist eher dein Fachgebiet.“ „Okay! Wenn es dir recht ist, Bruno, versuche ich die Frage von Fränky zu beantworten.“ „Schon gut, Fredy. Nur zu!“ „Wie retten wir uns, willst du wissen? – Indem wir in die richtige Arche einsteigen. Und die richtige Arche heisst wie schon erwähnt, Jesus Christus. Das klingt natürlich nicht aufgeklärt und schon gar nicht zeitgemäss – ist aber trotzdem so! Wie zur Zeit Noahs wartet Gott auch heute darauf, dass wir, die sündenbeladenen Menschen, zu ihm umkehren und um Vergebung bitten. Besser gesagt – bei Ihm einsteigen.“ „Aha! Umkehren?“, erwidert Moritz. „Heisst das bei euch Christen nicht bekehren?“ „Doch, Moritz! Das ist richtig – und ist damit gemeint. Der Begriff hat aber nichts damit zu tun, wenn zum Beispiel, wie in der Politik, ein Politiker die Partei wechselt, obwohl gerade hier das Wort oft gebraucht, eigentlich missbraucht wird. Eine ernsthafte Bekehrung bedeutet mehr. Nämlich Rettung und Vergebung von oben ... Aus unverdienter Gnade! Also keine Selbsterlösung, die funktioniert nicht! Kein Mensch, der im Sumpf seiner Sünden versinkt, kann sich an den eigenen Haaren herausziehen. Es geht also darum, sich vor Gott als Sünder zu bekennen. Aber da liegt das Problem. Wer ist schon bereit zuzugeben, dass er ein Sünder ist. Wie wir festgestellt haben, gibt es viele Menschen, die ungehalten werden, wenn man sie darauf anspricht. Nichtsdestotrotz habe ich im Gefängnis deutlich genug gesehen, dass es eben doch stimmt. Wir sind einfach nicht die Gutmenschen, für die wir uns halten! Wir betreuten im Gefängnis Insassen und Insassinnen aus der ganzen Welt. Anhänger der verschiedensten Religionen und Philosophien, doch alle waren Gefangene ihres sündigen Wesens ... Keine Religion, keine Kirche und keine Philosophie in dieser Welt vermag unser Sündenproblem zu lösen, respektive begangenes Unrecht zu beheben. Mögen die Bemühungen dazu noch so ehrlich gemeint sein. Auch die Evolution schafft das nicht, nur Jesus kann den Menschen Vergebung und Rettung bringen. Nichts und niemand sonst auf der Welt. Ich versuche dazu noch eine andere Erklärung abzugeben. Ihr erinnert euch sicher an das Grubenunglück in Chile, im August ? Ich glaube, es waren über 30 Bergleute, die mehrere Tage in grosser Tiefe in einer Grube verschüttet waren. Nach einer Zeit quälender Ungewissheit kam dann die erlösende Nachricht: ,…alle Kumpels sind noch am Leben!‘ Sie konnten sich glücklicherweise in einem grossen Hohlraum in Sicherheit bringen. Trotzdem, sie waren und blieben eingeschlossen. Jetzt begann ein eindrücklicher Wettlauf mit der Zeit und gegen die Angst. Eine bewundernswerte Rettungsaktion wurde gestartet. Die Rettungsbohrung erreichte nach Tagen die verschütteten Kumpel. Der enge Notschacht wurde darauf vergrössert und für die Bergung mit einer Rettungskapsel vorbereitet. Diese Rettungskapsel kann man sinngemäss durchaus mit Noahs Arche vergleichen. Sie diente, wie die Arche, ebenfalls dazu, Menschen aufzunehmen und zu retten. Zurück nach Chile! Nach und nach konnte ein Kumpel nach dem anderen in die Kapsel einsteigen und nach oben gebracht werden. Der Einstieg in die Kapsel war beinahe ein feierlicher, aber jedes Mal auch ein gefährlicher Augenblick. – Wer also gerettet werden wollte, das Tageslicht und seine Lieben wiedersehen wollte, hatte keine andere Wahl als in die Kapsel einzusteigen. Jeder von ihnen musste sich zu diesem Schritt entscheiden. Ich glaube, mit der schrecklichen Aussicht vor Augen, in der Tiefe der Grube zu sterben, fiel die Entscheidung, in die Kapsel einzusteigen und dadurch gerettet zu werden und zu überleben nicht allzu schwer. Da gab es für die Eingeschlossenen wohl nichts zu überlegen. Wie wir später lesen konnten, haben viele dieser Bergleute tief unter der Erde für ihre Rettung gebetet. Und Gott war ihnen gnädig. Er hat auf ihre Hilferufe gehört. Gottes Liebe will nicht, dass wir in unseren Sünden ohne Rettung umkommen. Darum heisst es: ,Denn jeder, der den Namen des Herrn anruft, der wird von ihm gerettet.‘41 Diesen Entscheid, ich will gerettet werden, muss jeder Mensch für sich selber fällen. Genau wie die verschütteten Kumpel in ihrer ausweglosen Situation. Das kann kein Pfarrer, keine Kirche und keine Religion übernehmen. So gesehen müsste es für uns Menschen nichts zu überlegen geben! Aber eben, so ist es leider nicht: ,Dass Jesus Christus für uns starb, muss freilich all denen, die verloren gehen, unsinnig erscheinen. Wir aber, die gerettet werden, erfahren gerade durch diese Botschaft vom Kreuz die ganze Macht Gottes.‘42 Viele ignorieren Gottes Angebot und gehen verloren oder eben unter, wie damals diejenigen, die über Noah lachten als er die Arche baute. Auch heute wird über Jesus gelacht und über Seinen Tod am Kreuz gespottet! Was für ein Unverstand! Was für eine Tragik! So viel wäre zu gewinnen und so viel ist zu verlieren. Der Galaterbrief, Kapitel 6,7 warnt uns eindringlich.“ „Pha! Das ist ein happiger Einstieg im Sunnebode, den du mir zumutest, Fredy!“, antwortet Fränky. „So ernsthaft habe ich mir die Diskussion über Gott und die Welt eigentlich nicht vorgestellt. Um ehrlich zu sein: Über religiöse Dinge habe ich mir nie ernsthaft Gedanken gemacht. Ich meine so ernsthaft, wie du die Sache darstellst, Fredy. Ich bin ehrlich gesagt überfordert, aber andererseits beeindruckt.“ „Tja, Fränky“, meldet sich Moritz leicht verlegen. „Wenn wir mit Fredy und Bruno über Gott und die Welt diskutieren wird es ernst – und die Sache hat Tiefgang. Das muss selbst ich zugeben.“ „Das kann man wohl sagen, dass es ernst wird!“, meint Fränky und fährt fort: „Dann gehe ich recht in der Annahme, Bruno, dass du diese Sache genauso siehst wie Fredy? “ „Ja, Fränky! Ich sehe die Sache auch so. Während meiner U-Haft damals begann ich, als es mir moralisch schlecht ging, die Bibel zu lesen. Sie gehörte in dieser Zeit noch zum Zelleninventar. Ich denke, heute wird das nicht mehr so sein. Durch die Beschäftigung mit dem Wort Gottes lernte ich mich – und die Menschen – besser kennen. Ich kann bestätigen, dass mir dabei der Jeton runtergefallen ist. Etwa zweieinhalb Jahre nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis bin ich gläubig geworden. Das kam so: Ich lernte in dieser Zeit ein nettes Mädchen kennen. Sie war Christin und besuchte eine Versammlung gläubiger Christen. Wir waren oft zusammen und diskutierten viel über das Evangelium. Anfänglich hatte ich etwas Mühe damit, die Bibel richtig zu verstehen. Monika nahm die Bibel ernst und versuchte ehrlich danach zu leben. Da ich mich in Monika verliebte, geriet das gute Mädchen in ein Dilemma. Wie es sich herausstellte, empfand es für mich genauso, erklärte mir aber, dass es keine Liebesbeziehung mit mir eingehen könne, weil ich nicht Christ sei. So etwas hatte ich bisher noch nie gehört. Ich mache es kurz! Da ich Moni, ähm… Monika nicht verlieren wollte, war es für sie nicht allzu schwer, mich in ihre Gemeinde mitzunehmen. So kam der Sonntag, an dem ich zum ersten Mal eine christliche Versammlung besuchte – trotz anfänglicher Bedenken, in meinem Bekanntenkreis plötzlich als Frommer hingestellt zu werden. Auf jeden Fall fühlte ich mich unter diesen Leuten recht wohl. – Nur wenige Wochen später habe ich mich dort bekehrt. Das Thema der Predigt ist mir heute noch gegenwärtig: ,Deine Entscheidung ist entscheidend!‘, lautete die Botschaft. Sie hat mir die Augen endgültig geöffnet! Monika und ich erlebten danach eine wunderbare Zeit. Wir waren über beide Ohren verliebt und unsere Beziehung wurde immer schöner. Ungefähr nach einem Jahr Bekanntschaft verlobten wir uns und wollten in Bälde heiraten. Dazu ist es leider nicht mehr gekommen. Meine grosse Liebe, meine Moni, kam bei einem dummen Verkehrsunfall ums Leben. Da begann für mich die traurigste und schwierigste Zeit meines Lebens. Einerseits musste ich mich gegen meinen aufkommenden Groll dem Unfallverursacher gegenüber wehren, andererseits haderte ich mit Gott! Ich konnte einfach nicht verstehen und schwerlich akzeptieren, dass Er so etwas zuliess. Er, der uns Menschen doch liebt, nahm mir meine Monika einfach weg. Ich erlitt in meinem noch jungen Glaubensleben beinahe Schiffbruch – doch Gott hielt mich in Seiner Güte fest. Dank lieben Glaubensgeschwistern, die mir in der schweren Zeit beistanden, konnte ich den Verlust meiner geliebten Moni verarbei- ten. Aber eine neue, ernsthafte Beziehung bin ich nachher nie mehr eingegangen. So, jetzt weisst du Bescheid, Fränky.“ „Jaja …, jetzt weiss ich Bescheid, Bruno. Das tut mir leid für dich. Aber eben, wie Moritz schon sagte: ,so ist das Leben! Jeder hat seine eigenen Sorgen zu tragen.“‘ Fränky schaut mich nachdenklich an und meint anschliessend: „Das Predigtthema, das du vorhin erwähntest: ,Deine Entscheidung ist entscheidend‘, hat es wirklich in sich. Das kann ich nicht einfach ignorieren. Ich werde darüber nachdenken müssen!“‘ „Das ist gut so, Fränky!“, bestätige ich. „Es lohnt sich wirklich, darüber nachzudenken…“ „Da ist etwas dran, Bruno!“, meldet sich Moritz unverhofft zu Wort. Diese zustimmende Reaktion habe ich von ihm nicht unbedingt erwartet. Doch er fährt fort: „Das mit der Entscheidung hat tatsächlich etwas für sich. Ich habe mich bis jetzt in der Diskussion meistens kritisch oder spöttisch geäussert, vielleicht sollte ich mich doch mehr für die Paragrafen Gottes interessieren.“ „Gut so, Moritz!“, meint Fredy. „Als Rechtsanwalt im Ruhestand kennst du dich ja mit Paragrafen aus. – Nur, Gottes Paragrafen sind wesentlich wichtiger!“ „Meine Herren, darf ich bitten!“, hören wir plötzlich jemanden hinter uns sagen. Es ist Frau Fröhlich. Sie ist zu uns an den Tisch gekommen und erinnert mit neckisch erhobenem Zeigfinger: „In zehn Minuten gibt es Nachtessen!“ „Okay! Frau Fröhlich. Dann müssen wir wohl“, antwortet Moritz. „Auf geht’s Kollegen!“ „Tja, Dann wollen wir mal sehen, womit uns die Küche heute verwöhnen will?“, frotzelt Fredy. „Es riecht nicht schlecht!“, meint er und tätschelt erwartungsvoll seinen Bauch. „Morgen gehen wir spazieren, wenn es das Wetter zulässt“, schlägt Moritz vor. „Und Fränky nehmen wir im Rollstuhl mit.“ Froh um die paar Schritte, gehen wir zusammen mit anderen Heimbewohnern durch die Cafeteria. Zielstrebig wie immer, wenn es ums Essen geht. Jeder an seinen Tisch im Speisesaal. Essen ist für viele von uns immer noch die schönste Freizeitbeschäftigung. Wir sitzen bewusst nicht zusammen, es ist besser so. Da man tagtäglich beisammen ist, ist es nur gut, wenn man sich nicht bei jeder Gelegenheit zu nahe kommt. Fredy wird von Helen erwartet. Er küsst seine Frau zärtlich auf die Stirn und nimmt vis-a-vis Platz. Moritz sitzt mit den Jass-Frauen an einem Tisch – und ist bei ihnen Hahn im Korb. Und ich stelle gerade fest, dass Fränky bei mir am Tisch platziert worden ist. Er strahlt über das ganze Gesicht, als er mich kommen sieht und freut sich sichtlich, dass wir Tischgemeinschaft haben können. Ich werde den Verdacht nicht los, dass bei der Erstellung der Platzordnung die gute Frau Fröhlich die Hand im Spiel hatte. Später am Abend, nach einem ereignisreichen Tag, sitzen wir noch gemütlich mit anderen Pensionären zusammen in der Cafeteria, obschon es zu dieser Zeit keine Bedienung mehr gibt. Auch Helen und die Jasserinnen sind dabei und freuen sich an dem ungezwungenen Zusammensein. Trotz der guten Stimmung meldet sich langsam aber sicher die Müdigkeit. Wir sind ja nicht mehr zwanzig! Unauffällig lichten sich die Reihen in der Cafeteria. Einige der anwesenden Pensionäre verabschieden sich und ziehen sich auf ihre Zimmer zurück. Auch für uns wird es langsam Zeit. Das Vorhaben, am nächsten Tag einen gemeinsamen Spaziergang zu machen, war uns nicht mehr vergönnt. Als wir am folgenden Morgen zum Frühstück in den Speisesaal kamen, viel uns die bedrückte Stimmung beim Personal auf. Irgendetwas schien passiert zu sein. Moritz, Fredy und ich mussten die traurige Nachricht entgegennehmen, dass Fränky in der Nacht einen schweren Herzinfarkt erlitten hatte. Das war ein harter Schlag. Früh am Morgen so eine Hiobsbotschaft entgegennehmen zu müssen ist nicht erfreulich! Auch Helen und die Jasserinnen waren genauso betroffen von der Nachricht, da sie ja noch gar nicht richtig Gelegenheit hatten, Fränky besser kennen zu lernen. Vom Pflegepersonal wurden wir informiert, dass die Notfallsanität schnell zur Stelle war. Doch auf dem Weg ins Krankenhaus sei Herr Marone noch in der Ambulanz verstorben. Sein Herz sei zu sehr angeschlagen gewesen, lautete die Information aus dem Spital. Fredy war sehr traurig darüber, weil er nicht mehr Gelegenheit hatte, mit Fränky über den wahren Sinn des Lebens zu diskutieren. Moritz war den ganzen Tag ungewöhnlich schweigsam – und zog sich auf sein Zimmer zurück. Mich hatte die schmerzhafte Nachricht besonders berührt. Es kam mir so vor, als mussten Fränky und ich uns hier im Altersheim nur begegnen, um zu erfahren, dass gegenseitige Vergebung auch nach Jahren noch möglich ist. Und dass wir wieder Freunde geworden sind. Trotz der Traurigkeit über den Verlust von Fränky, bin ich dankbar für die kurze Zeit, die ich mit ihm im Sunnebode verbringen durfte. Nach dem Frühstück, das uns nicht so schmeckte wie sonst, kommt Moritz zu uns und sagt: „Ich muss raus, an die Luft! Ich halte es hier drinnen nicht aus! Kommt ihr mit?“ „Ja, Moritz! Wir kommen mit … ohne Fränky.“ „Leider!“, erwidert Moritz kleinlaut. Eine Zeitlang gehen wir schweigend nebeneinander her. Wir spazieren durch den kleinen Park, der zum Altersheim gehört, und verlassen anschliessend das Areal. Gemächlich gehen wir zu dem naheliegenden Waldrand hinauf, der etwas oberhalb vom Altersheim beginnt. Es sind zu Fuss nur knappe zwanzig Minuten ... Aber es lohnt sich! Dort befindet sich ein schöner Panoramaweg, mit toller Aussicht, hinunter auf die Stadt. Während dem kurzen Aufstieg zum Waldrand beginne ich leicht zu schwitzen. Die Wiesen links und rechts neben dem Gehweg sind vom ausgiebigen Regen am Vortag noch nass. Doch langsam kommt die Sonne über dem Wald hervor und es wird wärmer. Die kühle Morgenluft muss den zaghaften Sonnenstrahlen weichen und der windige Regentag vom Vortag gerät in Vergessenheit. Ohne viele Worte zu machen, sind wir oben angekommen und setzen uns auf eine Bank vom örtlichen Naturschutzverein. Wir haben kaum Platz genommen, als ein Schwarm weisser und grauer Tauben über unsere Köpfe hinwegfliegt. Wie eine Fliegerstaffel drehen sie elegant eine weite Schleife in nicht allzu grosser Höhe und kehren zu ihrem Schlag in den nahen Schrebergarten zurück. Fredy unterbricht die Stille und sagt: „Habt ihr die Tauben gesehen? Ist es nicht interessant, wie sie immer wieder zu ihrem Tauben- schlag zurückkehren? Dieser Taubenflug erinnert mich erneut an Noah in der Arche. Auch er liess eine Taube fliegen, um zu sehen, ob das Wasser der Sintflut versickert war. Aber die erste Taube fand keinen Platz zum Ausruhen, denn die Flut bedeckte noch das ganze Land. Darum kehrte sie zu Noah in die Arche zurück. Dann wartete Noah noch weitere sieben Tage und liess die Taube erneut hinaus. Sie kam gegen Abend zurück, mit einem frischen Blatt eines Ölbaums im Schnabel. Da wusste Noah, dass das Wasser fast versickert war. Eine Woche später liess er die Taube zum dritten Mal fliegen, und diesmal kehrte sie nicht mehr zurück.43 Jetzt wusste Noah, sie hat Land gefunden. Das Leben geht weiter – es beginnt neu!“ „Was willst du damit sagen, Fredy?“, will Moritz beinahe andächtig wissen. „Ich will damit einfach sagen: Dass Gott uns trösten will, weil Fränky so unerwartet schnell aus dem Leben gerissen worden ist.“ „Uns trösten …, wie denn, Fredy?“ „Mit seinem Wort! In dem Er uns wissen lässt: ,Ich habe doch keine Freude daran, dass der Gottlose sterben muss. Darauf gebe ich, der Herr, mein Wort. Kehrt um von euren falschen Wegen, damit ihr am Leben bleibt!‘44 Damit ist das Leben nach dem Tod gemeint, Moritz. Entweder ein Leben in der Herrlichkeit bei Gott – oder ein Leben, dem ewigen Verderben ausgeliefert; für immer von Gott getrennt und ausgeschlossen aus Seinem herrlichen Reich. Das will Er nicht! Er will uns aus der Welt die ein Bereich, ja, ein System moralischer und geistlicher Dunkelheit ist, herausholen und hineinnehmen in Seinen Bereich des Lichts. Sein Wort an uns, ist das ewiggültige Angebot, damit wir dieses Leben in Seiner Herrlichkeit ergreifen! Seit Tausenden von Jahren wirbt Er tagtäglich und auf mancherlei Weise um uns Menschen, damit wir umkehren. Er will nur das Beste für uns … Und wir haben die Wahl! An anderer Stelle sagt Er: ,Ich bin die Auferstehung, und ich bin das Leben. Wer mir vertraut, der wird leben, selbst wenn er stirbt. Und wer lebt und mir vertraut, wird niemals sterben. Glaubst du das?‘45 Ich hoffe, ja, ich wünsche mir, dass Fränky diese ernsten Worte gekannt hat! Und dass er vor seinem plötzlichen Ableben, durch die grosse Gnade Gottes, an diese Worte erinnert wurde, um sie noch für sich in Anspruch nehmen zu können! – So wie die zwanzig verschütteten Bergarbeiter in Chile, die durch ihr eindrückliches Erlebnis in der Mine gläubig geworden sind. Davon berichtete einer der glücklichen Arbeiter, der mit allen seinen geretteten Kollegen vom Staat Israel nach Jerusalem eingeladen worden ist. Bei diesem Besuch in Israel bezeugte er freudig: ,Gott hat diesen Unfall, der schrecklich war, für uns in etwas Gutes umgewandelt.“‘ 46 Kurz darauf steht Moritz langsam auf. In Gedanken versunken und den Blick hoffnungsvoll gegen den wolkenlosen, blauen Himmel gerichtet. Als könnte er in diesen hineinsehen, sagt er fast feierlich: „Danke, Fredy…, danke Bruno, für alles! – Lass uns wieder ein paar Schritte gehen! – Schritte in mein neues Leben!“ Nachwort Der ehemalige Rechtsanwalt Moritz Rechtsteiner hat sich kurze Zeit später nach einem seelsorgerlichen Gespräch mit Fredy Stark bekehrt. Er durfte die Erfahrung machen, dass das Bibelwort aus 1. Timotheus 2, 3- stimmt, wo geschrieben steht: „So soll es sein, und so gefällt es Gott, unserem Retter. Denn Er will, dass alle Menschen gerettet werden und Seine Wahrheit erkennen.“ Moritz Rechtsteiner hat diese Wahrheit erkannt, sie ergriffen – und Rettung erfahren. Aber nicht nur das, jetzt gilt für ihn auch: „Gehört jemand zu Christus, dann ist er ein neuer Mensch (neu geboren). Was vorher war, ist vergangen, etwas Neues hat begonnen. All dies verdanken wir Gott, der durch Christus mit uns Frieden geschlossen hat.“ . Korinther , u. Sach- und Personenregister Alle Bibelstellen sind der Hoffnung für alle (Hfa) entnommen. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 „Die Lehman-Pleite“, Sonntags-Zeitung vom 13. September 2009 MIGROS Magazin, Mai 2009 1. Mose 6,5 Markus Evangelium 7,21Francis A. Schaeffer, aus dem Buch: „Die grosse Anpassung“, Seite / Römerbrief 3,10Philipperbrief 2,10Römerbrief 3,12 20 Minuten ONLINE, 02.09.2010 20 Minuten ONLINE, 02.09.2010 Sprüche 29,16 Offenbarung Kapitel 12 und 13 Google, „Drogenbosse, Kampf gegen Rauschgiftmafia“, . . Matthäus Evangelium 15,19 Jeremia 17,9 Matthäus Evangelium 9,36 1. Mose 4,10 Matthäus Evangelium 7, 1. Mose 11,4 Matthäus Evangelium 7,26Offenbarung Kapitel 18 Johannes Evangelium 10,12 Wikipedia, Jupp Elze, Boxer Römerbrief 7,15 Jesaja 5,20 Dr. Lothar Gassmann, aus der Schrift: „Wer ist der Mensch?“, Seite Wikipedia, unter: Ernst Deubelbeiss Wikipedia, unter: RMS Titanic Matthäus Evangelium 11,28 1. Johannesbrief 5,6Minuten ONLINE, aus: „Korrupt“, lt. Trancparency International, Dez. 2010 1. Johannesbrief 1,8 Jakobusbrief 2,6Apostelgeschichte 9,4Offenbarung Kapitel 20 Sacharja 2,12Psalm 83, 4-19, und Vers 18 Jakobusbrief 2,8 Matthäus Evangelium 24, 381. Mose 7,21Römerbrief 10,13 1. Korintherbrief 1,18 1. Mose 8,8Hesekiel 18,32 Johannes Evangelium 11,25 Aus der Zeitschrift „Factum“ Nr. / , Seite , Schwengeler Verlag