Deutscher und Chinesischer Humor - E-LIB
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Deutscher und Chinesischer Humor - eine kontrastive Studie zu deutschen und chinesischen ethnischen und Familienwitzen Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde durch den Promotionsausschuss Dr. Phil. der Universität Bremen genehmigte Dissertation von Peiling Cui Bremen, den 26. August 2008 Für meine Familie 䘧ৃ䘧ˈ䴲ᐌ䘧˗ৡৃৡˈ䴲ᐌৡDŽ - 㗕ᄤ lj䘧ᖋ㒣NJ Der Sinn, der sich aussprechen lässt, ist nicht der ewige Sinn. Der Name, der sich nennen lässt, ist nicht der ewige Name. - Lao Tse, Tao Te King (Das Buch vom Sinn und Leben. Übersetzung von Richard Wilhelm) 2 Danksagung Diese Arbeit entstand durch die Betreuung von Prof. Dr. Wolfgang Wildgen. Hiermit möchte ich mich vor allem bei meinem Doktorvater für seine wissenschaftliche Inspirierung, die fruchtbaren Diskussionen und die ausgezeichnete Betreuung bei der Fertigung dieser Arbeit bedanken. Mein besonderer Dank gilt auch Prof. Dr. John Bateman und Prof. Dr. Gudrun Spitta, die jeweils wertvolle Vorschläge bzw. eine intensive sprachliche Korrektur zu dieser Arbeit gemacht haben. Prof. Dr. Eva Schoenke schulde ich herzlichen Dank für ihre ständige Unterstützung und die ergiebigen Diskussionen. Prof. Dr. Jinyang Zhu möchte ich für seine Betreuung beim chinesischen Teil dieser Arbeit danken. Bei Dr. Armin Hetzer bedanke ich mich herzlich für seine Teilnahme an meiner Disputation. Außerdem möchte ich auch Prof. Dr. Salvatore Attardo, Prof. Dr. Christie Davies, Dr. Christian F. Hempelmann und Dr. Jocelyn Chey danken, die mir entweder bei der theoretischen Darstellung oder bei der empirischen Untersuchung wertvolle Ratschläge gemacht haben. Meinen Freunden in Deutschland und in China möchte ich für ihre Hilfe bei der Zusammenstellung des Korpus danken. Sie sind Familie Daiminger, Birgit Jürgens, Meike Hahne, Antje Wagenknecht, Magdalena Wojcieszyk-Kluge, Ingrid Röder, Johannes Rosendahl, Yong Cheng, Yin Chen, Diandian Zhang und Ying Li. Zuletzt möchte ich besonders meiner Familie danken, die mir ständig mit Liebe, geistiger und finanzieller Unterstützung beigestanden hat. Ohne die Ermutigung meiner Mutter (Hairui Li) hätte ich den Schritt nach Deutschland zur Promotion nicht machen können. Ohne die Liebe und ständige Unterstützung meines Ehemanns (Tiansi Dong) hätte ich die jahrelange Forschung nicht durchsetzen können. Ihnen widme ich mit herzlichem Dank die vorliegende Arbeit. Bremen, November 2008 3 4 Inhaltsverzeichnis Danksagung ...................................................................................................................3 Inhaltsverzeichnis ..........................................................................................................5 Tabellen .........................................................................................................................9 Abbildungen ................................................................................................................11 1. Einleitung.................................................................................................................13 1.1 Motivation und Zielsetzung...............................................................................13 1.2 Theorie, Korpus und Methode...........................................................................15 1.3 Struktur ..............................................................................................................16 2. Zur Forschungsgeschichte über Witz als Phänomen im Westen bzw. in China ...17 2.1 Begriffsbegrenzungen........................................................................................18 2.1.1 Witz, Humor und Komik im Deutschen .....................................................18 2.1.2 ュ䆱(xiàohua), ᑑ咬(yumò) und ⒥】(huáj) im Chinesischen..............21 2.1.3 Vergleich der deutschen und der chinesischen Begriffe.............................25 2.2 Überblick über die Geschichte der Witzforschungen im Westen bzw. in China .................................................................................................................................26 2.2.1 Die Geschichte der Forschungen über Witz und Humor im Westen..........26 2.2.2 Die Geschichte der Humorkultur in China .................................................34 2.2.3 Vergleich der Forschungsentwicklungen ...................................................39 2.3 Fazit ...................................................................................................................41 3. Das Wesen des Witzes.............................................................................................43 3.1 Die Abhängigkeit des Witzes ...........................................................................43 3.1.1 Die Abhängigkeit von den Menschen.........................................................43 3.1.2 Die Abhängigkeit von den Zeiten...............................................................46 3.1.3 Die Abhängigkeit von den Kulturen und den Sprachen .............................47 3.2 Die Gegensätzlichkeit des Witzes .....................................................................50 3.2.1 Die Erklärung des Begriffs Skript ..............................................................50 3.2.2 Der Grundgedanke der SSTH.....................................................................51 3.3 Fazit ...................................................................................................................58 4. Die Aspekte in der Witzanalyse ..............................................................................61 4.1 Die Generelle Theorie des Verbalen Humors – GTVH.....................................62 5 4.2 Die Zielscheibe ..................................................................................................66 4.2.1 Harmlose und tendenziöse Witze ...............................................................66 4.2.2 Die Zielscheibe in den ethnischen und den Familienwitzen ......................69 4.3 Die Eigenschaft der Zielscheibe ........................................................................70 4.3.1 Die Eigenschaft und das Skript 2 im Witz..................................................70 4.3.2 Die fünf grundlegenden Skriptoppositionen von Raskin............................71 4.3.3 Die Eigenschaft der Dummheit...................................................................72 4.3.4 Witze mit oder ohne Realitätsbezug ...........................................................73 4.4 Das Hintergrundwissen......................................................................................75 4.4.1 Sprachliches Wissen ...................................................................................75 4.4.2 Kulturelles Wissen......................................................................................79 4.4.3 Common Sense-Wissen ..............................................................................82 4.4.4 Kontextwissen ............................................................................................83 4.5 Die Situation ......................................................................................................85 4.6 Die Erzählform des Witzes................................................................................86 4.6.1 Die Struktur des Witzes ..............................................................................87 4.6.2 Die verschiedenen Formen des Witzes.......................................................90 4.7 Fazit ...................................................................................................................94 5. Ethnische Witze ......................................................................................................97 5.1 Die ethnischen Gruppen in Deutschland bzw. in China ....................................98 5.1.1 Vorstellung der ethnischen Gruppen in Deutschland .................................98 5.1.2 Vorstellung der ethnischen Gruppen in China..........................................101 5.2 Die wichtigen Forschungen über ethnische Witze ..........................................104 5.3 Die Korpusauswahl in diesem Kapitel ............................................................109 5.4 Die Zielscheiben und deren Eigenschaft in den ethnischen Witzen................110 5.4.1 Die Zielscheiben und deren Eigenschaften in den deutschen ethnischen Witzen................................................................................................................110 5.4.2 Die Zielscheiben und deren Eigenschaften in den chinesischen ethnischen Witzen................................................................................................................120 5.4.3 Vergleich...................................................................................................131 5.5 Das Hintergrundwissen zum Verstehen der ethnischen Witze........................133 5.5.1 Hintergrundwissen zum Verstehen der deutschen ethnischen Witze .......134 5.5.2 Hintergrundwissen zum Verstehen der chinesischen ethnischen Witze...135 5.5.3 Vergleich...................................................................................................136 6 5.6 Die Situationen in den ethnischen Witzen.......................................................137 5.6.1 Die Situationen in den deutschen ethnischen Witzen...............................137 5.6.2 Die Situationen in den chinesischen ethnischen Witzen ..........................139 5.6.3 Vergleich...................................................................................................142 5.7 Die Erzählformen in den ethnischen Witzen ...................................................143 5.7.1 Die Erzählform in den deutschen ethnischen Witzen...............................145 5.7.2 Die Erzählform in den chinesischen ethnischen Witzen ..........................146 5.7.3 Vergleich...................................................................................................146 5.8 Fazit .................................................................................................................147 6. Familienwitze ........................................................................................................149 6.1 Familienstruktur und Familienwerte in China bzw. in Deutschland ...............150 6.1.1 Die Relevanz der Familie in China...........................................................150 6.1.2 Die abnehmende Sehnsucht nach der Familie in Deutschland.................152 6.1.3 Vergleich der chinesischen und der deutschen Familienstrukturen .........154 6.2 Korpusauswahl in diesem Kapitel ...................................................................155 6.3 Die Zielscheiben ..............................................................................................157 6.3.1 Überblick über die Zielscheiben in den Familienwitzen ..........................157 6.3.2 Zielscheiben in den deutschen Familienwitzen .................................157 6.3.3 Zielscheiben in den chinesischen Familienwitzen....................................159 6.3.4 Vergleich...................................................................................................161 6.4 Die Eigenschaften der Zielscheiben ................................................................161 6.4.1 Eigenschaften der Zielscheiben in den deutschen Familienwitzen ..........161 6.4.2 Eigenschaften der Zielscheiben in den chinesischen Familienwitzen......166 6.4.3 Vergleich...................................................................................................175 6.5 Das Hintergrundwissen zum Verstehen der Familienwitze.............................176 6.5.1 Hintergrundwissen zum Verstehen der deutschen Familienwitze............177 6.5.3 Vergleich...................................................................................................179 6.6 Die Situationen ................................................................................................180 6.6.1 Situationen in den deutschen Familienwitzen ..........................................180 6.6.2 Situationen in den chinesischen Familienwitzen......................................182 6.6.3 Vergleich...................................................................................................184 6.7 Die Erzählformen.............................................................................................186 6.7.1 Erzählformen in den deutschen Familienwitzen ......................................187 6.7.2 Erzählformen in den chinesischen Familienwitzen ..................................188 7 6.7.3 Vergleich...................................................................................................189 6.8 Fazit .................................................................................................................189 7. Zusammenfassung und Ausblick...........................................................................191 7.1 Zusammenfassung des Untersuchungsergebnisses .........................................191 7.2 Witz als Unterhaltungstext ..............................................................................192 7.3 Witz und Metapher ..........................................................................................195 8. Literatur .................................................................................................................201 8 Tabellen Tabelle 1: Die Zahl der Verfasser/Herausgeber der Witzsammlungen in den chinesischen Dynastien 37 Tabelle 2: Aufschwungsphasen der Humorkultur im Westen bzw. in China 40 Tabelle 3: Zielscheiben und deren Eigenschaften in den deutschen ethnischen Witzen 110-111 Tabelle 4: Skripte und deren Anteile in den deutschen ethnischen Witzen Tabelle 5: Zielscheiben und deren Eigenschaften in den chinesischen ethnischen Witzen 119 120 Tabelle 6: Skripte und deren Anteile in den chinesischen ethnischen Witzen 130 Tabelle 7: Hintergrundwissen zum Verstehen der deutschen ethnischen Witze 134-135 Tabelle 8: Hintergrundwissen zum Verstehen der chinesischen ethnischen Witze 135 Tabelle 9: Die fünf relevantesten Situationen in den deutschen ethnischen Witzen 137 Tabelle 10: Die fünf relevantesten Situationen in den chinesischen ethnischen Witzen 140 Tabelle 11: Erzählformen der deutschen ethnischen Witze 145 Tabelle 12: Erzählformen der chinesischen ethnischen Witze 146 Tabelle 13: Zielscheiben in den deutschen Familienwitzen 158 Tabelle 14: Zielscheiben in den chinesischen Familienwitzen Tabelle 15: Eigenschaften der Zielscheiben in den deutschen Familienwitzen 162 Tabelle 16: Eigenschaften der Zielscheiben in den chinesischen Familienwitzen 159-160 167 9 Tabelle 17: Hintergrundwissen für das Verstehen der deutschen Familienwitze 178 Tabelle 18: Hintergrundwissen für das Verstehen der chinesischen Familienwitze 178 Tabelle 19: Die fünf relevantesten Situationen in den deutschen Familienwitzen 180-181 Tabelle 20: Die fünf relevantesten Situationen in den chinesischen Familienwitzen 183 Tabelle 21: Erzählformen der deutschen Familienwitze 187 Tabelle 22: Erzählformen der chinesischen Familienwitze 188 10 Abbildungen Abbildung 1: Landkarte von Deutschland 99 Abbildung 2: Landkarte von China 102 Abbildung 3: Standard-Darstellung des Blending 197 Abbildung 4: Darstellung des Witzes (11, Kapitel 3) anhand der Blending-Theorie 198 11 12 1. Einleitung 1.1 Motivation und Zielsetzung Als Germanistikstudentin mit dem Chinesischen als Muttersprache hatte ich die Möglichkeit, gleichzeitig zwei Sprachen und die damit verbundenen Denk- und Verhaltensweisen, die sich in vieler Hinsicht voneinander unterscheiden, kennen zu lernen. Dabei ist mir als ein interessantes Phänomen aufgefallen, dass Menschen mit verschiedenen Sprach- und Kulturhintergründen häufig über unterschiedliche Witze, Figuren oder Gegenstände lachen. Ein Souvenir aus Mallorca fand ich z.B. nicht so witzig wie der deutsche Freund, nur weil eine Dschunke in dem Bild dargestellt war. Erst später ist es mir klar geworden, dass die Dschunke für ein typisches chinesisches Segelschiff steht, was vielen Chinesen aber nicht bekannt ist. Ein ehemaliger deutscher Lehrer von uns entdeckte immer Wortpaare im Chinesischen, die bei ähnlicher Aussprache ganz verschiedene Bedeutungen haben, z.B. ㄨ䕽 (dábiàn1, eine Arbeit mündlich verteidigen) vs. ֓ (dàbiàn, Stuhlgang haben), oder 㒗д⫳ᄫ (liànxí shngzì, neue Vokabeln üben) vs. 㒗 д ⫳ ᄤ (liànxí shngz, üben, Söhne/Kinder zu kriegen). Andererseits gibt es auch Fälle, bei denen die Chinesen etwas lustig finden, was den Deutschen aber ganz normal scheint. Wir hatten z.B. einen netten und intelligenten Gastprofessor, der wegen des Alters kaum Haare auf dem Kopf hatte. Er heißt aber „Schönhaar“. Über diesen Namen mussten viele chinesische Studenten lachen, als der Professor sich bei der ersten Seminarsitzung vorgestellt hatte. Ein Erlebnis, das ich bis heute nicht vergessen kann, hat mit einer alten chinesischen Geschichte zu tun. Sie handelt von einem faulen Mann, der einmal zufällig einen Hasen gesehen hat, als dieser aus einem Wald neben dem Feld des Mannes gesprungen war und sich dann auf einem Baumstamm zu Tode stürzte. Der Mann war sehr glücklich, weil er umsonst etwas zu Essen bekommen hatte. Von da an wartet er jeden Tag an 1 Die Aussprache der chinesischen Schriftzeichen wird durch die Pinyin-Umschrift dargestellt, die auf dem lateinischen Alphabet basiert und seit 1957 in der VR China benutzt wird. Das Hochchinesische ist eine Tonsprache, d. h. jede Silbe wird in einer bestimmten Stimmlage, einem so genannten Ton gesprochen. Es sind insgesamt fünf Töne zu unterscheiden: Der erste Ton wird durch ein Makron (), der 2. Ton durch einen Akut (á), der 3. Ton durch ein Hatschek () und der 4. Ton durch einen Gravis (à) dargestellt. Der leichte Ton wird meistens nicht markiert. In dieser Arbeit wird für alle chinesischen Schriftzeichen außer den Eigennamen für Orte und Personen ihre Pinyin-Umschrift mit Tönen angegeben. 13 demselben Ort auf weitere Hasen, statt in seinem Feld zu arbeiten. Als ich meinen deutschen Bekannten diese Geschichte erzählt habe, fingen sie mit einer heißen Diskussion über die Erlaubnis zum Hasenessen an, statt sich über die Geschichte zu amüsieren. Lachen ist ein universales menschliches Verhalten, genau wie Sprechen, Laufen oder Weinen. Aber über welche Sachen wir lachen, kennt kulturelle Grenzen oder auch individuelle Grenzen, denn jeder lacht auf Grund seiner eigenen Kenntnisse oder Lebenserfahrungen. Goethe schrieb in den „Wahlverwandtschaften“: „Durch nichts bezeichnen die Menschen mehr ihren Charakter als durch das, was sie lächerlich finden“ (zitiert nach Lentz et al. 2001: 126). Da die Individuen ihre Lebenserfahrungen aber auch in einer gemeinsamen Gesellschaft oder Kultur machen, gibt es neben einem universell gültigen individuellen Lachen gleichzeitig auch kulturspezifisches Lachen (vgl. ein Interview von W. Fry in der Zeitschrift „Psychologie Heute“, Heft 190/20052). In gewissem Sinne kann man aus den Witzen in einer Gesellschaft Erkenntnisse über die entsprechende Kultur oder die Mentalität der Menschen gewinnen. Der Witz stellt ein wichtiges konzeptuelles und methodologisches Instrument für die Beförderung der Kulturkenntnisse dar (vgl. Apte 1985: 16). In der vorliegenden Arbeit wird eine Vergleichsstudie zu deutschen und chinesischen Witzen durchgeführt, und zwar am Beispiel der ethnischen und der Familienwitze. Zu der ersten Kategorie gehören die Witze, in denen eine spezielle (oft negative) Eigenschaft der Menschen aus einer Region dargestellt wird (vgl. Davies 1990: 1), z.B. die Ostfriesenwitze im Deutschen oder die Schottenwitze im Englischen. Die Familienwitze beschäftigen sich vor allem mit speziellen Eigenschaften der Familienmitglieder oder den Beziehungen zwischen ihnen in familiärem Zusammenhang, z.B. Witze über die Schwiegermutter oder über die Beziehung zwischen Vater und Sohn. In dieser Arbeit wird zuerst versucht, die Frage zu beantworten, warum Witze aus einer anderen Kultur nicht witzig oder verständlich sind. Danach werden Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen deutschen und chinesischen Witzen herausgearbeitet, damit die Leser Einsichten in die Humorkultur der beiden Länder 2 Psychologie Heute Compact: Lebensfreude - 7 Strategien der Lebenskunst. Weinheim: Beltz Verlag. 14 bekommen und Missverständnisse in der Kommunikation zwischen Deutschen und Chinesen in gewisser Hinsicht vermieden werden können. 1.2 Theorie, Korpus und Methode Die Untersuchung wird auf Grund der Semantischen Skript Theorie über Humor – SSTH (Raskin 1985) und deren Erweiterung der Generellen Theorie des Verbalen Humors – GTVH (Attardo/Raskin 1991) durchgeführt. Nach dem Hauptgedanken der SSTH lässt sich ein Witztext auf zwei verschiedene Weisen interpretieren, die im Zusammenhang mit der Witzanalyse auch als zwei Skripten bezeichnet werden. Das eine Skript entspricht der Erwartung des Lesers/Hörers von der Geschichte im Witztext, während das andere Skript auf das reale Geschehen verweist, das der Witztext am Ende dem Leser/Hörer zeigt. Nach der SSTH sind die beiden Skripte einerseits miteinander verbunden, andererseits stehen sie in Opposition zueinander. In der GTVH werden zusätzlich neben der Skriptopposition fünf weitere Faktoren eingeführt, die zur Beschreibung eines Witztextes beitragen3. In dieser Arbeit werden vier Faktoren aus der GTVH für die Witzanalyse gewählt: Die Zielscheibe, die Skriptopposition, die Situation und die Erzählform. Als Zielscheibe werden die Personen bezeichnet, die im Witz präsentiert und verlacht werden. Mit der Skriptopposition werden die Eigenschaften, die den Zielscheiben im Witz zugeschrieben werden, analysiert. Die Situation bezieht sich vor allem auf die Aktivitäten, den Ort oder andere Rahmenbedingungen, die im Witz dargestellt werden. Als Erzählform gilt die Gattung, in der der Witzinhalt ausgedrückt wird. Neben diesen vier Aspekten wird noch ein anderer Parameter, das Hintergrundwissen des Lesers/Hörers eingeführt. (Darunter versteht man die verschiedenen Wissensarten, die der Leser/Hörer beim Bilden seiner Erwartung von dem Witzgeschehen benutzt hat.) Das Korpus besteht aus ungefähr 1200 ethnischen und Familienwitzen, die vier Webseiten und zwei neu veröffentlichten Witzbüchern4 jeweils im Deutschen bzw. im Chinesischen entnommen wurden. Die Entscheidung für aktuelle Witze liegt an 3 Eine genaue Erläuterung der beiden theoretischen Ansätze siehe Kapitel 3 und 4. Die vier chinesischen Webseiten für Witz und Humor sind: http://joke.tom.com, http://www.sunvv.com, http://www.haha365.com und http://www.jokescn.com. Die beiden chinesischen Witzbücher sind jeweils im Jahre 2002 bzw. 2003 erschienen. Die vier deutschen Webseiten sind: http://www.witz-des-tages.de, http://www.dein-witz.de, http://www.witzdestages.net und http://www.witzcharts.de. Die beiden Witzbücher wurden 2003 bzw. 2005 veröffentlicht. 4 15 deren enger Verbundenheit mit der Zeit. Als ein kulturelles und soziales Phänomen bezieht sich Witz meistens auf die aktuellen Ereignisse oder Themen in einer Gesellschaft. Deshalb ist es nötig, die neu erschienenen Witze zu untersuchen, wenn man die chinesische und die deutsche Gesellschaft bzw. Kultur in der Gegenwart kennen lernen will. Bei der Zusammenstellung des Korpus wurde auch eine Umfrage unter 20 Deutschen und 20 Chinesen durchgeführt. Dabei sollte jede/jeder Befragte zumindest drei Witze, die sie/er gut kannte, aufschreiben. Es stellte sich heraus, dass die meisten Teilnehmer weniger als drei Witze kannten. Außerdem sind alle von ihnen beigetragenen Witze identisch mit denen, die aus dem Internet ausgewählt worden waren. Aus diesem Grund wurden die Beispiele nur den Webseiten und den neueren Witzbüchern entnommen. Die Forschung selbst wird nach der induktiven Methode durchgeführt. Dabei werden alle gesammelten Witze nach den oben genannten fünf Aspekten analysiert. Die Ergebnisse werden gemäß den verschiedenen Faktoren zusammengestellt, diskutiert und zwischen den beiden Sprachen verglichen. 1.3 Struktur Diese Arbeit besteht aus sieben Kapiteln. Kapitel 1 gilt als Einleitung und gibt einen Überblick über die gesamte Arbeit. In Kapitel 2 werden zuerst die Grundbegriffe im Chinesischen bzw. im Deutschen, die mit dem Phänomen Witz zusammenhängen, erläutert. Anschließend werden die Geschichte und der aktuelle Stand der Witzforschungen in Deutschland und in China vorgestellt. Kapitel 3 befasst sich mit der Analyse der grundlegenden Eigenschaften des Witzes – Abhängigkeit von den Menschen, Zeiten und Kulturen bzw. Gegensätzlichkeit zwischen den Erwartungen des Lesers/Hörers auf der einen Seite und dem realen Geschehen im Witz auf der anderen Seite. In Kapitel 4 werden die verschiedenen Faktoren, die auf die Analyse und den Vergleich der Witze angewendet werden, ausführlich dargelegt. Kapitel 5 und 6 stellen die empirischen Teile dieser Arbeit dar, die sich mit der konkreten Analyse der ethnischen und der Familienwitze bzw. dem Vergleich zwischen dem Deutschen und dem Chinesischen beschäftigen. Im letzten Kapitel werden die Untersuchungs- und Vergleichsergebnisse zusammengefasst. Außerdem wird ein Ausblick auf die zukünftigen Forschungen in diesem Bereich gegeben. 16 2. Zur Forschungsgeschichte über Witz als Phänomen im Westen bzw. in China Humor ist, wenn man trotzdem lacht. - Otto Julius Bierbaum Im Deutschen denkt man bei dem Begriff Witz vor allem an die kurzen Geschichten oder Dialoge, die zum Lachen reizen (Duden 1999), Z.B. in (1): (1) Er kann gut Witze erzählen. Neben dieser Bedeutung lässt sich der Witz auch als eine Fähigkeit verstehen, Lustiges treffend zu erzählen oder sich schlagfertig und geistreich zu äußern (Brockhaus 1984, Duden 1999), wie in (2): (2) Er hat viel Witz. Diese Unterscheidung geht auf die Geschichte des Wortes Witz zurück, das seinen Ursprung in dem indogermanischen vid, dem griechischen bzw. dem lateinischen videre hat (Blasius 2003: 3). Im Mittelalter hieß diu wizze soviel wie Denkkraft, Klugheit, gesunder Menschenverstand, wobei mehr an eine erworbene als an eine angeborene Eigenschaft gedacht ist. Ende des 17. Jahrhunderts verengte sich die Bedeutung unter dem Einfluss des Französischen und meinte etwa dasselbe wie das noch heute geläufige Fremdwort Esprit; witzig hieß soviel wie geistreich und bezeichnete besonders die geschwinde Gedankenverbindung, die intellektuelle Kombination, die geistige Beweglichkeit, die Leichtigkeit des Beziehens und Assoziierens. Erst mit dem 19. Jahrhundert wurde es üblich, das Wort in erster Linie auf die Produkte witziger Äußerungen zu beziehen und in diesem Sinne von einem Witz zu sprechen (Preisendanz 1970: 7-8). Die chinesische Entsprechung für Witz ist ュ䆱(xiàohua). ュ(xiào) bedeutet lachen, während 䆱 (hua) für Wort steht. Deshalb versteht man unter ュ䆱 (xiàohua) direkt „Wort zum Lachen“. Im Lexikon lässt sich dieser Begriff in den folgenden zwei Möglichkeiten erläutern: 1. Kurze Dialoge oder Geschichten, die zum Lachen reizen. 2. Verlachen (LMC5 2002). Man kann sehen, dass die erste Bedeutung des Begriffs ュ 䆱 (xiàohua) mit dem Witz im Deutschen als „sprachlichem Gebilde“ identisch ist, 5 Abkürzung für das Lexikon des Modernen Chinesischen, 2002. Beijing: Shangwu Verlag. 17 während die andere Interpretation vom Witz als „Schlagfertigkeit“ bei dem chinesischen ュ䆱 (xiàohua) keine Entsprechung findet. Letzteres konzentriert sich mehr auf die soziale Funktion, das Lachen. Das chinesische Wort für Lachen - ュ (xiào) erscheint in den Titeln von mehreren Witzsammlungen, z.B. ュᵫ6(Xiào Lín, Das Lachwäldchen) aus dem dritten Jahrhundert, ュ ᑰ (Xiào F, Die Lachschatzkammer) und ᑓュᑰ(Gung Xiào F, Die Große Lachschatzkammer) aus dem 16. Jahrhundert. In diesem Kapitel werden zuerst die Begriffe, die mit Witz oder ュ 䆱 (xiàohua) zusammenhängen, erläutert und ihr Vorkommen in den beiden Sprachen Deutsch und Chinesisch verglichen, dann wird ein Überblick über die Geschichte der Forschungen zum Witz oder ュ䆱(xiàohua) im Westen bzw. in China gegeben. 2.1 Begriffsbegrenzungen 2.1.1 Witz, Humor und Komik im Deutschen Wie oben erläutert, gilt der Witz im Deutschen entweder als ein sprachliches Gebilde, das zum Lachen reizt, oder als eine Fähigkeit, sich geistreich und lustig zu äußern. Diese Fähigkeit bezeichnet Jean Paul auch als ästhetischen Witz, d.h., spontan “das Verhältnis der Ähnlichkeit unter größerer Ungleichheit versteckt” zu finden (Marfurt 1977: 2). Diesen Gedanken hat er auch mit einer Metapher ausgedrückt: „Der Witz ist der verkleidete Priester, der jedes Paar traut.“ Theodor Fischer fügt die Fortsetzung an: „Er traut die Paare am liebsten, deren Verbindung die Verwandten nicht dulden wollen“ (Freud 1905: 7-8). André Jolles begreift den Witz als „einfache Form“, als literarische Gattung im weitesten Sinn. Bestimmungsmerkmal des Witzes ist, „dass in der Form Witz, wo immer wir sie finden, etwas gelöst wird, dass der Witz irgendein Gebundenes entbindet“, womit die Aufhebung eines erwarteten Zusammenhangs gemeint ist (Jolles 1930; 1968: 248). Bemerkenswert an dieser Darstellung ist, dass trotz der rein “morphologischen” Bestimmung der Gattung Witz das dynamische Moment seiner Wirkungsweise in der Definition erhalten bleibt (Jolles 1930; 1968: 252). Hier wird 6 ュᵫ(Xiào Lín) ist die erste Witzsammlung in der chinesischen Geschichte. Sie wurde im dritten Jahrhundert von dem Literaten Handan Chun aus dem Wei-Königreich herausgegeben. Obwohl nur 20 Witze in diesem Buch zusammengestellt wurden, zählt xiào lín zu den wichtigsten Werken in der ganzen Geschichte der chinesischen Humorkultur (Hu 1987: 14). 18 in den Text verlegt, was bei den früheren Autoren noch vor allem als Leistung der ästhetischen Vorstellungsart begriffen wurde (Marfurt 1977: 4). Ein Begriff, der häufig mit dem Witz zusammen vorkommt, ist der des Humors. Humor wurde ursprünglich aus dem lateinischen Wort hmor entlehnt, das eigentlich „Feuchtigkeit“ bedeutet. In der mittelalterlichen Medizin umfasst hmor auch die „Körpersäfte“, deren Mischung die Temperamente (cholerisch, phlegmatisch, sanguinisch und melancholisch) bewirkt. Deshalb bedeutet hmor auch „Laune, Stimmung“. Im Englischen wird das Wort (eigentlich good humor „gute Säftemischung“) zur Bezeichnung für ein bestimmtes, Heiterkeit und gute Laune ausstrahlendes Temperament benützt. Es liegt also eine Bedeutungsspezialisierung vor, die im 18. Jahrhundert auch ins Deutsche übernommen wurde (Kluge 2002: 426). Heute wird Humor im Deutschen vor allem als „Gabe eines Menschen, der Unzulänglichkeit der Welt und der Menschen, den Schwierigkeiten und Missgeschicken des Alltags mit heiterer Gelassenheit zu begegnen“ bezeichnet (Duden 1999). „Humor ist, wenn man trotzdem lacht“ (Otto Julius Bierbaum). Humor ist einerseits eine angeborene Fähigkeit der Menschen – jedes Baby lächelt und in jeder Interaktion spielender Kinder ist das Lachen wesentliches Element. Andererseits kann man auf Grund von Lebenserfahrungen seinen eigenen Sinn für Humor entwickeln. Das Lernen von Humor ist nicht wie das Beherrschen einer mathematischen Formel oder der Vokabeln einer Fremdsprache, sondern immer eine kreative, tiefsinnige Erfahrung (vgl. ein Interview von Fry in der Zeitschrift „Psychologie Heute“, Heft 190/2005). Neben dem Humor gibt es noch einen anderen Begriff, der ebenfalls eng mit dem Witz zusammenhängt, die Komik. Mit Komik wird die Wirkung einer Situation, einer Person oder einer sprachlichen Äußerung betont, die zum Lachen reizt (Duden 1999, Metzler 2001). Bei der Analyse komischer Effekte wird zwischen mehreren Ebenen unterschieden: entweder dual (Wort- vs. Sachwitz) oder triadisch (Sprach-, Figurenund Situations- bzw. Handlungskomik). Linguistische Untersuchungen von Sprachkomik konzentrieren sich auf die Funktionsweise komischer Textsorten (z.B. Witz) oder auf potentiell komisch wirkende Stilmittel (z.B. Wortspiel, Schüttelreim). Nash (1985) betont, dass es keine sprachlichen Merkmale gibt, die komikspezifisch sind. Was scheinbar intrinsisch komisch ist, habe nur durch seine häufige Verwendung in komischen Kontexten eine entsprechende Färbung angenommen. Figurenkomik entsteht auf der Basis der besonderen Physiognomie oder der 19 Charaktereigenschaften einer meist auf wenige Merkmale reduzierten Figur, die durch Aussehen oder Verhalten von der Norm abweicht und mit der sich der Rezipient nicht identifizieren darf (vgl. Bergson 1988, Stierle 1975). Bei der Handlungs- und Situationskomik wird das Individuum von außen dominiert. Diese Form der Fremdbestimmtheit, die dem Subjekt im Moment des Handelns nicht bewusst ist, zieht das Scheitern der Handlung nach sich, deren Ergebnis nun das Gegenteil der ursprünglichen Handlungsabsicht des Individuums darstellt (Metzler 2001: 317-318). Wenn man die Erläuterung der oben genannten drei Begriffe Witz, Humor und Komik vergleicht, kann man sehen, dass im Deutschen mit dem Humor vor allem die menschliche Gabe gemeint wird, Schwierigkeiten und Unzulänglichkeiten mit Gelassenheit zu begegnen. Der Witz gilt als eine der verschiedenen Formen, die den Humor darstellen, während die Komik sich auf die Wirkung dieser Darstellungsformen bezieht. Gernhardt bezeichnet Humor als eine Haltung, als eine Einstellung, während Komik das Resultat einer Handlung darstellt: „Humor hat man – oder auch nicht, Komik macht man oder entdeckt man.“ (Gernhardt 1996: 11, zitiert nach Lambernd 1998: 26). Zu den Darstellungsformen des Humors gehören neben dem Witz auch noch weitere typische Möglichkeiten, z.B. Karikatur als Bild, Kabarett als Bühnenkunst und Karneval (oder Fasching) als lustige Veranstaltung. Karikaturen sind Bilder, die die Wirklichkeit aus kritischem Blickwinkel erschließen. Die übertreiben, verzerren, blasen ihre Wahrheit auf. Von daher haben sie nicht eine unmittelbare Erkenntnisfunktion. Sie verdeutlichen bestimmte Aspekte, bringen aber kein ausgewogenes Bild des „Ganzen“. Man mag sie aus diesem Grund als ungerecht empfinden, überzogen in ihrer Kritik. Aber das ist gerade ihr Merkmal, ihre Eigenart, ihre Wirkung: Karikaturen sind wie Säuren, die erweisen, was widerstandsfähige, erhärtete Gewissheiten und Überzeugungen sind und was nur so tut (vgl. Fritz 1980: 6) Kabarett ist die Kleinkunst in Form von Sketchen und Chansons, die in parodistischer und witziger Weise politische Zustände oder aktuelle Ereignisse kritisieren (Duden 1999). Anfang der 1880er Jahre wurde in Paris das erste Kabarett eröffnet. Erst 20 Jahre später gründete Ernst von Wolzogen mit „Überbrettl“ das erste deutsche Kabarett, das später nur noch „Buntes Theater“ genannt wurde. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebte das deutsche Kabarett einen ersten Aufschwung mit dem 20 Hauptvertreter Otto Reuter. Der zweite Boom kam erst in den 1970er Jahren, als sich neue Formen des Kabaretts entwickelten, wie Dieter Hildebrandts kabarettistische TV-Sendung „Notizen aus der Provinz“ und ab 1977 das Szenekabarett „Die 3 Tornados“. In den 1990er Jahren sorgten aber der Comedy-Boom, das Privatfernsehen und die damit verbundene Prioritätensetzung der öffentlichrechtlichen Anstalten und ein geringer werdendes Interesse des Publikums für einen Rückgang von Kabarettprogrammen (Wikipedia). Als Karneval, Fasching oder Fas(t)nacht bezeichnet man traditionell die Zeit der Ausgelassenheit, Fröhlichkeit und überschäumenden Lebensfreude vor Beginn der österlichen Fastenzeit (Passionszeit). Das Wort Karneval bezieht man in Deutschland in erster Linie auf den rheinischen Karneval (Kölner, Düsseldorfer oder Koblenzer Karneval). Als Beginn der Fastnachtszeit galt bzw. gilt in den deutschsprachigen Ländern traditionell der Dreikönigstag (der 1. Januar). In der jüngeren Vergangenheit hat sich indes teilweise eine Vorverlegung auf den 11. November, 11:11 Uhr, eingebürgert. Beim Karneval zieht man bunte Kleider an, trägt übertreibende Masken und macht Umzüge auf der Straße. Früher wollte man damit den Winter vertreiben. Die bösen Geister, die Wachstum und Ernte bedrohen, sollten verscheucht werden. Und die guten Geister, die den Frühling bringen, sollten geweckt werden. Heute glauben nicht mehr viele Menschen daran. Der Höhepunkt des Karnevals ist der Rosenmontag (48 Tage vor dem Osterdatum). Viele Stunden lang gehen die Festzüge mit bunten Wagen und verkleideten Menschen durch die Stadt. Ende des Karnevals ist der Aschermittwoch (46 Tage vor dem Ostersonntag) (vgl. Wikipedia). 2.1.2 ュ䆱(xiàohua), ᑑ咬(yumò) und ⒥】(huáj) im Chinesischen Als eine Art Volksgeschichte zählt ュ䆱(xiàohua) ursprünglich zu den literarischen Formen in der chinesischen Antike (Duan 1991). Zusammen mit den Parabeln aus der Prä-Qin-Zeit (bis 221 v. Chr.), den komischen Theaterstücken (⒥】៣, huájxì) und Sprüchesammlungen (⏙㿔䲚, qngyánjí) gehört ュ䆱(xiàohua) zu den vier originalen Formen des chinesischen Humors (Chen 1985, zitiert nach Liao 2001: 30). Der ursprüngliche Begriff für ュ 䆱 (xiàohua) hieß ׇ䇈 (páishu), was „Worte zum Unterhalten und Verlachen“ bedeutet. Anders als Witz im Deutschen, der von der Geschichte her neben der sprachlichen Form auch Schlagfertigkeit und Intelligenz bedeutet, wurden ュ䆱(xiàohua) / ׇ䇈(páishu), die nur zum Lachen reizten, im alten 21 China von den Intellektuellen als oberflächlich und vulgär betrachtet, es sei denn, wenn mit dem ュ 䆱 (xiàohua) eine moralische Lehre geliefert oder ein von der Gesellschaft nicht akzeptiertes Verhalten verspottet wird (vgl. Liu Xie, Das Herz der Literatur und das Schnitzen des Drachens, Kapitel 15). Das könnte eine der Ursachen dafür sein, dass der Sinn für Humor in der chinesischen Gesellschaft weniger beliebt als im Westen (inkl. Deutschland) ist (Yue 2006). Im modernen Chinesischen heißt das Wort für Humor ᑑ咬(yumò), das zuerst in den 1920er Jahren von dem Linguisten Lin Yutang als eine lautliche Übersetzung für das englische humour verwendet wurde. Das Wort ᑑ咬(yumò) gibt es aber schon lange in der chinesischen Sprache. Es stammt aus dem klassischen literarischen Werk Ἦ䕲 (Chcí) und bedeutet ursprünglich Stille, Ruhe7. Lins Vorschlag geht einerseits auf die ähnliche Aussprache von yumò und humour zurück, andererseits meinte er, dass der beste chinesische Humor ein verstehendes Lächeln statt eines lauten Lachens sei ... Je versteckter und ruhiger der Humor ist, desto besser (vgl. Lin 1924). Heute wird ᑑ 咬 (yumò) vor allem erläutert als: 1. interessant, witzig und bedeutungsvoll; 2. Gabe, durch Übertragung, Satire, Doppelsinn und andere Stilmittel die widersprüchlichen und irrationalen Erscheinungen im Leben zu entdecken und diesen mit einem gut gemeinten Lächeln entgegenzukommen (LMC 2002). Die zweite Interpretation ist ähnlich wie die des deutschen Wortes Humor. Der ursprüngliche chinesische Begriff für Humor ist ⒥】(huáj) (Yue 2006, zitiert nach Kao 1974: Ҏ ). ⒥ (huá) steht für „verwechseln“, während 】 (j) „Gleichheit“ bedeutet (Qian 1979: 316, zitiert nach Zheng 1994: 86). Zusammengesetzt heißt huáj „die Gleichheit (mit dem Unterschied) zu verwechseln“, was ähnlich wie die Definition des ästhetischen Witzes von Jean Paul ist. Im modernen Chinesischen betont ⒥】 (huáj) aber eher die komische Wirkung einer Handlung oder einer sprachlichen Äußerung. Außerdem versteht man darunter auch eine Art Komödie, die besonders in Shanghai und dessen Umgebung bekannt ist (LMC 2002). Fasst man die Erläuterungen von ュ 䆱 (xiàohua), ᑑ 咬 (yumò) und ⒥ 】 (huáj) zusammen, kann man sehen, dass ュ䆱(xiàohua) im Chinesischen vor allem als ein 7 Chcí ist die Gedichtessammlung aus dem Königreich Ch, das vor ca. 2300 Jahren existierte. In Chcí findet man die Wendung ᄨ䴭ᑑ咬(k ng jìng yu mò), die „still und ruhig“ bedeutet. Der Literaturkritiker Wáng Yì (ca. 1. - 2. Jahrhundert n. Chr.) erklärte, dass 咬(mò) in der Wendung auch für „Ruhe“ steht (Hu 1987: 5). 22 sprachliches Gebilde mit der sozialen Funktion Lachen verstanden wird. ᑑ咬(yumò) bezieht sich auf die menschliche Gabe, den Widersprüchen im Leben mit heiterer Gelassenheit zu begegnen. Unter ⒥ 】 (huáj) versteht man ursprünglich die künstlerische Fähigkeit, die Gleichheit mit dem Unterschied zu verwechseln. Im modernen Chinesischen betont dieser Begriff aber eher die Wirkung des Komischen. Zu den verschiedenen Darstellungsformen des Humors gehören neben xiào huà noch einige andere Kunstformen, z.B. ⓿ ⬏ (mànhuà, Karikatur), Ⳍ ໄ (xiàngsheng, komischer Dialog auf der Bühne oder Sprachkabarett), ୰࠻ᇣક(xjù xiopn, kurzes Komödiestück) usw. Im Folgenden werden diese verschiedenen Kunstformen vorgestellt. ⓿⬏ (mànhuà) ist die chinesische Entsprechung für Karikatur, deren Geschichte im 19. Jahrhundert begann, als die westlichen Missionare die ersten Zeitungen in chinesischer Sprache herausgaben. Jedoch reichen die verschiedenen Elemente und spezifischen Stilmittel, die heute in der chinesischen Karikatur Anwendung finden, tief in die künstlerische und kulturelle Tradition Chinas zurück (Bauer 1983: 15, 22). Der bekannte Karikaturist Hua Junwu betont die „enge Beziehung zwischen Poesie und Malerei“ und er hebt hervor, dass die „Methode der Beschreibung in der Poesie, die Verwendung von Sinnbildern, genau die Methode ist, die Karikaturen benötigen“ (Erling/von Graeve 1978: 120-122). Neben den poetischen Emblemen sowie Redewendungen und Sprichwörtern verwendet die chinesische Karikatur auch Allegorien aus alten Fabeln, Sagen und klassischen Romanen wie z.B. aus dem Zyklus der Abenteuergeschichten „Die Räuber vom Liangshan-Moor“, aus der phantastischen Spotterzählung von einem Mönch, einem Schwein und einem Affen in der „Pilgerreise nach dem Westen“ oder aus dem Familien- und Entwicklungsroman „Der Traum der Roten Kammer“ (Bauer 1983: 18-19). Die modernen chinesischen Karikaturen dienen vor allem dazu, durch Übertreibung oder Allegorie die aktuellen Probleme in der Gesellschaft, der Politik oder dem Leben der Chinesen zu kritisieren oder zu verspotten. Es gibt aber auch andere Karikaturen, die sich auf die positive Seite der gesellschaftlichen Erscheinungen konzentrieren. Die berühmtesten chinesischen Karikaturisten aus dem 20. Jahrhundert waren Fang Cheng, Zhang Leping und Feng Zikai. Eine andere Darstellungsform des chinesischen Humors ist die traditionelle Bühnenkunst Ⳍໄ(xiàngsheng, komischer Dialog), die Mitte des 19. Jahrhunderts in 23 Beijing entstanden ist. Dabei bringen die Schauspieler durch Witzerzählen, komische Dialoge oder Nachahmen des speziellen Stils einer Figur das Publikum zum Lachen. Neben der Unterhaltungsfunktion setzt sich xiàngsheng auch zum Ziel, aktuelle Ereignisse oder bestimmte Figuren zu kritisieren oder zu loben. Nach der Zahl der Schauspieler unterscheidet man komische Monologe, Dialoge und Gruppengespräche (LMC 2002). Im Vergleich zu anderen traditionellen Bühnenkünsten, z.B. PekingOper, ist die Sprache von Ⳍໄ(xiàngsheng) viel leichter zu verstehen. Deshalb zählt sie seit deren Entstehung immer zu den beliebtesten Volkskunstformen in China. Besonders in den 1980er Jahren erlebte Ⳍໄ(xiàngsheng) einen großen Aufschwung. Während dieser Zeit konnte man sich jeden Tag im Radio oder Fernsehen zahlreiche xiàngsheng-Stücke anhören oder ansehen. Die berühmtesten Schauspieler waren Hou Baolin, Ma Ji und Jiang Kun. Ende der 1980er Jahre ist eine andere Art der komischen Bühnenkunst entstanden, ୰ ࠻ᇣક (xjù xiopn, kurzes komisches Theaterstück). Sie entwickelt sich so schnell, dass sie in den letzten Jahren sofort die Position von Ⳍໄ(xiàngsheng) ersetzt hat. Auf der großen Veranstaltung zum chinesischen Frühlingsfest8 erweist sich ୰࠻ᇣક (xjù xiopn) häufig als das beliebteste Programm. Der Humoreffekt bei ୰࠻ᇣક (xjù xiopn) wird nicht nur durch die Dialoge der Schauspieler, sondern auch durch deren Gesten, das Bühnenbild, die Musik und das Kostüm erzielt. ୰࠻ᇣક (xjù xiopn) dient vor allem dazu, die aktuellen gesellschaftlichen Erscheinungen witzig darzustellen oder die sozialen Probleme zu kritisieren. Dabei beschäftigen sich die Themen seit einigen Jahren meistens mit der Ehe, Familie, Kindererziehung, mit den Wanderarbeitern. Neben den oben erwähnten speziellen Darstellungsformen des Humors verbindet man in China auch manche traditionellen Veranstaltungen mit komischer Kunst. In vielen Regionen wird zum Feiern des Frühlingsfestes auf Stelzen getanzt. Der Stelzentanz benötigt eine besondere Technik, denn die Schauspieler gehen immer auf ein Meter hohen Stangen. Sie verkleiden sich häufig als bekannte Figuren aus der chinesischen Geschichte oder Literatur, z.B. als Affenkönig oder als Schwein aus dem Roman 8 Das Frühlingsfest gilt als das wichtigste Volksfest in China. Es wird immer zwischen dem 1. und dem 15. Januar nach dem chinesischen Mondkalender gefeiert. Jedes Jahr wird am Silvester (dem letzten Tag nach dem Mondkalender) eine große live Bühnenveranstaltung von der zentralen chinesischen TV-Sendung CCTV organisiert. Zu den aufgeführten Programmen gehören Solo-Gesänge, Chöre, Tänze, komisches Theater, usw. 24 „Der Pilgerreise nach dem Westen“. Durch übertreibende und lustige Gestik, Mimik und Bewegungen bringen die Schauspieler das Publikum zum Lachen. 2.1.3 Vergleich der deutschen und der chinesischen Begriffe In diesem Teil werden die oben genannten deutschen und chinesischen Begriffe, die mit Witz oder xiàohua verbunden sind, verglichen. 1. Witz und ュ䆱(xiàohua) Im Grunde genommen sind Witz und ュ䆱(xiàohua) ähnlich, denn die beiden Begriffe beschäftigen sich mit kurzen Geschichten oder Dialogen, die einen Lacheffekt erzielen. Der Unterschied zwischen ihnen liegt darin, dass der Witz sich auch als die Gabe verstehen lässt, sich geistreich und lustig zu verhalten, während bei ュ 䆱 (xiàohua) mehr dessen soziale Funktion betont wird. Neben der Bedeutung als „Stoff zum Lachen“ lässt sich ュ䆱(xiàohua) auch als „verlachen“ interpretieren. 2. Humor und ᑑ咬(yumò) Humor und ᑑ 咬 (yumò) sind identisch bei der Bedeutung als Fähigkeit der Menschen, den Schwierigkeiten und der Unzulänglichkeit der Welt mit heiterer Gelassenheit zu begegnen, weil beide die Übertragung des englischen Wortes humour sind. Bemerkenswert ist, dass ᑑ 咬 (yumò) ursprünglich im Chinesischen für Stille/Ruhe steht. Der Linguist Lin Yutang hat dieses Wort in den 1920er Jahren als die Übersetzung von humour verwendet, weil er meinte, dass der chinesische Humor statt durch lautes Lachen durch verstehendes Lächeln ausgedrückt worden sei (vgl. Lin 1924). 3. Komik und ⒥】(huáj) Komik und ⒥ 】 (huáj) betonen beide die komische Wirkung einer sprachlichen Äußerung, einer Situation oder einer Figur. Huáj gilt auch noch als das ursprüngliche Wort für Humor in Chinesischen, da es für das Wesen des Komischen steht, nämlich die Gleichheit mit der Verschiedenheit zu verwechseln. 25 4. Karikatur und ⓿⬏(mànhuà) ⓿ ⬏ (mànhuà) ist die chinesische Entsprechung für Karikatur. Beide sind Zeichnungen, in denen das reale Leben durch Übertreibung, Allegorie usw. dargestellt wird. Der Unterschied zwischen den beiden Formen liegt in den Darstellungstechniken: In ⓿⬏ (mànhuà) spielt die chinesische Sprache, die selbst eine Bilderkunst ist, eine große Rolle. 5. Kabarett und Ⳍໄ(xiàngsheng)/୰࠻ᇣક(xjù xiopn) Kabarett und Ⳍໄ(xiàngsheng)/୰࠻ᇣક(xjù xiopn) sind alle Bühnenkunstformen mit komischem Effekt. Wie die Karikatur dient das Kabarett vor allem dazu, das reale Leben oder das politische Geschehen zu verspotten bzw. zu kritisieren, während es in den chinesischen Ⳍໄ (xiàngsheng) oder ୰࠻ᇣક (xjù xiopn) möglich ist, die aktuellen Ereignisse auch in positiver Weise widerzuspiegeln. Was die Darstellungsform betrifft, wird im Kabarett viel gesungen, während der komische Effekt in Ⳍໄ (xiàngsheng) oder ୰࠻ᇣક (xjù xiopn) vor allem durch Dialoge oder Nachahmen der spezifischen Züge einer Figur erzielt wird. Zuletzt gibt es im Westen bestimmte Veranstaltungen, die eng mit dem Komischen verbunden sind, z.B. den Karneval – die Zeit der Fröhlichkeit und des Amüsierens. Im Vergleich dazu gibt es in China keine solchen Feste, obwohl die Chinesen auch manche traditionellen Feiern mit komischer Kunst verbinden, z.B. den Stelzentanz beim Frühlingsfest. Das Komische nimmt aber nur einen kleinen Teil bei dem Feiern dieses größten Volksfestes ein. 2.2 Überblick über die Geschichte der Witzforschungen im Westen bzw. in China 2.2.1 Die Geschichte der Forschungen über Witz und Humor im Westen Die Witzforschung hat im Westen eine lange Geschichte, die auf die griechische und römische Antike zurückgeht (8. Jahrhundert v. Chr. – 476 n. Chr.). Nach Attardo (1994) und Fietz (1996) sind vier Aufschwungphasen in der westlichen Geschichte der Witz- und Humorforschung zu unterscheiden: 1) Die griechische und römische Antike (8. Jahrhundert v. Chr. – 476 n. Chr.) 2) Die Renaissance (14. – 16. Jahrhundert) 26 3) 18. bis Anfang des 20. Jahrhunderts 4) 20. Jahrhundert 1) Die griechische und römische Antike Die Hauptvertreter der Humorforschung in der griechischen Antike sind Platon (428– 348 v. Chr.) und Aristoteles (384–322 v. Chr.). Platon wird allgemein als der erste Theoretiker des Humors betrachtet (vgl. Attardo 1994: 18). Er sieht Humor als die Mischung von Vergnügungen und Schmerz an (Philebus 50 A)9. Humor resultiere aus den ambivalenten Gefühlen gegenüber dem Lächerlichen. Lachen ist im Wesentlichen als Verlachen konzipiert. Der Lachende fühlt sich dem Verlachten gegenüber überlegen. Platons Herabsetzung des Lachens zieht sich durch die Geschichte des Abendlandes (Kotthoff 1996: 11-12). Aristoteles vertritt die Meinung, dass die Komödie Nachahmung von schlechteren Menschen ist, aber nicht im Hinblick auf jede Art von Schlechtigkeit, sondern nur insoweit, als das Lächerliche am Hässlichen teilhat10 (vgl. Attardo 1994: 19). Aristoteles’ These ist identisch mit der Ansicht von Platon, insofern die beiden Humor als etwas Unschönes und Negatives betrachten. Aber der Fortschritt von Aristoteles’ Ansicht liegt darin, dass er gleichzeitig auch den praktischen Gebrauch von Humor berücksichtigt: In seiner Rhetorik (ca. 330 v. Chr.) vertritt er die Meinung, dass der Witz der Argumentation des Redners dienen müsse. Der Sprecher sollte unpassende Witze vermeiden.11 Die Römer waren auf ihren Humor stolz … Die zwei literarischen Hauptgattungen, die dem Humor gewidmet sind, nämlich Komödie und Satire, waren in Rom gut vertreten (Bremmer 1997: 32). Ein wichtiger Humorforscher aus dieser Zeit ist Cicero (106–43 v. Chr.), der sich in seinem berühmten Werk De Oratore mit den folgenden fünf Fragen über Humor auseinandersetzt: 1) Was ist Humor? 2) Woher kommt Humor? 3) Ist Witzerzählen für den Redner passend? 4) Inwieweit ist Witzerzählen passend? 5) Welche Eigenschaften hat Humor? (Unter den fünf Fragen scheint die 9 … Our argument declares that when we are laughing at the ridiculous qualities of our friends, we mix pleasure with pain, since we mix it with envy; for we have agreed all along that envy is a pain of the soul, and the laughter is pleasure, yet these two arise at the same time on such occasions (Philebus 50 A). 10 As for Comedy, it is (as has been observed) an imitation of men worse than average; worse, however, not as regards any and every sort of fault, but only as regards one particular kind of the Ridiculous, which is a species of the ugly… (De Poetics 1449a, zitiert nach Attardo 1994: 19). 11 Aristotle also considers the practical use of humour in the Rhetoric. According to Aristotle, joking must serve the argumentation of the orator. The speaker must be careful to avoid using inappropriate jokes (Rhetorica 1419b, zitiert nach Attardo 1994: 19). 27 letzte für die linguistische Forschung am interessantesten zu sein.) Außerdem führt Cicero eine Unterscheidung zwischen verbalem und referentiellem Humor ein. Das hat einen großen Einfluss auf die späteren Humorforscher ausgeübt12 (Attardo 1994: 26-27). Was die Angemessenheit der Witze betrifft, vertritt Cicero die Meinung, dass der Witz sich innerhalb vorgegebener Grenzen der Ehrbarkeit bewegen muss, um gesellschaftsfähig zu sein ... Gesellschaftliche Kategorien spielen dabei eine Rolle (Bremmer 1997: 33, vgl. Cicero De officiis 1, 103 ff). Die Funktion des Witzes sieht Cicero darin, die gesellschaftlichen Abweichungen zu zeigen und zu korrigieren, und zwar in einer akzeptablen Weise (Attardo 1994: 34, vgl. Cicero De Oratore 2, 236). Quintilian (ca. 35–100 n. Chr.), ein anderer Vertreter der Humorforschung aus der römischen Zeit, betrachtet Humor als ein wichtiges Instrument der Rhetorik. Dabei betont er die Angemessenheit der Witze und deren Entspannungsfunktion für die Seele (Attardo 1994: 29-32). Auf die griechische und römische Antike folgt das Mittelalter (10. – 15. Jahrhundert n. Chr.), ein Zeitraum, in dem das mönchische Modell vorherrscht und das Lachen unterdrückt wurde (Bremmer 1997: 54). Entsprechend wurden in dieser Zeit auch wenige Forschungen über Witz und Humor durchgeführt. Nach dem dunklen Mittelalter begann aber ein neuer Aufschwung der Humorforschung, gleichzeitig auch eine boomende Phase aller anderen Wissenschaftsbereiche, nämlich die Zeit der Renaissance. 2) Die Renaissance In der Renaissance (14. – 16. Jahrhundert) gehen die Wissenschaftler und Künstler auf die Leistungen der antiken griechischen Kultur zurück und entwickeln diese gleichzeitig weiter. Im Bereich der Witz- und Humorforschung ist dies ähnlich. Im 16. Jahrhundert wurden eine Reihe von Forschungen über Humor auf der Basis von Aristoteles’ Poetik bzw. Ciceros De Oratore durchgeführt. Ein wichtiger Vertreter ist Vettore Fausto (1480–1550) mit seinem Werk De Comoedia Libellus (im Englischen „Booklet on comedy”). Dies ist eines der ersten Bücher, die eine Referenz 12 Among those who use the distinction with a different terminology are Morin (1966: 181) “referential vs. semantic”, Eco (1983) “situational play vs. play on words”, Guiraud (1976) “bon mots vs puns”, Hockett (1973) “prosaic vs. poetic”. The distinction is also used by Freud (1905), Piddington (1933), Milner (1972), Todorov (1976), Pepicello and Green (1983), and many others (Attardo 1994: 27). 28 zur Poetik beinhalten. Darin hat Fausto die Opposition von verbal und referentiell erläutert (vgl. Weinberg 1961: 90, zitiert nach Attardo 1994: 34 – 44). Der Wissenschaftler Madius (?–1564) hat in De Ridiculis (1550) den Überraschungseffekt im Witz betont (Attardo 1994: 38). „If ugliness alone was the cause of laughter (the thesis of Aristotle), while it continues to exist, laughter also should continue. But, without ceasing the cause of ugliness, we nevertheless cease laughing; also those things that are ugly but are familiar to us, do not cause laughter. Therefore it is clear enough that the cause of laughter does not reside only in ugliness, but it is also the work of surprise“(Die englische Übersetzung von Madius 155013 stammt aus Weisberg 1970: 99, zitiert nach Attardo 1994: 38). Die meisten Witzforschungen während der Renaissance-Zeit gingen auf die Ergebnisse in der Antike zurück. Aber es wurden auch neue Entdeckungen gemacht, z.B. die Betonung des Überraschungseffekts im Witz. Die Grundauffassungen von Platon und Aristoteles über Humor ziehen sich fast durch die ganze Geschichte des Westens. Thomas Hobbes (1588 – 1679) hat die Gedanken aus der Antike als „Überlegenheitstheorie“ zusammengefasst. Er führte in Treatise of Human Nature (1651) aus, dass wir im Lachen unsere eigene Überlegenheit erlebten angesichts der Schwäche Überlegenheitsgedanke zählt eines zu anderen den drei (Kotthoff wichtigsten 1996: 11). Theorien in Der der Humorforschung. Die anderen zwei Auffassungen werden im nächsten Abschnitt vorgestellt. 3) 18. – Anfang des 20. Jahrhunderts Mit Immanuel Kant (1724–1804) und Arthur Schopenhauer (1788–1860) tritt die Forschung über Witz und Humor in eine neue Phase ein. Die beiden werden als die 13 Si turpitudo tantum esset risus causa, ea perseverante, risum quoque perseverare necesse esset. At nulla cessante turpitudinis causa, cessamus tamen a risu; ea enim turpia quae nobis familiaria sunt risum non movet. Igitur satis constat turpitudinem ipsam tantum risus causam non existere, sed admiratione quoque opus esse. 29 früheren Vertreter der so genannten „Inkongruenztheorie“ betrachtet14 (vgl. Morreal 1987: 45–64), die von Schopenhauer (1819, 1947) so erläutert wurde, dass der Grund für das Lachen in der plötzlichen Wahrnehmung einer Inkongruenz zwischen Konzept und realem Objekt liege (Kotthoff 1996: 10). Diesen plötzlichen Wahrnehmungsprozess sieht Kant als die Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts (Kritik der Urteilskraft § 54, 1790, zitiert nach Preisendanz 1970: 10). Der französische Philosoph Henri Bergson (1859–1941) sieht die Lächerlichkeit auch in einer Inkongruenz, aber nicht einer zwischen Konzept und realem Objekt, sondern in der Inkompatibilität zwischen etwas Lebendigem und etwas Mechanischem (Bergson 1900, 1988: 33). Komisch sind die Handlungen, Gebärden und Bewegungen des menschlichen Körpers genau in dem Maß, wie uns dieser Körper an einen gewöhnlichen Mechanismus erinnert (Bergson 1988: 28). Wir lachen immer dann, wenn eine Person uns an ein Ding erinnert (Bergson 1988: 44). Die Inkongruenztheorie hat einen großen Einfluss auf die späteren linguistischen und kognitiven Humorforschungen ausgeübt (McGhee 1979: 9, Kotthoff 1996: 11), die im folgenden Teil dieses Kapitels näher erläutert werden. Im Jahr 1905 öffnete Sigmund Freud (1856–1939) mit seinem berühmten Werk Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten wieder ein neues Kapitel der Witzforschung. Für Freud und einige seiner Schüler resultiert die Lust am Witz aus einem plötzlichen Abbau von Hemmungsaufwand. Dieser Hemmungsaufwand, den normalerweise Erziehung und Gesellschaft von uns fordern, den uns der Witz doch erspart, entstehe durch das Tabu bestimmter Gedanken, Vorstellungen, Gefühle, Triebregungen, die nicht ins Bewusstsein treten sollen, die blockiert, ausgesperrt, verdrängt, umgangen werden sollen (Preisendanz 1970: 15). Freud gilt als der berühmteste Vertreter der „Entlastungstheorie“ des Humors (Kotthoff 1996: 12). Auch für die erzählende Person resultiert die Lust am Witz aus der Aufhebung der Hemmung. Sie bringt allerdings die Kraft dazu selbst auf. Auch sie kann im Lachen überflüssig gewordene Besetzungsenergie freilassen (Kotthoff 1996: 13). 14 The first authors generally associated with incongruity theories of humor are Kant (1724-1804) and Schopenhauer (1788-1860) (see Morreall 1987: 45-64), but it has been shown, “incongruity based” issues were already discussed in the Renaissance (e.g., Madius) and can be traced back to the earliest theories: for example, Aristotle’s definition of humor as “something” bad was interpreted as meaning something unbefitting, out of place, thus not necessarily “evil” (Attardo 1994: 47-50). 30 Bis Anfang des 20. Jahrhunderts sind die drei Haupterklärungslinien des Humors festgestellt worden: Die Überlegenheitstheorie (Hobbes), die Inkongruenztheorie (Kant, Schopenhauer) und die Entlastungstheorie (Freud). Inkongruenz, Degradation und Entspannung müssen sich in der Scherzkommunikation keinesfalls gegenseitig ausschließen. Sie wirken häufig zusammen, verstärken sich gegenseitig oder schwächen sich wechselseitig ab (Kotthoff 1996: 10). 4) 20. Jahrhundert Seit Anfang des 20. Jahrhunderts beschäftigen sich immer mehr wissenschaftliche Disziplinen mit dem Thema Humor/Witz. Die relevanten Forschungen stammen in erster Linie aus der Literaturwissenschaft, der Soziologie und Volkskunde, aus den Kognitionswissenschaften, der Psychologie und der Linguistik. Im Bereich der Literaturwissenschaft ist André Jolles (1874–1946) ein wichtiger Vertreter der Humorforschung. Er begreift Witz als “einfache Form”, als literarische Gattung im weitesten Sinn. Bestimmungsmerkmal des Witzes ist, “dass in der Form Witz, wo immer wir sie finden, etwas gelöst wird, dass der Witz irgendein Gebundenes entbindet”, womit die Aufhebung eines erwarteten Zusammenhangs gemeint ist (Jolles 1930; 1968: 248). Bemerkenswert an dieser Darstellung ist, dass hier die Gattung Witz in den Text verlegt wird, während er bei den früheren Autoren vor allem als Leistung der ästhetischen Vorstellung begriffen wurde (Marfurt 1977: 4). Wenn es um die Humorforschung in der Soziologie und Volkskunde geht, gehören Herbert Schöffler und Lutz Röhrich zu den wichtigen Vertretern im deutschsprachigen Gebiet. Schöffler hat eine umfassende Forschung zu den ethnischen Witzen des deutschsprachigen Raums durchgeführt (1955) 15 . Röhrich erläutert ausführlich die Figuren, Formen und Funktionen des Witzes (1977)16. Außerhalb des deutschsprachigen Gebietes sind die Forschungen von Avner Ziv (National styles of humour, 1988) und Christie Davies (Ethnic humor around the world, 1990) besonders zu erwähnen. Die beiden haben jeweils eine umfassende Forschung zum Witz aus verschieden Ländern durchgeführt und eine Weltkarte des 15 Schöffler, Herbert (1955, 1995). Kleine Geographie des deutschen Witzes. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht. 16 Röhrich, Lutz (1977). Der Witz: Figuren, Formen, Funktionen. 1. Auflage. Stuttgart: Metzler. 31 Humors zusammengestellt. Während Ziv sich mit dem gesellschaftlichen Hintergrund, den verschieden Darstellungsformen des Humors in jedem Land befasst, geht es in Davies’ Forschung vor allem um die ethnischen Witze aus den verschiedenen Kulturgebieten. In den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts haben Suls, Schultz u.a. Witz in kognitiver Hinsicht analysiert. Suls (1972)17 hat ein Zwei-Phasen-Modell für die Wahrnehmung des Witzes und der Cartoons entwickelt: „In the first stage, the perceiver finds his expectations about the text disconfirmed by the ending of the joke, or in the case of a cartoon, his expectations about the picture disconfirmed by the caption. In other words, the recipient encounters an incongruity – the punch line. In the second stage, the perceiver engages in a form of problem solving to find a cognitive role which makes the punch line follow from the main part of the joke and reconciles the incongruous parts. A cognitive role is defined as a logical proposition, a definition, or a fact of experience. The retrieval of such information makes it possible to reconcile the incongruous parts of the joke“. Nach Schultz’ (1976) 18 Ansicht lassen sich beim Humor ebenfalls zwei Teile unterscheiden, die Entdeckung und die Resolution der Inkongruenz (McGhee 1979: 35). Im Bereich der Psychologie gilt Ruch als ein wichtiger Vertreter im deutschsprachigen Raum. Er hat ein Modell mit drei Witz-Dimensionen (3 WD)19 entwickelt, das als ein Testinstrument für die Wahrnehmung des Humors dienen kann. Außerdem hat er auch eine Reihe von Forschungen über das Verhältnis zwischen dem Humor und der Personalität bzw. interkulturelle Studien über die Wahrnehmung des Humors durchgeführt. 17 Suls, Jerry M. (1972). “A Two-Stage Model for the Appreciation of Jokes and Cartoons: An Information-Processing Analysis”. In: Goldstein, Jeffrey H. and McGhee, Paul E. (eds.) (1972) The Psychology of Humor. Theoretical Perspectives and Empirical Issues. New York and London: Academic Press. 18 Schultz, Thomas R. (1976). “A cognitive developmental analysis of humor”. In: Chapman, Antony J. and Hugh C. Foot (eds.) (1976) Humor and Laughter: Theory, research and applications (1st edn). London: Transaction Publishers. 19 In diesem Modell hat Ruch drei Witz-Dimensionen aufgestellt, um die Beziehung zwischen der Humorwahrnehmung und der Persönlichkeit zu analysieren. Diese drei Dimensionen sind incongruityresolution humor, nonsense humor und sexual humor. Siehe bitte die folgende Literatur: Ruch, Willibald (1992). “Assessment of appreciation of humor: Studies with the 3 WD humor test”. In: Butcher, James N. and Charles D. Spielberger (eds.) Advances in Personality Assessment. Vol. 9. Hillsdale: Erlbaum, 27-75. 32 Seit den 1970er Jahren gilt Humor/Witz auch als Gegenstand der linguistischen Forschungen. Zuerst wird Witz mit der Einführung der Textlinguistik auf der Textebene analysiert. Preisendanz betrachtet Witz in erster Linie als ein Sprachgebilde, einen Text, der nicht durch den Gegenstand seiner Aussage, sondern durch die Art und Weise des Aussagens definiert ist (Preisendanz 1970: 17). Das spezifische Witzige liegt darin, dass sich “in der Aussage Gemeintes und Mittel des Meinens voneinander abheben” (Preisendanz 1970: 21, zitiert nach Marfurt 1977: 4). Marfurt untersucht Witz in seiner linguistischen Arbeit „Textsorte Witz“ (1977) unter zwei zentralen Aspekten: Interaktionsmuster (Witzerzählen) und Vertextungsmuster. Außerdem hat er weitere wichtige Aspekte der Textsorte Witz analysiert: die Techniken, die Strukturen und die Funktionen des Witzes. Raskin führt den Gedanken der semantischen Skripte für die Witzanalyse ein (1985). Er behauptet, dass jeder Witztext mit zwei Skripten kompatibel ist, die sich sowohl überlappen, als auch in Opposition zueinander stehen (vgl. Raskin 1985: 99). Einige Jahre später wurde die Semantische Skript Theorie des Humors (SSTH) von Attardo und seinem Lehrer Raskin weiter zur Generellen Theorie des Verbalen Humors (GTVH) entwickelt (Attardo/Raskin, 1991). In der erweiterten Auffassung werden neben der Skriptopposition fünf andere Faktoren ergänzt und analysiert, die für die Beschreibung des Witztextes relevant sein sollen. In Kapitel 3 und 4 werden die SSTH und die GTVH ausführlich erläutert. Seit Mitte der 80er Jahre befasst sich auch die Semiotik mit dem Thema Humor und Witz. Auf Grund der Theorie von Morris20 unterscheidet Wenzel in seiner Arbeit Von der Struktur des Witzes bis zum Witz der Struktur (1989) drei semiotische Dimensionen: Zeichensemantik, Zeichensyntaktik und Zeichenpragmatik. Die Zeichensemantik teilt er weiter in vier Erklärungsmodelle: Begriffsdissoziation, Begriffskonsoziation, Durchbrechung des Bezugsrahmens und Herstellung des Bezugsrahmens, die alle der Witzpointierung dienen sollen (Wenzel 1989: 30ff). Für Kotthoff ist Witz vor allem ein Untersuchungsgegenstand in der mündlichen Kommunikation, deshalb beschäftigt sie sich mit Forschungen zu den Erzählstilen der mündlichen Witze (1994, 1995, 1996). Außerdem hat sie auch den Umgang der beiden Geschlechter mit Humor und Witz beobachtet (1996). 20 Morris, Charles W. (1938). Foundations of the Theory of Signs. International Encyclopedia of Unified Science. Vol. 1, No. 2. Chicago. 33 Nachdem wir einen Überblick über die Witz- und Humorforschung im Westen gegeben haben, gehen wir im nächsten Teil auf die Entwicklungsgeschichte von ュ䆱 (xiàohua) und ᑑ咬(yumò) in der chinesischen Kultur ein. 2.2.2 Die Geschichte der Humorkultur in China Als eine Gattung der Volkskunde lässt sich xiào huà bereits in der Prä-Qin-Zeit (vor 221 v. Chr.) in China finden, während die wissenschaftlichen Forschungen über xiào huà und yu mò erst im 20. Jahrhundert angefangen haben (Duan 2001). Deshalb geht es in diesem Teil nicht um die Geschichte der Forschungen über xiào huà, sondern die Entwicklung der Humorkultur in China. Der moderne Linguist Hu Fanchou (1987) hat vier Aufschwungsphasen in der Geschichte des chinesischen Humors zusammengefasst: 1) Prä-Qin-Zeit (bis 221 v. Chr.) 2) Wei-Jin-Zeit (220–420 n. Chr.) 3) Ming-Zeit (1368–1644 n. Chr.) 4) 20. Jahrhundert 1) Prä-Qin-Zeit ( bis 221 v. Chr.) Qin ist die Bezeichnung der ersten Dynastie in der chinesischen Geschichte. Sie entstand aus dem Königreich Qin und einigte unter Fürst Ying Zheng im Jahr 221 v. Chr. das ganze Land. Danach existiert China die meiste Zeit als ein einheitliches Land. Vor der Entstehung der Qin-Dynastie befanden sich auf dem heutigen chinesischen Gebiet verschiedene Königreiche, z.B. Qin, Qi, Chu, Yan, Han. Unter ihnen gab es lange Zeit Kriege, weil jeder Fürst das ganze Land beherrschen wollte. Um die Kriege zu gewinnen, hatte jeder Fürst zahlreiche Berater angestellt, die den Regierenden bei deren Entscheidungen helfen sollten. Außerdem wurden auch noch Komiker für die Unterhaltung der Fürsten in der Freizeit angestellt. Viele Komiker spielten aber gleichzeitig auch die Rolle der Berater, indem sie durch Witzerzählen indirekt den Regierenden Vorschläge zu deren Politik machten (Sima Qian21, zitiert nach Hu 1987: 10). Ein bekannter Komiker unter ihnen war You Meng aus dem 21 Sima Qian (145–87 v. Chr.) ist einer der größten Historiker im alten China. Er lebte in der HanDynastie (202 v. Chr.–200 n. Chr.) und erarbeitete 104–93 v. Chr. das große historische Werk Sh Jì („Die Geschichte”). Das ist die erste Zusammenstellung der chinesischen Geschichte von der Antike bis zur Han-Dynastie, die länger als 3 000 Jahre umfasst. 34 Königreich Chu. Er hat einmal Fürst Xiong Lü davon abgeraten, sein Lieblingspferd mit großem Aufwand zu beerdigen. Die Geschichte von You Meng sieht wie folgt aus. (3) Das Lieblingspferd des Fürsten Xiong Lü ist gestorben. Der Fürst war tief traurig und erteilte den Befehl, dass sein Pferd nach dem Standard eines hohen Beamten beerdigt werden sollte. Dagegen durfte niemand protestieren. Als You Meng das erfahren hatte, ging er zu dem Fürsten und sagte ihm, dass die Ausgaben für die Beerdigung des Pferdes immer noch zu wenig seien. Das Tier sollte wie ein Fürst begraben werden. Als Xiong Lü das hörte, kriegte er einen roten Kopf, denn er wusste, was You Meng damit meinte. Nach ein paar Tagen hob er seinen Befehl auf und nahm einen anderen Vorschlag von You Meng an, das Pferd mit Ingwer, Datteln und Getreide im Menschenmagen zu entsorgen. D.h., das Pferd wurde gekocht und als Essen an alle verteilt. (vgl. Hu 1987: 10, Übersetzung der Autorin). Witze aus der Prä-Qin-Zeit wurden nicht nur am Königshof erzählt, sondern auch unter den einfachen Leuten in den Städten oder auf dem Lande. In der folgenden Geschichte22 geht es um einen Bauern aus dem Königreich Song. (4) Es war ein Bauer im Königreich Song. Er arbeitete jeden Tag hart in seinem Feld, aber die Pflanzen wuchsen trotzdem sehr langsam. Eines Tages wurde er ungeduldig und zog selbst die Pflanzen höher. Als er zu Hause seiner Familie davon erzählte, wurde sein Sohn sehr neugierig und ging sofort ins Feld, um sich die gezogenen Getreidepflanzen anzugucken. Als er dort ankam, sah er, dass alle Pflanzen schon verwelkt waren. In dieser Geschichte wird die Dummheit des Bauern dargestellt, der die Naturregel gebrochen hat, um eine gute Ernte zu bekommen. Zum Schluss musste er negative Folgen tragen. Diese Geschichte ist heute immer noch sehr beliebt in China. Man erzählt sie, um den Menschen die Wichtigkeit der Naturregeln darzustellen. 22 Diese Geschichte stammt aus dem bekannten Werk des Konfuzianismus Mèng Z, das nach dem Namen des Verfassers Meng Zi (ca. 385-304 v. Chr.), einem Schüler von Konfuzius’ Enkel und gleichzeitig auch dem zweitwichtigsten Vertreter des Konfuzianismus, genannt wird. 35 2) Wei-Jin-Zeit (220 – 420 n. Chr.) 23 Der zweite Aufschwung der chinesischen Humorkultur fand in der Wei-Jin-Zeit (220420 n. Chr.) statt. Nach der Qin-Dynastie trat China in eine 400-jährige einheitliche Geschichte. In der darauf folgenden Wei-Jin-Zeit wurde das Land jedoch wieder in einige Königreiche aufgeteilt, die sich langjährig im Kampf gegeneinander befanden. Aus diesem Grund wurde die Kultur weniger stark kontrolliert als in den vorherigen Zeiten, in denen eine einheitliche Regierung herrschte. Entsprechend hat sich die Humorkultur während der Wei-Jin-Zeit auch schnell entwickelt. Im dritten Jahrhundert n. Chr. entstand in China die erste Witzsammlung Xiào Lín – „Das Lachwäldchen“, die von dem damaligen berühmten Literaten Handan Chun aus dem Wei-Königreich zusammengestellt wurde (siehe Fußnote 6). Im Folgenden wird ein bekannter Witz24 aus diesem Buch zitiert: (5) Es war einmal ein Mann aus dem Königreich Lu. Er wollte mit einer langen Bambusstange durch ein Stadttor gehen. Zuerst trug er die Stange in senkrechter Richtung. Aber das Tor war zu niedrig für die Stange. Dann drehte er die Stange in waagerechter Richtung. Das Tor war wieder zu eng für die Stange. Später kam ein Alter, der zu dem jüngeren sagte: „Ich bin kein kluger Mensch, aber ich habe in meinem Leben viel erlebt. Warum sägst du nicht die Stange in zwei Teile?“ Der junge Mann fand die Idee gut. Er sägte die Stange in der Mitte durch und ging endlich durch das Tor. Auch in der Wei-Jin-Zeit begannen die chinesischen Gelehrten mit der Suche nach einer reinen Literatur und einer reinen Kunst. Der moderne Ästhetiker Li Zehou betrachtet diese Zeit als die der Geistesbefreiung der chinesischen Intellektuellen nach jahrhundertlanger Kontrolle. Während der Wei-Jin-Zeit sind eine rein rationale Philosophie und eine rein gefühlsbetonte Literatur entstanden (Li 1981: 86-87, zitiert nach Hu 1987: 15-16). Wenn man die Wei-Jin-Zeit als den ersten Aufbruch in der chinesischen Kulturgeschichte betrachtet, in der das individuelle Bewusstsein erblühte, dann ist die Ming-Dynastie (1368-1644) das zweite Aufwachen der Menschen, die sich wieder 23 24 Wei und Jin sind beides Bezeichnungen der Dynastien in der chinesischen Geschichte. Die zitierten chinesischen Witze wurden von der Verfasserin selbst ins Deutsche übersetzt. 36 mit der Suche nach ihrem inneren Willen befassten. Entsprechend gilt die MingDynastie auch als ein neuer Aufschwung in der Geschichte der Humorentwicklung (vgl. Hu 1987: 16). 3) Ming-Dynastie (1368-1644) Die chinesische Ming-Dynastie entspricht der Zeit der westlichen Renaissance. Während dieser Phase erlebte die chinesischen Literatur und Kunst auch ihren Entwicklungshöhepunkt. Zum Witz wurde so viel und erfolgreich geforscht wie nie zuvor. Nach Hu ist die Zahl der Verfasser bzw. der Herausgeber der Witzsammlungen allein in der Ming-Dynastie größer als die aus der ganzen vorherigen Zeit, wie die folgende Tabelle darstellt (Hu 1987: 16, zitiert nach Wang Liqi 1981). Dynastien Wei Jin Sui Tang Song Yuan Ming Qing Zahl der Verfasser/ 1 1 3 3 19 2 49 20 Herausgeber der Witzsammlungen Tabelle 1: Die Zahl der Verfasser/Herausgeber der Witzsammlungen in den chinesischen Dynastien Ein berühmter Literat aus dieser Zeit war Feng Menglong (1574 - 1646). Er hat drei Witzsammlungen herausgegeben: Xiào F (Lachschatzkammer), Gu ng Xiào F (Große Lachschatzkammer) und G Jn Xiào (Lachen in den alten und den neuen Zeiten). Eine große Menge Witze aus seinen Sammlungen sind bis heute überliefert worden. Ein Beispiel aus dem Gu ng Xiào F ist das folgende: (6) Ein neuer Bürgermeister fragte seine Beamten: „Wie soll ich mich als Regierungschef benehmen? “ Darauf antwortete ein Beamter: „Im ersten Jahr muss alles klar sein, im zweiten Jahr halb klar, ab dem dritten Jahr darf es schmutzig (Korruption) werden.“ Der Bürgermeister seufzte: „Wie kann man bis zum dritten Jahr durchhalten!“ 37 Außerdem findet man in den literarischen Werken der Ming-Dynastie auch zahlreiche witzige Figuren, die heute immer noch sehr beliebt bei den Chinesen sind, z.B. Sun Wukong und Zhu Bajie aus dem Roman „Die Pilgerreise nach dem Westen“. Darin handelt es sich um einen Mönch, der mit seinen drei Schülern zum westlichen Himmel (im heutigen Indien) reist, wo er Buddhas heilige Schriften bekommen und sie dann zurück nach China bringen soll. Sun Wukong, einer der drei Schüler, war der Affenkönig und auch eine mythische Kreatur mit einer Mischung aus großem Mut, ungewöhnlicher Weisheit und viel Humor. Zhu Bajie, ein anderer Schüler des Mönchs, war ein Schwein und wurde später in einen Menschen verwandelt. Er steht für Faulheit und gilt als eine besonders witzige Figur in dem Roman. Der vierte Aufschwung der Humorkultur findet im 20. Jahrhundert statt, in dem die westliche Kultur nach China eingeführt wurde. 4) 20. Jahrhundert Die Vierte–Mai–Studentenbewegung im Jahr 1919 ist ein Meilenstein in der chinesischen Geschichte, weil von da an westliche Kultur und Gedanken nach China übertragen wurden und einen immer größeren Einfluss auf die einheimische Tradition ausübten. Die Humorkultur erlebte im 20. Jahrhundert in China auch wieder einen Aufschwung. Der berühmte Schriftsteller Lu Xun (1881-1936) hat in seinem wissenschaftlichen Werk Kurze Geschichte der chinesischen Romandichtung (1923) die Witzsammlungen in der ganzen chinesischen Geschichte zusammengefasst und ausführlich vorgestellt. Auf dieser Grundlage hat der Literaturkritiker Zhao Jingshen (1902-1985) in den 1930er Jahren das Buch Überblick über die chinesischen Witze geschrieben, in dem er nicht nur jede Witzsammlung vorstellt und beurteilt, sondern auch Witze mit demselben Thema aus verschiedenen Zeiten miteinander vergleicht und analysiert (vgl. Duan 1994). Anfang des 20. Jahrhunderts gingen viele chinesische Gelehrte in die USA oder nach Europa, um dort fortschrittliche Techniken und Gedanken kennen zu lernen. Sie brachten später nicht nur die moderne Industrie nach China zurück, sondern auch westliche Gedanken, Vorstellungen und Theorien aus verschiedenen Disziplinen. Einer von ihnen ist der Schriftsteller und Linguist Lin Yutang (1895-1976), der 19191921 an der Universität Harvard kontrastive Literaturwissenschaft studierte und 1923 in Leipzig in Linguistik promovierte. 1924 gründete er die literarische Zeitschrift Lún 38 Y und begann mit der Vorstellung der westlichen Theorien über Humor und Witz. Er gilt auch als der erste Wissenschaftler, der den Begriff ᑑ 咬 (yumò) für die Übersetzung des englischen Wortes „humor“ benutzt hat (siehe Kapitel 2.1.2). Während sich die chinesischen Wissenschaftler in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem mit der Vorstellung und der Beurteilung der Witzsammlungen befassten, begannen sie in der zweiten Hälfte mit einer Reihe von wissenschaftlichen Forschungen zu Humor und Witz in verschiedenen Disziplinen, wie der Linguistik, der Volkskunde, der Psychologie, der Ästhetik, usw. Der Linguist Hu Fanchou gab mit seinem Buch Linguistik des Humors (1987) einen Überblick über die Entwicklung der Humorkultur in China und erläuterte darüber hinaus die Tiefen- und die Oberflächenstrukturen der Witztexte. Der Ethnologe Duan Baolin analysierte die Witze über „Afanti“ (Nasrettin Hoca), eine weise Figur in der islamischen Kultur, und schrieb das Buch Lachen – über die Geschichten von Afanti (1988). Außerdem fasste der Literat Yu Dequan (1988) die verschiedenen Themen in den modernen chinesischen Witzen zusammen, wobei er die komischen Figuren aus der ganzen Humorgeschichte vorstellte und die künstlerischen Techniken im Witz analysierte. Weitere relevante Veröffentlichungen aus der chinesischen Humorforschung im 20. Jahrhundert sind: 1. Xiao, Sa / Wang, Wenqin (1989). Psychologie des Humors. 2. Duan, Baolin (1991). Witz – die Komödienkunst der Menschenwelt, früher als Ästhetik des Witzes publiziert. 3. Wang, Jianping (1992). Der Humor und die Weisheit der Logik. Außerdem wurden jedes Jahr zahlreiche Witzblätter in China veröffentlicht. Dabei findet man viele Witzbeispiele sowohl in den gedruckten Medien als auch im Internet. Die bekannten chinesischen Webseiten zu Humor und Witz sind z.B.: http://www.haha365.com http://joke.tom.com http://www.sunvv.com http://www.jokescn.com 2.2.3 Vergleich der Forschungsentwicklungen Vergleichen wir die vier Aufschwungphasen der westlichen Forschung über Humor/Witz und die in der chinesischen Humorgeschichte, können wir sehen, dass 39 die wichtigen Phasen im Großen und Ganzen in den gleichen Zeitabschnitten übereinstimmen. Die griechische und römische Antike (8. Jahrhundert v. Chr. – 476 n. Chr.) entspricht den ersten zwei Aufschwungphasen in China – der Prä-Qin-Zeit (Antike bis 221 v. Chr.) und der Wei-Jin-Zeit (220-420 n. Chr.). Die Renaissance (14. – 16. Jahrhundert) ist mit der chinesischen Ming-Dynastie (14. – 17. Jahrhundert) vergleichbar. Nur für den dritten Aufschwung im Westen (18. – Anfang 20. Jahrhundert) gibt es keine Entsprechung in der chinesischen Humorkultur. Die vierte boomende Phase fällt sowohl in Europa als auch in China ins 20. Jahrhundert. Die folgende Tabelle zeigt einen Überblick über die verschiedenen Phasen. Aufschwungphasen im Westen Zeit Aufschwungphasen in China Die griechische und die römische Antike 8.Jh. v. Chr. bis 221 v. Chr. 221 v. Chr. bis 220 n. Chr. 220 n. Chr. bis 5. Jh. 5. Jh. Die Prä-Qin-Zeit Die Wei-Jin-Zeit bis Mitte 14. Jh. 14. Jh. bis 17. Jh. 18. Jh. bis Anfang 20. Jh. 20. Jh. bis heute Die Renaissance 18. Jh. bis Anfang 20. Jh. 20. Jh. bis heute Die Ming-Dynastie 20. Jh. bis heute Tabelle 2: Aufschwungphasen der Humorkultur im Westen bzw. in China Aber wenn man die Forschungsergebnisse über Humor und Witz im Westen mit denen in China vergleicht, findet man sofort einen großen Unterschied zwischen beiden. Während in Europa seit der Antike immer wissenschaftliche Auseinanderstetzungen über das Wesen von Witz und Humor stattfanden, befassten sich die chinesischen Literaten in der Geschichte vor allem mit dem Zusammenstellen von Witzsammlungen und deren Beurteilung. Dabei legte man größeren Wert auf die 40 sozialen Funktionen des Witzes als auf den Grund zum Lachen oder auf das Wesen des Humors. Die geringe Forschung zum Witz geht in China auf die Morallehren des Konfuzianismus zurück, der seit dem ersten Jahrhundert v. Chr. als das wesentliche moralische Prinzip in der chinesischen Gesellschaft gilt. Nach den Gedanken des Konfuzianismus sollen die Menschen ihre inneren Gefühle kontrollieren und das Lachen in seriösen Situationen vermeiden 25 . Außerdem herrschte unter den chinesischen Intellektuellen lange Zeit der Gedanke vor, dass der Witz nur dem Spaß dient und deshalb unwichtig für die Entwicklung der Gesellschaft sei, weil er keinen Beitrag zur Förderung der menschlichen Moral leiste26. Auch Lin Yutang, der erste chinesische Humorforscher im 20. Jahrhundert, vertritt die Ansicht, dass die Menschen Humor im Schreiben statt im Verhalten zeigen sollen (Liao 2001). 2.3 Fazit In diesem Kapitel wurden zuerst die deutschen und die chinesischen Begriffe, die mit Witz oder xiàohua zusammenhängend sind, aufgelistet, erläutert und in den beiden Sprachen verglichen. Dabei hat es sich herausgestellt, dass Witz und xiàohua, Humor und yumò, Karikatur und mànhuà im Großen und Ganzen miteinander identisch sind. Wenn es um die Unterhaltung auf der Bühne geht, gibt es in Deutschland das Kabarett, während in China vor allem xiàngsheng (komischer Dialog oder Sprachkabarett) und xjù xiopn (kurzes komisches Theaterstück) als beliebte Bühnenkunst gelten. Außerdem feiert man im Westen den Karneval (oder Fasching, Fastnachtzeit), der in China keine Entsprechung hat. Im zweiten Teil dieses Kapitels wurde die Geschichte der Forschungen über Witz und Humor im Westen bzw. in China vorgestellt. Es ist zu bemerken, dass auf beiden Seiten vier Aufschwungphasen in der Humorgeschichte zu finden sind, die zeitlich sogar miteinander beinahe identisch sind. Nur die dritte Phase im Westen (18. – Anfang des 20. Jahrhunderts) hat in China keine Entsprechung. Was die Forschungen zum Witz betrifft, zeigt sich ein großer Unterschied zwischen dem Westen und China. Die europäischen Wissenschaftler konzentrieren sich seit der Antike immer auf die 25 Siehe ⼐䆄 (L Jì) - das Buch der Riten, einer der fünf Klassiker des Konfuzianismus. In diesem Buch werden die sozialen Verhaltensweisen, die Sitten und Bräuche, zum Beispiel die für den Ahnenkult und für das Benehmen bei Hof, beschrieben (Wikipedia). 26 Siehe ᭛ᖗ䲩啭 (Wén Xn Dio Lóng) – Das Herz der Literatur und das Schnitzen des Drachens von Liu Xie (465-522). Dieses Buch gilt als das erste literaturkritische Werk Chinas. 41 Ursache des Lachens und das Wesen des Humors. Im Vergleich dazu beschäftigen sich die chinesischen Literaten hauptsächlich mit Witzsammlungen und deren Beurteilung. Die geringe Forschungsdichte zum Lachen lässt sich durch die Herrschaft des Konfuzianismus seit über 2000 Jahren in China erklären, nach dessen Prinzipien die Menschen ihre inneren Gefühle kontrollieren und das Lachen in der Öffentlichkeit vermeiden müssen. Nach einer Vorstellung der Begriffe und der Forschungsgeschichte über Humor/Witz gehen wir im nächsten Kapitel auf die grundlegenden Merkmale des Witzes ein, die vor allem Abhängigkeit und Gegensätzlichkeit umfassen. 42 3. Das Wesen des Witzes Durch nichts bezeichnen die Menschen mehr ihren Charakter als durch das, was sie lächerlich finden. - Johann Wolfgang von Goethe Von den Definitionen in Kapitel 2 wissen wir, dass Witz oder xiàohua vor allem dazu dient, die Leser/Hörer zum Lachen zu bringen. Aber wir haben alle die Erfahrung, dass nicht alle Witze witzig sind. Es gibt einige, die man nicht lustig findet oder die sogar schwer zu verstehen sind. Was steckt in einem Witz? Wie wird ein Witz auf der Sprachebene hergestellt? Welches Hintergrundwissen muss man haben, um einen Witz zu verstehen bzw. darüber zu lachen? Um diese Fragen zu beantworten, wird in dem vorliegenden Kapitel versucht, das Wesen des Witzes zu erläutern. 3.1 Die Abhängigkeit des Witzes Witze existieren nicht allein. Sie sind immer abhängig von den Reaktionen der Leser oder der Hörer, von den Zeiten, in denen sie geschaffen werden, bzw. von den Kulturen (inkl. der Sprachen), mit denen sie eng zusammenhängen. Bei den erzählten Witzen spielen auch noch die Darstellungstechnik des Erzählers und die Stimmung des Zuhörers eine große Rolle. Da wir uns in dieser Arbeit von allem mit schriftlich verbreiteten Witzen befassen, die in Büchern oder auf Webseiten erschienen sind, werden die Technik des Witzerzählers und die Stimmung des Zuhörers nicht berücksichtigt. 3.1.1 Die Abhängigkeit von den Menschen Ob ein Witz bei einem Leser/Hörer gut ankommt, hängt weitgehend von den individuellen Besonderheiten der betroffenen Person ab. Dabei spielt das Alter des Lesers/Hörers vor allem eine wichtige Rolle. Wir wissen, dass Kinder meistens über etwas Anderes lachen als Erwachsene. Sie führen gern mit ihren Eltern oder Lehrern Spiele durch, die manchmal von den Erwachsenen als bedeutungslos angesehen werden. Da die Eltern oder die Lehrer oft kein großes Interesse an oder kein 43 Vorwissen über solche Spiele haben, erweisen sie sich hier meist den Kindern als unterlegen. Über die „Dummheit“ der Erwachsenen lachen die Kinder, denn sie bekommen dadurch eine gewisse Überlegenheit den Eltern oder den Lehrern gegenüber, die sie sonst immer für stärker und intelligenter als sich selbst halten. Auf die Autorität der Erwachsenen sind die Kinder einerseits neidisch, andererseits fühlen sie sich unterdrückt von den „intelligenten“ Eltern oder Lehrern. Deshalb versuchen sie, durch die Spiele, von denen die Erwachsenen kein Vorwissen haben, eine vorläufige Überlegenheit zu gewinnen, um von ihrer Frustration gegenüber der Autorität befreit zu werden (vgl. Wolfenstein 1978: 12). Ein Spiel aus der Kinderzeit der Autorin sieht wie folgt aus: Man fordert eine/n andere/n auf, eine Frage mit „warum“ zu stellen. Darauf wird immer mit dem Mustersatz „weil und deswegen, dafür braucht man nichts zu sagen27“ geantwortet. Offensichtlich bietet diese Antwort keine sinnvolle Lösung zu den Fragen. Dabei geht es eher darum, den befragten Personen (besonders den Erwachsenen) mit einer Universalantwort entgegenzukommen, so dass man sich selber als intelligenter als die Befragten erweist. Anders als Kinder lachen Erwachsene eher über die Sachverhalte, die Verstöße gegen die vorhandenen Regeln der Gesellschaft oder die Abweichungen von diesen. Es wird z.B. viel über die Situationen oder die Wörter gelacht, die auf das Thema „Sex“ hindeuten. Oder man amüsiert sich über die Menschen, denen im Alltag ein leichtes Missgeschick passiert. Außerdem lachen Erwachsene auch über die Personen, die sich wegen des Mangels an bestimmtem Wissen in ihrer sozialen oder beruflichen Rolle unfähig sind. Es ist zu erkennen, dass das Erwachsenenlachen immer einen Wissensvorrat voraussetzt. Das Lachen findet in dem Moment statt, wenn etwas Anderes passiert ist, als es die konventionellen Regeln, die man beim Erwachsenwerden gelernt hat, vorschreiben. Ein solches Lachen kennen die Kinder nicht, weil sie wegen ihres jungen Alters noch keinen solchen Wissensvorrat besitzen. Aber im Grunde genommen ist das Lachen der Erwachsenen ähnlich wie bei den Kindern, weil beide auf die Selbstbefreiung von den Frustrationen durch die Autorität zurückgeht, d.h., der Grundanlass zum Lachen bleibt unverändert, obwohl die Themen oder die Situationen, über die man sich amüsiert, in verschiedenen Altersphasen unterschiedlich sind (Wolfenstein 1978: 12). 27 Der originale chinesische Satz lautet: „Ynwèi su y, bù shu y ky (Ў᠔ҹˈϡ䇈гৃҹ)“. 44 Neben dem Alter gilt das Geschlecht auch als ein wichtiger Faktor, durch den sich das menschliche Lachen beeinflussen lässt. Früher herrschte lange Zeit die Ansicht, dass Frauen keinen Sinn für Humor hätten, denn sie gehörten immer zu den passiven Zuhörern, wenn die Männer Witze erzählten (Lakoff 1975; Sanborn 1994). In jüngster Zeit sind die Wissenschaftler aber durch eine Reihe von Forschungen darauf gekommen, dass es doch einen femininen Humor gibt, der sich aber anders als der maskuline Humor ausweist (Naranjo-Huebl 1995). Es lässt sich feststellen, dass jedes Geschlecht seinen eigenen Sinn für Humor hat, genau wie jeder Mensch das natürliche Verhalten Lachen kennt. Es ist nicht wahr, dass jemand keinen Humor hat, sondern es liegt daran, dass wir seinen Humor nicht verstehen. Das Vorurteil über den Mangel an Humor bei Frauen lässt sich darauf zurückführen, dass die Frauen Jahrhunderte lang immer dazu erzogen wurden, ihre Worte und ihr Verhalten in der Öffentlichkeit zu beschränken. Auch die wenigen lustigen Aussagen von Frauen wurden entweder ignoriert oder falsch interpretiert. Aus diesem Grund spielen in der Humorwelt immer die Männer die dominierende Rolle. Sie entscheiden z.B., wie Humor definiert werden soll und über welche Themen gelacht werden darf (vgl. Naranjo-Huebl 1995). Wenn wir behaupten, dass es doch einen weiblichen Humor gibt, stellt sich die Frage, wie er sich vom männlichen Humor unterscheidet. Nach den verschiedenen Forschungen von Grotjahn (1957), Harragan (1977), Crain (1981) und Apte (1985) zeigt sich, dass Männer sich oft über aggressive oder erotische Witze amüsieren, während Frauen lieber Witze mit Mehrdeutigkeit oder Anekdoten erzählen. Außerdem mögen Männer die Einzeile- oder Zweizeilen-Witze, während sich Frauen eher für die längeren Geschichten interessieren. Diese Verschiedenheit geht auf die unterschiedlichen Zwecke des Witzerzählens bei Männern und Frauen zurück. Männer fangen meistens an einen Witz zu erzählen, um die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zu ziehen und sich dabei zu präsentieren. Deshalb können sie mit wenigen Sätzen, die auf spezielle Themen wie Sex oder Aggression bezogen sind, schnell ihr Ziel erreichen. Im Vergleich dazu erzählen Frauen Witze meistens, um den Kontakt zu anderen Menschen herzustellen oder die Gemeinsamkeiten mit den Freunden zu betonen. Dieser Zweck lässt sich mit einem neutralen Thema, das in relativ ausführlicher Weise behandelt wird, besser erreichen (Jenkins 1985; NaranjoHuebl 1995; Schmid 2005). 45 3.1.2 Die Abhängigkeit von den Zeiten Witz ist ein kulturelles Produkt, das immer eng mit der Zeit verbunden ist. Nicht alles, worüber in früheren Zeiten gelacht wurde, muss unbedingt auch heute noch lustig sein. Im Deutschen gibt es z.B. nicht mehr Kasino-Witze über monokeltragende und schnarrend abgehackt redende Offiziere mehr, weil dieser Sozialtyp ausgestorben ist. Andererseits sind noch immer Witze über die „Gnädige Frau und ihre Minna“ oder über den „Butler und den gnädigen Herrn“ im Umlauf, obwohl „Dienstboten“ im Sinne des 19. Jahrhunderts so gut wie nicht mehr existieren. Die Problematik der ethnischen Vorurteile im Witz hat sich verlagert. Heute sind die Ostfriesen unsere „Primitiven“ und Unterentwickelten. In einer Zeit sich wandelnder Sexualmoral sind Hochzeitsnacht-Witze oder Witze über alte Jungfern nicht mehr gefragt. Aber trotz der Freizügigkeit und Toleranz heutiger Auffassungen gibt es noch immer Homosexuellen- oder Nudistenwitze. Außerdem hat die Entwicklung der Technik auch immer neue Themen für den Witz geschaffen: Eisenbahn, Auto, Radio, Fernsehen, Computer, Roboter, abstrakte Kunst, wechselnde Moden usw. (Röhrich 1977: 2). Im Chinesischen findet man heute kaum Witze über die dummen xiù cái 28 , die analphabetischen Reichen oder die am weltlichen Leben interessierten Mönche. Alle diese sozialen Typen waren bekannte Figuren in den Witzblättern aus alten Zeiten. In den modernen chinesischen Witzen geht es meistens um Familienbeziehungen, Berufe, neue Technik, Sprachen usw. Außerdem sind ins Chinesische auch immer mehr internationale Witze eingeführt worden, in denen mehrere Nationen mit ihren (zugeschriebenen) Charaktereigenschaften präsentiert werden. Die Zeitverbundenheit des Witzes lässt sich nicht nur an den speziellen Themen oder Figuren feststellen, sondern auch an der beschränkten Gültigkeit von manchen Witzen, die nur innerhalb einer bestimmten Phase funktionieren. Ohne das Wissen über den zeitlichen Hintergrund ist es oft schwierig, die entsprechenden Witze zu verstehen. Das Beispiel (1) funktioniert z.B. nur während der Zeit, als Ms. Thatcher die britische Premierministerin war. (1) In der Thatcher-Zeit fragt ein Mädchen seinen Freund im Kindergarten: 28 Xiùcai war im alten China der Titel der Intellektuellen, die die staatliche Prüfung auf der Kreisebene bestanden haben. 46 „Was willst du später machen? Der Junge: „Ich will Premierminister werden!“ Darauf das Mädchen: „Was, können Männer auch Premierminister sein?“ (http://www.witz-des-tages.de) Es ist offensichtlich, dass Männer Premierminister sein können, wenn man heutzutage die Politik in Großbritannien oder auf der ganzen Welt beobachtet. Eigentlich spielen Männer immer die dominierende Rolle, wenn es um die Spitzenpositionen in der Politik geht. Das kleine Mädchen im Witz weiß dies nicht, weil sie wegen ihres jungen Alters anscheinend nur die Premierministerin statt eines Premierministers kennt. Dieser Witz würde heute in Großbritannien nicht mehr funktionieren, denn die Nachfolger von Ms. Thatcher waren alle Männer. Selbstverständlich sind nicht alle Witze so direkt mit der Zeit verbunden. Die meisten gelten eher längere Zeit, wie z.B. die Ostfriesen- oder die Blondinenwitze. Aber im Grunde genommen lässt sich der Zeitgeist immer im Witz widerspiegeln. 3.1.3 Die Abhängigkeit von den Kulturen und den Sprachen Witze sind nicht nur diachron mit den Zeiten verbunden, sondern hängen auch synchron mit den verschiedenen Kulturen und Sprachen zusammen. Das Verstehen der Witze setzt häufig Kenntnisse über die Kulturen oder die Sprachen voraus, in denen sie geschaffen worden sind. Wenn man z.B. die Ostfriesenwitze liest, muss man das Hintergrundwissen haben, dass die Ostfriesen in der deutschen Humorkultur meistens als die „Dummen“ betrachtet werden, wie in (2): (2) Haben Sie schon von dem Ostfriesen gehört, dessen Frau Drillinge bekam? Er sucht noch immer die beiden anderen Männer. (http://www.witz-des-tages.de) Gelegentlich kommt auch der umgekehrte Fall dieses Witzes vor, in dem die Ostfriesen die Klügeren sind, wobei für die Bevölkerungsgruppe aus Süddeutschland eingesetzt wird. (3) Was machen die Ostfriesen bei Ebbe? Sie verkaufen Land an die Schwaben. 47 Gegenseite meist eine (Das extra dicke Witzbuch, 2005) Die Ostfriesen wohnen in Nordwestdeutschland und stellen den östlichen Zweig der friesischen Volksgruppe dar. Sie gehören neben den Dänen, Sorben und den Sinti und Roma zu den anerkannten Minderheiten in Deutschland. Der Typus des Ostfriesenwitzes entstand Ende der 1960er Jahre und löste eine der ersten großen, landesweiten Witzwellen in Deutschland aus. Anders als bei anderen Witzen über Bevölkerungsgruppen, ist für den Ostfriesenwitz die Entstehungsgeschichte relativ genau bekannt. Das Gymnasium in Westerstede im Ammerland, einer Nachbarregion Ostfrieslands, wurde und wird auch von ostfriesischen Schülern besucht. Wie bei vielen anderen benachbarten Regionen gibt es auch zwischen den Bevölkerungen Ostfrieslands und des Ammerlands immer wieder Sticheleien und Neckereien. Auf dem besagten Gymnasium gipfelten diese in den Jahren 1968 und 1969 in einer von dem Schüler Borwin Bandelow in der Schülerzeitung „Der Trompeter“ veröffentlichten Serie namens „Aus Forschung und Lehre“. In dieser wurde über den so genannten „Homo ostfrisiensis“ berichtet, dem vermeintlich unbeholfenen und dummen Bewohner Ostfrieslands (Wikipedia). Neben den Ostfriesen ist die Blondine auch eine bekannte Witzfigur in der deutschen Kultur. Dabei geht es meistens um ihre Dummheit, ihre Naivität oder das Thema Sexualität, wie in dem folgenden Beispiel dargestellt wird. (4) Was sagt eine Blondine beim Frauenarzt, wenn sie erfährt, dass sie schwanger ist? Sind Sie sicher, dass es meines ist? (http://www.witz-des-tages.de) In der Antike war das dem Gold entsprechende Blond die Haarfarbe der Göttinnen und Götter, der Heroen und der Herrscher. Dementsprechend war das Haar der heute marmorweißen Skulpturen oftmals gelb gefasst oder vergoldet. Die Klischees über die Blondinen gehen auf die 30er bis 50er Jahre des 20. Jahrhunderts zurück, als die Wahrnehmung von Blondinen durch Filmstars wie Marilyn Monroe verstärkt wurde. Seitdem werden dieser Gruppe Eigenschaften wie Dummheit, Naivität und erotische Attraktivität zugeschrieben (Wikipedia). 48 Die Abhängigkeit des Witzes von der Sprache lässt sich vor allem in den Beispielen finden, deren Effekt durch die Mehrdeutigkeit der Wörter oder der Phrasen im Witz hergestellt wird. Das sind die so genannten Wortwitze, die im Chinesischen besonders viel zu finden sind. Denn die chinesische Sprache verfügt über ein Schriftzeichensystem, von dem eine große Menge Zeichen bei gleicher oder ähnlicher Aussprache ganz verschiedene Bedeutungen haben. Z.B. hören sich die Wörter ཛྷ (m), 偀(m) und 偖(mà) zwar ähnlich an, aber sie stehen jeweils für Mutter, Pferd bzw. schimpfen. Aus diesem Grund können sich in der mündlichen Kommunikation Missverständnisse leicht ergeben, wenn man die Wörter nicht richtig ausspricht. Der folgende Witz ist ein Beispiel dafür: (5) ϔ᳟টএ佚ᄤᛇৗ∈低ˈԚᰃ䇈៤њ˖Āþⴵ㾝ÿ˄∈低˅ᇥ䪅˛āᇣ ྤぬˈ᮶㗠ᯢⱑˈҪᰃ䯂∈低ᇥ䪅DŽ 低ᄤッϞᴹˈҪজᴹᇣྤˈĀ䇋䯂᳝≵᳝þ㡖Ⳃÿ˄㡹㣝˅ଞ˛ā ᇣྤ⠑ᖿഄ䇈˖Ā᳝ଞˈᙼᛇ㽕⚍ҔМḋⱘ㡖Ⳃਸ਼˛ā Āህᰃ䙷⾡咘㡆ⱘĂĂā (http://joke.tom.com) Meine eigene Übersetzung: Ein ausländischer Freund geht einmal in China in ein Restaurant und will shujio (eine Art Teigtasche) essen. Da fragt er: „Wie viel kostet shuìjiào? (Statt der richtigen Aussprache mit dem dritten Ton shujio hat er hier den vierten Ton shuìjiào gesagt, der nicht mehr Teigtaschen, sondern Schlafen bedeutet.)“ Die Kellnerin kriegt sofort einen roten Kopf und versteht später endlich, dass der Kunde Teigtaschen haben möchte. Nachdem das Essen an den Tisch gebracht worden ist, fragt der Ausländer wieder die Kellnerin: „Haben Sie vielleicht jiémù? (Damit meint er Senf, der auf Chinesisch jièmo heißt. Jiémù bedeutet Programm.)“ „Welches jiémù (Programm) möchten Sie denn?“ fragt die Kellnerin. „Das Gelbfarbige29.“ Neben der Abhängigkeit von den Menschen, Zeiten, Kulturen und Sprachen sind Witze auch durch die Gegensätzlichkeit gekennzeichnet, die darin besteht, dass das 29 Gelbfarbige Programme sind im Chinesischen eine metaphorische Wendung, die für die Erotik steht. 49 reale Geschehen im Text in Kontrast zu der Vorstellung steht, die der Leser/Hörer auf Grund seines Hintergrundwissens gebildet hat. In Kapitel 3.2 wird auf dieses Merkmal des Witzes eingegangen. 3.2 Die Gegensätzlichkeit des Witzes Die Gegensätzlichkeit des Witzes lässt sich mit der semantischen Skript Theorie des Humors – SSTH (Raskin 1985) erklären. Bevor wir auf den Grundgedanken der SSTH eingehen, empfiehlt es sich, zuerst den Begriff Skript zu erklären. 3.2.1 Die Erklärung des Begriffs Skript Das Wort Skript stammt aus dem lateinischen scriptum, das ursprünglich Geschriebenes bedeutet. Im Duden (1999) wird Skript interpretiert als: 1) Manuskript, Niederschrift eines literarischen oder wissenschaftlichen Textes als Vorlage für den Setzer; 2) Drehbuch in der Filmkunst; 3) einer Sendung zugrunde liegende schriftliche Aufzeichnungen beim Rundfunk oder Fernsehen. Im Grunde genommen ist das Skript ein niedergeschriebener Text als Vorlage für einen literarischen, wissenschaftlichen oder künstlerischen Zweck. Wenn es um das Skript im Witz geht, versteht es sich als semantische Informationen, die mit den Wörtern im Witztext assoziiert sind oder von den Wörtern aufgerufen werden. Das Skript ist identisch mit einer kognitiven Struktur, die ein/e Muttersprachler/in zu einem Wort besitzt (vgl. Raskin 1985: 81). Im Folgenden wird das Skript doctor (im medizinischen Sinne) dargestellt (Raskin 1985: 85): DOCTOR Subject: [+Human] [+Adult] Activity: > Study medicine = Receive patients: patient comes or doctor visits doctor listens to complaints doctor examines patient = Cure disease: doctor diagnoses disease doctor prescribes treatment 50 = (Take patient’s money) Place: > Medical school = Hospital or doctor’s office Time: > Many years = Every day = Immediately Condition: Physical contact (“>” stands for “past”, “=” stands for “present”) Das Skript lässt sich als die lexikalische Bedeutung eines Wortes verstehen (vgl. Attardo 2001: 3). Jedes Wort im Witztext hat meistens mehrere lexikalische Bedeutungen. Beim Verstehen eines Satzes wird bei jedem Wort nur eine von dessen Bedeutungen ausgewählt, die zu der syntaktischen Funktion dieses Wortes im Satz passt und gleichzeitig auch mit der Bedeutung der anderen Wörter kompatibel ist. Die Zusammensetzung der Bedeutungen von allen Wörtern im Witz bildet das Skript für den ganzen Text, das auch die semantische Interpretation des Witztextes darstellt. In diesem Zusammenhang versteht man unter dem Skript im Witz die semantische Interpretation des ganzen Textes (vgl. Attardo/Raskin 1991: 308). 3.2.2 Der Grundgedanke der SSTH Der Grundgedanke der semantischen Skript Theorie über Humor besteht darin, dass ein Witztext die folgenden zwei Bedingungen erfüllen muss (vgl. Raskin 1985: 99): 1. Der Text ist teils oder vollständig kompatibel mit zwei verschiedenen Skripten; 2. Die beiden Skripten, die einander überlappen, stehen gleichzeitig in Opposition zueinander. Es bleibt offen, ob die beiden Voraussetzungen für einen Witztext ausreichend sind oder nicht, denn der Humoreffekt eines Witzes ergibt sich nicht nur aus den sprachlichen Elementen, sondern hat auch viel mit den psychischen Faktoren zu tun, z.B. ob die Leser/Hörer in der Stimmung sind, einen Witz wahrzunehmen, oder ob der Inhalt auf sie eher eine negative Wirkung ausübt usw. Aber wenn es um die linguistische Seite geht, hat Raskin mit dem Gedanken der Skriptüberlappung und – 51 opposition einen Meilenstein in der Forschung über Humor und Witz gelegt (Davies 2005: 373). Damit man eine klare Einsicht in die Skripttheorie bekommt, wird der folgende Witz (6) als Beispiel genommen und nach der SSTH analysiert. (6) Ein Holländer trifft seinen Freund: „Ich hab einen Rekord geschlagen!“ „So welchen denn?“ „Ich habe in vier Wochen ein Puzzle gemacht, auf dem ‚3-5 Jahre’ standen...“ (http://www.witz-des-tages.de) Wenn man mit dem Puzzle-Spiel bekannt ist, versteht man unter den „3-5 Jahre“ normalerweise das Kinderalter, zu dem das Spiel geeignet ist. Diese Interpretation gilt im Witz als Skript 1. Aber der Holländer hat anscheinend die „3-5 Jahre“ als die Zeitdauer verstanden, die für das Puzzlelösen benötigt wird. Deshalb war er froh, als er für die Aufgabe statt 3-5 Jahre nur vier Wochen gebraucht hatte. Des Holländers Interpretation ist Skript 2 im Witz. Auf diese Weise haben wir zwei Skripten, deren Beziehung wie folgt dargestellt wird: Skript 1 vs. Skript 2 Alter (3-5 Jahre) vs. Zeitdauer (3-5 Jahre) richtiges Verstehen vs. falsches Verstehen normal/nicht-dumm vs. dumm Nach dem steigenden Abstraktheitsgrad werden Skript 1 und Skript 2 jeweils als Alter vs. Zeitdauer, richtiges Verstehen vs. falsches Verstehen bzw. normal/nichtdumm vs. dumm dargestellt. Sie sind einerseits durch die Wortgruppe „3-5 Jahre“ im Witz miteinander verbunden, andererseits stehen sie auf den letzten zwei Ebenen (richtig vs. falsch, nicht-dumm vs. dumm.) direkt in Opposition zueinander. 3.2.2.1 Skriptüberlappen Wenn man einen Witz liest oder hört, macht man auf Grund seiner Wissensvorlage eine Interpretation des wahrgenommenen Witztextes. Durch die Einführung eines 52 Sprachelementes, das sich meist am Ende (oder manchmal auch in der Mitte) des Witzes befindet, merkt man aber wieder, dass eine zweite Interpretation durch das Sprachelement ausgelöst wird. Dieses Element bezeichnet Raskin als den semantischen Trigger für den Skriptwechsel, den er weiter in zwei Sorten klassifiziert: Ambiguität und Widerspruch (vgl. Raskin 1985: 114). Unter Ambiguität versteht man „Doppelsinn, i.e., Eigenschaft von Ausdrücken natürlicher Sprachen, denen mehrere Bedeutungen zukommen“ (Bußmann 2002: 73). Im Witz hat das Wort oder die Wortgruppe, die als Trigger gilt, mindestens zwei verschiedene semantische Bedeutungen. Beim Lesen oder Hören des Textes bis zum Trigger wählt man eine dieser Bedeutungen aus und macht entsprechend die erste Interpretation des ganzen Textes. Während man weiter den Witz bis zum Ende liest oder hört, ist einem klar, dass die zweite Bedeutung des Triggers gewählt werden sollte. Dadurch kommt man auf die zweite Interpretation des ganzen Witztextes. Auf diese Weise sind zwei Skripten für den Witz entstanden. Folgendes ist ein Beispiel von Raskin für den Ambiguitätstrigger: (7) The first thing which strikes a stranger in New York is a big car. (Esar, 1952: 77, Raskin 1985: 26) Das Wort strike hat zwei Bedeutungen: „impress“ und „hit“. Wenn man den Satz bis „...New York“ liest, denkt man meistens an die Bedeutung „impress“, aber wenn man den Witz weiter bis zum Ende liest, dann merkt man, dass die zweite Bedeutung „hit“ ausgewählt werden soll. Der Widerspruchstrigger ist relativ einfach zu verstehen. Man liest den vorderen Witztext und interpretiert dieses Textstück. Beim Lesen/Hören des letzten Textteils kommt man auf eine widersprüchliche Interpretation zu dem vorherigen Textstück. Mit einem Beispiel von Freud erläutert Raskin den Trigger des Widerspruchs: (8) A rogue who was being led out to execution on a Monday remarked: “Well, this week is beginning nicely.” (Freud 1905: 294, Raskin 1985: 25) Das Wort execution bedeutet das Todesurteil – das Ende des Menschenlebens. Im Gegensatz dazu bezeichnet der Mann es als einen netten Wochenbeginn. Die beiden Wörter „execution“ und „beginning nicely“ bilden einen Widerspruch zueinander. 53 Für die Kategorie des Ambiguitätstriggers unterscheidet Raskin weiter verschiedene Arten: Reguläre Ambiguität (Polysemie und Homonymie), figurative Ambiguität, syntaktische Ambiguität, Situationsambiguität und Quasi-Ambiguität (auf Grund phonetischer Mehrdeutigkeitsmöglichkeiten). Für die Kategorie des Widerspruchstriggers hat er auch eine Variante, den Dichotomisierungstrigger, festgestellt, der sich auf ein Paar von Antonymen im Witz bezieht (vgl. Raskin 1985: 114-117). 3.2.2.2 Skriptopposition Die zweite These der SSTH lautet, dass die beiden Skripten in Opposition zueinander stehen. Raskin hat ein Korpus von 32 Witzen analysiert und die folgenden drei Typen von Oppositionen zusammengestellt (Raskin 1985: 108): 1. Ein Skript gilt direkt als die Negation oder das Antonym des anderen Skripts. Ein Beispiel dafür sieht wie folgt aus: (9) By the time the wise man is old enough to marry, the fool has enough children to support him. (Esar 1952: 18, Raskin 1985: 29) In diesem Witz bilden “the wise man” and „the fool“ direkt ein Paar Antonyme (vgl. Raskin 1985: 107). 2. Die beiden Skripten weisen gegensätzliche Eigenschaften auf. Unten ist ein Beispiel dafür: (10) Should a person stir his coffee with his right hand or his left hand? Neither. He should use a spoon. (Esar, 1952: 21, Raskin 1985: 26) In dem Fragesatz geht man davon aus, dass der Mensch mit einem Instrument (Löffel) in der Hand Kaffee trinkt, während die Antwort davon ausgeht, dass kein Löffel in der Hand ist. Wenn man die beiden Skripte in diesem Witz ein bisschen umformuliert, dann bekommt man ein Oppositionspaar: Hand mit Löffel vs. leere Hand (vgl. Raskin 1985: 107). 54 3. Die beiden Skripten bilden lokale Antonyme, d.h. Antonyme in dem Witzkontext. (7) “The first thing which strikes a stranger in New York is a big car.” (Esar, 1952: 77, Raskin 1985: 26) Wie in Kapitel 3.2.2.1 dargestellt wird, kann man das Wort „strike“ in dem Witz auf zwei Möglichkeiten verstehen: „beeinflussen“ und „schlagen“. Diese beiden Bedeutungen führen zu den zwei verschiedenen Interpretationen des ganzen Witztextes: 1. Das, was als Erstes einen Fremden in New York beeindruckt, ist ein großes Auto. 2. Das, was als Erstes einen Fremden in New York anfährt, ist ein großes Auto. Skript 1 und Skript 2 bilden keinen direkten Gegensatz zueinander. Sie werden aber als lokale Antonyme betrachtet, was auf Grund der folgenden These festgestellt worden ist: Two linguistic entities whose meanings are opposite only within a particular discourse and solely for the purpose of this discourse (cf. Lyons, 1977: 271-279, Raskin 1985: 108). Wenn man die drei Arten Opposition beobachtet, kann man sehen, dass die ersten beiden eine relativ starke gegensätzliche Beziehung aufweisen, während die dritte Art mit den lokalen Antonymen zu potenziellen logischen Problemen führen könnte: Es bildet einen Teufelkreis, wenn man einerseits den Witz als einen Text mit zwei gegensätzlichen Skripten definiert und andererseits wieder auf Grund der Gegensätzlichkeit des Witzes die Beziehung zwischen den beiden Skripten als Opposition feststellt (vgl. Attardo 1997, 2001). Es erweist sich entweder eine Ergänzung oder eine neue Definition der Beziehung zwischen den beiden Skripten als nötig. In dieser Arbeit vertreten wir die Ansicht, dass die beiden Skripten im Witz wirklich in Opposition zueinander stehen, die aber nicht zwischen den beiden konkreten semantischen Interpretationen des Textes besteht, sondern eher auf einer höheren abstrakten Ebene auftritt. Auf der Ebene mit dem höchsten Abstraktionsgrad kann die Opposition als normal vs. unnormal ausgedrückt werden. Das Skript, das auf Grund des Wissensvorrates des Lesers/Hörers gemacht wird, gehört zu der normalen Seite, während das andere Skript, das sich direkt auf die reale Geschichte im Witztext bezieht, zu der 55 unnormalen Seite zählt. Mit anderen Worten, der Witz erweist sich in gewissem Sinne als im Gegensatz zu dem Wissen des Lesers/Hörers, das er in einer bestimmten Kultur- und Sprachumgebung erworben und gespeichert hat. Der Wechsel von normal zu unnormal kann zuerst durch die Einführung eines speziellen Konzepts (wie Sex, Ausscheidung usw.) stattfinden. D.h., es handelt sich in dem Skript, das der Leser/Hörer gemäß seinem Hintergrundwissen gebildet hat, zuerst noch nicht um das spezielle Thema Sex oder Ausscheidung, während in dem anderen Skript, das dem Geschehen im Witztext entspricht, das spezielle Thema durch die Neuinterpretation eines Sprachelements oder einer Textpassage eingeführt wird. Ein Beispiel ist wie folgt: (11) “Is the doctor at home?” the patient asked in his bronchial whisper. “No,” the doctor’s young and pretty wife whispered in reply. “Come right in.” (American, 20th century, Raskin 1985: 32) Wenn man den Witz bis „...whispered in reply“ liest, denkt man wahrscheinlich, dass es sich um den Besuch eines Patienten bei seinem Arzt handelt; aber der letzte Satz im Text weist darauf hin, dass der Besucher eigentlich der Geliebte der Frau des Doktors ist. In diesem Witz versteht sich die Opposition als der Gegensatz zwischen dem Patienten und dem Geliebten. Auf einer Ebene mit höherer Abstraktion lässt sich die Opposition als kein Bezug auf Sex vs. Bezug auf Sex formulieren. Außerdem kann der Wechsel von normal zu unnormal durch die Einführung einer speziellen (meistens negativen) Eigenschaft stattfinden, z.B. Dummheit, Geiz, usw. Dabei handelt es sich im Witz meistens um das Verhalten einer Person oder Personengruppe, die der Witzleser/-hörer als dumm, geizig usw. betrachtet. Witz (12) ist ein Beispiel für diese Kategorie: (12) Drei Schwaben sind auf einer Alpenwanderung in eine Gletscherspalte gefallen. Nach langer Zeit kommt die Hilfe. Von oben rufen die Helfer: „Wir sind vom Roten Kreuz.“ Rufen die Schwaben im Chor: „Mir gäbet nix!“ 56 (http://www.witz-des-tages.de) Das Rote Kreuz will den drei Schwaben helfen, die in Schwierigkeit geraten sind. Aber die Schwaben meinen, dass das Rote Kreuz nur Spenden von ihnen will. Deshalb lehnen sie das Rote Kreuz ab, obwohl sie eigentlich Hilfe benötigen. Die Opposition liegt in diesem Witz zwischen dem Geiz der Schwaben und der von dem Leser/Hörer für normal gehaltene Reaktion in diesem Fall, nämlich Hilfe vom Roten Kreuz anzunehmen. Zuletzt gibt es noch eine Witzkategorie, deren Effekt nur durch die Ambiguität der Sprache hergestellt wird. Dabei geht es weder um ein spezielles Thema wie Sex noch um eine negative Eigenschaft wie Dummheit, sondern es handelt sich um die Mehrdeutigkeit eines Wortes oder einer Wortgruppe. Der Leser/Hörer wählt nach seinem Hintergrundwissen eine Bedeutung des Wortes oder der Wortgruppe aus, während es sich am Ende des Witzes herausstellt, dass eine andere Bedeutung in Frage kommt. Folgendes ist ein Beispiel für diese Kategorie: (13) He’s a man of letters; he works in the Post Office. (Esar, 1952, 13, Raskin 1985: 29) Wenn man nur den vorderen Teil des Witzes liest, denkt man, dass unter „letters“ Literatur verstanden wird, dann bedeutet „a man of letters“ einen Schriftsteller. Aber wenn man den Witz bis zum Ende liest, ist einem klar, dass das Wort „letters“ in dem vorderen Teil als Briefe verstanden soll. „A man of letters“ ist dann ein Postbote. Es ist zu bemerken, dass die letzte Kategorie sich nur mit den Witzen befasst, in denen die sprachliche Ambiguität gleichzeitig den Witzinhalt bildet. Davon sind diejenigen ausgeschlossen, in denen die Einführung des Konzeptes „Sex“ oder der negativen Eigenschaften durch die Sprachtechnik ermöglicht wird, wie in (14) bzw. (6) (siehe Kapitel 3.2.2) dargestellt. (14) ϔᑈ䕏ཇ䚢こ T-Shirt ߎ␌ˈ㛌᳝ࠡϸϾ༛⡍ⱘĀ99āᄫḋDŽϔ㗕ⳟ㾕ˈ㾝ᕫ 䖭㸷᳡དⳟˈᛇ⿄䌲ϔϟˈԚ᮴༜Ё᭛Ꮒˈᖬ䆄 9 ᗢМ䇏ˈᚙᗹПϟᣛⴔཇ 䚢㛌䚼䇈˖ĀԴ䖭ϸϾ nine nine ᕜⓖ҂ʽā (http://joke.tom.com) 57 Meine eigene Übersetzung: Eine junge Chinesin trägt ein T-Shirt mit den Zeichen „99“ an der Brust. Auf der Straße trifft sie einen Ausländer, der ihr T-Shirt sehr hübsch findet. Der Ausländer will der jungen Frau sagen, dass ihr T-Shirt mit den Zeichen schön aussieht. Aber er vergisst, wie man „9” auf Chinesisch sagt. Deshalb zeigt er direkt auf die Zahlen und lobt: “Ihre beiden nine nine’ sind wunderschön!” Der Ausländer will die Zahl „9” sagen, die auf Chinesisch „ji” heißt. Aber er hat das vergessen und nimmt dann das englische Wort „nine”, das zufällig die ähnliche Ausprache wie das chinesische Wort ཊ(ni, Brust) hat. „Ihre beiden nine nine“ hört sich dann ähnlich wie „Ihre beiden Brüste…“ an. Durch diese Verwechselung wird das Konzept „Sex“ in die zweite Interpretation des Textes eingeführt. In Witz (6) aus dem Kapitel 3.2.2 geht es um den Holländer, der unter „3-5 Jahre“ auf der Packung des Puzzlespiels die Zeit versteht, die man für das Spiel benötigen wird. Nach dem Hintergrundwissen wird mit „3-5 Jahren“ das zu dem Spiel passende Kinderalter gemeint. Die Mehrdeutigkeit der Wendung dient hier nur als die Technik, mit der der Wechsel vom richtigen zum falschen Verstehen der Wörter auf der Spielpackung ermöglicht wird, so dass die spezielle Eigenschaft – in diesem Fall die Dummheit des Holländers im Witz eingeführt wird. 3.3 Fazit In diesem Kapitel sind die beiden grundlegenden Merkmale des Witzes erläutert worden, die Abhängigkeit und die Gegensätzlichkeit. Witze existieren nicht allein. Sie hängen immer von den Menschen ab, die sie erzählen, lesen oder hören. Während die Stimmung und die Erzähltechnik eine große Rolle beim Erzielen des Witzeffektes spielen, zählen das Alter und das Geschlecht des Lesers/Hörers auch zu den Faktoren, die die Rezeption des Witzes stark beeinflussen. Außerdem verändern sich der Inhalt und die Form des Witzes ständig diachron mit der Zeit und synchron mit der Kultur und der Sprache, in der sie geschaffen werden. Der Witz lässt sich auch durch die Gegensätzlichkeit kennzeichnen, die darin besteht, dass der Text immer mit zwei verschiedenen Skripten, die einerseits miteinander verbunden sind, andererseits in Kontrast zueinander stehen, kompatibel ist. Das eine 58 Skript entspricht der Erwartung, die der Leser/Hörer nach seinem Hintergrundwissen gebildet hat, während das andere sich mit dem realen Geschehen im Text identifizieren lässt. Nachdem wir die Grundmerkmale des Witzes erläutert haben, gehen wir im nächsten Kapitel auf die empirische Untersuchung zu den deutschen und den chinesischen Witzen ein. Dabei werden vor allem die verschiedenen Aspekte, unter denen die Witzbeispiele genau zu analysieren sind, vorgestellt. 59 60 4. Die Aspekte in der Witzanalyse Humor ist das, was man verliert, wenn man den Vorgang definiert. - Theodor Lessing Mit diesem Kapitel beginnt der empirische Teil der Arbeit. Bevor wir auf die konkrete Analyse und den Vergleich der deutschen und der chinesischen Witze eingehen, empfiehlt es sich, zuerst die verschiedenen Aspekte, unter denen die Witzbeispiele in dieser Studie analysiert werden, ausführlicher zu erläutern. Wenn man sich Gedanken über die Witze aus einer anderen Kultur macht, denkt man vor allem an die folgenden beiden Fragen: 1. Worüber wird in der anderen Kultur gelacht? 2. Warum lacht man über bestimmte Menschen oder Gegenstände in der anderen Kultur? Die Untersuchung in dieser Arbeit konzentriert sich auf die beiden Fragen und es wird zuerst versucht, die „Zielscheiben“ in den deutschen und den chinesischen ethnischen und Familienwitzen zu analysieren. Anschließend ist beabsichtigt, die Ursache für das Auslachen der Zielscheiben herauszufinden, indem die folgenden beiden Fragen beantwortet werden: 1. In Bezug auf welche Eigenschaften lacht man über die Zielscheiben in den ethnischen und den Familienwitzen? 2. Warum lachen die Chinesen oder die Deutschen über diese Eigenschaften? Neben diesen grundlegenden Fragen wird darüber hinaus beabsichtigt, die typischen Situationen, die in den deutschen und den chinesischen Witzen häufig vorkommen, darzustellen. Z.B. geht es um eine Restaurantszene, das Einkaufen, den Verkehr, den Gottesdienst, usw. Außerdem wird versucht, den Lesern zu zeigen, wie ein deutscher bzw. ein chinesischer Witz aussieht. Mit anderen Worten: In welcher Textform wird der Witzinhalt ausgedrückt? Wie in der Einführung dieser Arbeit erwähnt, sind einige der oben genannten Aspekte der erweiterten Skripttheorie, der Generellen Theorie des Verbalen Humors (GTVH) entnommen worden, deshalb wird in diesem Kapitel zuerst die GTVH kurz vorgestellt. Anschließend werden die fünf Aspekte der Witzanalyse – die Zielscheibe, 61 deren Eigenschaften, das Hintergrundwissen, die Situation und die Textform in fünf Teilen mit Beispielen ausführlich dargestellt. Der letzte Teil gilt als die Zusammenfassung des ganzen Kapitels. 4.1 Die Generelle Theorie des Verbalen Humors – GTVH Die Generelle Theorie des Verbalen Humors (GTVH) von Attardo/Raskin (1991) gilt als die Erweiterung der Semantischen Skript Theorie über Humor (SSTH), insofern die GTVH eine Erklärung des Witzes nicht nur in semantischer Hinsicht, sondern auch auf der weiteren linguistischen Ebene bietet. Diese Erweiterung wird dadurch ermöglicht, dass neben der Skriptopposition fünf weitere Faktoren für die Beschreibung des Witzes eingeführt werden: der logische Mechanismus (LM30), die Situation (SI), die Zielscheibe (TA), die Erzählform (NS) und die Sprache (LA). Diese fünf Faktoren und die Skriptopposition (SO) werden von Attardo und Raskin als die sechs Knowledge Resources (KR) bezeichnet (vgl. Attardo 1994: 222 - 223). Die Skriptopposition (SO) ist bereits im Kapitel 3.2 erläutert worden. Darunter versteht man die Beziehung zwischen den zwei Skripten – den zwei Verstehensmöglichkeiten des Witzes. Sie sind einerseits miteinander verbunden, andererseits stehen sie in Kontrast zueinander. Die SO gilt als eine der notwendigen Bedingungen dafür, dass ein Text als Witz bezeichnet wird. Der logische Mechanismus (LM) bezieht sich auf die logischen Regeln, nach denen von einem Skript zu dem anderen umgeschaltet wird. In den psychologischen Forschungen über den Witz wird der logische Mechanismus auch als „Sinn im Unsinn“ (Freud 1905: 204, zitiert nach Attardo 1997: 406) oder „lokale Logik“ (Ziv 1984: 90, zitiert nach Attardo 1997: 407) bezeichnet. Attardo, Hempelmann und Di Maio (2002) haben eine Liste von verschiedenen LMs zusammengestellt, die z.B. die falsche Analogie, den Figur-Hintergrund-Wechsel, die Übertreibung etc. umfasst. Um den logischen Mechanismus besser zu verstehen, analysieren wir den folgenden Witz (1), in dem der Figur-Hintergrund-Wechsel verwendet wird. (1) How many Poles does it take to screw in a light bulb? 30 Die Abkürzung der Knowledge Resourses kommt aus ihren englischen Bezeichnungen, nämlich: the script opposition (SO), the logical mechanism (LM), the situation (SI), the target (TA), the narrative strategy (NS) and the language (LA) (Attardo 1994: 222 – 223). 62 Five, one to hold the light bulb and four to turn the table. (Freedman and Hoffman 1980, zitiert nach Attardo 2001: 22) Der Begriff Figur-Hintergrund stammt aus der Gestalt-Psychologie, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Max Wertheimer, Wolfgang Köhler und Kurt Koffka entwickelt wurde. Mit dem Begriff Figur-Hintergrund wird eine wichtige Eigenschaft der menschlichen Wahrnehmung der Außenwelt dargestellt. Wir betrachten meistens die Gegenstände, die leichter zu bewegen sind oder auf die wir unsere Wahrnehmung fokussieren, als die Figur, während die Umgebung der Figur den Hintergrund darstellt und meistens stabiler als die Figur ist (vgl. Talmy 1983). Nach dieser Unterscheidung werden in der Situation des Glühbirneneinschraubens die stabile Umgebung, die den Tisch und den Polen, der auf dem Tisch steht, umfasst, als Hintergrund gesehen, während die Glühbirne, die von dem Polen in die Fassung eingedreht werden soll, als Figur vorkommt. In (1) werden aber die beiden gewechselt, indem die Glühbirne als der stabile Hintergrund dient, während der Tisch, der von den anderen vier Polen gedreht werden soll, als Figur vorkommt. Auf diese Weise kann man wahrscheinlich die Aufgabe auch erledigen. Aber der neue Prozess sieht ungewöhnlich aus und gilt als Kontrast zu dem, was der Leser/Hörer sich bei dem Sachverhalt vorstellt (vgl. Attardo/Raskin 1991: 303). Das Knowledge Resource Situation (SI) lässt sich relativ einfach verstehen. Dabei geht es um die konkrete Szene, die im Witztext dargestellt wird. Zu der Szene gehören z.B. die Aktivitäten, die Zeit, der Ort und andere Rahmenbedingungen für die Geschichte im Witz (vgl. Attardo 2001: 24). Die Situation in (1) lässt sich als das Einschrauben der Glühbirne formulieren. Das KR Target (TA) beschäftigt sich vor allem mit der Zielscheibe, die im Witz mit ihren Eigenschaften präsentiert und ausgelacht wird. Als TA können die Mitglieder eines Berufs (Ärzte, Beamten, Polizisten), eine ethnische Einheit (Ostfriesen, Schotten) oder Menschen, die eine spezielle Gewohnheit haben (Alkoholiker) usw. vorkommen. Die Zielscheibe in (1) sind die Polen. Unter der Narrative Strategy (NS) versteht man die Gattung des Witztextes, die z.B. eine Erzählung, ein Dialog, eine Frage-Antwort-Struktur oder ein Dreier-Modell31 ist 31 Die englischen Formulierungen von Attardo und Raskin sind „an expository text or a simple narrative“, „a dialogue (question and answer)“, „a (pseudo-)riddle“ und „a triple sequence“ (Attardo/Raskin 1991: 300, Attardo 2001: 23). 63 (vgl. Attardo 2001: 23). Der Witz (1) wird in der Frage-Antwort-Struktur ausgedrückt, die aber auch in eine andere Form (wie (1a)) umgewandelt werden kann. (1a) It takes five Poles to screw in a light bulb: One to hold the light bulb and four to turn the table he is standing on. (Attardo & Raskin 1991: 295) (1a) wird in der Form einer Erzählung geliefert. Der Inhalt wird zwar nicht geändert, aber das Original (1) wirkt spannender und geeigneter für die mündliche Kommunikation als die Variante (1a). Mit dem Knowledge Resource Language (LA) ist die konkrete sprachliche Formulierung des Witzes gemeint. Dazu gehört die Wahl der Wörter, der syntaktischen Konstruktionen bzw. der Erzählperspektive. Man kann denselben Witz in verschiedener Weise formulieren. (1b) ist z.B. eine Variante von (1), die sich vom Original nur in der Sprache unterscheidet. (1b) The number of Poles needed to screw in a light bulb? Five, one to hold the light bulb and four to turn the table. (Attardo & Raskin 1991: 295) Die Varianten, die sich vom Original nur in dem KR Sprache unterscheiden, machen auf den Leser/Hörer den Eindruck, dass sie derselbe Witz wie das Original sind. Nach der kurzen Vorstellung der Generellen Theorie des Verbalen Humors werden wir sehen, warum die Skriptopposition, die Situation, die Zielscheibe und die Erzählform auf die Vergleichsstudie über die deutschen und die chinesischen Witze angewendet werden, während der logische Mechanismus und die Sprache nicht berücksichtigt werden. Von den sechs KRs sind die Skriptopposition, die Situation und die Zielscheibe auf den Inhalt des Witzes orientiert, denn sie befassen sich mit der Witzfigur, deren Eigenschaft und dem konkreten Geschehen im Witz. Im Vergleich dazu hängen der logische Mechanismus, die Erzählform und die Sprache eher mit der Darstellungsweise des Witzes zusammen (vgl. Attardo/Raskin 1991: 321). Angesichts der großen Unterschiede in der Geschichte, der Kultur und der Gesellschaft zwischen Deutschland und China bzw. der engen Abhängigkeit des Witzes von der Zeit und der Kultur können wir uns gut vorstellen, dass es 64 Unterschiede zwischen den deutschen und den chinesischen Witzen in Bezug auf die inhaltsorientierten KRs gibt. D.h., man lacht über etwas Anderes in verschiedenen Gesellschaften. Aus diesem Grund werden die Skriptopposition, die Zielscheibe und die Situation in die Vergleichsstudie eingeführt. Wegen der Verschiedenheit in der Sprache und der damit verbundenen Denkweise zwischen Deutschland und China könnte die Erzählform des Witzes, d.h., wie man einen Witz darstellt, in den beiden Ländern auch unterschiedlich sein. Deshalb wird dieses KR auch in die Studie einbezogen. Der logische Mechanismus wird hier nicht berücksichtigt, einerseits weil die logischen Regeln, nach denen von einem Skript zum anderen gewechselt wird, universal sind, d.h., sie verändern sich nicht mit der Sprache und der Kultur; andererseits weil sich dieser Parameter nach den bisherigen Forschungen als umstritten und unstabil zeigt (Attardo 2001: 25, Davies 2004: 379). Für eine systematische Darstellung der logischen Regeln im Witz wird meiner Ansicht nach eine Forschung innerhalb der kognitiven Wissenschaft benötigt, die bis jetzt kaum durchgeführt worden ist 32 . In dieser Studie mit dem Schwerpunkt auf dem linguistischen und dem kulturellen Vergleich wird deshalb auf die Analyse der logischen Regeln verzichtet. Das Knowledge Resource LA beschäftigt sich mit der konkreten sprachlichen Formulierung des Witzes. Eine Analyse dieses KRs zeigt sich vor allem sinnvoll, wenn es um einen Witzvergleich innerhalb desselben Sprachsystems geht, denn dadurch kann man die Wirkung der Sprache auf die Erzeugung des Witzeffektes genau untersuchen. Die bestehenden großen Unterschiede zwischen dem Deutschen und dem Chinesischen machen einen Vergleich von Witzen in diesen beiden Sprachen unter dem Aspekt LA wenig aussichtsreich und eher problematisch. Aus diesem Grund wird das KR Sprache in dieser Studie nicht berücksichtigt. In den folgenden Teilen werden wir die verschiedenen Aspekte, die auf die empirische Untersuchung angewendet werden, mit Beispielen ausführlich darstellen. 32 Die kognitiven Forschungen zum Witz wurden vor allem von Geert Brône, Kurt Feyaerts und Tony Veale an der Universität Leuven, Belgien durchgeführt. Die wichtigen Veröffentlichungen von ihnen sind: 1. „Assessing the SSTH and GTVH: A view from cognitive linguistics“. Humor: International Journal of Humor Research 17 (4), 361-372. 2. „Cognitive mechanisms of adversarial humor“. Humor: International Journal of Humor Research 19 (3), 305-339. 65 4.2 Die Zielscheibe Unter der Zielscheibe versteht man die Menschen oder die Gegenstände, die im Witz wegen bestimmter Eigenschaften ausgelacht werden. Die Witzeinträge auf den Webseiten sind meistens nach deren Zielscheiben geordnet, z.B. die Ostfriesenwitze, die Ärztewitze und die Beamtenwitze. (2) ist ein Beispiel für die Schottenwitze. (2) Der Schotte zum Bäcker: „Bitte ein Stück Brot! Und wickeln Sie es bitte in die Zeitung von heute ein!“ (http://www.witz-des-tages.de) In (2) geht es um den Geiz des Schotten. Er will von dem Bäcker nicht nur das Brot kaufen, sondern auch noch die Zeitung umsonst bekommen. Die Zielscheiben werden im Witz ausgelacht, weil ihr Verhalten vom Leser/Hörer als negativ oder unnormal angesehen wird. 4.2.1 Harmlose und tendenziöse Witze Es gibt aber auch Witze, in denen keine Zielscheibe vorkommt, z.B. in (7) aus Kapitel 3: (7, Kapitel 3) The first thing which strikes a stranger in New York is a big car. (Esar, 1952: 77, Raskin 1985: 26) Hier geht es weder um die Eigenschaft einer Person noch um das besondere Merkmal eines Gegenstandes, aber die Mehrdeutigkeit des Wortes strike macht es möglich, den Text auf zwei verschiedene Weisen zu interpretieren, was eine Voraussetzung für den Witzeffekt bildet. Daraus kann man schließen, dass die Zielscheibe für einen Witz nicht nötig ist. Freud (1905) unterscheidet zwischen den harmlosen und den tendenziösen Witzen. Die ersteren sind Selbstzweck und dienen keiner besonderen Absicht, während die letzteren sich in den Dienst einer Tendenz stellen und deshalb Gefahr laufen, dass bestimmte Personen sie nicht hören wollen (Freud 1905: 97-98). In den harmlosen Witzen sind keine Zielscheiben vorhanden. Dazu gehören z.B. die Wortwitze, deren Humoreffekt durch das semantische Potential der Sprachelemente 66 im Witz hergestellt wird, wie in dem oben genannten Witz (7). Aber nicht jeder Wortwitz ist harmlos. So haben z.B. die, die mit „Eigennamen“ spielen, häufig eine beleidigende und verletzende Tendenz, sie gehören selbstredend zu den Wortwitzen (Freud 1905: 98). Zu den harmlosen Witzen gehören auch noch manche von den Sachwitzen, die im Vergleich zu den Wortwitzen durch Verstöße gegen die Moral, die Logik, die Kulturkonventionen usw. erzeugt werden. Unter den harmlosen Sachwitzen sind viele Tierwitze, in denen die Tiere personifiziert werden und sich anders verhalten, als die Menschen sie sonst kennen. Witz (3) ist ein Beispiel dafür. (3) Zwei Flöhe kommen aus dem Kino. Fragt der eine: „Gehst du auch zu Fuß?“ „Nein, ich hab’s eilig. Ich nehm’ mir ’nen Hund.“ (Die besten Witze von A-Z, 2003) Nach unserem Common Sense-Wissen trifft es zu, dass der Floh im Pelz eines Hundes bleibt und sich von ihm ernährt, was eine biologische Eigenschaft und Lebensgewohnheit der Flöhe ist. Diese Tatsache wird aber in Witz (3) in ein menschliches Verhalten umgewandelt, indem das Verweilen des Flohs auf einem Hund als ein Taxinehmen betrachtet wird. Die Personifikation dient hier als ein Verstoß gegen das Common Sense-Wissen. Eine Zielscheibe ist in Witz (3) nicht zu finden, denn es wird nicht über eine spezielle Eigenschaft des Flohs gelacht, die der Leser für negativ hält, sondern es geht eher um den Gegensatz zwischen der menschlichen Kenntnis über Flöhe und der personifizierenden Interpretation des Verhaltens der Flöhe. Genau gesagt, sind die harmlosen Witze auch nicht wirklich zwecklos, denn sie haben sich unverkennbar das Ziel gesteckt, Lust beim Hörer hervorzurufen (Freud 1905: 103). Eine ähnliche Ansicht haben die Philosophen, die den Witz dem Komischen zurechnen und das Komische in der Ästhetik abhandeln. Nach ihrer Meinung ist der Genuss rein ästhetisch. Der hat nur in sich seinen Zweck und erfüllt keine anderen Lebenszwecke (Fischer 1889: 68, zitiert nach Freud 1905: 103). In tendenziösen Witzen sind jedoch immer Zielscheiben vorhanden. Freud unterscheidet hier zwei große Tendenzen: die Feindseligkeit (die zur Aggression, Satire, Abwehr dient) und die Obszönität (welche der Entblößung dient) (Freud 1905: 67 105). Zu den ersteren gehören z.B. die Berufswitze (Ärztewitze, Beamtenwitze, Juristenwitze, Politikerwitze), in denen die Angehörigen eines bestimmten Berufs wegen ihrer Unfähigkeit oder Faulheit bei der Arbeit ausgelacht werden, oder manche der Blondinenwitze, in denen die Blondinen immer als dumm und naiv präsentiert werden. (4) ist ein Beispiel für den Bezug auf Faulheit. (4) „Donnerwetter!“ entfährt es dem Oberinspektor, als er den schlafenden Kollegen sieht, „der hat sich aber überraschend schnell bei uns eingearbeitet.“ (Die besten Witze von A-Z, 2003) Die feindseligen Witze dienen vor allem dazu, dass sich Menschen beim Erzählen, Lesen oder Anhören solcher Witze wegen der Verstöße gegen die moralischen, logischen oder kulturellen Regeln, die sie in ihrer Erziehung gelernt haben, von diesen Beschränkungen befreien (vgl. Freud 1905: 110). Ähnlich sieht es auch bei den obszönen Witzen aus. Dabei wird die Lust der Menschen durch eine Befreiung von den Tabus im Bereich des Sexuellen hergestellt. Da die Blondinen neben dem Symbol für Dummheit und Naivität auch ein Sex-Image besitzen, gehören viele Blondinenwitze zu der obszönen Kategorie. Ein Beispiel wird in (5) gezeigt. (5) Auf der Straße treffen sich zwei Blondinen. Die eine: „Mein Vermieter will, dass ich bis zum Monatsende ausgezogen bin!“ Darauf die andere: „Da hast du aber noch Glück - meiner will das jeden Abend!“ (http://www.dein-witz.de) Außerdem enthalten auch manche Tierwitze sexuelle Phantasien. (6) Zwei Schlangen kommen an einem Teller Spaghetti vorbei. Entrüsten sich beide: „So klein und schon Gruppensex!“ (http://www.witzdestages.net) 68 4.2.2 Die Zielscheibe in den ethnischen und den Familienwitzen In dieser Arbeit werden die ethnischen und die Familienwitze in der empirischen Untersuchung als Beispiele analysiert. Aus der obigen Darstellung der harmlosen und der tendenziösen Witze kann man herleiten, dass die ethnischen und die Familienwitze zu der tendenziösen Kategorie gehören, was sich dadurch erklären lässt, dass ethnische Witze immer von verschiedenen ethnischen Gruppen handeln, denen eine spezielle Eigenschaft (wie Dummheit, Geiz, usw.) oder eine komische Verhaltensweise zugeschrieben wird. Witze (1) und (2) in diesem Kapitel gelten als Beispiele für die ethnischen Witze. Dabei dienen jeweils der Pole und der Schotte als die Zielscheibe. Was die Familienwitze betrifft, geht es dabei immer um die speziellen Eigenschaften untereinander. D.h., Familienangehörigen die oder der Familienmitglieder Zielscheiben ihre sind Beziehungen, oder deren hier die wie z.B. Beziehungen verschiedenen Vater, Mutter, Schwiegermutter-Schwiegertochter, usw. Sie werden meistens im Witz ausgelacht, weil ihr Verhalten anders ist als das, was sich der Leser/Hörer nach seinem Wissen über die Familie vorstellt. Ein Beispiel wird in (7) gezeigt. (7) кᑫЏ˖Ā䖭ᴀкⳟњˈ᳝䍷ᕫϔᅮৃҹュ⅏DŽā ཛҎ˖Āфϔˈݠ៥ᣓএ㒭៥ယယDŽā (http://www.jokescn.com) Meine eigene Übersetzung: Buchhändler: „Das Buch ist so lustig, dass man sich darüber totlachen kann.“ Frau: „Dann kaufe ich eins für meine Schwiegermutter.“ Nach der chinesischen Familienmoral soll die Schwiegertochter ihre Schwiegermutter respektieren bzw. sich um ihr Leben kümmern. Das gilt als das Hintergrundwissen für das Verstehen von (7). Was die junge Frau hier tut, ist aber genau das Gegenteil davon. Sie will ein Buch kaufen, das ihre Schwiegermutter umbringen wird. Die Wendung „totlachen“ versteht sie hier nicht als „viel lachen“, sondern wörtlich „(jemand) lacht so sehr, dass er stirbt“. Nachdem wir den ersten Aspekt in der Witzanalyse – die Zielscheibe – diskutiert haben, gehen wir in den kommenden beiden Teilen auf das zweite grundlegende 69 Problem ein: In Bezug auf welche Eigenschaften der Zielscheiben und warum wird über diese Eigenschaften gelacht? 4.3 Die Eigenschaft der Zielscheibe 4.3.1 Die Eigenschaft und das Skript 2 im Witz In Kapitel 3 haben wir erfahren, dass der Witztext stets mit zwei verschiedenen Skripten kompatibel ist. Mit anderen Worten: Der Text lässt sich nach zwei unterschiedlichen Möglichkeiten interpretieren. Diese beiden Interpretationen sind einerseits miteinander verbunden, andererseits stehen sie in einer Beziehung der Opposition zueinander. Das eine Skript (S1) entspricht der Erwartung des Lesers/Hörers von der Geschichte im Witz, während das andere Skript (S2) das reale Geschehen im Text darstellt. Außerdem haben wir auch den Schluss gezogen, dass es in S2 entweder um ein spezielles Konzept wie „Sex“, eine besondere Eigenschaft der Zielscheibe, die meist von dem Leser/Hörer für negativ gehalten wird, oder um einen ambivalenten Gebrauch der Sprachelemente im Witz geht. Die ersten beiden Varianten sind auch identisch mit der obszönen bzw. der aggressiven Tendenz in Freuds Unterscheidung. Wenn wir uns mit der Frage auseinandersetzen, in welcher Hinsicht die Zielscheiben im Witz ausgelacht werden, dann kommt vor allem die zweite Variante in Frage, die spezifische (oder negative) Eigenschaft. Aber es ist nicht selten zu sehen, dass der Sexbezug und die negative Eigenschaft in einem Witz zusammen vorkommen, wie in dem Beispiel (8) gezeigt wird. (8) Ein internationales Diplomatentreffen. Beim Essen meldet sich ein Engländer: „Let’s drink to the ladies of the eastern hemisphere!“ Dann meldet sich ein Diplomat aus Asien: „Let’s drink to the ladies of the western hemisphere!“ Der französische Diplomat will auch die Gelegenheit ausnutzen, um die Weltoffenheit und den internationalen Geist Frankreichs zu zeigen, dann meldet er sich in trockenem Englisch: „Let’s drink to both of the hemispheres of the ladies!“ (http://www.witzdestages.net) 70 Wie alle wissen, sprechen die Franzosen im Lande kaum Englisch oder eine andere Sprache, weil sie den Purismus im Gebrauch ihrer Muttersprache schützen und bewahren wollen. Deshalb werden sie oft wegen ihrer Unfähigkeit, Englisch zu sprechen, ausgelacht, wie in (8) dargestellt wird. Der französische Diplomat will eigentlich sagen: „Lasst uns auf die Damen der beiden Hemisphären anstoßen“. Sein mangelndes englisches Wissen führt jedoch zu einem grammatischen Fehler bzw. zu einem ganz anderen Satz: „Lasst uns auf die beiden Hemisphären der Damen anstoßen“. Dabei hat er die Nominalgruppe „die Damen“ mit dessen Attribut „der beiden Hemisphären“, das im Genitiv stehen sollte, verwechselt. In dem neuen Satz lassen sich „die beiden Hemisphären der Damen“ auf die Brüste der Frauen beziehen, weil die Hemisphäre und die Brust in gewissem Sinne von der Form her ähnlich aussehen und in diesem Kontext auch dasselbe Attribut besitzen. Mit diesem Hinweis wird das Konzept „Sex“ in den Text eingeführt, das einen starken Kontrast zu dem seriösen Diplomatenkontext bildet. Auf diese Weise wird der Lacheffekt in (8) hergestellt. 4.3.2 Die fünf grundlegenden Skriptoppositionen von Raskin Raskin hat in seiner Entwicklung und Erläuterung der Semantischen Skript Theorie des Humors fünf grundlegende Skriptoppositionen für die Witze in den westlichen Kulturen aufgelistet (1985: 113-114; 127): good / bad death / life33 non-obscene / obscene34 money / no-money high stature / low stature 33 Die originale Reihenfolge von Raskin ist life / death. Ich habe hier die beiden Begriffe vertauscht, weil ich meine, dass in den Witzen über Tod der Leser/Hörer meistens ein tragisches Ende mit dem Tod erwartet, während das reale Geschehen im Witz immer darauf hinweist, dass kein Tod, sondern dessen Gegenteil – das Leben gemeint wird. Der Lacheffekt ergibt sich daraus, dass die Spannung bei der Erwartung des Todes durch den Wechsel zum Leben abgebaut wird. Der folgende Witz stellt ein Beispiel für die Witze über Tod/Leben dar. A rogue who was being led out to execution on a Monday remarked: “Well, this week is beginning nicely.” (Freud 1905: 294, Raskin 1985: 25) 34 An dieser Stelle habe ich auch die Reihenfolge der beiden Begriffe geändert, denn das Original von Raskin ist obscene / non-obscene. Wie in Kapitel 3.2.2.2 erläutert, kann der Wechsel von Skript 1 zu Skript 2 durch das Hinzufügen eines speziellen Konzeptes wie „Sex“ ermöglicht werden. Deshalb soll Skript 2 die obszöne Seite sein. 71 Die Begriffe auf der linken Seite des Schrägstrichs können als Skript 1 verstanden werden, d.h. als die Erwartung des Lesers/Hörers von der Geschichte im Witz, während die Begriffe auf der rechten Seite das reale Geschehen im Text – Skript 2 darstellen. Im Witz geht es meistens um den Wechsel von etwas Gutem zu etwas Schlechtem, vom Tod zum Leben, von ohne-Sex zu Sex, von der Großzügigkeit zum Geiz oder von hohem Status zu niedrigem Status. Mit anderen Worten, wir erwarten eine gute Eigenschaft oder ein gutes Verhalten, während die Witzfigur immer eine schlechte Eigenschaft zeigt. Wir denken beim Lesen des Witzes an den Tod, während der Text mit Leben endet. Wir gehen von etwas Seriösem oder Neutralem aus, während der Witz einen Hinweis auf Sex enthält. Wir stellen uns vor, dass die Witzfigur Geld ausgeben soll, während diese sich besonders geizig verhält. Wir glauben, dass die Witzfigur Macht oder Autorität hat, während diese immer die Rolle eines Verlierers oder eines Feiglings spielt. Zusammengenommen kann man sagen, dass die speziellen Eigenschaften der Zielscheiben vor allem Dummheit, Geiz, Kleinmütigkeit usw. sind. Im nächsten Teil wird die Dummheit als Beispiel genommen, denn sie kommt relativ häufig in den verschiedenen Kategorien vor, wie in den ethnischen, den Blondinen-, den Berufs- und den Familienwitzen. Wir werden sehen, wie die Zielscheiben in den genannten Witzkategorien anhand der Eigenschaft Dummheit präsentiert werden. 4.3.3 Die Eigenschaft der Dummheit In den ethnischen Witzen wird vor allem die Dummheit der Ostfriesen und der Österreicher präsentiert, weil diese sich mit der Technik wie Radio, Fernseher, Auto, Computer nicht auskennen, unfähig beim Sprechen, Schreiben, Lesen und Rechnen sind oder das Grundwissen über den Alltag wie Glühbirnenwechsel, Kochen, Familienbeziehungen, Kindergeburt nicht besitzen. Ähnlich geht es mit den Blondinen, die in der westlichen Kultur auch das Image geringer Intelligenz haben. Wie den Ostfriesen fehlt ihnen auch das Wissen über den Alltag, über die Technik oder die neuen Begriffe. An den zahlreichen Ostfriesen- und Blondinenwitzen hat sich eine spezifische Frage-Antwort-Struktur entwickelt, die in (9) gezeigt wird. (9) Woran erkennt man, dass ein Fax von einer Blondine gesendet wurde? An der Briefmarke. (Das extra dicke Witzbuch, 2005) 72 In den Berufswitzen gelten meistens die Mitglieder aus den Branchen, die eine hohe Bildung und reiche Erfahrungen erfordern, als Zielscheiben, wie z.B. die Juristen, die Ärzte oder die Beamten. Dabei werden die Beamten häufig wegen ihrer Faulheit bei der Arbeit ausgelacht. Die Ärzte sind bekannt für ihre Ungeschicklichkeit bei Operationen, ihre Geldgier bei der Behandlung und ihre schwer zu lesende Unterschrift auf den Rezepten. (10) zeigt ein Beispiel für die Ärztewitze. (10) Vor der Blinddarmoperation beruhigt der Chirurg seinen Patienten: „Herr Martin, machen Sie sich mal keine Sorgen. Ich habe diesen Eingriff schon hundertmal vorgenommen!“ „Da bin ich aber beruhigt, Herr Doktor!“ „Na ja, einmal muss es ja klappen!“ (Das extra dicke Witzbuch, 2005) Bei den Familienwitzen geht es meistens um die Dummheit der Eltern (besonders des Vaters) oder der Großeltern gegenüber den Kindern. Die Erwachsenen sind entweder naiv, angeberisch oder sie wissen weniger als die Kinder. 4.3.4 Witze mit oder ohne Realitätsbezug Wenn man (9) und (10) im letzten Abschnitt vergleicht, kann man sehen, dass die Dummheit der Blondine anders als die des Arztes ist. Die Unfähigkeit beim Faxschicken hat nichts mit der Tatsache zu tun, Blondine zu sein, während die Ungeschicklichkeit in der Operation direkt mit dem Beruf des Arztes zusammenhängt. Mit anderen Worten, die Dummheit der Blondine im Witz nimmt keinen Bezug auf die Realität, während sich die des Arztes auf die Realität bezieht. Ähnlich wie den Blondinen geht es auch den Ostfriesen und den Österreichern im Witz. Ihre Dummheit hängt auch nicht immer mit der Tatsache zusammen, Osterfriese oder Österreicher zu sein, sondern es handelt sich eher um ein allgemeines Verhalten beim Umgang mit dem Alltag, der Technik oder den neuen Begriffen. Die Witze ohne Realitätsbezug werden häufig mit einem standardisierten FrageAntwort-Muster dargestellt, während die mit einem Realitätsbezug oft in einer narrativen Form ausgedrückt werden. Die Entstehung eines Standardmusters der Blondinen- oder der Ostfriesen-Witze liegt wahrscheinlich an deren schneller 73 Quantitätszunahme und ihrer weiten Verbreitung. Dabei will man sich nur über die Ostfriesen oder die Blondinen lustig machen, ohne die spezifischen Kenntnisse über solche sozialen Gruppen kennen lernen zu müssen. Das gilt auch für die Polenwitze in der US-amerikanischen Kultur. Das Verstehen solcher Witze setzt kein Wissen über das Land Polen oder die Menschen aus dieser Kultur voraus (vgl. Davies 2004: 377). Deshalb sind sie einfach zu verstehen und zu verbreiten. Außerdem kann man schnell neue Witze zu dieser Kategorie erfinden, wenn man die vorhandenen Witze über Dummheit so ändert, dass die Zielscheibe durch Polen, Ostfriesen oder Blondinen ersetzt wird. Wenn der Effekt nicht durch die Sprachtechnik hergestellt wird, lassen sich die standardisierten Witze auch relativ einfach in eine andere Kultur übertragen, denn fast in jedem Land gibt es eine oder mehrere Gruppen, die das Image der Dummheit haben (Davies 1990: 11). In dem Witz (6) aus Kapitel 3 handelt es sich um einen Holländer, der die Anweisung „3-5 Jahre“ auf der Packung eines Puzzlespiels falsch versteht. Für diesen Witz findet man z.B. mehrere ähnliche Versionen, in denen nur die Zielscheibe geändert wurde. Statt des Holländers geht es in den anderen Versionen entweder um einen Ostfriesen, eine Blondine oder einen Österreicher. Deshalb kann man sich vorstellen, dass das spezifische Kulturphänomen – Witz – mit der großen Tendenz zur Globalisierung immer internationaler wird. Es werden dann immer mehr ähnliche Witze entstehen, die sich nur in ihrer Zielscheibe voneinander unterscheiden. Ein ähnliches Phänomen ist bereits im Bereich der Esskultur zu beobachten, wo die verschiedenen Spezialitäten nur durch kleine Änderungen des Rezepts schon in einem anderen Land großen Erfolg erzielt haben. Nachdem wir die Eigenschaften der Zielscheiben – das Skript 2 – diskutiert haben, gehen wir im nächsten Teil auf dessen Gegenteil – das Skript 1 – ein, und zwar auf die Erwartung des Lesers/Hörers von der Geschichte im Witz. Da die Erwartung immer auf der Basis des Hintergrundwissens entstanden ist, werden wir uns vor allem mit den verschiedenen Sorten des Hintergrundwissens auseinandersetzen, die zum Verstehen des Witzes benötigt werden. 74 4.4 Das Hintergrundwissen 4.4.1 Sprachliches Wissen Der erste Wissensbereich, der als Hintergrund zum Witzverstehen gilt, ist das sprachliche Wissen des Lesers/Hörers. Z.B. wie wird ein Wort ausgesprochen oder geschrieben, welche Wörter gehören zusammen als eine Wendung, welche der verschiedenen Bedeutungen eines Wortes passt zu dem Kontext usw.? Aufgrund dieser Kenntnisse macht man beim Lesen/Hören eines Witzes eine semantische Interpretation des Textes. Diese erwartete Interpretation wird aber durch die weitere Entwicklung der Geschichte im Witz nicht bestätigt, sondern erweist sich als das Gegenteil des realen Geschehens im Text. Im Fall des sprachlichen Wissens als Hintergrund wird die Abweichung der Witzgeschichte von der Erwartung des Lesers/Hörers meistens durch die spezifischen Sprachphänomene ausgelöst, die vor allem lexikalische Ambiguität 35 (inkl. Homophonie, Homographie, Polysemie und figurative Ambiguität) und syntaktische Ambiguität sind. Im Folgenden werden diese verschiedenen Ambiguitätstypen mit Beispielen genau dargestellt. 1. Homophonie Unter Homophonie versteht man eine gewisse lexikalische Ambiguität. Homophone Ausdrücke verfügen über eine identische Aussprache bei unterschiedlicher graphischer Form und Bedeutung, wie z.B.: mehr/Meer, Wal/Wahl (Lyons 1995: 27, Lübner 2003: 59, Bußmann 2002: 284). Im Witz wird immer das Element des Wortpaars gewählt, dessen Bedeutung nicht zum Kontext passt. Wenn man sich den Witz anhört, denkt man bei der ähnlichen Aussprache an das richtige von den beiden im Wortpaar. Erst am Ende stellt sich heraus, dass das andere Wort gemeint worden ist. Ein Beispiel mit Homophonie stellt (14) aus dem Kapitel 3 dar. In dem Witz will der Ausländer das T-Shirt der jungen Frau loben, auf dem „99“ gedruckt ist. Da er nicht mehr weiß, wie man die Zahl „9“ auf Chinesisch sagt, nimmt er direkt die 35 Unter Ambiguität versteht man „Doppelsinn. Eigenschaft von Ausdrücken natürlicher Sprachen, denen mehrere Bedeutungen zukommen. Ambige Ausdrücke sind semantisch unbestimmt und folglich präzisierungsbedürftig. Je nach Quelle und Art der Ambiguität unterscheidet man: (a) Lexikalische Ambiguität mit den beiden Subtypen: Polysemie und Homonymie (inkl. Homophonie und Homographie), (b) Syntaktische Ambiguität, (c) Skopusambiguität und (d) Relationale Ambiguität (Bußmann 2002: 73). 75 englische Aussprache dafür „nine“, das zufällig ähnlich wie das chinesische Wort „ཊ (ni, Brust)“ ausgesprochen wird. Deshalb heißt der Satz „Ihre beiden ‚99’ sind wunderschön“ nicht mehr „die beiden Zahlen 99 sehen gut aus“, sondern „Ihre beiden Brüste sind schön“. Das Wortpaar „nine (nain, das englische Wort für ‚9’) - ཊ(ni, das chinesische Wort für ‚die Brust’)“ bilden hier Homophone, obwohl sie aus zwei verschiedenen Sprachen stammen. Ein ähnliches Beispiel stellt das Wortpaar „ㄨ䕽 (dábiàn, eine Arbeit mündlich verteidigen) vs. ֓ (dàbiàn, Stuhlgang haben)“ dar. 2. Homographie Homographie gilt auch als ein Typ lexikalischer Ambiguität. Zwei Ausdrücke sind Homographe, wenn sie in graphischer Hinsicht übereinstimmen, aber verschiedene Aussprache und Bedeutung haben, wie z.B.: Montage (pl. von Montag) vs. Montage (Lyons 1995: 27, Lübner 2003: 59, Bußmann 2002: 283). Der folgende Witz (11) ist ein Beispiel für diese Kategorie. (11) ϔᄺ⫳߱ᄺ∝䇁ˈ∝ݭᄫᐌᐌ᳝ೄ䲒DŽϔ᮹㽕∖ݭϔ㆛᭛ˈ乬Ⳃᰃlj㒭 ཛྷཛྷⱘϔᇕֵNJˈҪݭ䘧˖Ā҆⠅ⱘཇ偀ཇ偀ĂĂā (Wahre Komik, 2002) Meine eigene Übersetzung: Ein ausländischer Student lernt Chinesisch. Er hat oft Schwierigkeiten mit den Schriftzeichen. Einmal soll er einen Aufsatz mit dem Titel „Ein Brief an die Mutter“ schreiben. Der Student fängt damit an: „Liebe ཇ偀ཇ偀(n m n m)...“ An dem Kontext erkennt man, dass der ausländische Student am Anfang des Aufsatzes „liebe Mutter“ schreiben wollte. Auf Chinesisch heißt „Mutter“ ཛྷ ཛྷ (mma), das aus dem Zeichen ཛྷ(m, Mutter) und dessen Wiederholung besteht.ཛྷ (m) setzt sich selbst wieder aus den beiden Teilen zusammen: ཇ(n) und 偀(m), die jeweils für „weiblich“ bzw. „Pferd“ stehen. Der ausländische Student hat die beiden Bestandteile von ཛྷ(m, Mutter) aus Versehen getrennt geschrieben. Deshalb heißt der erste Satz im Brief nicht mehr „liebe Mutter“, sondern „liebes weibliches 76 Pferd weibliches Pferd“. Die beiden Wörter ཛྷ(m) und ཇ偀(n m) bilden hier zwei Homographe. 3. Polysemie Polysemie ist ein anderer Typ lexikalischer Ambiguität. Dabei weist ein Ausdruck (in verschiedenen Kontexten) mehrere Bedeutungen auf, denen ein gemeinsamer Bedeutungskern zugrunde liegt. Die Beispiele sind etwa grün als Farbe, frisch, unerfahren oder Schule als Institution, Gebäude, Unterricht (Lyons 1995: 47, Bußmann 2002: 524). In (7) aus dem Kapitel 3 und (4) aus diesem Kapitel geht es beide Male um Polyseme. Das Wort „strike“ in (7) lässt sich sowohl als „impress“ als auch als „hit“ verstehen. Diese beiden verschiedenen Bedeutungen führen zu zwei unterschiedlichen semantischen Interpretationen des ganzen Textes „the first thing that impresses a person in New York is a big car“ bzw. „the first thing that hits a person in New York is a big car“. In (4) aus dem Kapitel 4 meint die erste Blondine mit „ausziehen“ die Bedeutung „eine Wohnung für immer zu verlassen“, während die zweite unter demselben Wort „die Kleider vom Körper zu nehmen“ versteht. Dadurch wird ein Gegensatz zwischen zwei semantischen Interpretationen gebildet, der auf einer abstrakten Ebene als „ohne-Sex vs. Sex“ formuliert wird. 4. Figurative Ambiguität Die figurative Ambiguität gilt als ein Sonderfall der Polysemie, denn dabei geht es auch um einen Ausdruck, dem mehrere Bedeutungen zur Verfügung stehen. Was sie besonders macht, ist, dass die figurative Ambiguität sich vor allem mit den Wendungen oder den Wörtern beschäftigt, die gleichzeitig eine bildhafte und eine abstrakte Bedeutung haben. Dabei wird aber meistens die letzte in einem realen Kontext benutzt. Mit diesem Hintergrundwissen wählt der Leser/Hörer bei solchen Wendungen im Witz direkt deren abstrakte Bedeutung, während das reale Geschehen im Text zeigt, dass die konkrete bildhafte Bedeutung gemeint wird. Ein Beispiel wird in (12) dargestellt. (12) Faucht der Chef seinen jungen Buchhalter an: „Bringen Sie eigentlich auch etwas zustande, was Hand und Fuß hat?“ Seufzt der Buchhalter: „Nicht, solange Ihre Tochter die Pille nimmt!“ (Faule Witze von A bis Z, 2002) 77 Die Wendung „Hand und Fuß haben“ heißt, wie der Chef hier meint, dass „etwas gut durchdacht ist“. Das dient auch als die abstrakte und häufig benutzte Bedeutung der Wendung. Was der Buchhalter unter der Wendung versteht, ist aber die bildhafte und wörtliche Bedeutung: Hand und Fuß als Körperteile haben. Damit meint er hier einen Menschen. Der Wechsel von der abstrakten zu der wörtlichen Bedeutung der Wendung hier weist auf eine intime Beziehung zwischen dem Angestellten und der Tochter des Chefs hin, wodurch das Konzept „Sex“ im zweiten Skript hinzugefügt wird. 5. Syntaktische Ambiguität Die syntaktische Ambiguität gilt als ein Charakteristikum der Konstituenten in einem Satz, die bei gleicher linearer Abfolge unterschiedlich strukturiert bzw. interpretiert werden können. Z.B. in dem Satz Heidi kommt mit dem Zug aus Hamburg kann die Präpositionalphrase „aus Hamburg“ entweder als Adjunkt des Nomens „Zug“ oder der Verbalphrase analysiert werden. Im ersten Fall dient die Präpositionalphrase zur näheren Bestimmung des Zugs, im zweiten gibt sie den Ausgangspunkt der Reise an (vgl. van Deemter/Peters 1996: XV, Bußmann 2002: 73). Der folgende Witz (13) gilt auch als Beispiel für eine syntaktische Ambiguität. (13) Sagt die Kundin zum Verkäufer: „Ich möchte gern das rote Kleid da im Schaufenster anprobieren.“ Darauf der Verkäufer: „Sehr gern, gnädige Frau, Sie dürfen aber auch eine Kabine benutzen.“ (Faule Witze von A bis Z, 2002) Mit dem Satz „… das rote Kleid da im Schaufenster anprobieren“ meint die Kundin, dass sie gern das Kleid, das im Schaufenster hängt, anprobieren möchte. Dabei dient die Präpositionalphrase „im Schaufenster“ als Adjunkt des Nomens „Kleid“. Anders als die Kundin versteht der Verkäufer unter demselben Satz, dass die Kundin gern ins Schaufenster geht und dort das Kleid anprobiert. In der letzten Interpretation gilt die Phrase „im Schaufenster“ als Adjunkt des Verbs „anprobieren“. Wegen der syntaktischen Ambiguität sind zwei verschiedene Interpretationen des Textes entstanden. Daraus ergibt sich der Humoreffekt des Witzes. 78 4.4.2 Kulturelles Wissen Neben dem sprachlichen Wissen setzt das Verstehen mancher Witze Kenntnisse über die spezifischen Kulturphänomene oder -konventionen in einer Gegend voraus, wo die Witze entstanden und verbreitet sind. Das Wort „Kultur“ ist aus lateinisch colere („pflegen“, „urbar machen“, „ausbilden“) abgeleitet und eine Eindeutschung von lat. cultura. Das deutsche Wort ist seit Ende des 17. Jahrhunderts belegt und bezeichnet die Gesamtheit der Einrichtungen, Handlungen, Prozesse und symbolischen Formen, welche mit Hilfe von planmäßigen Techniken die „vorfindliche Natur“ in einen sozialen Lebensraum transformieren, diesen erhalten, weiter entwickeln und insofern soziale Ordnungen und kommunikative Symbolwelten befestigen (vgl. Böhme et al. 2000: 104-105). Oder man kann auch sagen, dass die Kultur das Gedächtnis sozialer Systeme, vor allem des Gesellschaftssystems ist (eine Definition von Niklas Luhmann, zitiert nach Lüdemann 2007: 80). Mit anderen Worten, das Kulturwissen umfasst die Kenntnisse über die Gesellschaft und die Menschen innerhalb der Gesellschaft, z.B. die Lebensstile der Menschen, die religiösen, ethnischen und sozialen Rituale bzw. die Techniken der gesellschaftlichen Reproduktion und Naturbearbeitung (Böhme et al. 2000: 108). Wenn es um die Lebensformen der Chinesen und der Deutschen geht, legen die ersteren z.B. großen Wert auf das Essen sowohl im privaten als auch im geschäftlichen Bereich. Die Chinesen verbinden viele gesellschaftliche Angelegenheiten mit dem Essen. Zu den meisten Treffen unter Verwandten, Freunden oder bei den Verhandlungen unter Geschäftspartnern spielt das gemeinsame Essen eine wichtige Rolle. Außerdem achtet man sowohl zu Hause als auch auf der Reise immer pünktlich auf die drei Mahlzeiten. Im Vergleich dazu verwenden die Deutschen mehr Zeit und Geld für die Hobbys, den Sport in der Freizeit oder den Urlaub als für das Essen. Es ist üblich, dass die Menschen in Deutschland jedes Jahr zumindest ein Mal in einem anderen Ort oder einem anderen Land Urlaub machen. Nach einem EU-Bericht haben die Arbeitnehmer in Deutschland 40 Urlaubs- und Feiertage im Jahr und gehören damit zu den Ländern in Europa mit den meisten Ferien36. 36 Nur die Schweden haben zwei Tage mehr. Der EU-Durchschnitt liegt bei 33,7 Tagen (siehe den Artikel „Weiterbildung statt Urlaub“ auf der „ZEIT online“ vom 03.08.2007). 79 Wenn es um die sozialen Rituale geht, spielt z.B. die Geburtstagsfeier in der deutschen Kultur eine viel wichtigere Rolle als in China. Bei vielen wird der Geburtstag jedes Jahr groß gefeiert. Dabei schickt man bereits einige Wochen vor dem Tag Einladungen an die Freunde, die Verwandten oder Bekannten, von denen eine offizielle Zu- oder Absage zur Teilnahme an der Feier erwartet wird. Im Vergleich dazu feiert man in China kaum den Geburtstag, weil nach der chinesischen Tradition alle gemeinsam zum Frühlingsfest ein Jahr älter werden. Eine Ausnahme stellen nur die 60er, 70er oder weitere große Geburtstage bei den Senioren dar. Solche Geburtstage werden meistens an den richtigen Tagen von den Kindern oder Enkelkindern der Senioren groß gefeiert. Ein tiefer Unterschied zwischen der deutschen und der chinesischen Kultur liegt in der Einstellung der Menschen zu der Beziehung zwischen den individuellen Personen und der familiären bzw. der gesellschaftlichen Umgebung. Während die Deutschen den individuellen Meinungen viel Achtung und Respekt schenken, legen die Chinesen großen Wert auf die Gruppenharmonie. Dabei stellt man immer die eigenen Gedanken dem Gruppeninteresse hintan. Aus diesem Grund äußern sich die Chinesen oft indirekt, wenn sie nicht sicher sind, was das gemeinsame Interesse ist. Man will nicht durch die eigene „Direktheit“ bei den anderen das Gefühl des Gesichtsverlusts hervorrufen. Außerdem schließen sich die Chinesen auch gern an Gruppenaktivitäten an oder verbringen die Freizeit mit Kollegen, wenn es nötig ist. Nach einem chinesischen Zeitungsbericht37 fand ein deutscher Praktikant in Shanghai z.B. manche Rituale in China schwer verständlich, als er einmal mit seinen Kollegen eine gewisse Geldsumme als Hochzeitsgeschenk an einen anderen Kollegen zahlen sollte. Dabei brauchte er nur einen kleineren Anteil beizutragen, weil er als Praktikant weniger als seine Kollegen verdiente. Auf der anderen Seite fällt es den Chinesen, die besonders auf Ordnung und Zusammenarbeit in der Familie achten, wieder schwer, die gelegentlichen Konflikte in deutschen Familien zwischen Eltern und Kindern zu verstehen. Oder man stellt sich die Frage, warum die pensionierten Omas und Opas lieber ihr eigenes Leben führen, statt sich die ganze Zeit um die kleinen Enkelkinder zu kümmern, für die die jungen Eltern wegen ihrer Arbeit keine Zeit haben. Im Großen und Ganzen gibt es viele Unterschiede zwischen der deutschen und der chinesischen Kultur wegen deren Verschiedenheit in der Geschichte, der Sprache, der 37 Siehe den Artikel „Die internationalen Praktikanten“ auf der Webseite „http://news.163.com“ vom 03. Januar 2007. 80 geographischen Umgebung und dem Gesellschaftssystem. Deshalb sind die Witze, die von den Kulturphänomenen des einen Landes handeln, bei dem anderen oft schwer zu verstehen, wenn man sich mit dem entsprechenden Kulturhintergrund nicht auskennt. Denn dadurch fehlt einem beim Lesen oder Hören des Witzes das nötige Hintergrundwissen, nach dem die Erwartung gebildet wird. Diese soll im Gegensatz zu dem realen Geschehen im Witz stehen. Mit anderen Worten, ohne das Kulturwissen fehlt die Rückseite der Geschichte im Witztext. Dementsprechend lässt sich der Text auch nicht mehr als Witz verstehen. (14) stellt ein Beispiel für die Witzkategorie dar, deren Verstehen Kulturwissen voraussetzt. (14) ᇣྥ˖Ā႖ᄤˈԴⳟ៥ᡒᇍ䈵ᰃᡒ≵᳝ယယⱘདਸ਼ˈ䖬ᰃᡒ≵᳝႖ ᄤⱘད˛ā ႖ᄤ˖Ā᳔དᰃᡒ≵᳝ᇣྥᄤⱘʽā (http://www.jokescn.com) Meine eigene Übersetzung: Xiog38: „Sozi, soll ich einen Mann heiraten, der keine Mutter oder keine sozi hat?“ Sozi: „Am besten einen, der keine Schwester hat!“ In (14) geht es um die angespannte Beziehung zwischen xiog (der jüngeren Schwester des Ehemanns) und sozi (der Ehefrau des Ehemanns). Während die erste Frau meint, dass es besser wäre, einen Mann zu heiraten, der keine sozi hat, meint die letztere, dass es ideal ist, in eine Familie ohne xiog zu gehen. Um diesen Witz zu verstehen, muss man den Kulturhintergrund kennen, dass in einer traditionellen chinesischen Familie das junge Ehepaar meistens mit den Eltern und den Geschwistern des Ehemanns zusammen lebt. Die Ehefrau muss sich nach der Heirat an die neue Großfamilie mit all den Beziehungen anpassen, unter denen die zu der Schwiegermutter bzw. die zu der/den jüngeren Schwester/n als besonders angespannt gelten. Neben dem sprachlichen und dem kulturellen Wissen braucht man für das Verstehen mancher Witze nur die Kenntnisse, die die meisten Erwachsenen mit einem gesunden 38 Xiog nennt eine verheiratete Frau die jüngere Schwester ihres Ehemanns. Umgekehrt nennt man die Ehefrau seines älteren Bruders „sozi“. 81 Menschenverstand besitzen. Solche Kenntnisse werden in dieser Arbeit als Common Sense-Wissen bezeichnet. Im nächsten Teil gehen wir näher darauf ein. 4.4.3 Common Sense-Wissen Das Common Sense-Wissen bezieht sich auf die Kenntnisse über die Struktur der Außenwelt, die nicht durch die konzentrierte Mühe der Menschen erlernt und angewendet werden und diesen ermöglichen, ihre alltäglichen Ansprüche in der physikalischen, räumlichen, zeitlichen und sozialen Umgebung erfolgreich zu erfüllen (vgl. Kuipers 1979). Nach Raskin umfasst das Common Sense-Wissen die Kenntnisse über die bestimmten Routinen, die Standardprozesse, die grundlegenden Situationen, z.B. was die Menschen in einer gegebenen Situation tun, wie sie es tun und in welcher Reihenfolge sie es tun (vgl. Raskin 1985: 81). Zum Bestand des Common Sense-Wissens gehören z.B. die Kenntnisse über die Grundbegriffe (wie Raum, Zeit), über die Bedingungen und Ergebnisse der Handlungen (wie das Essen in einem Restaurant), die Eigenschaften der Gegenstände (wie die Farbe und Härte der Steine) und andere ähnliche Aspekte in der physikalischen Welt, aber auch solche in der geistigen oder der sozialen Welt, wie der Glaube, die Gedanken, die Emotionen der Menschen, usw39. (vgl. Kuipers 2004). Einstein hat einmal witzig dargestellt, dass Common Sense-Wissen die Sammlung der Vorurteile ist, die die Menschen bis zum 18. Lebensjahr gebildet haben (Wikipedia). Im Grunde genommen besitzt jeder Erwachsene ein bestimmtes Repertoire von Common Sense-Wissen. Beim Lesen oder Hören eines Witzes bildet er auf Grund seines Wissenssvorrats eine Erwartung über den Verlauf der Geschichte und eine Beurteilung über das Geschehen im Text. Witze, deren Verstehen nur das Common Sense-Wissen voraussetzt, sollen zugänglich für die Menschen aus verschiedenen Kulturen sein, denn das Common Sense-Wissen ist nicht durch die sozialen oder geschichtlichen Bedingungen geprägt, sondern zeigt sich universal. (15) ist ein Beispiel für die Witze mit dem Common Sense-Wissen als Verstehenshintergrund. (15) Zwei Österreicher kochen Kaffee. Als sie fertig sind, stellen sie fest, dass sie noch heißes Wasser übrig haben. Sagt der eine: Was sollen wir mit dem Rest 39 Siehe http://www.cs.utexas.edu/users/Kuipers 82 heißem Wasser machen? Sagt der andere: Weißt du was, das gefrieren wir ein, denn heißes Wasser kann man immer brauchen! (http://www.witz-des-tages.de) In (15) geht es um die Dummheit des Österreichers, denn seine Idee mit dem Einfrieren des heißen Wassers bewerten wir nach unserem Common Sense-Wissen als unmöglich. Anders als manche Lebensmittel, die durch das Gefrieren für längere Zeit aufbewahrt werden können, lässt sich heißes Wasser nur in einer Thermoskanne halten, wo die hohe Temperatur des Wassers nur langsam sinken wird. Die Idee des Österreichers steht im Gegensatz zu unserem Common Sense-Wissen. Dadurch wird der Humoreffekt in diesem Witz hergestellt. Neben dem sprachlichen, dem kulturellen und dem Common Sense-Wissen lässt sich das Skript 1 (die Erwartung des Lesers/Hörers von der Geschichte im Witz) auch direkt nur auf Grund der Informationen im Witztext bilden. In diesem Fall dient der Witzkontext allein als die Bedingung für das Bilden der beiden gegensätzlichen Skripte. Im nächsten Teil wird auf diese Witzkategorie näher eingegangen. 4.4.4 Kontextwissen Beim Lesen/Hören der Witze mit dem Kontext als Hintergrund kann man den Widerspruch zwischen den beiden Skripten anhand der Wörter im Text, die direkt Antonyme bilden oder antonymische Eigenschaften aufweisen, feststellen. Im Beispiel (8) aus dem Kapitel 3 besitzen die beiden Wörter „execution“ und „beginning“ nämlich antonymische Eigenschaft. Der Mann sollte am Montag hingerichtet werden. Im Gegensatz dazu behauptete er, dass die Woche schön begonnen habe. Im nächsten Beispiel (16) lässt sich der Widerspruch auch direkt an beiden Wörtern feststellen. (16) Ein Russe bestellt immer fünf Wodkas gleichzeitig im Restaurant. Er trinkt für seine vier Kriegskameraden mit, die im Krieg gefallen sind; dies sei die Abmachung gewesen, dass der Überlebende für die anderen mittrinken müsse, und er habe als einziger überlebt, erklärt der Russe. Eines Tages bestellt er nur noch vier Wodka. „Ich trinke nur noch für meine gefallenen Freunde“, erklärt er, „ich selbst bin Antialkoholiker geworden.“ 83 (Die besten Witze von A-Z, 2003) Der Widerspruch in (16) findet sich in dem letzten Abschnitt. Einerseits liegt die Tatsache klar auf der Hand, dass der Russe immer noch „Alkohol trinkt“, andererseits behauptet er, dass er „Antialkoholiker geworden ist“. Die beiden Phrasen „Alkohol trinken“ und „Antialkoholiker sein“ bilden hier direkt ein Gegensatz-Paar. Daraus resultiert der Humoreffekt in diesem Witz. Nachdem wir die verschiedenen Wissensbereiche, die zum Verstehen der Witze benötigt werden, diskutiert haben, bleibt noch anzumerken, dass bei manchen Witzen nicht nur eine Wissenssorte als Voraussetzung des Verstehens dient. In diesem Fall bezeichnen wir die verschiedenen Wissensbereiche, die zum Verstehen eines Witzes benötigt werden, als ein zusammengesetztes Hintergrundwissen. (17) ist ein Beispiel für Witze mit verschiedenen Wissenssorten als Hintergrund. (17) Ein Chinese kommt mit zwei Blondinen aus der Bäckerei. Warum? Er wollte zwei Blödchen. (http://www.witze-fun.de) Um (17) zu verstehen, muss man die folgenden drei Punkte als Hintergrund kennen: a) Die Deutschen meinen, dass die Chinesen „r“ nicht aussprechen können und diesen Buchstaben deshalb immer durch „l“ ersetzen. b) „Blödchen“ und „Brötchen“ hören sich ähnlich an und bilden ein Paar Pseudohomophone. c) In der westlichen Kultur werden die Blondinen als das Symbol für Dummheit angesehen. Anhand dieser drei Punkte wird einem klar, warum der Chinese in der Bäckerei statt „Brötchen“ zwei Blondinen bekommen hat. Der ganze Prozess des Geschehens im Witz (17) lässt sich in den folgenden drei Schritten darstellen: 1) Der Chinese ging in eine Bäckerei und wollte zwei Brötchen kaufen. Wegen a) und b) sagte er statt „Brötchen“ „Blödchen“. 2) Wegen c) verstand der Verkäufer unter den „zwei Blödchen“ zwei Blondinen. 84 3) Deshalb hat der Chinese am Ende bei der Bäckerei zwei Blondinen bekommen. Es ist zu sehen, dass a) und c) zum kulturellen Wissen gehören, während b) dem sprachlichen Wissen zugeordnet ist. Deshalb ist es festzustellen, dass der Witz (17) zwei verschiedene Wissenssorten als Hintergrund voraussetzt. In diesem Teil haben wir die vier verschiedenen Wissenssorten, die Sprache, die Kultur, das Common Sense und den Kontext, die als Hintergrund zum Verstehen der Witze benötigt sind, vorgestellt. Davon gehören die letzteren beiden zu den Kenntnissen, die nicht von Land zu Land und von Kultur zu Kultur variieren. Deshalb sind die damit verbundenen Witze universal und lassen sich auch leicht in eine andere Sprache übersetzen. Im Vergleich dazu hängen die ersteren beiden Wissenssorten eng mit den Besonderheiten einer Gegend zusammen. Deshalb sind die entsprechenden Witze auch relativ schwer in eine andere Sprache bzw. Kultur zu übertragen. Bisher sind in diesem Kapitel drei verschiedene Aspekte des Witzes analysiert worden, die u. a. die Zielscheibe, deren Eigenschaft und das Hintergrundwissen sind. Alle diese Aspekte beschäftigen sich mit den beiden grundlegenden Fragen in der Witzanalyse: worüber gelacht und warum darüber gelacht wird. Zu der ersten Frage kann man sagen, dass der Leser/Hörer über die Zielscheibe wegen deren besonderer (oft negativer) Eigenschaft lacht. Die zweite Frage wird damit beantwortet, dass die Ursache für das Auslachen in der Überlegenheit liegt, die der Leser/Hörer gegenüber den Zielscheiben dadurch bekommt, dass der erstere nach seinem Hintergrundwissen das Verhalten der letzteren als negativ oder unnormal betrachtet. Im nächsten Teil gehen wir auf den vierten Aspekt in der Witzanalyse ein – die Situationen. Dabei werden wir sehen, an welchen konkreten Situationen oder Geschehnissen die Eigenschaft der Zielscheibe dargestellt wird. 4.5 Die Situation Wie in der Vorstellung der GTVH erwähnt, versteht man unter der Situation das konkrete Geschehnis im Witz und die Rahmenbedingungen des Ereignisses. Dabei sind vor allem die Aktivitäten der Zielscheibe, die eingesetzten Instrumente und die Objekte der Aktivitäten gemeint (vgl. Attardo/Raskin 1991: 303, Attardo 2001: 24). In (2) und (17) aus diesem Kapitel handelt es sich z.B. um die Situation „Brötchenholen von einer Bäckerei“, in (4) um das „Schlafen bei der Arbeit“, in (9) 85 um das „Faxsenden“, in (13) um das „Kleidanprobieren bei einem Geschäft“ und in (15) um das „Kaffeekochen“. Es ist zu sehen, dass die Situationen im Witz meistens direkt als die Aktivitäten der Zielscheibe formuliert werden können, die dem realen Leben entnommen worden sind. D.h., die Menschen lachen meistens über die Situationen, mit denen sie sich gut auskennen. Oder umgekehrt gesagt: Man kann sich nicht darüber amüsieren, was einem in seiner Lebensumgebung oder nach seinem Wissensvorrat fremd zu sein scheint. Da die Situationen im Witz direkt mit dem realen Leben in der Kultur zusammenhängen, wo die Witze entstanden und verbreitet sind, kann man an der Analyse und dem Vergleich der Situationen im Witz aus verschiedenen Ländern die Unterschiede in den realen Lebensformen der Menschen aus diesen Ländern erkennen. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, den Aspekt Situation in der Witzanalyse in dieser Arbeit zu berücksichtigen, wenn eine Vergleichsstudie zwischen den deutschen und den chinesischen Witzen durchgeführt wird. Außerdem ist zu bemerken, dass für die Situationen im Witz nur eine offene Liste mit verschiedenen Beispielen aufzustellen ist, wie „Besuch der Freunde/Bekannten“, „Essen in einem Restaurant“, „Feiern des Geburtstags“, usw. Die Unbeschränktheit der Liste liegt daran, dass die Situationen direkt mit den realen Lebensbereichen zusammenhängen, die von sich aus kein geschlossenes System bilden. Die bisher diskutierten vier Aspekte – die Zielscheibe, deren Eigenschaft, das Hintergrundwissen und die Situation – befassen sich alle mit der inhaltlichen Seite des Witzes. Im nächsten Teil werden wir auf die formale Seite eingehen und uns damit auseinandersetzen, in welchen verschiedenen Formen die Witze ausgedrückt werden und wie die Beziehung zwischen der Form und dem Inhalt des Witzes aussieht. 4.6 Die Erzählform des Witzes Zu den Erzählformen des Witzes wurden bisher sehr wenige Forschungen durchgeführt. Attardo und Raskin (1991, 2001) haben einige Beispiele für diesen Aspekt genannt, vor allem die Erzählung, den Dialog, das Rätsel und das DreierModell (vgl. Attardo/Raskin 1991: 300, Attardo 2001: 23). Nach der Untersuchung von deutschen und chinesischen Witzen haben wir festgestellt, dass die Erzählung und der Dialog in den Witzen aus diesen beiden 86 Ländern relativ häufig vorkommen. Außerdem sind zwei spezifische Witzformen zu erwähnen, die Frage-Antwort-Folge und das Dreier-Modell. Sie werden nicht so häufig wie die ersteren beiden Formen benutzt, spielen aber auch eine wichtige Rolle, wenn es um die Witze geht, die häufig erzählt werden und sich schnell verbreiten. Bevor wir auf die verschiedenen Witzformen eingehen, empfiehlt es sich, zuerst die grundlegenden Strukturelemente, die für jede Witzform gelten, darzustellen. 4.6.1 Die Struktur des Witzes Nach Marfurt (1977) besteht jeder Witz aus drei verschiedenen Teilen: Der Einleitung, der Dramatisierung und der Pointe. 1. Einleitung Die Bedeutung der Einleitung besteht zunächst darin, kurz und prägnant eine fiktive Wirklichkeit zu entwerfen, in der sich dann das im Witz dargestellte Geschehen abspielen wird. Zumindest zwei “slots” sind in der Einleitung zu finden: einer für die Situationsangabe und einer für die Einführung der Figuren (Marfurt 1977: 93-94). In den Beispielen (2), (3) und (10) aus diesem Kapitel lassen sich die beiden „slots“ gut erkennen. „Der Schotte zum Bäcker: …“ (Witz (2), Kapitel 4) „Zwei Flöhe kommen aus dem Kino…“ (Witz (3), Kapitel 4) „Vor der Blinddarmoperation beruhigt der Chirurg seinen Patienten: …“ (Witz (10), Kapitel 4) Die Einleitung ist durch zwei Merkmale, Kürze und Prägnanz, kennzeichnet. Das erste erkennt man vor allem an der Verwendung der einfachen Hauptsätze, wie in Beispiel (3) und (10). Oder man benutzt für den Witzanfang keine Sätze, sondern stellt die Situation und die Figuren einfach in wenigen Worten dar, wie in Beispiel (2). Der Verzicht auf eine längere Einleitung mit komplizierten Sätzen liegt vor allem daran, dass eine zu ausführliche Vorstellung des Handlungsrahmens Gefahr laufen könnte, die Aufmerksamkeit des Lesers/Hörers statt auf die Hauptgeschichte, die im folgenden Teil des Witzes entwickelt wird, auf die Details in der Einleitung zu lenken. Neben der Kürze ist die Prägnanz der Schilderung ausschlaggebend: Der Witzhörer soll sich die entworfene Situation in ihren wesentlichen Zügen so konkret wie 87 möglich vorstellen können. Dafür werden sprachlich häufig der bestimmte Artikel und Eigennamen benutzt, welche beide dazu dienen, Personen und Ereignisse mit der Aura des schon Bekannten zu versehen (Marfurt 1977: 94-95). „Faucht der Chef seinen jungen Buchhalter an: …“ (Witz (12), Kapitel 4) „In der Thatcher-Zeit fragt ein Mädchen seinen Freund im Kindergarten: …“ (Witz (1), Kapitel 3) Ferner zeichnet sich eine prägnante Einleitung im Allgemeinen durch den Gebrauch des Präsens aus: Nicht die zeitliche Einordnung der dargestellten Ereignisse, sondern die Aktualität des witzigen Geschehens für den Hörer soll hervorgehoben werden, vor allem auch dann, wenn ein Bezug zu historischen Hintergründen hergestellt wird (Marfurt 1977: 95-96). Wir können sehen, dass in allen oben genannten Beispielen das Präsens benutzt wird. 2. Dramatisierung Nach der Einführung der Situation und der Figuren sind die Bedingungen dargestellt, auf deren Hintergrund das Witzereignis in Gang kommt. Der zweite Teil des Witzes wird als Dramatisierung bezeichnet, denn hier werden die Figuren und ihre Handlungen in der Weise erzählt, die dem Hörer/Leser erlaubt, eigene Erwartungen ins Spiel zu bringen, welche dann schließlich enttäuscht werden können (Marfurt 1977: 97). Nehmen wir Witz (5) aus diesem Kapitel als Beispiel, so können wir sehen, dass nach der kurzen Vorstellung des Ortes und der Witzfiguren ein Dialog zwischen den beiden Blondinen stattfindet. Das Gespräch bis vor dem Gedankenstrich dient hier als der Teil der Dramatisierung. Denn beim Lesen oder Hören macht man sich Gedanken über den Sachverhalt. Nach dem Hintergrundwissen hält man es meistens für stressig, in kurzer Zeit aus einer Wohnung ausziehen zu müssen, was auch die Ansicht der ersten Blondine ist. Die dazu unterschiedliche Auffassung der zweiten Blondine, die den Umzug als ein Glück ansieht, löst bei dem Leser/Hörer eine Frage bzw. eine Spannung aus. Man will wissen, warum sie es so sieht. Die Funktion der Dramatisierung liegt darin, einerseits den Leser/Hörer anzuregen, eigene Erwartungen von dem Geschehen im Witz aufzubauen, andererseits darin, mit einem Verweis auf ein Resultat, das anders als die Erwartungen des Lesers/Hörers sein wird, dessen Interesse für das Weiterlesen der Geschichte zu wecken. 88 (5) Auf der Straße treffen sich zwei Blondinen. Die eine: „Mein Vermieter will, dass ich bis zum Monatsende ausgezogen bin!“ Darauf die andere: „Da hast du aber noch Glück - meiner will das jeden Abend!“ Der Teil der Dramatisierung wird oft in der Form eines Dialogs manifestiert. Denn durch die direkte Rede zwischen den Witzfiguren kann der Leser/Hörer nicht nur den Sachverhalt kennen lernen, sondern sich auch durch den Rollenwechsel in die Gesprächssituation einfühlen und die Spannung dabei besser wahrnehmen. Aber der Dialog gilt nicht als die einzige Möglichkeit, die Dramatisierung darzustellen. Man kann auch in diesem Teil den Sachverhalt in einfacher erzählender Form ausdrücken, wenn es z.B. nur um eine Witzfigur geht, wie in (16) aus diesem Kapitel. Oder man stellt direkt eine Frage, die entweder dem Leser/Hörer komisch erscheint oder bei diesem einen Denkvorgang veranlasst, nach dem er zu einer eigenen Antwort auf die gestellte Frage kommen würde, wie in den Beispielen (1) und (14). 3. Pointe Nachdem die eigenen Erwartungen des Lesers/Hörers entstanden sind und dessen Interesse für das Weitergeschehen im Witz geweckt worden ist, geht man im dritten Teil auf die Pointe ein, welche gleichzeitig das Hauptkennzeichen des Witzes darstellt. Die Funktion der Pointe besteht darin, eine zweite semantische Interpretation des Textes einzuführen, die einerseits mit dem vorangehenden Textteil verbunden ist, andererseits aber zu diesem in Kontrast steht. Das erinnert uns an die Skripttheorie von Raskin (1985). Der Pointeteil ist nämlich die Stelle, an der ein Wechsel von einem Skript zum anderen ermöglicht wird (siehe Kapitel 3.2.2.1). Nach den Untersuchungen von Raskin und Attardo befindet sich die Pointe meistens am Ende eines Witzes. In dem oben genannten Beispiel (5) gilt der Satz nach dem Gedankenstrich „meiner will das jeden Abend“ als die Pointe des Witzes, denn darin wird eine zweite Bedeutung des Wortes „ausziehen“ aktiviert, was dann auch zu einer zweiten Interpretation des Textes führt. Wenn man den Pointeteil in (5) liest, fällt es einem zuerst schwer, den Satz zu verstehen, denn es kann nicht jeden Abend aus einer Wohnung ausziehen, wenn wir angesichts des vorangehenden Textes das Wort „ausziehen“ als „eine Wohnung für immer verlassen“ verstehen. Um dieses Problem zu lösen, versucht man die Wörter oder die Textstelle herauszufinden, die sich auf eine andere Weise interpretieren lassen. Nach dem kulturellen Hintergrund weiß der 89 Leser/Hörer, dass die Blondine das Image der Dummheit und erotischer Attraktivität besitzt. Im Pointesatz wird auch noch die Zeit zum „Ausziehen“ betont – „jeden Abend“, was nach dem Common Sense-Wissen als die Zeit fürs Schlafen gilt. Unter diesen beiden Bedingungen kann man die Vermutung haben, dass es in der neuen Interpretation des Textes um das Konzept „Sex“ geht. Um das genau festzustellen, prüfen wir das Verb für die Handlung der Blondinen noch einmal. Das Wort „ausziehen“ lässt sich zufällig auch als „die Kleidung vom Körper entfernen“ interpretieren. Bisher ist das neue Skript mit dem Konzept „Sex“ bestätigt worden. Für den Text sind dann zwei verschiedene Interpretationen möglich: eine als der Auszug der Blondine aus ihrer Wohnung, die andere als das Schlafen mit dem Vermieter. Die Pointe funktioniert. Nachdem wir die drei grundlegenden Strukturelemente des Witzes kennen gelernt haben, werden wir uns im nächsten Teil mit den verschiedenen Erzählformen des Witzes befassen. 4.6.2 Die verschiedenen Formen des Witzes Wie oben erwähnt wird, erweisen sich die Erzählung, der Dialog und die Mischung der beiden als die häufig verwendeten Witzformen im Deutschen und im Chinesischen. 1. Erzählung Die Erzählung versteht sich hier nicht als die literarische Gattung, als die mündliche oder schriftliche Darstellung von realen oder fiktiven Ereignisfolgen oder die selbständige Einzelkategorie innerhalb der Grundgattung Epik, die vor allem Roman, Novelle, Kurzgeschichte, Märchen, usw. umfasst (Metzler-Literatur-Lexikon, 1990). Sie bezieht sich vielmehr auf die Witze, die in reiner narrativer Weise dargestellt werden. Das oben genannte (16) ist ein Beispiel für diese Form. (16) Ein Russe bestellt immer fünf Wodkas gleichzeitig im Restaurant. Er trinkt für seine vier Kriegskameraden mit, die im Krieg gefallen sind; dies sei die Abmachung gewesen, dass der Überlebende für die anderen mittrinken müsse, und er habe als einziger überlebt, erklärt der Russe. Eines Tages bestellt er nur noch vier Wodkas. 90 „Ich trinke nur noch für meine gefallenen Freunde“, erklärt er, „ich selbst bin Antialkoholiker geworden.“ Man kann sehen, dass die drei Strukturelemente klar zu erkennen sind. Der erste Satz gilt als die Einleitung, in der die Situation und die Witzfigur vorgestellt werden. Die Dramatisierung umfasst den Teil vom zweiten Satz bis zum „ich trinke nur noch für meine gefallenen Freunde“ im letzten Abschnitt. Hier wird das Hauptgeschehen in erzählender Form dargestellt. Der Leser/Hörer erstellt inzwischen seine eigene Interpretation von der Geschichte, nämlich dass der Russe Alkohol sehr mag, obwohl er statt fünf nur noch vier Wodkas trinkt. Der letzte Satz gilt als die Pointe des Witzes, denn mit der Behauptung, er sei „Antialkoholiker“, wird eine zweite Interpretation des Textes ausgelöst, nämlich dass der Russe keinen Alkohol mehr trinkt. Es ist zu sehen, dass dieses Skript in Kontrast zu dem ersten steht, dass er immer noch vier Wodkas trinkt. Witze in erzählender Form haben zwar eine klare und vollständige Struktur, sind aber meistens lang und detailliert. Deshalb lassen sie sich relativ schwer einprägen und weitererzählen. Im Vergleich dazu kann man die Witze in der Form eines Dialogs mündlich besser verbreiten. Darauf wird im nächsten Teil eingegangen. 2. Dialog Wie der Name sagt, besteht ein Witz in dieser Form aus einem reinen Dialog. Die Einführung der Situation und der Witzfiguren findet man entweder in der kurzen Beschreibung der Gesprächsteilnehmer (wie in dem oben genannten (13)) oder direkt im Inhalt des Gesprächs (wie in (18)). (13) Sagt die Kundin zum Verkäufer: „Ich möchte gern das rote Kleid da im Schaufenster anprobieren.“ Darauf der Verkäufer: „Sehr gern, gnädige Frau, Sie dürfen aber auch eine Kabine benutzen.“ (Faule Witze von A bis Z, 2002) (18) „Frau Karl verehrt ihren Mann über alles. Sie sagt, er sei das Licht ihres Lebens.“ „Aha, dann verstehe ich auch, warum sie ihn nie ausgehen lässt.“ 91 (Faule Witze von A bis Z, 2002) In (13) erkennt man direkt aus der Darstellung der Dialogsteilnehmer, dass es um die Situation des Einkaufens zwischen Kundin und Verkäufer geht. In (18) werden die Figuren und ihre Beziehung zueinander im ersten Satz des Dialogs eingeführt. Daraus kann man auch schließen, dass es sich um eine Situation des Ehelebens handelt. Nach der integrierten Einleitung findet im Dialogwitz auch direkt die Dramatisierung statt, in der das Hauptgeschehen im Witz dargestellt wird. Der letzte Satz dient meistens als Pointe. Diese führt eine zweite semantische Interpretation des ganzen Textes ein, um so eine andere Bedeutung des semantischen Triggers, die nach dem Hintergrundwissen des Lesers/Hörers nicht zu dem vorangehenden Text passt oder meistens nicht gewählt wird, hervorzuheben. In (18) denkt man beim „Licht des Lebens“ meistens an dessen übertragene Bedeutung: „Jemand/etwas ist einem sehr wichtig“, statt an den wörtlichen Sinn „die Naturerscheinung – das Tageslicht“ oder den metaphorischen Sinn in der Religion, dass Gott das „Licht des Lebens“ 40 ist. In der Pointe wird jedoch der wörtliche Sinn oder der religiöse Sinn dieser Phrase betont: Die Frau will mit ihrem Mann den ganzen Tag zusammen sein, als ob er ihr das Tageslicht oder Gott wäre. Durch die Betonung der anderen Bedeutung lässt sich die Phrase auf zwei Weisen interpretieren. Entsprechend gibt es für den Text auch zwei semantische Interpretationen. Dialogwitze sind meistens kürzer und kompakter als Erzählungen, weil in den ersteren die Einleitung in den Teil der Dramatisierung integriert ist. Durch eine direkte Rede wird die Situation so anschaulich dargestellt, dass der Leser/Hörer sich besser mit den Witzfiguren identifizieren kann und auch die Pointe besser funktioniert. 3. Erzählung + Dialog Als eine Mischung aus Erzählung und Dialog hat diese Form die Merkmale von den beiden oben genannten Kategorien. Sie ist sowohl durch eine klare Struktur mit allen drei voneinander getrennten Teilen als auch durch die Anschaulichkeit und die Spontaneität des Gesprächs gekennzeichnet. Witze in der Form eines reinen Dialogs 40 In der Bibel nennt Jesus sich selber „das Licht der Welt“ oder „das Licht des Lebens“: „Da redete Jesus abermals zu ihnen und sprach: Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.“ (Johannes 8: 12) 92 lassen sich besser schriftlich als mündlich verbreiten, denn die integrierte Einleitung erscheint dem Hörer nicht immer klar, wodurch der Witzeffekt in gewissem Sinne negativ beeinflusst wird. Im Vergleich dazu lässt sich die Mischform aus Erzählung und Dialog sowohl mündlich als auch schriftlich gut verbreiten. Deshalb werden viele Witze in dieser Form dargestellt, wie die Beispiele (3), (5), (10), (12) und (15). Neben diesen drei grundlegenden Formen sind noch zwei spezifische Kategorien zu erwähnen, die Frage-Antwort und das Dreier-Modell. Sie unterscheiden sich von den oben genannten drei Formen vor allem dadurch, dass die letzteren beiden sich durch ein künstlerisches Standardmuster auszeichnen, während die ersteren drei Formen ähnlich wie eine authentische Situation aussehen. Im folgenden Teil wird auf die Frage-Antwort und das Dreier-Modell näher eingegangen. 4. Frage-Antwort Wie der Name sagt, bestehen die Witze in dieser Form aus zwei Teilen: einer Frage und der Antwort darauf. Ähnlich wie in den Dialogwitzen findet man hier die Einleitung und die Dramatisierung nicht getrennt, sondern integriert in der FrageZeile, während die Antwort-Zeile meistens als die Pointe dient. Der oben genannte Witz (9) ist ein Beispiel für diese Kategorie. Mit der Frage „woran erkennt man, dass ein Fax von einer Blondine gesendet wurde“ werden die Witzfigur „die Blondine“ und die Situation „Faxsenden“ eingeführt. Außerdem dient die Frage gleichzeitig als Dramatisierung, indem sie den Leser/Hörer veranlasst, sich Gedanken über die Frage zu machen und nach einer eigenen Antwort darauf zu suchen. Meistens wirkt die gestellte Frage entweder komisch oder schwer zu beantworten, deshalb wartet der Leser/Hörer mit Interesse auf die Antwort im Folgenden, die aber entweder ganz anders als die Lösung des Lesers/Hörers aussieht oder nach dessen Hintergrundwissen überhaupt nicht zu der Frage passt. Jedenfalls kommt man auf eine völlig unerwartete Antwort. Wegen der kompakten und standardisierten Struktur mit nur zwei Zeilen lassen sich die Frage-Antwort-Witze relativ einfach entwickeln bzw. schnell verbreiten. Außerdem sind sie besonders geeignet für die mündliche Kommunikation, denn der Erzähler kann nach der Fragestellung eine Pause machen und dadurch eine größere Spannung aufbauen, was entsprechend auch den Überraschungseffekt in der Pointe erhöhen kann. Aus diesem Grund wird die Frage-Antwort-Form viel und besonders 93 auf die Witze verwendet, in denen es um eine bekannte Figur oder Gruppe geht, wie die Blondinenwitze oder die Ostfriesenwitze. 5. Dreier-Modell Wie die Frage-Antwort gilt das Dreier-Modell auch als ein standardisiertes Muster der Witzform. Dabei sind die drei Strukturelemente – Einleitung, Dramatisierung und Pointe – voneinander getrennt zu erkennen. Die Situation und die Figuren werden zuerst am Anfang mit einem kurzen Satz vorgestellt. Darauf folgt das Hauptgeschehen, in dem zwei oder mehrere Figuren dieselbe oder eine ähnliche Handlung ausführen. Die Pointe findet in dem letzten Abschnitt statt, in dem die letzte Figur beim Wiederholen der eben erwähnten Handlung etwas Unerwartetes tut. Die Bezeichnung „Dreier-Modell“ geht auf die Zahl der Witzfiguren zurück, die dieselbe Handlung wiederholen. Witz (8) aus diesem Kapitel ist ein Beispiel für das Dreier-Modell. Nach der kurzen Vorstellung der Situation und der Figuren fängt er mit der Hauptgeschichte an. Während der britische und der asiatische Diplomat beide einen ähnlichen Satz korrekt und höflich formuliert haben, jeweils mit dem Inhalt auf die Damen der östlichen bzw. der westlichen Hemisphäre anzustoßen, wiederholt der französische Diplomat den Satz mit einem grammatischen Fehler, so dass am Ende statt eines höflichen Wunsches eine schlüpfrige Bemerkung ausgedrückt wird. Die Äußerung des Franzosen bildet die Pointe in diesem Witz. Das Dreier-Modell wird häufig auf die Witze über mehrere Figuren oder Gebiete angewendet. Mit der Tendenz der Globalisierung ist eine Reihe von internationalen Witzen entstanden, in denen verschiedene Länder oder Gebiete an demselben Sachverhalt präsentiert werden. In solchen Witzen wird z.B. häufig das DreierModell benutzt. Wegen der klaren und standardisierten Struktur lässt sich das DreierModell schnell entwickeln und verbreiten. 4.7 Fazit In diesem Kapitel haben wir nach der Vorstellung der GTVH die fünf verschiedenen Aspekte, die Zielscheibe, deren Eigenschaft, das Hintergrundwissen, die Situation und die Erzählformen, die bei der Analyse der Witze in der empirischen Untersuchung angewendet werden, erläutert. Dabei konzentrieren wir uns vor allem auf die Grundfragen, worüber im Witz und warum darüber gelacht wird. Basierend 94 auf der semantischen Skript Theorie des Humors werden mit dem Hintergrundwissen die Bedingungen für das Entstehen des Skripts 1 erläutert, nämlich die Bildung der Erwartung des Lesers/Hörers über den Witzverlauf, während mit der Zielscheibe und deren Eigenschaft das Skript 2, das reale Geschehen im Witz ausführlich dargestellt wird. Die Situation im Witz trägt auch zum Bilden der beiden Skripten bei, denn sowohl die Erwartung des Lesers/Hörers von der Geschichte im Witz als auch das Geschehnis selber finden immer im Rahmen einer Situation statt. Mit dem letzten Aspekt, der Textform, werden die Struktur und die Gattungen des Witzes vorgestellt. In den nächsten beiden Kapiteln werden die ethnischen bzw. die Familienwitze im Deutschen und im Chinesischen unter den oben erläuterten fünf Aspekten analysiert und miteinander verglichen. 95 96 5. Ethnische Witze Sage mir worüber du lachst, dann sage ich dir, woher du kommst. In diesem Kapitel geht es um die Analyse und den Vergleich der deutschen und der chinesischen ethnischen Witze. Unter ethnischen Witzen versteht man kurze Geschichten mit einem komischen Ende, die von einer oder mehreren ethnischen Gruppen handeln, denen eine spezielle Eigenschaft oder eine besondere Verhaltensweise zugeschrieben wird41 (vgl. Davies 1990: 1). Der Begriff ethnisch geht etymologisch auf das griechische Wort ethnikós zurück, das als „zum Volk gehörend“ interpretiert wird (Duden 1989). In der modernen Gesellschaft lässt sich das Konzept Ethnizität verallgemeinernd auf die Gruppen von Menschen beziehen, die Gemeinsamkeiten von Kultur besitzen, geschichtliche und aktuelle Erfahrungen miteinander teilen, Vorstellungen über eine gemeinsame Herkunft haben und auf dieser Basis ein bestimmtes Identitäts- und Solidarbewusstsein ausbilden. Daraus sind die zentralen Merkmale von ethnischen Gruppen zu erschließen: Der Glaube an eine gemeinsame Herkunft, an Gemeinsamkeiten von Kultur und Geschichte sowie Elemente eines Identitäts- und Zusammengehörigkeitsbewusstseins (Heckmann 1992: 30, 48-49). In diesem Sinne bezieht sich eine ethnische Gruppe nicht auf eine große Einheit wie die deutsche Nation, sondern auf die kleineren Teilbevölkerungen wie Schwaben und Bayern innerhalb der deutschen Nation oder die Großstädter wie Beijinger und Shanghaier innerhalb des chinesischen Volkes. Sie lassen sich durch den eigenen Dialekt, ihre typischen Küchenspezialitäten und ihre geschichtlichen sowie aktuellen Erfahrungen identifizieren. Dementsprechend beziehen sich die ethnischen Witze, die in dieser Arbeit diskutiert werden, auf solche Teilbevölkerungen. Die in den letzten Kapiteln erwähnten deutschen Witze über Ostfriesen bzw. Schotten und die chinesischen Witze über Ausländer sind Beispiele für diese Kategorie. 41 Die originale Definition der ethnischen Witze von Davies lautet: „jokes about peoples that consist of short narratives or riddles with comic endings which impute a particular ludicrous trait or pattern of behaviour to the butts of the joke…“ 97 Dieses Kapitel besteht insgesamt aus acht Teilen. Teil 1 stellt einige der ethnischen Gruppen in Deutschland bzw. in China vor, die in den zu diskutierenden Witzen vorkommen werden, damit die Leser eine allgemeine Vorstellung von den deutschen und den chinesischen ethnischen Witzen bekommen. In Teil 2 geht es um die Ergebnisse der bisherigen relevanten Forschungen über die ethnischen Witze. Teil 3 befasst sich mit den Auswahlkriterien für die Untersuchungsbeispiele in diesem Kapitel. Von Teil 4 bis Teil 7 werden die gesammelten deutschen und chinesischen ethnischen Witze unter den fünf verschiedenen Aspekten analysiert: 1. der Zielscheibe, 2. der Eigenschaft der Zielscheibe, 3. dem Hintergrundwissen, 4. der Situation und 5. der Erzählform. Darüber hinaus werden bei jedem Aspekt die Ergebnisse der Analyse zu beiden Sprachen miteinander verglichen. Der letzte Teil gilt als die Zusammenfassung des ganzen Kapitels. 5.1 Die ethnischen Gruppen in Deutschland bzw. in China 5.1.1 Vorstellung der ethnischen Gruppen in Deutschland Geographisch besteht Deutschland aus 16 Bundesländern: Berlin, Hamburg, Bremen, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Thüringen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Hessen, Baden-Württemberg und Bayern. Die Nachbarländer von Deutschland sind Dänemark an der nördlichen Seite, Polen, Tschechien, Österreich und die Schweiz an der östlichen bis zur südlichen Seite bzw. Frankreich, Luxemburg, Belgien und die Niederlande an der westlichen Seite. Abbildung 1 stellt die politische Karte von Deutschland dar. Die Gesamtbevölkerung Deutschlands beträgt Ende 2006 ca. 82 Mio. Davon sind 91% Deutsche42. Unter der Ausländerbevölkerung sind die polnische Minderheit, die Türken, die Sorben und die dänische Minderheit relativ große ethnische Gruppen (Wikipedia). Die deutschen ethnischen Witze handeln von diesen erwähnten Gruppen, stärker aber noch von den deutschen ethnischen Gruppen, die die große Mehrheit der Gesamtbevölkerung ausmachen. Im Folgenden werden einige der deutschen ethnischen Gruppen vorgestellt. 42 Siehe die Webseite des Statistischen Bundesamtes Deutschlands: http://www.destatis.de (20. September 2007). 98 Abbildung 1: Landkarte von Deutschland43 Zu den relativ großen ethnischen Gruppen in Deutschland gehören z.B. Schwaben, Bayern, Sachsen und Ostfriesen. Die Volksgruppe Schwaben lebt vor allem in BadenWürttemberg bzw. dem westlichen Teil von Bayern. Etymologisch geht der Name Schwaben auf die Sueben, eine Stammesgruppe germanischer Völker zurück, die im dritten Jahrhundert nach Süddeutschland einwanderten und die römischen Agri decumates besetzten (Zettler 2003: 17-19). Heutzutage werden mit dem Begriff vor allem die Sprecher der schwäbischen Dialekte gemeint. Schöffler hat einmal in „Der kleinen Geographie des deutschen Witzes“ das Schwäbische beschrieben: „Ein Aeschthetiker Schwabens, Köstlin, zu sprechen Keschtle, mit starkem Ton auf der ersten Silbe, hat an einer im Turnus widerkehrenden Stelle seines Kollegs in Verzückung ausgerufen: ‚Das Schöschte und Erhabenschte, was die klassische Kunscht hervorbegracht hat, ischt der Bruschte der Venus von Milo!’“ (Schöffler 1955: 21). Seit dem späten Mittelalter gab es nicht wenige auf die Schwaben abzielende Sprichwörter, wie z.B. „Schwaben haben nur vier Sinne“, oder „Ein Schwabe hat kein Herz, sondern zwei Mägen“. In der Schwankliteratur des 16. 43 Siehe http://www.mapsofworld.com (20.September 2007). 99 Jahrhunderts werden Schwabenspott und „Schwabenstreiche“ typisiert. Danach gilt der Schwabe als groß, dumm, lügnerisch, händelsüchtig und hinterhältig. Solche Vorurteile und Klischee-Vorstellungen haben Jahrhunderte lang angehalten. Erst die letzten anderthalb Jahrhunderte bringen eine Wende ins Gegenteil. Das 19. Jahrhundert, in dem Schwaben zugleich Mittelpunkt der Literatur- und Geistesgeschichte wurde, brachte eine enorme Aufwertung des Schwaben, die auch im populären Selbstlob der Schwaben ihren Niederschlag gefunden hat (Röhrich 1977: 249): Der Schelling und der Hegel, Der Schiller und der Hauff, Das ist bei uns die Regel, Das fällt uns gar nicht auf. (Eduard Paulus, Arabesken, 1897, S. 70) Nicht nur in den Geisteswissenschaften, sondern auch in der Wirtschaft und Industrie haben die Schwaben in den letzten anderthalb Jahrhunderten einen großen Beitrag für Deutschland geleistet. Einige wichtige Unternehmen in Deutschland, wie Daimler und Bosch, wurden von den Schwaben gegründet. Neben den Schwaben im Süden wird eine andere ethnische Gruppe aus Norddeutschland ebenfalls häufig in den deutschen Witzen behandelt: die Ostfriesen. Sie stellen den östlichen Zweig der friesischen Volksgruppe dar und gehören damit neben den Dänen, Sorben und den Sinti und Roma zu den anerkannten Minderheiten in Deutschland. Die Ostfriesen leben meistens in Ostfriesland, das sich im Nordwesten des Landes Niedersachsen befindet (Wikipedia). Als historisch gewachsene Einheit war das Gebiet von 1464 bzw. von 1600 bis 1744 mit der Grafschaft Ostfriesland, später dann mit der Provinz Ostfriesland und schließlich mit dem Regierungsbezirk Aurich identisch. Im Jahre 1978 wurden die Bezirke Aurich und Oldenburg zum neuen Regierungsbezirk Weser-Ems vereinigt. Ostfriesland hatte eine relativ schwer zugängliche und gefährliche Flachküste am Wattenmeer und einen siedlungs- und verkehrsfeindlichen Moorgürtel, der das Gebiet stark von der Außenwelt abschloss, so dass es Jahrhunderte lang in kultureller, ethnischer und politischer Hinsicht ein Eigenleben führen und seine Eigenart herausbilden und bewahren konnte. In wirtschaftlicher Hinsicht sind die Erwerbszweige in Ostfriesland, 100 wie Fischerei, Landwirtschaft, Fremdenverkehr, Tief- und Hochbau, stark saisonabhängig (Rack 1998: 7, 107). Wegen der relativen Unterentwickeltheit und der Abgeschlossenheit in der Geschichte werden Ostfriesen im Witz oft als dumm, faul, unsauber usw. dargestellt. Wie oben erwähnt, sind Schwaben in der Vergangenheit auch Gegenstand der Verspottung gewesen. Der Ostfriesenwitz ist dagegen die jüngste Entwicklung solcher ethnischen Witze (Röhrich 1977: 272). In den folgenden Teilen dieses Kapitels werden wir näher darauf eingehen. Bemerkenswert ist, dass die meisten Ostfriesenwitze – so behauptet ihr Sammler und Herausgeber, der unter dem Pseudonym Onno Freese schreibt – von den Ostfriesen selbst stammen (Röhrich 1977: 273). 5.1.2 Vorstellung der ethnischen Gruppen in China Geographisch besteht China aus 34 Verwaltungseinheiten, zu denen 23 Provinzen (wie Shandong, Henan, Sichuan, Guangdong usw.), fünf autonome Gebiete (z.B. Xinjiang, Innere Mongolei usw.), vier regierungsunmittelbare Städte (Beijing, Tianjin, Shanghai, Chongqing) und zwei Sonderverwaltungszonen (Hongkong, Macao) gehören. Die Nachbarländer von China sind im Uhrzeigersinn von Süden ausgehend Vietnam, Laos, Burma, Bhutan, Nepal, Indien, Pakistan, Afghanistan, Tadschikistan, Kirgisistan, Kasachstan, Russland, Mongolei und Nordkorea. Abbildung 2 zeigt die Verwaltungseinheiten und die Nachbarländer von China. In den 34 Verwaltungseinheiten von China leben insgesamt 56 ethnische Gruppen, wie Han, Zhuang, Mandschu, Hui, Mongolen usw. Darunter verteilen sich die HanChinesen, die 92% der gesamten Staatsbevölkerung bzw. fast ein Fünftel der Weltbevölkerung ausmachen, vor allem in Mittel-, Ost- und Südchina in die Provinzen, regierungsunmittelbaren Städte und Sonderverwaltungszonen. Die meisten der anderen ethnischen Gruppen befinden sich in den fünf autonomen Gebieten, die in Nord- und Westchina liegen. Jede ethnische Gruppe hat ihre eigene Sprache in Wort oder auch in Schrift. Auf den chinesischen Geldscheinen findet man die fünf Hauptschriftsprachen: Chinesisch, Mongolisch, Tibetisch, Uyghurche und ZhuangSchrift. Obwohl alle Han-Chinesen dieselbe Schriftsprache, Chinesisch (inkl. Kurzund Langschriftzeichen) benutzen, werden in verschiedenen Regionen unterschiedliche Dialekte gesprochen. Darunter erweisen sich manche Dialekte, wie Wu, Hakka, Kantonesisch, eher als eigene Sprachen denn als Dialekte. Außerdem besitzen die Menschen aus vielen Provinzen ihre eigenen geschichtlichen und 101 aktuellen Erfahrungen in Kultur und Gesellschaft bzw. ein relativ selbständiges Identitätsbewusstsein und eine klare Grenze zu anderen Gebieten, deshalb hat man Recht, wenn man die These aufstellt, dass innerhalb von Han verschiedene kleinere ethnische Gruppen zu unterscheiden sind. In dieser Arbeit werden nur diese kleineren Gruppen diskutiert, einerseits weil die gesammelten Witze wegen meiner Sprachbeschränktheit nur die, die im Chinesischen erschienen sind, andererseits ist eine Forschung über diese Untergruppen von großer Bedeutung und Notwendigkeit, denn sie machen mit 92% die absolute Mehrheit der gesamten chinesischen Bevölkerung aus. Eine breitere Untersuchung zu den weiteren ethnischen Gruppen neben Han wäre ebenfalls sinnvoll. Dazu müsste mehr Material über deren Humorkultur bzw. die mündlich überlieferten Witze gesammelt werden, die in den einheimischen Sprachen dargestellt werden. Abbildung 2: Landkarte von China44 Unter den Han-Chinesen findet man eine Reihe kleinerer Gruppen, die durch ihre eigene Sprache, Geschichte und ihre Lebensgewohnheiten charakterisiert werden. Als Beispiel werden hier Beijinger und Shanghaier vorgestellt. Beijing hat eine Geschichte von über 2000 Jahren. Sie ist nicht nur die Hauptstadt des heutigen Chinas, sondern war auch das politische Zentrum der Dynastien Yuan (1276-1368), 44 Siehe http://www.wellesley.edu (22. September 2007). 102 Ming 45 (1368-1644) und Qing (1644-1911). Der Name bedeutet im Chinesischen „Hauptstadt im Norden“. In Beijing wird ein Dialekt gesprochen, der sich ähnlich wie die offizielle Sprache in China – das Ptnghuà – anhört. Auf Grund der jahrhundertenlangen Position als politisches Zentrum hat sich eine so genannte Beijing-Kultur entwickelt. Die Menschen fühlten sich als Nachbarn der kaiserlichen Familie und deshalb als überlegen gegenüber den Provinzen. Sie zeigen ein großes Interesse an der Politik des Inlands bzw. des Auslands. Die Taxifahrer sind bekannt für ihre Informationsfreudigkeit, ihren Humor und ihre Redefähigkeit, so dass es heißt, dass die Touristen bei der ersten Taxifahrt sofort alles von Beijing kennen lernen können. Die Nudel mit einer besonderen Soße und verschiedenen Gemüsesorten gilt als eine bekannte lokale Spezialität, obwohl die Beijinger Küche wegen der Position als kulturelles Zentrum eher eine Mischung aus verschiedenen Gebieten darstellt. Im Vergleich zu der Beijing-Kultur in Nordchina entwickelte sich eine Shanghai-Kultur im Südosten. Mit einer relativ kurzen Geschichte von 700 Jahren zählt Shanghai nicht zu den alten Städten in China. Der große Aufschwung findet seit der Mitte des 19. Jahrhunderts statt, als der Hafen Shanghai zur Außenwelt geöffnet wurde. Heute gilt Shanghai als eine wichtige Wirtschaftsmetropole neben Hongkong und darüber hinaus als das Kulturzentrum in Südchina. Die ShanghaiKultur ist bekannt für ihre Toleranz gegenüber Neuerscheinungen und ihre Multikulturalität. Die Gebäude in Shanghai weisen eine Mischung aus europäischen und asiatischen Stilen auf. Wegen der großen Bevölkerungsdichte und des beschränkten Lebensraums vor den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts sind die Shanghaier auch bekannt für ihr vernünftiges und genaues Rechnen beim Konsumieren und die kleinen Essensportionen im Restaurant, über die die Touristen aus anderen chinesischen Gegenden häufig lachen oder klagen, obwohl die Shanghaier Küche durch ihren milden und gesunden Geschmack in Südostchina sehr bekannt, beliebt und weit verbreitet ist. Nachdem wir die geographische Zusammensetzung und einige ethnische Gruppen von Deutschland bzw. von China kennen gelernt haben, gehen wir im folgenden Teil auf die Forschungen über ethnische Witze ein, die in den letzten Jahrzehnten durchgeführt wurden und mit denen unsere empirische Studie eng zusammenhängt. 45 In der Ming-Dynastie war Beijing erst vom Jahre 1421 an die Hauptstadt. 103 5.2 Die wichtigen Forschungen über ethnische Witze Über ethnische Witze wurden im 20. Jahrhundert eine Reihe von Forschungen in verschiedenen Disziplinen wie Volkskunde, Soziologie und Linguistik durchgeführt. Schöffler (1955) hat eine kleine Geographie des deutschen Witzes zusammengestellt. Raskin (1985) hat die Skripttheorie auf die ethnischen Witze angewendet. Davies (1990) hat den ethnischen Humor auf der ganzen Welt untersucht. Hier werden nur einige wichtige Ansätze aus den linguistischen und den soziologischen Forschungen vorgestellt. Eine der relevantesten linguistischen Theorien zur Witzanalyse ist die Semantische Skript Theorie über Humor (SSTH) von Raskin (1985). Er behauptet, dass die Skriptopposition eine der notwendigen Voraussetzungen für einen Witztext sei. Aufgrund dieser These hat Raskin vier wichtige Skripten für die Kategorie der ethnischen Witze zusammengefasst: Dialekt, Dummheit, Geiz und Arglist (Raskin 1985: 180-221). 1) Dialekt In jedem Land gibt es eine oder mehrere offizielle Sprachen und gleichzeitig verschiedene Dialekte, die von der/den offizielle(n) Sprache(n) abweichen. Im Umgang mit den Menschen aus derselben Region spricht man häufig den einheimischen Dialekt statt der Standardsprache. Für die, die einen relativ starken Dialekt sprechen, ist es oft schwierig, die Standardsprache gut zu benutzen. Witze mit dem Dialektskript beschäftigen sich mit den Unterschieden zwischen der Regionalund der Standardsprache bzw. der Unfähigkeit der Menschen beim Benutzen der offiziellen Sprache. Die Standardsprache in Deutschland ist das Hochdeutsch, das vor allem in Norddeutschland, besonders in der Umgebung von Hannover46 gesprochen wird. Deshalb gibt es eine Menge Witze über den Dialekt in Sachsen, Bayern oder Schwaben, der sich ganz anders als das Hochdeutsche anhört. In China gilt das Mandarin oder P tng huà als die Standardsprache, die ähnlich wie der Dialekt in der Hauptstadt Beijing klingt. In den anderen Regionen spricht man einen eigenen Dialekt, der kleine oder große Abweichungen von der Standardsprache aufweist. Im 46 Die nördliche Aussprache wurde später als Standard bezeichnet und weiter nach Süden verbreitet. In manchen Regionen (wie z.B. der Umgebung von Hannover) ist der lokale Dialekt nach einiger Zeit völlig verschwunden (Wikipedia). 104 Chinesischen gibt es zahlreiche Witze über die verschiedenen lokalen Sprachen, besonders wenn derselbe Satz im P tng huà und der Regionalsprache zwei völlig verschiedene Bedeutungen besitzt, wie in Beispiel (1) dargestellt wird: (1) ᯳᯳ⱘᴎᬊࠄϔᴵ༛ᗾⱘⷁ⍜ᙃˈিҪ⫼ᷛⱘޚ᱂䗮䆱ໄⱘ䇏ߎᴹˈ᯳᯳ 㞾㾝᱂䗮䆱䇈ᕫϡ䫭ˈህໄഄᗉњߎᴹ˖“ኌᰃ㓓ˈኌᰃ㓓ˈኌᰃ㓓DŽ” 䖭ϔ䇏ϡ㽕㋻ˈᡞ䱨ຕⱘቅϰཛྷ㒭Фണњ˖“䇕ᆊⱘ㷶偈䙷ⵢܓোਸ਼˛” (http://joke.tom.com) Meine eigene Übersetzung: Xingxing (ein chinesischer Jungenname) hat auf seinem Handy eine Nachricht bekommen: „Àn shì l, àn shì l, àn shì chn l.” (Satz) (Das Ufer ist grün, das Ufer ist grün, das Ufer ist frühlingsgrün.) (Bedeutung 1) Die Nachbarin aus Shandong 47 hat das zufällig mitgehört und wollte sich totlachen: „Welcher Dummkopf ist da drüben, der immer wiederholt: ‚Ich bin (ein) Esel, ich bin (ein) Esel, ich bin (ein) dummer Esel! (Bedeutung 2)’“ In diesem Witz hat Xingxing die Nachricht auf Mandarin vorgelesen, was bedeutet, dass „das Ufer im Frühling grün geworden ist (Bedeutung 1)“. Aber derselbe Satz wird in Shandonger Dialekt anders interpretiert: „Ich bin (ein) Esel, ich bin (ein) Esel, ich bin (ein) dummer Esel (Bedeutung 2).“ 2) Dummheit In vielen Ländern findet man eine Kulturgruppe, die im Witz als dumm bezeichnet wird, z.B. die Ostfriesen in Deutschland, die polnischen Immigranten in den USA, die Belgier in Holland. Witze mit dem Dummheitsskript bilden fast die größte Gruppe unter allen ethnischen Witzen (Raskin 1985: 185). Dummheit bezieht sich hier auf die Unfähigkeit der betroffenen Gruppe beim Umgang mit dem Haushalt oder der Technik bzw. deren Unkenntnis der neuen Begriffe oder dem Fehlen eines Common Sense-Wissens. In Kapitel 3 und Kapitel 4 haben wir die Witze diskutiert, die von dem Ostfriesen handeln, der nach den anderen Vätern seiner Drillinge suchen wollte, oder von den fünf Polen, die für das Schrauben einer Glühbirne eingesetzt werden, 47 Der Name einer Provinz in Ostchina. 105 von dem französischen Diplomaten, der kein gutes Englisch sprechen kann, von der Blondine, die beim Faxsenden eine Briefmarke auf das Papier geklebt hat, bzw. von den Österreichern, die heißes Wasser im Kühlschrank behalten wollen. All das sind Beispiele für die Kategorie der Dummenwitze. 3) Geiz Im Witz wird die Zielscheibe des Spottes als geizig bezeichnet, wenn sie alles Mögliche tut, um das Ausgeben von Geld zu vermeiden. Nach Davies findet man auch in vielen Kulturen eine Gruppe, deren Image durch den Geiz charakterisiert ist, wie z.B. Schwaben in Deutschland, Holländer in Belgien, Mailänder in Italien, Auvergner in Frankreich, Armenier in Griechenland, Griechen in der Türkei, Sindis in Indien bzw. Shansier 48 in China. Manche Gruppen weisen keine starke eigene Ethnizität auf, sondern werden eher als Bewohner einer Stadt oder eines Gebiets mit einem speziellen Charakteristikum beschrieben. Ein interessantes Phänomen bei den Geizwitzen stellt der internationale Bezug auf die beiden ethnischen Gruppen Schotten und Juden dar. In vielen Englisch sprechenden, aber auch in einigen anderen europäischen Ländern gelten Schotten und Juden im Witz als Vertreter für die Eigenschaft Geiz (Davies 1990: 103). Der Witz (2) aus dem Kapitel 4 gilt als ein Beispiel für diese Kategorie. Dabei fordert der Schotte den Bäcker auf, sein Brot in die Zeitung des aktuellen Tages zu verpacken, so dass er das Geld für den Kauf der Zeitung sparen kann. Ein Grund für die Internationalität der Juden- und der Schottenwitze besteht wahrscheinlich in der Diaspora der ersteren und der Massenemigration der letzteren bei der Suche nach wirtschaftlichen Opportunitäten (Davies 1990: 102). 4) Arglist In den Witzen mit dem Arglistskript tut die Zielscheibe (in hinterlistiger Weise) etwas Ungewöhnliches, um ihr Ziel zu erreichen. Bekannte arglistige Gruppen im Witz sind Holländer in Deutschland, Shanghaier in China, Juden in den USA und anderen 48 Davies meint hier wahrscheinlich die Menschen aus der Provinz Shansi, die heute als Shanxi geschrieben wird. Sie liegt in Mittelwestchina und war im 18. – 19. Jahrhundert ein wichtiger Ort der Wirtschaft und des Handels in China. Heute hat die Bedeutung von Shanxi wegen ihrer relativ abgeschlossenen geographischen Lage abgenommen. Mit der Öffnungspolitik findet der Wirtschaftsaufschwung seit zwei Jahrzehnten in den östlichen Küstengebieten statt. Entsprechend werden Shanghaier als die Vertreter für die Eigenschaft Geiz dargestellt. 106 Ländern usw. In Witz (2) wird z.B. dargestellt, wie ein Holländer einen Apfel für einen hohen Preis an einen Deutschen verkauft hat. (2) Ein Deutscher sitzt mit einem Holländer im Zug. Nach einer Weile öffnet der Holländer seinen Rucksack und nimmt einige Apfelkerne heraus, die er dann isst. Fünf Minuten später das gleiche Spiel. Da fragt der Deutsche: „Entschuldigung, warum essen Sie die Apfelkerne?“ Der Holländer: „Davon wird man intelligenter.“ Der Deutsche: „Verkaufen Sie mir welche?“ Der Holländer: „Natürlich! 3 Stück für 5 Euro.“ Der Deutsche: „Das geht in Ordnung.“ Er nimmt die Apfelkerne und isst sie. Zehn Minuten später bemerkt er: „Für fünf Euro hätte ich doch einige Äpfel bekommen und hätte mehr Kerne gehabt!“ Darauf der Holländer: „Sehen Sie, es wirkt schon!“ (http://www.witz-des-tages.de) Es ist zu bemerken, dass die oben genannten geizigen Gruppen in gewissem Sinne mit den arglistigen zu identifizieren sind, denn wer alles Mögliches tut, um das Ausgeben von Geld zu vermeiden, gehört zu denen, die durch eine ungewöhnliche Tätigkeit ihr Ziel zu erreichen versuchen. Neben den oben genannten Typen, Dialekt, Dummheit, Geiz und Arglist, sind weitere spezifische Skripte, die einzelne Kulturen betreffen, festzustellen, z.B. die Romantik der Franzosen, die steife Höflichkeit der Engländer, die Arroganz der Amerikaner, die Inflexibilität der Deutschen (Raskin 1985: 194-199). Der englische Soziologe Christie Davies hat eine umfangreiche Studie zu den ethnischen Witzen auf der ganzen Welt durchgeführt und stellt fest, dass Dummheit und Geiz viel weiter verbreitet sind als alle anderen Skripte (Davies 1990: 10). In Ethnic Humor Around the World (1990) hat er eine Liste erstellt, in der die Vertreter 107 für die beiden Skripten in jedem Land zusammengefasst wurden (Davies 1990: 1112): TABLE The Stupid and the Canny Country where both “stupid” and “canny” jokes are told Identity of „stupid“ group of jokes Identity of “canny” group of jokes ____________________________________________________________________ United States Poles (and others locally, e.g., Italians, Portuguese) Jews, Scots, New England Yankees, Iowans Canada (East and especially Ontario) Newfies (Newfoundlanders) Jews, Scots, Nova Scotians Canada (West) Ukrainians, Icelanders Jews, Scots Mexico Yucatecos (people from Yucatan) Regiomontanos (citizens of Monterrey) Colombia Pastusos (people from Pasto in Narino) Paisas (people from Antioquia) England Irish Scots, Jews Wales Irish Cardis (people from Cardiganshire), Scots, Jews Scotland Irish Aberdonians, Jews Ireland Kerrymen Scots, Jews France Belgians, Ouin-Ouin (French Swiss) Auvergnats (people from the Auvergne), Scots Netherlands Belgians, Limburghers Jews, Scots Germany Ostfrieslanders Swabians, Scots, Jews Italy Southern Italians Milanese, Genovese, Florentines, Scots, Jews, Levantines Switzerland Fribourgers Spain People of Lepe in Andalucia Jews, Genevois, Balois (people from Geneva and Basel) Aragonese, Catalans Finland Karelians Laihians (people from Laihia) 108 Bulgaria Sopi (peasants from rural area outside Sofia) Gabrovonians (people from Gabrovo), Armenians Greece Pontians (Black Sea Greeks) Armenians Russia Ukrainians, Chukchees Jews China Sansui People from Shansi India Sardarjis (Sikhs) Gujaratis, Sindis Pakistan Sardarjis (Sikhs) Hindus, especially Gujaratis Iran Rashtis (Azerbaijanis from Rasht) Armenians, Isfahanis, Tabrizis (people of Isfahan, Tabriz) Nigeria Hausas Ibos South Africa van de Merwe (Afrikaners) Jews, Scots Australia Irish, Tasmanians Jews, Scots New Zealand Irish, Maoris (in the North Island), West Coasters (in the South Island) Jews, Scots, Dutch 5.3 Die Korpusauswahl in diesem Kapitel Es wurden insgesamt 534 deutsche bzw. 123 chinesische ethnische Witze aus den verschiedenen Webseiten und Witzbüchern ausgewählt, die in Kapitel 1 vorgestellt wurden. Bei der Sammlung wurden zuerst alle Witzeinträge, die unter dem Stichwort Länder & Leute, Nationen oder verschiedenen ethnischen Gruppen (Ostfriesen, Schotten etc.) eingeordnet sind, zusammengestellt. Anschließend wurden die Einträge nach dem Maßstab geprüft, ob es sich im Witz vor allem um die Eigenschaften der betroffenen ethnischen Gruppe handelt. Die Beispiele, die dieses Merkmal nicht besitzen, wurden aus dem Korpus aussortiert. Auf diese Weise wurden zwei Datenbanken jeweils für die deutschen und die chinesischen ethnischen Witze erstellt. Es ist zu bemerken, dass die Zahl der deutschen Beispiele viel größer als die der chinesischen ist. Damit das Untersuchungsergebnis zwischen den beiden Sprachen vergleichbar ist, werden die Anteile der Witze statt deren absoluter Zahlen bei der Analyse benutzt. 109 In den folgenden Teilen dieses Kapitels werden die gesammelten deutschen und chinesischen ethnischen Witze unter den fünf verschiedenen Aspekten analysiert bzw. miteinander verglichen: Zielscheibe, deren Eigenschaften, Hintergrundwissen, Situation und Erzählform. 5.4 Die Zielscheiben und deren Eigenschaft in den ethnischen Witzen 5.4.1 Die Zielscheiben und deren Eigenschaften in den deutschen ethnischen Witzen In den 534 deutschen ethnischen Witzen geht es insgesamt um 23 Zielscheiben, wie Ostfriesen, Schotten, Ossis/Wessis, Österreicher, Polen, Holländer, Bayern, Schwaben, Russen, Türken, usw. Dabei erweisen sich drei ethnische Gruppen – Ostfriesen, Schotten und Ossi/Wessi – als die am häufigsten anvisierten. Auf den Webseiten bilden die Witze über diese drei Gruppen oft selbständige Kategorien, statt unter dem Stichwort Länder & Leute oder Nationen eingeordnet zu sein. Im Vergleich dazu gehören Araber, Indianer und Chinesen zu den ethnischen Gruppen, die in den deutschen Witzen selten vorkommen. Das liegt wohl daran, dass die arabische, indianische und chinesische Kultur wegen der geographischen Entfernung oder geschichtlichen Entwicklung weniger Kontakt zu der deutschen Kultur als die anderen europäischen oder nordamerikanischen Kulturen haben. In der folgenden Tabelle 3 werden alle 23 Zielscheiben und deren im Witz dargestellte Eigenschaften aufgelistet. Dabei findet man auch den Anteil der Witze bei jeder Gruppe. Platz Zielscheiben Anteil Eigenschaften 1 2 3 Ostfriesen 37% Schotten 19% Ossis/Wessis 9% Dummheit Geiz Ossis: Dummheit, Faulenzen bei der Arbeit, Feindlichkeit gegen Wessis, Warenmangel, schlechte Autos Wessis: Arroganz, Feindlichkeit gegen Ossis 4 5 6 7 8 9 Österreicher 7% Dummheit Polen 5% Autoklauen Bayern 4% Dialekt, Dummheit, Feindlichkeit gegen Protestanten Holländer 2,2% Arglist, Geiz, Leben im Auto, Unfähigkeit beim Autofahren Amerikaner 2% Dummheit, Arroganz Schwaben 2% Geiz, Dialekt 110 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 Deutsche 1,9% Schlauheit, Faulenzen bei der Arbeit, Bürokratie, Arbeitslosigkeit, Desinteresse Russen 1,3% Alkoholsucht, schlechte Technik, Warenmangel Türken 1,1% Autodiebstahl, schlechter Nachbar, Faulheit Italiener 1,1% Aussehen, Mafiakultur Japaner 0,9% Kein Unterscheiden von l / r, gute Technik, Schlauheit Juden 0,9% Schlauheit Sachsen 0,9% Dialekt, Dummheit Schweizer 0,7% Geiz, Schlauheit Engländer 0,4% Steife Höflichkeit Franzosen 0,4% Sex Chinesen 0,4% Kein Unterscheiden von l / r Indianer 0,4% Ungewöhnliches Ritual Araber 0,2% Niedrige Position der Frauen Vermischtes 0,7% Tabelle 3: Zielscheiben und deren Eigenschaften in den deutschen ethnischen Witzen Es ist zu bemerken, dass die ersten zehn Zielscheiben entweder die inländischen Ethnien sind, wie Ostfriesen, Ossis/Wessis, Bayern, Schwaben und Deutsche (als eine Einheit), oder sie erweisen sich als die Nachbarländer von Deutschland, wie Österreicher, Polen und Holländer. Die Schottengruppe steht auch ziemlich vorn, weil sie in fast allen europäischen und nordamerikanischen Kulturen für ihren Geiz bekannt ist (siehe die Liste von Davies 1990: 11-12). Amerikaner kommen auch relativ häufig vor, wohl weil sich ein Teil von Deutschland zwischen 1945 und 1949 unter der amerikanischen „Besatzung“ befand. Außerdem liegt der große Einfluss der Amerikaner auch an der schnellen Entwicklung und an der Verbreitung von Wirtschaft und Kultur der USA im 20. Jahrhundert. Aus diesen beiden Gründen kennt man sich in Deutschland mit der amerikanischen Kultur relativ gut aus und macht entsprechend viele Witze über sie. Im Grunde genommen kann man sagen, dass je mehr Kontakt eine Kulturgruppe zu einer anderen hat, desto mehr Witze machen die Menschen in der ersten Gruppe über die zweite. Deshalb lachen die Engländer über die Iren, die Franzosen über die Belgier, die Deutschen über die Holländer, die Schweizer über die Österreicher, die Chinesen über die Japaner, die Brasilianer über die Argentinier, usw. Alle Paare sind Nachbarländer, die in engem Kontakt zueinander stehen. Nun kommen wir zu den Skripten, die in den deutschen ethnischen Witzen vorkommen. Es werden nach der Reihenfolge von Raskin (siehe Kapitel 5.3) erst 111 einmal die vier Hauptskripten Dialekt, Dummheit, Geiz und Arglist analysiert. Anschließend werden die speziellen Skripten vorgestellt. 1. Dialekt 2% der gesammelten deutschen Witze handeln von dem Dialektskript, dessen Hauptträger vor allem Bayern und Sachsen sind, weil diese beiden Gruppen jeweils einen relativ starken Dialekt sprechen, der sich anders als die offizielle deutsche Sprache – das Hochdeutsch – anhört, das vor allem in Norddeutschland gesprochen wird. Im folgenden Witz (3) wird man „hören“, wie anders das Bayrische als das Hochdeutsch klingt. (3) Ein Bayer kehrt von einem Urlaub in London zurück. Wieder daheim angekommen fragt ihn ein Freund: „Sog amoi, wia wors do? “ Er erwidert: „Guat. Bloß a komische Sprochn homs. Zu I sogn’s EI, zu EI sogn’s ECK, zu ECK sogn’s KOANA, und zu KOANA sogn’s NOBODY.“ (http://www.witz-des-tages.de) Um den Witz (3) besser zu verstehen, werden wir zuerst einige Unterschiede in der Aussprache zwischen dem Hochdeutschen und dem Bayerischen, die hier im Witz betroffen werden, darstellen: Hochdeutsch Sag mal wie war’s dort gut eine Sprache haben sie sagen sie keine ich Bayerisch Sog amoi wia wors do guat a Sprochn homs sogn’s koana i In dem letzten Satz fängt der Bayer mit dem Wort “i” (Entsprechung im Hochdeutsch: ich) an und eröffnet eine Missverständniskette, indem er immer das bayerische Wort ins Englische übersetzt und dann diese englische Übersetzung wieder durch ein ähnlich klingendes Wort ins Bayerische rückübersetzt, wie das folgende Bild zeigt: 112 i (ich) I /ai/ /ai/Ei egg /eg/ /ek/Eck (Ecke) corner/kornr/ /koana/koana (keine) nobody 2. Dummheit In 46% der gesammelten deutschen Witze geht es um die Dummheit der Zielscheiben. Damit erweist sich dieses Skript als die am häufigsten präsentierte Eigenschaft in den deutschen Witzen. Die Hauptvertreter dieser Eigenschaft sind Ostfriesen, Österreicher und Amerikaner. Die Dummheit der Ostfriesen und der Österreicher zeigt sich meistens in deren Unvertrautheit mit neuen Begriffen, dem Fehlen eines Common Sense-Wissens oder deren Unfähigkeit beim Umgang mit dem Haushalt und der modernen Technik. Sie stellen beide ein Image der zivilisatorischen Rückständigkeit und der geringen Intelligenz dar. In den gesammelten Witzen geht es z.B. darum, dass Österreicher an der knochentrockenen Einöde fischen, durch das Drücken von Krapfen Marmelade produzieren. In anderen Beispielen wundern sie sich über das bekannte Gesicht im Spiegel, den Doppelbus und den Film, der nach mehrmaliger Wiederholung immer unverändert bleibt. Bei den Ostfriesen geht es darum, dass sie belichtete Filme in die Entwicklungsländer schicken, damit die Filme dort entwickelt werden können; sie streuen Pfeffer auf den Fernseher, damit das Bild schärfer wird; sie gehen beim Stromausfall ins Watt, um ein paar Kilo zu holen; oder sie nähren sich von Torf und kennen die einfachsten Regeln der Landwirtschaft und Viehzucht nicht. Darüber hinaus wird den Ostfriesen im Witz noch Hässlichkeit, Gefräßigkeit und Unsauberkeit zugeschrieben. Da wir in den letzten Kapiteln schon einige Beispiele über Ostfriesen und Österreicher diskutiert haben, werden hier keine Witze über diese beiden Gruppen analysiert. Anders als Österreicher und Ostfriesen zeigt sich die Dummheit der Amerikaner im Witz vor allem in deren Unkenntnis der Kultur, Geschichte oder Kunst. Das liegt wohl daran, dass die USA eine relativ kurze Geschichte von ca. 200 Jahren haben und sich vor allem auf die Wirtschafts- und Wissenschaftsentwicklung konzentrieren, so dass es ihnen in den Augen des alten Europa an Tiefe und Vollständigkeit fehlt. Witz (4) ist ein Beispiel für die Dummheit der Amerikaner. 113 (4) Ein sehr reicher Amerikaner geht durch eine Stadt in Europa. Plötzlich sieht er eine große Menschenansammlung. Er schickt einen Bodyguard los, damit er herausfindet, was da passiert. Nach ein Paar Minuten kehrt der Bodyguard zurück und erzählt, dass drüben Bilder von Picasso verkauft werden. Aber niemand habe die nötigen Millionen. „Bilder sagst du also.“ Sagt der Millionär, „kauf ALLE!“ Gesagt, getan. Schaut er sich die Werke fünf Minuten später an: „Na ja... Egal. Gut, die Postkarten haben wir, lasst uns nun die Geschenke kaufen...“ (http://www.witz-des-tages.de) In (4) kennt der reiche Amerikaner anscheinend Picasso – den großen spanischen Maler – nicht, deshalb betrachtet er die Bilder von Picasso als Postkarten, obwohl er für sie Millionen bezahlt hat. 3. Geiz Nach unserer Zählung betragen die Witze mit dem Geiz-Skript insgesamt 24% des deutschen Korpus. Dabei geht es vor allem um die ethnischen Gruppen Schotten und Schwaben. Im Witz tun sie immer alles Mögliche, um ein Geldausgeben zu vermeiden. Es handelt sich z.B. um den Schotten, der seinen Sohn im Koffer versteckt, um eine Fahrkarte weniger zu kaufen; um einen anderen, der seine Frau ins Fischgeschäft führt, weil sie nach dem Vorschlag des Arztes frische Seeluft bekommen sollte; oder um den, der Sex für ein schlechtes Geschäft hält, denn man stecke regelmäßig mehr ein, als man heraushole. Bei den Schwaben geht es z.B. um den Sohn, der seinen im Sterbebett liegenden Vater bittet, vor dem Tod die Kerze auszublasen; oder um den Touristen, der für das Sparen des Bustickets eine lange Strecke gelaufen ist, wobei es sich herausstellte, dass er die ganze Zeit die falsche Richtung genommen hat. 4. Arglist/Schlauheit Witze mit dem Skript Arglist/Schlauheit machen nur 3% des deutschen Korpus aus. Die Hauptvertreter dieser Eigenschaft sind Juden und Holländer. In Kapitel 5.3 haben 114 wir am Beispiel (2) gesehen, wie der Holländer dem Nachbarn im Zug Apfelkerne essen ließ. Der folgende Witz (5) zeigt die Schlauheit der Juden. (5) Ein alter Jude läuft schwer bepackt über einen Bahnhof in einer Kleinstadt und fragt nach längerem Zögern einen seiner Mitreisenden: „Was halten Sie eigentlich von Juden?“ Darauf erwidert der Mann: „Ich bin ein großer Bewunderer des jüdischen Volkes.“ Der alte Jude geht weiter und fragt den nächsten dieselbe Frage. Dieser erwidert: „Ich bin fasziniert von den Leistungen jüdischer Mitmenschen in der Kultur und der Wissenschaft.“ Der Jude bedankt sich für diese Antwort und geht zu einem weiteren Mann. Dieser erwidert auf die Frage: „Ich mag Juden nicht besonders und bin froh, wenn ich nichts mit ihnen zu tun habe.“ Darauf der alte Jude: „Sie sind ein ehrlicher Mann, könnten Sie bitte mal auf mein Gepäck aufpassen, ich muss auf die Toilette.“ (http://www.witz-des-tages.de) In (5) geht es um die Selbstironie der Juden: Er vertraut dem am meisten, der eine kritische Meinung gegenüber den Juden äußert. Die „Selbstkritik“ des jüdischen Witzes wurde zuerst von Freud (1905) festgestellt. Er meinte, dass der jüdische Witz von Juden selber erfunden und gegen Juden gerichtet sei. Eine Bestätigung der jüdischen Masochismus-Theorie war wohl die Tatsache, dass sie von den jüdischen Intellektuellen selbst allgemein akzeptiert wurde (D. Ben-Amos). Man hat auch kulturhistorische Hintergründe für den angeblich selbstzerstörerischen Trieb des jüdischen Witzes zu finden geglaubt: Der Jude schwebt – so meint Theodor Reik – zwischen Selbsterniedrigung und Selbstüberheblichkeit. Ebenso vermutete der amerikanisch-jüdische Psychoanalytiker Edmund Berger, dass das arme Leben in europäischen Ghettos, der Mangel an wirklicher Lebensqualität einen psychologischen Masochismus als jüdischen Charakterzug habe entstehen lassen. Ein selbsterzerstörerischer Witz fehlt umgekehrt überall dort, wo sich Juden in einer 115 emanzipierten Gesellschaft frei entfalten können, wie im heutigen Israel (Röhrich 1977: 275) Nachdem wir die deutschen Witze, die mit den vier Hauptskripten Dialekt, Dummheit, Geiz und Arglist/Schlauheit zusammenhängen, analysiert haben, gehen wir im nächsten Teil auf die speziellen Skripte im deutschen Korpus ein. 5. Spezielle Skripten 25% der untersuchten deutschen Witze beschäftigen sich nicht mit den Hauptskripten, sondern mit den spezifischen Eigenschaften mancher ethnischer Gruppen, wie Ossis/Wessis, Polen, Türken usw. Im Folgenden werden ein paar Beispiele gezeigt. Ossis/Wessis: Feindlichkeit gegeneinander Die Unterscheidung zwischen Ossis und Wessis gehörte zu der Zeit zwischen 1949 und 1990, in der die damalige BRD und DDR nebeneinander existierten. Nach der deutschen Wiedervereinigung im Jahre 1990 besteht zwar politisch kein Unterschied zwischen den Westdeutschen und den Ostdeutschen. Trotzdem findet man eine gewisse Verschiedenheit zwischen den beiden Seiten in den gesellschaftlichen Bereichen wie Schule, Medien, Stadtinfrastruktur bzw. in den Vorstellungen der Menschen über Umwelt, Politik usw. Alle diese Unterschiede gehen auf die verschiedenen Entwicklungsgeschichten der beiden Seiten in den letzten Jahrzehnten zurück. Im Witz zeigen Ossis und Wessis meist eine gewisse Feindlichkeit gegeneinander. Darüber hinaus werden die ersteren von den letzteren als dumm und faul betrachtet, während die letzteren in den Augen der ersteren meist zu arrogant sind. Der folgende Witz (6) handelt von der Feindlichkeit der Ossis gegenüber den Wessis. (6) Zwei Ossis rudern mit ihrem Boot auf der Ostsee. Plötzlich sehen sie im Wasser zwei Schiffbrüchige schwimmen, einen Farbigen und einen Weißen. Fragt der eine Ossi den anderen: „Wir haben nur für einen Platz. Welchen wollen wir retten?“ Antwortet der andere Ossi: „Den Farbigen natürlich, der andere könnte ein Wessi sein.“ (http://www.witz-des-tages.de) 116 Polen: Autodiebstahl In den deutschen Witzen werden die Polen als dumm und faul dargestellt. Darüber hinaus kommt häufig ein spezielles Skript vor – Autodiebstahl, wie in Witz (7) gezeigt wird. (7) Wie lautet der neue Werbespruch des polnischen Tourismus-Ministeriums? Kommen Sie nach Polen... Ihr Auto ist schon hier! (http://www.witz-des-tages.de) Deutsche: Bürokratie In den gesammelten Witzen kommen Deutsche auch einheitlich als eine ethnische Gruppe vor, der vor allem das Skript Bürokratie zugeschrieben wird. Dabei geht es um die vielen und fein gestalteten Formulare, Bescheinigungen oder um Formalitäten, die man in der Arbeit bzw. dem alltäglichen Leben erledigen muss. Solche Witze können auch als eine „Selbstkritik“ der Deutschen betrachtet werden. Witz (8) ist ein Beispiel dafür: (8) Ein amerikanischer und ein deutscher Unternehmer wetten, wer am schnellsten ein Firmengebäude bauen kann. Nach 3 Monaten faxt der Amerikaner an den Deutschen: „Noch 30 Tage, und der Bau steht!“ Faxt der Deutsche zurück: „Nur noch 30 Formulare, und die Baugenehmigung ist durch!“ (http://www.witz-des-tages.de) Türken: Unbeliebtheit In den 1950er Jahren wurde für den Wiederaufbau Deutschlands eine große Menge Gastarbeiter aus Italien, der Türkei und einigen osteuropäischen Ländern nach Deutschland geholt. Manche von ihnen sind später in Deutschland geblieben und haben auch die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen. Jedoch können sich nicht alle Nachfahren der damaligen Gastarbeiter in die einheimische Kultur integrieren. Manche von ihnen bleiben in einer relativ isolierten Gesellschaft, die nicht viel Kontakt zu der Außenwelt hat. Auch heute findet man immer noch eine mehr oder 117 weniger deutliche Grenze zwischen der Gesellschaft der Einwanderer und derjenigen der Deutschen. Als die größte ethnische Einheit unter allen Einwanderern haben die Türken wegen ihres völlig anderen Kultur- und Religionshintergrunds eine besondere Position in der deutschen Gesellschaft: Einerseits haben sie sich nach zwei Generationen bereits gut an die einheimische Gesellschaft angepasst, andererseits behalten sie immer noch viele eigene Traditionen und Lebensgewohnheiten bei. In den Witzen über Türken geht es meistens um Faulheit und Unbeliebtheit. Witz (9) stellt ein Beispiel dar. (9) Kauft ein Türke eine Villa, sein Nachbar auch. So ging das mit fünf Sachen weiter. Dann sagte der Türke, dass er es besser habe. Fragt der Arzt wieso. Darauf antwortet der Türke: Ich habe einen Arzt als Nachbar und du einen Türken. (http://www.witz-des-tages.de) Der Türke, der neben einem Arzt wohnt, meint, dass er einen besseren Nachbarn als der Arzt hätte. Das klingt wie eine „Selbsterniedrigung“ des Türken, weist aber darauf hin, dass die Türken als keine guten Nachbarn gesehen werden. Neben den oben genannten speziellen Skripten gibt es im deutschen Korpus noch Witze über die Hässlichkeit der Italiener, die Arroganz der Amerikaner, die steife Höflichkeit der Engländer, die Romantik der Franzosen und die Unfähigkeit der Chinesen und Japaner beim Unterscheiden von l und r, usw. Fasst man alle diskutierten Skripten in den deutschen ethnischen Witzen zusammen, so kann man sehen, dass Dummheit und Geiz unter allen am häufigsten vorkommen. Das ist identisch mit Davies’ (1990) These, dass Dummheit und Geiz in den ethnischen Witzen viel weiter verbreitet als alle anderen Eigenschaften sind (siehe Kapitel 5.2). Darüber hinaus werden die Skripten Dialekt und Arglist/Schlauheit auch in den deutschen ethnischen Witzen verwendet. Dabei ist es zu bemerken, dass Dialekt sich in gewissem Sinne auch unter dem Skript Dummheit einordnen lässt. Eine Gruppe wird mit ihrem Dialekt präsentiert, was auch so interpretiert werden kann, dass sie unfähig zum Benutzen der Standardsprache ist. Neben den Hauptskripten wird eine Reihe spezieller Eigenschaften dargestellt, z.B. die Feindlichkeit der Ossis und der Wessis gegeneinander, der Autodiebstahl der Polen, die Unbeliebtheit der Türken usw. Es ist zu bemerken, dass die speziellen Skripten 118 vor allem mit den Witzen zusammenhängen, die zeitlich relativ spät entstanden sind. Erst mit der Niederlassung der türkischen Mitbürger in Deutschland ist der Konflikt zwischen der türkischen und der einheimischen deutschen Gesellschaft ein Thema im Witz geworden. Gleichermaßen ist die Feindlichkeit der Ossis und der Wessis gegeneinander erst nach der deutschen Wiedervereinigung Gegenstand im Witz geworden. In der folgenden Tabelle 4 werden alle Skripten mit dem Anteil der damit verbundenen Witze dargestellt. Skripten Dialekt Dummheit Geiz Arglist/Schlauheit Spezielle Skripte Witzanteile 2% 46% 24% 3% 25% Tabelle 4: Skripten und deren Anteile in den deutschen ethnischen Witzen Die Analyse der Zielscheiben und deren Eigenschaften in den deutschen ethnischen Witzen können wie folgt zusammengefasst werden: 1. Die ethnischen Gruppen, die in den deutschen Witzen am meisten präsentiert werden, sind vor allem die Nachbarländer, z.B. Österreicher, Polen und Holländer. Im Vergleich dazu kommen die Gruppen, die geographisch weit entfernt von Deutschland liegen oder in der Geschichte wenig Kontakt zu der deutschen Kultur hatten, sehr wenig vor, wie die Araber, Indianer, Chinesen. 2. Wenn es um die Skripten geht, erweist sich das Untersuchungsergebnis als identisch mit Davies’ These, dass Dummheit und Geiz unter allen am häufigsten vorkommen. Darüber hinaus wird eine Reihe spezieller Skripte festgestellt, die vor allem mit den Witzen zusammenhängen, die zeitlich relativ neu entstanden sind, z.B. die Feindlichkeit zwischen Ossis und Wessis, der Autodiebstahl der Polen, die Unbeliebtheit der Türken usw. 119 5.4.2 Die Zielscheiben und deren Eigenschaften in den chinesischen ethnischen Witzen Im Vergleich zu dem umfangreicheren deutschen Korpus kommen nur 123 chinesische ethnische Witze in den genannten Witzbüchern und Webseiten (siehe Kapitel 1) vor. Dabei geht es insgesamt um 16 Zielscheiben, die vor allem Lowài49, Chinesen (als eine Einheit), Amerikaner, Japaner, Shanghaier usw. sind. Alle diese Zielscheiben mit ihrem Anteil bzw. den entsprechenden Skriptoppositionen werden in der folgenden Tabelle aufgelistet. Platz Zielscheiben Anteil Eigenschaften 1 Lowài 36% Dummheit: Unfähigkeit beim Benutzen des Chinesischen, Nichtvertrautsein mit der chinesischen Kultur; Schlauheit 2 Chinesen Einheit 20% Dummheit: schlechtes Englisch, niedriges Fußballniveau; Schlauheit; Esskultur 3 Japaner 8% Dummheit, Sex, Arroganz 4 Shanghaier 5% Geiz, Schlauheit, Pantoffelheld 5 Amerikaner 4% Dummheit, Arroganz 6 Guangdonger 3% Dialekt, Essgewohnheiten 7 Südchinesen 3% Dialekt 8 Beijinger 2% Dialekt 9 Henaner 2% 10 Nordost- 2% Dialekt, mangelnde Vertrauenswürdigkeit, Dummheit Dialekt 11 Chinesen Shandonger 2% Dialekt 12 Sichuaner 2% Dialekt, Unbeliebtheit 13 Shanxier 1% Dialekt 14 Zhejianger 1% Dialekt 15 Vermischtes (weltweit) 5% Esskultur der Chinesen, Arroganz Amerikaner, Ungepflegtheit der Inder 16 Vermischtes (chinesisch) 4% Arroganz der Beijinger, Schlauheit der Shanghaier, Esskultur der Guangdonger als der Tabelle 5: Zielscheiben und deren Eigenschaften in den chinesischen ethnischen Witzen An dieser Tabelle kann man sehen, dass die Chinesen nicht die einzelnen Nationen unterscheiden. Sie benutzen vielmehr einen Oberbegriff Lowài für alle Ausländer, 49 Chinesischer umgangssprachlicher Ausdruck für alle Ausländer. L o ist ein Stützwort, wài bedeutet ausländisch, zusammengesetzt heißt es wörtlich die Ausländischen. 120 die auch die größte Einheit unter allen Zielscheiben bilden. Entsprechend betrachten die Chinesen sich selbst auch als eine Einheit, über die zahlreiche Witze zu finden sind. Lowài und Chinesen (als eine Einheit) machen zusammen über die Hälfte aller Beispiele im chinesischen Korpus aus. Darüber hinaus kommen Japaner und Amerikaner auch relativ häufig vor. Als ein indirektes Nachbarland50 hat Japan seit dem siebten Jahrhundert einen fast ununterbrochenen Kontakt zu China. Durch den Buddhismus, den Konfuzianismus und die Schriftkultur waren die beiden Länder vor dem 20. Jahrhundert lange Zeit miteinander verbunden. Vom Ende des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts befanden sich die beiden Länder wegen der zwei Kriege (1894 und 1937) in einer langen Konfliktphase. Der Wechsel fand im Jahre 1972 statt, als diplomatische Beziehungen zwischen den beiden Ländern aufgenommen wurden. Seitdem sind China und Japan wichtige Partner, aber auch Konkurrenten in den Bereichen Wirtschaft, Handel und Kultur. Vor diesem geschichtlichen Hintergrund kennen die Chinesen Japan relativ gut und haben dementsprechend eine Reihe von Witzen über die Japaner gemacht. Amerikaner kommen den Chinesen auch relativ bekannt vor und werden in den Witzen präsentiert. Das liegt einerseits an der Geschichte des 20. Jahrhunderts, als China und die USA in den 40er Jahren beide auf der Seite der Alliierten am zweiten Weltkrieg teilgenommen haben und in den 50er Jahren im Koreakrieg gegeneinander gekämpft haben. Andererseits hat sich die amerikanische Kultur seit den 80er Jahren in China weit verbreitet. Durch Medien haben die Chinesen relativ viel von den USA kennen gelernt und dementsprechend auch eine Reihe von Witzen über sie produziert. In Bezug auf die inländischen Zielscheiben geht es in den chinesischen Witzen vor allem um die verschiedenen Provinzen oder Gebiete, in denen ein starker Dialekt gesprochen wird, wie Guangdong, Shandong, Nordosten, Shanxi usw. Außerdem gelten Shanghaier als die geizige und schlaue Gruppe, während Henaner für Vertreter von mangelnder Vertrauenswürdigkeit bzw. von Dummheit gehalten werden. Nachdem wir einen Überblick über die Zielscheiben und deren Eigenschaften in den chinesischen ethnischen Witzen bekommen haben, gehen wir im nächsten Teil auf die einzelnen Skripten ein, die im chinesischen Korpus verwendet werden. 50 Japan liegt vor den Küsten des ostchinesischen Meers. 121 1. Dialekt Dialekt ist ein häufig vorkommendes Skript in den chinesischen ethnischen Witzen. Die davon betroffenen Gruppen sind z.B. die Menschen aus den Provinzen Guangdong, Zhejiang, Shandong, Sichuan, die jeweils in Süd-, Ost- und Westchina liegen. In dieser Witzkategorie geht es meistens um die Mehrdeutigkeit der Sprache und die damit entstehenden Missverständnisse in der mündlichen Kommunikation; das liegt vor allem daran, dass gleich gesprochene Äußerungen in einem Dialekt oft anders als in dem Standardchinesischen zu interpretieren sind. Z.B. hört sich das Wort für „fragen“ – wèn – in Sichuaner Dialekt gleich an wie das Wort für „küssen“ im Standardchinesischen. Deshalb müssen alle Schüler lachen, wenn eine Mathematiklehrerin in ihrem Dialekt dem Schüler sagt, dass er nach dem Unterricht in ihr Büro gehen und sie küssen(fragen) soll. Ein anderes Beispiel ist, dass das Wort für „Chance“ – jyù – in einem Dialekt aus der Provinz Zhejiang jn heißt, was ähnlich wie „Prostitutierte“ in der Standardsprache klingt. Deshalb ist es verwirrend, wenn ein Regierender aus dieser Gegend sagt, dass ihre Wirtschaftsentwicklung von allem von der guten „Prostituierten(Chance)“ abhängt. Der in Kapitel 5.2 diskutierte Witz (1) gehört auch zu dieser Kategorie, die insgesamt 14% des ganzen chinesischen Korpus ausmacht. 2. Dummheit Das Skript Dummheit wird in den chinesischen Witzen vor allem den Zielscheiben Lowài, Chinesen (als eine Einheit) und den Amerikanern zugeschrieben. Damit beschäftigt sich fast die Hälfte der Witze des gesamten Korpus. Die Dummheit der Lowài versteht sich als deren Unkenntnis der chinesischen Sprache oder der Kultur (inkl. der Essgewohnheiten). In Kapitel 4 haben wir einen Witz über die Schwierigkeit eines ausländischen Studenten beim Schreiben der chinesischen Zeichen analysiert. Dabei trennt der Lowài unglücklicherweise das Wort für „Mutter“ - ཛྷ(m) und schreibt es als ཇ偀(n m), was nicht mehr „Mutter“, sondern „weibliches Pferd“ bedeutet. Im folgenden Witz (10) geht es um die chinesische Esskultur, mit der ein Lowài sich nicht gut auskennt. 122 (10) ྤϔ䗕㒭㗕䚏ሙϾ㊑ᄤDŽѠˈҪֽ⬉ẃ䞠䘛Ϟњˈ㗕ᇍ៥ྤ 䇈˖ĀԴ䗕ⱘ㊑ᄤᕜདৗˈ䴲ᐌᛳ䇶DŽāⴔҪজ㸹ܙ䇈˖Āህᰃ䴶ࣙⱘ 㬀㦰⹀њDŽā (Wahre Komik, 2002) Meine eigene Übersetzung: Mein Schwager hat einmal seinem ausländischen Nachbarn ein paar zòngzi51 zum Essen gegeben. Am nächsten Tag traf er im Fahrstuhl den Nachbarn, der zu ihm sagte: „Danke für die zòngzi. Die schmeckten sehr gut.“ Anschließend fügte er hinzu: „Nur das einwickelnde Gemüse war ein bisschen zu hart.“ In (10) geht es um die Unbekanntheit des ausländischen Nachbarn mit der chinesischen Spezialität zòngzi, die eine Sorte in Bambus- oder Schilfblätter eingewickelter Klebreisklößchen ist. Gegessen wird statt der Blätter nur die Füllung – das Klebreisklößchen. Da der ausländische Nachbar sich mit dieser Spezialität nicht auskannte, hatte er beim Essen einen Fehler gemacht. Dass die unpassenden Manieren sowohl der ausländischen als auch der inländischen Fremden beim Essen Gegenstand der chinesischen Witze sind, weist darauf hin, dass die Chinesen großen Wert auf ihre Esskultur und Küchentradition legen. Es ist gut, hier die deutschen Leser darauf hinzuweisen, dass lautes Naseputzen beim Essen in China nicht üblich ist, obwohl man sehen wird, dass viele Chinesen schmatzen, rülpsen oder beim Suppenessen schlürfen. Außerdem ist es in einem Restaurant in China üblich, dass man Fisch oder Fleisch mit Knochen angeboten bekommt, weil die Chinesen meinen, dass das Fleisch am Knochen viel besser als das anderswo sei. Dass man überall in China Hund, Schlange oder andere Tiere auf den Tisch bringt, ist aber nicht die Wahrheit. Später werden wir auf das spezielle Skript „ungewöhnliche Essgewohnheit“ eingehen. Einen anderen Vertreter für die Eigenschaft Dummheit stellt die Gruppe – Chinesen als Einheit – dar, die im Witz vor allem wegen ihrer schlechten Englischkenntnisse oder des niedrigen Fußballniveaus der Nationalmannschaft ausgelacht werden. In China wird Englisch sehr selten gesprochen, obwohl die Schüler von der dritten Klasse an schon Englisch lernen. Die Schwierigkeit der Chinesen beim Benutzen des 51 In Bambus- oder Schilfblätter eingewickeltes Klebreisklößchen. Gegessen wird nur die Füllung statt der Blätter. Zòngzi gilt als eine traditionelle Spezialität, die in China zum Drachenbootfest am 5. Mai nach dem Bauernkalender gegessen wird. 123 Englischen liegt erstens an den großen Unterschieden zwischen dem Englischen und dem Chinesischen, zweitens auch an der Lernmethode der Schüler, denen meistens die Grammatik und das Schreiben beigebracht werden. Heute erkennt man dieses Problem und bietet durch Einstellung von Muttersprachlern den Schülern viele Chancen für die praktische Anwendung des gelernten Englischen. Jedoch bleibt der Anteil der Chinesen, die gut Englisch sprechen können, immer noch sehr klein. Für die Olympischen Spiele 2008 gab man sich in China große Mühe, um die Englischkenntnisse zu (chinesischenglischen)“ verbessern Wörter zu und die korrigieren sonst bzw. üblichen zu „chinglishen vermeiden, z.B. „scattering“ für „den Notausgang“ im Hotel, „no smork“ für „Rauchverbot“, „deformed man toilet“ für „Behindertentoilette“ oder „don’t forget to carry your thing“ für „vergessen Sie bitte Ihr Gepäck nicht“ usw. 52 Über das Thema Fußball sind in den letzen paar Jahren in China immer mehr Witze entstanden, die sich vor allem mit dem niedrigen Niveau der chinesischen Mannschaft beschäftigen. Der folgende Witz (11) ist ein Beispiel dafür. (11) ϔϾ䶽Ҏ䯂ϞᏱ˖ĀϞᏱਔˈ៥Ӏᆊⱘ䎇⧗ԩᯊᠡ⿄䴌Ϫ⬠ଞ˛ā ϞᏱ䇈˖ĀㄝಯѨकᑈ৻DŽā䶽Ҏુњ˖Āࠄᯊ៥ৃ㛑Ꮖ㒣⅏њāDŽ ϔϾ᮹ᴀҎ䯂ϞᏱ˖ĀϞᏱਔˈ៥Ӏᆊⱘ䎇⧗ԩᯊ㛑⿄䴌Ϫ⬠ਸ਼˛ā ϞᏱ䇈˖Āㄝ݁ϗकᑈ৻DŽā᮹ᴀҎુњ˖Āࠄᯊ៥ৃ㛑Ꮖ㒣⅏њāDŽ ϔϾЁҎ䯂ĀϞᏱਔˈ៥Ӏᆊⱘ䎇⧗ԩᯊᠡ㛑⿄䴌Ϫ⬠ଞ˛ā ϞᏱુњ˖Āࠄᯊ៥ৃ㛑Ꮖ㒣⅏њāDŽ (http://joke.tom.com) Meine eigene Übersetzung: Ein Südkoreaner fragt Gott: „Wann wird unsere Fußballmannschaft Weltmeister?“ Gott antwortet: „In 40-50 Jahren. “ Der Koreaner ist sehr traurig: „Bis dahin bin ich bestimmt schon gestorben.“ Ein Japaner fragt auch Gott: „Wann wird unsere Fußballmannschaft Weltmeister?“ Gott antwortet: „In 60-70 Jahren. “ Der Japaner ist auch sehr traurig: „Bis dahin bin ich bestimmt schon gestorben.“ Ein Chinese stellt Gott dieselbe Frage. Darauf antwortet Gott mit sehr trauriger Stimme: „Bis dahin bin ich bestimmt schon gestorben.“ 52 Siehe http://www.chinglish.de. 124 Obwohl das Fußballspiel ursprünglich auf Spiele in China bzw. Japan vor über 1000 Jahren zurückgeht, hat der moderne Fußball eine relativ kurze Geschichte in Asien. Erst seit Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts gilt Fußball in China als eine Wettbewerbssportart. Wegen der kurzen Entwicklung sind die asiatischen Mannschaften weltweit nicht so konkurrenzfähig wie die Europäer oder die Südamerikaner. Bisher ist in der Geschichte des modernen Fußballs noch keine Mannschaft aus Asien Weltmeister geworden. In Witz (11) geht es um die Frage, bis wann Japan, Korea oder China Weltmeister in Fußball wird. Dabei wird ironisch dargestellt, dass China die geringste Chance hat. 3. Geiz Das Skript Geiz kommt nur in 2% des chinesischen Korpus vor und thematisiert vor allem die Gruppe der Shanghaier. Wie in Kapitel 5.1 vorgestellt wurde, sind die Shanghaier gemäß dem Vorurteil in China bekannt für ihr genaues Rechnen und ihre kühle Vernunft beim Konsumieren. Witz (12) ist ein Beispiel für diese Kategorie. (12) ϔϾϞ⍋ܓスএଚᑫф䩜ˈ䩜ⱘӋḐᰃ ߚ䪅 ḍDŽᇣᄽҬ ߚ䪅ˈ㒭њҪ ḍ䩜ˈҪैϡ䍄ˈଂ䋻ਬ䇈˖ĀԴ䖬ᕫᡒ៥ϸᓴ㤝㒌DŽā (http://www.jokescn.com) Meine eigene Übersetzung: Ein Kind ging einmal in Shanghai in einen Laden, um eine Nadel zu kaufen. Drei Nadeln kosteten damals zwei Fen53. Das Kind wollte aber nur eine Nadel. Es zahlte einen Fen, bekam eine Nadel, ging aber nicht weg. Es sagte weiter zu dem Verkäufer: „Sie sollten mir noch zwei Blätter Toilettenpapier als Entgelt für die 0,3 Fen geben.“ Drei Nadeln kosteten zwei Fen, d.h., der Preis pro Nadel betrug nur 0,7 Fen. Das Kind hatte einen Fen gezahlt und wartete dann auf die 0,3 Fen, die zurückgegeben werden sollten. Jedoch waren 0,3 Fen so wenig Geld, dass es nicht zurückgezahlt werden konnte, weil ein Fen die kleinste Währungseinheit in China ist. Deshalb wartete das Kind auf den Ersatz der 0,3 Fen durch zwei Blätter Toilettenpapier, was 53 Fen ist die kleinste chinesische Währungseinheit. 1 Fen macht ca. 1/10 Zent. Deshalb ist die Ausgabe für eine Nadel sehr wenig Geld. 125 ein Vorschlag seiner Eltern gewesen sein muss. Durch das genaue Rechnen wird der Geiz der Shanghaier dargestellt. 4. Schlauheit/Arglist Witze mit dem Skript Schlauheit beschäftigen sich mit den Zielscheiben Lowài, Chinesen (als Einheit) und Henaner. Der Anteil dieser Witzkategorie liegt bei 11% des ganzen Korpus. Lowài werden im Witz als schlau dargestellt, weil sie gutes Chinesisch sprechen können, was heute tatsächlich auch immer häufiger zutrifft. Die Arglist der Chinesen zeigt sich im Witz meistens in ihrem Überlegenheitsgefühl gegenüber anderen Nationen. Der folgende Witz (13) handelt von einem Chinesen, der sich intelligenter als der Amerikaner und der Franzose fühlt. (13) ϔϾ㕢ҎˈϔϾ⊩Ҏ䖬᳝ϔϾЁҎ䍄≭⓴Ёˈ䍄ⴔ䍄ⴔⳟࠄϔϾ⫊ ᄤˈᠧᓔ⫊าৢ京ߎᴹϔϾҎᴹDŽ䙷ϾҎ䇈˖Ā៥ᰃ⼲ˈ៥㛑⒵䎇ԴӀ↣ϾҎ ϝϾᜓᳯʽā 㕢ҎϔϾᡶⴔ䇈˖Ā៥ϔϾᜓᳯᰃ㽕ᕜⱘ䪅DŽā⼲䇈˖Ā䖭Ͼㅔऩˈ ⒵䎇Դʽ䇈䇈ѠϾᜓᳯ৻DŽā 㕢Ҏ䇈˖៥䖬㽕ᕜⱘ䪅ʽā⼲⒵䎇Ҫⱘᜓ ᳯৢˈ㕢Ҏজ䇈њҪⱘϝϾᜓᳯ˖Āᡞ៥ᓘಲᆊDŽā⼲䇈˖Ā≵䯂乬DŽā Ѣᰃ㕢Ҏᏺⴔᕜⱘ䪅ಲњ㕢DŽ ⼲জ䯂⊩ҎDŽ⊩Ҏ䇈˖Ā៥㽕㕢ཇʽā⼲㒭њҪ㕢ཇDŽ⊩Ҏজ䇈˖៥䖬 㽕㕢ཇʽā⼲г⒵䎇њҪˈ㒭њҪ㕢ཇDŽ⊩Ҏ᳔ৢ䇈ࠄ˖Āᡞ៥䗕ಲ⊩ DŽā ⼲ᡞ⊩Ҏ䗕ಲৢ䯂ЁҎ㽕ҔМDŽЁҎ䇈˖Āܜᴹ⫊Ѡ䫙༈৻DŽā⼲㒭 њҪDŽ䯂ҪѠϾᜓᳯᰃҔМDŽЁҎ䇈˖Āݡᴹϔ⫊Ѡ䫙༈ʽā⼲䯂Ҫϝ ϾᜓᳯᰃҔМDŽЁҎ䇈˖Ā៥ᤎᛇ⊩Ҏ㕢ҎⱘˈԴᡞҪӀ䛑ᓘಲᴹ ৻DŽā (http://www.sunvv.com) Meine eigene Übersetzung: Ein Amerikaner, ein Franzose und ein Chinese sind in der Wüste. Plötzlich sehen sie eine Flasche. Nach dem Öffnen des Flaschendeckels kommt ein Mensch aus der Flasche heraus. Der sagt: „Ich bin Gott und kann jedem von euch drei Wüsche erfüllen.“ 126 Der Amerikaner meldet sich sofort: „Ich will viel Geld haben.“ Gott: „Das ist einfach. Ich verspreche dir, dass du viel Geld bekommen wirst. Und dein zweiter Wunsch?“ Der Amerikaner sagt: „Ich will weiter viel Geld.“ Nachdem Gott auch seinen zweiten Wunsch erfüllt hat, sagt der Amerikaner seinen dritten Wunsch: „Schicke mich bitte nach Hause.“ Gott: „Kein Problem.“ Dann geht der Amerikaner mit viel Geld nach Hause. Gott fragt den Franzosen nach seinen Wünschen. Der Franzose sagt: „Ich will eine schöne Frau!“ Gott bringt ihm eine schöne Frau. Dann sagt der Franzose seinen zweiten Wunsch: „Ich will noch eine schöne Frau.“ Gott lässt auch seinen zweiten Wunsch in Erfüllung gehen. Bei dem dritten Mal sagt der Franzose: „Schicke mich bitte nach Frankreich.“ Nachdem Gott den Franzosen auch nach Hause geschickt hat, fragt er den Chinesen, was er will. Der Chinese sagt: „Ich wünsche mir eine Flasche Èr gu tóu (eine bekannte und günstige Schnapsmarke in China).“ Gott gibt ihm den Schnaps und fragt nach seinem zweiten Wunsch. Der Chinese antwortet: „Ich will noch eine Flasche Èr gu tóu“. Nachdem Gott dem Chinesen eine zweite Flasche Èr gu tóu gebracht hat, fragt er nach seinem dritten Wunsch. Der Chinese: „Ich vermisse meinen amerikanischen und meinen französischen Freund sehr. Schicke sie bitte sofort zurück. “ In Witz (13) haben die drei Figuren – der Amerikaner, der Franzose und der Chinese – jeweils drei Wünsche geäußert. Die ersten beiden Ansprüche des Amerikaners bzw. des Franzosen scheinen höher zu sein als die des Chinesen, weil „viel Geld“ und „schöne Frauen“ offensichtlich wertvoller als zwei Flaschen „Èr gu tóu“ sind. Beim dritten Mal des Wunschäußerns erwartet der Leser/Hörer, dass der Chinese ähnlich wie seine beiden Partner auch nach Hause geschickt werden will, denn im vorangegangen Text ist ein Muster eingeführt worden, nach dem der Chinese ähnlich wie der Amerikaner und der Franzose beim zweiten Wunsch auch einfach den ersten wiederholt hat. Die Pointe im Witz zeigt jedoch, dass der Chinese am Ende einen vom Leser/Hörer nicht zu erwartenden Anspruch gestellt hat. Er wollte nämlich, dass seine beiden Partner zurück zu ihm geschickt werden sollten. Die Arglist des Chinesen liegt vor allem darin, dass er durch seinen letzten Wunsch den Willen des Amerikaners bzw. des Franzosen unwirksam machte. 127 Die vier Skripten Dialekt, Dummheit, Geiz und Schlauheit kommen in insgesamt drei Viertel der chinesischen ethnischen Witze vor. Das restliche Viertel hängt mit einigen speziellen Skripten zusammen, auf die im folgenden Teil näher eingegangen wird. 5. Spezielle Skripten Zu den speziellen Skripten in den chinesischen Witzen gehören z.B. die mangelnde Vertrauenswürdigkeit der Henaner, die ungewöhnlichen Essgewohnheiten der Guangdonger, die Arroganz und der Sex der Japaner etc. Im Folgenden werden einige Beispiele dafür gezeigt. Die mangelnde Vertrauenswürdigkeit der Henaner Henan ist eine Provinz, die in Mittelchina direkt am Gelben Fluss liegt. Als eins der Ursprungsgebiete des chinesischen Volkes hat Henan eine lange Geschichte hinter sich. Die Städte Zhengzhou, Kaifeng und Luoyang sind mehrmals Hauptstadt von verschiedenen Dynastien gewesen. Heute hängt die Entwicklung dieser Provinz vor allem von der Landwirtschaft ab. Die Landbevölkerung betrug Ende 200554 über zwei Drittel der ganzen Provinz, die mit 97,7 Mio. in Bezug auf die Einwohnerzahl die größte chinesische Provinz darstellt. Mit der technischen Modernisierung bleibt aber eine große Anzahl der ländlichen Arbeitskräfte unbeschäftigt. Um zu überleben, gehen viele von ihnen in andere Provinzen oder Städte, um einen Job als Bauarbeiter, Reinigungskraft, Lebensmittelhändler oder Restauranthilfe zu bekommen. Laut einer Statistik hat Henan mit knapp 16 Mio. 55 die größte Wanderarbeiterzahl in China. Wegen der schweren Arbeit und des relativ schlechten Wirtschaftszustandes werden viele Wanderarbeiter (inkl. denjenigen aus Henan) von den Städtern vernachlässigt oder negativ beurteilt. Den Henanern wird z.B. in vielen mündlich verbreiteten Witzen, die von den Städtern ausgedacht wurden, ein Image von Armut, Dummheit und mangelnder Vertrauenswürdigkeit zugeschrieben. Dieses Vorurteil geht auch auf die Tatsache zurück, dass jeweils im Jahre 1993 bzw. 2000 gefälschte Medikamente und giftige Getreide auf den Märkten der Provinz Henan entdeckt wurden. Der folgende Text (14) ist ein Beispiel für die Witze über die Henaner. 54 Die Zahlen über die Provinz Henan wurden der Webseite des Statistischen Amtes der Volksrepublik China entnommen, siehe http://www.stats.gov.cn (23.September 2007). 55 China hat insgesamt ca. 126 Mio. Wanderarbeiter. 128 (14) Ё༂ীᓔᠧ؛Ӯ䆂DŽӮৢˈᘏк䆄ᡞ⊇फⳕྨк䆄⬭ϟˈ䇈˖Ā䛑䇈⊇फҎ䗴 ⦄ˈ؛া᳝અӀϸϾҎˈԴ䇈ᅲ䆱ˈ⊇फ䗴ࠄ؛ҔМᑺњ˛ā 䙷ԡ⊇फⳕྨк䆄䇈˖“ᘏк䆄ˈ䎳ᙼ䇈ᅲ䆱৻ˈ⊇फⳕྨк䆄䖭ϔⳈ䚥 ᎲDŽā (http://www.haha365.com) Meine eigene Übersetzung: Auf einer Sitzung in Beijing wird über Fälschung und Raubkopie diskutiert. Nach der Sitzung lässt der Präsident den Provinzgouverneur aus Henan kurz bleiben. Dann sagt der Präsident: „Ich habe gehört, dass bei euch falsche Produkte hergestellt werden. Jetzt sind wir nur unter uns. Sage mir bitte die Wahrheit, wie weit sich die Fälschung verbreitet hat.“ Darauf antwortet der Mann voller Angst: „Bitte entschuldigen Sie mich, aber ich bin nicht der richtige Leiter. Der ist zurzeit in Zhengzhou (der Provinzstadt von Henan).“ In Witz (14) wollte der Präsident den Gouverneur aus Henan nach der Fälschung von Waren in dieser Provinz fragen. Es stellte sich aber heraus, dass auch der Gouverneur nicht der richtige war, was als eine Bestätigung für die Fälschung in dieser Provinz galt. In gewissem Sinne ist der Betrug des Beamten noch schlimmer als die Produktfälschung. Die ungewöhnlichen Essgewohnheiten der Guangdonger Die chinesische Küche verbreitet sich auf der ganzen Welt. Man sagt auch, dass die Chinesen eine größere Auswahl von Tieren zum Essen hätten. Z.B. würden neben Schweinen, Rindern und Hühnern auch Hunde, Schlangen, Würmer usw. gegessen. Tatsache ist aber, dass innerhalb von China nur die Guangdonger bekannt für ihre speziellen Essgewohnheiten sind. Da eine große Anzahl der Überseechinesen aus Guangdong stammt, hat man den Eindruck bekommen, dass alle Chinesen die „komischen“ Dinge essen würden. Bei den chinesischen Witzen lachen die Menschen aus anderen Regionen auch über die ungewöhnlichen Essgewohnheiten der Guangdonger. Ein Beispiel wird in (15) dargestellt. (15) ϸᴵ㝓ⱘ䰸њҎˈಯᴵ㝓ⱘ䰸њḠᄤˈ݊ᅗᑓϰҎҔМ䛑ᬶৗDŽ (http://joke.tom.com) 129 Meine eigene Übersetzung: In Guangdong isst man alle Zwei-Beinigen außer den Menschen und alle Vier-Beinigen außer den Tischen. Fasst man alle oben genannten Skripten zusammen, kann man sehen, dass die von Raskin zusammengefassten vier ethnischen Skripten (Dialekt, Dummheit, Geiz und Schlauheit) auch in den chinesischen Witzen vorkommen. Darüber hinaus sind einige spezielle Skripten zu finden. Ihre Verteilung im chinesischen Korpus wird in der folgenden Tabelle 6 dargestellt. Skripten Dialekt Dummheit Geiz Schlauheit Spezielle Skripte Witzanteile 14% 48% 2% 11% 25% Tabelle 6: Skripte und deren Anteile in den chinesischen ethnischen Witzen Fasst man bei einer Analyse der Zielscheiben deren Eigenschaften in den chinesischen ethnischen Witzen zusammen, ist zunächst festzustellen, dass die Chinesen nicht einzelne Nationen unterscheiden, sondern sie betrachten alle Ausländer als eine einheitliche Gruppe mit der Bezeichnung Lowài. Unter ihnen werden Japaner und Amerikaner auch in einigen Witzen als einzelne Zielscheiben behandelt, was wohl auf den Kontakt zwischen China und den beiden Ländern im 20. Jahrhundert zurückgeht. In ähnlicher Weise sehen Chinesen sich selbst auch eher als eine Einheit. Die Unterscheidung der verschiedenen inländischen Gruppen orientiert sich meistens an den Dialekten, die in den unterschiedlichen Gebieten gesprochen werden. Die einfache Zweiteilung zwischen Chinesen und Nichtchinesen liegt an der fast ununterbrochenen einheitlichen Geschichte Chinas seit dem dritten Jahrhundert v. Chr. Seit über 2000 Jahren existiert China fast immer als ein Staat mit einheitlicher Politik, Kultur und Schriftsprache. Wenn es um die Skripte geht, werden Dialekt, Dummheit, Geiz und Schlauheit alle in den chinesischen Witzen benutzt. Darüber hinaus erweisen sich Dummheit und Geiz/Schlauheit auch als charakteristisch für die chinesischen ethnischen Witze, obwohl das erstere Skript einen viel größeren Witzanteil als das letztere hat. Die Hauptvertreter für Dummheit sind Lowài und verschiedene Provinzbewohner in 130 China. Dabei geht es vor allem um deren Unfähigkeit beim Benutzen der chinesischen Standardsprache. Die Gruppe – Chinesen (als eine Einheit) – wird in einigen Witzen auch als dumm bezeichnet, weil sie schlecht im Englischen oder im Fußballspiel sind. Die Eigenschaften Geiz und Schlauheit beschäftigen sich mit den Shanghaiern, die bekannt für ihr genaues Rechnen sind, mit den Lowài, die gut Chinesisch sprechen können, bzw. den Chinesen, die sich gegenüber anderen Nationen überlegen fühlen. Zu den speziellen Skripten gehören die ungewöhnlichen Essgewohnheiten der Guangdonger, die mangelnde Vertrauenswürdigkeit der Henaner und die Arroganz der Japaner. Nach der Analyse der Zielscheiben und deren Eigenschaften in den gesammelten deutschen und chinesischen Witzen ziehen wir im nächsten Teil einen zusammenfassenden Vergleich zwischen den beiden Seiten. 5.4.3 Vergleich In Kapitel 5.4 haben wir die Zielscheiben und die damit verbundenen Skripten in den 534 deutschen bzw. den 123 chinesischen ethnischen Witzen vorgestellt und analysiert. Dabei findet man zuerst einige große Unterschiede zwischen den deutschen und den chinesischen Witzen: 1. Trotz des ähnlichen Umfangs der Witzbücher und Webseiten (siehe Kapitel 1) wurden viel mehr deutsche Beispiele als chinesische zusammengestellt, woran erkennen lässt, dass die Kategorie der ethnischen Witze im Deutschen relevanter als im Chinesischen ist. 2. Außer Amerikanern und Japanern gibt es keine identischen Zielscheiben in den deutschen und den chinesischen ethnischen Witzen. Trotz des Auftretens in den beiden Sprachen werden Japaner im Deutschen als unfähig beim Unterscheiden zwischen l und r dargestellt, während sie im Chinesischen als arrogant betrachtet werden. 3. Die Zielscheiben in den deutschen Witzen sind vielfältiger als in den chinesischen. Während die vorderen meistens einzelne inländische oder ausländische Ethnien sind (wie Ostfriesen, Schotten, Österreicher, usw.), geht es in letzteren vor allem um die Zweiteilung von Chinesen und Nicht-Chinesen (Lowài). Das geht auf die Geschichte der beiden Länder zurück: Während 131 Deutschland bis Anfang 19. Jahrhunderts sowohl als ein großes Reich – das Heilige Römische Reich Deutscher Nation – als auch als eine Zusammensetzung von verschiedenen Fürstentümern existierte und erst ab 1871 ein einheitliches Land mit der Ausnahme zwischen 1949 und 1990 bildete (siehe Boden 1993: 7577), blieb China seit dem dritten Jahrhundert v. Chr. (mit der Ausnahme im 3.-4. bzw. im 10. Jahrhundert) fast immer ein einheitlicher Staat. Die lange Abgeschlossenheit von der Außenwelt führte in China zu einer Selbstzentrierung und einer einfachen Zweiteilung der Weltbevölkerung in Chinesen und Nichtchinesen. 4. Obwohl die Eigenschaft Dummheit in den Witzen aus den beiden Sprachen präsentiert wird, bezieht sie sich im Deutschen vor allem auf die Unfähigkeit der Zielscheiben beim Umgang mit der Technik, dem Haushalt oder deren Unkenntnis neuer Begriffe, während die Dummheit im chinesischen Witz vor allem als die Unfähigkeit der Zielscheiben beim Benutzen der Standardsprache oder deren Nichtvertrautheit mit der chinesischen Esskultur bezeichnet wird. Dies weist darauf hin, dass die Chinesen großen Wert auf ihre Sprache und Esstradition legen. Trotz der oben genannten Unterschiede sind auch einige Gemeinsamkeiten zwischen den deutschen und den chinesischen ethnischen Witzen festzustellen: 1. Obwohl die Zielscheiben in den Witzen aus den beiden Kulturen sehr unterschiedlich sind, erweisen sich die ausländischen Gruppen meistens als die Nachbarländer von Deutschland oder China, wie z.B. Japaner in den chinesischen Witzen und Holländer/Polen/Österreicher in den deutschen Witzen. Im Gegensatz dazu werden die Nationen, mit denen Deutschland oder China wenig Kontakt hat, selten in den Witzen erwähnt. 2. In beiden Kulturen werden die vier ethnischen Skripten (Dialekt, Dummheit, Geiz und Arglist/Schlauheit), die von Raskin zusammengestellt wurden, angewendet. Darüber hinaus erweisen sich Dummheit und Geiz/Schlauheit als relevant für beide Kulturen, obwohl im Chinesischen Dummheit viel häufiger als Geiz/Schlauheit präsentiert wird. Das kann als eine Bestätigung für Davies’ 132 Hypothese gelten, dass Dummheit und Geiz die beiden wichtigsten ethnischen Skripte darstellen. 3. Neben den vier Hauptskripten findet man in den hier analysierten Witzen eine Reihe spezifischer Skripte, wie das Autodiebstahl der Polen und die Unbeliebtheit der Türken im Deutschen bzw. die ungewöhnliche Essgewohnheit der Guangdonger und die Arroganz der Japaner im Chinesischen. Nachdem die Zielscheiben und deren Eigenschaften in den deutschen und den chinesischen ethnischen Witzen analysiert bzw. miteinander verglichen wurden, gehen wir im folgenden Teil auf das Hintergrundwissen ein, das zum Verstehen der Witze aus den beiden Kulturen benötigt wird. 5.5 Das Hintergrundwissen zum Verstehen der ethnischen Witze In Kapitel 4.4 haben wir das zum Verstehen der Witze benötigte Hintergrundwissen erläutert, wie z.B. sprachliches, kulturelles, Common Sense-, Kontextwissen bzw. die Mischungen aus einigen von ihnen. Beim Lesen oder Hören eines Witzes erzeugt man häufig auf Grund seines Hintergrundwissens eine eigene Erwartung zum Fortgang der Geschichte im Witz. Das reale Geschehen am Ende des Textes steht jedoch häufig im Gegensatz zu der Erwartung des Lesers/Hörers stehend. Durch die Opposition zwischen dem realen Geschehen und der vorher entstandenen Erwartung wird der Lacheffekt im Witz erzeugt (Siehe Kapitel 3.2). Witze, deren Verstehen sprachliches oder kulturelles Wissen voraussetzt, sind relativ schwer auf ein anderes Gebiet oder Land mit verschiedenem Sprach- oder Kulturgrund zu übertragen, denn ohne die Bekanntheit mit den im Witz behandelten sprachlichen oder kulturellen Erscheinungen kann der Leser/Hörer keine Erwartung an den Fortlauf der Geschichte bilden. Dementsprechend verliert die Pointe ihre Bedeutung, da sie in Opposition zu der Erwartung stehen und damit einen Überraschungseffekt auf den Leser/Hörer auslösen soll. Ohne die nötige Pointe gilt der Text nicht mehr als Witz. Eine ergänzende Darstellung der im Witz behandelten sprachlichen oder kulturellen Phänomene ist meistens nicht empfehlenswert oder hilfreich, denn dadurch wird der Leser/Hörer von zu vielen Details beeinflusst, so dass er sich schwer auf das Hauptgeschehen im Witz konzentrieren kann. In anderen Fällen können die mit Absicht ausführlich dargestellten Informationen dem 133 Leser/Hörer zu früh die Pointe verraten, so dass der Überraschungseffekt – die plötzliche Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts – damit verloren geht (Kant, zitiert nach Preisendanz 1970: 10). Im Vergleich zu den Witzen mit sprachlichem oder kulturellem Wissen als Verstehenshintergrund lassen sich die, die mit dem Common Sense oder Kontextwissen zusammenhängen, relativ einfach in eine andere Kultur übertragen, denn die letzteren beiden Wissenssorten sind nicht mit einem spezifischen Gebiet verbunden, sondern für alle Menschen in der modernen Gesellschaft zugänglich. Man kann beim Lesen/Hören solcher Witze direkt eine eigene Erwartung bilden, ohne sich über weitere Kenntnisse zu informieren. Mit der entstandenen Erwartung ist die Pointe im Witz sinnvoll, denn die beiden stehen im Gegensatz zueinander. Damit werden sowohl der Überraschungseffekt als auch der Lacheffekt im Witz produziert. Im Folgenden fragen wir, welches Hintergrundwissen relevanter für das Verstehen der deutschen bzw. der chinesischen ethnischen Witze ist und was die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede zwischen den beiden in Bezug auf das Hintergrundwissen sind. 5.5.1 Hintergrundwissen zum Verstehen der deutschen ethnischen Witze Nach der Untersuchung zum Hintergrundwissen stellt sich heraus, dass das Common Sense-Wissen unter allen oben erwähnten Wissenssorten am häufigsten vorkommt. Darauf folgen kulturelles, sprachliches und Kontextwissen. Die Relevanz des Common Sense-Wissens geht vor allem auf den großen Anteil der Ostfriesen-, Österreicher- und Schottenwitze zurück, deren Verstehen diese Wissenssorte voraussetzt, weil die präsentierten Eigenschaften der genannten Zielscheiben, wie Dummheit oder Geiz, hauptsächlich an ihrem Verhalten anhand der allgemeinen Tätigkeiten (wie Haushalt, Autofahren, Fernsehen, usw.) dargestellt werden, statt an die kulturspezifischen Tätigkeiten (wie Sprachverstehen, Sittenpflege) gebunden zu sein. Eine genaue Verteilung der verschiedenen Wissenssorten findet man in der folgenden Tabelle 7. Hintergrundwissen Anteil Common Sense-Wissen 44% Kulturelles Wissen 29% 134 Sprachliches Wissen 12% Kontextwissen 11% Vermischtes 4% Tabelle 7: Hintergrundwissen zum Verstehen der deutschen ethnischen Witze An der Tabelle 7 kann man auch feststellen, dass Common Sense- und Kontextwissen insgesamt bei über der Hälfte der Witze im deutschen Korpus den Hintergrund bilden. Mit anderen Worten, mehr als 50% der deutschen ethnischen Witze lassen sich relativ einfach in eine andere Kultur übertragen oder von den Lesern/Hörern verstehen, die sich mit der deutschen Kultur nicht gut auskennen. 5.5.2 Hintergrundwissen zum Verstehen der chinesischen ethnischen Witze Bei der Analyse der chinesischen ethnischen Witze ist festzustellen, dass sprachliches Wissen unter allen vier Sorten am häufigsten benutzt wird. Darauf folgen kulturelles, Common Sense- und Kontextwissen. Die Wichtigkeit des sprachlichen Wissens lässt sich durch den großen Anteil der Witze über Lowài und die chinesischen Provinzbewohner erklären. Diese Witze machen über der Hälfte des chinesischen Korpus aus. Das Verstehen solcher Witze setzt sprachliches Wissen voraus, weil darin vor allem die Unfähigkeit der Zielscheiben beim Benutzen der chinesischen Standardsprache bzw. die Unvertrautheit der Lowài mit der chinesischen Esstradition behandelt werden, was sich als spezifisch für die chinesische Kultur erweist. Die genaue Verteilung der verschiedenen Wissensbereiche in den chinesischen ethnischen Witzen findet man in der folgenden Tabelle 8. Hintergrundwissen Anteil Sprachliches Wissen 48% Kulturelles Wissen 25% Common Sense-Wissen 18% Kontextwissen 8% Vermischtes 1% Tabelle 8: Hintergrundwissen zum Verstehen der chinesischen ethnischen Witze An der Tabelle 8 kann man sehen, dass das Verstehen von knapp drei Viertel der chinesischen ethnischen Witze sprachliches und kulturelles Wissen voraussetzt, 135 während Witze, die mit dem Common Sense- oder Kontextwissen zusammenhängen, nur ein Viertel des Korpus ausmachen. Nach den obigen Erklärungen kann man sagen, dass die meisten chinesischen ethnischen Witze wegen der Sprach- und Kulturbedingtheit relativ schwer direkt in eine andere Kultur übertragen werden können. 5.5.3 Vergleich Wenn man das Ergebnis der Untersuchung zum Hintergrundwissen, welches beim Verstehen deutscher und chinesischer ethnischer Witze benötigt wird, vergleicht, kann man zunächst einige Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Sprachen feststellen: 1. Sowohl im Deutschen als auch im Chinesischen gelten alle vier Wissensbereiche – sprachliches, kulturelles, Common Sense- und Kontextwissen – als Voraussetzung für das Verstehen der ethnischen Witze. 2. Darüber hinaus sind in beiden Sprachen Witzbeispiele zu finden, deren Verstehen mehrere Wissensbereiche voraussetzen. Diese Gruppe wird in der Tabelle als Vermischtes bezeichnet. Neben den Gemeinsamkeiten findet man auch einige Unterschiede zwischen den beiden Seiten, die wie folgt dargestellt werden: 1. Während das Common Sense-Wissen für das Verstehen der deutschen ethnischen Witze am häufigsten vorauszusetzen ist, erweist sich im Chinesischen sprachliches Wissen als am relevantesten. Das geht auf das unterschiedliche Verstehen der Dummheit in den Witzen aus beiden Kulturen zurück. Während im Deutschen vor allem die Unfähigkeit der Zielscheiben beim Umgehen mit den allgemeinen Tätigkeiten (wie Haushaltmachen, Fernsehen) behandelt wird, geht es im Chinesischen um die Unfähigkeit der Zielscheiben beim Benutzen der Standardsprache oder um deren Nichtvertrautheit mit der Esstradition, was sich als sprach- und kulturspezifisch erweist. 2. Die deutschen ethnischen Witze sind einfacher in eine andere Kultur zu übertragen als die chinesischen. Das liegt daran, dass der Anteil der Witze, deren Verstehen Common Sense- und Kontextwissen voraussetzt, im Deutschen viel höher als im Chinesischen ist. Die meisten chinesischen Witze hängen mit den spezifischen Sprach- oder Kulturphänomenen zusammen. 136 Nachdem der Aspekt, das zum Witzverstehen benötigte Hintergrundwissen, diskutiert wurde, gehen wir im nächsten Teil auf die Situationen ein, die in den deutschen und den chinesischen ethnischen Witzen dargestellt werden. 5.6 Die Situationen in den ethnischen Witzen In Kapitel 4.5 haben wir diskutiert, dass die Situation im Witz meistens als die Aktivität der Zielscheiben formuliert wird, wie z.B. Urlaubmachen 56 , Fremdsprachenlernen, Geburtstagsfeiern, Telefonieren, Essen, Arztbesuch etc. Es ist zu sehen, dass die im Witz dargestellte Situation direkt mit dem realen Leben zusammenhängt. Aus diesem Grund kann man an der Analyse und dem Vergleich der Situationen im deutschen und chinesischen Witz die Unterschiede in den realen Lebensformen der Menschen aus den beiden Ländern erkennen. Außerdem ist anzumerken, dass die Situationen im Witz kein geschlossenes System, sondern eine offene Liste darstellen, weil das reale Leben, auf das die Situationen im Witz zurückgehen, ebenfalls aus einer Reihe unbeschränkter Szenen und Bereiche besteht. In diesem Teil werden wir zuerst die Situationen in den gesammelten deutschen bzw. chinesischen Witzen vorstellen, dann wird ein Vergleich zwischen den beiden durchgeführt. 5.6.1 Die Situationen in den deutschen ethnischen Witzen Nach der Untersuchung sind insgesamt 28 verschiedene Situationen in den deutschen ethnischen Witzen zu unterscheiden, z.B. Fahren/Reisen, Bedienen der Technik, Heiraten, Sex und Beerdigung. Darunter werden Fahren/Reisen, Einkaufen/Verkaufen, Haushalt, Bedienen der Technik und Teilnehmen an Kunst- und Kulturtätigkeiten am häufigsten dargestellt. Sie beschäftigen sich mit 40% des gesamten Korpus. Ihre Verteilung wird in der Tabelle 9 dargestellt. 56 Zu der Situation im Witz wurde bisher neben der kurzen Vorstellung von Attardo (1994, 2001) kaum eine Forschung durchgeführt. Deshalb sind die Bezeichnungen und Sortierungen hier von der Verfasserin selbst festgelegt. 137 Situationen in den deutschen ethnischen Witzen Anteil Fahren/Reisen 13% Einkaufen/Verkaufen/Handeln 9% Haushalt 7% Bedienen der Technik 6% Teilnahme an Kunst- und Kulturtätigkeiten 5% Tabelle 9: Die fünf relevantesten Situationen in den deutschen ethnischen Witzen Die Situation „Fahren/Reisen“ kommt im Witz in den verschiedenen Varianten wie Auto-, Bus- und Zugnehmen, Fliegen, Automarkenbezeichnen, Fahrzeugprüfen usw. vor. An dem häufigen Auftreten dieses Themas kann man die wichtige Rolle der Fahrzeuge in Deutschland bzw. die relativ große Mobilität der Deutschen im Alltag erkennen. Deutschland gilt als eine der führenden Nationen im Bereich der Automobilindustrie. Ein großes Freizeitthema im Leben der Deutschen ist das Reisen mit dem eigenen Auto oder den öffentlichen Verkehrsmitteln in einen anderen Ort oder ein anderes Land. Deshalb unterhält man sich im Alltag gern über die Themen Auto oder Urlaub. Entsprechend werden die Situationen Fahren und Reisen auch häufig im Witz dargestellt. Dabei geht es z.B. um die Amerikaner, die sich mit den Sehenswürdigkeiten nicht auskennen, um die Holländer, die schlecht Auto fahren, die Österreicher, die bei der Führerscheinprüfung immer durchfallen, oder um die Automarke „FIAT“, die als Symbol einer „für Italien ausreichenden Technik“ interpretiert wird, um die zehn Schotten, die sich gleichzeitig in einen Smart drängen können, den Bayern, der im Urlaub das Englische mit dem Bayrischen verwechselt, die Schwaben, die durch Tricks Zugtickets sparen können oder um die Trabbis aus der früheren DDR, deren Geschwindigkeit mit der eines Esels verglichen wird. Die Situationen Einkaufen/Verkaufen/Handeln findet man vor allem in den Witzen über Schotten, Ostfriesen, Juden und Amerikaner. Da Witze über die ersten beiden Gruppen insgesamt mehr als die Hälfte des deutschen Korpus ausmachen, kommen die damit verbundenen Situationen auch relativ häufig vor. Dabei geht es um den Schotten, der für 500 Pfund von den Räubern halbtot geschlagen werden will, oder um den Vater aus Schottland, der seinen Kindern nur eine Erdbeere kauft, weil die anderen gleich schmecken, den Ostfriesen, der in der Buchhandlung einen Globus von Ostfriesland kaufen will, den Amerikaner, der im Urlaub in Europa Picassos Bilder als Postkarten kauft, den Juden, der bei der Geldausleihe durch Tricks einen 138 Gulden mehr verdient, oder den jüdischen Käufer, der beim Metzger Schinken als Fisch bezeichnet, weil er Fleisch essen will. Dass die Situationen Haushalt und Bedienen der Technik ebenfalls häufig dargestellt werden, hängt vor allem mit dem großen Anteil der Ostfriesen- und Österreicherwitze zusammen, die insgesamt knapp die Hälfte des gesamten deutschen Korpus ausmachen. In den Witzen über die beiden Gruppen geht es vor allem um deren Unfähigkeit im Umgang mit dem Haushalt oder der Technik. In Kapitel 4 haben wir schon das Beispiel über den Österreicher zitiert, der heißes Wasser im Kühlschrank behalten will. In anderen Witzen geht es um die Österreicher, die durch das Drücken der Krapfen Marmelade produzieren, oder um die Ostfriesen, die Angst vor dem eigenen Gesicht im Spiegel haben, den Mann aus Ostfriesland, der sich Sorgen macht, weil er beim Telefonieren nur Stimmen hört und keine Person sieht, die Ostfriesen, die Zeitungen ins Gefrierfach legen, um Nachrichten frisch zu halten, bzw. denjenigen, der ein Paar Gummistiefel vor den Computer stellt, um später ins Netz einzusteigen. Die Situationen Teilnehmen an Kunst- und Kulturtätigkeiten kommen häufig in den Witzen über Schotten oder Ostfriesen vor. Dabei handeln sie meistens vom Geiz der Schotten. Da ist einer, der sein Musikzimmer so einrichtet, dass man dort am Besten das Radio des Nachbarn hört. In einem anderen Witz geht es um ein schottisches Ehepaar, das mitten im Konzert ihren Sohn kneift, weil man das Geld für das Konzert zurückbekommt, wenn die Kinder schreien. In den Witzen über Ostfriesen geht es um deren Unvertrautheit mit dem Kino, dem Konzert oder mit anderen Kunstformen. Da ist einer, der drei Male eine Kinokarte gekauft hat, weil der Mann an der Kasse sie immer zerreißt, oder ein anderer, der gefragt wird, ob er Klavier spielen kann. Daraufhin antwortet er: „Keine Ahnung. Ich hab’s noch nie probiert.“ Das häufige Auftreten von Situationen mit Kino, Musik und Kunst im Witz kann auch ein Hinweis darauf sein, dass die Beteiligung an den verschiedenen Kulturveranstaltungen im Leben der Deutschen üblich ist, so dass man sich damit gut auskennt und Witze über die macht, die sich in diesen Situationen unpassend verhalten. 5.6.2 Die Situationen in den chinesischen ethnischen Witzen In den chinesischen ethnischen Witzen wurden insgesamt 26 Situationen festgestellt. Alle davon sind auch in den deutschen Witzen zu finden. Da aber in den letzteren 28 139 Situationen zusammengefasst wurden (siehe Kapitel 5.6.1), gibt es solche, die nur im Deutschen erwähnt werden und im Chinesischen fehlen. Dies sind die Situationen Garten- oder Feldarbeit bzw. Geburtstagfeiern. Das hat mit dem realen Leben in den beiden Ländern zu tun. Während die Pflege des Gartens und das Feiern des Geburtstages in Deutschland übliche Tätigkeiten sind, scheinen diese in China selten zu sein. Traditionell feiern Chinesen nicht den Geburtstag, denn man geht davon aus, dass alle beim Jahreswechsel gemeinsam ein Jahr älter werden. Eine Ausnahme stellen die kleinen Kinder oder die älteren Menschen über 60 dar57. Ihre Geburtstage werden eher gefeiert. Die Situationen der Garten- oder Feldarbeit werden in den heutigen chinesischen ethnischen Witzen nicht behandelt, weil im realen Leben die meisten Bewohner in der Stadt keinen eigenen Garten besitzen und die Leute auf dem Lande in den Witzen kaum erwähnt werden, d.h., man macht keine Unterscheidung zwischen den Städtern und den Landleuten in den gesammelten chinesischen ethnischen Witzen. Unter den 26 Situationen kommen Sprachmissverstehen, Essen, Fahren/Reisen, Einkaufen/Verkaufen bzw. Heiraten/Partnerschaft/Familie am häufigsten vor. Sie machen insgesamt über die Hälfte des ganzen chinesischen Korpus aus. Ihre Verteilung wird in der folgenden Tabelle 10 aufgelistet. Situationen in ethnischen Witzen den chinesischen Anteil Sprachmissverstehen 18% Essen 11% Fahren/Reisen 10% Einkaufen/Verkaufen 7% Heiraten/Partnerschaft/Familie 6% Tabelle 10: Die fünf relevantesten Situationen in den chinesischen ethnischen Witzen Dass die Situationen Sprachmissverstehen und Essen in den chinesischen Witzen am häufigsten dargestellt werden, geht vor allem auf den großen Anteil der Witze über Lowài und die verschiedenen Provinzbewohner zurück. Sie machen über Hälfte des chinesischen Korpus aus und handeln meistens von der Unfähigkeit der Zielscheiben 57 Heute feiern die Chinesen (besonders die Jugendlichen) immer häufiger den Geburtstag. Dabei geht es aber meistens um ein gemeinsames Essen mit Freunden oder Familienangehörigen, statt andere Veranstaltungen zu organisieren. Im Vergleich zu den Deutschen achten die Chinesen viel weniger auf den Geburtstag. 140 beim Benutzen der Standardsprache bzw. der Nichtvertrautheit von Lowài mit der chinesischen Esskultur. In Kapitel 5.4 haben wir schon einige Beispiele über die Unterschiede zwischen der chinesischen Standardsprache Ptnghuà und den verschiedenen Dialekten besprochen. Dabei wird die gleich gesprochene Form in den Dialekten anders als in Ptnghuà verstanden. Darüber hinaus lassen sich auch Missverständnisse in der mündlichen Kommunikation finden, wenn man Fehler bezüglich der Töne der Wörter macht, was bei den Nicht-Muttersprachlern häufig der Fall ist. Die chinesische Sprache hängt hauptsächlich von ihrem Schriftzeichensystem ab. Dabei unterscheidet sich die Aussprache mancher Wörter nur durch ihre Töne, wie z.B. ਏ (wn, „küssen“) und 䯂 (wèn, „fragen“), 㹿ᄤ(bèizi, „Bettdecke“) und ᵃ ᄤ(bizi, „Becher“), 吙 (é, „Gans“) und 体 (è, „Hunger“), usw. Der große Anteil der Witze über Sprachmissverständnisse und Essen weist auf die Vertrautheit der Chinesen mit den beiden Situationen in ihrem realen Leben hin. Wie in Kapitel 4 erläutert, spielt das Essen in der Kommunikation unter Chinesen eine große Rolle. Damit verbindet man fast alle Treffen sowohl im offiziellen als auch im privaten Bereich. Ein alter Spruch lautet: „Essen ist des Volkes Himmelsreich 58 “. Heute benutzen die Chinesen metaphorisch eine Wendung, die aus Brennholz, Reis, Speiseöl und Salz besteht, als Symbol für das alltägliche Leben. Der relativ große Anteil der Situationen Fahren/Reisen und Einkaufen/Verkaufen im Witz hat mit der schnellen Entwicklung in den letzten Jahren in der Wirtschaft bzw. der Autoindustrie zu tun. Witze mit den Situationen Fahren/Reisen beschäftigen sich vor allem mit den Chinesen (als einer Einheit), die beim Autofahren nicht auf die Verkehrsregeln achten, was unglücklicherweise auch oft der Fall ist. Die Situationen Einkaufen/Verkaufen findet man sowohl in den Witzen über die ausländischen als auch über die inländischen Gruppen. Bei den ersteren geht es z.B. um die verschiedenen Handsprachen59 von Lowài und Chinesen bei dem Symbolisieren der Zahlen. Während die gestreckten Daumen und Zeigefinger von den ersteren 60 als „zwei“ verstanden werden, steht dieses Signal bei den letzteren für „acht“, weil es 58 Der originale chinesische Text: ⇥ҹ亳Ў (mín y shí wéi tin). Der Spruch stammt aus „ᇮк (Shàngsh)“, einem der klassischen konfuzianischen Werke, das vor ca. 2500 Jahren zusammengestellt wurde. 59 Mit der Handsprache wird hier gemeint, mit den Fingern bestimmte Zahlen oder Bedeutungen zu symbolisieren. 60 Die gestreckten Daumen und Zeigefinger werden vor allem in Deutschland als „zwei“ verstanden. Jedoch haben sie nicht bei allen Lo wài dieselbe Bedeutung. In der amerikanischen Kultur wird „zwei“ z. B. durch die gestreckten Zeige- und Mittelfinger dargestellt. Dies wurde in einer Diskussion 141 ähnlich wie das umgekehrt geschriebenes chinesisches Zeichen für acht – „ ܿ (b)“ aussieht. Die Witze mit der Situation Einkaufen/Verkaufen handeln vor allem von der Schlauheit oder dem Geiz der Shanghaier. In Kapitel 5.4 haben wir schon ein Beispiel zum genauen Rechnen der Shanghaier beim Nadelkauf diskutiert. Dass das Thema Heiraten/Partnerschaft/Familie auch relativ häufig in den chinesischen Witzen vorkommt, liegt daran, dass die Chinesen großen Wert auf die Familie legen und ihre Freizeit vor allem mit den Familienmitgliedern oder den Verwandten verbringen, wenn diese nicht zu weit voneinander wohnen. Außerdem achtet man viel auf die Beziehungen zwischen den verschiedenen Generationen. Die jüngeren dürfen z.B. die älteren nicht direkt mit deren Namen anreden, sondern müssen immer deren Verwandtschaftsgrad in der Beziehung zum Sprechen nennen, etwa Tante, Onkel, Großmutter usw. Um die verschiedenen Verwandten in derselben Generation zu unterscheiden, fügt man vor dem Grad ein Attribut wie „groß“, „klein“ oder eine Zahl hinzu, z.B. die große Tante, der zweite Bruder, der kleine Onkel. Außerdem gibt es im Chinesischen mehr Unterscheidungen für die Verwandten derselben Generation. Allein unter „Tante“ hat man fünf verschiedene Bezeichnungen jeweils für die Schwester und die Schwägerin der Mutter, die Schwester, die ältere bzw. die jüngere Schwägerin des Vaters. In Kapitel 6 werden wir näher auf die Beziehungen unter den Familienmitgliedern in China eingehen. In den ethnischen Witzen mit den Situationen Familie/Partnerschaft geht es vor allem um die Verwechslung der chinesischen Verwandtschaftsbezeichnungen durch Lowài, die „Pantoffelhelden“ in Shanghai bzw. die Reaktionen der Männer aus verschiedenen Regionen auf die Tatsache, dass die Ehefrau untreu ist. 5.6.3 Vergleich Die im Witz dargestellten Situationen hängen meistens mit dem realen Leben der Menschen zusammen, deshalb kann man am Vergleich dieses Aspektes die Unterschiede zwischen den deutschen und den chinesischen Lebensformen erkennen. Die Forschung zeigt, dass jeweils 28 und 26 Situationen in den gesammelten deutschen bzw. chinesischen ethnischen Witzen dargestellt wurden. Davon sind die meisten in den beiden Sprachen miteinander identisch. Nur die zwei Situationen mit Wallace Chafe, einem Professor für Linguistik an der Universität Kalifornien, Santa Barbara bestätigt. 142 Garten- oder Feldarbeit bzw. Geburtstagsfeier wurden nur im Deutschen und nicht im Chinesischen behandelt. Wenn es um die relevanten Situationen geht, ist festzustellen, dass Fahren/Reisen, Einkaufen/Verkaufen, Haushalt, Bedienen der Technik und Teilnehmen an Kunstund Kulturveranstaltungen am häufigsten im deutschen Witz dargestellt werden, während die fünf relevantesten Situationen im Chinesischen Sprachmissverstehen, Essen, Fahren/Reisen, Einkaufen/Verkaufen und Heiraten/Partnerschaft/Familie sind. Es ist zu sehen, dass sich Fahren/Reisen und Einkaufen/Verkaufen in beiden Sprachen als relevant erweisen. Darüber hinaus kann man die Unterschiede zwischen dem Deutschen und dem Chinesischen wie folgt darstellen: Während Fahren/Reisen und Teilnehmen an Kunst- und Kulturtätigkeiten im Deutschen als relevante Situationen vorkommen, werden im Chinesischen Sprachmissverständnisse, Essen und Heiraten/Familie hervorgehoben. Das weist auf die Verschiedenheit zwischen den Lebensformen in den beiden Ländern hin, da die Deutschen großen Wert auf Autos, Urlaub und Kulturveranstaltungen legen. Im Vergleich dazu sprechen die Chinesen gern über die Missverständnisse beim Gebrauch verschiedener Dialekte, treffen sich in der Freizeit mit Verwandten oder Freunden zum Essen und achten viel auf die Beziehungen in der Großfamilie. Nach der Analyse und dem Vergleich der Situationen werden im nächsten Teil die Erzählformen diskutiert, die in den deutschen und chinesischen ethnischen Witzen verwendet werden. 5.7 Die Erzählformen in den ethnischen Witzen In Kapitel 4.6 haben wir die Strukturelemente bzw. die verschiedenen Erzählformen des Witzes diskutiert. Nach dieser Analyse besteht ein Witz aus drei Teilen: Einleitung, Dramatisierung und Pointe. In der Einleitung geht es um eine kurze und prägnante Vorstellung der Situation und der Witzfiguren. Die Dramatisierung gilt als der Hauptteil des Witztextes, in dem die Handlungen der Figuren in der Weise dargestellt werden, die dem Leser/Hörer erlaubt, eigene Erwartungen ins Spiel zu bringen. Die Pointe liegt meist am Ende des Witzes und dient dazu, eine zweite semantische Interpretation des Textes einzuführen, die in Kontrast zu der vorher gebildeten Erwartung des Lesers/Hörers stehen soll. 143 Wenn es um die Erzählformen geht, sind nach der Erläuterung in Kapitel 4.6 fünf verschiedene Sorten zu unterscheiden: Erzählung, Erzählung + Dialog, Dialog, FrageAntwort und Dreier-Modell. Wie der Name andeutet, werden Erzählungswitze in rein narrativer Form dargestellt. Dabei sind die drei Strukturelemente gut zu erkennen. Witze (9) und (12) in diesem Kapitel gelten als Beispiele für diese Kategorie. Dialogwitze bestehen dann aus einem Gespräch zwischen zwei Personen. Die Einleitung – die Angabe der Situation und der Witzfiguren – wird meistens in den Teil der Dramatisierung integriert. Dabei kann man an der Anrede der Figuren ihre Beziehung zueinander erkennen. Witze in der Form des Dialogs sind kompakter und anschaulicher als die Erzählungen. Als Mischung aus den beiden eben genannten Formen hat Erzählung + Dialog eine klare Struktur mit den drei voneinander getrennten Teilen: Einleitung, Dramatisierung und Pointe. Darüber hinaus wirkt diese Form durch das Gespräch zwischen den Personen anschaulich und lebhaft, so dass der Leser/Hörer sich leichter mit den Witzfiguren identifizieren kann und der Witzeffekt dadurch besser erzielt wird. Wegen der Klarheit und Anschaulichkeit wird die Form Erzählung + Dialog in vielen Witzen angewendet. (1), (2), (3), (6), (8) und (14) in Kapitel 5 sind Beispiele für diese Kategorie. Erzählung, Dialog und die Mischung aus den beiden Sorten gehören zu den so genannten nicht-standardisierten Erzählformen des Witzes, die im Kontrast zu den standardisierten Formen stehen, die vor allem Frage-Antwort und Dreier-Modell enthalten. Die Frage-Antwort-Witze bestehen förmlich aus zwei Teilen. In der Fragezeile werden die Situation, die Figuren und das Hauptgeschehen im Witz dargestellt. Die Frage wird in der Weise gestellt, dass der Leser/Hörer entweder eine eigene Antwort darauf oder ein großes Interesse am folgenden Text bekommt. In der Antwortzeile kommt man zu einem Resultat, das völlig anders ist, als erwartet wurde. Dies dient als die Pointe des Witzes. Die Frage-Antwort-Form ist standardisiert, weil sie ein festgelegtes Muster aus zwei Zeilen darstellt. Witze in dieser Form beschäftigen sich meist mit den bekannten Figuren in einer Gesellschaft, wie Ostfriesen in Deutschland, Polen in den USA und Blondinen in beiden Ländern. Dies sind die Witze ohne Bezug auf eine bestimmte Realität, d.h. die Dummheit oder andere Eigenschaften der Figuren werden durch deren Handlungen in den Sachverhalten, die nichts mit dem sozialen Hintergrund der Zielscheiben zu tun haben, dargestellt. Witze in der FrageAntwort-Form sind meistens kurz, kompakt, einfach zu merken und schnell zu verbreiten. Witz (7) in diesem Kapitel ist ein Beispiel dafür. Eine andere 144 standardisierte Form stellt das Dreier-Modell dar, in dem drei oder mehrere Figuren dieselbe oder eine ähnliche Handlung ausführen. Wie in Erzählungen werden in dieser Form zuerst die Situation und die Figuren kurz vorgestellt. Darauf folgt die Dramatisierung, in der zwei oder mehrere Figuren auf ihre Art und Weise dieselbe Handlung ausführen, was sich für den Leser/Hörer als verständlich und nachvollziehbar erweist. Die Pointe findet bei der letzten Figur statt, die beim Wiederholen der eben erwähnten Handlung etwas Ungewöhnliches tut, wodurch ein Überraschungseffekt im Witz erzielt wird. Das Dreier-Modell wird häufig in Witzen über mehrere ethnische Gruppen angewendet, wie z.B. den Witzen, in denen Deutsche, Amerikaner, Engländer und Franzosen gleichzeitig bei demselben Ereignis dargestellt werden. Die Witze (5), (11) und (13) in diesem Kapitel gelten als Beispiele für diese Form. Mit der Globalisierung in der Wirtschaft sind auch immer mehr „internationale“ Witze entstanden, die vor allem in der Form des DreierModells ausgedrückt werden. Wegen der klaren, festgelegten Struktur und der Internationalität lassen sich solche Witze schnell entwickeln und verbreiten. 5.7.1 Die Erzählform in den deutschen ethnischen Witzen Nach der Untersuchung stellt sich heraus, dass die Erzählform Frage-Antwort am häufigsten bei den deutschen ethnischen Witzen angewendet wird. Das geht auf den großen Anteil der Ostfriesenwitze zurück, die fast alle in Frage-Antwort-Form dargestellt werden. Die anderen relativ häufig benutzten Formen sind Erzählung + Dialog bzw. Erzählung. In der Tabelle 11 findet man eine genaue Verteilung der verschiedenen Erzählformen in den deutschen ethnischen Witzen. Erzählformen Witzanteil Frage-Antwort 33% Erzählung + Dialog 25% Erzählung 21% Dialog 10% Dreier-Modell 9% Sonstiges 2% Tabelle 11: Erzählformen der deutschen ethnischen Witze Es ist zu sehen, dass die standardisierten Formen, die die Frage-Antwort-Reihenfolge bzw. das Dreier-Modell enthalten, insgesamt knapp die Hälfte des deutschen Korpus 145 ausmachen. Daraus kann man schließen, dass ethnische Witze im Deutschen durch eine festgelegte Musterstruktur gekennzeichnet sind. Darüber hinaus ist zu beobachten, dass die rein narrative Form nur auf ein Fünftel aller untersuchten Beispiele angewendet wird. Deshalb kann man sagen, dass die meisten deutschen ethnischen Witze nicht durch eine rein narrative Form geprägt sind. 5.7.2 Die Erzählform in den chinesischen ethnischen Witzen Die Untersuchung zu den Erzählformen in den chinesischen ethnischen Witzen zeigt, dass die rein narrative Form Erzählung unter allen am häufigsten vorkommt. Darauf folgen Erzählung + Dialog, Dreier-Modell und Dialog. Die Frage-Antwort-Form wird in den chinesischen ethnischen Witzen nicht benutzt. Eine genaue Verteilung der verschiedenen Formen findet man in der Tabelle 12. Erzählformen Witzanteil Erzählung 43% Erzählung + Dialog 27% Dreier-Modell 22% Dialog 3% Sonstiges 5% Tabelle 12: Erzählformen der chinesischen ethnischen Witze Bei dem großen Anteil der Erzählungswitze kann man sagen, dass die ethnischen Witze im Chinesischen durch die rein narrative Form charakterisiert sind. Die standardisierten Formen, die hier nur als Dreier-Modell vorkommen, machen insgesamt nur 22% der gesamten Beispiele aus. Daraus schließt man, dass Strukturstandardisierung nicht kennzeichnend für die chinesischen ethnischen Witze ist. 5.7.3 Vergleich Fasst man die Untersuchung zu den Erzählformen in deutschen und chinesischen ethnischen Witzen zusammen, kann man zuerst als Gemeinsamkeit zwischen den beiden feststellen, dass sowohl im Deutschen als auch im Chinesischen alle fünf Erzählformen angewendet werden, d.h. Erzählung, Erzählung + Dialog, Dialog, 146 Frage-Antwort-Form und Dreier-Modell. Darüber hinaus sind auch einige bemerkenswerte Unterschiede zwischen den beiden Kulturen festzustellen: 1. Während die Frage-Antwort-Form am häufigsten in den deutschen ethnischen Witzen benutzt wird, erweist sich die Erzählung als die relevanteste Form im Chinesischen. Daraus schließt man, dass ethnische Witze in der letzteren Sprache eher eine narrative Form als in der ersteren aufweisen. 2. Die standardisierten Erzählformen (Frage-Antwort und Dreier-Modell) haben im Deutschen einen viel höheren Anteil am Witz als im Chinesischen. Deshalb kann man sagen, dass deutsche ethnische Witze eine stärkere Tendenz in der Strukturstandardisierung als chinesische aufweisen. 5.8 Fazit In diesem Kapitel haben wir die gesammelten deutschen und chinesischen ethnischen Witze unter den fünf verschiedenen Aspekten analysiert bzw. miteinander verglichen, anhand 1. der Zielscheibe, 2. der Eigenschaft der Zielscheibe, 3. dem Hintergrundwissen, 4. der Situation und 5. der Erzählform. Zunächst wurde festgestellt, dass die Kategorie der ethnischen Witze im Deutschen relevanter als im Chinesischen ist, denn es wurden viel mehr deutsche Beispiele als chinesische gefunden, obwohl die Witzbücher und die Webseiten, die als Korpusquellen zur Verfügung gestellt wurden, in den beiden Sprachen einen ähnlichen Umfang haben. In Bezug auf die Zielscheiben und deren Eigenschaften stellt man fest, dass die Kultur einen großen Einfluss auf diese beiden Aspekte ausübt. Aus geschichtlichen Gründen unterscheidet man in deutschen Witzen viele einzelne inländische bzw. ausländische Gruppen, während im Chinesischen vor allem eine Zweiteilung von Chinesen und Nicht-Chinesen durchgeführt wird. Unter allen Eigenschaften wurden Dummheit und Geiz am häufigsten dargestellt. Jedoch lässt sich die erstere im Witz in den beiden Sprachen jeweils unterschiedlich interpretieren. Wenn es um das Hintergrundwissen geht, wird das Common Sense-Wissen am meisten für das Verstehen der deutschen Witze gebraucht, während sich das sprachliche Wissen als besonders wichtig für die chinesischen Witze erweist. Daraus 147 schließt man, dass sich die ersteren relativ einfacher in eine andere Kultur übertragen lassen als die letzteren. Bei der Situation, die in gewissem Sinne das reale Leben der Menschen aus einer Kultur widerspiegelt, wurden ebenfalls einige Unterschiede festgestellt. Im deutschen Witz kommen Fahren/Reisen und die Teilnahme an Kulturveranstaltungen relativ häufig vor, während im Chinesischen vor allem Sprachmissverstehen, Essen und Heiraten/Familie hervorgehoben werden. Wenn es um die Erzählform geht, zeigen sich die deutschen ethnischen Witze durch eine stärkere Strukturstandardisierung als die chinesischen gekennzeichnet, während die letzteren eher durch einen narrativen Stil geprägt sind. Nach der Analyse und dem Vergleich der ethnischen Witze wird im nächsten Kapitel auf die Kategorie der Familienwitze eingegangen. Dabei werden die traditionellen sowie aktuellen Familienwerte in Deutschland bzw. in China, die wichtigen Zielscheiben und deren Eigenschaften im Witz, die verschiedenen Bereiche des Hintergrundwissens, die typischen Situationen bzw. die relevanten Erzählformen diskutiert. 148 6. Familienwitze Die Harmonie in der Familie bringt alles im Leben zum Aufschwung. - ein alter chinesischer Spruch In diesem Kapitel werden die Familienwitze aus dem Deutschen und dem Chinesischen unter den fünf Aspekten, der Zielscheibe, deren Eigenschaft, dem Hintergrundwissen, der Situation und der Erzählform, die bereits in Kapitel 4 erläutert wurden, analysiert und miteinander verglichen. Wie ethnische Witze wird die Kategorie der Familienwitze auch nach den darin behandelten Zielscheiben benannt. D.h., in dieser Witzsorte geht es vor allem um die verschiedenen Familienmitglieder (wie Vater, Mutter und Schwiegermutter) oder ihre Beziehungen zueinander (wie Vater-Sohn, Schwiegermutter-Schwiegersohn etc.), die an einer bestimmten Eigenschaft im familiären Zusammenhang dargestellt werden61. Damit man einen klaren Einblick in diese Kategorie bekommt, wird im Folgenden ein Beispiel für Familienwitze zitiert: (1) Klaus zur Schwiegermutter: „Wie lange bleibst du?“ „Bis ich euch auf die Nerven falle!“ „Was, nur so kurz?“ (http://www.dein-witz.de) In (1) geht es um die angespannte Beziehung zwischen der Schwiegermutter und dem Schwiegersohn, die hier vor allem als die Unbeliebtheit der ersteren bei dem letzteren dargestellt wird. Wenn man den Witz bis „… euch auf die Nerven falle“ liest, denkt man, dass die Schwiegermutter damit wahrscheinlich „einen langen Aufenthalt bei ihrer Tochter und dem Schwiegersohn“ meint. Diese Erwartung bildet das Skript 1 im Witz. In der Pointe des Witzes wird das Skript 2 eingeführt, indem der Schwiegersohn mit einer Überraschung „was, nur so kurz“ erwidert. Das weist darauf 61 Es wurden bisher in der Humorforschung kaum Studien über die Kategorie der Familienwitze durchgeführt. Die Definition hier stammt von der Verfasserin selbst. 149 hin, dass dieser sich schon gleich nach der Ankunft der Schwiegermutter gestört fühlt. Die von dem Schwiegersohn verstandene „kurze Zeit“ steht in Opposition zu dem von der Schwiegermutter gemeinten „langen Aufenthalt“. Dadurch wird der Humoreffekt in (1) hergestellt. Witz ist ein kulturelles Phänomen. Deshalb kann man an der Analyse und dem Vergleich der deutschen und der chinesischen Familienwitze die Ähnlichkeiten bzw. die Unterschiede in der Familienethik zwischen den beiden Ländern erkennen, die z.B. Traditionen, Werte und Entwicklungstendenzen der Familie betrifft. Dieses Kapitel besteht aus acht Teilen. Teil 1 gibt einen Überblick über die traditionellen und die aktuellen Familienstrukturen und –werte in Deutschland bzw. in China. Teil 2 stellt die Auswahlkriterien für die Beispiele in dieser Studie vor. Von Teil 3 bis Teil 7 werden die gesammelten Witze unter den fünf Aspekten analysiert bzw. miteinander verglichen. Teil 8 ist die Zusammenfassung des ganzen Kapitels. 6.1 Familienstruktur und Familienwerte in China bzw. in Deutschland 6.1.1 Die Relevanz der Familie in China Im letzten Kapitel hat die Analyse der Situationen in ethnischen Witzen bereits ergeben, dass Chinesen großen Wert auf die Beziehungen unter den Familienmitgliedern und besonders die zwischen den verschiedenen Generationen legen. Dabei wurde dargelegt, dass die Jüngeren Respekt und Gehorsamkeit gegenüber den Älteren zeigen sollten. Solche Familienwerte, die auch heute in der chinesischen Gesellschaft gültig sind, gehen auf die Lehre des Konfuzianismus zurück, die seit dem dritten Jahrhundert v. Chr. die Leitprinzipien für die Verhaltensweisen der Chinesen bestimmt hat. Im Konfuzianismus werden fünf menschliche Beziehungen als relevant für die Gesellschaft angesehen: Regierender Regierte, Vater - Sohn, Ehemann - Ehefrau, älterer Bruder - jüngerer Bruder und Freund – Freund. Davon gehören drei zu den Beziehungen unter den Familienmitgliedern. In Ljì ( ⼐䆄 , „Buch der Riten“), einem der fünf klassischen Werke des Konfuzianismus, wurden die drei Familienbeziehungen weiter erläutert: Der Vater soll liebevoll zu seinem Sohn sein und der Sohn muss seinem Vater Pietät und Gehorsamkeit zeigen. Der Ehemann soll treu zu seiner Frau sein und die Ehefrau soll auf ihren Mann hören. Der ältere Bruder soll sich um seinen jüngeren kümmern 150 und der jüngere Bruder soll seinen älteren respektieren62. Darüber hinaus wurde im „Buch der Riten“ die Reihenfolge der Lebensaufgaben eines Menschen festgestellt. Er muss sich zuerst moralisch und charakterlich vervollständigen. Anschließend kann er sich gut um seine Familie kümmern. Erst danach kann er ein Land regieren bzw. der Welt Frieden bringen63 . Die Wichtigkeit der Familie lässt sich auch in vielen chinesischen Wendungen erkennen, z.B. ᆊ ϛ џ ݈ (ji hé wànshì xng), was bedeutet, dass die Harmonie in der Familie alles zum Aufschwung bringen soll; oder ᆊϥϡৃᡀ (jich u bù k wàiyáng): Die Familienschande darf man nicht in der Öffentlichkeit erzählen oder häuslicher Streit gehört nicht auf die Straße. In der modernen chinesischen Gesellschaft spielen die Familie oder die Großfamilie immer noch eine sehr wichtige Rolle. Die Chinesen verbringen ihre Freizeit viel mit den Familienmitgliedern oder den Verwandten, wenn sie nicht weit weg voneinander wohnen. In der Großfamilie, die nicht nur Eltern und Kinder, sondern auch Großeltern, Onkel, Tanten etc. umfasst, haben häufig der Großvater, der Vater oder der älteste Bruder das Recht auf die letzte Entscheidung, wenn es um Familienangelegenheiten geht. D.h., es sind meistens die älteren Männer, die die Verantwortung und die Pflicht für die Organisation und Verwaltung der ganzen Familie tragen. Mit der Durchführung der Ein-Kind-Politik hat sich die Größe der chinesischen Familien von den 1970er Jahren an deutlich verringert. Nach einer statistischen Untersuchung besteht ein Haushalt im Jahre 2005 in China durchschnittlich aus 3,13 Personen, was einen deutlichen Rückgang von 4,4 Personen per Haushalt im Jahre 1982 bzw. 3,96 im Jahre 1990 zeigt64. Die Verkleinerung der Familie hat auch zu einer Veränderung der traditionellen Wertvorstellungen der Menschen geführt. Früher hielt man z.B. eine große Kinderzahl für eine Art Reichtum der Familie. Heute wollen die meisten jungen Ehepaare jedoch nur noch ein Kind, obwohl sie nach der neuen Politik ein zweites Kind bekommen dürfen, wenn sie beide keine Geschwister haben. Da es in China üblich bzw. nötig ist, dass beide Elternteile arbeiten, tragen meistens die Großeltern, wenn sie dafür Zeit haben und auch gesund sind, die Verantwortung, sich um die kleinen Enkelkinder zu kümmern, die noch nicht zum Kindergarten oder zur Schule gehen. 62 Siehe Kapitel 9 - Lyùn („Durchführung der Riten“) in Ljì („Buch der Riten“). Der zitierte Text wurde von der Verfasserin selber ins Deutsche übersetzt. 63 Siehe Kapitel 42 - Dàxué („Großes Lernen“) in Ljì („Buch der Riten“). Der zitierte Text wurde von der Verfasserin selber ins Deutsche übersetzt. 64 Siehe die Webseite des Nationalen Statistischen Amtes der VR China: http://www.stats.gov.cn (12. Oktober 2007). 151 Im Großen und Ganzen achten die Chinesen sehr auf die Stabilität und die Entwicklung der Familie. Man sieht es meist als selbstverständlich an, in einem bestimmten Alter seine eigene Familie zu gründen. Dabei gilt die Ehe als eine allgemein akzeptierte und notwendige Voraussetzung für Familienbildung bzw. Nachwuchszeugung, obwohl es in vielen Städten immer üblicher wird, dass die jungen Leute für einige Zeit so zusammenleben, bevor sie in die Ehe eintreten. Wie die Durchschnittszahl der Familiengröße zeigt, besteht ein chinesischer Haushalt heute meistens aus drei Personen: Vater, Mutter und Kind. In manchen Fällen leben die Großeltern mit der Kernfamilie zusammen. Insgesamt findet man heute drei verschiedene Muster für die Familienzusammensetzung in China: 1) Verheiratete Eltern (oder ein Elternteil nach einer Scheidung oder dem Verlust des Partners) + Kinder 2) Verheiratete Eltern (oder ein Elternteil nach einer Scheidung oder dem Verlust des Partners) + Kinder + Großeltern 3) Ehepaare ohne Kinder Es ist zu erkennen, dass die Ehe immer als eine notwendige Voraussetzung für die Bildung einer Familie gilt, während Kinder für die chinesischen Familien nicht mehr das Allerwichtigste darstellen, wie es in alten Zeiten galt. 6.1.2 Die abnehmende Sehnsucht nach der Familie in Deutschland Der erste Eindruck der Verfasserin von der deutschen Familie war deren Vielfalt in Formen und Strukturen. Anders als in China gilt die Ehe in Deutschland nicht mehr als die unentbehrliche Voraussetzung für die Bildung einer Familie. Es sind ungefähr fünf verschiedene Muster in der deutschen Familienstruktur zu unterscheiden: 1) Verheiratete Eltern (oder ein Elternteil nach einer Scheidung oder dem Verlust des Partners) + Kinder 2) Ehepaare ohne Kinder 3) Unverheiratete Eltern + Kinder 4) Unverheiratet zusammenlebende Paare 5) Singles mit oder ohne feste Partnerschaft 152 Es ist zu bemerken, dass die Varianten 3), 4) und 5) unter den relevanten chinesischen Familienstrukturen nicht zu finden sind, obwohl sie als Übergangsformen zu dem endgültigen Kernfamilienmuster in manchen chinesischen Städten gelegentlich existieren. Die zunehmende Pluralität der Familienformen in Deutschland und in anderen westeuropäischen Ländern zeigt sich seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts (Sieder 1998: 226). Davor haben andere Formen und Strukturen die Familien stärker geprägt. Während im 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts die Großfamilien, in denen mehrere Generationen zusammen unter einem Dach wohnten, in der Gesellschaft eine wichtige Rolle spielten, entwickelten sich die Kleinfamilien, die nur aus Vater, Mutter und deren Kindern bestehen, in den 50er bis 60er Jahren des 20. Jahrhunderts sehr schnell. Das geht vor allem auf die zunehmenden Eheschließungen durch den wachsenden Wohlstand nach dem zweiten Weltkrieg und die steigende Selbständigkeit der jungen Paare durch ihren sozialen und beruflichen Aufstieg zurück. Trotz der getrennten Haushalte unterhielten die Kleinfamilien sowohl in den Städten als auch auf dem Land meist regelmäßige Kontakte zu den Großeltern (vgl. Sieder 1998: 224-225). Mit dem Wirtschaftsaufschwung in den 60er bis 70er Jahren des 20. Jahrhunderts erhöhte sich nicht nur der Lebensstandard der Menschen rapid, es ergaben sich auch viele neue Entwicklungen und Veränderungen in den Kultur- und Bildungsbereichen. Mit der Tendenz, dass immer mehr Frauen höhere Bildung und bessere Berufschancen erhielten, ging jetzt die Forderung nach Gleichberechtigung der beiden Geschlechter einher (Strohmeier 1988). Die Anfang der 70er Jahre fußfassende Neue Frauenbewegung forcierte die Debatten um die Chancenerhöhung der Frauen in Ausbildung und Beruf, um Empfängnisverhütung und Scheidungsrecht, die Rechtsstellung des unehelichen Kindes und die Strafbarkeit des Abbruchs von Schwangerschaften. Hatte es zuvor als normal und erstrebenswert gegolten, dass verheiratete Frauen mit der Geburt ihrer Kinder ihre Erwerbsarbeit aufgaben, begannen sich nun besser ausgebildete und bezahlte Frauen ebenso wie die Männer auf eine Erwerbsarbeit bis hin zum Ruhestand einzustellen (Sieder 1998: 227, 229). In den letzten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts veränderte sich die Familie in Deutschland von einer notwendigen Institution im Leben der Menschen zu einer Wahl nach individueller Entscheidung. Besonders unter den Menschen mit relativ hohem Bildungsniveau und sozialem Status scheint die Attraktivität der klassischen Familienform nachgelassen zu haben (Strohmeier 1988). 153 Die statistischen Untersuchungen zeigen, dass die Haushaltsgröße in Deutschland in den letzten Jahrzehnten eine deutliche Schrumpfungstendenz aufweist. Während in den 50er Jahren jeder deutsche Haushalt durchschnittlich aus 3 Personen bestand, lag diese Zahl 1990 bei 2,3 und 2003 bei 2,165. Mit der steigenden Scheidungsrate und der sinkenden Heiratsziffer lebt heute fast jedes dritte Kind nicht in einer klassischen Familie, sondern stattdessen ohne Vater (15 Prozent), ohne Mutter (2 Prozent), bei unverheirateten Eltern (6 Prozent) oder in einer neuen Familie, im so genannten Patchwork - Modell (9 Prozent) (Andresen et al. 2007). Darüber hinaus ist zu beobachten, dass mit der Verringerung der klassischen Familien die Zahl der Einpersonhaushalte eine schnell zunehmende Tendenz aufweist. Bis 2005 betrugen diese schon über ein Drittel aller Haushalte in Deutschland66. 6.1.3 Vergleich der chinesischen und der deutschen Familienstrukturen Wenn man die aktuellen Familienstrukturen in China und in Deutschland vergleicht, kann man einige große Unterschiede zwischen beiden feststellten. 1. Während die Kernfamilie mit Vater, Mutter mit/ohne deren Kind(ern) als die einheitliche Familienstruktur in China gilt, zeigt die Haushaltszusammensetzung in Deutschland eine Vielfalt aus Kernfamilien, Patchwork - Modellen, Singles mit oder ohne feste Partnerschaft usw. 2. In China spielt die Großfamilie sowohl auf dem Land als auch in den Städten eine gewisse Rolle im Leben der Menschen. Bei der Organisation und Verwaltung der Familie haben meistens die älteren Männer vor allen anderen Angehörigen das Recht auf die letzte Entscheidung. Im Vergleich dazu ist die Funktion der Großfamilie in Deutschland nicht so ausgeprägt wie in China, obwohl die Verwandten sich auch gegenseitig Hilfe und Unterstützung anbieten. 3. Die Eheschließung gilt in China als eine notwendige Voraussetzung für Familiengründung bzw. Nachwuchszeugung, obwohl es heute in den Städten immer mehr Paare gibt, die eine voreheliche zusammenlebende Beziehung ausprobieren. Im Vergleich dazu hat die Funktion der Eheschließung bei der 65 Siehe die Webseite des Statistischen Bundesamtes Deutschlands: http://www.destatis.de (13.Oktober 2007). 66 Siehe die Webseite des Statistischen Bundesamtes Deutschlands: http://www.destatis.de (13.Oktober 2007) 154 Familienbildung in Deutschland in den letzten Jahrzehnten deutlich nachgelassen. Statt eines notwendigen Schrittes im Leben eines Menschen ist Eheschließung heute mehr eine individuelle Wahl geworden. Wenn man auf die Geschichte der Familienformenentwicklung in Deutschland zurückblickt, kann man sehen, dass die Kernfamilie in den 50er bis 60er Jahren des 20. Jahrhunderts eine absolut dominierende Rolle in der Gesellschaft spielte, was auch heute noch der Fall in China ist. Kann man vor diesem Hintergrund sagen, dass die aktuelle Pluralität der Haushaltsformen im Westen die Entwicklungstendenz der chinesischen Familien in der Zukunft sei? Wegen beschränkter Materialien und mangelnder empirischer Untersuchungen ist es hier schwierig, diese These aufzustellen bzw. zu erläutern. Dafür müsste eine Reihe umfangreicher Studien über die Geschichte und die Entwicklung der Familienformen in China durchgeführt werden. Nach einer Vorstellung der Familienformen und –werte in China bzw. in Deutschland wird im nächsten Teil mit der ausführlichen Witzanalyse und dem –vergleich begonnen. Es wird zuerst die Auswahl der Beispiele für dieses Kapitel dargestellt. 6.2 Korpusauswahl in diesem Kapitel Für die Untersuchung der Familienwitze wurden insgesamt 302 deutsche bzw. 310 chinesische Beispiele von vier Webseiten und zwei neu veröffentlichten Witzbüchern ausgewählt, die bereits in Kapitel 1 vorgestellt wurden. Bei der Suche nach den richtigen Beispielen stellte sich heraus, dass nicht alle Einträge unter dem Stichwort der Familienmitglieder (z.B. Vater, Sohn, Schwiegermutter) zu der Kategorie der Familienwitze gehören. Denn das entscheidende Merkmal für diese Kategorie besteht darin, dass eine spezielle Eigenschaft der Familienmitglieder oder ihrer Beziehungen untereinander im Witztext behandelt werden muss. Das Fehlen dieser Eigenschaft führt dazu, dass der Sinn des Witzes teils oder ganz verloren geht. Nur wenn diese Voraussetzung in einem Witztext erfüllt wird, gilt er als ein Familienwitz. In Witz (2) wird zwar das Familienmitglied Vater erwähnt, der Text gilt aber nicht als ein Familienwitz. 155 (2) Drei Jungs streiten sich, wer den schnellsten Vater hat. Sagt der erste: „Mein Vater ist Rennfahrer, der fährt mit seinem Rennwagen 200 km pro Stunde!“ Sagt der zweite: „Das ist ja gar nichts, meiner ist Düsenjägerpilot, der fliegt mit doppelter Schallgeschwindigkeit durch die Gegend!“ Der dritte steht leicht verstört in der Ecke. Da fragen die beiden anderen: „Und, was ist mit deinem Vater?“ Sagt er: „Ach wisst ihr, ich verstehe es auch nicht so richtig, wie er das mit unserem Kleinwagen hinkriegt. Mein Vater ist Beamter. Er hat um vier Feierabend und ist um zwei schon zu Hause.“ (http://www.witzdestages.net) Witz (2) wird in der Form des Dreier-Modells dargestellt, in dem drei Väter bzgl. ihrer Schnelligkeit verglichen werden. Die ersten beiden, die jeweils Rennfahrer bzw. Pilot sind, werden von den Jungen mit der Angabe der Geschwindigkeit als schnell bezeichnet, was nach dem Hintergrundwissen des Lesers/Hörers auch nachvollziehbar ist. Da der zweite Vater, der mit einem Düsenjäger fliegt, sich schneller als der erste, der Rennfahrer erweist, erwartet man, dass der dritte noch schneller als die beiden ersten sei. Zunächst scheint dieser wirklich schneller als der Rennfahrer und der Pilot zu sein, denn er braucht keine Zeit (bzw. eine negative Zeit von -2 Stunden) für die Fahrt nach Hause. Aber wenn man genau überlegt, liegt das nicht an der Schnelligkeit des dritten Vaters, sondern an dessen Faulheit bei der Arbeit: Er geht schon vor dem Feierabend nach Hause. Bei dem letzten Vater entsteht die Pointe dadurch, dass die Schnelligkeit ganz anders verstanden wird. Deshalb ist der dritte Vater die Zielscheibe in Witz (2). Obwohl er als ein Familienangehöriger präsentiert wird, kann man sehen, dass es nicht um die Eigenschaft eines Vaters im Familienzusammenhang geht, wie z.B. bei Dummheit gegenüber seinem Sohn, sondern dass es sich in diesem Witz um die Eigenschaft der Mitglieder einer Berufsbranche handelt, und zwar die Faulheit der Beamten. Deshalb ist (2) kein Familienwitz, sondern ein Beispiel für Berufswitze. Nachdem das Auswahlkriterium für die Beispielsammlung kurz vorgestellt wurde, gehen wir im nächsten Kapitel auf den ersten Aspekt der Analyse ein – die Zielscheibe in den deutschen und den chinesischen Familienwitzen. 156 6.3 Die Zielscheiben 6.3.1 Überblick über die Zielscheiben in den Familienwitzen Die Zielscheibe in den Familienwitzen kann entweder ein Familienmitglied oder eine Beziehung zwischen zwei von ihnen sein. Nach der Untersuchung sind insgesamt 17 verschiedene Zielscheiben in den deutschen und den chinesischen Familienwitzen zu unterscheiden. Sie sind: Ehemann, Ehefrau, Vater, Mutter, Sohn, Tochter, Großvater, Großmutter, Enkelkind, Schwiegermutter – Schwiegersohn, Schwiegervater – Schwiegersohn, Schwiegermutter – Schwiegertochter, Schwiegervater – Schwiegertochter, Geschwister, Tante, Onkel und Familie. Diese 17 Zielscheiben lassen sich als acht Felder der Familienbeziehungen klassifizieren, die wie folgt dargestellt werden: 1. Ehemann – Ehefrau 2. Eltern – Kinder: Vater, Mutter, Sohn, Tochter 3. Großeltern – Enkel: Opa, Oma, Enkelkinder 4. Schwiegereltern Schwiegervater – – Schwiegerkinder: Schwiegersohn, Schwiegermutter Schwiegermutter – – Schwiegersohn, Schwiegertochter, Schwiegervater – Schwiegertochter 5. Geschwister: älterer Bruder, Schwager, Schwägerin 6. Tante 7. Onkel 8. Familie67 6.3.2 Zielscheiben in den deutschen Familienwitzen In den 302 deutschen Familienwitzen geht es insgesamt um 15 Zielscheiben. Dabei werden die Mitglieder aus den Beziehungsfeldern Ehemann – Ehefrau bzw. Eltern – Kinder, die die so genannte Kernfamilie bilden 68 , viel häufiger als die anderen Zielscheiben dargestellt. In der Tabelle (13) findet man eine genaue Verteilung der verschiedenen Zielscheiben in den deutschen Familienwitzen. 67 Witze mit der Familie als Zielscheibe sind die, in denen die Eigenschaften von mehreren Familienmitgliedern oder deren Beziehungen behandelt werden. 68 Kernfamilie wird als eine Gemeinschaft von Eltern und ihren noch minderjährigen sowie ökonomisch unselbständigen Kindern definiert (König 1978). 157 Beziehungsfeld Ehemann-Ehefrau Eltern-Kinder Großeltern-Enkel Anteil 39% 37% 9% Schwiegereltern- Zielscheibe Ehemann 20% Ehefrau 17% Ehemann-Ehefrau 2% Vater 15% Mutter 6% Sohn 12% Tochter 4% Opa 4% Oma 2% Enkelkinder 3% SchwiegermutterSchwiegersohn 8% SchwiegervaterSchwiegersohn 2% Schwiegerkinder 11% Anteil Schwiegervater- Sonstiges 4% Schwiegertochter Tante 1% Onkel 1% Familie 1% 2% Tabelle 13: Zielscheiben in den deutschen Familienwitzen Wenn es um das Beziehungsfeld Eltern – Kinder geht, ist zu bemerken, dass Vater und Sohn häufiger als Mutter und Tochter präsentiert werden. D.h., die männlichen Mitglieder treten häufiger als die weiblichen im Familienwitz auf. Wir vertreten die Ansicht, dass, je wichtiger ein Mitglied im realen Familienzusammenhang ist, desto mehr wird es im Witz dargestellt. Deshalb könnte das häufige Auftreten von Vater und Sohn im Familienwitz ein Zeichen dafür sein, dass trotz der Frauenbewegung im 20. Jahrhundert Männer immer noch eine wichtigere Rolle als Frauen in der Familie spielen. Zum Beziehungsfeld Schwiegereltern – Schwiegerkinder wird die Relation zwischen der Schwiegermutter und dem Schwiegersohn unter allen am häufigsten dargestellt. Diese Beziehung versteht sich vor allem als ein Konflikt zwischen den beiden. In der europäischen Kultur leben die jungen Ehepaare meistens selbständig, was teilweise auf die Tradition zurückgeht, dass die Erlaubnis zur Heirat für die Männer, die einen relativ hohen sozialen Status besaßen, wie etwa Beamte und Offiziere, bis in das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts an den Nachweis eines „ausreichenden Nahrungstandes“ gebunden war. Aus diesem Grund heirateten viele von ihnen erst 158 dann, wenn sie eine gute finanzielle Grundlage gelegt oder eine stabile berufliche Position erreicht hatten (Gestrich 1999: 29-30). Trotz der ökonomischen Selbständigkeit benötigten die jungen Paare gelegentlich Hilfe von ihren Eltern. Den soziologischen Untersuchungen zufolge helfen ihnen die Großeltern mütterlicherseits (besonders die Großmutter) mehr als die väterlicherseits, wenn das Alter und die Wohnortdistanz der beiden Großelternpaare nicht sehr unterschiedlich sind (Euler 2002). Der häufige Besuch der Mutter der Ehefrau konnte das Leben des jungen Ehepaars und besonders den Schwiegersohn stören, denn die Beziehung zwischen der Mutter und ihrer eigenen Tochter bleibt meistens eng und fest (vgl. Euler 2002). Aus diesem Grund ist ein Konflikt zwischen der Schwiegermutter und dem Schwiegersohn oft unvermeidlich. Fasst man die Zielscheiben in den deutschen Familienwitzen zusammen, kann man sehen, dass die Mitglieder aus der Kernfamilie unter allen am häufigsten behandelt werden. Bei dem Beziehungsfeld Eltern – Kinder kommen die männlichen Angehörigen häufiger als die weiblichen vor. Darüber hinaus spielt die Relation zwischen Schwiegermutter und Schwiegersohn die dominierende Rolle unter allen Beziehungen zwischen Schwiegereltern und Schwiegerkindern. 6.3.3 Zielscheiben in den chinesischen Familienwitzen In den 310 chinesischen Familienwitzen geht es insgesamt um 15 Zielscheiben. Wie im Deutschen werden hier auch die Mitglieder, die zur Kernfamilie gehören, am meisten dargestellt. Tabelle (14) zeigt die im Chinesischen behandelten Zielscheiben und ihre Verteilung über alle Beispiele. Beziehungsfeld Ehemann-Ehefrau Eltern-Kinder Großeltern-Enkel Anteil 33% 51% 6% Zielscheibe Anteil Ehemann 18% Ehefrau 13% Ehemann-Ehefrau 2% Vater 23% Mutter 5% Sohn 16% Tochter 7% Opa 1% Oma 4% Enkelkinder 1% 159 Schwiegermutter Schwiegereltern- - Schwiegersohn 1,7% Schwiegerkinder SchwiegervaterSchwiegersohn 0,3% 7% Schwiegermutter- Sonstiges 3% Schwiegertochter Schwiegervater- 2% Schwiegertochter Geschwister 3% Familie 1% 2% Tabelle 14: Zielscheiben in den chinesischen Familienwitzen In dem Beziehungsfeld Eltern – Kinder kommen Vater und Sohn häufiger als Mutter und Tochter vor. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass die männlichen Mitglieder in chinesischen Familien auch eine wichtigere Rolle als die weiblichen spielen. Wenn es um das Feld Schwiegereltern – Schwiegerkinder geht, kann man sehen, dass alle vier möglichen Beziehungen im Witz als Zielscheibe dargestellt werden. Dabei beschäftigen sich mehr Beispiele mit den Relationen zwischen Schwiegertochter und ihren Schwiegereltern als zwischen Schwiegersohn und seinen Schwiegereltern. Das geht auf die alte chinesische Tradition zurück, dass die jungen Ehepaare nach der Heirat meist zuerst bei den Eltern des Ehemanns wohnten. Die Braut heiratete sozusagen als ein neues Mitglied in die Familie des Bräutigams ein (Cohen 2005). Das Zusammenleben der jungen Paare mit den Eltern des Ehemanns führt häufig zu einer Reihe von Problemen, denn sie gehören zu zwei verschiedenen Generationen, die meistens unterschiedliche Lebensgewohnheiten und Vorstellungen haben. Trotzdem zeigt sich die Beziehung zwischen den Eltern und ihrem Sohn als harmonisch, denn die genetische Nähe bringt die beiden Seiten leicht zusammen. Aber die Schwiegertochter muss sich an eine neue Familienumgebung anpassen und wird dabei mit vielen Problemen konfrontiert. Fasst man die Untersuchung zu den Zielscheiben in den chinesischen Familienwitzen zusammen, kann man sehen, dass sich die Mehrheit der Witze im Korpus wie im Deutschen ebenfalls mit den Angehörigen der Kernfamilie beschäftigt. Entsprechend geht es im Feld Eltern – Kinder häufiger um Vater und Sohn als um Mutter und Tochter. Wenn es um die Beziehungen Schwiegereltern – Schwiegerkinder geht, werden die Relationen zwischen der Schwiegertochter und ihren Schwiegereltern häufiger als die zwischen dem Schwiegersohn und seinen Schwiegereltern behandelt. 160 6.3.4 Vergleich Wenn man die Zielscheiben in den deutschen und den chinesischen Familienwitzen vergleicht, kann man sehen, dass alle vier Beziehungsfelder, Ehemann – Ehefrau, Eltern – Kinder, Großeltern – Enkel und Schwiegereltern – Schwiegerkinder in den beiden Kulturen als Zielscheiben dargestellt werden. Davon werden die Mitglieder aus der Kernfamilie, die vor allem Vater, Mutter, Sohn, Tochter, Ehemann und Ehefrau umfassen, in den beiden Sprachen viel häufiger behandelt als die anderen Familienangehörigen. Darüber hinaus kommen in dem Beziehungsfeld Eltern – Kinder Vater und Sohn häufiger als Mutter und Tochter vor. Ein beträchtlicher Unterschied zwischen den Zielscheiben in den deutschen und den chinesischen Familienwitzen besteht vor allem in dem Beziehungsfeld Schwiegereltern – Schwiegerkinder. Während die Relation Schwiegersohn – Schwiegermutter im Deutschen unter allen Zielscheiben aus diesem Feld am häufigsten dargestellt wird, liegt der Fokus des Konflikts im Chinesischen auf den Beziehungen zwischen der Schwiegertochter und ihren Schwiegereltern. 6.4 Die Eigenschaften der Zielscheiben 6.4.1 Eigenschaften der Zielscheiben in den deutschen Familienwitzen Die Untersuchung zeigt, dass die relevanten Skripten in den deutschen Familienwitzen vor allem der Beziehungskonflikt und die Dummheit sind. Damit beschäftigt sich die absolute Mehrheit der gesammelten Witzbeispiele. Der Beziehungskonflikt lässt sich weiter in drei Unterkategorien einteilen: 1. Die Autorität in den Relationen Ehemann – Ehefrau, Eltern – Kinder bzw. Großeltern – Enkel; 2. die Untreue zwischen Ehemann und Ehefrau; 3. die Spannung zwischen Schwiegereltern und Schwiegerkindern. Das andere relativ häufig auftretende Skript Dummheit bezieht sich im Witz auf fast alle Zielscheiben, wie Ehemann, Ehefrau, Vater, Mutter, Kinder, Schwiegersohn usw. Außerdem geht es in einigen Witzen um die Skripte Geiz und Sex, die jeweils Vater und Ehemann bzw. Opa und Oma zugeschrieben werden. In der Tabelle (15) werden alle Skripten mit den in ihnen vertretenden Zielscheiben in den deutschen Familienwitzen zusammengestellt. 161 Zielscheiben Beziehungskonflikt Dummheit Geiz Sex (60%) (33%) (3%) (4%) Autorität Untreue Spannung (28%) (20%) (12%) Ehemann- Ehemann- Ehemann- Ehemann, Ehefrau Ehefrau Ehefrau Ehefrau Eltern-Kinder Vater-Kinder Vater, Mutter, Kinder Mutter-Kinder Großeltern- Großeltern- Enkel Enkel 69 Ehemann Vater Enkel S/eltern - S/mutter- S/kinder S/sohn Tante Tante- Opa, Oma S/sohn Familie Onkel OnkelFamilie Familie Familie Familie Tabelle 15: Eigenschaften der Zielscheiben in den deutschen Familienwitzen Das Skript Autorität, das in knapp ein Drittel der deutschen Witze vorkommt, befasst sich vor allem mit den Beziehungen Ehemann – Ehefrau, Eltern – Kinder und Großeltern – Enkel. Dem Hintergrundwissen des Lesers/Hörers entsprechend sind die Familienmitglieder Ehemann, Eltern und Großeltern in der Realität meistens stärker, klüger oder haben mehr Erfahrungen als Ehefrau, Kinder bzw. Enkel, während im Witz genau das Gegenteil dargestellt wird, indem die letzteren drei Familienangehörigen gegenüber den ersteren überlegen sind und in den entsprechenden Beziehungen mehr Autorität haben. Durch das Umdrehen der als Standard gespeicherten Ordnungen in den oben erwähnten Familienbeziehungen wird der Humoreffekt der Witze in dieser Kategorie hergestellt. Witz (3) ist ein Beispiel für das Autorität-Skript. 69 Wegen räumlicher Beschränkungen werden die Schwiegereltern, die Schwiegerkinder und alle anderen Familienmitglieder mit dem Bestandteil Schwieger- in der Tabelle als S/eltern, S/kinder usw. abgekürzt. 162 (3) Fritzchen kommt nach Hause. Der Vater fragt: „Na, was hast du in der Mathearbeit?“ „Eine zwei.“ Der Vater: „Guck mal, das ist eine Lügenmumie! Wenn jemand lügt, dann wackelt sie. Also was hast du wirklich?“ Da sagt Fritzchen: „Eine drei!“ Da wackelt die Mumie immer noch. „Ja OK. Ne fünf.“ Da bleibt die Mumie stehen. Vater: „Als ich in deinem Alter war, hatte ich nur einsen.“ Da kippt die Mumie um. (http://www.witzdestages.net) In (3) geht es um die Sohn-Vater-Beziehung, die nach den psychoanalytischen Studien durch Komplexität und Widersprüchlichkeit charakterisiert ist. Dabei spielt der Vater einerseits eine einschränkende und strafende Rolle; seine Vergeltungsdrohung bringt den kleinen Jungen dazu, sein Rivalitätsstreben ebenso aufzugeben wie seine vatermörderischen und inzestuösen Absichten. Andererseits weckt der typische Vater auch die Selbstbehauptung seines kleinen Sohns. Dass der Sohn ihm nacheifert, erfüllt den Vater ebenso mit Stolz und Freude wie der phallische, narzisstische und exhibitionistische Überschwang des Kleinkindes (Freud, zitiert nach Blos 1990: 22). Kurz gesagt, sind Vater und Sohn sowohl Kontrollierender und Kontrollierter als auch Freunde, die sich seelisch unterstützen und anerkennen, besonders wenn der Sohn erwachsen wird. In Witz (3) will der Vater seinem kleinen Sohn mit einer Lügenmumie erklären, dass er immer die Wahrheit sagen muss. Dabei spielt der Vater die Rolle eines Erziehers, der gegenüber seinem Sohn mehr Autorität und Macht hat, was auch identisch mit dem Hintergrundwissen des Lesers/Hörers ist. In der Pointe wird jedoch die Geschichte umgedreht, indem der Vater selbst lügt, obwohl er eben seinem Sohn dies verboten hat. Dadurch verliert der Vater seine autoritative Position und zeigt sich dem Sohn gegenüber unterlegen, weil die Mumie nicht nur wackelt, sondern ganz umgekippt ist, was darauf hinweist, dass der Vater eine größere Lüge als sein Sohn geäußert hat. Das Skript Untreue findet man vor allem in den Witzen über die Beziehung Ehemann - Ehefrau. In Kapitel 6.1 haben wir den aktuellen Stand und die Zusammensetzung der Familien in Deutschland diskutiert. 163 Dabei wurden die steigenden Scheidungszahlen erwähnt, die einerseits mit der zunehmenden Selbständigkeit der Frauen in den letzten Jahrzehnten zusammenhängen, andererseits an den erhöhten Ansprüchen der Menschen an das Ehe- und Familienleben liegen (Sieder 1998: 230). Von der Untreue der Eheleute und der Instabilität des Familienlebens handeln ebenfalls viele Witze, die gewissermaßen einen Spiegel des realen Lebens darstellen. Der folgende (4) stellt ein Beispiel für die Witze über Untreue dar. (4) Die Kollegen Lehmann und Krause verlassen gemeinsam das Büro. Am Ausgang zieht Lehmann den Krause blitzartig zurück. „Mensch, was ist denn los?“ fragt der erschreckt. „Da drüben steht meine Frau und spricht mit meiner Geliebten!“ zischt Lehmann aufgeregt. „Nein, du irrst dich“, erwidert Krause. „Da drüben steht meine Frau und spricht mit meiner Geliebten!“ (Die besten Witze von A-Z, 2003) In (4) werden zuerst die beiden Figuren und die Situation angegeben: Lehmann und Krause machen Feierabend und verlassen gemeinsam das Büro. Wenn man den Witz bis „zischt Lehmann aufgeregt“ liest, denkt man, dass der eine seine Frau betrügt und eine außereheliche Beziehung hat. Mit großer Spannung erwartet der Leser/Hörer die Reaktion des anderen Mannes. Dabei denkt man, dass Krause entweder sehr überrascht ist und nichts dazu äußert, oder seinen Kollegen auf die Wichtigkeit der Familienstabilität anspricht. Das reale Geschehen zeigt sich jedoch am Textende als das genaue Gegenteil zur Erwartung des Lesers/Hörers. Auch Krause betrügt seine Frau, indem er eine außereheliche Beziehung zur Frau seines Kollegen Lehmann eingegangen ist. Dieser befindet sich wiederum in einer intimen Beziehung mit Krauses Frau. Die beiden Kollegen betrügen also nicht nur ihre Frauen, sondern auch sich selber gegenseitig. Das Skript Spannung/Angespanntheit wird in den Witzen über die Beziehungen Schwiegermutter – Schwiegersohn, Tante – Familie und Onkel – Familie benutzt. Dabei geht es vor allem um die Unbeliebtheit der Schwiegermutter bei ihrem Schwiegersohn oder die Distanz zwischen Tante oder Onkel auf der einen Seite und der Kernfamilie auf der anderen Seite. Der oben analysierte Witz (1), in dem sich der Schwiegersohn gleich nach der Ankunft seiner zu Besuch gekommenen 164 Schwiegermutter gestört fühlt, ist ein Beispiel für diese Kategorie. Der Grund für die angespannte Beziehung zwischen den beiden wurde oben bei der Analyse von (1) erläutert. Die Spannung zwischen Tante/Onkel und der Kernfamilie liegt vor allem an der marginalen Position der ersteren im ganzen Familiennetzwerk. Sie gehören nicht zu der Kernfamilie, deshalb werden sie meistens als Außenseiter betrachtet, die gelegentlich von außen ihre Funktion ausüben (Kreissl 1999: 10). Im deutschen Korpus beschäftigen sich nur wenige Witze mit den Zielscheiben Tante und Onkel, denen meistens in einer kindlichen Wahrnehmung klischeehafte Eigenschaften zugeschrieben werden. Z.B. sieht die Tante entweder hässlich aus oder ist geschmacklos gekleidet. Sie kommt immer zu Besuch und geht einem auf die Nerven. Der Onkel spielt die Rolle, dass er entweder von den Verwandten lebt oder keinen Kontakt zu ihnen haben will. Das Skript Dummheit, das in einem Drittel der gesammelten deutschen Witze verwendet wird, tritt bei fast allen Zielscheiben auf. Dabei wird der Vater im Witz als dumm bezeichnet, weil er häufig keine Antwort auf die Fragen seiner Kinder kennt, z.B. wovon Fische leben, was ein Vakuum ist, wo Afrika liegt etc. Die Dummheit der Kinder wird im Witz vor allem durch ihre fehlenden Kenntnisse über Geburt, Altern, Sterben, Heiraten usw. dargestellt. Z.B. wünscht der kleine Junge, dass seine Mutter für ihn einen Dackel oder ein Pony gebären sollte. Oder die kleine Tochter wundert sich, dass ihr Vater schimmelt, wenn sie graue Haare auf seinem Kopf entdeckt. Der Witz handelt z.B. von einem fünfjährigen Sohn, der ungeduldig seine Mutter fragt, wie lange sie noch mit Vater verheiratet sein muss, oder eine Enkelin wünscht sich von ihrer Oma zum Geburtstag die Pille, weil sie schon vier Puppen hat und keine mehr bekommen will. Die Vertreter für die Eigenschaft Geiz sind vor allem Ehemann und Vater, die meistens auch die Versorger für die ganze Familie darstellen. Man erwartet, dass sie beim Essen in Restaurants oder beim Schenken zum Geburtstag großzügig sind. Im Witz sind sie aber meistens geizig, was genau das Gegenteil zur Erwartung des Lesers/Hörers darstellt. Witz (5) ist ein Beispiel für diese Kategorie. (5) Stefan zu seinem alten Freund Andreas: „Was wünscht sich deine Frau denn zum Geburtstag?“ „Einen Pelzmantel oder ein Auto.“ „Und was gibt es dieses Jahr?“ 165 „Einen Pelzmantel. Oder weißt du jemand, der falsche Autos verkauft?“ (Das extra dicke Witzbuch, 2005) Wenn man den Witz bis „was gibt es dieses Jahr? Einen Pelzmantel“ liest, dann denkt man, dass Andreas als Ehemann sehr großzügig ist, denn er schenkt seiner Frau zum Geburtstag etwas Wertvolles. Diese Interpretation wird im letzten Satz – der Pointe des Witzes – zu einer anderen gewechselt, indem das Wort „falsch“ eingeführt wird. Damit wird ein zweites Skript ausgelöst, nämlich dass Andreas für seine Frau einen Mantel mit Pelzimitat ausgesucht hat, der also nicht wertvoll ist. Die erwartete Großzügigkeit des Ehemanns wird in das Gegenteil, Geiz, verkehrt. Das Skript Sex findet man vor allem in den Witzen über Großeltern, die nach dem allgemeinen Glauben oder einem Vorurteil im Alter weniger Interesse an Partnerschaft und Sexualität hätten70 . Im Witz geht es aber um das Gegenteil des allgemeinen Glaubens, und zwar das große Interesse von Opa oder Oma an Sexualität. Witz (6) ist ein Beispiel dafür. (6) „Opa, was hättest du denn lieber: ein hübsches Mädchen oder ein Sahnebonbon?“ „Dumme Frage! Du weißt doch, dass ich keine Zähne mehr habe!“ (http://www.dein-witz.de) Der Opa hätte lieber ein hübsches Mädchen, aber er findet es peinlich, das direkt zu sagen, deshalb macht er den Enkel darauf aufmerksam, dass er keine Zähne mehr hat und deshalb kein Sahnebonbon mehr essen kann. Dann bleibt ihm nur die Wahl, das hübsche Mädchen zu wählen. 6.4.2 Eigenschaften Familienwitzen der Zielscheiben in den chinesischen Die Untersuchung zeigt, dass ähnlich wie im Deutschen der Beziehungskonflikt und die Dummheit in den chinesischen Familienwitzen die beiden relevanten Skripten darstellen. Damit beschäftigt sich die absolute Mehrheit aller gesammelten chinesischen Beispiele. Darüber hinaus lässt sich das Skript Beziehungskonflikt ebenfalls weiter in drei verschiedene Kategorien unterteilen: 1. die Autorität in den 70 Die psychologischen Untersuchungen zeigten aber, dass der Wunsch nach Sexualität bei Männern erst ab 75 und bei Frauen erst ab 65 abfällt (Bucher et al. 2001). 166 Beziehungen Ehemann – Ehefrau, Eltern – Kinder und Großeltern – Enkel, 2. die Untreue zwischen dem Ehemann und der Ehefrau, 3. die Spannung in den Relationen Eltern – Kinder, Schwiegermutter – Schwiegertochter und Schwägerin – Schwägerin (meistens Ehefrau – Schwester des Ehemanns). Das Skript Dummheit beschäftigt sich mit fast allen Familienmitgliedern, z.B. Ehemann, Ehefrau, Vater, Mutter, Kinder, Großeltern, Enkel, Schwiegersohn und dem älteren Bruder. Neben den beiden relevanten Skripten kommen auch noch Geiz und Sex in den restlichen Witzbeispielen vor. Die Vertreter für Geiz sind vor allem die Familienmitglieder Vater und Ehemann. Das Skript Sex wird meist in den Witzen über die Beziehung Schwiegervater – Schwiegertochter verwendet. In Tabelle (16) werden alle Eigenschaften der Zielscheiben in den chinesischen Familienwitzen zusammengestellt. Zielscheiben Beziehungskonflikt Dummheit Geiz Sex (46%) (45%) (6%) (3%) Autorität Untreue Spannung (36%) (6%) (4%) Ehemann- Ehemann- Ehemann- Ehemann, Ehefrau Ehefrau Ehefrau Ehefrau Eltern-Kinder Vater-Kinder Eltern- Mutter-Kinder Kinder Vater, Mutter, Kinder Großeltern- Großeltern- Opa, Oma, Enkel Enkel Enkel S/eltern- S/mutter- S/kinder S/tochter Geschwister SchwägerinSchwägerin Familie Familie Ehemann Vater S/sohn S/vaterS/tochter älterer Bruder Familie Tabelle 16: Eigenschaften der Zielscheiben in den chinesischen Familienwitzen Das Skript Autorität betrifft über ein Drittel aller chinesischen Beispiele. In den Beziehungen Ehemann – Ehefrau, Eltern – Kinder bzw. Großeltern – Enkel treten der Ehemann, die Eltern und die Großeltern im Witz meistens als diejenigen auf, die keine Autorität haben, während die Ehefrau, die Kinder und Enkel häufig die stärkeren und klügeren Rollen spielen. Der Humoreffekt der Witze in dieser Kategorie ergibt sich durch das Umdrehen der Werte und Ordnungen in den 167 Familienbeziehungen. Deshalb kann man auf Grund der Verhältnisse zwischen den Familienangehörigen im Witz eine Einsicht gewinnen, wie die Beziehungen zwischen ihnen nach den sozialen und kulturellen Kenntnissen sein sollten. In Bezug auf die Autoritätspositionen lässt sich aus den Witzen schließen, dass der Ehemann, die Eltern (besonders der Vater) und die Großeltern in der chinesischen Kultur meist die führende Rolle in der Familie spielen. In den Analekten des Konfuzius 71 wird die Beziehung zwischen Vater und Sohn wie folgt dargestellt, dass der Vater sich wie ein Vater und der Sohn sich wie ein Sohn benehmen soll (Kapitel 12, Vers 11). Der Vater soll die führende und autoritative Rolle spielen, während der Sohn seinen Vater respektieren und verehren muss. In der späteren Entwicklung des Konfuzianismus hat der Philosoph Dong Zhongshu (179-104 v. Chr.) aus der Han-Dynastie diese Familienordnung ebenfalls betont. Dabei stellte er die bekannten „Drei Hauptleitlinien“, die sich in der chinesischen Gesellschaft der nachfolgenden ca. 2000 Jahre als Grundprinzipien durchsetzten: Der Herrscher leitet die Untergegebenen, der Vater leitet den Sohn und der Ehemann leitet die Ehefrau. Im Vergleich zu Autorität wird das Skript Untreue in den chinesischen Witzen viel weniger präsentiert. Das liegt wohl daran, dass Probleme in der Ehe und die Instabilität der Familie erst seit einigen Jahren in China wahrgenommen und öffentlich diskutiert werden. Im chinesischen Kaiserreich, das bis Anfang des 20. Jahrhunderts dauerte, wurde die Eheschließung eher von zwei Familien vereinbart als von zwei Individuen. Väter suchten die beste Partie für ihre Kinder, die sich bis zur Hochzeit kaum kennen lernten. Zur sexuellen Befriedigung und zur Bestätigung ihres sozialen Status nahmen sich Ehemänner oft Konkubinen, während den Ehefrauen Liebhaber nicht gestattet waren. Sie mussten nicht nur ihrem Ehemann, sondern auch dessen Mutter gehorchen. Die Scheidung war möglich, besonders wenn der Mann sie begehrte. Da außerdem beide Familien von einer Scheidung betroffen waren, missbilligte man sie und versuchte, unglückliche Ehen weiter zu erhalten. Die Gründung der Volksrepublik China führte 1950 zur Verabschiedung eines neuen und modernen Ehegesetzes, in dem die freie Partnerwahl und die Gleichberechtigung für Männer und Frauen erklärt werden. Ältere Bräuche wie Konkubinat und Verlobung im Kindesalter sind verboten. Es ist für die Eheschließung nichts weiter erforderlich 71 Auf Chinesisch heißt es 䆎䇁 (Lúny). Das Buch Die Analekten des Konfuzius gilt als eins der Standardwerke des Konfuzianismus in der chinesischen Kultur. Es hat von der Antike bis heute einen tiefen Einfluss auf die Intellektuellen ausgeübt. In den Lehrbüchern des Chinesischen sowohl in der Grundschule als auch in der Mittelschule werden immer Kapitel von Lúny zitiert. 168 als die Eintragung bei der regionalen Verwaltung, die daraufhin die Heiratsurkunde ausstellt. Einer Scheidung wird stattgegeben, wenn beide Partner dies wünschen. Sie treffen lediglich eine Übereinkunft hinsichtlich der Kinder und des Besitzes, melden dies der Verwaltung und erhalten die Scheidungsurkunde (Haeberle 1985). Jedoch blieb die Scheidungsrate in China bis Ende der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts immer sehr niedrig, weil die Menschen bei dem niedrigen Lebensstandard den gemeinsamen Haushalt auf Grund der Eheschließung als die notwendige Grundlage für Leben betrachteten. Seit Anfang der 80er Jahre boomen die chinesische Wirtschaftsentwicklung und der Kontakt zu anderen Ländern. Dementsprechend veränderte sich die Denkweise der Menschen in dieser Zeit sehr schnell. Die traditionelle Vorstellung von der Ehe wurde durch die neuen Gedanken ersetzt: individuelle Freiheit, ökonomische Selbständigkeit von Ehemann und Ehefrau, Verzicht auf Nachwuchs. Da die Menschen höhere Ansprüche an die Qualität des Ehe- und Familienlebens stellen, lassen sich auch immer mehr Eheleute scheiden72. Mit der zunehmenden Scheidungsrate wird seit einigen Jahren in China eine öffentliche Diskussion über die Familienwerte geführt. Dabei sind auch immer mehr Witze über die Probleme in der Ehe und die Untreue der Partner entstanden. Der folgende Witz (7) ist ein Beispiel dafür. (7) ཇҎℷᆊᚙҎᑑӮˈ⬉䆱䪗ડњDŽ ᚙҎ䯂˖Ā䇕˛ā ཇҎ䇈ᰃཌྷϜDŽᚙҎゟे㽕䍄DŽ ཇҎ䇈˖Ā߿䍄ˈҪ䇈ℷԴࡲ݀ᅸᠧ⠠ˈᰮϔѯಲᴹDŽā (http://joke.tom.com) Meine eigene Übersetzung: Die Frau trifft sich gerade mit ihrem Geliebten zu Hause. Plötzlich klingelt das Telefon. Er fragt: „Wer war’s?“ Sie sagt: „Mein Mann.“ Er wird nervös und will sofort weggehen. 72 Den Daten des Nationalen Statistischen Amtes zufolge ist die Scheidungsrate in China von 3% im Jahr 1980 bis zu 16% 2003 gestiegen. In den Großstädten ist dieser Anteil viel höher als auf dem Land. 2005 ließen sich in Beijing ca. 38700 Paare scheiden. Diese Zahl entsprach bereits mehr als der Hälfte der Eheschließungen in diesem Jahr. 169 Sie tröstet ihn: „Bleib ruhig da. Mein Mann hat gesagt, dass er gerade mit dir im Büro Karten spielt und etwas später nach Hause kommen wird.“ In Witz (7) werden zuerst in der Einleitung die Figuren und die Situation angegeben: Eine Frau trifft sich mit ihrem Geliebten zu Hause. Anschließend wird die Geschichte durch ein Gespräch zwischen den beiden erzählt. Dem Leser/Hörer wird klar, dass die Frau eine außereheliche Beziehung hat. Wenn man den Witz bis „… er wird nervös und will sofort gehen“ liest, erwartet man, dass die Frau wegen ihres Verhaltens ebenfalls aufgeregt wird und ihrem Geliebten hilft, das Haus zu verlassen. Das reale Geschehen in dem letzten Abschnitt sieht aber ganz anders als diese Erwartung aus. Die Frau bleibt gelassen und tröstet ihren Geliebten, denn ihr Mann betrügt sie offensichtlich auch. Seine Entschuldigung für das Spätkommen, nämlich dass er mit einem Kollegen Karten spielte, ist unglaubwürdig, denn sein Kollege, der im letzten Satz des Witzes durch das Pronomen „dir“ mit dem Geliebten der Frau identifiziert werden kann, ist gerade bei dieser zu Hause. Die Lüge des Ehemanns weist darauf hin, dass er ebenfalls eine außereheliche Beziehung hat, die er mit einer Lüge gegenüber seiner Frau geheim halten will. Das Skript Spannung wird in den chinesischen Familienwitzen vor allem in den Beziehungen Schwiegermutter – Schwiegertochter und Schwägerin – Schwägerin (meist als Ehefrau – jüngere Schwester des Ehemanns) ausgelöst. Wie oben erwähnt wurde, bedeutete die Eheschließung in den alten Zeiten in China das Einheiraten einer Frau in die Großfamilie des Mannes. Dabei hatte die Ehefrau nicht nur ihrem Ehemann, sondern auch dessen Mutter zu gehorchen. Eine gute Schwiegertochter nach der traditionellen Denkweise soll deshalb ihre Schwiegermutter respektieren, auf sie hören und sich mehr um deren Leben kümmern, als es deren eigene Tochter – die Schwester des Ehemanns – tut. Im Witz wird aber meistens das Gegenteil dargestellt. Es handelt sich häufig um die böse Schwiegertochter, die ihre Schwiegermutter nicht respektiert, sie schlecht behandelt oder diese aus dem Haus wegtreibt. Der folgende Witz (8) ist ein Beispiel dafür. (8) ϝϾཛཇ䇜䆎㞾Ꮕᆊ䞠ֱྚⱘᕙ䘛DŽ ⬆䇈˖Āㅵৗˈ↣᳜ϔⱒѨˈֱྚᏖഎᴹⱘDŽā Э䇈˖Āㅵৗϡ㒭䪅ˈ㒭ཌྷѯᮻ㸷᳡ˈᰃ៥ᄽᄤⱘྥྥDŽā 170 ϭ䇈˖Ā៥䙷Ͼাㅵཌྷ体ϡ⅏ህ㸠DŽāϸϾཛཇϢ䯂݊ᬙˈϭㄨࠄ˖Āᄽᄤ ⱘཊཊҢеϟᴹњDŽā (http://www.haha365.com) Meine eigene Übersetzung: Drei Frauen unterhalten sich über die Behandlung der Kinderbetreuerin bei ihnen zu Hause. A: „Unsere Kinderbetreuerin darf bei uns essen und wohnen. Außerdem bekommt sie 150 Yuan im Monat. Wir haben sie durch ein Vermittlungsbüro eingestellt.“ B: „Unsere darf bei uns essen und wohnen. Außerdem bekommt sie aber nur einige alte Klamotten von uns. Sie ist eine Tante des Kindes.“ C: „Unsere bekommt nur etwas zum Essen, um nicht zu verhungern. Sonst kriegt sie gar nichts.“ A und B fragen überrascht, wie C das geschafft hat. Darauf antwortet C: „Sie ist meine Schwiegermutter vom Land.“ In (8) geht es um die Behandlung der Kinderbetreuerin bei drei Frauen. Während A eine relativ angemessene Belohnung anbietet, behandelt B ihre Kinderbetreuerin schlecht, was nach der chinesischen Denkweise nicht akzeptabel ist, denn Verwandte sollten besser als eine Haushaltshilfe behandelt werden. Der Höhepunkt des Witzes liegt bei C, die sich ihrer Kinderbetreuerin gegenüber am schlechtesten verhält. Man erwartet, dass der Grund dafür ist, dass diese Kinderbetreuerin ihre Arbeit nicht gut erledigt oder sich irgendwie unangemessen benimmt. Der letzte Satz, der auch die Pointe des Witzes darstellt, zeigt jedoch einen ganz anderen Grund als die Erwartung: Die Kinderbetreuerin bei C ist ihre Schwiegermutter. Das eine Skript in Witz (8) entspricht der immer engeren Beziehung zwischen den drei Frauen und ihren Kinderbetreuerinnen, die nach dem chinesischen Kulturhintergrund zur größeren Fürsorge führen müsste. Das andere Skript ist jedoch die immer schlechtere Behandlung der drei Helferinnen von A, B und C. Durch die Opposition zwischen den beiden Skripten wird der Witzeffekt in (8) hergestellt. Die Spannung in der Beziehung Schwägerin – Schwägerin (meist die zwischen Ehefrau und jüngerer Schwester des Ehemanns) ist auch spezifisch für die chinesische Kultur. Wie oben erwähnt wurde, hat die Ehefrau nicht nur ihrem Ehemann und dessen Mutter zu gehorchen, sondern muss sich an alle Beziehungen 171 der neuen Familienumgebung anpassen. Darunter erweist sich die mit der/n jüngeren Schwester/n des Ehemanns als besonders schwierig, denn diese betrachtet oft aus Eifersucht die Frau ihres älteren Bruders als Außenseiterin in der Familie und ärgert sich über das neue Mitglied. In Kapitel 4 haben wir einen Witz über die angespannte Beziehung zwischen den beiden diskutiert. Unten wird das Beispiel noch einmal zitiert: (14, aus Kapitel 4) ᇣྥ˖Ā႖ᄤˈԴⳟ៥ᡒᇍ䈵ᰃᡒ≵᳝ယယⱘདਸ਼ˈ䖬ᰃᡒ≵᳝႖ᄤⱘད˛ā ႖ᄤ˖Ā᳔དᰃᡒ≵᳝ᇣྥⱘʽā (http://www.jokescn.com) Meine eigene Übersetzung: Xiog73: „Sozi, soll ich einen Mann heiraten, der keine Mutter oder keine sozi hat?“ Sozi: „Am besten einen, der keine jüngere Schwester hat!“ Der Konflikt zwischen den beiden Schwägerinnen liegt darin, dass die jüngere Schwester sich keine sozi (die Ehefrau des älteren Bruders und Ersatz der Schwiegermutter, wenn diese gestorben ist) wünscht, während die sozi meint, dass die jüngere Schwester am Besten nicht da ist. Die Hauptvertreter für das Skript Dummheit sind in den chinesischen Familienwitzen vor allem Vater, Mutter, Kinder, Großmutter, Schwiegersohn und älterer Bruder. Die Dummheit des Vaters liegt in seiner Unfähigkeit, die Fragen der Kinder zu beantworten, sie bei den Schulaufgaben zu betreuen oder ihnen ein gutes Vorbild in Bezug auf Manieren zu geben. Da ein älterer Bruder in der chinesischen Kultur eine halbe Vaterrolle spielen soll, werden im Witz häufig seine Unfähigkeit beim Helfen des jüngeren Bruders und seine Verantwortungslosigkeit präsentiert. Mutter und Großmutter kommen auch als Vertreterinnen für Dummheit vor, weil sie wegen ihrer Unkenntnis der neuen Begriffe oder der modernen Technik oft witzige Aussagen machen. Die Dummheit des Schwiegersohns lässt sich vor allem in seiner unangemessenen Rede oder dem Verhalten im Umgang mit den Schwiegereltern 73 Als xiog bezeichnet eine verheiratete Frau die jüngere Schwester ihres Ehemanns. Umgekehrt bezeichnet die jüngere Schwester (oder der jüngere Bruder) die Ehefrau des älteren Bruders als sozi. Im alten China hatten der ältere Bruder bzw. seine Frau große Rechte bei Familienentscheidungen und konnten auch die beiden Elternteile ersetzen, wenn diese nicht mehr am Leben waren. 172 darstellen. Auch in vielen alten chinesischen Geschichten gilt „der dumme Schwiegersohn“ als eine bekannte komische Figur. Der folgende Witz (9) ist ein Beispiel für Schwiegersohnwitze. (9) ᇣ䱊ⱘኇ⠊䖛⫳᮹ˈᇣ䱊䗕এϔা⥝⣿DŽ䖭⥽㡎㦍ࠨ䗣ˈ䴲ᐌৃ⠅ˈ㗕↡ ै✊ব㡆DŽᇣ䱊ᛷ䙷䞠ˈྏᄤ䇈˖ĀԴⶹ䘧⠌ཛྷ䛑ሲ哴ˈै䗕া⣿ᴹˈ䲒ᗾ ҪӀϡ催݈ʽā (http://www.haha365.com) Meine eigene Übersetzung: Zum Geburtstag schenkt Tao seinem Schwiegervater eine Katze aus Jadestein. Diese sieht glitzernd und niedlich aus. Darüber hat sich die Schwiegermutter aber richtig geärgert. Tao steht verwirrt da. Dann erklärt ihm seine Frau: „Du weißt ja, dass meine Eltern beide im Jahr der Ratte74 geboren sind. Deshalb gefällt ihnen die Katze gar nicht!“ Witz (9) handelt von einem Schwiegersohn, der aus Ignoranz seinem Schwiegervater ein unpassendes Geschenk überreicht hat. Obwohl der Geburtstag in China generell nicht gefeiert wird, bringt man zum Neujahr, zur Hochzeit oder zum Geburtstag der kleinen Kinder bzw. der älteren Menschen auch häufig Geschenke mit. Eigentlich darf man alles überreichen. Nur bei manchen empfindlichen Menschen sollte man aufpassen. Es wird z.B. nicht empfohlen, älteren Menschen eine Glocke zu schenken, denn das chinesische Wort für „Glocke“ heißt 䩳 (zhng), das zufällig die gleiche Aussprache wie das Wort für „Ende“ – 㒜 (zhng) hat. Unter der Zusammensetzung sòngzhng versteht man dann sowohl „eine Glocke schenken“ als auch „jemanden am Sterbebett begleiten“. Außerdem wird zur Hochzeit kein Schirm als Geschenk empfohlen, denn das Wort für „Schirm“ – sn – hört sich im Chinesischen gleich an wie das für „Trennung“. Man darf einem Paar nicht gleich bei deren Hochzeit „eine Trennung“ schenken. Das Skript Geiz wird vor allem in den Witzen über Ehemann oder Vater benutzt, die in den meisten Fällen auch den Versorger für die ganze Familie darstellen. Man erwartet, dass sie im Haushalt, in Restaurants, in der Kindererziehung oder beim 74 Im chinesischen Horoskop besteht ein Zyklus aus zwölf Jahren. Jedes von ihnen wird durch ein Tier gekennzeichnet. Die zwölf Tierzeichen sind nach ihrer Reihenfolge jeweils Ratte, Büffel, Tiger, Hase, Drache, Schlange, Pferd, Ziege, Affe, Hahn, Hund und Schwein. 173 Gästeempfang großzügig sind. Jedoch versuchen sie jede Möglichkeit zu nutzen, um das Geldausgeben zu vermeiden. Zuletzt tritt das Skript Sex in den chinesischen Familienwitzen auf. Wie in Tabelle 16 gezeigt wurde, gilt die Beziehung Schwiegervater – Schwiegertochter als die typische Zielscheibe für dieses Skript. Der Grund liegt wohl darin, dass in den alten Zeiten die jungen Paare in China meist mit den Eltern der Ehemänner zusammen wohnten. Für die Ehefrau ist die Beziehung mit der Schwiegermutter oder mit der/n jüngeren Schwester/n des Ehemanns oft schwierig. Der Umgang mit dem Schwiegervater zeigt sich jedoch entweder als distanziert bzw. harmonisch oder in seltenen Fällen als intim, denn der Schwiegervater, der die autoritative Rolle in der Familie spielte, könnte manchmal seine Macht missbrauchen, indem er auch seine Schwiegertochter kontrollieren wollte, obwohl eine solche enge Beziehung meist als große Schande für die ganze Familie gesehen wurde. Der folgende Witz (10) ist ein Beispiel für die Witze zur Schwiegervater – Schwiegertochter – Beziehung. (10) ϔ㗕∝㾕ܓႇᕜⓖ҂䍋њℾᖗˈԚг≵᳝དࡲ⊩ˈᭈໄ্⇨DŽ㗕ယ䯂ЎҔ Мˈ㗕∝བᅲਞⶹDŽ㗕ယ䇈˖ĀԴህ࿕㚕ཌྷ䇈㢹ϡᗩ϶Ҏህໄᓴˈህⳟ䇕϶ ҎDŽāℸ⊩ᵰ✊༣ᬜDŽ㗕∝⒵ᛣৢ䯂㗕ԈᗢМᛇࠄ䖭Ͼࡲ⊩ⱘˈ㗕Ԉ䇈˖Āᔧᑈ Դ㗕⠌ህᰃ⫼䖭Ͼࡲ⊩ᕫࠄ៥ⱘDŽā (http://joke.tom.com) Meine eigene Übersetzung: Ein alter Mann findet seine Schwiegertochter sehr hübsch und träumt mit ihr zu schlafen. Da er sich das nicht erlauben kann, stöhnt er den ganzen Tag. Seine Frau fragt ihn warum, dann erzählt ihr der Mann von seiner Sorge. Darauf sagt die Frau: „Tu das ruhig und sag ihr danach, alles geheim zu halten, sonst wird sie ihr Gesicht verlieren.“ Nachdem der Mann seinen Wunsch erfüllt hat, fragt er seine Frau, wie sie auf die Idee gekommen sei. Die Frau sagt: „Damals hat dein Vater mich immer auf diese Weise bekommen.“ 174 6.4.3 Vergleich In diesem Teil haben wir die Eigenschaften der Zielscheiben in den deutschen und den chinesischen Familienwitzen diskutiert. Dabei kann man zuerst mehrere Gemeinsamkeiten zwischen den beiden feststellen: 1. Die beiden Skripte Beziehungskonflikt und Dummheit erweisen sich sowohl im Deutschen als auch im Chinesischen als die relevanten Eigenschaften der Familienmitglieder oder deren Beziehungen untereinander. Dabei lässt sich der Beziehungskonflikt in drei weitere Kategorien unterteilen: 1. die Autorität in den Beziehungen Ehemann – Ehefrau, Eltern – Kinder und Großeltern – Enkel, 2. die Untreue zwischen Ehemann und Ehefrau, 3. die Spannung in den Relationen Schwiegereltern – Schwiegerkinder. 2. Das Skript Dummheit bezieht sich in den beiden Kulturen auf die ähnlichen Zielscheiben, wie Ehemann, Ehefrau, Eltern, Kinder, Großeltern, Schwiegersohn, usw. 3. Neben den Hauptskripten Beziehungskonflikt und Dummheit werden auch Geiz und Sex in beiden Sprachen behandelt. Dabei wird das Skript Geiz sowohl im Deutschen als auch im Chinesischen vor allem den Familienversorgern Ehemann und Vater zugeschrieben. Darüber hinaus sind auch einige Unterschiede in den präsentierten Skripten zwischen dem Deutschen und dem Chinesischen zu finden. Sie werden in den folgenden Punkten zusammengefasst: 1. Das Skript Untreue, das vor allem mit der Ehemann – Ehefrau – Beziehung zusammenhängt, tritt in einem größeren Witzanteil im Deutschen (20%) als im Chinesischen (6%) auf, was darauf zurückgeht, dass die Ehekrise und die Familieninstabilität erst seit einigen Jahren in China öffentlich diskutiert werden, während die Änderung und die Pluralisierung der Familienformen in Deutschland bzw. die damit verbundene Diskussion in der Wissenschaft wie in den Medien bereits seit Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts stattfindet. 175 2. Das Skript Spannung wird in den deutschen Familienwitzen der Schwiegermutter – Schwiegersohn – Beziehung zugeschrieben, während die chinesischen Vertreter dafür die Relationen Schwiegermutter – Schwiegertochter bzw. Schwägerin – Schwägerin (meist Ehefrau – jüngere Schwester des Ehemanns) sind. 3. Das Skript Sex tritt in den deutschen Witzen vor allem im Zusammenhang mit den Großeltern auf. Dies ist nicht der Fall im Chinesischen, weil nach der Tradition die älteren Menschen von den jüngeren mit Ehrfurcht respektiert werden sollen. Es ist generell nicht erlaubt, ältere Generationen mit ihren Namen anzusprechen, geschweige denn sich über ihre Sexualität lustig zu machen. Im Chinesischen wird das Skript Sex der Schwiegervater – Schwiegertochter – Beziehung zugeschrieben. Nach der Analyse und dem Vergleich der Skripten in deutschen und chinesischen Familienwitzen wird im nächsten Teil auf das Hintergrundwissen eingegangen, das zum Verstehen dieser Witzkategorie benötigt wird. 6.5 Das Hintergrundwissen zum Verstehen der Familienwitze In Kapitel 4.4 haben wir die verschiedenen Wissenssorten, die zum Witzverstehen benötigt werden, erläutert. Sie sind sprachliches, kulturelles, Common Sense- und Kontextwissen. Das sprachliche Wissen versteht sich nicht als die allgemeine Lese-, Hör- und Kommunikationsfähigkeit in einer Sprache, sondern als das Wissen über spezifische Phänomene in einer Sprache, vor allem über die semantische Mehrdeutigkeit der Wörter oder Phrasen, die durch lexikalische Ambiguität wie Homophonie, Homographie, Polysemie und syntaktische Ambiguität ausgelöst wird. Das kulturelle Wissen umfasst die Kenntnisse über die Gesellschaft und die Menschen innerhalb der Gesellschaft, z.B. den Lebensstil der Menschen, die religiösen, ethnischen und sozialen Rituale (Böhme et al. 2000: 108). Das Common Sense-Wissen bezieht sich auf die Kenntnisse zur Struktur der Außenwelt, die nicht erst durch große Mühe vom Menschen erlernt werden, diesen aber ermöglichen, ihre alltäglichen Ansprüche in der ökologischen bzw. der sozialen Umgebung erfolgreich zu erfüllen. Dazu gehören z.B. Kenntnisse über die Grundbegriffe von Raum und Zeit, die Eigenschaften der Gegenstände (wie die Farbe und Härte der Steine) oder die Sachverhalte in der geistigen oder sozialen Welt, wie Glaube, Vorstellungen, 176 Emotionen der Menschen (vgl. Kuipers 1979, 2004). Der Verstehensprozess bei Witzen, die sprachliches, kulturelles oder Common Sense-Wissen voraussetzen, sieht wie folgt aus: Der Leser/Hörer erzeugt auf Grund seines gespeicherten Wissens eine gewisse Erwartung an die Entwicklung der Geschichte im Witz. Dazu trifft er eine Entscheidung zur Bedeutung eines Sprachelements in dem Witzkontext, zur kulturellen Interpretation eines Phänomens oder zu den Grundbegriffen, die im Witztext erwähnt werden. Das reale Geschehen, das erst am Ende des Textes gezeigt wird, erweist sich jedoch als das Gegenteil der vorher ausgebildeten Interpretation. Von diesem unerwarteten Resultat wird der Leser/Hörer zuerst überrascht. Dann versucht er eine Erklärung für die Abweichung der Geschichte von seiner Erwartung zu finden. Entweder gelingt es ihm, auf eine Lösung zu kommen, indem er z.B. ein Sprachelement findet, das anders interpretiert werden soll, oder er findet keine Erklärung für das unerwartete Resultat der Geschichte. In beiden Fällen erhält der Text seinen Charakter als Witz. Die letzte Wissenssorte, das Kontextwissen, bezieht sich auf die Informationen, die direkt im Witztext enthalten sind. Man bildet seine Erwartung anhand der Informationen in dem vorderen Teil des Textes. Das reale Geschehen in dem letzten Teil zeigt sich jedoch als Gegensatz zu der vorher entstandenen Erwartung. In Kapitel 5.5 haben wir erwähnt, dass Witze, deren Verstehen sprachliches und kulturelles Wissen voraussetzt, schwieriger in ein anderes Land zu übertragen sind als solche, die vom Common Sense- oder dem Kontextwissen abhängig sind. In den folgenden Teilen werden wir sehen, welche Wissenssorten für das Verstehen der Familienwitze im Deutschen bzw. im Chinesischen benötigt werden. 6.5.1 Hintergrundwissen zum Verstehen der deutschen Familienwitze Die Untersuchung zeigt, dass das Kontextwissen für das Verstehen der deutschen Familienwitze am meisten gebraucht wird. Darauf folgt das Common Sense-Wissen. Sprachliches und kulturelles Wissen werden insgesamt nur in einem kleinen Anteil der Witzbeispiele gefordert. Die Verteilung der verschiedenen Wissenssorten auf diese Beispiele findet man in Tabelle 17. Da die meisten Witze in dieser Tabelle eher vom Kontext und dem Common SenseWissen abhängig sind, kann man sagen, dass die Familienwitze im Deutschen relativ einfach in eine andere Kultur übertragen werden können. Das liegt wohl daran, dass in der Kategorie der Familienwitze hauptsächlich die Mitglieder aus der Kernfamilie 177 behandelt werden, wie Vater, Mutter und Kinder. Wie in der Tabelle 13 gezeigt wurde, machen sie insgesamt über Dreiviertel aller gesammelten deutschen Beispiele aus. Die Beziehungen in der Kernfamilie sind den verschiedenen Ländern der modernen Gesellschaften nicht sehr unterschiedlich. Deshalb sind die behandelten Zielscheiben und deren Eigenschaften auch einfach von den Menschen aus einer anderen Kultur nachzuvollziehen. Hintergrundwissen Anteil Kontextwissen 43% Common Sense-Wissen 39% Sprachliches Wissen 10% Kulturelles Wissen 2% Vermischtes 6% Tabelle 17: Hintergrundwissen zum Verstehen der deutschen Familienwitze 6.5.2 Hintergrundwissen zum Verstehen der chinesischen Familienwitze Wie im Deutschen werden für das Verstehen der chinesischen Familienwitze auch alle vier Wissenssorten gebraucht. Dabei erweisen sich das Common Sense- und das Kontextwissen als relevant, während sprachliches und kulturelles Wissen nicht viel verwendet werden. In der folgenden Tabelle 18 findet man die genaue Verteilung der Wissenssorten im chinesischen Korpus. Hintergrundwissen Anteil Common Sense-Wissen 39% Kontextwissen 38% Sprachliches Wissen 17% Kulturelles Wissen 2% Vermischtes 4% Tabelle 18: Hintergrundwissen zum Verstehen der chinesischen Familienwitze An dem großen Anteil der ersten beiden Wissenssorten kann man sehen, dass die chinesischen Familienwitze wahrscheinlich einfach in andere Kulturen zu übertragen sind. Der Grund liegt in der Dominanz der Zielscheiben aus der Kernfamilie, die in über 80% aller untersuchten Witzbeispiele behandelt werden (siehe Tabelle 14 in 178 Kapitel 6.3.3), sowie in den ähnlichen Werten in der Kernfamilie der modernen Gesellschaften trotz der Sprach- und Kulturunterschiede in den Ländern, z.B. sollen Ehemann und Ehefrau einander treu bleiben. Eltern sind meist wegen ihrer Erfahrungen klüger als ihre Kinder. Kinder sollen deshalb ihre Eltern respektieren. Als Hauptversorger für die Familie soll der Vater oder der Ehemann großzügig sein. 6.5.3 Vergleich Vergleichen wir die Ergebnisse der Untersuchung zum Hintergrundwissen, das beim Verstehen deutscher und chinesischer Familienwitze gebraucht wird, können wir zunächst mehrere Gemeinsamkeiten zwischen den beiden feststellen: 1. In den beiden Sprachen werden alle vier verschiedenen Wissenssorten benötigt. Außerdem setzt das Verstehen von jeweils einem kleinen Anteil der deutschen bzw. der chinesischen Familienwitze eine Mischung aus mehreren Wissensbereichen voraus. 2. Sowohl im Deutschen als auch im Chinesischen erweisen sich Common Senseund Kontextwissen als relevant für das Verstehen der Familienwitze, während sprachliches und kulturelles Wissen nur in wenigen Fällen gebraucht werden. Die Wichtigkeit der ersten beiden Wissenssorten liegt vor allem an der Dominanz der Kernfamilienmitglieder unter allen Zielscheiben in den gesammelten Beispielen, so etwa Ehemann, Ehefrau, Vater, Mutter und Kinder. Die Beziehungen unter ihnen und die Werte in der Kernfamilie variieren in den modernen Gesellschaften nicht von einer Kultur zu der anderen. Deshalb sind die präsentierten Eigenschaften dieser Zielscheiben, wie die Untreue der Eheleute zueinander, die Dummheit von Vater, Mutter oder Kindern, die Autoritätskonkurrenz in den Beziehungen Vater – Sohn und Ehemann – Ehefrau. nicht kulturspezifisch, sondern für die Leser aus verschiedenen Ländern als allgemein bekannt vorauszusetzen. 3. Die Relevanz des Common Sense- und des Kontextwissens weist auch darauf hin, dass die Familienwitze im Deutschen bzw. im Chinesischen relativ einfach gegenseitig oder in andere Kulturen, wo ähnliche Familienwerte herrschen, übertragen werden können. 179 Der kleine Unterschied zwischen den beiden Seiten liegt im Bereich des sprachlichen Wissens, das im Deutschen mit 10% der untersuchten Beispiele zusammenhängt und im Chinesischen für das Verstehen eines größeren Witzanteils von 17% gebraucht wird. Das kann als eine Bestätigung für die These in der Analyse der ethnischen Witze gelten, dass die chinesischen Witze relativ häufig von spezifischen Sprachphänomenen handeln, die in vielen Fällen durch die Trennung zwischen Schriftzeichen und deren Aussprache bedingt sind. 6.6 Die Situationen In Kapitel 4.5 haben wir gesehen, dass die Situationen im Witz meist als Formen der Aktivität der Zielscheiben formuliert werden, wie Haushaltmachen, Einkaufen und Geburtstagfeiern. Da bisher kaum Studien zu diesem Aspekt der Witze durchgeführt wurden, stammen die Bezeichnungen für die Situationen in den Familienwitzen wie bei den ethnischen Witzen von der Verfasserin. In Kapitel 5.5 haben wir auch erwähnt, dass die Situationen im Witz eng mit dem realen Leben der Menschen in der Kultur zusammenhängen, wo die Witze entstanden sind. Deshalb kann man anhand des Vergleichs der Situationen in deutschen und chinesischen Familienwitzen die Unterschiede zwischen den Lebensformen und gewohnheiten der Menschen im familiären Zusammenhang in diesen beiden Ländern erkennen. Im Folgenden werden wir zuerst die relevanten Situationen in deutschen Witzen analysieren. 6.6.1 Situationen in den deutschen Familienwitzen Nach der Untersuchung stellte sich heraus, dass insgesamt 26 verschiedene Situationen in den deutschen Familienwitzen dargestellt werden. Davon treten Entstehung einer außerehelichen Beziehung, Sex, Heirat/Scheidung, Erziehung der Kinder und Haushalt am häufigsten auf. Die genaue Verteilung im deutschen Korpus findet man in der Tabelle 19. Situationen in den deutschen Familienwitzen Anteil Entstehung einer außerehelichen Beziehung 12% Sex 9% 180 Heirat/Scheidung/Partnerwahl 7% Erziehung der Kinder 7% Haushalt 6% Tabelle 19: Die fünf relevantesten Situationen in den deutschen Familienwitzen Die Situation „Entstehung einer außerehelichen Beziehung“ wird vor allem in den Witzen über Ehemann und Ehefrau dargestellt. In Kapitel 6.4 haben wir erläutert, dass ein wichtiges Skript, das der Ehemann – Ehefrau – Beziehung gilt, deren Untreue betrifft. Im Witz geht es sowohl um den Mann, der z.B. eine intime Beziehung mit seiner Sekretärin, mit dem Dienstmädchen zu Hause, der Nachbarin oder der Ehefrau seines Kollegen hat, als auch um die Frau, die mit dem Postboten, mit dem Mitarbeiter oder dem Freund ihres Ehemanns flirtet. Da die Ehekrise ein seit über 20 Jahren diskutiertes Thema in Deutschland ist, findet man auch viele Witze darüber. Die Situation „Sex“ kommt meist in den Witzen über Großeltern oder Kinder vor. Den ersteren wird vor allem deren großes Interesse an oder die Unfähigkeit zur Sexualität zugeschrieben. In Bezug auf Kinder handeln die Witze häufig von ihrer unerwarteten Vertrautheit mit den sexuellen Themen der Erwachsenen. Es wird z.B. der kleine Junge dargestellt, dem von seinem Vater vorgeworfen wird: „Seit du auf der Welt bist, hast du mir noch keine einzige Freude bereitet.“ Darauf antwortet der Sohn: „Aber vorher, was?“ Oder es geht in einem anderen Witz um die kleine Tochter, die ihre Mutter fragt, ob sie, Mama und Oma alle der Storch gebracht hat. Als die Mutter darauf mit ja antwortet, schreibt das Mädchen in seinem Aufsatz ernsthaft: „In unserer Familie hat es seit drei Generationen keinen Sex mehr gegeben.“ Die Situation „Heirat/Scheidung“ findet man in den Witzen über Ehemann, Ehefrau und Kinder. Dabei geht es z.B. um den geizigen Mann, der seine Ex-Frau nur deshalb wieder heiraten will, damit er Geld für eine neue Hochzeit sparen kann. Oder der Witz handelt von der Naivität des kleinen Sohns, der behauptet, seine gleichaltrige Freundin heiraten zu wollen und ihr gemeinsames Leben mit dem Taschengeld von den Eltern zu finanzieren. Die Situation „Kindererziehung“ kommt meist in den Witzen über den Vater vor. Dabei geht es um die Unfähigkeit des Vaters beim Beantworten von Fragen, die seine Kinder stellen. Auf die Frage, was das oberste deutsche Gericht ist, antwortet der 181 Vater z.B. selbstbewusst mit „Eisbein und Sauerkraut“. Oder der Witz handelt von dem Sohn, der neugierig wissen will, wo die Bahamas liegen, darauf sagt der Vater ungeduldig: „Frag Mama, die räumt immer alles weg!“ Die Unfähigkeit des Vaters beim Kindererziehen zeigt sich auch in seinen unangemessenen Manieren, die einen schlechten Eindruck auf seine Kinder machen. Es wird z.B. ein Vater dargestellt, der die ganze Zeit beim Autofahren Schimpfwörter äußert. Als sie zu Hause ankommen, berichtet der vierjährige Sohn begeistert seiner Mutter: „Wir haben zwei Hornochsen, sechs Armleuchter und einen Vollidioten überholt …“. Die Situation „Haushalt“ wird vor allem in den Witzen dargestellt, die die Faulheit der Ehefrau oder des Ehemanns bei der Hausarbeit behandeln. Ein Mann definiert z.B. das 20. Jubiläum seiner Hochzeit als „blecherne Hochzeit“, weil seine Frau die ganzen Jahre nur halbfertiges Essen aus blechernen Dosen gemacht hat. Die Frau beschwert sich dann, dass der Mann ihr kaum beim Haushalt hilft. Das Einzige, was er tut, sei das Heben seiner Füße, wenn sie staubsaugt. In einigen Witzen mit der Situation „Haushalt“ geht es auch um die niedrige Position des Ehemanns zu Hause, der auf den Befehl seiner Frau hört und alle Hausarbeiten macht. Das sind die so genannten Pantoffelhelden zu Hause. 6.6.2 Situationen in den chinesischen Familienwitzen In den untersuchten chinesischen Familienwitzen wurden insgesamt 25 Situationen unterschieden, die auch alle in den deutschen Witzen zu finden sind. Da es in den letzteren 26 Situationen gibt, erweist sich die, die nur im Deutschen vorkommt und im Chinesischen fehlt, als „Gottesdienstbesuchen“. Das hängt mit dem realen Leben der Chinesen zusammen. Obwohl es in China Christen gibt, machen sie unter der Gesamtbevölkerung nur einen sehr kleinen Anteil aus. Die meisten Menschen sind Atheisten und besuchen keinen Gottesdienst. Aus diesem Grund werden im chinesischen Familienwitz keine Situationen zum Beten in der Kirche oder zur Predigt dargestellt. Zu den relevanten Situationen im chinesischen Witz gehören Kindererziehung/bestrafung, Haushalt, Einkaufen, Heirat/Scheidung und Essen/Trinken. Ihre Verteilung findet man in Tabelle 20. 182 Situationen in den chinesischen Familienwitzen Anteil Kindererziehung/-bestrafung 13% Haushalt 8% Einkaufen 7% Heirat/Scheidung/Partnerwahl 6% Essen/Trinken 5% Tabelle 20: Die fünf relevantesten Situationen in den chinesischen Familienwitzen Die am häufigsten dargestellte Situation ist „Kindererziehung/-bestrafung“. Sie tritt vor allem in den Vaterwitzen auf. Wie im Deutschen geht es dabei um die Unfähigkeit des Vaters beim Erziehen seiner Kinder. In der chinesischen Tradition ist die Betreuung der Kinder bei deren Wissenserwerb und beim Aufbau der Moral vor allem die Aufgabe des Vaters. Ein alter Spruch lautet, dass die fehlende Kindererziehung des Vaters Schuld sei75. Der im Witz dargestellte Vater kann aber diese Aufgabe nicht erfüllen. Er kennt nie die richtige Antwort auf die Fragen seiner Kinder, schimpft gern, raucht viel, trinkt Alkohol und bricht sein Wort immer wieder. Außerdem weigert er sich, Geld für die Kindererziehung auszugeben. Er wird deshalb z.B. als geiziger Vater dargestellt, der seinem Sohn befiehlt, pfeifen zu lernen, als dieser ein Musikinstrument spielen möchte. In einigen Witzen geht es um das Bestrafen der Kinder durch ihren Vater. Der kleine Sohn hat den Nachbarjungen geprügelt. Als Strafe wird er von seinem Vater geschlagen. Als dieser ihn fragt, ob er es jetzt noch wagt, andere Kinder zu verletzen, antwortet der Sohn: „Jetzt nicht, aber später, wenn ich auch Vater bin.“ Die strenge Strafe hat nicht nur ihr Ziel verfehlt, dem kleinen Sohn das richtige Verhalten beizubringen, sondern sie hat ihm den schlechten Eindruck hinterlassen, dass er als Vater andere schlagen darf. Die Situation „Haushalt“ tritt in den verschiedenen Witzen in Bezug auf fast alle Kernfamilienmitglieder auf. Dabei geht es vor allem um die niedrige Position des Ehemanns zu Hause, der alle Hausarbeiten macht, oder um die Unfähigkeit der Ehefrau beim Kochen, die besonders häufig in den alten chinesischen Witzen behandelt wird. Das kontrastierende konventionelle Wissen besagt, dass vom Ehemann bzw. dessen Familie erwartet wird, dass die Ehefrau alle Aufgaben im Haushalt gut erledigen kann. 75 Der originale chinesische Text heißt: „ݏϡᬭˈ⠊П䖛 (yng bù jio, fù zh guò)“. Der Spruch stammt aus dem Buch Sanzi Jing (Drei-Zeichen Klassik), das im 13. Jahrhundert geschrieben wurde. 183 Die Situationen „Einkaufen“ und „Essen/Trinken“ kommen ebenfalls in verschiedenen Witzen über die Kernfamilienmitglieder vor. Das große Auftreten der beiden Situationen hat mit dem realen Lebensstil der Chinesen zu tun. Wie in Kapitel 5 erläutert wurde, treffen sie sich gern mit Verwandten oder Freunden zum Essen. Ein anderes übliches Unternehmen in der Freizeit ist das Einkaufen oder das Schaufenstergehen. Nach einer Studie zeigen sich die asiatischen (inkl. der chinesischen) Konsumenten als diejenigen, die unter allen ethnischen Gruppen auf der Welt am häufigsten einkaufen gehen (Gardyn/Fetto 2003). Das hat in China einerseits mit der Wirtschaftsentwicklung zu tun, da man sich bei der verbesserten finanziellen Lage mehr leisten kann. Andererseits liegt es an der Lebensgewohnheit der Chinesen, die das Bummeln mit der Familie oder den Freunden in Geschäften als eine Art Entspannung betrachten, auch wenn man dabei nicht vorhat, etwas zu besorgen. Wie im Deutschen findet man die Situation „Heirat/Scheidung“ auch in den Witzen über Ehemann, Ehefrau und Kinder. Dabei geht es entweder um den Geiz des Ehemanns, der sich z.B. eine Tochter wünscht, damit er das für seine eigene Heirat gezahlte Geld zurückbekommen kann, da in China die Hochzeitskosten vor allem von den Eltern des Bräutigams getragen werden. Oder es handelt sich um die Naivität der Kinder. Es wird z.B. ein kleiner Junge dargestellt, der sich über seinen Vater ärgert und seiner Mutter vorschlägt, ihn zu heiraten, damit er den Vater kontrollieren kann. 6.6.3 Vergleich Fasst man die Untersuchungsergebnisse in diesem Teil zusammen, kann man sehen, dass die meisten Situationen eine Entsprechung in den gesammelten deutschen und chinesischen Familienwitzen haben. Die einzige, die nur im Deutschen vorkommt und im Chinesischen fehlt, ist „Teilnahme am Gottesdienst“, was darauf zurückgeht, dass die meisten Chinesen Atheisten sind und deshalb in ihrem realen Leben keinen Gottesdienst besuchen. Zu den relevanten Situationen in den Witzen gehören sowohl im Deutschen als auch im Chinesischen Heirat/Scheidung, Kindererziehung und Haushalt, was die Grundlage für die Bildung, Entwicklung und Pflege der Familie darstellt. Sie treten in den beiden Sprachen auch mit denselben Zielscheiben auf. Heirat/Scheidung und Haushalt werden z.B. in den Witzen über Ehemann – Ehefrau oder Kinder dargestellt. Dabei geht es um den Geiz des Ehemanns bei der Hochzeit, die Naivität der Kinder 184 beim Verstehen der Heirat, die Faulheit oder Unfähigkeit der Ehefrau beim Kochen bzw. die niedrige Position des Ehemanns zu Hause, weil er alle Hausarbeiten macht. Die Situation Kindererziehung findet man vor allem in den Vaterwitzen. Dabei handelt es sich um die Unfähigkeit des Vaters beim Beantworten der Fragen seiner Kinder bzw. um dessen schlechte Manieren, etwa Schimpfen, Rauchen, Wortbruch oder zu strenge Strafe, die den Kindern kein gutes Vorbild gibt. Neben den oben genannten drei gemeinsamen Situationen findet man auch Unterschiede zwischen den Witzen in beiden Sprachen. Während im Deutschen außereheliche Beziehungen und Sex auch relativ häufig in den Witzen über Ehemann – Ehefrau bzw. über Großeltern auftreten, sind im Chinesischen die anderen beiden wichtigen Situationen Einkaufen und Essen/Trinken. Sie kommen in Witzen über fast alle Kernfamilienmitglieder vor. Dieser Unterschied kann ein Hinweis darauf sein, dass die Deutschen sich eher in der Unterhaltung über Sexualität oder Verstöße gegen die Sexualethik vom Alltag entspannen, während die Chinesen ihre Erholung vor allem durch das Essen oder das Konsumieren finden. Dass die Chinesen die Entspannung nicht in der Unterhaltung über Sexualität suchen, liegt nicht daran, dass sie das nicht wollen oder können, sondern an der kulturellen Tradition, die ihnen eine solche Unterhaltung in der Öffentlichkeit verbietet, selbst wenn man darüber nur Witze machen würde. Im alten China wurde sogar der Kontakt zwischen Männern und Frauen streng geregelt. Im Buch der Riten, einem der konfuzianischen Klassiker, steht z.B. fest, dass Männer und Frauen beim Geben und Nehmen ihre Hände nicht berühren dürfen76. Dieser Gedanke setzt sich bis in die moderne Zeit fort und übt auch heute noch einen großen Einfluss auf die älteren Menschen in China aus. Wegen solcher strengen Regeln ist eine entspannte Unterhaltung über das Thema Sexualität in der Öffentlichkeit in China kaum möglich. Die Menschen sind deshalb gezwungen, sich durch eine andere Möglichkeit – das aufwendige Essen – vom Alltag zu entspannen. Nach der Analyse und dem Vergleich der Situationen wird im nächsten Teil versucht, die Ähnlichkeiten bzw. die Unterschiede zwischen den Erzählformen deutscher und chinesischer Familienwitze herauszufinden. 76 Der originale chinesische Text lautet: ⬋ཇᥜফϡ҆ (nán n shòu shòu bù qn). (vgl. Buch der Riten, Kapitel 1-2: Regeln der Schicklichkeit). 185 6.7 Die Erzählformen In Kapitel 4 haben wir die fünf verschiedenen Erzählformen, in denen Witze ausgedrückt werden, analysiert. Sie sind Erzählung, Erzählung + Dialog, Dialog, Frage-Antwort und Dreier-Modell. Die Erzählungswitze werden in rein narrativer Form dargestellt. Dabei sind die drei Teile des Witzes, die Einleitung, Dramatisierung und Pointe umfassen, gut voneinander getrennt zu erkennen. Witz (9) in diesem Kapitel ist ein Beispiel dafür. Witze in Dialogform bestehen aus dem Gespräch zwischen zwei Personen. Die Einleitung, d.h. die Angabe der Witzfiguren und der Situation, wird direkt in den Teil der Dramatisierung integriert. Deshalb sind Witze in dieser Form kompakter und anschaulicher als Erzählungen. Wegen der Integration der Einleitung in die Hauptgeschichte kann man jedoch die Witzfiguren und die Situation nicht immer klar erkennen, besonders wenn der Witz mündlich erzählt wird. Aus diesem Grund lassen sich Dialogwitze in schriftlicher Form besser als in mündlicher verbreiten. Der oben diskutierte Witz (6) kann als Beispiel für diese Kategorie gelten. Als Mischung aus den beiden Formen hat der Typ „Erzählung + Dialog“ nicht nur eine klare Struktur, sondern auch eine besondere Anschaulichkeit, die durch das Gespräch zwischen den Personen erzeugt wird. Deshalb lassen sich Witze in dieser Form sowohl mündlich als auch schriftlich gut verbreiten. Die Witze (1), (3), (4), (5) und (7) in diesem Kapitel sind Beispiele für diese Kategorie. In Kapitel 5 haben wir dargestellt, dass Einleitung, Dialog und die Mischung aus den beiden zu den nicht-standardisierten Formen gehören, während die Frage-AntwortReihenfolge und das Dreier-Modell zu den Standardformen zählen. Die FrageAntwort-Reihenfolge ist ein festgelegtes Muster, das aus der Fragezeile und der Antwortzeile besteht. Diese Form ist besonders praktisch für die mündlich verbreiteten Witze. Dabei macht man nach der Fragestellung eine kurze Pause, damit der Zuhörer eine größere Spannung aufbaut, die dann bei der nachher gegebenen Antwort gelöst wird. Wegen der Kürze sind Witze in dieser Form relativ einfach zu merken und weiter zu verbreiten. Deshalb werden viele Witze über die bekannten Zielscheiben, wie Blondinen oder Ostfriesen, in der Frage-Antwort-Form formuliert. In der Kategorie der Familienwitze kommt diese Form aber sehr selten vor. Das Dreier-Modell ist ein anderes standardisiertes Witzmuster. Dabei werden einige (meist drei) Witzfiguren dargestellt, die an derselben Tätigkeit teilnehmen. Die Pointe 186 liegt meist in der letzten Figur, die eine unerwartete Handlung durchführt. Witz (8) in diesem Kapitel ist ein Beispiel dafür. Im Folgenden werden wir sehen, welche Erzählformen besonders häufig in den deutschen und den chinesischen Familienwitzen verwendet werden. 6.7.1 Erzählformen in den deutschen Familienwitzen Die Untersuchung zeigt, dass in den deutschen Familienwitzen am häufigsten die Dialogform vorkommt. Sie tritt in knapp der Hälfte aller gesammelten Beispiele auf. Darauf folgen die Formen Erzählung + Dialog und Erzählung. Die meisten deutschen Witze in dieser Kategorie werden in den drei nicht-standardisierten Erzählformen realisiert, während die Standardformen Frage-Antwort und Dreier-Modell nur in einem sehr kleinen Anteil der Witze verwendet wird. Die genaue Verteilung der verschiedenen Formen wird in Tabelle 21 zusammengefasst. Erzählformen Witzanteil Dialog 49% Erzählung + Dialog 30% Erzählung 14% Dreier-Modell 3,7% Frage-Antwort 3% Sonstiges 0,3% Tabelle 21: Erzählformen der deutschen Familienwitze Die Dominanz der beiden Formen Dialog bzw. Erzählung + Dialog liegt wohl daran, dass viele Witze in dieser Kategorie Szenen aus dem Familienleben darstellen, die vor allem aus den Gesprächen zwischen den verschiedenen Mitgliedern wie Mann – Frau, Vater – Sohn, Oma – Enkel usw. bestehen. Da jeder Mensch im Rahmen des Common Sense-Wissens mit den Familienbeziehungen bekannt ist, müssen im Witz nicht ausführlich die Figuren und ihre Verhältnisse zueinander vorgestellt werden. Aus diesem Grund fangen viele Witze gleich mit einem Dialog zwischen den Figuren an. Verglichen mit dem Ergebnis bei den ethnischen Witzen, wo knapp die Hälfte der Beispiele dieser Kategorie in Standardformen wiedergegeben wird, zeigen sich die Familienwitze bezüglich der Erzählformen weniger standardisiert. Wir glauben daher: Je mehr die Witze über eine Figur in Standardformen ausgedrückt werden, desto 187 einfacher lassen sie sich verbreiten. Deshalb kann man sagen, dass die Familienwitze im Vergleich zu den ethnischen Witzen im Deutschen weniger bekannt und populär sind. Aus dem anderen Ergebnis, dass die Form Erzählung + Dialog in den beiden Kategorien häufig verwendet wird, lässt sich schließen, dass diese Erzählform für die deutschen Witze relevant ist, zumindest für die, die in gedruckten Medien verbreitet werden. 6.7.2 Erzählformen in den chinesischen Familienwitzen Wie im Deutschen erweisen sich die beiden Formen Dialog und Erzählung + Dialog auch als relevant für die chinesischen Familienwitze. Sie kommen in über drei Viertel aller Beispiele vor. Darauf folgen die Erzählung und das Dreier-Modell. Die FrageAntwort-Form wird im Chinesischen nicht verwendet. In Tabelle 22 findet man die genaue Verteilung der verschiedenen Erzählformen im chinesischen Korpus. Erzählformen Witzanteil Dialog 47% Erzählung + Dialog 32% Erzählung 19% Dreier-Modell 1,6% Frage-Antwort - Sonstiges 0,4% Tabelle 22: Erzählformen der chinesischen Familienwitze Es ist zu sehen, dass die meisten chinesischen Familienwitze in den nichtstandardisierten Formen ausgedrückt werden. Die Dominanz von Dialog und Erzählung + Dialog geht auf die Tatsache zurück, dass Witze in dieser Kategorie meistens Szenen aus dem realen Familienleben widerspiegeln, das häufig aus Gesprächen zwischen den Mitgliedern besteht. Im Vergleich zum Ergebnis bei den ethnischen Witzen, die vor allem in rein narrativer Form vorkommen, zeigen sich die Familienwitze im Chinesischen durch die Dominanz des Dialogs kürzer und lebendiger. Darüber hinaus kann man an dem Resultat, dass die meisten Witze in beiden Kategorien in nicht-standardisierten Formen ausgedrückt werden, feststellen, dass die chinesischen Witze in ihrer Form weniger standardisiert sind. Die Frage-Antwort-Reihenfolge tritt z.B. weder in den gesammelten ethnischen noch in den Familienwitzen auf. Die Form Erzählung + 188 Dialog zeigt sich jedoch als relevant für die beiden Kategorien, was im Deutschen ähnlich ist. 6.7.3 Vergleich Fasst man die Untersuchungsergebnisse zu den Erzählformen in deutschen und chinesischen Familienwitzen zusammen, kann man zuerst Gemeinsamkeiten zwischen den beiden feststellen: 1. Sowohl im Deutschen als auch im Chinesischen treten die beiden Formen Dialog und Erzählung + Dialog in den meisten Beispielen auf, was darauf zurückgeht, dass Witze in dieser Kategorie eine Widerspiegelung des realen Familienlebens sind, das in vielen Fällen direkt aus den Gesprächen zwischen den Mitgliedern besteht. 2. Die Standardmuster, wie die Frage-Antwort-Form oder das Dreier-Modell, sind nicht typisch für die deutschen bzw. die chinesischen Familienwitze. Der kleine Unterschied zwischen den Erzählformen in Familienwitzen in den beiden Sprachen liegt vor allem im Frage-Antwort-Muster. Während diese Form in einem kleinen Anteil der deutschen Witze vorkommt, wird sie im Chinesischen nicht benutzt. 6.8 Fazit In diesem Kapitel haben wir zuerst die aktuelle Familienstruktur in Deutschland bzw. in China vorgestellt. Dabei wurde herausgearbeitet, dass in China die Kernfamilie mit Vater, Mutter und Kind/Kindern die dominierende Form darstellt, während in Deutschland eine Pluralisierungstendenz bei den Familienformen vorherrscht, die Kernfamilie, Patchwork – Modelle und Singles mit oder ohne Partner umfassen. Anschließend wurden im Hauptteil dieses Kapitels die deutschen und die chinesischen Familienwitze unter den folgenden fünf verschiedenen Aspekten analysiert bzw. miteinander verglichen: 1. der Zielscheibe, 2. der Eigenschaft der Zielscheibe, 3. dem Hintergrundwissen, 4. der Situation und 5. der Erzählform. Als Zielscheibe im Witz kommen vor allem die Mitglieder aus der Kernfamilie in beiden Kulturen vor, wie Mann, Frau, Vater, Mutter und Kinder. Außerdem wurden auch die Beziehungen Großeltern – Enkel bzw. Schwiegereltern – Schwiegerkinder 189 behandelt. Der Unterschied zwischen den deutschen und den chinesischen Familienwitzen liegt hauptsächlich in der Relation Schwiegereltern – Schwiegerkinder. Während in den ersteren der Konflikt in der Schwiegermutter – Schwiegersohn – Beziehung dargestellt wird, geht es in den letzteren um die angespannten Verhältnisse zwischen der Schwiegertochter und ihren beiden Schwiegereltern. Zu den Skripten der Familienwitze gehören die Dummheit von Vater, Sohn und anderen Mitgliedern, die Autorität in der Eltern – Kinder – Beziehung, die Untreue der Eheleute, die Spannung zwischen Schwiegereltern und Schwiegerkindern, der Geiz des Vaters bzw. des Ehemanns und die Sexualität im Zusammenhang mit Großeltern bzw. der Schwiegervater – Schwiegertochter – Beziehung. Der Unterschied zwischen dem Deutschen und dem Chinesischen besteht darin, welche Zielscheiben mit den Skripten Spannung und Sexualität verbunden sind. Anhand der Untersuchung zum Hintergrundwissen stellt man fest, dass Common Sense- und Kontextwissen als relevant für das Verstehen der Familienwitze gelten. Deshalb lassen sich Witze in dieser Kategorie relativ einfach in andere Kulturen übertragen. Zu den häufig dargestellten Situationen gehören in beiden Sprachen Heirat/Scheidung, Kindererziehung und Haushalt. Darüber hinaus kommen im Deutschen auch außereheliche Beziehungen bzw. Sex häufig vor, während im Chinesischen stattdessen vor allem Einkaufen bzw. Essen/Trinken behandelt wurden. Als dominierende Erzählform erweist sich der Dialog sowohl in den deutschen als auch in den chinesischen Familienwitzen. Außerdem stellte man fest, dass die Familienwitze weniger in Standardformen (wie Frage-Antwort-Reihenfolge und Dreier-Modell) ausgedrückt werden, als dies bei den ethnischen Witzen der Fall ist. 190 7. Zusammenfassung und Ausblick Als ich mich entschied, eine Vergleichsstudie zu deutschem und chinesischem Humor durchzuführen, stellten viele meiner Bekannten dieselbe Frage: „Gibt es überhaupt einen deutschen oder chinesischen Humor?“ Denn in den öffentlichen Medien werden Deutsche meist als seriös, gedankenvoll und regelorientiert präsentiert, während das Bild der Chinesen häufig durch Bescheidenheit, Freundlichkeit und Verschlossenheit geprägt ist. Mit anderen Worten: Keines der beiden Völker ist bekannt für seinen Humor. Diese Studie stellt aber heraus, dass sowohl Deutsche als auch Chinesen ihren eigenen Sinn für Humor haben, was als Bestätigung der These von Fry und Raskin gelten kann, dass Humor ein universelles menschliches Charakteristikum ist. Es ist mit Unrecht zu sagen, dass eine Person oder eine Ethnie keinen Sinn für Humor hat. Sondern der Befund ist vielmehr, dass wir ihren Humor nicht verstehen, weil wir uns mit ihrem sprachlichen, kulturellen oder sozialen Hintergrund nicht auskennen. Dass Witze aus einem anderen Land für uns nicht immer lustig sind, liegt daran, dass wir als Leser/Hörer das zum Verstehen der Witze benötigte sprachliche oder kulturelle Wissen nicht besitzen, so dass wir keine eigene Erwartung an die Geschichte im Text bilden können. Entsprechend gelingt bei uns der Witzeffekt dann nicht mehr, der durch die Opposition zwischen der Lesererwartung und dem realen Geschehen am Textende hergestellt wird. In diesem Kapitel wird zuerst das Ergebnis der Untersuchungen zu ethnischen und Familienwitzen dargestellt. Anschließend wird der Witz im Rahmen der Textsortentheorie kurz erläutert. Zuletzt wird die Beziehung zwischen dem Witz und der Metapher anhand der kognitiven linguistischen Auffassungen dargelegt. 7.1 Zusammenfassung des Untersuchungsergebnisses In dieser Arbeit wurden die deutschen und die chinesischen ethnischen und Familienwitze jeweils unter den folgenden fünf Aspekten analysiert und verglichen: der Zielscheibe, der Eigenschaft der Zielscheibe, dem Hintergrundwissen, der Situation und der Erzählform. 191 Bei den ethnischen Witzen wurde herausgefunden, dass in verschiedenen Kulturen unterschiedliche Zielscheiben dargestellt werden. Während im Deutschen vor allem einzelne Ethnien behandelt werden, geht es im Chinesischen um eine Zweiteilung von Chinesen und Nicht-Chinesen. Trotzdem werden die Skripten Dummheit und Geiz in beiden Kulturen präsentiert. Im Vergleich zum Deutschen sind die chinesischen ethnischen Witze relativ schwer in andere Sprachen und Kulturen zu übertragen, denn es handelt sich in den letzteren vor allem um das Sprachmissverstehen oder die Nichtvertrautheit mit der Esstradition. Bei der Untersuchung zur Situation kann man eine gewisse Einsicht in das reale Leben der Menschen aus den beiden Ländern bekommen, obwohl die im Witz dargestellten Szenen nicht immer identisch mit der Realität sind. In deutschen Witzen kommen Reisen und Kulturveranstaltungen häufiger als im Chinesischen vor. In Bezug auf die Erzählform zeigen sich die deutschen ethnischen Witze durch eine stärkere Standardisierungstendenz geprägt als die chinesischen. Bei den Familienwitzen liegt der Unterschied zwischen beiden Kulturen vor allem in den Schwiegereltern-Schwiegerkinder-Relationen. Während im Deutschen der Konflikt die Schwiegermutter-Schwiegersohn-Beziehung betrifft, geht es im Chinesischen um die Spannung zwischen der Schwiegertochter und ihren beiden Schwiegereltern. Zu den Skripten in den Familienwitzen gehören Dummheit, Autorität, Untreue, Spannung, Geiz und Sex. Davon erweisen sich die ersten beiden als die relevantesten unter allen Eigenschaften. Im Vergleich zu den ethnischen Witzen sind die Familienwitze relativ einfach in andere Kulturen zu übertragen, denn sie hängen vor allem mit dem Common Sense- und dem Kontextwissen zusammen. Bei der Situation treten außereheliche Beziehung und Sex im Deutschen häufiger als im Chinesischen auf. Die Haupterzählform der Familienwitze in beiden Sprachen ist der Dialog. Im Vergleich zu den ethnischen Witzen werden die Familienwitze weniger in Standardformen (wie Frage-Antwort-Folge, Dreier-Modell) ausgedrückt. 7.2 Witz als Unterhaltungstext Die Klassifizierung von Textsorten ist eine der grundlegenden Fragen in der Textlinguistik. Den bisherigen Forschungen zufolge wird eine solche Klassifizierung in der Regel nach dem Kriterium der Textfunktion durchgeführt (Große 1976, Brinker 1992). Unter Textfunktion versteht man die durch sprachliche Ausdrücke vermittelte, 192 an Rezipienten gerichtete Instruktion, wie der Text zu verstehen sei (Große 1976: 15 ff, 26, 28). Brinker definiert die Textfunktion als die Kommunikationsabsicht des Textverfassers, die im Text mit konventionell geltenden Mitteln realisiert ist (Brinker 1992: 86). Nach der Textfunktion sind sechs grundlegende Kategorien zu unterscheiden (vgl. Duden 4 – die Grammatik, 1998): - Informationstexte (Nachricht, Bericht, Rezension…) - Appelltexte (Werbeanzeige, Kommentar, Antrag…) - Obligationstexte (Vertrag, Garantieschein, Gelöbnis…) - Kontakttexte (Danksagung, Kondolenzschreiben, Ansichtskarte…) - Deklarationstexte (Testament, Ernennungsurkunde…) - Unterhaltungstexte (Roman, Novelle, Kurzgeschichte…) In Kapitel 2 haben wir den Witz als „(prägnant formulierte) kurze Geschichte, die mit einer unerwarteten Wendung, einem überraschenden Effekt, einer Pointe am Ende zum Lachen reizt“ definiert. Daran kann man feststellen, dass der Witz vor allem zu der Kategorie „Unterhaltung“ gehört, weil er häufig als kurze Geschichte mit Figuren und Handlungen vorkommt. In Bezug zu Struktur und Inhalt ähnelt ein Witz einer literarischen Gattung wie Anekdote, Kurzgeschichte oder Erzählung. Darüber hinaus ist die Appellfunktion auch nicht auszuschließen, denn ein Witz dient vor allem dazu, die Hörer oder Leser zum Lachen zu bringen. Neben diesen beiden Kategorien kann man den Witz auch den Kontakttexten zuordnen, weil nach den Beobachtungen der Autorin die Menschen (besonders Männer) in manchen Fällen (z.B. bei einem gesellschaftlichen Treffen) gern einen witzigen Satz oder einen Witz benutzen, um Kontakt mit den Menschen um sich herum aufzunehmen. In diesem Sinne lassen sich der Textsorte Witz zumindest drei Funktionen zuschreiben: Unterhaltung, Appell und Kontakt. Dominierend ist hier aber der Unterhaltungsaspekt, denn die Klassifikation von Textsorten findet nicht nur nach den textexternen Kriterien statt, wie den Funktionen, sondern auch nach den textinternen Kriterien, wie der Struktur, dem Satzbau und der Wortwahl (Duden 4 - die Grammatik, 1998). Wenn man die beiden Aspekte gemeinsam berücksichtigt, steht der Witz den ästhetischen Texten näher als den anderen beiden Kategorien. Unter den Unterhaltungstexten ist die Anekdote wohl mit dem Witz am ehesten verwandt (von Wilpert 1955; 1959: 16, zitiert nach Marfurt 1977: 169). Anekdote bezeichnet heute vor allem eine epische Kleinform, die auf eine überraschende Steigerung oder Wendung (Pointe) hinzielt und in gedrängter sprachlicher Form (häufig in Rede und Gegenrede) einen Augenblick zu erfassen 193 sucht, in dem sich menschliche Charakterzüge enthüllen oder die Merkwürdigkeit oder die tieferen Zusammenhänge einer Begebenheit zutage treten (Metzler-LiteraturLexikon 1990). Mit dem Witz verbindet die Anekdote „ihre Kürze und Struktur; sie unterscheidet sich von ihm durch ihren Anspruch auf „Echtheit“, der sich im Text ausdrückt durch den Gebrauch des Präteritums und durch die Nennung einer historischen Person, der die Pointe in den Mund gelegt wird (Portmann 1973: 108f, zitiert nach Marfurt 1977: 169-170). Wenn es um die kulturelle Spezifik der Textsorte Witz geht, lässt sich nach den Untersuchungen in dieser Arbeit feststellen, dass Witze, deren Pointe durch die Sprachmehrdeutigkeit oder den Verstoß gegen die Kulturkonventionen hergestellt wird, kaum in eine andere Sprache übertragen werden können, es sei denn, dass man beim Übersetzen den im Witz gemeinten Doppelsinn erklärt, was aber meist dazu führt, dass die Pointe zu früh verraten wird und der Lacheffekt damit verloren geht. Im Vergleich dazu sind die Witze, die durch Verstoß gegen das Common Sense- oder das Kontextwissen produziert werden, relativ einfach in andere Sprachen oder Kulturen zu übersetzen. Wenn wir Deutsch und Chinesisch als Beispiel nehmen, können wir bei der Analyse der ethnischen und der Familienwitze feststellen, dass die Wortwahl (meist in umgangssprachlichem Stil) und die Struktur (inkl. Erzählung, Dialog, Frage-Antwort-Folge, usw.) des Witztextes beim Übersetzen kaum verändert wurden. Nur anhand den Zielscheiben oder den Situationen77 kann man versuchen, die Herkunft des Witzes festzulegen. Aber wenn die dargestellten Figuren und die Situationen nicht typisch für eine Kultur sind, lässt sich die Herkunft des Witzes kaum erkennen, wie z.B. in den Blondinenwitzen, die sowohl im Deutschen als auch im Englischen bekannt sind, oder in den Familienwitzen, die ebenfalls in vielen Kulturen erzählt werden. In diesem Sinne sind Witze anders als Informationstexte (wie Nachricht, Rezension) durch einen stärkeren kulturspezifischen Stil geprägt. Nach einer kontrastiven Studie zu deutschen und chinesischen wissenschaftlichen Rezensionen wurde herausgefunden, dass die deutschen Rezensionen durch ein deduktives Arbeitsverfahren geprägt sind, indem man jeweils von einer bestimmten Theoriegrundlage ausgehend die einzelnen Aspekte expliziert, mit denen man sich auseinanderzusetzen hat, um zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen zu gelangen. Bei der Bewertung spielt die Meinungsverschiedenheit eine dominierende Rolle. Im 77 Die Ostfriesenwitze stammen z.B. meist aus der deutschen Kultur, während diejenigen, in denen eine chinesische Esstradition behandelt wird, meist im chinesischsprachigen Gebiet entstanden sind. 194 Vergleich dazu wird in chinesischen Rezensionen eher das induktive Arbeitsverfahren bevorzugt. Dabei wird die Objektpublikation stets als eine Ganzheit betrachtet, aus der man die einzelnen Fakten hervorhebt und im Rahmen eines größeren Umfeldes zusammenhängend darstellt. Die Würdigung der Publikation gilt hier als weitgehend dominant (Liang 1991: 308-309). Ein Überblick über die kulturelle Spezifikation von verschiedenen Texttypen im Deutschen bzw. im Chinesischen liegt uns noch nicht vor. Dazu kann man in Zukunft weitere Forschungen bzw. kontrastive Studien zwischen Sprachen und Kulturen durchführen. Neben dem textlinguistischen Bereich können auch die kognitiven Wissenschaften in späteren Forschungen zum Witz herangezogen. Dabei ist es z.B. sinnvoll, die Beziehung zwischen dem Witz und der Metapher zu erläutern. Im nächsten Teil werden wir kurz darauf eingehen. 7.3 Witz und Metapher Die Metapher wurde traditionell als „gekürzter Vergleich“ (Cicero, Quintilian), „Bedeutungsübertragung“ (Aristotoles) auf der Wortebene oder als „Interaktion zweier Vorstellungen“ (Black) bezeichnet. Seit Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts vertreten Linguisten eher die These, dass Metaphorisierungen eher kognitive Prozesse seien, die unser alltägliches Leben durchdringen, nicht nur die Sprache, sondern auch unser Denken und Handeln (vgl. Lakoff/Johnson 1980: 3). Nach Lakoff und Johnson ist die Metapher typisch für einen Prozess des menschlichen Verstehens, in dem wir einen neuen Begriff auf Grund eines alten, bekannten wahrnehmen (vgl. Lakoff/Johnson 1980: 5). Der letztere wird als der Ursprungsbereich bezeichnet, während der erstere der Zielbereich ist. Eine Übertragung von dem Ursprung auf das Ziel ist möglich, weil die beiden Konzepte über gewisse gemeinsame Eigenschaften verfügen. Als bekanntes Beispiel für Metaphern nennen Lakoff und Johnson (1980): Liebe ist eine Reise. Der Ursprungsbereich ist „Reise“, während der Zielbereich „Liebe“ ist. Durch die Gemeinsamkeit zwischen den beiden Konzepten, dass sowohl Reise als auch Liebe einen langen Prozess mit einem Ziel darstellen, kann man den abstrakten Begriff „Liebe“ durch den relativ konkreten Begriff „Reise“ verstehen, wie in dem folgenden Satz: 195 Das alte Paar ist einen langen gemeinsamen Weg gegangen und feiert dieses Jahr die Goldene Hochzeit. Im Kontrast zu dem Ursprungs- und dem Zielbereich in einer Metapher sind die beiden Skripten im Witz durch eine strengere Bedingung miteinander verbunden. Sie weisen nicht nur Gemeinsamkeiten auf, sondern stehen auch in einer spezifischen Beziehung von Opposition zueinander. Wenn „Liebe als Reise“ eine Metapher ist, dann ist der Ausdruck, dass „Ehe ein Sitzen im Gefängnis ist“, eher ein Witz. Einerseits zeigen die beiden Konzepte „Ehe“ und „Sitzen im Gefängnis“ die Gemeinsamkeit des langen Prozesses, andererseits stehen die beiden in Opposition zueinander, denn die Ehe soll nach dem Common Sense-Wissen ein glücklicher Prozess sein, während das Sitzen im Gefängnis ein Unglück darstellt. In diesem Sinne können wir versuchen die These aufzustellen, dass der Witz gewissermaßen dem kognitiven Prozess Metapher als eine Unterkategorie zugeordnet werden kann. Alle Witze beziehen sich auf die Übertragung von einem Skript oder Konzept auf das andere, was eine Voraussetzung für die Metaphern darstellt. Darüber hinaus wird der Witz auch durch die gegensätzliche Beziehung zwischen den beiden Skripten bedingt. Auf der Seite der Metaphern genügt es aber bereits, wenn der Ursprungs- und der Zielbereich durch die Gemeinsamkeit miteinander zusammenhängen. Mit anderen Worten: Alle Witze können als Metaphern betrachtet werden, während nicht alle Metaphern Witze sind. Selbstverständlich gibt es auch witzige Metaphern. Der oben erwähnte Satz – Ehe ist ein Sitzen im Gefängnis – gilt als ein Beispiel dafür. Die Metapherntheorie mit einer Abbildung zwischen beiden mentalen Bereichen (Lakoff/Johnson 1980) wurde weiter durch Fauconnier und Turner (1999, 2002) zur Blending-Semantik entwickelt (Wildgen 2008). Die Blending-Theorie geht vom Grundproblem der Metaphernauffassung aus und betont vor allem den Prozess der partiellen Abbildung bzw. des Zusammenfügens der Strukturen und Elemente von Quelle und Ziel. Fauconnier meinte, dass die Operationen des Zusammenfügens dazu benützt werden können, zusätzliche Struktur, die in der Quelle vorhanden ist, auf den Zielbereich abzubilden, wodurch dieser durch weitere Strukturen angereichert wird. Diese Zusatzstruktur kann wiederum dynamisch manipuliert werden, wodurch weitere Relationen und Verbindungen entstehen (Fauconnier 2001, zitiert nach Wildgen 2008). Die Standard-Darstellung des Blending-Prozesses lässt sich in Abbildung 3 wiedergeben (vgl. Fauconnier/Turner 1999, Wildgen 2008): 196 Generic Space Input 1 Input 2 Blend Abbildung 3: Standard-Darstellung des Blending Input 1 und Input 2 bilden die beiden Ausgangspunkte der Operation „Blending“. Daraus werden Strukturen und Elemente durch spezifische Gesetzmäßigkeiten, die im oberen Kreis darstellt werden, selektiert und zusammengefügt. Das Resultat des Blending zeigt der untere Kreis. Anhand der Blending-Theorie versuchen wir hier, den Prozess der Witzherstellung zu analysieren. Als Beispiel nehmen wir den bekannten Patientenwitz in der SSTH (Raskin 1985): (11, Kapitel 3) “Is the doctor at home?” the patient asked in his bronchial whisper. “No,” the doctor’s young and pretty wife whispered in reply. “Come right in.” (Raskin 1985: 100) Im ersten Skript geht es um einen Patienten, der zum Arzt geht. Im zweiten Skript handelt es sich um einen Mann, der seine Geliebte – die Ehefrau seines Arztes – zu Hause besucht. Die beiden Skripten wurden dadurch miteinander verbunden, dass der Mann wegen seiner Bronchitis flüstern musste, was auch als Flirten zwischen Geliebten interpretiert werden könnte. Die Darstellung mit dem Blending-Muster wird in Abbildung 4 wiedergegeben. 197 generic space visiting, whisper Input 2 Input 1 a man dating with his lover a patient seeing doctor Blend A man/a patient seeing/dating with doctor/doctor’s wife Abbildung 4: Darstellung des Witzes (11, Kapitel 3) anhand der Blending-Theorie Das Verstehen des Witzes erfolgt von der Wahrnehmung des Inputs 1 über Input 2 bis zum Ergebnis des Blending. Bemerkenswert ist, dass das Hinzufügen des Inputs 2 beim Lesen/Hören des Witzes meistens unerwartet durchgeführt wird, damit der Überraschungseffekt, der nötig für einen Witz ist, ausgelöst wird. Hier können wir einen Unterschied zwischen dem Witz und der Metapher feststellen: Während es bei der letzteren häufig um ein fertiges Produkt (z.B. ein Wort, einen Ausdruck oder eine Phrase) nach dem Blending78 geht, handelt es sich beim Witz um den dynamischen und vom Leser/Hörer unerwarteten Prozess des Zusammenfügens der beiden Inputs. Eine umfangreiche Studie zum Witz anhand der Blending-Theorie wurde bisher noch nicht durchgeführt. Auf diesen Aspekt könnte in späteren Untersuchungen weiter eingegangen werden. Die stärkere Anwendung der kognitiven Ansätze auf die Witzforschung wird eine Tendenz in der Zukunft sein. Beide Seiten können viel voneinander profitieren. Ein weiteres Problem im Bereich der Humorforschung stellt das Verhältnis zwischen Witz und Lachen dar. Wir wissen, dass der Witz eine Opposition zwischen zwei Skripten und gleichzeitig ein Spannungsabbau ist, wie Kant formuliert: „Witz ist die 78 Außer bei poetischen Metaphern. 198 plötzliche Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts“ (Kant, zitiert nach Preisendanz 1970: 10). Aber wie kann eine semantische Opposition zu einem Spannungsabbau führen? Liegt es daran, dass das erste Skript beim Menschen eine höhere Spannung auslöst, während das zweite eine niedrigere oder Null-Spannung hat, so dass der Skriptenwechsel zu einem Spannungsabbau führt? Um diese Fragen zu beantworten, sind interdisziplinäre Studien erforderlich, die nicht nur Fragen der Linguistik, sondern auch der Psychologie und Neurologie betreffen. Wegen der Beschränkung auf den Sprach- und den Kulturvergleich kann diese Studie die oben gestellten Fragen nicht beantworten. Die von der Verfasserin selbst gegründete Datenbank kann auch nicht alle mit Witz verbundenen Sprach- und Kulturphänomene im Deutschen bzw. im Chinesischen widerspiegeln. Trotzdem hoffe ich, dass diese Arbeit das Interesse der Leser für Humor geweckt bzw. ihre Kenntnisse über die Menschen und die Gesellschaften aus den beiden Ländern befördert hat. 199 200 8. Literatur Andresen, Karren / Anke Dürr / Barbara Supp / Claudia Voigt 2007 “Die Familie von morgen”. In: Sehnsucht nach der Familie. Spiegel Special, Nr. 4 / 2007: 6-15. Apte, Mahadev L. 1985 Humor and Laughter. An Anthropological Approach. Ithaca: Cornell University Press. Assmann, Jan / Dietrich Harth 1990 Kultur und Konflikt. 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