Reader - professur wolfgang schett
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Sizilien Seminarreise Frühlingssemester 2008 Professur Wolfgang Schett Departement Architektur Eidgenössische Technische Hochschule Zürich Teilnehmende Adressen Michael Adamina Eugene Arvinte Jan Berni Rosanna Borsotti Daniel Deimel Nikolai Dunkel Guillermo Dürig Nuria Eugster Colin Ferguson Martina Fischer Patrice Gruner Christina Imfeld Patrick Meier Natascia Minder Madeleine Ohla Stefan Roos Anna Salvioni Martino Simoni Françoise Vannotti Diana Zenklusen Jean-Claude Campell Nadine Kahnt Iris Moor Stefanie Müller Hotel Palermo (27.04. bis 30.04.) Organisation Gianluca De Pedrini Isabel Gutzwiller Hotel Cortese Via Scarparelli n° 16 90134 Palermo Tel/ Fax 0039 091 331722 Hotel Catania (01.05. bis 03.05) Hotel I Vespri Via Montesano 5 95131 Catania Tel./ Fax.: 0039 095 310 036 Reise Hinfahrt: Samstag, 26.04.2008 Abfahrt Bahn: Abfahrt Bahn: Abfahrt Schiff: Sonntag 27.04.2008 Ankunft Schiff: Rückfahrt: Samstag 03.05.2008 Abfahrt Bahn: Sonntag 04.05.2008 Ankunft Bahn: Abfahrt Bahn: Abfahrt Bahn: Ankunft Bahn: ab Zürich HB, 12.45 am Treffpunkt Zürich HB 13.09 Uhr. Ankunft: Milano Cle. 16.42 Uhr Milano Cle. 17.00 Uhr. Ankunft: Genova PP 18.42 Uhr 22.00 Uhr, Treffpunkt 20.45 Uhr im Hafen beim Terminal Traghetti (Einkaufszentrum mit Fähren- büro Grandi Navi Veloci) Palermo 18.00 Uhr ab Catania, Treffpunkt 18.20 vor Bahnhof Catania Cle. 18:44 Uhr. Bologna Cle. 08.59 Uhr Bologna Cle. 10.16 Uhr. Ankunft: Milano Cle. 12.00 Uhr Milano Cle. 12.25 Uhr. Zürich HB 16.51 Uhr Programm Samstag 26. April ab Zürich HB, 12.45 am Treffpunkt Sonntag 27. April Schiffreise Filme über Sizilien Montag 28. April Palermo morgen Wohnsiedlung ZEN mit Prof. Andrea Sciascia nachmittag Stadtspaziergang mit Prof. Marco Nobile und Emanuela Garofalo Dienstag 29. April Palermo morgen Villen in Bagheria mit Dott. Domenica Sutera nachmittag Stadtspaziergang mit Prof. Stefano Piazza Mittwoch 30. April Selinunte, Gibellina ganzer Tag Ausflug mit Prof. Marcella Aprile Donnerstag 1. Mai Catania morgen Busfahrt nach Catania nachmittag Catania Freitag 2. Mai Noto ganzer Tag Ausflug mit Dott. Mercedes Bares Samstag 3. Mai Catania ganzer Tag frei abends ab Catania, Treffpunkt 18.20 vor Bahnhof Sonntag 4. Mai an Zürich HB 16.51 Uhr 3 Inhaltsverzeichnis Sizilien Palermo Italienische Reise, Seefahrt Die Prüfung How can one be Sicilian? Sizilien Pläne Zeittafel Kulturgeschichtlicher Überblick 7 10 15 25 28 30 38 Italienische Reise, Palermo Die Stätten meiner frühen Kindheit Crocifissa Die Wiedergeburt Zum Thema essen Die Stadt liegt nicht am Meer Zum Thema essen Pläne Geschichte (Palermo) Die romanische Kunst in Palermo Der Barock in Palermo 63 79 84 87 94 96 100 104 112 114 116 Bagheria Bagheria Pläne Der Barock in Bagheria Cave di Cusa, Selinunt Cave di Cusa und Cave di Barone Selinunt Gibellina 129 134 136 145 148 Come una porta Pläne Fraintendimenti Ein Fragment der Hoffnung 153 156 158 160 Catania Italienische Reise, Caania Pläne Der Barock in Catania 169 172 176 Ätna Noto Der Ätna - Mongibello Pläne Case e Palmenti dell‘Etna Santi e Demoni dell‘Etna 185 188 190 194 Vorgängerstadt, Zerstörung, Neugründug Die Transformation der Naturreliefs Die geschichtete Wand im Stadtraum Die bewegte Fronst im Stadtraum Der Barock in Noto Pläne 201 204 210 214 218 222 Sizilien Italienische Reise, Johann Wolfgang von Goethe weichliches, nebelhaftes, welches sich bald verlor, als ich, nach neueren Ansichten, die Form vorwalten und den Rhythmus eintreten liess. Seefahrt, Donnerstag den 29. März Nicht wie bei dem letzten Abgange des Paquetboots wehre diesmal ein förderlicher frischer Nord-Ost, sondern leider von der Gegenseite ein lauer Süd- West, der aller hinderlichste; und so erfuhren wir denn wie der Seefahrer Vom Eigensinne des Wetters und Windes abhängt. Ungeduldig verbrachten wir den Morgen bald am Ufer, bald im Kaffeehaus, endlich bestiegen wir zu Mittag das Schiff und genossen beim schönsten Wetter des herrlichsten Anblicks. Unfern vom Molo lag die Corvette vor Anker. Bei klarer Sonne eine dunstreiche Atmosphäre, daher die beschatteten Felsenwände von Sorrent vom schönsten Blau. Das beleuchtete, lebendige Neapel glänzte von allen Farben. Erst mit Sonnenuntergang bewegte sich das Schiff jedoch nur langsam von der Stelle, der Widerwind schob uns nach dem Pausilipp und dessen Spitze hinüber. Die ganze Nacht ging das Schiff ruhig fort. Es war in Amerika gebaut, schnellsegelnd, inwendig mit artigen Kämmerchen und einzelnen Lagerstätten eingerichtet. Die Gesellschaft anständig munter: Operisten und Tänzer, nach Palermo verschrieben. Sonnabend den 31. März Die Sonne tauchte klar aus dem Meere herauf. Um sieben Uhr erreichten wir ein französisches Schiff, welches zwei Tage vor uns abgegangen war; um so viel besser segelten wir und doch sahen wir noch nicht das Ende unserer Fahrt. Einigen Trost gab uns die Insel Ustika, doch leider zur linken, da wir sie eben, wie auch Capri, hätten rechts lassen sollen. Gegen Mittag war uns der Wind ganz zuwider und wir kamen nicht von der Stelle. Das Meer fing an höher zu gehen und im Schiffe war fast alles krank. Ich blieb in meiner gewohnten Lage, das ganze Stück ward um und um, durch und durch gedacht. Die Stunden gingen vorüber ohne dass ich ihre Einteilung bemerkt hätte, wenn nicht der schelmische Kniep, auf dessen Appetit die Wellen keinen Einfluss hatten, von Zeit zu Zeit, indem er mir Wein und Brot brachte, die treffliche Mittagstafel, die Heiterkeit und Anmut des jungen tüchtigen Kapitäns, dessen Bedauern dass ich meine Portion nicht mitgeniesse, zugleich schadenfroh gerühmt hätte. Eben so gab ihm der Übergang von Scherz und Lust zu Missbehagen und Krankheit und wie sich dieses bei einzelnen Gliedern der Gesell schaft gezeigt, reichen Stoff zu mutwilliger Schilderung. Nachmittags vier Uhr gab der Kapitän dem Schiff andere Richtung. Die grossen Segel wurden wieder aufgezogen und unsere Fahrt gerade auf die Insel Ustika gerichtet, hinter welcher wir, zu grosser Freude, die Berge von Sicilien erblickten. Der Wind besserte sich, wir fuhren schneller auf Sicilien los, auch kamen uns noch einige Inseln zu Gesichte. Der Sonnenuntergang war trübe, das Himmelslicht hinter Nebel versteckt. Den ganzen Abend ziemlich günstiger Wind. Gegen Mitternacht fing das Meer an sehr unruhig zu werden. hrsg. von Konrad Scheurmann und Jochen Golz. – Mainz: von Zabern, 1997 Freitag den 30. März Bei Tagesanbruch fanden wir uns zwischen Ischia und Capri, ohngefähr von letzterem eine Meile. Die Sonne ging hinter den Gebirgen von Capri und Capo Minerva herrlich auf. Kniep zeichnete fleissig die Umrisse der Küsten und. Inseln und ihre verschiedenen Ansichten; die langsame Fahrt kam seiner Bemühung zu statten. Wir setzten mit schwachem und halbem Winde unsern Weg fort. Der Vesuv verlor sich gegen vier Uhr aus unsern Augen, als Capo Minerva und Ischia noch gesehen wurden. Auch diese verloren sich gegen Abend. Die Sonne ging unter ins Meer, begleitet von Wolken und einem langen, meilenweit reichenden Streifen, alles purpurglänzende Lichter. Auch dieses Phänomen zeichnete Kniep. Nun war kein Land mehr zu sehen, der Horizont ringsum ein Wasserkreis, die Nacht hell und schöner Mondschein. Ich hatte doch dieser herrlichen Ansichten nur Augen blicke geniessen können, die Seekrankheit überfiel mich bald. Ich begab mich in meine Kammer, wählte die horizontale Lage, enthielt mich, ausser weissem Brot und rotem Wein, aller Speisen und Getränke und fühlte mich ganz behaglich. Abgeschlossen von der äussern Welt liess ich die innere walten und da eine langsame Fahrt vorauszusehen war, gab ich mir gleich zu bedeutender Unterhaltung ein starkes Pensum auf. Die zwei ersten Akte des Tasso, in poetischer Prosa geschrieben, hatte ich von allen Papieren allein mit über See genommen. Diese beiden Akte, in Absicht auf Plan und Gang ohngefähr den gegenwärtigen gleich, aber schon vor zehn Jahren geschrieben, hatten etwas Sonntag den 1. April Um drei Uhr Morgens heftiger Sturm. Im Schlaf und Halbtraum setzte ich meine dramatischen Plane fort, indessen auf dem Verdeck grosse Bewegung war. Die Segel mussten eingenommen werden, das Schiff schwebte auf den hohen Fluten. Gegen Anbruch des Tages legte sich der Sturm, die Atmosphäre klärte sich auf. Nun lag die Insel Ustika völlig links. Eine grosse Schildkröte zeigte man uns, in der Weite schwimmend, durch unsere Fernröhre, als ein lebendiger Punkt, wohl zu erkennen. Gegen Mittag konnten wir die Küste Siciliens mit ihren Vorgebirgen und Buchten ganz deutlich unterscheiden, aber wir waren sehr unter den Wind gekommen, wir lavierten an und ab. Gegen Nachmittag waren wir dem Ufer näher. Die westliche Küste, vom Lilibäischen Vorgebirge bis Capo Gallo, sahen wir ganz deutlich, bei heiterem 7 Wetter und hell scheinender Sonne. Eine Gesellschaft von Delphinen begleitete das Schiff an beiden Seiten des Vorderteils und schossen immer voraus. Es war lustig anzusehen wie sie, bald von den klaren durchscheinenden Wellen überdeckt, hinschwammen, bald mit ihren Rückenstacheln und Flossfedern, grün- und goldspielenden Seiten sich über dem Wasser springend bewegten. Da wir weit unter dem Winde waren fuhr der Kapitän gerade auf eine Bucht zu, gleich hinter Capo Gallo. Kniep versäumte die schöne Gelegenheit nicht die mannigfaltigsten Ansichten ziemlich im Detail zu zeichnen. Mit Sonnenuntergang wendete der Kapitän das Schiff wieder dem hohen Meer zu und fuhr nordostwärts, um die Höhe von Palermo zu erreichen. Ich wagte mich manchmal aufs Verdeck, doch liess ich meinen dichterischen Vorsatz nicht aus dem Sinne und ich war das ganze Stück so ziemlich Herr geworden. Bei trüblichem Himmel heller Mondschein, der Wiederschein auf dem Meer unendlich schön. Die Maler, um der Wirkung willen, lassen uns oft glauben, der Wiederschein der Himmelslichter im Wasser habe zunächst dem Beschauer die grösste Breite wo er die grösste Energie hat. Hier aber sah man am Horizont den Wiederschein am breitsten, der sich, wie eine zugespitzte Pyramide, zunächst am Schiff in blinkenden Wellen endigte. Der Kapitän veränderte die Nacht noch einigemal das Manöver. Montag den 2. April früh 8 Uhr Fanden wir uns Palermo gegenüber. Dieser Morgen erschien für mich höchst erfreulich. Der Plan meines Dramas war diese Tage daher, im Wallfischbauch, ziemlich gediehen. Ich befand mich wohl und konnte nun auf dem Verdeck die Küsten Siciliens mit Aufmerksamkeit betrachten. Kniep zeichnete emsig fort und durch seine gewandte Genauigkeit wurden mehrete Streifen Papier zu einem sehr schätzbaren Andenken dieses verspäteten Landens. 8 9 Die Prüfung, Leonardo di Sciascia in: Das weinfarbene Meer / Leonardo Sciascia ; aus dem Italienischen von Sigrid Vagt – Berlin : Wagenbach, 1997 Ein Häufchen Blechmarken, so gross wie HundertLire-Münzen, die in drei Stapel zu sortieren waren: rauh, weniger rauh und glatt. Ein Stuck Draht und eine Zange, um aus dem Draht ein Dreieck zu biegen. Eine Papptafel mit lauter kleinen Kreisen, die zusammen die Form einer Weintraube bildeten, und in jeder Beere eine Zahl. Wenn der Mann mit der Uhr in der Hand »via« sagte, musste man aus einer bestimmten Entfernung so viele Zahlen lesen wie möglich, bis er »basta« sagte. »Via« und »basta« waren die beiden italienischen Wörter, die der Mann am besten aussprach. Ein grosser Mann mit rosigem Gesicht, hellen Augen und blondem Haar, das mitten auf dem Kopf wie eine Chrysantheme auseinanderfiel. Ein Schweizer aus Zürich. Blaser mit Namen. Nach Sizilien gekommen, um weibliche Arbeitskräfte anzuwerben, Mädchen, die nicht unter achtzehn und nicht über dreissig sein sollten. Für eine Fabrik, die Elektrogeräte herstellte, Zähler anscheinend. Man wurde nicht recht schlau aus dem wenigen, was er sagte. Vielleicht war er Katholik, vielleicht auch Lutheraner oder Kalvinist. Die Pfarrer konnten es nicht herausfin den. Ruhig und ohne Neugier prüfte er die Mädchen, im Pfarrhaus oder sogar in der Sakristei, als wäre ihm diese Umgebung aus seiner Zeit als Messdiener oder weil er dort zum Katechismusunterricht gegangen war, seit eh und je vertraut. Er fuhr durch die Provinz von Ort zu Ort mit Auto und Chauffeur, die er nach kleinlichem Handeln und misstrauischem Feilschen in der Provinzhauptstadt gemietet hatte, einer Stadt im Innern Siziliens, unzugänglich, hoch auf einem Felsen gelegen, im Wind metallisch vibrierend. Der Chauffeur hatte bis zu einem gewissen Grad Spass an der Sache, an den Prüfungen gefunden. Er folgte ihm in die Sakristeien, in die Pfarrhäuser; und manchmal konnte er es sich nicht verkneifen, eine gutes Wort einzulegen, wenn ein Mädchen die Prüfung nicht schaffte oder nicht das richtige Alter hatte, obwohl der Schweizer dieses gute Wort überhaupt nicht berücksichtigte. In jedem Ort wiederholte sich das gleiche Spiel; selbst die Mädchen schienen von Ort zu Ort die gleichen. Und auch die Pfarrer. Zur vereinbarten Zeit erwarteten die Pfarrer Herrn Blasers Ankunft; rund zwanzig Mädchen, in der Regel von ihren Müttern begleitet, standen in der Sakristei oder in dem ebenerdigen Saal des Pfarrhauses beisammen, tuschelten aufgeregt oder lachten nervös. Der Pfarrer stellte sie vor und versicherte, sie hielten sich gehorsam an die christlichen Gebote wie an die häuslichen Tugenden, die in der Schweiz dann zu Arbeitstugenden werden würden. 10 Herr Blaser zog Blechmarken, Draht, Zange und Papptafel hervor, und die Prüfung begann. Die Befriedigung des Chauffeurs über das gute Geschäft, das er machte, und über den Zeitvertreib, auf den sein Arbeitstag hinauslief, war durch leichte Gewissensbisse getrübt: als hatte er sich zum Komplizen eines Raubs der Sabinerinnen gemacht, der von einem Mann aus dem Norden, einem Deutschen noch dazu, und den sizilianischen Pfarrern heimlich ausgeheckt worden war. Er mochte die Deutschen nicht, weil er lange in einem Kriegsgefangenenlager hatte hungern müssen. Und die Pfarrer mochte er aus vielen anderen Gründen nicht. Mit dem bisschen Deutsch, dass er hungernd gelernt hatte, übersetzte er sich den Namen seines Kunden mit soffiatore; und aus heimlicher Rache stellte er ihn sich nackt und schwebend vor mit aufgeblasenen Backen, wahrend der Wind wie ein Strahlenbündel aus seinem Mund kam; wie bei einem jener Stuckengel in den Chorgewölben der Kirchen. Denn Herr Blaser betrachtete den Chauffeur als Teil des Autos, und dessen Versuche, während der Fahrt ein Gespräch anzuknüpfen oder sich während der Prüfungen zugunsten irgendeines Mädchens einzumischen, behandelte er wie eine kleine Panne: ein Unfall, eine Störung. Und das wurmte den Chauffeur. Er verspürte ein an Hass grenzendes Gefühl der Demütigung, wenn der Blick des soffiatore bei der geringsten Vertraulichkeit auf ihm ruhte wie auf einem Gegenstand, einem Gegenstand, der die überraschende und ärgerliche Eigenschaft hatte zu sprechen. Und ebenfalls als demütigend empfand er den Widerstreit der Gefühle, dem er sich ausgesetzt sah: Es gefiel ihm zwar nicht, dass der Schweizer die Mädchen mitnahm, und doch schaltete er sich ein, um die eine oder andere zu empfehlen, wenn sie abgelehnt werden sollte. So komplizierte Empfindungen bei einem Mann, den er für seine Arbeit angemessen bezahlte, durch die Arbeit ausgelöst noch dazu, hatte Herr Blaser sich niemals vorzustellen vermocht; und wenn, dann hatten sie seinen Widerwillen erregt. So verging eine Woche. Ein Dutzend Orte, an die hundert angeworbene Mädchen; alles ruhig, alles glatt. Dann kam der Tag, den Herr Blaser für V. vorgesehen hatte, ein abgelegenes Dorf in einem weiten, ausgedörrten Gebiet, ein Dorf mit längst durch Enteignung zerstückelten Lehnsgütern, aber einer immer noch stolzen Mafia. Unterwegs erzählte der Chauffeur Herrn Blaser mit einer Fülle schauerlicher Einzelheiten die Geschichte des Dorfes. Doch der Schweizer liess nicht das geringste Anzeichen von Neugier oder Erstaunen erkennen. Als sie in der Ortsmitte ankamen, wo auf den Stufen der Hauptkirche schon der Erzpriester auf sie wartete, trat zu dem Chauffeur, der noch das Auto abschloss, während der Schweizer und der Erzpriester sich begrüssten, ein junger Mann. Er grüsste, der Chauffeur erwiderte den Gruss, und einen Augenblick sahen sie sich an, der junge Mann offensichtlich schüchtern, verlegen, der Chauffeur plötzlich von einer dunklen Furcht ergriffen, denn die eigentlich für Herrn Blaser heraufbeschworenen Geschichten hatten stattdessen seine eigene Angst hochkommen lassen. Und so fragte er barsch: »Was ist?«, um mit dem arroganten Tonfall seine Furcht zu überspielen. »Sie müssen mir einen Gefallen tun«, sagte der junge Mann. »Da haben wir‘s«, dachte der Chauffeur, wusste allerdings gar nicht, was. »Wenn ich kann«, sagte er schroff, um zu zeigen, dass er entschlossen war, den Gefallen nicht zu tun oder nur aus Freundlichkeit, aber keinesfalls aus Angst. »Also«, sagte der junge Mann, »es geht um ein Mädchen. Sie will in die Schweiz arbeiten gehen ... Und ich will nicht, dass sie geht ... Sie ist drinnen beim Priester ... Sie dürfen sie nicht nehmen ... Ich will es nicht ... Wir wollen heiraten, Sie verstehen ... « »Ich verstehe gar nichts, mein Freund, und ich habe damit nichts zu tun. Ich fahre diesen Mann nur herum. Ich bin der Fahrer, er bezahlt mich, und ich fahre ihn über die Dörfer. Ich weiss nicht und will auch gar nicht wissen, was er macht. Jeder macht seine Arbeit, ich meine und er seine. Verstehst du?« Er war zum Du übergegangen, so leid tat ihm jetzt der junge Mann ein kleiner Junge, der kurz vorm Heulen war. »Sie müssen mir helfen«, sagte der junge Mann. Er kann einem leid tun, dachte der Fahrer, noch dazu in einem Dorf wie diesem, wo sie zu allem fähig sind. Er seufzte vor Verdruss und Beklemmung. »Na gut, ich werd‘s versuchen. Aber rechne nicht damit, dass mein Wort irgendeinen Wert hat. Er ist Schweizer, ein deutscher Schweizer. Weisst du, wie genau die Schweizer sind? Sie machen Uhren, und sie gehen auch wie Uhren ... Und die Deutschen erst! Reden wir lieber nicht drüber. Die haben Köpfe hart wie Schleifstein. Kann man etwa aus einem Schleifstein Saft pressen?« Und damit ging er auf die Kirche zu. Doch auf der Schwelle drehte er sich zu dem jungen Mann um, der am Fuss der Treppe stehengeblieben war, und sah ihn halb vorwurfsvoll, halb mitleidig an. »Wie zum Teufel heisst sie denn?« fragte er. »Rosalia«, sagte der junge Mann, »Rosalia Calaciura.« In der Sakristei hatte Herr Blaser bereits seine Sachen ausgepackt. Behutsam und sorgfältig legte er sie auf dem langen Tisch bereit, als wären es chirurgische Instrumente; und im Licht der Strahlenbündel, die durch die hohen Gitterfenster herabfielen und den Raum scharf durchschnitten, sah es tatsächlich so aus, als würde in der Sakristei unter dem zweideutigen, keuschen und zugleich sadistischen Blick der im Sonnenlicht auf den verblichenen alten Gemälden deutlich erkennbaren Bischöfe und Priester zwischen den grossen dunklen Nussbaumschränken im eigentümlichen Geruch von Wachs und Weihrauch, Vanille und Moder eine finstere chirurgische Operation oder Folterhandlung vorbereitet. Die Mädchen schauten gebannt auf Herrn Blasers Hande und der Erzpriester auch. Diese Atmosphäre ängstlicher Gespanntheit durch brach der Chauffeur, als er vom Portal aus rief: »Signor Blaser, auf ein Wort, wenn Sie erlauben?« Und Herr Blaser drehte sich um: überrascht, halb empört, der Blick noch kälter als sonst. Der Chauffeur winkte ihn mit dem rechten Zeigefinger zu sich heran. Schnaubend vor Ärger pustete der Schweizer die Backen auf (soffiatore, dachte der Chauffeur) und bewegte sich mit provozierender Langsamkeit. »Sie haben doch verstanden, was für ein Dorf das hier ist?« flüsterte er ihm ins Ohr. »Ja«, sagte Herr Blaser. »Mafia, ein Mafiadorf«, sagte der Chauffeur. »Das habe ich verstanden.« »Wissen Sie, was die Mafia ist?« »Auf die pfeife ich«, sagte Herr Blaser, mühsam Silbe um Silbe aussprechend. »Ich nicht«, sagte der Chauffeur, »und wenn Sie einen brüderlichen Rat hören wollen, überlegen Sie es sich tausendmal, bevor Sie sagen: Auf die pfeife ich. Zwischen darauf pfeifen und nicht darauf pfeifen besteht ein Unterschied wie zwischen sterben und davonkommen.« »Ich verstehe nicht«, sagte Herr Blaser. Doch genau in dem Moment fing er an, etwas zu verstehen. »Lassen Sie sich einen Rat geben«, sagte der Chauf feur. »Via«, sagte Herr Blaser, und das sollte heissen: Heraus mit der Sprache, beeilen wir uns! »Unter diesen Mädchen ist eine, die sie nicht nehmen dürfen. Sie heisst Rosalia Calaciura.« »Die darf ich nicht nehmen?« »Nein. Aussortieren, sofort aussortieren ... Nicht gut.« »Alter nicht richtig?« fragte Herr Blaser. »Oder ... ?« Er fasste sich an die Stirn, um geistige Beschränktheit anzudeuten. »Nein«, sagte der Chauffeur ungeduldig, »in der Hinsicht ist sie in Ordnung. Aber Sie dürfen sie nicht nehmen, und damit basta.« »Basta?« »Basta!« Der Chauffeur machte eine Faust, streckte Zeigefinger und Daumen aus und liess dreimal den Daumen auf den Zeigefinger fallen, wie den Hahn eines Gewehrs: »peng peng peng: auf uns, auf mich und auf Sie ... Sie legen uns um.« »Wer?« »Einer, der in sie verliebt ist und nicht will, dass das Mädchen fortgeht.« »Ach so!« sagte Herr Blaser und wandte sich ab. »Er nimmt sie«, dachte der Chauffeur, »bei Gott, er nimmt sie. Aus Leichtfertigkeit, aus Überheblichkeit und mir zum Trotz. Aber wenn ich an der Stelle des armen jungen Mannes da draussen wäre, würde ich ihm einen Denkzettel verpassen. Aber der wird es statt dessen mir übelnehmen. Niemand wird ihm begreiflich machen können, dass dieser Kerl kein Einsehen hat. Er wird denken, ich hatte kein gutes Wort für ihn eingelegt.« 11 Die Prüfung hatte begonnen. Der Fahrer war gespannt, wer von den Mädchen wohl Rosalia Calaciura sein mochte. Es waren vierzehn. Er suchte die drei schönsten aus. Aber sofort wurde eine von ihnen mit einem anderen Namen aufgerufen. Blieben noch zwei. Doch auch von diesen beiden war keine Rosalia. Rosalia war nicht schon. Wenn man genauer und auf merksamer hinsah, konnte man sie allenfalls hübsch finden, aber schön ganz bestimmt nicht. Sie war klein, dunkelhaarig. Bei der Prüfung war sie eine der flinkesten. Sobald Herr Blaser bei Rosalias Prüfung »basta« gesagt hatte, sah er den Chauffeur an. Dieser schüttelte den Kopf. Herr Blaser überlegte einen Moment. Dann wandte er sich an den Erzpriester: »Ich will keine Scherereien.« »Wie bitte?« wunderte sich der Priester. »Scherereien, Unannehmlichkeiten, Schwierigkeiten«, sagte Herr Blaser mit schlechter Aussprache, aber unvermutet reichem Wortschatz. Auf seinem hochgereckten Hals drehte sich der Kopf des Priesters wie auf einer Stange, die Augen sprangen hervor, der Mund öffnete sich, als blähte sich wie bei einer Comicfigur eine Sprechblase mit einem Ausruf des Erstaunens. »Hat das Mädchen einen Verlobten?« fragte Herr Blaser. »Nein«, sagte der Priester. Langsam begriff er. »Nein«, sagte Rosalias Mutter. »Ich denke doch«, sagte Herr Blaser. »Er ist nicht ihr Verlobter«, sagte Rosalias Mutter, »er ist nur einer, der sie haben will, ein Arbeitsloser, ein Tagedieb. Aber über meine Tochter bestimme ich.« »Das stimmt nicht, er ist kein Tagedieb«, sagte Rosalia, »er findet nur keine Arbeit.« »Er will dich ins Unglück stürzen«, sagte die Mutter. »Das will er nicht, er hat mich gern ... Und ich will auch deshalb in die Schweiz, weil ich für meine Aussteuer arbeiten will, damit ich heiraten kann.« »Du denkst an deine Aussteuer«, brauste die Mutter auf, »und vergisst, welche Not wir zu Hause haben und welche Hoffnung wir auf das bisschen Geld setzen, das du mir aus der Schweiz vielleicht schicken kannst.« »Ich werde euch schon was schicken, aber ich gehe in die Schweiz, um mir meine Aussteuer zu verdienen.« »Basta«, sagte Herr Blaser, »ich nehme sie.« Der Chauffeur verliess die Sakristei und ging durch die leere Kirche ... Der junge Mann wartete am Auto auf ihn. »Ich hab‘s dir ja gleich gesagt.« »Hat er sie genommen?« »Als hätte ich gar nichts gesagt ... Ein Dickschädel, mein Lieber ... Und ausserdem hat er durchblicken lassen, dass du es verhindern wolltest. Die Alte wurde wütend und hat gesagt, dass du ein Nichtsnutz bist und ihre Tochter ins Unglück stürzen willst. Aber das Mädchen hat dich in Schutz genommen.« »Sie liebt mich«, sagte der junge Mann. »Sie liebt dich und 12 geht in die Schweiz«, sagte der Chauffeur ironisch. »Wer satt ist, glaubt dem Hungernden nicht«, sagte der junge Mann gekränkt. »Ich bin nicht so satt, dass ich dem Hungernden nicht glaube«, sagte der Chauffeur, »ich meine nur, du hättest sie doch überreden können, dass sie sich nicht für die Schweiz bewirbt und nicht an der Prüfung teilnimmt. Und wenn sie nicht auf dich hören wollte, dann hat sie sicher ihre Gründe dafür. Entweder liebt sie dich nicht so sehr, wie du glaubst, oder sie hält das Elend nicht mehr aus ... « »Sie hält es nicht mehr aus«, sagte der junge Mann. »Na also, wenn du sie wirklich liebst, dann lass sie gehen ... Sie kommt bestimmt zurück, sie ist zäh, sie kommt zurück ... Und dann könnt ihr heiraten.« »Wenn ich nur Arbeit finden könnte ... «, sagte der junge Mann. »Du wirst schon Arbeit finden. Wenn so viele gehen, muss es für die, die bleiben, doch Arbeit geben.« »Die Sache ist die: Je mehr Leute weggehen, desto är mer wird das Dorf.« »Das kann doch nicht sein«, sagte der Chauffeur, der auf die Wirtschaft das einfache Rechnen anwandte. »Es ist nicht so, wie wenn man zu vielen dicht gedrängt auf einer Bank sitzt und wenn einer aufsteht, haben die anderen mehr Luft und können es sich bequemer machen ... Hier sitzt keiner. Und wenn einer geht, merken es die andern nicht einmal, oder sie merken es nur, weil das Dorf immer leerer wird.« »Das ist nicht sehr logisch.« »Nein, sehr logisch ist das nicht«, gab der junge Mann zu. »Warum gehst du nicht auch in die Schweiz? In die Schweiz oder nach Deutschland ... Deutschland ist nicht weit weg von der Schweiz.« »Ich war schon in Deutschland, drei Monate ... Aber ich sage, der Mensch ist kein Hund ... Er kann sich in einem fremden Land herumkommandieren lassen und leiden, weil ihm dies alles fehlt«, er deutete auf die Kirche, den Platz rings um, auf den Himmel, der im Gold des Sonnenuntergangs zerschmolz, »aber das Recht darf ihm keiner nehmen.« »Das Recht? Haben Sie dich nicht bezahlt?« »Doch, die Rechnung stimmte jeden Freitag abend auf den Pfennig genau: ehrlich und korrekt. Nein, ich meine das Recht, so zu sein wie wir jetzt hier. Wir beide kennen uns kaum, aber Sie sind ein Mensch, und ich bin ein Mensch, und wir reden miteinander von gleich zu gleich ... Mit denen dagegen ist das anders. Sie sehen uns nicht, das ist es, sie nehmen uns nicht wahr ... Und man fühlt sich wie eine Fliege an einem Spinnenfaden, die über ihren Biergläsern baumelt ... Das Bier! Mein Gott, das Bier! ... « »Ja, ja«, sagte der Chauffeur, und wegen der Erinne rungen, die ihn plötzlich überfielen, spürte er Kälte bis auf die Knochen. »Und deshalb werde ich wahnsinnig, wenn ich mir vorstelle, dass sie das gleiche durchmachen soll wie ich, auch wenn es um die Schweiz geht ... « »Sie ist eine Frau«, sagte der Chauffeur, »Frauen passen sich an. Sie verändern ihre Gewohnheiten und ihre Gefühle ... Du kannst eine Frau einen Stall ausmisten lassen, und ein paar Monate später triffst du sie wieder, und sie ist eine Dame.« »Stimmt«, sagte der junge Mann. »Und ausserdem, weisst du was? Es ist alles Schicksal. Schweiz hin oder her, wenn das Schicksal es will, dass du sie heiratest, dann heiratest du sie. Und wenn das Schicksal es will, dass du sie verlierst, dann verlierst du sie.« Herr Blaser kam aus der Kirche und hinter ihm der Schwarm der Mädchen. »Ich gehe«, sagte der junge Mann, »vielen Dank trotzdem.« »Keine Ursache. Alles Gute!« sagte der Chauffeur. Herr Blaser kam auf das Auto zu. »Unzivilisiertes Volk«, sagte er. 13 How Can One Be Sicilian?, Leonardo Sciascia in: Sicily as metaphor : conversations / Leonardo Sciascia; pres. by Marcelle Padovani; transl. by James Marcus – Marlboro, Vermont : Marlboro Press, cop. 1994 MARCELLE PADOVANI. „How can one be a Sicilian?“ So exclaims the viceroy of Sicily when he leaves Palermo after the turbulent incident of the „San Martino codices.“ To this day one notes a similar astonishment among many foreigners and even Italians. What does it mean to be a Sicilian? What are the fundamental traits of the Sicilian‘s psychology that have persisted throughout the centuries? Is the whole of Italy on the verge of becoming Sicilian, in accordance with the „palmtree line“ that „is mounting from the south to the north at the rate of fifty meters a year“? What of the portrait of Sicily that can be gleaned from your booksare its elements still present? And above all, what about Sicily‘s apparently irremediable underdevelopment? „Sicily is a bitter land,“ you write in Ie parrocchie di Regalpetra. „Roads and houses have been built, and even Regalpetra is blessed with asphalt and new buildings, but in the end you can‘t say that the human situation has changed much since the days of Phillip II.“ Your work teems with evidence of such „modern misery.“ Furthermore, there is in your description of Sicily a dreamlike quality; at times you say that „all of Sicily is a fantastical dimension.“ And you add: „How can one live there without imagination?“ On the other hand, your characters often devote themselves to denying the truth, to reconstructing it, for example, with imposture. Why does this secret Sicily need to dream, to flee the sphere of the real? I must also emphasize your persistent attempt to clarify the passion for the „juridical“ that animates your fellow citizens. „In Sicily,“ you write, „the crime of passion is not born from a true and proper passion, from the passion of the heart, but from a kind of intellectual passiona preoccupation with, so to speak, juridical formalities.“ Thus we learn that the inhabitant of Regalpetra with half an hour to kill in the city will not forget to drop in at the courthouse, even at the risk of missing his train. Can such a passion for the juridical derive from the fact that Sicily, like other Mediterranean countries, is a „land of forums,“ where everything is resolved in the public piazza? Or does it express a desperate will to resist isolation, whence comes this excessive respect for „forums“? In the portrait of the typical Sicilian, also exists, obviously, the decisive role of woman and the family. „Cherchez la femme,“ one generally hears in Sicily. Yet as you write in The Day of the Owl: „In Sicily, thought Captain Bellodi, it‘s not necessary to search for the woman, seeing that you always end up finding her, and in spite of the law.“ In your story „A Matter of Conscience,“ the search for the adulterous woman straightaway ends up involving a whole circle of gentlemen. How can we explain this Sicily of gossip, adultery, sexual taboos, and vendettas, where fathers, lovers, brothers, and husbands go so far as to forbid confession to their women? Why does woman seem to be an at once central and nonexistent figure in Sicilian mentality? And why, in compensation, is the family affirmed as the only „truly living institution“? It‘s as if, in the Sicilian‘s natural solitude, he lacks any means other than the family to adapt himself to communal life. Perhaps it‘s a kind of behavior that by its very nature renders the Sicilian „schizophrenic,“ in the sense that it keeps him from establishing a connection between public and private life. In The American Aunt, for example, one of the characters declares: „I don‘t say a thing, I keep my own counsel. Even if I see people walking around with their heads down, I don‘t open my mouth.“ In short, might not the cult of the family be the principal source of indifference to politics, of qualunquismo? Finally, this gallery of Sicilian portraits and sentiments includes the idea of decadence. The aristocracy of the island has been a disappointment: it hasn‘t even been able to safeguard its privileges, has gambled away the last of its cash in the French casinos, and its palaces are falling into ruin. Yet the ruling class formed by functionaries of the central government is certainly no less disappointing. Has there been a period in her history when Sicily has not had to suffer an identity crisis? Has Sicily always been the symbol of „defeated“ insularity, in contrast to the „victorious“ insularity of England? LEONARDO SCIASCIA. With a touch of malice, I made my character Candido lose his mother at the moment the Americans disembarked in Sicily, which therefore coincided with the beginning of the end of the redoubtable Sicilian matriarchy: it was then that woman lost her destructive power, a power that had become damaging also to her. Of all the developments it has been given me to witness, certainly one of the most significant is the end of this invisible power. Obviously it‘s not the only one, but the others have proven to be more accidental than substantial: they are changes that I would call passive, owing to the force of things or the course that events have chanced to take. Emigration, for example. On the other hand, I‘m not underestimating the role of emigration in the desacralization of women. No longer having about grown sons or a husband to terrorize, finding herself alone on the land that had to be made to produce, with young children that had to be brought up, and dealings with a bureaucracy that needed to be conducted successfullya series of tasks formerly reserved for the manthe Sicilian woman has acquired, thanks to emigration, a little more understanding, and consequently a little more freedom. Real freedom, I mean: not the dramatic and selfdestructive kind that comes from ordering others around. What‘s more, emigration has helped to raise the stan15 dard of living and to bring Sicily into the universe of consumerism. Those tiny sums sent every month by the emigrants have ensured that today the mean standard of living on the island does not differ substantially from that in the other regions of Italy. The paradoxical aspect of this phenomenon is that the one hundred fifty thousand or more who decided to leave Sicily to earn a living elsewhere lead exactly the same type of existence abroad that they would have led in Sicily thirty or forty years ago: an existence of privation, in which the material comforts are reduced to an absolute minimum, and the work is hard labor. They endure all this in order to set aside a measly nest egg, which inflation and the banks will whittle away before the emigrants can treat their families to its beneficent effects. These days, then, there are fifty or sixty thousand Sicilians who live worse than they did when they were in their own villages. But, by surviving on less and less, they allow their families to maintain a European standard of living. A kind of modern slavery: voluntary, necessary, and apparently impossible to eliminate. If I use my own village as a yardstick, I can easily list the changes introduced by consumerism: the television and the appliances in every house, the automobiles parked out front. We are better able to take vacations, we live in more comfortable houses, we drink more, we eat more meat. When I was young, we butchered meat once a week, on Fridaysa cow, a few rams or goats. Today there‘s not a butcher who doesn‘t sell veal, slaughtering two or three times a week. The same thing happened with the caffes. Once the people who frequented them were considered idlers or spendthrifts, prone to throwing their money out the window. And there was only one caffè. Now there are five, and everybody goes to them. Not to mention the banks: once there was only one, the Bank of Sicily; but now there are two of them, and in certain villages you‘ll find no fewer than four or five. If you then keep in mind that the deposits in each of these banks amount to about twenty billion lire, you can figure out that the average savings per capita comes to ten million lire. Where does this money come from? From the emigrants, for a start. From the severance payments that the regionmeaning the regional authorities who were so inclinedsupposedly disbursed at the time the sulfur mines closed. From pensions. And also from the earnings of shopkeepers. Yet despite it all, there are no rich people in Racalmuto. If the rate of savings is so high, part of the reason must be because the only thing we spend money on is the construction of new houses. (My neighbors have never heard a word of what are called equity loans, and the sole collective improvement that has been attempted concerns viticulture.) The Mafia, already decimated some time ago by the initiatives of Inspector Mori, can find no way to get their hands on this immovable cash: how can they extract their customary cut from sums earned outside of their own sphere, 16 in Cologne or Paris? So the change, in Racalmuto and in Sicily, has been made possible by isolationby the marginalization of some hundred thousand individuals. What a strange thing! Men who procure the good life and who are at the root of the change, but who themselves have not changed; who experience the reality of foreign countries as if they were in vitro, and who conserve deep within themselves the psychology, mentality, and mechanisms of long ago. In Sicily there has always been the aspiration toward at least a more just world. Some have solved (or believed they have solved) the problem through emigration; others, through the mythic exaltation of far away realities. The latter solution explains the „Continent“meaning mainland Italy. The Continent is an impossibly lofty place, evocative for Sicilians of a freer world, opposed to prejudice, injustice, and violence, where every person is cognizant of his rights and sees them respected. This dream also has its linguistic side: the idea of a single unifying language, capable of making everybody equal. If everyone spoke the same Italian, social and cultural differences would be abolished. It‘s the Italian language as a dream of justice .... Alas, in Sicily, only the employers, the bureaucrats, the officers, and the teachers speak Italian; and dialect belongs to the poorer classes, to serfs, workers, and peasants Women have always been a part of this continental myth. It was imagined that continental women were necessarily freer, more accessible and less encumbered by prejudice. Off Sicilians went, then, in search of this supposed availability of continental women, but no way in the world would they accept that this turn into the availability of Sicilian women too. On the subject of women, on the perpetual desire for women, one must read Brancati. Brancati had married an Italian actress and, as a Sicilian, suffered horribly from this marriage, notwithstanding the level of consciousness and creativity he had attained. In Nino Martoglio‘s comedy L‘aria del continente we again encounter this myth of the continental woman. It‘s the story of a rich Sicilian landowner who meets a woman up north, a woman so marvelous as to make him lose his head. He brings her back to Catania, marries her, commits a thousand follies for her. Immediately she becomes an object of envy on the part of his friends: they admire her, are jealous of her, and make her into the model of all that a desirable woman should be. At a certain point, however, it‘s suddenly revealed that this marvelous continental woman, this woman who expresses herself in Italian, who is thus fundamentally other than a Sicilian woman, was actually born in the municipality of Valguarnera Caropepe, in the province of Enna, just a few kilometers from Catania. Whereupon the myth crumbles, the love dies, the friends leave. „Carrapipana!“ cries the landowner“Woman of Caropepe!“and, arms outflung, he confesses to his deep and indelible shame as the curtain comes down: he thought he had married a continental, and he finds himself hitched to an islander! Martoglio‘s comedy was an enormous success in Sicily. Indeed, he elaborated it from an idea he got from Pirandello, who let him have it for five hundred lire. A goodly share of the dreams of Sicilian men continue to center around women. A certain type of behavior toward women persists like a categorical imperative: one is a true Sicilian if one has women, if one is obsessed with them, since this is the nature of a real man. Tormented by profound insecurity, by existential terror, by a fundamental instability, the Sicilian must perforce respond to the call of sex. Revolving around sexuality, however, is the religious (or, more accurately, pious) idea of the family, with woman as its organizing nucleus. Thus the woman is desired as a woman only insofar as she is other (or somebody else‘s, or nobody‘s, but never in any case her own self ). Yet, once she becomes a wife, she is suddenly transfigured into an institution; she is transformed into family and vanishes as an individual woman. This desire for women plays a role in the great Sicilian madness, to which Tomasi di Lampedusa is an outstanding witness. The Sicilian is intimately convinced that he is „the best“ when it comes to matters of love and sexuality convinced that he is sharper, shrewder, quicker, and more active than his competitors and that Sicilians know how to love women and satisfy them better than anybody else. Certain of this superiority, he has a single desire: to show himself equal to his reputation for availability and quickness. The Sicilian‘s sexual behavior reveals something of a watermark of peasant civilization: the image of the „cock“ that has developed in the realm of amorous relationships. In the peasant world the rooster represents the animal endowed with perfect sexualityready, speedy, insatiable, and capable of responding expertly to every request. It‘s obvious, then, why with the Sicilian the sexual act often reduces itself to not very much at all, in any case practiced without a great deal of pleasure, an act fleeting or even painful in its tragic brevity; and how sexuality, never being enjoyed as such, belongs to the world of the unreal. At the University of Heidelberg they conducted studies of couples made up of Sicilian men and German women. The researchers discovered that even in Heidelberg, the Sicilians continued to be convinced of their indomitable sexual superiority and their unbeatable rapidity, although the German women found no cause for contentment in performances so incomparably swift. Another dimension of the dream, of the madness and a further expression of a childish need for recognition and identityis the exasperated „juridicalism“ that unendingly plagues the island. When one reads in Cicero that „rhetoric had its origin in Sicily“ and that Sicilians are a „people of sharp and suspicious genius, born for controversy,“ you have the feeling that he‘s talking about the Sicily of today, that the island has always been what it is, and that centuries of historic stratification have not changed it much nor for the better. One has much the same impression when one leafs through the Treatise on the Character of the Sicilians written in the sixteenth century by Scipio de Castro, who provides Marco Antonio Colonna, the newly appointed viceroy, with no end of warnings. Said Scipio: „The Sicilians as a whole are timid in the utilization of their personal wealth and prodigal in the use of public funds.“ Then there‘s the Tuscan Giovanni Maria Cecchi, also of the sixteenth century, who very well conveys this impression of a human reality that remains immobile in the face of invasions, wars, epidemics, disasters. The specific characteristics vary, of course, depending on whether one refers to the Arab domination, which brought about the prevalence of the fantastical and imaginative spirit, or Roman civilization, with its accent on collective organization and rules for life and behavior. When a Sicilian lives an upright life, it‘s described by the phrase camminare latino; leading an exceedingly upright life is camminare latino latino. On scales, the counterweight is still called the romano. All that in order to say how deeply the Sicilian soul was impressed by Roman law. However, if I had to sum up in a few words all that I have said, I would maintain that the Sicilians, despite the invasions, have been on the whole impermeable to foreign domination, and that an authentic Sicilian identity has managed to come down through the centuries. You find it on the level of artistic expression, and it bears the name „realism,“ for art comes alive in Sicily with realism, with Antonello da Messina, then with the verismo of Giovanni Verga. This special attentiveness to the realyou find it even in the latterday „Palermo school“ of photography, with its fulgurations worthy of CartierBresson, and in that great realistic painter Renato Guttuso. Movements, individual personalities, sometimes underrated, especially abroadbut the isolation they suffer from derives from the isolation in which Sicilian society maintains them: amongst us, the artist, the intellectual, the writer have never counted for very much. In an essay on Verga, D. H. Lawrence went so far as to imagine that „there probably wasn‘t a single cultivated person in Sicily, for he would have fled the place long ago.“ The Sicilian intellectuals are so widely dispersed and atomized that one may indeed believe that they don‘t exist. So much for Sicily‘s reasonable and realistic Roman soul: an engrafted superstructure, a codified elaboration. But something must be said about the eternal dialogue between this Roman soul and the Arab soul, by far the more popular and whose traces appear in the fables and tales found among the people, in the stories that have come down to us in dialect. The Arab soul is a wellspring of fantastic, surreal creativity, replete with resurgences of the Thousand and One Nights. Its most concentrated 17 expression is in the character of Giufa, the typical SicilianArabic hero, with his involuntary mischievousness: it‘s always the events that are mischievous, not Giufa himself. This halfwit, socially classified as such, and who, because of his very stupidity finds himself having to face pernicious situations from which in the end he emerges unscathed through want of cunning, does notcontrary to what you might supposebelong to the peasant world. He is instead the typical inhabitant of an oriental city, a stevedore, a porter, one of those fellows always hanging about the edges of marketplaces. Perfectly mindless of the consequences of his actions, he is surrounded by a kind of halo, an aura like the one that envelopes a madman. Here‘s a Giufa episode: weary of being persecuted by flies, and knowing that one must apply to a judge in order to obtain redress, Giufa betakes himself to a noble magistrate, who tells him: „My son, it is very simple. As soon as you see a fly, swat it.“ At that selfsame instant a fly lands daintily on the judge‘s cheek. Giufa‘s reaction is immediate: he springs forward and administers a ringing slap to the imprudent Solomon‘s face. The judge protests. Giufa replies: „But it was you, Signor Judge, who bade me kill them!“ Giufa the innocent has a precise function: to exercise a social vendetta against a representative of authority. He kills the fly and slaps the judge at the same time; absolutely irresponsible, he can‘t be prosecuted; revealer of the ridiculous, he evokes laughter, and with impunity. But his acts are solitary ones. Giufa never participates in a collective beffa, in the organized pranks that are part of the Tuscan tradition. He is always and forever completely alone. Sicilian songs, too, are for solo singers; the tradition of the choral song doesn‘t exist here. Is it the eternal isolation of the islander? The individualistic fatalism that comes to us precisely from our Arab soul? Whatever the reason, our insecurity and fear of tomorrow are such that we ignore the future tense of verbs. We never say, „Tomorrow I will go to the country.“ We say, „Dumani, vaju in compagna“tomorrow I am going to the country. We speak of the future only in the present tense. So when I am questioned about the native pessimism of the Sicilians, I feel like saying, „How can you fail to be pessimistic in a country where the future tense of verbs doesn‘t exist?“ But let‘s come back to solitude. Among us the idea is deeply rooted that in order to be yourself completely, you need to be alone; that solitude is the place where you „recover“ yourself; that other people divide us, splinter us, multiply us (O Pirandello!); that with other people you can‘t be a liVing being, but only a character; and that to earn existence as a liVing being, you need to sneak away to solitude, you need to be a uomo solo, as Pirandello says in One, None, and a Hundred Thousand: „Solitude is never with you,“ he writes; „it is always without you, and possible only in an alien environment: a place or a person of whatever 18 sort, for whom you are a total stranger, so that your will and your feelings remain suspended in an anguishing uncertainty, and every affirmation of yourself haVing ceased, there ceases the very intimacy of your consciousness. True solitude is in a place that lives for itself and, for us, no longer has a voice, and in which the stranger is you.“ There‘s one flaw in all of this. When you‘re alone, you‘re fatally in agreement with the world, and you don‘t even think of transforming it, improving it, or destroying it. You adjust to it such as it is! Some people will see a contradiction between this desire for solitudewith the rejection of commitment it breedsand the Sicilian‘s demand that his rights be respected. What is one to answer other than that the Sicilian is a product of his history? Is it his fault that he‘s never decided anything for himself, that other people have always acted for him, in his stead ... Romans, Byzantines, Piedmontese? The only times the Sicilian has decided things on his own and resigned himself to making history on his own, he‘s been miserably mistaken: thus did the Sicilian Vespers come about, which slammed the door on France only to open it to Spain. If there were hundreds of thousands of reasons to produce those Vespers, and if a true problem of liberty lay at their origin, as Dante said, they nevertheless remain a fundamental error of judgment. In Sicily we‘ve always been invaded and swindled by our conquerors, and when we haven‘t been invaded, it‘s sometimes been even worse. Just recall the fact that Sicily remained untouched by the Napoleonic conquests, which, thanks to the passage of the imperial armies, always left behind some trace of civilizationthe Code Napoleon, for example. Likewise, it was a disaster for us when the Bourbon court took refuge on the island under British protection, the single beneficent result of their presence being to stimulate a local industry, favoring the ascent of the Florio family: in the shipyards, the wine industry, canning, ceramics, etc. They were fragile conquests, however, which the Sicilian nobility hastened to spoil by fixing their eyes on the Florios, marrying the Florios, squandering the Florio revenues. But the coup de grace was delivered by the leaders of Northern industry, who found it intolerable that smalltime parvenus from the South could become great industrialists. And by means of the loans and mortgages of the Commercial Bank, the Northerners devoured the fortunes of the Sicilian bourgeoisie. One must understand that Italian unity was able to come about only thanks to the following tacit pact: the South was to remain agricultural, the supplier of manual labor; only the North had the right to enrich itself and to become industrialized. Anybody who tampered with this equilibrium was to be eliminated; and that is how the GenoaMilanTurin industrial triangle made its financial and economic fortune from the Mezzogiorno. In this respect the story of the Florios is exemplary. Their story is the exact opposite of a tale from Balzac; marrying the offspring of nobility, these bourgeois lost their profits and wrote finis to their entrepreneurial destiny. The Sicilian nobility resembles no other, in either the historical or the sociological sense. In the first place, because it was easy to come by a title under the Bourbons, and even under the Spanish. A writer of the seventeenth century states that to have a title, it was not necessary that „your father have never worked with his hands,“ it sufficed that you were a practitioner of concavalli, that is, that you knew something of horsemanship. It was a modest requirement, you‘ll admit. And one can guess what followed from it: the sole criterion of nobility became inactivity, whether intellectual or manual. Well, starting in the fifteenth century, this rather special nobility begins to abandon its castles, its lands and villages, and moves to the city, in particular to Palermo; and it loses interest in its fiefs, returning there only for vacations, as a reading of The Leopard will confirm. The first great crisis of the Sicilian aristocracy can be traced back to this epoch. And prior to then? About the times before then not a great deal is known; they are spoken of as a golden age, but how much basis is there to the claim? Undoubtedly a city like Palermo has known its moments of splendor, especially from the viewpoint of urban planning, when under the viceregency of the duke of Maqueda the city was split by the two rectilinear arteries that still divide it today; and when a genuine ruling class, made up of the last vestiges of the aristocracy, conferred upon Palermo a „liberty“style physiognomy that derived directly from the European capital where this class had squandered its last resourcesthat is, Paris. Yet I don‘t have the slightest impression that Sicily ever knew any „golden age“ followed by a period of decadence. In our country decadence is not a function of declining economic circumstances, but a permanent fact. It has always existed. All those who have landed on the island have pillaged what there was to pillage: the Romans began by cutting down every tree in sight, then this continued with the Spanish and the Piedmontese. When they called Sicily the „Breadbasket of the Empire,“ they didn‘t mean that it was a rich country, but that it represented an opportunity for systematic pillaging. Why? Because an island in the heart of the Mediterraneanthat sea where for centuries the entire history of the world had taken placecannot be anything else but a land for conquest and devastation. But, irony of fate, this island of a thousand invasions has held apart from the history that makes great peoples and great civilizations: it did not know the iron straitjacket of Napoleonic armies, nor the resistance to fascism like the rest of the Mezzogiorno and especially northern Italy. Here we didn‘t feel Mussolini‘s fall because we had never had a very clear view of his rise to power, and we passed from the Duce‘s administration to Uncle Sam‘s wit- hout any transition whatsoever. Not to have known those moments of transition, and therefore of rupture, was a terrible loss that still affects us today; all we lived through were gelatinous experiences which were hardly incentives to revolt or to revolution. The very particular viscosity of Sicilian history is owing also to the fact that we here have always placed our hopes in changes coming from outside and from above: every time a viceroy left Palermo, they danced for joy in every quarter of the city, because people believed that the next ruler would be better than his predecessor and that now things would really change. Nobody, however, thought of overturning the institution itself; the populace was educated to this idea of change descending from on high. Of all the dominations that have come to us from abroad during the modern epoch, the one that best corresponded to Sicilian mentality was the Spanish domination. It was imposed, of course, but it suited us so well from an esthetic point of view! With their love for splendor, for richness and for festivity, with their fondness for wastefulness and for ostentatious expense, their leaning toward the grandiose and toward pomp, the Spanish put us at ease: we loved showiness even more than they did. Indeed, the term spagnolesco more befits Sicilians than Spaniards. Just one false note, if I may put it that way, in this SicilianSpanish connivence: in this festival the Spanish participated as masters, while the Sicilians enjoyed it as slaves. In the grandiloquent hospitality that characterizes us, one can also discern the desire to show ourselves such as we are not, to elevate ourselves to the level of interlocutor or host, to present the best possible image of ourselves, even were it very far from the truth. This has nothing to do with generosity, which is gratuitous and does not seek to counterfeit appearances. Rather, it‘s a matter of amour propre, or, as La Rochefoucauld said, of selflove. „Whatever the finds that have been made upon the lands of amour propre, there yet remain numerous unknown regions to discover.“ La Rochefoucauld was talking about other forms and other manifestations of amour propre, of course; yet his use of the term „regions“ seems to me highly suggestive: might not Sicily be one of them? Among us an amour propre that is inseparable from our passion for „having“the love we have for roba, meaning „stuff,“ as Giovanni Verga used to say. This roba, which can be land, a house, crockery, linens, livestock, provisions, seems only accidentally the source of some profit; one doesn‘t use it, one leaves it behind when one dies; it is bound up with feelings one nourishes for one‘s family, with one‘s apprehensions regarding the family‘s future and about the presence of death. The wealthier we grow, the greater grows the quantity of goods we‘ll leave when we die, and the greater and more amplified that death becomes. The rhythm of accumulation as rhythm of death ... Brancati, too, dwelt upon this apprehension about the future, this feeling of insecu19 rity Sicilians have. An historic insecurity that invests affections and material belongings to an obsessive degree. Among us it‘s the ordinary thing for an everyday matter of a shared wall between two pieces of property, or of a right of way, to pass out of the hands of the landregistry expert into those of a ballistics expertnot because of low greed but out of an as it were preventive apprehensiveness. The land under the sun is never secure, misfortunes, or the neighbors, can gnaw it away, better therefore to protect it ahead of time, in the same way it is better to protect the family members by keeping them close under one‘s wing. What can actually happen to the person who leaves the house, even temporarily? Well, such persons can be robbed, raped, brutalized; they can lose their honor, even their lives. The Sicilian experiences the entire gamut of these feelings under the obsessive colors of apprehension. But let‘s return to Spain and its influence on Sicily, which seems to me notable, even if we know almost nothing about the relationship between Spanish culture and Sicilian culture. You sense that the literate Sicilian was bilingual, that he knew Spanish as well as Sicilian. In Cervantes, who lived in Messina, we can find hints of Sicily; we are forever noting the spanish expressions that linger on in our speech; along with Americo Castro we do not hesitate to see in Don Quixote the matrix of the Pirandellian game the author plays with his character. However on the cultural plane we know nothing of any great weight. No one in Spain seems to have been interested in the reality of the Sicilian land. When Europeans begin to travel, the Germans, the English, and the French show up here; not, however, the Spanish. They have no interest in us at all. They seem to have felt greater fondness for any given region of South America than for the island of Sicily that was once actually theirs. I never stop asking myself the reason for this ignorance on the part of the Spanish, and, more generally, about the singular destiny of my land which seems to evade history even when it is being raped by that very history. I think of these lines by Giuseppe Tomasi, prince of Lampedusa, in The Leopardlines that point, assuredly, in a conservative direction, but with which I would tend to agree: „ ‚Do you really think, Chevalley,‘ „ says Don Fabrizio, „ ‚that you‘re the first to try to channel Sicily into the flow of universal history? Who knows how many Muslim imams, how many of King Roger‘s knights, how many Swab ian scribes, how many Angevin barons, how many of His Most Catholic Majesty‘s jurists have envisioned that same noble lunacy? And how many Spanish viceroys, those reformminded functionaries of Charles III? And who now knows what became of them? Sicily has preferred to sleep in spite of their innovations.‘ „ It‘s true, reforms generally lead to nothing here. In these conditions I do not believe that a very great future lies ahead for Sicily. Paradoxically, you could say that 20 only an enormous energy crisis could bring something new to Sicily, spurring a massive return to the land, an economic system oriented less toward industry and more toward agriculture, a renewed interest in producing instead of consuming. Sicily‘s problems are those of Italy, and I don‘t think it‘s possible to resolve them unless the ensemble of Italian problems are resolved at the same time. Unfortunately, it looks to me as though Italy has never been so antiSouth as it is today, it thinks of nothing but manufacturing cars and building highway to drive those cars on; so now we have the MessinaCatania autostrada. Superb. And desertedbecause it was costly to build, and pointless. If Italy does not exert itself to calm the anxieties of the Mezzogiorno, it will continue to „pump“ a little more of the South up towards the North every day and to contaminate itself, it will absorb a little more Southern mentality, it will progressively „Sicilianize“ itself. And so it is indeed that „the palmtree line“ mounts a few centimeters every year, inexorably, from the Straits of Messina towards the border with Austria. Among the other great myths that the Sicilian mind has been or is yet stocked with is the myth of France. For the popular masses, France first represented a negative myth, arising from the episode of the Sicilian Vespers and continuing through the eighteenth century: one employed the word France to signify hunger, an allusion to the French of Charles of Anjou, who contented themselves with allowing Sicily to starve to death. For the aristocratic or cultivated classes, however, Franceprobably beginning around the seventeenth century, when the French polemic with Spain deepened, France began to represent a positive myth. It‘s during the epoch of the Enlightenment that you see literary men taking the French Rationalists as their model. If you consult the customs and police records, you‘ll notice that the importation of French books is astonishing: Rousseau, Voltaire, I‘Encyclopedie, Montesquieu (the favorite of the aristocrats). Stendhal would later say that French books sold poorly in Italy, except for Sicily, where every worthwhile book sold at least a hundred copies. Then, after the 1820 riots, this relationship with France became more stable and concrete, also because numerous Sicilians sought refuge as exiles in Paris. Such was the importance of the French myth that the first true Sicilian narrator, when he wrote his first book, chose to write it in French: Michele Palmieri de Miccicche, author of twO volumes of memoirs that were printed in Paris and earned praise from Stendhal and Alexandre Dumas. Let us not forget, incidentally, that numerous Stendhalian episodes come straight out of Palmieri! There were other writers, too, who wrote directly in French, among them Baron Aceto, the author in 1812 of a history of Sicily, and the Canon Gambini, who left the island during the Napoleonic period and was one of the translators of the Code into Italian. Finally, there is one basic work of romantic historiographyand one of the most alive, at least where it evokes Sicilian historywhich would never have existed if the author, forced into exile, hadn‘t been able to avail himself of all the materials the Parisian libraries could provide. I refer to Michele Amari‘s Histoire des Musulmans de Sicile. Here in Palermo, unfortunately, there is not a document to be found on the Arab period in Sicily. This tradition continues Withfor exampleEmanuele Navarro della Miraglia, who left for Paris after 1860. He, too, wrote a book in French, called Ces messieurs et ces dames, and he unfailingly kept his Sicilian friends apprised of the French literary movements and writers of the period. Navarro probably established the connection between French naturalism and the three Sicilian writers who identified themselves with it: Capuana, Verga, and De Roberto. It is certain that they worked together a great deal. Capuana and De Roberto subsequently turned out to be extremely wellinformed and acute critics of French literature. They say that Navarro was one of George Sand‘s last friends, which set a lot of tongues wagging in Sicily, but I‘ve never been able to find any trace of this story, not even in the Goncourts‘ Journal. Upon his Parisian sojourn Navarro wrote a book entitled Macchiette parigine (Parisian Sketches), done in a very lively style; it includes subtle assessments of Stendhal (in those days very little read outside of France) and of the majority of the epoch‘s writers. In this list of Francophile men of letters we musn‘t neglect Nino Savarese, a Catholic writer animated by a great passion for Voltaire; Antonio Bruno, who translated the French Symbolists into Italian; and Luca Pignato and Vann‘Anto (Giovanni Antonio di Giacomo), who, thanks to his translations, introduced Mallarme into Italy. For my part I retain a marvelous memory of Luca Pignato, a professor of philosophy in Caltanissetta and a discerning connoisseur of French literature, who had us read works of which few persons had got wind. Thanks to him, we who are now close to sixty were exposed to Mallarme‘s L ‚Apresmidi d‘un faune, Joyce‘s Ulysses in Valery Larbaud‘s translation, and all the Parnassians. Among Pignato‘s students were Giuseppe Alesi, today the editor of the Enciclopedia italiana. And Pompeo Colajanni, the famous communist senator and former partisan commander in Piedmont. Caltanisetta, in those years between 1935 and 1940, was a little Athensif only because in that period of what Benedetto Croce called onagrocraziameaning the rule of donkeysa young person like myself could encounter there such teachers as Luca Pignato, the Protestant poet Calogero Bonavia, Father Lamantia, Aurelio Navarria, the specialist in Verga, and Vitaliano Brancati. Literally raised on French literature, devoted to Chateaubrand and Stendhal (and, I might add, if in 1935, the year that Stendhal had prophesized he would be read, it was easy to fall in love with the author of The Charterhouse of Parma, this hardly applied to Chateaubriand), Brancati represents the summit of the proFrench tradition in Sicily. For my own part I was rather late to come to Chateaubriand, sollicited by Brancati‘s anthology, and more recently by Maurice Nadeau, who told me that I had the look of a reader of Chateaubriand. I consider him an author who is still to be discovered and admired: those pages that have to do with Waterlooone of the most wonderful confessions a man can make. Chateaubriand tells how he finds himself praying for Napoleon even as he stands in the other camp. I envy him his pitiless way of speaking about himself, that secret he possesses for recognizing that he has led the wrong life. Chateaubriand is an expression of the French soul par excellence; it would be difficult, it seems to me, to be more French than he was, with his continual hovering between monarchy of divine right and the Bonapartist adventure. On the whole, I think that the relationships between Sicilian culture and French literature (and, more generally, the French world) have been insufficiently examined. Let‘s take the case of Brancati himself: who has ever thought to study the resemblances between Brancati‘s Bell‘ Antonio and Stendhal‘s Armance? Anyway, just as a Frenchoriented Sicilian literature was developing during the late eighteenth century, a new myth was taking hold on the islandthe myth of an erotic France, not only mother to the arts, to arms, and to lawwhat one has always expected of France, but mistress of those sexual relationships called free ones, freed of all restraints. The Sicilian aristocracy threw away the last of its fortunes on the myth of erotic Paris, sending its offspring to the capital to experience that impossible liberty which they had pursued in vain on the island. To live in elegance, in the fountainhead of fashion and fashionsFrancophile snobbishness was such that for a certain number of years a magazine was published in French called La Sicile illustrée, a stylish cultural weekly that disappeared with the First World War. From my childhood I had always heard France spoken of as a refined, erotic country, full of elegant things and wonderfully beautiful products. Later on, the literary myth of France was superimposed on these memories. The first French writer I happened upon was Diderot, whose Paradoxe du comedien had been brought out in an inexpensive series by Sonzogno. I read this book without possessing any great knowledge of the world of the theater and actors. What fascinated me was something else entirely: the way it was written, the intelligence of its form, the vivacity of its style, the author‘s angle of attack. What was my second French book? PaulLouis Courier‘s Pamphlets. Then Les Misérables. An extraordinary experience for me. I consider that the meager amount of Christianity I was able to discover (and retain) in my life is owing more to Les Misérables than to the Church in all its pomps and its works. I would even venture to add that anybody who has missed the 21 importance of Les Misérables in the forming of the individual and collective conscience of two or three generations can understand nothing about Europe. These days I spend more time rereading than reading, and I reread Diderot. Which reminds me of one of the very odd commentaries a book of mine gave rise to: „Without a doubt Sciascia will someday end up looking like Diderot,“ that literary critic wrote rather scornfully. He never realized that this was the supreme compliment he had paid to a man who idolizes Diderot. Diderot: there is a writer whose greatness only grows and who deserves to be more widely admired, even in France, where he isn‘t yet fully appreciated. Moreover, anticipating this incomprehension, Diderot himself announced (in his letter „to later generations“) that he would be understood in due course. In my view he‘ll end up being more important than Voltaire, for over and above his formal qualities he was able to distinguish what today they call „material culture“ and to describe it with precision. I do not dare even to speak of L ‚Encyclopédie, that prodigy of human intelligence, that projection of the most grandiose of wills to knowledge! On the other hand, I believe that Voltaire reposes right on the lineif such a thing existswhere writers aim at finishing. He‘s the very example of literary professionalism, a model writer. Clear, swift, concise, precise, intelligent, economical, ironic: that‘s Voltaire, everything that, for me, represents the key to writing and true craft. And who‘s the exact opposite of JeanJacques Rousseau. I speak of Rousseau because you can‘t speak of Voltaire without mentioning his worst enemy. Actually, Rousseau interests me very little. From the time I first read Emile, at the age of fourteen, it struck me as the book of someone who knows nothing about human nature. And when it comes to confessions, I‘ll take Saint Augustine‘s. Indeed it was not until much later on that I understood the reasons why I felt nothing if not hatred for JeanJacques Rousseau: that fondness he had for „isms,“ those murderous „isms“ that freight his work; his socalled discovery of the „general interest“! Whereas democracy is the expression of an arithmetical will, that of the more numerous, of the majority, Rousseau believed he had discovered a „general will“ which doesn‘t coincide with the law of the greater number, which can be the apanage of a few or of some while claiming to be the rightful interpreter of the will of all. In proclaiming that a part can take the place of the whole, in talking about the general will, Rousseau is at the source of the principal evils of our time. From Rousseau to the French Revolution: it should surprise nobody that the „Hermit of Geneva“ inspires me to talk about 1789. I did not learn about the French Revolution through books. They made fleeting references to it in school, of course, mostly to emphasize that the Revolution had given birth to Napoleon. No, my first inkling of the Revolution came from bar22 bers‘ calendars and pictures painted on carts: in other words, for me its initial allure was purely esthetic. The cartpainters loved to depict Danton and Camille Desmoulins. Why was that? Because these painters copied the calendars, and the calendars, the precursors of modern comic strips, showed a marked preference for the sentimental histories of the heroes they portrayed. Thus Desmoulins and Danton, who had lived somewhat tumultuous sentimental lives, lent themselves wonderfully to these illustrated narratives. Thenand I am still talking about my childhoodI came across a popular novel entitled Il Fabbro del convento, a translation of Ponson du Terrail‘s Ie Forgeron du convent. Thus, my earliest notions of the French Revolution were totally novelistic and, what is more, based upon an abusive conception of revolutionaries, who were systematically presented as the bad guys. Not until I got to some other popular novels written by William Galt (a pseudonym of the Sicilian Luigi Natoli) did the Revolution appear to me in its true dimension, in its real nature. Thanks to Galt, I grasped its bearings upon Sicilian history, and from his Beati Paoli I borrowed the lawyer Francesco Paolo de Blasi, one of the heroes in my The Council of Egypt. Today I‘m inclined to think that the French Revolution was the single great revolutionary event to have occurred in the whole world. But I have strayed from my subject, which was the Sicilian‘s mentality. My point of departure was Cicero, who devoted a certain number of pages to the liking for controversy and for sophistry which he judged typically Sicilian, and I was wondering whether, essentially, there did not indeed exist a nature that was eternally Sicilian. But at the same time I am also convinced that a particular nature alone cannot serve to explain everything, and that one must have recourse to historic mechanisms. Thus the Sicilian‘s juridical passion must have been formed over the course of centuries, because he must have been obliged to reckon with a quantity of laws, with a quantity of elements from which privileges flowed. Sicily had become the land where special jurisdictions, or privileged courts, were most numerous. For example: the Monarchical Tribunal, to which any citizen involved in a dispute with the Roman Curia could turn whenever the issue had to do with articles of faith. Then there was the privileged court of the Inquisition: all the employees of the Inquisition, as well as their familiesthat is, all of this organization‘s „lay“ agents, who numbered in the thousands in Sicilyenjoyed the privilege of being judged by the Inquisition itself, even if they had committed crimes under common law. Another special forum: the one known as „vicarial.“ In each community there was a vicarial court with its appropriate police, which judged crimes such as profanity, the nonobservance of fasts, and certain sexual transgressions (not all: adultery and homosexuality came within the purview of normal tribunals) such as the consummation of an amorous relationship with a woman during a period in which the Church advocated abstinence. And then there were the special forums for certain chivalric orders. The conflicts among these often antagonistic jurisdictions were unending. I may add that when the State tried to inject a little bit of order into the usurpations of public property, by for example claiming a prior right to certain domains, the average Sicilian found himself at sea. No wonder, then, that this mess produced a world of disputes, lawsuits, and polychrome jurisprudences, that the Sicilian became an expert on laws and rights of all sorts, and that there emerged a class of battlehardened jurists, one of whose principal functions was to spread an essentially juridical culture everywhere, even among the‘ poorer classes. At work underneath all that there may have been the aspiration to a true, not formalist, justice; an aspiration of which the Mafia, in the final analysis, would merely be one of the expressions. If it‘s true that function creates the organ, let us say that this continual jurisprudential toandfro, which has kept the Sicilian immersed in a perpetual codified contest, has created in him a peculiar intelligence that I would define as „formal“, an intelligence apt at grasping the weak points in an opposing argument and turning them to his advantagehis formal or material advantage. The form of discourse that distinguishes Pirandello‘s characters can also be seen as juridical or casuistical: Pirandello describes how feelings are sometimes got hold of by the mind, becoming purely cerebral. According to him, every kind of passion, whether it be for a woman or for an object, expresses itself at some point in terms of rights or in a purely procedural form. Following this line of thought, I would say that almost every „crime of honor“ falls into the sphere of patrimonial rights. (These crimes have diminished today thanks to the law on divorce and the growing prevalence of marriage contracts based on the separation of property.) In 1946 I attended two trials. At them the specific charge was „violation of the laws governing food control.“ Back then there were particularly rigorous laws concerning the harvesting of grain. Farmers were required to deliver their harvests over to statecontrolled warehouses, keeping for their own personal use the equivalent of oneandahalf quintals of wheat for each family member. Naturally the peasants held on to more than that, and whenever the police found out arrest was immediate, as was prosecution. At the time I was employed by the state granary, and it was in that capacity that I was obliged to participate in the two trials. One trial concerned a peasant in whose house two or three extra quintals of grain had been found; the other, an archpriest who had managed to squirrel away fifteen quintals. The proceedings before the Agrigento tribunal were very swift. The peasant was condemned to two years in jail. The archpriest was absolved, because his lawyer managed to explain that there was nothing criminal in the act of setting wheat aside in order to distribute it later as alms to the poor and unfortunate, to the people who are in hospitals, for example. This first contact with the administration of justice was decisive for me. The absolving of the archpriest convinced me that in truth justice did not exist, and that in any event the day of privileged forums in Sicily had not yet come to an end. 23 Sizilien, Dominique Fernandez Merian, Sizilien, 4/2004 – Hamburg : Jahreszeiten-Verlag, 2007 Als ich das erste Mal in Sizilien war, suchte ich, wie die meisten Reisenden, nach den Spuren der griechischen Kultur. Segest, Selinunt, Agrigent, Syrakus, das Theater von Taormina, die verlassenen Ruinen von Solunt: wer hätte nie von diesen magischen Orten geträumt? Kreuz und quer über die Insel fahren heisst, die Schuld begleichen, die jeder Abendländer bei der Heimat des Archimedes und des Empedokles hat. Ich wurde nicht enttäuscht: In ganz Griechenland steht kein Tempel, der so gut erhalten wäre wie der in Segest, gibt es keinen so grossartigen Komplex von Heiligtümern wie auf dem Hügel von Agrigent. Noch besser wäre gewesen, Sizilien auf dem Seeweg zu erreichen, wie in der Antike. Das Portal zwischen den dorischen Säulen des Athene-Tempels von Syrakus ist verschwunden: Einst sahen die Seefahrer schon aus der Ferne den Schild der Göttin am Giebel golden funkeln, und wenn sie wieder fortsegelten, blieben ihre Blicke an dem Viereck hängen, bis sein letzter Glanz erloschen war. Dann gossen sie als Opfergaben Honig und Weihrauch in die Fluten, um ihre Reise vor Gefahren zu schützen. Doch den Mythen, die wir aus unseren Schulbüchern kennen, entspricht eine noch heute lebendige Wirklichkeit. In Griechenland kann man nur in aller Stille die Überreste einer für immer toten Kultur bewundern; in Sizilien aber ist es, als wäre noch gegenwärtig, was man von den Alten erzählt. Wenn die Bauern an den Hängen des Ätna Rauchsäulen aus den Schluchten des schwarzen Gesteins aufsteigen sehen - wie sollten sie dann nicht dazu neigen zu glauben, dass Hephaistos persönlich im Inneren des Berges noch seine Schmiedeherde brennen hat? Alle zeitgenössischen Dramen in Sizilien haben ein griechisches Muster: Scylla und Charybdis, die beiden Dörfer, die sich am Eingang der Meerenge an die Felsen klammern, führen auch heute noch den Vorsitz bei Schiffbrüchen, wenn es die Götter so wollen. Noch besser: wenn die Rede auf Sizilien kommt, spricht man fast unweigerlich von Gewaltsamkeiten, Entführungen; und hat sich nicht der erste Menschenraub, der mythologische Menschenraub par excellence, vor Tausenden von Jahren in Sizilien zugetragen? War es nicht in der Gegend von Enna, dass der Gott Hades, von der Anmut des Mädchens bezaubert, sich auf Persephone stürzte und sie in die Unterwelt verschleppte? Die Inhalte der griechischen Legenden sind, wie sie waren, in die Welt des christlichen Glaubens eingegangen. In der Kirche Porto Salvo in Palermo wird jedes Jahr neun Tage lang eine Statue der Jungfrau Maria ausgestellt, zur Erinnerung an denselben Zeitraum, den Demeter, Persephones Mutter, auf der Suche nach ihrer Tochter unter der Erde zubrachte. Und als ich zum rituellen Traubenfest im September in Taormina war, sah ich zu meiner Überraschung einen Festzug, der in allem den Prozessionen auf antiken Reliefs ähnelte. Aus dem Sizilien des 20. Jahrhunderts wurde ich übergangslos unter Bacchantinnen versetzt, denen der Saft der Trauben die Lippen purpurn färbte. Auch die katholische Religion liefert den Sizilianern Modelle für die Schicksalsschläge im täglichen Leben. Wie viele junge Männer mussten, Opfer der Mafia oder einer Abrechnung in einer «Ehrensache» zwischen zwei Familien, an einsamen Wegkreuzungen ihr Leben lassen! Aber anstatt wie gewöhnliche Verstorbene beerdigt zu werden, wurden sie von ihren Müttern in Zeremonien beweint, die Marias Wehklagen nach dem Tod Christi ähneln. Die Parallelen zwischen Vergangenheit und Gegenwart erinnern uns aber auch daran, dass das, was vor unseren Augen geschieht, nicht weniger interessant ist als die Ereignisse vor zweitausend Jahren. In Syrakus hatte der Tyrann Dionysios im vierten Jahrhundert vor Christus ein grausames Polizeiwesen eingeführt: Die Legende berichtet, seine Untertanen verkehrten untereinander nur mit Zeichen und Gesten, um die Spione hinters Licht zu führen. Auch hier lässt sich ein Wesenszug der Sizilianer durch einen Bezug zur Antike adeln: Sie sind nämlich das schweigsamste Volk der Welt. Kein Lied auf den Balkonen von Palermo. Ein schlichtes Brauenrunzeln, im Cafe, zwei Finger gegen die Wange, dienen als Sprache. Aber wenn sich Dionysios auch unbeliebt gemacht hat - man braucht nicht bis zu seiner Diktatur zurückzugehen, um sich das Schweigen, das Misstrauen und den Argwohn der Inselbewohner zu erklären. Denn nach der griechischen Kolonisation war die Insel unzähligen Fremdherrschaften unterworfen. Karthager, Römer, Araber, Franzosen, Spanier bemächtigten sich ihrer nacheinander; die letzten waren die Piemontesen, die unter dem Vorwand der Einigung Italiens ein Territorium annektierten, das sie zu ihrer wirtschaftlichen Expansion brauchten. Eine lange Geschichte der Unterdrückung und Trauer. Und dann ist da noch die höchste Tyrannei, die der Fürst Salina in Tomasi di Lampedusas «Leopard» verflucht: die Tyrannei der Sonne. Ja, die Sonne, an der ich ahnungsloser Tourist mich leichtsinnig freute, liegt wie eine bleierne Kappe sechs Monate im Jahr über der Insel, lässt die Saaten verdorren, trocknet die Flüsse aus, lähmt das Leben, ein Symbol nicht der Freude, sondern des Todes. Auch das Meer, in dem mich meine sizilianischen Freunde staunend genussvoll baden sahen, ist im kollektiven Gedächtnis dieses Volkes nur mit plündernden Seeräubern verbunden, oder mit der Malaria, die in den Küstengegenden noch nach dem Zweiten Weltkrieg wütete. Ein Land der Tragödie also. In Syrakus führte Aischylos seine «Perser» auf, bevor er von einer Schildkröte getötet wurde, die ihm ein Adler auf den Kopf fallen liess. Am Krater des Ätna dachte ich an den Philoso25 phen Empedokles, den der Vulkan verschlang, weil er einen Ausbruch aus allzu grosser Nähe beobachten wollte. Neben diesen berühmten Geschichten gibt es andere, die uns vielleicht mehr beeindrucken: die Geschichte vom unfruchtbaren Baum zum Beispiel. Wenn er beharrlich jahrelang keine Früchte trägt, macht sein Besitzer sich daran, ihn am Karsamstag zu fällen. Aber nicht ohne einen Freund mitzunehmen, der die Aufgabe hat, für den Baum Fürsprache einzulegen und eine Aufschiebung des Urteils um ein Jahr zu verlangen. Es sei selten, so erzählten mir mehrere Bauern, dass sich der Schuldige nicht freikaufe und eine doppelt reiche Ernte liefere. Der Ritus ist voll Zauber und Poesie und enthält eine Waffe, die von den Sizilianern eingesetzt wird, um gegen das Schicksal zu kämpfen: den Humor. Der grosse Meister darin war bekanntlich Pirandello, aus Agrigent gebürtig, der Stadt, die mehr als die anderen die Launen der Geschichte aushalten musste, schon in ihrem Namen: Unter den Griechen hiess es Akragas, unter den Arabern Kerkent, Girgenti unter den Normannen, Agrigento seit Mussolini. «Wer bin ich? Was ist meine wahre Identität?», fragen sich Pirandellos Gestalten. Diese existentielle Komödie spielen die Sizilianer noch heute in der Wirklichkeit. Vitaliano Brancati, ein begabter Romancier und der Verfasser des köstlichen «Bell‘ Antonio», beschrieb die jungen Bürgersöhne von Catania, die während des rituellen Abendspaziergangs immer wieder die lange Strasse auf und ab gehen, die die Stadt in zwei Teile teilt - so langsam wie möglich, um Zeit zu haben, sich selbst zu verstehen, sich in Besitz zu nehmen. Eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen in der Bar besteht darin, untereinander zu wetteifern, wer die ohnehin winzige Tasse Kaffee als letzter austrinkt: noch ein Wettbewerb in Langsamkeit; es wäre jedoch ein Fehler, in dieser Gewohnheit einen Auswuchs der Tatenlosigkeit und des Müssiggangs zu sehen. Nein, diese jungen Leute suchen Beweise für ihre Existenz und hoffen, sie in den belanglosesten Gebärden zu finden. Im allgemeinen ist für die Menschen die Liebe die Gelegenheit, bei der sie sich selbst entdecken und ihre Identität behaupten; doch nicht für die Sizilianer. Brancati zitiert den Fall eines Junggesellen, der sich eine Geliebte zulegen wollte. Er findet auch eine; aber, O weh, die Frau ist nur nachmittags zwischen zwei und vier Uhr frei, während er diese Zeit dem Schlaf zu widmen pflegt. Er muss auf die Liebe verzichten. Viele Sizilianer, sagt Brancati, lassen auf der Erde keine andere Spur zurück als die auf dem häuslichen Diwan, wo sie ihre lange Mittagsruhe halten. Sollte diese Vertiefung der berühmte Existenzbeweis sein, nach dem sie vergeblich ihr ganzes Leben lang suchen? Ausser mit Humor antworten die Inselbewohner auf ihr chronisches Unglück auch noch mit dem Gefallen an bizarren Formen, an leuchtenden Farben, an der Explosion der Phantasie. Die Sizilienreisenden, die ein26 zig und allein von den griechischen Ruinen und den römischen oder byzantinischen Mosaiken angezogen werden, gehen an Schätzen von noch grösserem Wert vorbei; an Schätzen, die Ausdruck eines diesmal wirklich typisch sizilianischen Wesenszuges sind. Pracht und Überfluss der Märkte, Pyramiden aus Obst und Gemüse, buntbemalte Fuhrwerke, mit Federbüschen geschmückte Maultiere, Marionetten mit funkelnden Panzern - diesem Volk ist der Sinn für das Schöne und Prunkvolle angeboren. Durch die Strassen zu schlendern ist die beste Einweihung in die wahren Reichtümer Siziliens. Eine Art spontaner Barock weckt die Lust, den anderen Barock kennenzulernen, den von den Gebildeten geschaffenen. Dass der eine direkte Antwort auf die Tragödien der Insel ist, dafür haben wir einen sicheren Beweis: 1693 verwüstete ein Erdbeben die ganze Ostküste (ja, den Übeln der Geschichte sind die Grausamkeiten der Natur hinzuzufügen). Beinahe vollkommen zerstört Messina, Catania, Syrakus. Dem Erdboden gleichgemacht Noto, so dass die Überlebenden beschlossen, den Ort zu verlassen und ihre Stadt ein wenig weiter neu aufzubauen. Hier finden wir heute den schönsten sizilianischen Barock, danach in Syrakus, in Modica, Ragusa, Scicli und auch in Catania, der schwarzen Stadt, die im ersten Moment hässlich scheint. Und dann auch in Palermo, der Hauptstadt nicht einer Provinz, sondern einer echten Nation. Dreihundert Minarette ragten aus dem arabischen Palermo in den Himmel; in keiner anderen Epoche hatte die Stadt einen ähnlichen Wohlstand. Das ganze Abendland verdankt der muslimischen Herrschaft in Sizilien viel: Zucker, Teppiche, Seide, Baumwolle, die Orange und die Zitrone, der Pfirsich und der Granatapfelbaum wurden vom neunten Jahrhundert an aus Afrika nach Palermo importiert. Einige Zutaten, denkt man überrascht, die später zu den einheimischen Süssigkeiten und zum barocken Dekor gehören werden. Schöpferische Phantasie, Gefallen an Festen, Eloquenz des Gesteins war das nicht alles nötig für ein Volk, das durch die lange Folge der Invasionen dazu neigte, ununterbrochen an sich selbst zu zweifeln, und das von Naturkatastrophen dazu getrieben wurde, unaufhörlich nach Mitteln der Betäubung zu suchen? Doch das wechselhafte Schicksal hat die Sizilianer auch unterhaltsam, ungläubig, ironisch gemacht, das heisst mit all den Eigenschaften gesegnet, die Völkern mit einer ruhigeren Geschichte abgehen, da sie durch die Gewöhnung an Wohlstand und Sicherheit längst bürgerlich geworden sind. Wie ein Palimpsest, wo sich unter dem zuletzt geschriebenen Text die vorher getilgten Schriften befinden, enthüllt Sizilien nach und nach denen, die es lieben, seine Geheimnisse: zuerst die griechische Weisheit auf den Giebeln der Tempel; dann hinter dieser schönen, doch allzu weit entfernten Philosophie die Quellen einer Lebenskunst, die unter Mühen erworben wurde. Auf jeden Fall ist dieses Land mit seiner Last an Jahren und Geschichte von erstaunlicher Vitalität. Der goldene Schild am Tempel von Syrakus funkelt nicht mehr; die Flüsse sind ausgetrocknet, die Wälder verschwunden; aber von diesem bergreichen Dreieck, wo sich Europa, Afrika und der Orient kreuzen, strahlen immer noch die Lichter vieler Kulturen aus. Vier oder fünf stechen durch aussergewöhnlichen Glanz hervor: die griechische, die arabische, die normannische, die staufische, die bourbonische. Keine hat die vorhergehende ausgelöscht. Der Athene-Tempel in Syrakus wurde zu einer barocken Kathedrale, die, ihren Mauern einverleibt, die Säulen des alten Heiligtums vor dem Verfall bewahrt hat. Ähnlich erging es dem Concordiatempel in Agrigent, der ebenfalls vor der Zerstörung gerettet wurde: Gegen Ende des sechsten Jahrhunderts wurde er in eine christliche Kirche verwandelt. Eine barocke Fassade vervollständigte die normannische Kirche della Martorana in Palermo, die ihrerseits auf dem Grundriss einer arabischen Moschee erbaut worden war. Die Kirche San Giovanni degli Eremiti, ebenfalls in Palermo, ist die geniale Anpassung eines muslimischen Denkmals. Jede Epoche bediente sich der stilistischen Eroberungen der vorhergehenden, ohne sie zu verleugnen. Man stelle sich vor, dass es im Fall von San Giovanni degli Eremiti ausgerechnet arabische Baumeister waren, die das Gebäude für die normannischen Könige umbauten. Später war es vor allem der Staufer Friedrich H., deutscher Kaiser und christlicher Herrscher, der das islamische Erbe hochschätzte. Die verschiedenen Kulturen verfielen und verschwanden, eine nach der anderen, und sind trotzdem noch gegenwärtig. Jede Dämmerung hat ihre Goldspuren hinterlassen. Dominique Fernandez, 1929 geboren, lebt abwechselnd in Paris und in seinem Ferienhaus auf Sizilien. Von der Insel handelt u. a. sein Roman «Le Radeau de la Gorgone» (Grasset). 27 Sizilien Karte von 1545, in „Cosmographia“ von Sebastian Münster Sizilien Luftbild vom 24. 11. 2006 Zeittafel Sizilien: Insel zwischen Orient und Okzident/ Birgit Carnabuci. – Köln: DuMont Buchverlag, 1992 Vor- und Frühgeschichte 35000-5000 v. Chr. 50003000 v. Chr. 3000- 2000 v. Chr. 2000- 1000 v. Chr. 1000-750 v. Chr. spätes Paläolithikum (Altsteinzeit): nichtseßhafte Sammler- und Jägerkulturen; Felsmalereien und Graffiti in den Grotten am Monte Pellegrino und auf Levanzo Neolithikum ( Jungsteinzeit): Seßhaftigkeit, Acker bau und Viehzucht; Stentinello-Kultur, erste bemalte ungebrannte Keramik Kupferzeit: erste Metallverarbeitung; u a. »Conca d‘Oro«-Kultur. Kulturen von Malpasso und Serra rerlicchio Bronzezeit: dörfliche Ansiedlungen, Arbeitsteilung; u. a. Castelluccio-. Capo Graziano-, Thapsos-, Milazzese-, Pantalica-Kultur phönizische Handelsstützpunkte, Gründung von Motye und Panormos Griechen ab 750 v. Chr. 570-550 v. Chr. 570-470 v. Chr. 480 v. Chr. 470-405 v. Chr. 415-413 v. Chr. 409-405 v. Chr. 405-367 v. Chr. 367-344 v. Chr. 344-337 v. Chr. 337-316 v. Chr. 30 316-289 v. Chr. 312-306 v. Chr. griechische Kolonisation und erste Stadtgründungen erste kriegerische Konflikte zwischen Phöniziern und Griechen; ab 550 v Chr. geraten die phönizischen Siedlungen und Niederlassungen unter karthagischen Einfluß archaische Epoche: Aufblühen der griechischen Städte, erste große Tempelbauten in Selinunt und Syrakus; Tyrannenzeit Erster großer Karthagerkrieg: Sieg der Griechen über die karthagisch-phönizischen Truppen in der Schlacht bei Himera klassische Epoche: Vertreibung der Tyrannen und Entstehung von Demokratie in den meisten Städten; Blütezeit der griechischen Kunst und Kultur Sizilische Expedition Athens im Verlauf des Peloponnesischen Krieges, Vernichtung des athenischen Heeres und der Flotte vor Syrakus; Niederlage Athens 404 v. Chr. Zweiter großer Karthagerkrieg: Zerstörung von Selinunt und Himera (409/8 v. Chr.), Belagerung und Plünderung von Akragas (406 v. Chr.), Belagerung von Syrakus (405 v. Chr.) Dionysios 1. Tyrann in Syrakus: Zurückdrängung der Karthager auf den Westteil Siziliens; blutige Militärherrschaft Revolten, Bürgerkriege und Gewaltherrschaft; weite Landstriche Siziliens werden entvölkert Korinth sendet Timoleon an der Spitze einer Flotte nach Sizilien, um die Ordnung wiederherzustellen; Vertreibung der Tyrannen, Frieden mit Karthago, Demokratie in Syrakus erneut Bürgerkriege und Anarchie auf Sizilien; Entstehung des Alexanderreiches in Griechenland, Asien und Ägypten (Tod Alexanders des Großen 329 v. Chr.) Despotie des Agathokles in Syrakus Krieg zwischen Karthago und Syrakus 289 v. Chr. Tod des Agathokles. Anarchie auf Sizilien Römer 274-215 v. Chr. 264-241 v. Chr. ab 227 v. Chr. 218-201 v. Chr. 135-101 v. Chr. 7 3-71 v. Chr. 27 v. Chr. 27 v. Chr.-200 n. Chr. 222-283 um 260 Königreich Hierons II. in Syrakus und Ostsizilien, ab 263 v. Chr.: Hieron II. mit Rom verbündet Erster Punischer Krieg zwischen Karthago und Rom, heftige Kriegshandlungen auf Sizilien; die Karthager verlassen Sizilien. 241 v. Chr. wird Sizilien zur ersten Provinz des Römischen Reiches; das Königreich Hierons II. im Ostteil Siziliens bleibt zunächst bestehen Einrichtung einer römischen Provinzialverwaltung; Sizilien wird von einem Prätor und zwei Quästoren regiert im Verlauf des Zweiten Punischen Krieges verbünden sich nach dem Tod lIierons II. Syrakus und Karthago gegen Rom; nach der Niederlage von Syrakus ist ab 212 v. Chr. ganz Sizilien römische Provinz Revolten und Aufstände gegen Rom (sog. Erster und Zweiter Sklavenkrieg) Verres Statthalter von Sizilien; Kunstraub und Unterschlagungen von Millionenbeträgen; Prozeß des Cicero gegen Verres in Rom (70 v. Chr.) nach den Wirren der Bürgerkriege Beginn der Regentschaft des Augustus; Ende der römischen Republik und Beginn der Kaiserzeit; unter Augustus erfolgt eine Neuordnung der Provinzen; Sizilien wird zu einer senatorischen Provinz und einem Proconsul unterstellt Blütezeit des Imperium Romanum; zahlreiche Neuund Umbauten in den sizilischen Städten (Theater, Odeia und Amphitheater) innere Wirren im Römischen Reich, permanente Kriege an allen Reichsgrenzen; Zeit der »Soldaten kaiser«; Sizilien ist in dieser Zeit eine der ruhigsten Provinzen des Reiches; wachsender Einfluß des Christentums Sklavenaufstand auf Sizilien Byazinter und Araber 468-476 476-535 535 751 827 878 948 Sizilien unter vandalischer Herrschaft Sizilien unter ostgotischer Herrschaft Belisar, der Feldherr des oströmischen Kaisers Justinian, erobert Sizilien zurück die sizilianische Kirche wird dem Patriarchen in Konstantinopel unterstellt, der jedoch vorerst noch die Oberhoheit des Papstes in Rom anerkennt der rebellierende byzantinische General Euphemius ruft die Aghlabiden ins Land; 10000 Mann unter Asad Ibn al-Furat landen in Mazara und beginnen mit der systematischen Eroberung und Besiedlung der Insel von Westen nach Osten mit der Eroberung und Zerstörung von Syrakus ist Sizilien fest in muslimischer Hand (die letzte Festung, Rometta, hält sich bis 965); Palermo (erobert 831) wird Hauptstadt Sizilien wird zum Emirat und erlangt dadurch weitgehende Unabhängigkeit 31 ab ca. 960 1038-1040 die Kalbiten in Palermo sind die mächtigsten Emire der Insel (erster Kalbitengouverneur 947 Hasan Ibn Ali al-Kalbi); die Verlegung des Kalifats nach Kairo durch die Fatimiden (972) erhöht Siziliens Selbständigkeit bei der byzantinischen Rückeroberung unter Georg Maniakes betreten die drei ältesten Söhne des normannischen Adelsgeschlechts der Haute-vilIes erstmals sizilischen Boden; unter den arabischen Emiren herrscht Anarchie Monarchia Sicula Das Normannenreich auf Sizilien 1030 1059 1061 1063 und 1068 1071 1091 1101-1112 1112 1127 1128 1130 1140 1146 1151 1154-1166 1166-1171 32 der Normanne Rainulf erhält Aversa zu Lehen, das erste normannische Territorium in Unteritalien; von den zwölf Söhnen des kleinen Provinzbarons Tankred aus Hauteville-la-Guichard in der Normandie werden vor allem zwei wichtig: Robert Guiscard und der jüngste Sohn, Roger (geb. 1016), der Ahnherr des sizilianischen Königsgeschlechts der Hautevilles (beide kommen gegen 1046 nach Unteritalien) Synode von Melfi; die Normannen werden vom Papst mit süditalienischen Fürsten- und Herzogtümern belehnt die normannische Eroberung Siziliens beginnt mit der Einnahme von Messina; die arabischen Emire Ibn athThumna im Südosten und Ibn Hawwas im Inselinnern bekämpfen sich gegenseitig; in dieser Situation bittet Ibn ath-Thumna Roger um Hilfe und bietet ihm dafür die Herrschaft über Sizilien an; Nachschubprobleme und ständige Rebellionen auf dem süditalienischen Festland zögern den Erfolg der Invasion heraus; ihre tatsächliche Führung fallt Roger zu Siege Rogers in den Schlachten von Cerami und Misilmeri brechen den sarazenischen Widerstand Robert Guiscard erobert Bari; Ende der byzantinischen Herrschaft in Unteritalien mit Noto ergibt sich die letzte sarazenische Bastion in Sizilien nach dem Tode Rogers führt seine Witwe Adelaide die Regentschaft, ab II05 für Roger II. (geb. 1095) Volljährigkeit Graf Rogers II.; sein Admiral ist der griechisch-katholische Christodulos mit dem Tode seines Vetters Wilhelm wird Roger II. auch Herzog von Apulien Papst Honorius II. belehnt Roger mit Apulien, Kalabrien und Sizilien der Gegenpapst Anaklet II. macht Roger zum König von Sizilien; er schwört dem Papst im Gegenzug den Lehnseid Gesetzgebungswerk der Assisen von Ariano mit der Eroberung von Nipolis in Nordafrika wird Roger zum Herrn des zentralen Mittelmeers nach dem Tod dreier älterer Söhne Rogers wird Wilhelm zum Mitregenten gesalbt Wilhelm 1., »der Böse« (geb. II20) Regentschaft der Margarethe von Navarra; eine kirchliche Partei bildet sich unter Richard Palmer, Bischof 1166-1168 1171-1189 1185 1186 1189 1190-1194 1194-1197 von Syrakus, und Walter of the Mill, dem Erzbischof von Palermo (II69); Matthäus von Ajello ist Protonotarius Margarethes Vetter Stephan du Perehe regiert als Kanzler; er greift gegen Barone und korrupte Ver waltungsbeamte durch und muß fliehen Wilhelm II., »der Gute« (geb. II53) die Flottenexpedition gegen das byzantinische Griechenland (Admiral Tankred von Lecce) scheitert bei Thessaloniki Heirat von Konstanze, einer nachgeborenen Tochter Rogers II., mit dem späteren deutschen Kaiser Heinrich VI. antimuslimische Verfolgungen anläßlich der Thronwirren nach Wilhelms II. Tod führen zu einer weiteren arabischen Auswanderungswelle Tankred von Lecce, der Neffe Wilhelms 1., wird von einer »sizilianischen Partei« in Palermo zum König gewählt; Walter of the Mill und die Barone befürworten die offizielle Erbin Konstanze (bzw. deren Mann Heinrich VI.) Heinrich VI.; er schickt Königin Sibylla und ihre Töchter gefangen nach Deutschland und läßt ihren Sohn, den minderjährigen Wilhelm III., töten. Heinrich betrachtet Sizilien nur als eine Provinz seines Kaiserreiches, beutet deren finanzielle Ressourcen aus und geht mit äußerster Brutalität gegen den lokalen Adel vor Hohenstaufer, Anjous und Aragonesen 1197 1198 1220 1231 1250 1258 das süditalienische Reich Heinrichs VI. bricht mit dessen Tod zusammen; erneute Verfolgung der Muslime die Regentin Konstanze bestimmt vor ihrem Tod Papst Innozenz III. zum Regenten des Königreichs Sizilien und zum Vormund ihres minderjährigen Sohnes Friedrich (geb. II94, ab II98 als Friedrich 1. König Siziliens, regiert selbst ab 1208; 1212 deutscher König als Friedrich II., 1220 Kaiser, gest. 1250); im Lande herrscht Anarchie, im Landesinnern hat sich unter dem Muslim Mirabetto ein fast eigenständiger Herrschaftsbereich gebildet Assisen von Capua; Friedrich etabliert im folgenden wieder die Königsgewalt und schafft einen straff organisierten, zentralisierten Beamten- und Fiskalstaat unter Rückgriff auf die Gesetze seiner normannischen Vorfahren Konstitutionen von Melfi (Liber Augustalis): eine der frühesten europäischen Rechtskodifikationen nach Friedrichs Tod folgen Anarchie und Bürgerkrieg; Landwirtschaft und Handel liegen zeitweise darnieder, die Bevölkerungszahl verringert sich drastisch; Manfred, ein illegitimer Sohn Friedrichs, 1250 von seinem Vater zum Statthalter von Sizilien ernannt, nimmt den staufischen Kampf gegen den Papst in Italien auf (Ghibellinen = staufische, kaiserliche, später adlige Partei; Guelfen = päpstliche, antikirchliche, später Volkspartei) Manfred läßt sich in Palermo zum König krönen und macht den Königshof wieder zu einem kulturellen 33 1266 1268 1282 1296 1347 1372 1409 1458 1469 ab ca. 1480 1487 1492 34 und gesellschaftlichen Zentrum in der Schlacht von Benevent verliert Manfred Thron und Leben an Karl von Anjou, den Bruder des französischen Königs, den der (französische) Papst Clemens IV. 1265 mit Sizilien belehnt hatte, um Manfred zu besiegen Karl von Anjou läßt den letzten Staufer, Konradin, der versucht hatte, das Königreich des Südens für sein Haus zurückzugewinnen, in Neapel hinrichten; Karl verlegt die Hauptstadt nach Neapel Sizilien gerät immer mehr an die Peripherie; seine Regierungszeit mit ihrem drückenden Fiskalismus wird von den Sizilianern als grausame Fremdherrschaft empfunden die sog. Sizilianische Vesper - eine Revolte, an deren Anstiftung die Aragonesen nicht ganz unbeteiligt waren - macht der Anjou-Herrschaft auf Sizilien ein Ende; die Aufständischen rufen König Peter I I 1. von Aragon ins Land, der Manfreds Tochter Konstanze, die letzte staufische Erbin, geheiratet hatte; Peter verspricht, Sizilien als ein von Aragon unabhängiges Königreich zu führen; auf dem unteritalienischen Festland herrschen weiterhin die Anjous Peters jüngerer Bruder, in Sizilien erzogen, usurpiert den Thron als Friedrich II.; der jahrzehntelange Krieg gegen die Anjous in Unteritalien führt zu einem Machtzuwachs für die großen Adelsfamilien, deren mächtigste die Familie Chiaramonte ist; die Latifundienstruktur verstärkt sich die Pest und permanente Kriegszüge führen zum weiteren Niedergang von Landwirtschaft und Handel; Schätzungen zufolge sinkt die Bevölkerungszahl in den zwei jahrhunderten nach der Herrschaft Friedrichs I I. von Hohenstaufen um die Hälfte ab Friedensschluß mit den Anjous von Neapel und dem Papsttum mit dem Aussterben der aragonesischen Seitenlinie in Sizilien verstärkt sich die Bindung der Insel an das spanische Aragon Sizilien wird in Personalunion mit Aragon vereinigt die Heirat von Ferdinand II. von Aragon mit Isabella von Kastilien (»die katholischen Könige«) legt den Grundstein für die Herausbildung des spanischen Staates nordafrikanische Piraten verheeren auf ihren Beu tezügen (Sklavenhandel) die Küsten; die Bevölkerung zieht sich ins Landesinnere zurück; organisierte Banden verunsichern die Insel Einführung der Inquisition (1481 in Spanien) durch die Spanier, die im folgenden dafür sorgt, daß Sizilien religiös wie kulturell »gut katholisch« bleibt; Verfolgung von konvertierten Juden und Muslimen sowie von Homosexuellen, die Vertreibung der Juden bedeutet einen enormen Verlust von Handwerkern und Kapital, der u a für die permanente Schwäche der sizilianischen Wirtschaft verantwortlich ist Vom Spanischen Welteich bis heute 1516 1571 1575 ab ca. 1600 1647 1669 1674-1678 1693 1713 1720 1735 1782 1783 1806-1815 1815 Spanien - und damit Sizilien - fällt an Karl V. und wird Bestandteil seines Weltreichs Don Giovanni d‘Austria besiegt in der Seeschlacht von Lepanto die Türken; dieser für das Selbstbewußtsein der habsburgischen Monarchie so wichtige Sieg leitet den Niedergang der türkischen Vorherrschaft im Mittelmeer ein eine schwere Epidemie von Beulenpest sucht Sizilien heim der Adel gründet Hunderte von neuen Dörfern und Städten (z. B. Piana dei Greci, Pantelleria, Piana degli Albanesi etc.); viele Albaner und Griechen wandern auf der Flucht vor den Türken ein; die Landwirtschaft bleibt in ihrer Struktur jedoch rückständig in Palermo wird ein Volksaufstand gegen die hohen Brotpreise von der spanischen Regierung niedergeschlagen ein »Jahrhundertausbruch« des Ätna vernichtet Catania die Notabien von Messina rufen Ludwig XlV. von Frankreich ins Land; die Rebellion wird jedoch von den Spaniern niedergeschlagen ein großes Erdbeben vernichtet zahlreiche Städte im Südosten der Insel: ca. 5 % der Bevölkerung kommen um; zahlreiche Städte werden neu wiederaufgebaut. der Frieden von Utrecht beendet den Spanischen Erbfolgekrieg und die Vorherrschaft Spaniens in Europa; Sizilien, Spielball der kontinentaleuropäischen Dynastien, fällt an Viktor Amadeus II. von Savoyen Österreich bekommt Sizilien im Austausch gegen Sardinien zugesprochen eine Sekundogenitur der spanischen Bourbonen erhält das Königreich Neapel-Sizilien; dieser erste selbständige Staat der Neuzeit in Unteritalien zeigt, vor allem unter Vizekönig Domenico Caracciolo (1781-1786), positive Ansätze zur Modernisierung im Sinne des aufgeklärten Absolutismus; 1767 werden die Jesuiten ausgewiesen wird die Inquisition abgeschafft ein großes Erdbeben zerstört Messina während der napoleonischen Herrschaft in Unter italien (Murat ist seit 1808 König von Neapel) bleibt die Insel mit Hilfe britischer Besatzungstruppen unter General Bentinek bourbonisch; König Ferdinand II1. residiert derweil in Palermo eine auf britischen Druck erlassene Verfassung schafft den Feudalismus ab; da die Lehen jedoch in Volleigentum umgewandelt werden und keine Landreform stattfindet, bleiben die politischen und ökonomischen Machtstrukturen unangetastet auf dem Wiener Kongreß wird die Bourboncnherrschaft restauriert: das »Königreich beider Sizilien« wird von Neapel aus regiert, sizilianische Flagge, Pressefreiheit und Verfassung werden abgeschafft; Neapel macht sich im folgenden bei den Sizilianern verhaßter, als es die Spanier jemals gewesen waren; die Insel verpaßt den Anschluß an die im übrigen Europa voran35 1837 1848 1860 1861 1866 1880 1893 1908 1922 1943 36 schreitende Industrialisierung; eine Dauerkrise in der Landwirtschaft und die nur unzureichend betriebene Bodenreform führen zur Verarmung und leiten eine Radikalisierung der Bauern gegen die bourbonische Herrschaft ein; in den Freiräumen staatlicher Kontrolle und Verwicklungen gelingt es Briganten und lokalen Dons, ihre Macht auszubauen eine verheerende Choleraepidemie fordert allein in Palermo 70 000 Todesopfer Die Revolution wird von den bourbonischen Trup pen niedergeschlagen; den gemäßigt-liberalen und bürgerlichen Kräften war die Kontrolle des radika lisierten Volkes im Verlaufe des Aufstandes entglitten; Messina wird dabei zu 90 % zerstört : Garibaldi landet mit Freiwilligen (»Zug der Tau lend«) in Marsala und vertreibt die Bourbonen; er nutzt die Unzufriedenheit der Bauern geschickt für seinen Guerillakrieg gegen die Bourbonen; Sizilien fällt so eine Hebelwirkung bei der anschließenden Einigung Italiens zu Sizilien wird Teil des neugegründeten Königreichs Italien unter Viktor Emanuel II. von Piemont da auch die neue Regierung Sizilien vernachlässigt und keine Maßnahmen für einen wirtschaftlichen Aufschwung einleitet, kommt es zu einer erneuten Erhebung, die mit Waffengewalt unterdrückt wird; aufgrund der anarchischen Zustände bildet sich das Mafiasystem heraus eine umfassende Agrarkrise führt zum Zusammen bruch der Landwirtschaft die Landarbeiterunruhen können nur mit Mühe und Gewalt niedergeschlagen werden; die Flucht ins Ausland erscheint nun als einzige Rettungsmöglichkeit, und 1,5 Mio. Sizilianer wandern in die USA, nach Südamerika, Nordafrika und Australien aus ein Erdbeben macht Messina dem Erdboden gleich Sizilien gehört zu den am wenigsten faschistisch durchsetzten Regionen Italiens; nach Mussolinis Machtergreifung bemühen sich jedoch vor allem die landbesitzenden Schichten, mit den Faschisten zusammenzuarbeiten; Maßnahmen wie die Trockenlegung der versumpften Ebene von Catania, die Einführung der widerstandsfähigen amerikanischen Rebe zum Aufstocken einheimischer Sorten, die Gründung der ersten landwirtschaftlichen Fakultät Italiens an der Universität von Catania, die Ausrottung der Malaria und das Versprechen einer Landverteilung an Kleinbauern scheinen einen Aufschwung in der Landwirtschaft einzuleiten, dessen Realisierung allerdings durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs unterbrochen wird im Januar entstehen die ersten organisierten Grup pen, die sich für ein unabhängiges Sizilien einsetzen. Als die Alliierten nach schweren Bombardements im April des gleichen jahres auf Sizilien landen, begegnen sie keinem Widerstand in der Bevölkerung. Vertreter der Unabhängigkeitsbeweg ung fordern von der ONU eine Volksabstimmung wird die EVIS geboren (Esercito Volontario per L‘Indipendenza della Sicilia). 1945 1946 1950 1950-1956 1953 1959-1964 1968 seit 1970 1982 1983 1992 1993 1997 Nach wenigen Monaten werden die Anführer getötet oder eingekerkert Sizilien erhält innerhalb der italienischen Republik den Status einer Region mit autonomer Verwaltung. Partei politisch gesehen ist es ab dann für beinahe ein halbes Jahrhundert fest in »christlichdemokratischer Hand«. Das Autonomiestatut wird nie voll angewandt und in seinen Paragraphen unauffällig immer wieder geschmälert die Einrichtung der Cassa del Mezzogiorno soll Industrie und Landwirtschaft in Sizilien (und im gesamten Mezzogiorno) fördern und das Nord-Süd-Gefälle abbauen helfen - mit nur geringem Erfolg; viele verlassen ihre Heimat, um als Gastarbeiter in anderen europäischen Ländern zu leben landwirtschaftliche Reform und endgültige Aufhebung der Latifundien auf Sizilien wird Erdöl entdeckt; Bau der chemischen Fabriken und Raffinerien von Augusta Priolo, Gela und Milazzo eine unkontrollierte Bauwelle setzt ein, die allent halben riesige Miethausblocks entstehen läßt sucht ein weiteres schweres Erdbeben Westsizilien heim; schwächere Erdbeben betreffen den Osten und Südosten der Insel 1980 und 1990 nimmt die Wirtschaft der Insel einen entscheiden den Aufschwung, die Gastarbeiter kehren zurück; die Infrastruktur Siziliens wird deutlich verbessert durch den forcierten Bau von Straßen, Autobahnen und Bewässerungsanlagen im April wird der Abgeordnete und Sekretär des PCI Pio La Torre ermordet, der sich gegen die Installierung der Cruise Missile-Raketen in Comiso aufgelehnt hatte. Im September trifft das gleiche Schicksal den neuen Präfekt von Palermo, General Dalla Chiesa. Mit ihm kommen seine junge Frau und sein Leibwächter ums Leben trotz großer Proteste werden die ersten Cruise Missile-Raketen aufgestellt. Die Verhaftung und mehr noch - die Aussagebereitschaft des Mafiabosses Tommaso Buscetta machen Schlagzeilen in der Weltpresse. Der folgende Mammutprozeß beweist die Macht der mafios-politischen Kräfte: er endet beinahe ausschließlich mit Freisprüchen im Abstand weniger Monate müssen zwei der bekanntesten Staatsanwälte ihr Leben lassen: Giovanni Falcone und Paolo Borsellino. Beide sterben durch Dynamit und mit ihnen ihre Begleiter. Palermo trauert um seine Helden bei den Gemeindewahlen siegen in den zwei größten Städten der Insel außergewöhnliche Männer: Bianco in Catania und Orlando in Palermo wird das Teatro Massimo in Palermo wieder eröffnet: das einst weltberühmte Opernhaus war 23 Jahre lang geschlossen geblieben 37 Kulturgeschichtlicher Überblick Sizilien: Insel zwischen Orient und Okzident/ Birgit Carnabuci. – Köln: DuMont Buchverlag, 1992 Insel zwischen Orient und Okzident Sizilien liegt am äussersten Rand Europas. Solange die Weltinteressen im Mittelmeergebiet lagen, war es bevorzugte Operationsbasis politischer und ökonomischer Mächte. Nach der Entdeckung Amerikas verschoben sich die weltpolitischen Gewichte, und die Insel geriet völlig in Vergessenheit. Erst im 18. Jahrhundert sollte sie von einigen „Weltreisenden“ wiederentdeckt werden. Wie unbekannt die Insel geworden war, geht aus der 1765 in Neuchatel erschienenen Encyclopedie hervor, wo es wörtlich lautet: »Palermo: Lateinisch Panormus, zerstörte Stadt Siziliens in der Val di Mazara; es war Erzbischofssitz, und war mit einem kleinen Hafen ausgestattet. Vor der Zerstörung, die einem Erdbeben zuzuschreiben ist, machte es Atessina (wohl Messina) die Rolle der Hauptstadt streitig. Es befindet sich an der Nordküste der Insel ... «. Die Proteste einiger sizilianischer Gelehrter und des Holländers Jean-Philippe d‘Orville, den 1727 seine Leidenschaft für Theokrit und antike Medaillen nach Sizilien geführt hatten, waren erfolglos. Weitreichendere Aufmerksamkeit erzeugten erst die Reisebeschreibungen von Brydone und Riedesel, die rund 40 Jahre später als Pioniere nach Sizilien kamen. Bald wurde in bestimmten Kreisen jenseits der Alpen eine Sizilienreise zur Modefrage. Persönlichkeiten wie Roland de la Platière, Graf Borch, Sonnini, Payne Knight, Swinburne, Vivant Denon, Houel erforschten die Insel fast gleichzeitig, und wiederum waren es ihre Publikationen, die eine neue Besucherwelle brachten: Friedrich Münter, Johann Heinrich Bartels und schliesslich Johann Wolfgang von Goethe, um nur die bekanntesten zu nennen. Als interessantester und letzter Berichterstatter vor der Wende vom 18. zum 19. Jh. ist der Orientalist Joseph Hager zu nennen, der zwei Jahre in Palermo arbeitete und lebte, also das Land nicht nur als Aussenstehender kennenlernte. Erstaunlicherweise prägen die Sichtweisen, Urteile (und Vorurteile) dieser Männer auch heute noch, nach mehr als 200 Jahren, so manche touristische Erwartungshaltung. Doch wer Sizilien mit den Augen des 18. und 19. Jh. sehen will, wird enttäuscht von der Reise zurückkehren. Sizilien ist ein Land des 20. Jahrhunderts, mit allen Vor- und Nachteilen unserer Zeit. Die Strassen wimmeln von Autos, in den Städten reiht sich ein Geschäft an das andere, die Menschen sind hochmodern gekleidet, die Landwirtschaft wird maschinell betrieben, der Fischfang hauptsächlich von afrikanischen Gastarbeitern ausgeführt. Die berühmten Grossfamilien gibt es nur noch in den Romanen und in der Erinnerung. Inzwischen hat das Land mit die niedrigste Geburtenquote Europas, und die Zahl 38 der Einwohner wird geringer. Gegenwärtig beträgt sie ca. 4 600 000. In der jungen Generation ist der Wille zum Studium gross. Die drei Universitäten (Palermo, Catania, Messina) werden zusammengenommen von ungefähr 120 000 Studenten beiderlei Geschlechts besucht. Frauen sind absolut gleichberechtigt und nehmen inzwischen führende Stellen in Wirtschaft und Verwaltung ein. Sizilien mit seinen Inseln erreicht nicht ganz 26 000 km2 Oberfläche. Die Küstenlinie hat eine Länge von 1049 km; davon sind 440 km zum Thyrrenischen Meer hin ausgerichtet, 312 km zum Afrikanischen Meer und 287 km zum Ionischen Meer. Im Süden fällt das Land seicht zur Küste hin ab, im Norden und Osten steigt es steil aus dem Meer auf. Ungefähr die Hälfte der Einwohner lebt in den Städten an den Küsten, die anderen wohnen im Landesinneren. Allerdings wirken die Küsten dichter besiedelt und grüner, da von Gärten umgebene Sommer- und Ferienhäuser oft in unmittelbarer Meeresnähe liegen, Dagegen sind in den Ortschaften des Binnenlands die Wohnhäuser so eng aneinander gebaut, dass kein Platz für Zierpflan zen bleibt. Diese Kleinstädte haben im Durchschnitt 15 000 bis 30 000 Einwohner. Dazwischen liegt nichts als unbewohntes Ackerland. Je nach Gegend erstrecken sich kilometerweit grossflächige Plantagen, Weizenfelder oder Weingärten. Die Landwirtschaft ist immer noch der bedeutendste Wirtschaftssektor Siziliens. Es versteht sich von selbst, dass damit Handel und Bankgeschäfte verbunden sind, In Ragusa und Gela wird Erdöl gefördert, das in Augusta, Hirnera, Milazzo und Gela verarbeitet wird, Kleinere Industrien erzeugen Keramik, Kacheln, Möbel, elektrische Haushaltsgeräte, Ersatzteile für Autos, bauen landwirtschaftliche Maschinen und ähnliches, Sie sind freilich auf dem internationalen Markt kaum konkurrenzfähig - Sizilien liegt immer noch an der äussersten Peripherie Europas. Das antike Sizilien Wer Süditalien oder Sizilien bereist, wird vielleicht überrascht bemerken, dass vieles von dem, was ihm hier aus der Antike begegnet, nicht Hinterlassenschaft des sonst in Italien so allgegenwärtigen römischen Weltreiches ist, sondern Zeugnis der griechischen Kultur. Nirgendwo ausseralb des griechisch-kleinasiatischen Kernlandes hat sich die altgriechische Kultur mit ihren zahlreichen Stadtanlagen, mit ihren Heiligtümern, Tempeln und Theatern so prägend über die Landschaft gelegt wie auf Sizilien. Fast könnte man die Insel Trinakria, »die Dreieckige«, wie die antiken Griechen Sizilien nannten, für einen genuinen Bestandteil von Alt-Hellas halten, wie dies auch die grie chische Mythologie glauben machen will: Hier starb, so sagt die Legende, der sagenhafte König Minos bei seiner Verfolgung des entflohenen Daidalos. Hier überlistete der Held Odysseus bei der Durchquerung der Meerenge von Messina die Ungeheuer Skylla und Charybdis. Hier raubte der Halbgott Herakles - als zehnte seiner legendären zwölf Taten - die Herde des Geryoneus und tötete dabei die furchterregende Skylla. In Enna soll Demeter gelebt haben, soll Kore von Hades geraubt worden sein. Und im Ätna betrieb der hinkende Gott Hephaistos seine Schmiedewerkstatt. Auf den zweiten Blick stellen sich die Dinge jedoch komplizierter dar. Auch im Altertum war Sizilien nicht einfach ein Stück Griechenland. Viele Einwanderungs- und Kolonisationswellen machten Sizilien auch zu Zeiten der griechischen Antike zu einem ethnisch ausserordentlich heterogenen Gebiet mit diversen miteinander rivalisierenden Kultur- und Siedlergruppen. Bereits im Neolithikum und in den Metallzeiten eingewanderte, also seit langem dort heimische Stämme, aber auch Phönizier und schliesslich - auf der Suche nach neuen Siedlungsgebieten - Griechen lebten hier nebeneinander, ein Umstand, der immer wieder zu Konflikten und Kriegen führte. Ein entsprechend heterogenes Bild bietet denn auch die archäologisch fassbare Hinterlassenschaft all dieser Gruppen: Gräberfelder und Siedlungsreste bodenständig gewordener Kulturen, Siedlungen, Friedhöfe, Stützpunkte und Hafenanlagen der Phönizier und schliesslich die an Menge und Grösse schier alles andere überlagernden Ruinen der griechischen Kultur. Vor- und Frühgeschichte Die ersten Spuren menschlichen Lebens auf Sizilien stammen aus vergleichsweise später Zeit, dem Ende des Paläolithikums (Altsteinzeit). Die bislang ältesten Überreste fand man in den Grotten bei S. Teodoro an der Nordküste; sie entstammen der Zeit des späten Neandertalers (ca. 35000 v. Chr.). Die weiteren Funde aus dem Paläolithikum konzentrieren sich meist auf zwei Regionen der Insel: den Nordwesten zwischen Trapani und Palermo sowie den Südosten bei Syrakus und Ragusa. Der weitaus grösste Teil Siziliens dagegen scheint damals noch unbesiedelt gewesen zu sein. Die Menschen dieser Zeit waren Jäger und Sammler, die in Sippenverbänden lebten und jeden Tag aufs neue einen harten Kampf um das eigene Überleben gegen andere Sippen und gegen die Unbilden der Natur zu führen hatten. Zu den beeindruckendsten Zeugnissen aus dem Paläolithikum zählen die Höhlenmalereien in den Grotten der kleinen Insel Levanzo vor Trapani und am Monte Pellegrino bei Palermo (s. S. 300f.). Den Anfang der Jungsteinzeit (Neolithikum) kennzeichnet eine Entwicklung, die heute zu Recht als die »Neolithische Revolution« bezeichnet wird. Die aneignenden Wirtschaftsformen der Jägerund Sammlerkulturen machten einer - zuerst im mesopotamisch-anatolischen Raum nachweisbaren - produzierenden Wirtschaftsform Platz. Ackerbau und Viehzucht führten zu einer Sesshaftwerdung der umherziehenden Sippenverbände. Siedlungen wur- den angelegt, meist aus heute kaum mehr nachweisbaren Holz-, Lehm- und Laubhütten. Die Erfindung von Ackerbaugeräten und auch der Keramik, die zunächst luftgetrocknet und erst später im eigentlichen Sinne gebrannt wurde, sowie die Herstellung von fein gearbeiteten, hochspezialisierten Steinwerkzeugen sind Kennzeichen dieser Kulturstufe. Die neolithischen Kulturen beschränkten sich weitgehend auf die Ostküste und die Liparischen Inseln. Am weitesten ausgedehnt war die sog. StentinelloKultur, benannt nach dem Hauptfundort nördlich von Syrakus. Mit dieser Kultur beginnt zugleich die bis in historische Zeiten nicht mehr abreissende Kette von Einwanderungen. Vermutlich aus Süditalien stammend waren die Siedlungen dieser Kultur häufig durch Wälle und Gräben befestigt - ein deutliches Zeichen dafür, dass hier wie überall im Neolithikum Verteidigungsanlagen notwendig wurden, da die Sesshaftwerdung zwangsläufig zu Besitzungleichheit und damit zu ersten kriegerischen Konflikten zwischen wohlhabenden und armen Siedlungsgemeinschaften führte. Die Keramik der neolithischen Kulturen auf den Liparischen Inseln unterscheidet sich von derjenigen der Stentinello-Kultur erheblich: Die sehr dünnwandigen Gefässe des Serra d‘Alto-Stils waren mit mehrfarbigen Spiral-, Mäander- und Zickzackmustern bemalt; die zeitlich anschliessende Keramik des Diana-Stils ist überwiegend monochrom und nur selten mit komplizierteren Mustern dekoriert. Diese Keramik fand auch auf dem süditalienischen Festland weite Verbreitung. Am Beginn der Metallzeitalter (Kupfer-, Bronze- und Eisenzeit) kam es zu neuen Einwanderungswellen nach Sizilien. Die im Orient schon lange vorher nachgewiesene Fähigkeit, Metall zu verarbeiten, brachte im Zuge dieser Einwanderungen nicht nur technischen Fortschritt, sondern führte auch zu einer zunehmenden Spezialisierung der Tätigkeiten innerhalb der Dorf- und Siedlungsgemeinschaften und damit zu erheblichen gesellschaftlichen Veränderungen. Wer mit der Metallverhüttung beschäftigt war, hatte kaum noch Zeit, sich um die eigene Nahrungsmittelversorgung, sprich Ackerbau und Viehzucht, zu kümmern. Arbeitsteilung wurde notwendig, und so entstanden in dieser Zeit erstmals regelrechte Berufe und »Industrien«, aber zugleich auch ein zunehmend differenziertes Geflecht wirtschaftlichsozialer Hierarchien und Abhängigkeiten. Hauptsächlich durch Gräberfunde bekannt sind die bronzezeitlichen Kulturen Siziliens aus dem 2. Jt. v. Chr. In dieser Zeit scheint die Insel schon recht dicht besiedelt gewesen zu sein. Die Herstellung der harten Bronzegeräte aus einer Mischung von Zinn und Kupfer setzte erhebliche technische Fähigkeiten bei der Metallverhüttung voraus. Bronzewerkzeuge machten bald die Verwendung von Steingeräten gänzlich überflüssig. Nun trat der Handel - auch über weite Entfernungen hinweg - als ein prägendes Merkmal 39 in Erscheinung. Insbesondere die Beschaffung der für die Bronzeherstellung notwendigen Rohstoffe sorgte dafür, dass ein ganzes Geflecht von Handels beziehungen zwischen den z. T. weit auseinanderliegenden bronzezeitlichen Kulturen entstand. So hatten die sizilischen Bronzezeitkulturen Kontakte nicht nur in den mykenisch-griechischen Raum, sondern bis nach Mesopotamien und Südengland. Neben der kupferzeitlichen Conca d‘Oro-Kultur, die auch in der frühen Bronzezeit noch weiter bestand, waren hauptsächlich die Castelluccio-Kultur (benannt nach dem Hauptfundort bei Noto) und die Capo Graziano-Kultur auf den Liparischen Inseln sowie die etwas spätere Thapsos-Kultur in der Bronzezeit auf Sizilien verbreitet. Diese Kulturen sind nun weitgehend auf Sizilien und die Liparischen Inseln beschränkt und zeichnen sich durch ein hohes Mass an Eigenständigkeit aus, das sie von zeitgleichen Kulturen Süditaliens, Sardiniens, Griechenlands und des westlichen Mittelmeerraumes unterscheidet; erstmals kann man zu Recht von wirklich »einheimischen« Kulturen auf Sizilien sprechen. Die genauen zeitlichen Abfolgen wie auch die geographischen Abgrenzungen der zahlreichen sizilischen Metallzeitkulturen mit ihren unterschiedlichsten Keramikstilen sind auch heute noch recht unsicher und erlauben kein abschliessendes Bild; erst in jüngster Zeit ist beispielsweise mehrfach angenommen worden, dass etwa die Thapsos-Kultur bereits einen ersten Vorläufer der phönizischen Kolonisation darstellt. Um 1000 v. Chr. waren jedenfalls im wesentlichen vier Stämme auf Sizilien beheimatet, die im folgenden - im Gegensatz zu den nun allmählich einwandernden Phöniziern und Griechen - als »einheimische Bevölkerung« bezeichnet werden: Die, Sikaner, vermutlich nordafrikanischen oder iberischen Ursprungs, die wohl aus Kleinasien stammenden Elymer sowie die Sikuler und Morgeten, beide einst auf dem italienischen Festland sesshaft. Die phönizische Kolonisation Die Phönizier, ursprünglich an der Levanteküste ansässig, waren die ersten, die sich in historischer Zeit auf Sizilien niederliessen. Als ein Volk von Seefahrern und Händlern haben sie massgeblich zu dem Netz von Kontakten und Beziehungen zwischen den Mittelmeerkulturen beigetragen, das zu Beginn des 1. Jt. v. Chr. Gestalt annahm. Die Phönizier waren kühne Pioniere des Schiffbaus und der Seefahrt, und so entstanden seit etwa 900 v. Chr. an allen Küsten des Mittelmeers zwischen Gibraltar und Kleinasien ihre Handelsniederlassungen. Diese Seefahrer waren nicht auf der Suche nach neuen Siedlungsräumen, sondern einzig darauf erpicht, an fremden Gestaden Häfen ,und Handelskontore zu gründen, um die Waren der Region mit denjenigen aus fremden Ländern zu tauschen. Insofern gestaltete 40 sich ihr Leben mit der jeweils einheimischen Bevölkerung überwiegend friedfertig: Beide Teile hatten Interesse an einer Koexistenz, da diese von gegenseitigem Nutzen war. Auch stellten die Phönizier keine grossen räumlichen Ansprüche. Ihnen genügten ein wettersicherer und gut gegen Piraten zu verteidigender Küstenplatz für Hafen und Werften sowie einige Häuser zum Leben und Schuppen für die Lagerung der Waren. Die phönizischen Handelsniederlassungen wurden rasch zu Zentren des Reichtums und weckten dadurch die Begehrlichkeit von Piraten und von weniger wohlhabenden einheimischen Siedlern. So kam es bisweilen zu Überfällen, gegen die sich die Phönizier durch die Wahl strategisch gut zu verteidigender Orte wie Halbinseln und kleinen, den Küsten vorgelagerten Inseln schützten. Aber dennoch bestand zwischen den phönizischen Niederlassungen und der sie umgebenden Urbevölkerung kein ständiges Konfliktpotential: ein Verhältnis, das sich bei der späteren griechischen Kolonisation völlig anders darstellen sollte. In rascher Folge entstanden im 8. Jh. v. Chr. auf Sizilien eine Reihe von Handelsniederlassungen, die beiden bekanntesten Panormos, das heutige Palermo, und Motye (Mozia). Während man in Palermo kaum noch Überreste aus der phönizischen Zeit vorfindet, sind die Ausgrabungen von Motye (s. S. 233) um so beeindruckender. Der Ort, liegt auf der nur 1 km2 grossen Insel S. Pantaleo zwischen Marsala und Trapani: ein perfekter Platz für die Gründung eines Handelskontors. Im Schutze anderer Inseln in einer Lagune gelegen, war der Stützpunkt nur wenige hundert Meter von der Küste entfernt. Sehr schnell entstand hier eine regelrechte Stadt - die einzige grössere phönizische Stadtanlage auf Sizilien. Sie wurde 397 v. Chr. zerstört und nie wieder aufgebaut. Da die Insel auch in den folgenden Zeiten nicht mehr besiedelt wurde, bieten sich heute für die Archäologen optimale Arbeitsmöglichkeiten. Die mächtigen Mauern, die Motye umgaben, stammen nicht aus der Zeit der Gründung des Ortes. Erst als die griechische Kolonisation sich immer weiter nach Westen ausdehnte, kam es zu Konflikten und Kriegen, da der Lebens- und Wirtschaftsraum der Phönizier auf Sizilien rapide kleiner wurde. So gründeten die Phönizier im 7. Jh. v. Chr. etwa 20 km östlich von Palermo die Ortschaft Solus (Solunto) als Vorposten für das von den stetig näherrückenden griechischen Siedlern bedrohte Panormos, das nun ebenfalls mit einer Mauer umgeben wurde. Die Griechen in Sizilien Die griechische Kolonisation Bereits der griechische Lyriker Hesiod beschrieb im 7. Jh. v. Chr. die tiefgreifende Krise der damaligen griechischen Gesellschaft: Besitzungleichheit, Rechtlosigkeit und Verarmung durch zunehmende Ver kleinerung des Landbesitzes als Folge der Erbteilung; in Abhängigkeit, gar in Schuldknechtschaft geratene einstmals freie Bürger; Missernten, Unruhen, Übervölkerung und Hungersnöte - all dies hatte das Leben der Landbevölkerung im griechischen Kernland hoff nungslos, ja oft unerträglich werden lassen. Vor dem Hintergrund dieser sozialen Missstände beginnt im 8. Jh. v. Chr. eine grosse Auswanderungswelle aus Griechenland - die griechische Kolonisation. In der Umbruchphase der griechischen Gesellschaft im 8. und 7. Jh. v. Chr. entwickelte sich nicht nur in Griechenland selbst, sondern auch in den neu gegründeten Kolonien das Polissystem. Dies war ein loser Verbund von kleinen Stadtstaaten, die zwar unterein ander mannigfache Beziehungen pflegten, prinzipiell jedoch voneinander unabhängig und oft auch verfeindet waren. Regiert wurden solche Stadtstaaten zunächst von der einfluss- und besitzreichen Aristo kratie. Ihre wirtschaftliche Basis bildete die Landwirtschaft, und so bestand eine Polis zum einen aus einer städtischen Siedlung, zum anderen aus der dazugehörigen Chora, der die Stadt umgebenden Ackerfläche. Zwar gab es schon in dieser Frühzeit des griechischen Polissystems einen regen Tauschhandel zwischen den einzelnen Stadtstaaten, das angestrebte Prinzip dieser Polis war jedoch nicht wirtschaftliche Verflechtung, sondern jeweilige Autarkie, also die vollständige politische und ökonomische Selbständigkeit. Dieses Autarkieprinzip war es, was die einzelnen Siedlergruppen in der Fremde anstrebten. Hierzu brauchte man ein möglichst grosses und fruchtbares, zudem gesichertes Stück Ackerland. Besonders Sizi lien und Unteritalien erschienen den Gründern dabei im Vergleich zu Griechenland wie ein Paradies. Die Gründung einer Kolonie vollzog sich überall in ähnlicher Weise. Eine Siedlergruppe bestieg - ausgestattet mit einem Wink aus Delphi und guten Wünschen der in der Heimat Verbleibenden _ unter der Führung eines Adligen (dem Oikisten, dem später in der neuen Heimat oft ein Heroenkult geweiht wurde) eine kleine Flotte und begab sich unter grösster Vorsicht vor Seeräubern und Unwettern, nur mit dem Nötigsten im Gepäck, zum angestrebten Ort. Oft waren es auch nicht nur eine, sondern zwei Siedlergruppen unterschiedlicher Herkunft, die sich - dann mit zwei Oikisten an der Spitze - zur Gründung einer neuen Polis zusammentaten. Auf Sizilien und in Unteritalien gab es nach Auffassung der Siedler zwei ver schiedene Arten von Kolonien: Zum einen »echte«, von auswandernden Griechen aufgebaute Kolonien, zum anderen sog. Pflanzstädte, die von Siedlergruppen gegründet wurden, die wiederum aus einer der neugegründeten Städte ausgewandert waren. Bei der Anlage der neuen Städte bevorzugten die Siedler Areale in Küstennähe, entweder auf sicheren Halbinseln (wie etwa im Falle von Syrakus), oder etwas landeinwärts gelegenes Gelände mit bereits vorhandenen natürlichen Gegebenheiten, die zur Ver- teidigung geeignet waren (wie im Falle von Akragas). Gerade auf Sizilien waren die Küstenregionen - im Gegensatz zum unwirtlichen Inselinneren - ausserordentlich fruchtbar und hervorragend geeignet für eine intensive landwirtschaftliche Nutzung. Doch die strategischen Überlegungen bei der Auswahl der Siedlungsplätze bezeugen noch ein anderes Interesse. Im Gegensatz zu den phönizischen Händlern wollten die griechischen Siedlertrupps grössere Landstriche in Besitz nehmen. Und natürlich waren die zur Koloniegründung ausgewählten Gebiete nicht menschenleeres Ödland, sondern von der einheimischen Bevölkerung besiedelt und bewirtschaftet. So entbrannte jedesmal, wenn eine neue Siedlergruppe irgendwo an Land ging, ein ungleicher, oft blutiger Kampf zwischen den gut gerüsteten Griechen und den meist völlig unvorbereiteten Einheimischen. Die einst an der Küste ansässige Urbevölkerung wurde von ihren Siedlungsgebieten vertrieben und ins Inselinnere zurückgedrängt, zunächst nur von einzelnen Orten, später, als immer mehr Kolonisten eintrafen, von der gesamten Küste. In den neuangelegten Koloniestädten wuchsen nun Ableger der griechischen Kultur heran, einer Kultur, die sich anfangs nicht in Bauten und Stadtanlagen manifestierte und verfestigte, sondern in einer Art »ideologischem Überbau«. Dabei waren die eigenen religiösen Vorstellungen und das traditionelle Gesellschaftssystem die wesentlichen Faktoren, die es den Griechen ermöglichten, sich auch in der Fremde bald heimisch zu fühlen. Im Laufe der Zeit war die griechische Gesellschaft durchaus Änderungen unterworfen: Die zunächst sehr starr und hierarchisch gegliederte Adelswelt wurde von Tyrannen in Frage gestellt und später von demokratischen Tendenzen im Kern überwunden. Zwei Faktoren blieben jedoch über die Jahrhunderte hinweg konstant: die Sklaverei und das Patriarchat. Ein Merkmal nicht nur der antiken griechischen Kultur ist die Sklaverei. Ihr verfielen in der Regel Kriegsgefangene, nicht nur »Barbaren«, sondern durchaus auch Griechen, die dann entweder an wohlhabendere Privatleute verkauft oder aber zu kommunalem Besitz des siegreichen Stadtstaates wurden. Während das Los der Staatssklaven hart war - sie arbeiteten unter oft menschenunwürdigen Bedingungen in Bergwerken oder Steinbrüchen -, wird das Geschick der »privaten« Sklaven in der zeitgenössischen Literatur als meist erträglich geschildert. Private Sklaven waren zwar unfrei, von niedrigstem gesellschaftlichem Stand, von allen politischen Entscheidungen ausgeschlossen und konnten nach Belieben weiterverkauft werden, doch hatten sie durchaus gewisse Ehe-, Vermögensund Zeugnisrechte. Sie wurden nicht selten zu einem umhegten, weil recht teuren Bestandteil des Oikos, des griechischen Haushalts, und ihr Leben als Hausangestellte und Arbeiter im Betrieb oder der Landwirtschaft des Hausherrn gestaltete sich oft leichter als das von freien 41 Tagelöhnern, die sich jeden Tag aufs neue um ihren Lebensunterhalt bemühen mussten. Oft arbeiteten Freie zusammen mit Sklaven in Steinbrüchen, in der Landwirtschaft oder an grösseren städtischen Bauprojekten, und meist zahlten die »Arbeitgeber« den Tagelöhnern nicht mehr, als für die Arbeit der Sklaven an deren Besitzer gezahlt wurde. Anders als in der Römischen Republik und der frühen Kaiserzeit war die Sklaverei in der griechischen Kultur kein wesentlicher ökonomischer Faktor. Ein zweiter prägender Zug der griechischen Kultur ist das Patriarchat. Die griechische Gesellschaft war eine reine Männerwelt: Männer bestimmten das öffentliche Leben, debattierten auf dem Marktplatz und kamen den bürgerlichen oder gesellschaftlichen Verpflichtungen nach. Die Frau, zumindest diejenige aus besserer Familie, war an das Haus gebunden, herrschte dort zwar unumschränkt, hatte allerdings innerhalb der Gesellschaft keinerleI politische oder juristische Rechte. Nur wenige Ereignisse wie bestimmte kultische Feste und Prozessionen erlaubten ihr, das Haus zu verlassen. Wenn die Frau bei solchen Gelegenheiten in der Öffentlichkeit auftrat, tat sie dies weniger als eigenständige Persönlichkeit, sondern repräsentierte Wohlstand und Status eines Mannes, d. h. ihr Verhalten, ihr Auftreten und ihre Ausstattung wurden in Relation zu ihrem Mann, Bruder oder Vater beurteilt. Während sich die Männer ungeniert (fast) allen Ausschweifungen hingeben konnten, galt für die Frau ein strenger Moralkodex. Ausgenommen von dieser Verhaltensnorm waren allein die Hetären, die an Symposien und Gelagen teilnahmen und sich unbeaufsichtigt in der Stadt bewegen konnten, aber immer darauf achten mussten, nicht auf das Niveau von gewöhnlichen Prostituierten herabzusinken. Allerdings konnten nur Frauen aus den wohlhabenderen Schichten diesen Idealvorstellungen vom richtigen Verhalten genügen. In ärmeren Kreisen war es üblich und auch notwendig, dass sich die Frauen auch ausserhalb der festlichen Anlässe in der Öffentlichkeit zeigten, z. B. als Arbeiterinnen in Landwirtschaften oder handwerklichen Familienbetrieben. Ein weiterer wichtiger identitätsstiftender Faktor der griechischen Kultur war schliesslich ein rigoroser, bisweilen offen aggressiver AusschIiessIichkeitsanspruch. Bei allen Konflikten und Streitereien untereinander fühlten sich die Griechen insgesamt als eine überle gene Elite, die in allen Nachbarvölkern unterschiedslos minderwertige Barbaren sah. Diese von keinerlei Zweifeln getrübte Selbstsicht, die sich wie ein roter Faden durch fast die gesamte antike griechische Literatur zieht, war letztlich dafür verantwortlich, dass sich auch auf Sizilien kein friedliches Nebeneinander unterschiedlicher Kulturen entfalten konnte. Das griechische Streben nach Dominanz auf allen Ebenen liess schliesslich ein Konfliktpotential entstehen, das sich in zahlreichen Kriegen gegen die Nachbarkultu42 ren entladen sollte. Über die exakten Jahreszahlen der griechischen Koloniegründungen auf Sizilien besteht zwischen verschiedenen antiken Quellen ein kaum auflösbarer Widerspruch. Sicher bezeugt ist jedoch, dass die ersten Kolonien im Osten der Insel entstanden, also auf der Griechenland zugewandten Seite. Naxos (um 735 v. Chr.), Syrakus (um 734 v. Chr.), Leontinoi (um 730 v. Chr.), Katane (um 729 v. Chr.) und Megara Hyblaea (um 728 v. Chr.) sind die Orte, die in einer ersten Kolonisationswelle im Abstand von nur wenigen Jahren gegründet wurden. Da sich all dies weit entfernt von den phönizischen Niederlassungen im Westteil der Insel abspielte, kam es zu dieser Zeit noch nicht zu Konflikten zwischen Phöniziern und Griechen. Eine Generation später sollte sich dies jedoch ändern. Eine neue Welle von Koloniegründungen führte zu einer zunehmenden Expansion der Griechenstädte nach Westen. Die Gründung von Gela (um 690 v. Chr.) machte den Anfang, besonders aber die Anlage von Selinunt (um 650 v. Chr.) und Himera (um 648 v. Chr.) reduzierte die phönizische Einflusssphäre auf der Insel erheblich. Nachdem mit der Gründung von Aluagas (582 v. Chr.) die vorerst letzte grosse griechi sche Kolonie auf Sizilien Gestalt angenommen hatte und sich die Griechen immer spürbarer als die eigentlichen Herren der Insel aufführten, begann mit dem Karthagerkrieg von 570 bis 550 v. Chr. eine Kette von bewaffneten Auseinandersetzungen. Dabei blieben die Karthager zunächst siegreich, konnten ihre Einflusssphäre behaupten und Kompromisse von seiten der Griechen erzwingen. So sahen sich die Griechen insbesondere in Himera und Selinunt - beide Städte grenzten unmittelbar an den karthagischen Einflussbereich im Westen - gezwungen, auf die Bedürfnisse dieser »Barbaren« Rücksicht zu nehmen und sich mit ihnen zu arrangieren. Zu Beginn des 5. Jh. v. Chr. eskalierte der Konflikt jedoch. Schon seit längerem gab es nicht nur Händel zwischen Karthagern und Griechen, sondern auch zwischen einzelnen Griechenstädten und Sizilien. Ein Krieg zwischen Aluagas und Himera führte dazu, dass das unterlegene Himera - es hatte aus Einsicht in die Notwendigkeit seit längerem gute Beziehungen zu den Karthagern gepflegt - diese Nachbarn um Hilfe bat. Auf der Gegenseite verbündete Aluagas sich mit Gela und Syrakus. So kam es zu einem ersten grossen, ganz Sizi lien umfassenden Krieg, der mit der Schlacht bei Himera (480 v. Chr.) seine Entscheidung fand. Das karthagisch-phönizische Heer wurde vernichtend geschlagen. Zehntausende gerieten in die Sklaverei, riesige Geldmittel wurden erbeutet, und die punisch-karthagische Bevölkerung wurde für die nächsten Jahrzehnte auf ein schmales Terrain im äussersten Westen Siziliens zurückgedrängt. Die griechischen Koloniestädte in archaischer Zeit In der Gründungsphase einer Koloniestadt waren die einzelnen Siedler auf gemeinschaftliches Vorgehen angewiesen. Mauerbau, Landverteilung, die Anlage des charakteristischen rechteckigen Strassennetzes in den Städten (wohl ein Resultat des Bestrebens, für alle Neuangekommenen gleichgrosse Wohnquartiere zu schaffen), aber auch der Bau von ersten Tempeln und Heiligtümern waren Gemeinschaftsleistungen, bei denen sich die Interessen des einzelnen dem Ganzen unterordnen mussten. Die entscheidende Rolle bei diesen Tätigkeiten spielte in der Regel zunächst der Oikist. Häufig kam es jedoch innerhalb der Siedlergemeinschaften zu Streit und Zwistigkeiten, besonders in denjenigen Neugründungen, wo zwei Siedlergruppen unterschiedlicher Herkunft mit zwei Oikisten gemeinsam ans Werk gingen, Ein Resultat solcher Konflikte ist das Entstehen der Tyrannis, einer Regierungsform, die nicht nur in fast allen griechischen Kolonien in der archaischen Zeit, sondern auch in Griechenland selbst - dort jedoch aus anderen Gründen - die Regel werden sollte. Ein Tyrann in dieser Zeit war kein blutrünstiger Despot oder Diktator, wie es das Wort heute impliziert. Immer ein Angehöriger der Aristokratie, trat er gewissermassen als »Schiedsrichter«, als konsensfähige Person in einer Situation auf, in der die inneren Streitigkeiten einer Gemeinschaft ein solches Ausmass erreicht hatten, das eine gewaltfreie Lösung zwischen den zerstrittenen Parteien kaum mehr zuliess. In der Regel war eine solche Tyrannis eine Regierungsform von beschränkter Dauer, eng an die jeweilige Situation gebunden und nach Lösung der Probleme überflüssig. Besonders die alte und wohlhabende Adelsschicht trat naturgemäss als Gegner der Tyrannis in Erscheinung, denn um die entstandenen Konflikte zu beheben, war es oft unabdingbar, dass der Tyrann ihre Privilegien einschränkte. Anders als in Griechenland kam es auf Sizilien jedoch häufig auch zu einer Vererbung der Tyrannis, also zu einer Art Königtum mit regelrechter Hofhaltung. Die archaische Zeit der sizilischen Koloniestädte war geprägt von einer reichen Adelsgesellschaft, die nach Kräften ihren Wohlstand nach aussen hin zeigte, sowie den Tyrannenhöfen, die zu Mittelpunkten von Kunst und Kultur wurden. Ihren Höhepunkt erreichte diese Entwicklung am Ende des 6. und zu Beginn des 5. Jh. v. Chr. an den Höfen des Theron von Aluagas und des Gelon und Hieron von Syrakus. Nicht nur innerhalb Siziliens, auch in den grossen Heiligtümern Griechenlands, allen voran Olympia und Delphi, demonstrierten diese Tyrannen die Macht und den Reichtum ihrer Städte durch grossartige, prunkvolle Weihgeschenke. Die Geloer errichteten in Olympia ein grosses, mit prachtvollen Dachverkleidungen aus Terrakotta versehenes Schatzhaus, ein Gebäude, das für die Magazinierung weiterer Weihgeschenke gedacht war; der Tyrann Polyzalos aus Gela stiftete das Standbild eines Wagenlenkers nebst Wagen und Viergespann aus Bronze nach Delphi, und die Akragantiner weihten eine bronzene Statuengruppe in Olympia. Nicht nur grosse Tempel, die der Machtdemonstration einzelner Tyrannen und Städte dienten, entstanden im 6. Jh. v. Chr. auf Sizilien, sondern auch eine Reihe architektonisch unscheinbarer Heiligtümer, die breiten Schichten als Stätten der Kultausübung und als Orte zum Aufstellen von Devotionalien zur Verfügung standen. Ein Heiligtum war zunächst nichts weiter als eine Fläche, die aus dem Siedlungsgebiet herausgelöst wurde und der Kultpraxis diente. In der Regel markierte eine kleine Mauer die Grenze zwischen profanem Leben und dem Temenos, dem Kultareal. Zentrum des religiösen Geschehens war oft irgendein naturbelassener »heiliger« Gegenstand wie ein Baum, ein Stein oder eine Quelle, manchmal auch ein »uraltes« Kultbild oder ein Altar. Hierauf bezogen sich die Riten, also Gebete, Prozessionen oder Opfer. Ein Tempel dagegen war kein notwendiger Bestandteil für die Kultausübung in einem Heiligtum, und so mancher Tempel besass überhaupt keinen Kult, war demzufolge auch kein Kultbau, sondern eher ein überdimensioniertes Weihgeschenk oder schlicht ein dekorativer Prunkbau. Vor allem der dorische RinghaIIentempeI, später in Gestalt des Zeustempels von Olympia und des Parthenon auf der Athener Akropolis ein Inbegriff griechischer Kultur schlechthin, verdankt der ausserordentlichen Bautätigkeit in den sizilischen Koloniestädten wesentliche Impulse seiner Entwicklung. Der dorische Ringhallentempel stellt sich im Prinzip als ein sehr einfaches Gebilde dar: Auf einem abgestuften Podest (Krepis) erhebt sich ein Kernbau (Cella), der von einem Kranz aus kannelielien und mit Kapitellen versehenen Säulen (Peristasis) umstanden ist. Auf den Kapitellen, bestehend aus einem Polster (Echinus) und einer Deckplatte (Abakus), lagert ein Gebälk aus Architrav, dem Fries mit Metopen und Triglyphen und darüber dem Geison. Ein Giebeldach überspannt mittels einer Holzkonstruktion sowohl den Säulenkranz als auch die Cella und verleiht dem ganzen Bau ein homogenes, hausartiges Aussehen. Eine Treppe, meist an der östlichen Schmalseite gelegen, führt zum Eingang des ,Gebäudes. Wann und wo diese Form des dorischen Tempels entstand, ist unklar. Fest steht jedoch, dass die ersten Bauten dieser Art aus Holz bestanden und erst später in Stein umgesetzt wurden. Deutlich sichtbar ist der Übergang von einer Holz- zur Steinkonstruktion am älte.sten erhaltenen dorischen Tempel, dem Heratempel in Olympia: Hier wurden die alten Holzsäulen nach und nach durch Stein säulen ersetzt, was dem Bau ein sehr unregelmässiges, heterogenes Aussehen verlieh. An vielen Stellen der Steinbauten erkennt man noch die Herkunft vom Holzbau: Metopen als »Leerräume« und Triglyphen als »Querbalkenlager«, vor allem aber die »Nägel« und »Dübel« (Guttae) am 43 Geison mit den Traufplatten und der Regula unterhalb der Triglyphen sind im Steinbau ein Anachronismus, ein funktionsloser, nur noch zitathafter Verweis auf die alten Holzkonstruktionen. Alle Tempel Siziliens, sowohl die archaischen wie auch diejenigen aus klassischer Zeit, sind aus grobem Muschelkalk gebaut, der jeweils in unmittelbarer Nähe der Koloniestädte gebrochen wurde. Antike Steinbrüche kann der Reisende noch heute in der Nähe von Selinunt oder bei Syrakus besuchen. Dieser Muschelkalk wurde später mit einer Stuckschicht versehen, die Teilen des Baus ein marmorartiges Aussehen verlieh. Bestimmte Bauglieder wie z. B. Kapitelle und Triglyphen wurden farbig gefasst, so dass die Tempel nicht nur weiss im Licht der Sonne glänzten, sondern ein für das heutige Auge ungewohntes Bild greller Buntheit boten. Oft hat man, besonders in archaischer Zeit, diese Farbigkeit durch bemalte Terrakottaverkleidungen in der Gebälk- und Giebelzone noch gesteigert. Die über 30 grossen dorischen Ringhallentempel, die auf Sizilien im 6. und 5. Jh. v. Chr. entstanden, ermöglichen einen Nachvollzug der Form- und Proportionsentwicklung dieses Bautyps, wie dies selbst in Griechenland so nicht möglich ist. Zentren des archaischen Tempelbaus des 6. Jh. v. Chr. auf Sizilien waren in erster Linie Selinunt und Syrakus. Als um 570 v. Chr. in Syrakus mit dem Bau des Apollontempels (s. S. 128) und, etwa 10 Jahre später, mit dem des Olympischen Zeus (s. S. 146) begonnen wurde, gehörte man zu den Pionieren des dorischen Tempelbaus; vergleichbare Projekte entstanden zu dieser Zeit lediglich auf Korfu, in Olympia und Athen. Vergleicht man sizilische Heiligtümer mit den grossen Anlagen des griechischen Mutterlandes, so fallen deutliche Unterschiede auf. Die Heiligtümer von Delphi, Olympia, Isthmia und Nemea besassen mit ihren Wettspielen und Orakeln überregionale Bedeutung. Sie waren Zentren der ganzen griechischen Welt. Hier wurden Kontakte zwischen den Stadtstaaten und nach auswärts geknüpft, hier trafen sich diplomatische Gesandtschaften, dies waren die Orte, wo Adelssippen, Tyrannen und ganze Bürgerschaften zu Repräsentatioszwecken aufwendige Weihgeschenken stifteten und dabei sicher sein konnten, dass dieses Tun von der Welt auch gebührend zur Kenntnis genommen wurde. Die sizilischen Heiligtümer hatten dagegen allenfalls lokale Bedeutung, und wenn ein Aristokrat oder Tyrann aus Selinunt oder Syrakus in der griechischen Welt von sich reden machen wollte, so musste er das in Griechenland selbst erreichen. Noch ein zweiter Unterschied ist von Bedeutung. Nicht nur die grossen griechischen Heiligtümer, sondern auch kleinere Lokalheiligtümer in Griechenland wie etwa die Athener Akropolis wiesen eine lange Tradition auf, waren über lange Ketten von Legenden »bruchlos« mit der griechischen Mythologie verzahnt worden. Heilige Kultmale, oft als Relikte des Wirkens der Götter gedeutet, uralte »vom Himmel 44 gefallene« Kultbilder, aber auch die Überreste eines jahrhundertelangen Kultbetriebs bezeugten diese Tradition, die den Heiligtümern überhaupt erst Bedeutung verlieh. Die sizilischen Anlagen waren demgegenüber traditionslose Neuschöpfungen, die schon deshalb niemals eine Gleichwertigkeit mit den mutterländischen Heiligtümern erreichen konnten. So fehlt den Bauten in diesen neuen Heiligtümern denn auch durchweg die Bezugnahme auf alte kultische Zentren. Sie wirkten vielmehr wie eine Ansammlung von architektonischen Versatzstücken, manchmal fast wie Konstrukte zur Kaschierung dieser Traditionslosigkeit. Die Tempel und Altäre waren weniger vom »Geist alter Religion« durchzogen als vielmehr demonstrative, oft übersteigerte Zeichen für die Präsenz der griechischen Kultur in den neuerschlossenen Gebieten. Wenn auch in bescheidenerem Masse, so waren die sizilischen Heiligtümer doch ebenfalls Orte der Repräsentation. Zahlreiche Weihgeschenke wurden von den wohlhabenden Adligen und auch von weniger begüterten Bürgern hier aufgestellt. Die allermeisten dieser Weihgeschenke, besonders aber die Statuen, die sich einst in grosser Zahl in den Heiligtümern befunden haben müssen, sind heute verschollen: Sie wurden schon kurz nach der römischen Eroberung Siziliens im 3. Jh. v. Chr. geraubt und nach Italien verbracht, wo sie fortan öffentliche Plätze und die Landvillen der römischen Oberschicht schmückten. In grösserer Zahl fanden sich bei Ausgrabungen in den Heiligtümern Keramikgefässe und fein gearbeitetes Bronzegerät, meist Gefässe, Statuetten und Spiegel. Gegenstände dieser Art dienten nicht nur als Weihgeschenke, sondern auch als Grabbeigaben. Als Grabstatuen wie auch als Weihgeschenke wurden die beiden Statuentypen verwendet, die im 6. Jh. v. Chr. die Prototypen der aristokratischen Selbstdarstellung bildeten: der Kouros als nacktes Abbild des »idealen« jungen Mannes, der tatkräftig zu Sport, Jagd und Krieg bereit ist, und die Kore als Sinnbild der reich gekleideten jungen Aristokratin, die Prunkstück und Augenstern der Männerwelt war. Aus Megara Hyblaea stammt der Torso eines um die Mitte des Jh. v. Chr. entstandenen Kouros (Archäologisches Museum von Syrakus). Frontal ausgebildet und statisch in sich ruhend, beide Arme eng an den Körper gelegt, zeigt diese Statue aus griechischem Marmor den Kourostypus, wie er in ähnlicher Form hundertfach aus Heiligtümern Griechenlands bekannt ist. Eine Inschrift auf dem rechten Bein verleiht dem Chiffrenhaften, typengebundenen Bildnis den Bezug auf ein Individuum: Der Arzt Sombrotidas, Sohn des MandrokIes, hat sich mit diesem Weihgeschenk ein Denkmal gesetzt. Ebenfalls den Kourostypus stellt der berühmte »Torso von Grammichele« (Archäologisches Museum von Syrakus) dar, möglicherweise ein Importstück von den Ägäischen Inseln. Von erheblicher Bedeutung war nicht nur in der archaischen Zeit, ‚sondern auch in späteren Jahrhun- derten die sizilische Terrakottakunst. Grosse Mengen von Tonstatuetten wurden auf Sizilien regelrecht industriell hergestellt. Dafür produzierte man mehrfach wiederverwendbare Matrizen, die dann mit Tonmasse gefüllt wurden; die so entstandenen Figuren wurden anschliessend gebrannt. Eine »Fabrik« für solche Erzeugnisse wurde in Agrigent gefunden, und zahlreiche weitere Fertigungsstätten müssen auf Sizilien existiert haben. Neben der billigen, in Serien hergestellten Massenware finden sich aber auch grössere, kunstvoll gearbeitete Tonskulpturen wie beispielsweise die thronende Göttin aus Grammichele (um 500 v. Chr., Archäologisches Museum von Syrakus). Besonders aufwendig und damals weltberühmt waren die bunt bemalten sizilischen Architekturterrakotten und die tönernen Dachelemente; eindrucksvolle Beispiele sind die Tongebälke des Schatzhauses, das die Stadt Gela zu Beginn des 6. Jh. v. Chr. nach Olympia stiftete (Olympia, Museum), sowie das Gorgorelief aus Syrakus (um 560 v. Chr., Archäologisches Museum von Syrakus; s. Abb. S. 19). Die Klassik Nach dem Sieg über die Karthager bei Himera 480 v. Chr. wuchs der Reichtum der Städte durch die gewaltige Kriegsbeute beinahe ins Unermessliche und wurde nun bald im ganzen griechischen Kulturraum sprichwörtlich. Luxusgüter aller Herren Länder waren hier gegenwärtig und ermöglichten einen Lebensstandard, auf den selbst die Athener - in der Ära des Perildes Bewohner der mächtigsten griechischen Polis - mit einigem Neid blickten. Das Glück dauerte jedoch nur kurze Zeit. Streitigkeiten zwischen den sizilischen Städten waren im 5. Jh. v. Chr. an der Tagesordnung, doch als im Zuge eines solchen Konfliktes die Segestaner sich an die »Supermacht« Athen mit der Bitte um Hilfe wandten, geriet die Situation ausser Kontrolle. Athen, das von 431-421 v. Chr. in der ersten Phase des Peloponnesischen Krieges gegen Sparta trotz grösster Anstrengungen sieglos geblieben war, nutzte diesen Hilferuf, um militärische Stärke zu demonstrieren. Der Historiker Thukydides wies jedoch noch auf einen anderen Grund für Athens Engagement hin: »Der wahrste Grund war gewiss (Athens) Wunsch, das ganze Sizilien zu unterwerfen« (Thukydides VI 6). Der Hauptgegner Athens auf Sizilien war Syrakus, das im Peloponnesischen Krieg bislang seine Mutterstadt Korinth massiv unterstützt hatte. Korinth wiederum war der mächtigste Verbündete Spartas, und so sahen die Athener nun eine Möglichkeit, den Krieg wieder aufzunehmen und das verhasste Sparta gewissermassen durch eine Art Flankenangriff empfindlich zu schwächen. 415 v. Chr. sandte Athen ein grosses Flottenkontingent unter Führung des Alkibiades nach Sizilien. Doch diese Sizilische Expedition endete im vollständigen Desaster. Nach fast zweijähriger Belagerung von Syrakus wurden die Athener, die seit 414 v. Chr. auch in Griechenland wieder Krieg gegen Sparta führten, vernichtend geschlagen; kaum ein Soldat gelangte zurück nach Athen. Der Krieg gegen Athen hatte die sizilischen Stadtstaaten trotz des glanzvollen Sieges über Athen jedoch nicht nur militärisch geschwächt, sondern auch politisch tief gespalten in Anhänger Athens, Anhänger von Syrakus und neutrale Städte. In dieser instabilen Situation führten nun die Karthager einen Grossangriff, dem die sizilischen Stadtstaaten unvorbereitet und machtlos gegenüberstanden. Selinunt und Himera wurden dem Erdboden gleichgemacht (409 v. Chr.), Aluagas belagert, eingenommen und geplündert (406 v. Chr.). Auch Syrakus wurde belagert. Als es 404 v. Chr. zu einem Frieden zwischen Syrakus und den Karthagern kam, hatte sich die Lage auf Sizilien grundlegend verändert. Viele Städte waren zerstört, andere von ihren Bewohnern verlassen. Der Glanz‘ und der Reichtum vieler Koloniestädte war mit einem Schlag vergangen, allein Syrakus war in den Kriegswirren halbwegs unbeschadet geblieben. Ein weiterer Unruhefaktor auf Sizilien war auch der sog. Aufstand des Duketios, der die Städte zwischen 466 und 446 v. Chr. erschütterte. Die historischen Fakten sind von antiken Schriftstellern zwar fast bis zur Unkenntlichkeit verklärt worden, dennoch aber steht fest, dass dies ein breit angelegter Aufstand der einheimischen Urbevölkerung gegen die Griechen war, nachdem diese begonnen hatten, auch das gesamte Inselinnere in Beschlag zu nehmen. Ziel des Aufstands war offenbar die Gründung eines eigenen Staates, in dem Sikuler und Sikaner gefahrlos und unbelästigt von den Griechen ihren eigenen Interessen nachgehen konnten. In mühevollen und für die Griechen verlustreichen Kriegen konnte dieser Aufstand schliesslich nach 20 Jahren niedergeworfen werden. Trotz der geschilderten Ereignisse war das 5. Jh. v. Chr. die grösste Blütezeit der sizilischen Stadtstaaten, eine Zeit, die aber auch durch tiefgreifende Veränderungen in den Städten selbst geprägt war. Fast überall wurden die Tyrannen, die bis ins frühe 5. Jh. v. Chr. hinein die Städte regierten, vertrieben und Demokratien ins Leben gerufen. Ähnlich wie in Athen, der »Mutterstadt« der griechischen Demokratie, lenkten nun nicht mehr einzelne Personen, sondern die Gruppe der Vollbürger die Geschicke der Polis. Zwar bildete diese Gruppe nur eine kleine Minderheit in den Städten, denn Sklaven, Frauen und Metöken, die zahlreichen freien Fremden ohne Bürgerrecht, waren von der Volksversammlung, dem obersten Beschlussorgan in der Demokratie, ausgeschlossen (und insofern hat dies auch wenig zu tun mit unserem heutigen Demokratiebegriff ). Dennoch bewirkten diese Demokratien einen vorher nicht gekannten Pluralismus in der Meinungs- und Beschlussfassung und zwangen die Bürgerschaften immer wieder von neuem zu Kon45 sens und Übereinkunft im Konflikt widerstreitender Interessen. Das Leben in einem demokratisch ausgerichteten Stadtstaat spielte sich weitgehend in der Öffentlichkeit ab. Zentrum der Stadt war die Agora, der zumeist von Säulenhallen gerahmte Marktplatz. Hier trafen sich die Männer in Gruppen zu Gespräch und politischer Debatte und erledigten zudem die täglichen Einkäufe, denn auf der Agora betrieben die Händler ihre Marktstände. Zugleich bildete die Agora den politischen Mittelpunkt jeder Stadt. Hier standen die wichtigsten öffentlichen Gebäude, hier residierten die Verwaltungs- und Aufsichtsbehörden der Polis. Besonders in der Phase der Demokratie im 5. Jh. v. Chr. war die Agora der zentrale Ort für die öffentlichen Belange und wurde dementsprechend mit zahlreichen neuen Bauten ausgestaltet. Solche Platzanlagen sind auf Sizilien heute noch besonders gut sichtbar in Megara Hyblaea, Eloro, Morgantina und Syrakus. Neben den Tempeln und Platzanlagen blieben vor allem die Theater auf Sizilien in grosser Zahl als eindrucksvolle Ruinen erhalten. Ob in Syrakus, Morgantina und Herakleia Minoa oder in Eloro, Catania, Akrai, Segesta und Solus - in fast jeder Stadt finden sich mehr oder weniger gut erhaltene Reste griechischer Theater, die aus einem halbrunden, abgestuften, in einen Hang hineingebauten Zuschauerraum, einer Bühne und einem dahinterliegenden Bühnengebäude bestehen. Die meisten dieser Bauten stammen in ihrer heutigen Form aus dem 4. und 3. Jh. v. Chr., gehen jedoch oft auf Anlagen aus dem 5. Jh. v. Chr. zurück, die zunächst als unspektakuläre Holz- oder Erdkon struktionen ausgeführt waren und erst später in aufwendiger Steinbauweise renoviert wurden. Ursprünglicher Zweck dieser Bauwerke waren erst in zweiter Linie die Aufführungen von Tragödien und Komödien. Ihre Hauptfunktion bestand vielmehr darin, dass in ihnen die Volksversammlung tagte. Die Versammlung der stimmberechtigten Vollbürger, das oberste Beschlussgremium der demokratischen Polis, trat regelmässig zusammen, debattierte und entschied über alle anstehenden politischen Probleme, beschloss neue Bauvorhaben der Stadt und wählte Beamte und Ausschüsse. Wie alle öffentlichen. Bauprojekte sind auch die dorischen Ringhallentempel, die auf Sizilien im 5. Jh. v. Chr. entstanden, vor Baubeginn Gegenstand der Debatte in den jeweiligen Volksversammlungen gewesen. Nicht mehr die Tyrannen, sondern eben die Bürgerschaften der Polis mit ihren durchaus nicht einheitlichen Interessen gaben diese Bauten nunmehr in Auftrag. Aus Athen weiss man, dass neue Bauprojekte wie etwa der Parthenon auf der Akropolis heiss umstritten waren, dass sie bis in Details hinein von der Volksversammlung diskutiert und verändert wurden, und dass dabei die Architekten keineswegs freie Hand hatten, so zu bauen, wie sie es für richtig hielten, sondern einer strengen Kontrolle durch die Gremien 46 unterlagen . In Olympia war um 460 v. Chr. mit dem Zeustempel der bis dahin modernste dorische Tempel entstanden, ein Bauwerk, das auch später noch als beispielhaftes Vorbild des klassischen Tempels schlechthin gelten sollte. Sowohl im Grund- als auch im Aufriss war dieser . Bau homogen und ausgewogen proportioniert. Die 6 x 13 Säulen wahrten ringsum den gleichen Abstand, nur an den Ecken waren die Joche, um einen regelmässigen Friesablauf zu gewährleisten, kräftig kontrahiert (einfache Eckkontraktion). Im Innern der Cella erhob sich das gewaltige, aus Gold und Elfenbein bestehende Zeusbildnis, eines der sieben Weltwunder. Über Pronaos und Opisthodom waren je sechs Reliefmetopen angebracht, die die zwölf Taten des Herakles zeigten. Etwa zur gleichen Zeit begannen die Selinuntiner mit dem Bau ihres Tempels E, des dritten und letzten Bauwerks der »östlichen Tempelgruppe«. Der stark zerstörte Bau - er wurde in den späten fünfziger Jahren des 20. Jh. teilweise wiederaufgerichtet kopiert sehr weitgehend den Zeustempel von Olympia und zeigt, wie man nun begann, sich an mutterländischen Bauformen zu orientieren. So entspricht die kräftige, einfache Eckkontraktion dem Zeustempel ebenso wie der Säulenaufriss, die straffen Kapitelle und die Cella mit Pronaos und Opisthodom (an Stelle des im 6. Jh. v. Chr. auf Sizilien üblichen Adytons). Und wie in Olympia, so befanden sich auch am Tempel E je sechs mit Szenen aus der Götterwelt skulptierte Metopen über Pronaos und Opisthodom. Einen bemerkenswerten Sonderfall in der Geschichte des klassischen dorischen Tempelbaus auf Sizilien bilden die sechs Ringhallentempel, die zwischen 470 und 406 v. Chr. in Aluagas entstanden. Allesamt in bescheidener Grösse konzipiert, weisen der Tempel E . (unter der Kirche S. Maria dei Greci gelegen), der Juno Lacinia-Tempel, der Concordiatempel, der Tempel L, der Dioskurentempel und der Vulcantempel als gemeinsames Merkmal eine Ringhalle mit 6 x 13 Säulen auf. Dieses Säulenverhältnis, das in Griechenland an klassischen Tempeln die Regel ist, findet sich - von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen - in Westgriechenland allein an diesen sechs Bauten, während sonst ein Säulenverhältnis von 6 x 14 oder 6 x 15 in dieser Region üblich ist. Die sechs Tempel von Agrigent bilden als Gruppe gewissermassen einen Katalog zeitgenössischer »Designmöglichkeiten« im Tempelbau. Obwohl in Aufund Grundrissproportionen einander sehr ähnlich, unterscheiden sich ihre Baukonzepte doch deutlich voneinander: Die einfache Eckkontraktion (Tempel E, Vulcantempel und Dioskurentempel) begegnet hier ebenso wie die doppelte Eckkontraktion (Concordiatempel), sogar eine Kombination aus doppelter Eckkontraktion an den Langseiten und einfacher Eckkontraktion an den Frontseiten wurde hier erprobt (Tempel L), und schliesslich findet sich ein altertümliches Baukonzept, bei dem beide Frontseiten unterschiedlich gestaltet wurden ( Juno Lacinia-Tempel). Zahlreiche Varia tionen in Details der Grund- und Aufrisse erhärten die Vermutung, gewesen. Nicht mehr die Tyrannen, sondern eben die Bürgerschaften der Polis mit ihren durchaus nicht einheitlichen Interessen gaben diese Bauten nunmehr in Auftrag. Aus Athen weiss man, dass neue Bauprojekte wie etwa der Parthenon auf der Akropolis heiss umstritten waren, dass sie bis in Details hinein von der Volksversammlung diskutiert und verändert wurden, und dass dabei die Architekten keineswegs freie Hand hatten, so zu bauen, wie sie es für richtig hielten, sondern einer strengen Kontrolle durch die Gremien unterlagen . . In Olympia war um 460 v. Chr. mit dem Zeustempel der bis dahin modernste dorische Tempel entstanden, ein Bauwerk, das auch später noch als beispielhaftes Vorbild des klassischen Tempels schlechthin gelten sollte. Sowohl im Grund- als auch im Aufriss war dieser . Bau homogen und ausgewogen proportioniert. Die 6 x 13 Säulen wahrten ringsum den gleichen Abstand, nur an den Ecken waren die Joche, um einen regelmässigen Friesablauf zu gewährleisten, kräftig kontrahiert (einfache Eckkontraktion). Im Innern der Cella erhob sich das gewaltige, aus Gold und Elfenbein bestehende Zeusbildnis, eines der sieben Weltwunder. Über Pronaos und Opisthodom waren je sechs Reliefmetopen angebracht, die die zwölf Taten des Herakles zeigten. Etwa zur gleichen Zeit begannen die Selinuntiner mit dem Bau ihres Tempels E, des dritten und letzten Bauwerks der »östlichen Tempelgruppe«. Der stark zerstörte Bau - er wurde in den späten fünfziger Jahren des 20. Jh. teilweise wiederaufgerichtet kopiert sehr weitgehend den Zeustempel von Olympia und zeigt, wie man nun begann, sich an mutterländischen Bauformen zu orientieren. So entspricht die kräftige, einfache Eckkontraktion dem Zeustempel ebenso wie der Säulenaufriss, die straffen Kapitelle und die Cella mit Pronaos und Opisthodom (an Stelle des im 6. Jh. v. Chr. auf Sizilien üblichen Adytons). Und wie in Olympia, so befanden sich auch am Tempel E je sechs mit Szenen aus der Götterwelt skulptierte Metopen über Pronaos und Opisthodom. Einen bemerkenswerten Sonderfall in der Geschichte des klassischen dorischen Tempelbaus auf Sizilien bilden die sechs Ringhallentempel, die zwischen 470 und 406 v. Chr. in Aluagas entstanden. Allesamt in bescheidener Grösse konzipiert, weisen der Tempel E . (unter der Kirche S. Maria dei Greci gelegen), der Juno Lacinia-Tempel, der Concordiatempel, der Tempel L, der Dioskurentempel und der Vulcantempel als gemeinsames Merkmal eine Ringhalle mit 6 x 13 Säulen auf. Dieses Säulenverhältnis, das in Griechenland an klassischen Tempeln die Regel ist, findet sich - von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen - in Westgrie- chenland allein an diesen sechs Bauten, während sonst ein Säulenverhältnis von 6 x 14 oder 6 x 15 in dieser Region üblich ist. Die sechs Tempel von Agrigent bilden als Gruppe gewissermassen einen Katalog zeitgenössischer »Designmöglichkeiten« im Tempelbau. Obwohl in Aufund Grundrissproportionen einander sehr ähnlich, unterscheiden sich ihre Baukonzepte doch deutlich voneinander: Die einfache Eckkontraktion (Tempel E, Vulcantempel und Dioskurentempel) begegnet hier ebenso wie die doppelte Eckkontraktion (Concordiatempel), sogar eine Kombination aus doppelter Eckkontraktion an den Langseiten und einfacher Eckkontraktion an den Frontseiten wurde hier erprobt (Tempel L), und schliesslich findet sich ein altertümliches Baukonzept, bei dem beide Frontseiten unterschiedlich gestaltet wurden ( Juno Lacinia-Tempel). Zahlreiche Varia tionen in Details der Grund- und Aufrisse erhärten die Vermutung, dass die selbstbewussten Agrigenter Bürger mit diesen Tempeln ihre Fähigkeit demonstriert haben, alle Finessen des dorischen Tempelbaus zu beherrschen. Wie auf einer Perlenkette aufgereiht standen die Tempel, deutlich auf Fernwirkung ausgerichtet, unmittelbar neben der Stadtmauer auf hochgelegenem Gelände. Der Concordiatempel ist einer der besterhaltenen griechischen Tempel überhaupt. Er verdankt dies dem Umstand, dass er sehr früh, vermutlich schon im 6. Jh., in eine christliche Kirche umgewandelt wurde und so der Zerstörung durch Steinräuber entging. Der letzte dorische Ringhallentempel Siziliens entstand um 424 v. Chr. im elymischen Segesta. Was heute noch aufrecht steht, ist allein eine offene Ringhalle ohne Dach mit 6 x 14 Säulen und doppelter Eckkontraktion, dem über den Säulen liegenden Gebälk (Architrav, Fries und Geison) sowie zwei fertigen Giebeln an den Frontseiten. Zahlreiche Details wie etwa die nicht abgearbeiteten Hebebossen an den Stylobatquadern und die nur ganz unten im Ansatz bearbeiteten, ansonsten unkannelierten Säulenschäfte zeigen, dass dieser Bau unfertig blieb. Seit Goethes Beschreibung des Bauwerks hat diese Unfertigkeit immer wieder zu Spekulationen über die fremdartigen Bräuche der Elymer Anlass gegeben, war man doch lange Zeit der Meinung, dieses so fragmentarisch erscheinende Gebäude sei in dieser Form vollendet und seine ungewöhnliche Gestalt ein Resultat eines besonderen, nichtgriechischen Kultverständnisses. Dies ist jedoch ein Irrtum, erwachsen nicht nur aus dem Grad der Unfertigkeit des Bauwerks, sondern zudem bestärkt durch den lange Zeit unbemerkt gebliebenen Sachverhalt, dass der Bau zu späteren Zeiten beraubt wurde: Fast jeder Stein, den man entfernen konnte, ohne die Statik des Ganzen zu beeinträchtigen, wurde herausgebrochen und für neue Bauten verwendet. Der Tempel von Segesta sollte allem Anschein nach ein völlig normaler dorischer Tempel werden, musste 47 jedoch, vielleicht in Folge der kriegerischen Ereignisse auf Sizilien am Ende des 5. Jh. v. Chr., unfertig liegengelassen werden. Der Bau sollte wohl nicht nur ein Dach, sondern auch eine Cella erhalten. Fundamentreste dieses Kernbaus, dessen Mauern ebenso wie zahlreiche Stylobatquader später entfernt wurden, haben sich bei Ausgrabungen im Tempelinnern gefunden. Bemerkenswert ist, dass man offenbar zunächst die Ringhalle und erst danach die Cella errichtet hat, ein eigentlich eher unpraktisches Verfahren, da alle Bauglieder für die Cella durch den Säulenkranz hin durch transportiert werden mussten. Besonders die klassischen Tempel in Griechenland zeigen häufig sog. Verfeinerungen in ihrer Baustruktur. Ein Meisterwerk in dieser Hinsicht stellt der Parthenon auf der Athener Akropolis dar. Die Säulen verjüngen sich nicht linear gleichmässig von unten nach oben, sondern sind im Umriss leicht flaschenhalsförmig geschwungen (Entasis); Säulen und Cellawände stehen nicht exakt lotrecht, sondern leicht zum Mittelpunkt des Gebäudes hin geneigt (Inklination); der Stylobat ist keine ebene, waagerechte Fläche, sondern wie ein riesiger Ausschnitt aus einer Kugel gewölbt (Kurvatur). Die sizilischen Tempel weisen, abgesehen von der Entasis, solche Verfeinerungen in der Regel nicht auf. Eine Ausnahme bildet hier allein der Tempel von Segesta, der einen beidseitig kurvierten Stylobat besitzt und aufgrund seiner Unfertigkeit zeigt, wie diese Kurvatur einst angefertigt wurde: Zunächst verlegte man den Stylobat waagerecht, dann wurden an Langund Schmalseiten leicht nach unten durchhängende Schnüre gespannt und die so entstandene »negative« Kurve nach obenhin mit Messpunkten übertragen. Schliesslich meisselte man den Stylobat entsprechend der übertragenen Kurve zurecht. Im Ergebnis ist der Stylobat des Tempels von Segesta am Mittelpunkt der Langseiten um 8,5 ‚cm, am Mittelpunkt der Schmalseiten um 4,5 cm höher als an den Ecken. Diese Kurvatur lässt sich heute noch mit blossem Auge gut ‚erkennen. Prunk, Luxus und Reichtum der sizilischen Koloniestädte wurden im 5. Jh. v. Chr. besonders auch durch die Münzprägung aller Welt demonstriert. Diese Münzen fanden im gesamten griechischen Kul turraum und auch darüber hinaus Verbreitung und konnten selbst Händlern in entlegenen Gebieten noch einen nachhaltigen Eindruck vom Wohlergehen dieser Städte vermitteln. Die Münzen aus massi vem Silber schmückten auf beiden Seiten überaus fein gearbeitete wappenartige Bilder. Regelrechte Markenzeichen waren das Viergespann und der von Fischen umschwommene Arethusakopf auf den Münzen von Syrakus, der stierköpfige Flussgott auf denen von Gela, Krabbe und Adler auf den Münzen von Alcragas sowie der opfernde Gott auf den Selinuntiner Geldstücken. Zusätzlich machte eine Inschrift dem Unkundigen klar, aus welcher Stadt das Geld stamm48 te. Oft wurden die Münzen auch mit der Signatur des Stempelschneiders versehen. Spätklassik und Hellenismus In den knapp 150 Jahren zwischen dem Zusammenbruch vieler Griechenstädte nach dem grossen Karthagerkrieg am Ende des 5. Jh. v. Chr. und dem ersten Eingreifen der Römer bestimmte Syrakus im· wesentlichen die Ereignisse auf Sizilien. Während rings um Syrakus herum Zeichen des Verfalls und des Niedergangs das Bild prägten viele sizilische Städte waren zerstört oder von ihren Bewohnern verlassen worden -, erlebte die Stadt in dieser Zeit ihre höchste Blüte. In Syrakus entstand erneut eine Tyrannis, diesmal nun tatsächlich in Form einer auf das Militär gestützten Despotie. Dionysios 1., nicht erst seit Schillers» Bürgschaft« der Inbegriff des finsteren, arglistigen Wüterichs, regierte seit einem Umsturz 405 v. Chr. die Stadt mit harter Hand. Er schloss zunächst mit den Karthagern Frieden, um sie dann jedoch in einer Serie von Kriegen wieder auf den Westteil der Insel zurückzudrängen. Fortan war Syrakus die Hegemonialmacht auf Sizilien. Nach dem Tod des Dionysios kam es auf ganz Sizilien, besonders aber in Syrakus zu verheerenden Bürgerkriegen, die das Land verwüsteten und ganze Städte entvölkerten. Auf einen Hilferuf aus Syrakus hin sandte Korinth 344 v. Chr. eine Armee unter Führung des Timoleon nach Sizilien, um dort ein geregeltes Leben wiederherzustellen. Die mühsam wiederhergestellten Verhältnisse waren jedoch nicht von Dauer. Nach Timoleons Tod 337 v. Chr. kam es erneut zu Bürgerkriegen und Revolten, bis Agathokles, der sich schon unter Timo·leon als Feldherr einen Namen gemacht hatte, 316 v. Chr. nach langen Kämpfen einen blutigen Staatsstreich durchführte und ein brutales Militärregime in Syrakus errichtete. Seine Versuche, sich zum Herrscher über die gesamten griechisch beeinflussten Gebiete auf ‚Sizilien und Süditalien zu machen, blieben allerdings erfolglos, und so versank die Region nach seinem Tod 289 v. Chr. erneut in Anarchie. Im Gegensatz zu den übrigen Städten Siziliens blieb Syrakus in all diesen Wirren eine reiche, mächtige Stadt, in der eine rege Bautätigkeit herrschte. Neue Stadtteile wurden angelegt und mit grosszügig geschnittenen Wohnhäusern bebaut, die Häfen instandgesetzt und erweitert, Stadtmauern repariert und vergrössert, die Wasserversorg ung verbessert. Doch das ganze übrige Sizilien und damit letztlich auch Syrakus gerieten zusehends ins weltgeschichtliche Abseits. Mit dem Entstehen des Alexanderreichs am Ende des 4. Jh. v. Chr., erst recht aber nach dessen Zerfall in mehrere grosse Flächenstaaten, hatte nicht nur die griechische Polisgesellschaft ihre Bedeutung ein gebüsst, sondern war auch der Mittelpunkt der griechischen Welt weiter nach Osten gerückt, Griechen- land selbst an die Peripherie gedrängt worden. Sizilien lag ausserhalb dieser Entwicklung, war nicht Bestandteil der hellenistischen Staatenwelt. Mochte Syrakus auch eine reiche und bedeutende Grossstadt sein, mit den Metropolen des makedonischen, ptolemäischen oder seleukidischen Reichs konnte man nicht konkurrieren. Waren bis um die Mitte des 4. Jh. v. Chr. die einheimischen Kulturen auf Sizilien und in Süditalien fast bis zur Unkenntlichkeit griechisch »beeinflusst« worden, so kehrte ‚sich dieses Verhältnis nun langsam um. Besonders in Süditalien kam es zu einer Renaissance der einheimischen Kulturen. Ein markantes Beispiel für diese Entwicklung bietet die sog. unteritalische Vasenmalerei mit ihren Zentren in Kampanien, Lukanien, Apulien und auf Sizilien. Chronologisch in der Nachfolge der vielgerühmten attischen Vasenmalerei stehend, wurden hier vorzugsweise aufwendige Prunkgefässe hergestellt, deren Formen, Farbgebungen und Dekorationsmotive eine erhebliche Eigenständigkeit und immer weniger Verbindungen zur »reinen« griechischen Kunst dieser Zeit aufwiesen, allerdings viele Parallelen in den einheimischen Kulturkreisen haben. Sizilien und das Römische Reich Die andauernden Kriege und kleineren Konflikte zwischen den hellenistischen Staaten machten es Rom - das sich zunächst auf dem italienischen Festland etabliert hatte, aber bald schon eine ausgeprägte Expansionspolitik betrieb - leicht, im östlichen Mittelmeerraum Fuss zu fassen. Als der letzte pergamenische Herrscher 133 v. Chr. sein Reich den Römern vererbte, war ein wichtiger Grundstein für das ent stehende Imperium Romanum gelegt. Sizilien, gewissermassen vor der Haustür gelegen, hatte allerdings schon über 100 Jahre zuvor Bekanntschaft mit den Römern gemacht. Träger des römischen Imperialismus war die Kriegsflotte, die allein in der karthagischen Flotte einen gleichwertigen Gegner im Mittelmeer fürchten musste. Wichtige Stützpunkte der Karthager lagen auf Sizilien, und so rückte die Insel während des Ersten Punischen Krieges (264-241 v. Chr.) in den Mittelpunkt des Geschehens. Nach heftigen, verlustreichen Kämpfen zu Wasser und zu Lande kam es zu einem Friedensschluss zwischen Römern und Karthagern, dessen wichtigstes Ergebnis der Rückzug der Karthager aus Sizilien war. In der Folge dieser Ereignisse wurde Sizilien zur ersten Provinz des Römischen Reiches. Die römische Macht erstreckte sich jedoch nicht über ganz Sizilien. Den Ostteil der Insel beanspruchte das Königreich Hierons H., dessen Zentrum Syrakus war. Hieron, im Ersten Punischen Krieg ursprünglich mit Karthago verbündet, wechselte gerade noch rechtzeitig die Fronten, unterstützte die Römer und wurde von diesen nach Kriegsende als Verbündeter auf der In- sel toleriert. Syrakus erlebte in dieser Zeit eine neue wirtschaftliche und kulturelle Blüte. Hieron selbst liess sich u. a. durch den Bau eines riesigen, fast 200 m langen Opferaltars verewigen. Nach dem Tod Hierons (215 v. Chr.) kam es in Syrakus zu einem politischen Kurswechsel; die Stadt unterstützte nun wieder Karthago, das seit 218 v. Chr. erneut mit Rom Krieg führte. Dieser Wechsel der Fronten sollte sich bitter rächen, denn Rom erwies sich als gnädig zu seinen Freunden, jedoch als unerbittlich gegenüber seinen Feinden. Die Belagerung, Eroberung und Zerstörung von Syrakus (213, 212 v. Chr.) war nicht nur eines der Ereignisse, das den Römern den Ruf absoluter Kompromisslosigkeit in der Kriegsführung einbrachte, sondern auch eines der grossen Themen der zeitgenössischen und späteren antiken Geschichtsschreibung. Diodor, Livius, Polybios und Plutarch haben in epischer Breite alle grausigen Details der Vorgänge notiert: Wie die Stadt, durch zahlreiche Erfindungen des Archimedes zunächst gut gerüstet, der Belagerung widerstand, wie die Römer dann jedoch die Mauern durchbrachen und die Soldateska mordend, vergewaltigend und plündernd über die Stadt herfiel, bis nur noch rauchende Trümmer blieben. Die ergreifenden, historisch allerdings nicht belegten Anekdoten über die Ermordung des Archimedes inmitten des Infernos - versonnen sass er vor einem mathematischen Problem, als ihn der tödliche Schwerthieb traf - wirken angesichts des tatsächlichen Blutbades fast wie ein melancholisches Rührstück. Seit 212 v. Chr. war nunmehr ganz Sizilien römische Provinz. Rom errichtete im Laufe der Zeit einen gut funktionierenden Verwaltungsapparat. An der Spitze der Provinz stand ein aus Rom gesandter Prätor, dem auf Sizilien ausnahmsweise zwei Quästoren als Helfer und »Kontrolleure« unterstellt waren (in allen anderen Provinzen gab es nur einen Quästor). Die Städte und Gemeinden Siziliens wurden, von wenigen Ausnahmen abgesehen, verpflichtet, Abgaben an Rom, zu leisten. Gerade Sizilien war wegen seiner Fruchtbarkeit für die Versorgung der immer grösser werdenden Metropole Rom von herausragender Bedeutung. Wenn ein begürteter Römer als Prätor oder Stathalter in eine Provinz geschickt wurde, so war dies durchaus als Belohnung für vorhergehende politische oder militärische Verdienste gedacht, denn in einem gewissen Rahmen konnte und durfte sich der Gesandte Roms an dem ihm für eine begrenzte Zeit unterstellten Territorium bereichern. Das Ausplündern eroberter Gebiete hatte bei den Römern Tradition. Schon Marcellus, unter dessen Kommando Syrakus erstürmt worden war, vor allem aber der spätere Statthalter Verres, hatten gewaltige Mengen an Kunstschätzen aus der Stadt fortgeschleppt und nach Rom verbracht, wo die Beutestücke hinfort die Stadt zierten. Die Folgen solchen Kunstraubs sind heute noch auf Sizilien erkennbar: Statuen und andere kleinere, transportable Denkmäler aus der griechischen Epoche haben sich 49 hier in nur sehr geringer Zahl gefunden. Zu Zeiten des Imperium Romanum ging es im Vergleich zu anderen Provinzen auf Sizilien, wennschon nicht ohne Zwang der Obrigkeit, doch relativ ruhig zu, mit zwei grossen Ausnahmen jedoch. Gegen Ende des 2. Jh. v. Chr. kam es infolge elementarer sozialer Missstände zu Aufruhr und Revolte. Sklaven und freie Bürger erhoben sich gegen die immer drückender werdenden Arbeitsbedingungen und Abgabelasten. In zwei »Befriedungsaktionen« (135-131 und 104-101 v. Chr.) konnte Rom die Aufstände nur mit Mühe niederschlagen und am Ende mit einem neuen Agrargesetz die Ruhe wiederherstellen. Zum letzten Mal für lange Zeit wurde Sizilien in den Auseinandersetzungen, die der Ermordung Caesars folgten, von Kriegshandlungen heimgesucht. In den inneren Wirren hatte sich Sextus Pompeius mit einem Teil der römischen Kriegsflotte der Inseln Korsika, Sardinien und Sizilien bemächtigt. Vor Mylae und Naulochos an der Nordostspitze Siziliens wurde seine Flotte 36 v. Chr. von Oktavian, der später unter dem Namen Augustus weltgeschichtliche Bedeutung erlangte, vernichtend geschlagen. Kunst- und Bauwerke der Römer Anders als das italienische Festland ist Sizilien relativ arm an römischen Kunstwerken, Tempeln oder prachtvollen öffentlichen Gebäuden. Die griechischen Stadtanlagen bestanden in ihrer Substanz wei ter, wurden jedoch in römischer Zeit vielfach erneuert und ergänzt, so dass heute die römischen Bauphasen oft mit Griechischem vermengt und in ihrer Gestalt von älteren griechischen Strukturen geprägt sind. Allerdings entstanden in römischer Zeit auch Neubau ten, z.B. zahlreiche Theater und Odeia. Im Gegensatz zu den griechischen Theatern, die in einen natürlichen Hang hineingebaut waren, sind die römischen Theater frei stehende Architekturen mit einer den Zuschauerraum von aussen umgebenden, gegliederten Fassade. Eine Ausnahme stellt das berühmte Theater von Taormina dar: Dieser in seiner heutigen Form rein römische Bau wurde in einen steilen Hang integriert (s. S. 100). Nicht nur vom Typus, sondern auch von seiner Zeitstellung her ist dieses Theater jedoch griechischer Natur. Der römische Neubau erhebt sich auf den Ruinen einer hellenistischen Anlage. Römische Odeia, kleine, theaterähnliche, aber überdachte Gebäude, die meist für musikalische Veranstaltungen und Lesungen genutzt wurden, finden sich auf Sizilien unter anderem in Catania. Taormina und Akrai. Ein Markanter Bautypus der römischen kultur ist das Amphitheater. Solche elliptischen Bauten mit ihren mehrstöckigen Aussenfassaden und hochaufsteigenden Zuschauerrängen im Innern dienten für Fechterspiele und Tierhetzen. Die meisten dieser Anlagen entstanden erst in den nachchristlichen Jahrhunderten 50 der römischen Kaiserzeit, als die oft mehrtägigen Spiele in den Arenen zu einer festen Institution geworden waren. Das berühmteste und grösste Amphitheater war und ist das Kolosseum in Rom, das im späten 1. Jh. n. Chr. entstand. Zwar gab es auch schon zuvor solche Arenen, doch waren diese ebenso wie die frühen römischen Theaterbauten meist Holzkonstruktionen, die nach Beendigung der Spiele wieder abgerissen wurden. Dem Staat und den Stadtverwaltungen galten die gewalttätigen Veranstaltungen in den Arenen lange Zeit als suspekt, da es dabei immer wieder zu Ausschreitungen und Aufruhr kam. Die steinernen Amphitheater wurden deshalb meist abseits der Zentren in den Aussenbezirken der Städte errichtet. Drei Amphitheater entstanden in der römischen Kaiserzeit auf Sizilien. Die Arena von Termini Imerese (Himera) ist heute fast ganz verschwunden. Ihr einstiger Grundriss zeichnet sich jedoch noch deutlich im Stadtbild ab, da die Bebauung dem Umriss der antiken Anlage über Jahrhunderte hinweg folgte (Via Anfiteatro und Via S. Marco). Besser erhalten sind dagegen die Amphitheater von Catania und Syrakus. Das Amphitheater von Syrakus, im 3. Jh. entstanden, war mit 140 x 120 m eines der grössten in den Provinzen des Römischen Reiches, liess sich jedoch nicht mit dem Kolosseum in Rom (190 x 155 m) vergleichen. Über den prunkvollen und luxuriösen Lebensstil der römischen Oberschicht in der späten Kaiserzeit (3. und 4. Jh.) geben die grossen, palastartigen ViIlenanlagen Aufschluss, die ausserhalb der Städte überall im Reich in dieser Zeit erbaut wurden. Auch auf Sizilien trifft man auf die Überreste solcher Villen. Die am besten erhaltene ist zweifellos die Villa del Casale bei Piazza Armerina (s. S. 180). Um einen Peristylhof herum erstreckt sich der verschachtelte Gebäudekomplex mit Wohn- und Schlafräumen, Nymphäen, Bädern, Latrinen, Wirtschaftsgebäuden, weiteren säulenumstandenen Höfen und den Repräsentationsräumen. Die Fussböden in den Wohn- und . Repräsentationsbereichen waren reich mit Mosaiken geschmückt, die Jagd- und Tierfangszenen, aber auch Szenen der Mythologie und des täglichen Lebens zeigen. Die gesamte Welt der grossen Latifundien, die Ideale und Hierarchien, aber auch die Arbeiten und Vergnügungen in einer solchen Domäne finden sich in derartigen Mosaiken visualisiert. Lange Zeit hat man aufgrund der prachtvollen Ausstattung der Villa bei Piazza Armerina angenommen, dass es sich hier um den Privatbesitz eines römischen Kaisers gehandelt haben müsse. Jedoch wurden in den letzten Jahren allein auf Sizilien drei weitere Villenan lagen aus dieser Zeit entdeckt (bei Eloro, bei Castroreale Terme und bei Patt i Marina), die zwar allesamt weniger gut erhalten und bisher auch nur zu Teilen ausgegraben sind,‘ der Änlage bei Piazza Armerina jedoch in Grösse und Ausstattungsluxus einst in nichts nachstanden, ja sie z. T. sogar übertrafen. Und wenn man alle diese sizilischen Villen mit den riesi- gen kaiserlichen Palastvillen - z.B. mit den Galerius Residenzen in Thessaloniki und Gamzigrad ( Jugoslawien) - vergleicht, so wird deutlich, dass die sizilischen Anlagen bei allem Aufwand demgegenüber doch eher kleine und bescheidene Bauten waren, die vermutlich höheren Staatsbeamten, nicht aber den Kaisern selbst gehört haben. Das mittelalterliche Sizilien Byzantiner und Araber Erste christliche Begräbnisse können bereits um das Jahr 200 datiert werden, und auch die Verehrung der hl. Agatha und des hl. Euplus in Catania sowie des hl. Marcian und der hl. Lucia in Syrakus, Märtyrern von der Mitte des 3. bis zum Anfang des 4. Jh., ist schon früh bezeugt. In den Katakomben, von denen die ausgedehntesten in Syrakus entstanden, besitzen wir die frühesten baulichen Zeugnisse dieser Zeit. Ebenso »im Untergrund« verborgen, der politischen Situation der Religio illicita, der verbotenen Religion, angemessen, liegen die kleine Taufgrotte unter der Kirche S. Giovanni in Marsala oder die Krypta des hl. Marcian in Syrakus . Den endgültigen Durchbruch erfuhr die neue Religion, nachdem das Toleranzedikt von Mailand (313) dem Christentum völlige Gleichberechtigung und Religionsfreiheit gebracht hatte. Aus dieser Zeit bewahrt das Archäologische Museum von Syrakus den Marmorsarkophag der Adelfia auf (Mitte 4. Jh.), dessen spätantiker, skulpturaler Schmuck Szenen aus dem Alten und Neuen Testament darstellt. Die Christianisierung ging in den Städten schneller als auf dem Lande, am langsamsten im Landesinnern vonstatten. Zur Zeit Papst Öregors 1. (590-604) bestanden jedenfalls schon mindestens zwölf Bistümer auf der Insel. Dass sowohl aus dieser frühen als auch aus den bei den darauffolgenden Epochen keinerlei monumentale Architektur erhalten blieb, lässt sich aus den vandalischen, ostgotischen, byzantinischen, arabischen und normannischen Eroberungen und den daraus resultierenden Zerstörungswellen erklären. Auch die geringe Bevölkerungsdichte - Schätzungen reichen von 200 000 bis 800 000 gegenüber ca. 5 Mio. Menschen in den Blütezeiten der Antike - dürfte ein Grund sein. Heidnische Tempel wurden jedoch häufig in christliche Kirchen umgewandelt, so z. B. der Concordiatempel in Agrigent und, wohl crasoerühmteste Beispiel, der Athenatempel in Syrakus. Die bislang ausgegrabenen Kirchen und Kapellen aus der Zeit bis zur arabischen Eroberung besitzen überaus bescheidene Masse und weisen im Grundriss entweder die westliche basilikale oder die byzantinische Kreuzform auf oder sind, wie die Höhlenkirchen im syrakusanischen Raum, schlichte rechteckige Räume. Eindeutig byzantinischer Provenienz sind die Reste der in den Katakomben der hl. Lucia in Syrakus erhaltenen Fresken und der ‚meist auf figürliche Dar- stellungen verzichtende Bauschmuck: Ein Wrack, das man 1960 im Golf von Noto fand, enthielt solche in Byzanz vorgefertigte Säulen und Kapitelle für eine komplette Basilika, die auf sizilischem Boden errichtet werden sollte. Die Felswohnungen und in den Stein gehauenen Kapellen von Pantalica zeugen von der Flucht der Bevölkerung aus den von sarazenischen Überfällen gefährdeten Städten ins Landesinnere. Kunst und Wirtschaft unter arabischer Herrschaft Die muslimischen Eroberer und Siedler trafen also auf eine Griechisch sprechende, zur byzantinischen Kirche gehörende Bevölkerung. Die neuen Herren selbst stellten keine ethnisch geschlossene Gruppe dar, sondern repräsentieren als Ägypter, Araber, Berber aus Tunesien, Perser und Sudanesen die zahlreichen Völker des muslimischen Kulturkreises. Zwischen den Arabern und Berbern, von denen. die ersteren vermutlich hauptsächlich um Palermo und die letzteren im Südwesten um Agrigent siedelten, brachen denn auch immer wieder Kämpfe aus. Ihre christlichen und jüdischen Vasallen (Dhimmis, d. h. geschützte Minderheiten) mussten zwar höhere Steuern ( Jizya oder Kharaj) als Muslime zahlen, doch scheinen diese immer noch unter denen der Byzantiner gelegen zu haben. Und obwohl zahlreiche Kirchen in Moscheen umgewandelt und den NichtMuslimen recht demütigende Auflagen gemacht wurden - so mussten Juden und Christen auf Kleidung und Häusern Erkennungszeichen anbringen, durften keine Waffen tragen oder zu Pferde reiten, mussten Muslimen den Vortritt auf der Strasse lassen etc. -, gestand man ihnen doch weitgehende Selbständigkeit zu, das Leben nach den jeweiligen eigenen Gesetzen zu führen, sowie einen nahezu gleichberechtigten juristischen Status. Im Val di Mazara allerdings, wo zum Grossteil christliche Sklaven ohne die Rechte der Dhimmis lebten, erfolgten die meisten Übertritte zum Islam. Vor allem die Landwirtschaft erfreute sich wirksamer Förderung. Bewässerungssysteme überzogen bald das ganze Land, die hinderliche byzantinische Steuer auf Zugtiere wurde abgeschafft, die Steuergebung begünstigte die Bewirtschaftung bislang brachliegender Felder. Die Einführung neuer Kulturpflanzen wie Zuckerrohr, Zitrusfrüchte, Maulbeerbaum, Reis, Baumwolle, Papyrus, Melone und Dattelpalme, verbunden mit der Kenntnis ihrer Nutzung, verdanken die Sizilianer den Arabern. Die Fischerei wurde intensiviert - vermutlich brachten die Araber auch eine hochentwickelte neue Form des Thunfischfangs nach Sizilien -, um den Ätna wurde Bergbau betrieben, andernorts Salz gewonnen. Die Sizilianer erlernten die Seidenherstellung und -weberei, und ganze Schiffsladungen von Holz aus den damals noch existierenden grossen Wäldern der Insel wanderten ins holzarme Nordafrika. Die Weizenlatifundien aus spätantiker 51 und byzantinischer Zeit verschwanden weitgehend; eine wachsende Zahl kleinerer landwirtschaftlicher Betriebe ersetzte sie - ein Prozess, der durch die arabische Vorliebe für intensive Garten- und Obstkulturen sowie durch die muslimische Realerbteilung begünstigt wurde. Gegen Ende der fast zwei Jahrhunderte währenden muslimischen Herrschaft wird die arabische Bevölkerung, am dichtesten im Westen, im Val di Mazara siedelnd, auf ca. eine halbe Million geschätzt. Die zentrale Lage der Insel inmitten des arabischen Kulturkreises, der einen Grossteil des Mittelmeers umfasste, sorgte denn auch für eine Blüte von Handel und Kultur. Dennoch ist von der arabischen Kunst neben geringen Resten (allein die Moscheegrundmauern bei S. Giovanni degli Eremiti, s. S. 273) nur erhalten geblieben, was später unter den Normannen entstand, obwohl uns die Quellen von einer Fülle von älteren Moscheen, Festungen und Schlössern berichten. »Eine ungeheuer grosse Zahl von Burgen, Dörfern und sarazenischen Palästen liegt in Schutt und Asche ... «, heisst es in einem kirchlichen Dokument aus der Zeit nach der normannischen Eroberung. Zurück blieben lediglich sprachliche Spuren wie die Silben Gibel (»Berg«) oder Calta (»Burg«) in sizilianischen Ortsnamen, einige Hundert Lehnwörter aus dem Bereich des Handels, der Wasser- und Landwirtschaft, der Kleidung und des Gesetz- und Verwaltungswesens, nicht zuletzt aber auch die bis ins 19. Jh. bestehende Verwaltungsgliederung in drei Provinzen: Val di Mazara im Westen und Val di Noto im Südosten sowie das hauptsächlich von Griechen bewohnte Val di Demone im Nordosten. Monarchia Sicula - Das Normannenreich auf Sizilien Die Normannen, die ab dem Jahre 1060 von ihren Besitzungen in Unteritalien aus die Eroberung Siziliens in Angriff nahmen, waren lateinische Christen mit einem Auftrag des Papstes, die Insel den heidnischen Sarazenen zu entreissen und die Oberhoheit Roms in dieser Region griechisch-byzantinischen Christentums wiederherzustellen. Die Invasoren kamen zunächst nicht besonders zahlreich, stellten nur die Oberschicht der Ritter und Lehnsträger sowie der hohen kirchlichen Würdenträger. Erst später wurden dann vermehrt französische sowie lombardische und ligurische Siedler ins Land geholt, so dass man erst am Ende der staufischen Epoche von einem weitgehend latinisierten Sizilien ausgehen kann. In den ersten Jahren der Eroberung jedoch waren die neuen Herren auf die muslimischen und griechischen Bauern, Handwerker, Verwaltungsbeamten und Soldaten dringend angewiesen. Die historische Leistung der Normannenherrscher bestand darin, dass sie eine den politischen Notwendigkeiten gehorchende kluge Toleranzpolitik gegenüber den vielfältigen religiösen und ethnischen Gruppierungen ihres jungen Reiches 52 an den Tag legten. Dazu gehörte auch, dass sie die vorgefundenen, ihnen in bestimmten Bereichen eindeutig überlegenen Kulturen nicht zerstörten, sondern sich aus derem »Kulturvorrat« gleichsam bedienten, Nützliches in ihren neuentstehenden Vielvölkerstaat integrierten und so eine im europäischen Mittelalter einzigartige - wenn auch vorübergehende - kulturellpolitische Synthese schufen. Araber und Juden mussten zwar, wie zuvor Juden und Christen unter muslimischer Herrschaft, eine Sondersteuer ( Jizya) zahlen, doch durften sie ihre Religion frei ausüben und nach ihrer jeweiligen Rechtsprechung leben; vielen Muslimen beliessen die Normannen ihr Land, häufig auch ihre Burgen und ihre Posten als Provinzemire. Die verfeinerte Eleganz der arabischen Kultur wirkte offenbar sehr anziehend auf die neuen Herren und Damen, denn letztere kleideten, parfümierten und verschleierten sich bald nach muslimischer Sitte und färbten ihre Hände mit Henna. Die Sprachen des Hofs waren neben dem normannischen Französisch und Latein Griechisch und Arabisch sowie Hebräisch, und auch die Hofämter und -titel (wie die Männer, die diese Ämter innehatten) zeigten die für den Normannenstaat so charakteristische dreiteilige Kultursymbiose: In der Curia regis, dem hauptsächlichen Regierungsorgan der Normannenkönige, sass ein französischer Seneschall (Hausmeier, Truchsess) neben einem byzantinischen Protonotarius (Erster Notar) und Logotheten (hoher Beamter, Kanzler), und ihnen allen stand der »Emir der Emire«, latinisiert Ammiratus, vor, der mächtigste Mann nach dem König (erst im Laufe der Entwicklung wurde er auch Flottenkommandant, also nach unserem heutigen Verständnis »Admiral«).-Am nachhaltigsten hatte sich der muslimische Einfluss in der aus arabischer Zeit stammenden, von den Normannen dann beinahe vollständig übernommenen Finanzver waltung, dem Diwan, erhalten: Während der gesamten normannischen Epoche wurden beispielsweise Münzen mit kufischen Schriftzeichen geprägt: Nasir an-nasraniyya, »Verteidiger des Christentums«, liess sich Roger II. auf seinen Münzen, ganz im Stile der fatimidischen Kalifen, nennen. Diese kulturübergreifende Toleranz war in jener Zeit des Schismas, in der die Kluft zwischen lateinischen und griechischen Christen immer breiter wurde, gerade auch im Hinblick auf die beiden christlichen Konfessionen vonnöten. So wurden die griechischen Christen Siziliens zwar der schnell geschaffenen römisch-katholischen Verwaltungshierarchie - Erzbistum Palermo, französische Bischöfe in Troina, Mazara, Agrigent, Syrakus, Catania - unterstellt, doch taten sich die beiden Roger als Förderer der orthodoxen Kirche und Stifter zahlreicher Basilianerklöster, vor allem im überwiegend griechischen Val di Demone, hervor; die schönsten dieser normannischen Neustiftungen stehen heute in Itala und im Tal des Agro. Im Gegensatz zum süditalienischen Herrschaftsbe- reich der Normannen, in dem die Barone weiterhin eine bedeutende Kraft blieben und nicht selten rebellierten, gelang es den beiden Roger, die Macht der Feudalherren auf Sizilien erheblich einzuschränken. Hier entstanden keine der Zentralgewalt gefährlichen grossen Lehen, das, Königtum hielt sich immer selbst im Besitz der grossen Städte und strategisch wichtigen Regionen. Die für militärische Hilfe bei der Eroberung verliehenen Lehen waren zudem oft nicht erblich, und der Herrscher behielt sich immer die Regalien vor, königliche Hoheitsrechte wie Münzprägung, Burgenbau, Steuererhebung, oberste Gerichtsbarkeit etc. Die für ein mittelalterliches Reich ungewöhnlich straffe Zentralisierung aller Herrschaftsbereiche in der Person des Königs erforderte einen zeremoniell-mystischen »Überbau«: Ihn fand Roger 11. in der byzantinischen Herrschafts- und Kaiseridee. Der Fürst, der seine Macht hiernach von Gott selbst erhält, ist so nicht nur weltlicher Herr, sondern auch Priester, steht hoch und abgesondert über seinen Untertanen. Das strenge byzantinische Hofzeremoniell mit der Proskynese (Niederwerfen vor dem Herrscher oder religiösen Weihegegenstand) verstärkte diese »Entrückung« des Königs in eine quasireligiöse Sphäre. (Daneben liebte Roger 11. es, bei offiziellen Auftrit ten unter einem seidenen Baldachin zu erscheinen - ein von den fatimidischen Kalifen übernommener Brauch.) Neben dieser Prunkentfaltung, die zur Verherrlichung und für alle sichtbaren Demonstration seiner Idee vom Königtum diente, legte Roger H. in seinem grossen Gesetzgebungswerk, den Assisen von Ariano, diesen monarchischen, religiös überhöhten Absolutismus sozusagen »verfassungsrechtlich« nieder. Die Beschlüsse, in denen wir auch die Grundsätze von Gleichberechtigung und Toleranz seinen Untertanen gegenüber finden, stützen sich weitgehend auf einen berühmten byzantinischen Vorgänger, das Corpus Iuris Civilis Kaiser Justinians 1. (533/34). Kunst- und Bauwerke der normannischen Kultursynthese Den bedeutendsten und offenkundigsten Ausdruck fand die normannische Herrschaftsidee jedoch in der Kunst und hier vor allem in der Cappella Palatina, die man auf dem Hintergrund des politisch-religi ösen Macht- und Prestigeanspruchs Rogers begreifen muss. Die Worte des Bischofs Theophanes Kerameus anlässlich der Weihe, der Kapelle zeigen jedenfalls, dass auch die Zeitgenossen diesen Anspruch begriffen: »In diesem Gotteshaus hat ein wahrhaft grosser und königlicher Sinn ein ewiges Denkmal errichtet, gleichsam einen festen Grundstein seines Palastes, gross und glanzvoll ... «. Schon in der Wahl der Handwerker und Baumeister zeigt sich wiederum der bewusste Eklektizismus der Normannenherrscher: Ein »Gerhard der Franke« ist durch eine Inschrift der Kirche bei Casalvecchio Siculo als vermutlich aus der Normandie stammender Baumeister ausgewiesen, für die Mosaiken der grossen Dome und der Palastkapelle wurden byzantinische Mosaizisten herangezogen, und für die Kapitelle des Kreuzgangs von Cefalu darf man wohl provenzalischen Einfluss veranschlagen. Das auffälligste Beispiel dieser organisierten Nachahmung ist die Verschleppung byzantinischer Seidenweber nach Palermo im Jahre 1147, wo sie für den Bedarf des Hofes produzieren mussten. Den augenfälligsten Einfluss übten jedoch arabische Handwerker und Meister aus, denn aus dem muslimischen Kulturkreis stammen diejenigen Elemente, die der normannischen Kunst des 12. Jh. ihr unverwechselbares Gepräge verleihen, sie von den zeitgenössischen romanischen Denkmälern des übrigen Europa unterscheiden. (Tatsächlich tendieren jüngere Forschungen dazu, den arabisch-fatimidischen Aspekt immer stärker zu betonen.) Auf dem Sektor der Bau kunst spiegelt sich dieser arabische Einfluss am reinsten in der Profanarchitektur wieder, wo die europäische Bautradition nichts aufzuweisen hatte, was auch nur annähernd den eleganten Baukonzepten und dem Luxus muslimischer Paläste gleichkam. Die in der Phase der Eroberung um 1070/1080 errichteten militärischen Zweckbauten, z. B. die zum Schutz Catanias entstandenen Kastelle von Adrano und Paterno um den Ätna herum, lassen noch keinen arabischen Einfluss erkennen. Sie vertreten den Typus des rechteckigen, mehrstöckigen Donjons - ein aus der normannischen Heimat stammendes Baukonzept, dessen nüchterne und wenig luxuriöse Funktionalität einen sprechenden Gegensatz zu den späteren Lustschlössern arabischer Provenienz darstellt. Das Vorbild fatimidischer Wüstenschlösser, gekennzeichnet durch das harmonische Zusammenspiel von Gartenlandschaft, Wasserspielen - in der arabischen Wüste doppelt kostbar - und Architektur, sollte indes für die später entstandenen Paläste bestimmend werden. Nicht massive, zusammenhängende Gebäudekomplexe entstanden, sondern kleine, im Park verstreute Hallen und Pavillons wie die noch erhaltene Cubula. Von vergleichbaren Bauten sind heute nur noch Zisa und Cuba, beide in Palermo unter Wilhelm 1. bzw. 11. entstanden, in Teilen erhalten. Das sog. Zimmer des Rogen im Normannenpalast ebendort vermittelt einen Eindruck von jenem verfeinerten Lebensgenuss, jener im übrigen Europa nicht bekannten diesseitsfreudigen Wohnkultur, die am Hofe der Könige von Sizilien herrschte. An den persisch-sassanidischen Tier- und mythologischen Motiven aus Samarra, die Eingang in die musivische Raumausschmückung gefunden haben, zeigt sich, dass auch die von den Normannen adaptierte arabische Kultur bereits ein Sammelbecken vieler Traditionen darstellte. Auch in der Sakralarchitektur macht sich der ara53 bische Einfluss bemerkbar, doch hatte er sich hier gegen zwei mächtige christliche Bautraditionen zu behaupten: die dreischiffige Basilika mit Querhaus lateinisch-westlicher und die Kreuzkuppelkirche byzantinisch-östlicher Provenienz, wie sie sich ja bereits vor der muslimischen Eroberung auf der Insel fanden. Die Normannenherrscher hatten die hohen kirchlichen Posten und die Domkapitel mit überwiegend französischen Klerikern besetzt sowie Benediktiner und AugustinerChorherren aus dem nördlichen Europa mit der Gründung lateinischer und Basilianer mit der Gründung griechischer Klöster beauftragt - und diese kirchliche Elite brachte naturgemäss ihre jeweiligen Bautraditionen mit. Für die grossen Dome in Catania, Cefalu, Messina, Palermo und Monreale wurde, schon wegen ihrer Funktion als Bischofskirchen, die eine Masse von Gläubigen aufnehmen mussten, der Grundriss der dreischiffigen Basilika gewählt. Doch auch kleinere Gotteshäuser wie S. Giovanni degli Eremiti und S. Cataldo in Palermo erhielten einen basilikalen Grundriss. Der Dom von Cefalu spiegelt mit seiner Zweiturmfassade, dem kreuzgewölbten Chor und dem Querschiff, der Aussengliederung durch Rundbogenfriese und Lisenen und der Tierornamentik seiner Kapitelle diesen normannisch-romanischen Einfluss wohl am reinsten wider. Die Handwerker jedoch, die diese Bauten errichteten, waren Muslime. Ihrer guten Organisation in den einzelnen Bauhütten war es u. a. zu verdanken, dass die normannischen Kirchen jeweils einer überraschend kurzen Bauzeit errichtet wurden: der Dom von Catania 1088-1093, die Cappella Palatina 1131/32, die Martorana 1142/43 und der Dom von Palermo 1184;. man vergleiche diese Zahlen mit den sich über Jahrhunderte hinziehenden Bauzeiten nordeuropäischer Kathedralen! Hauptsächlich in der Val di Mazara und natürlich in Palermo, den am dichtesten muslimisch besiedelten Regionen, fand die Durchdring ung abendländischer und arabischer Bauweisen statt. So lassen die frühen normannischen Kirchen in Castelvetrano und Mazara dei Vallo oder auch S. Giovanni degli Eremiti, obwohl dem Typus der Kreuzkuppelkirche bzw. der Basilika verpflichtet, doch deutlich das Raumgefühl des fatimidischen Kubusbaus erkennen, der, gleichsam steingewordene Geometrie, aus Würfeln und Quadern zusammengesetzt ist. Arabisch sind an den Bauten des sog. normannischarabischen Stils auch die handwerklich perfekte, glatte Fugung der Mauerquadern; die elegante, rhythmische Wandgliederung, die Spitz bogen, die verschränkten Blendbogenfriese und die aus der persischen Architektur stammenden Trompen für die Eckenlösungen der Kuppeln, des weiteren die an Mauerkanten ein- und übereinandergestellten Säulen, Schmuckformen wie geometrische Vieleckornamente oder bekrönende Bänder mit kufischen Inschriften, die sog. Polsterquader sowie die Brunnenhäuser in den Kreuzgängen. Deutlich als islamisches Architek54 turelement sind auch die Muqarnas (Stalaktiten) zu erkennen, die die Innenräume der Cuba, der Zisa wie auch die Decke der Cappella Palatina schmücken. Was jedoch jedem Sizilienreisenden spontan als »morgenländisch« erscheinen wird, sind die nackten, gestelzten Kuppeln, jene so fremdartig wirkenden (erst heute rötlich getönten), meist hintereinandergereihten und auf einem kubischen Unterbau aufsitzenden steinernen Halbkugeln. In der Cappella Palatina, der Martorana und den Domen von Cefalu und Monreale befinden sich jene kompletten Mosaikausstattungen auf strahlend goldenem Grund, die zu den beeindruckendsten Erlebnissen einer sizilianischen Kunstreise gehören. Die Forschung ist sich darüber einig, dass erfahrene byzantinische Mosaizisten diese Meisterwerke geschaffen haben (mit Ausnahme der musivischen Ausstattung der Profanbauten und einiger ornamentaler Motive wie z. B. der Palmen oder der ineinander verschlungenen Arabesken in Cefalu). So kann beispielsweise nur eine vortrefflich organisierte Werkstatt in wenigen Jahren (ca. 1185-1190/91) das Mammutwerk der Mosaiken von Monreale vollendet haben. Die musivische Iko nographie zeigt im allgemeinen Christus, Maria und die himmlische Hierarchie im Presbyterium, Szenen aus dem Alten Testament im Langschiff (Beginn immer auf der rechten, südlichen Mittelschiffwand, fortlaufend über die Westwand, von Westen nach Osten auf der linken, nördlichen Mittelschiffwand, dann dieselbe Kreisbeweg ung noch einmal im darunterliegenden Register), den Engelschor in der Vierungskuppel sowie Szenen aus Christi Leben oder aus der Petrus- und Pauluslegende in den Seitenschiffen. Der Dom von Cefalu, von Roger 11. zur Grablege der Hautevilles bestimmt, und die Cappella Palatina, das Summum Opus des normannisch-arabischen Stils, entstanden etwa zeitgleich (ab 1131) auf dem Höhepunkt der Monarchia Sicula. Doch was sich schon in den letzten, vermutlich geistig umnachteten Lebensjahren Rogers 11. angekündigt hatte, als er den Admiral Philipp von Mahdia unter dem Vorwurf, sich zum Islam bekehrt zu haben, lebendig verbrennen liess (1153), setzte sich unter seinen schwächeren und politisch nicht so glücklichen Nachfolgern dann endgültig durch: Adel, Palastcliquen und ehrgeizige, aus dem normannischen England stammende Prälaten wie Walter of the Mill und Richard Palmer gewannen an Macht, die Zentralgewalt wurde schwächer - und der religiöse Konsens, das Fundament des Normannenstaates, zerbrach. Der letzte Sakralbau des reinen normannisch-arabischen Stils, S. Cataldo, wurde von Admiral Maio von Bari gestiftet, der das prominenteste Opfer jener zu einem antimuslimischen Pogrom ausufernden Adelsrevolte von 1160 werden sollte - eine Konstellation von hohem Symbolwert. Die normannisch-arabische Kunst, die ja in so einzigartiger Weise Ausdruck des sizilianischen Staates des 12. Jh. war, wurde neben dem Haupt dieses Staates, dem König, von seiner griechischen und arabischen Verwaltungs- und Regierungselite getragen. Mit der nach der Ermordung des höchsten Staatsdieners, des Grossadmirals, einsetzenden Emigration der arabischen Intelligenz (der dann auch immer mehr muslimische Handwerker und Bauern folgen sollten) wurden die Monarchie und mit ihr auch die Kunst nach und nach ihrer Fundamente beraubt. Trotz all der Pracht der normannisch-arabischen Kultur kann man sich des Eindrucks einer gewissen zerbrechlichen Künstlichkeit, die all diesen hybriden Schöpfungen anhängt, nicht erwehren. Diese aus schliesslich dynastisch bestimmte und ganz bewusst ins Leben gerufene kulturelle Synthese hatte wohl auch zu wenig Zeit, um populär zu werden, sich nachhaltig im Bewusstsein des Volkes zu verankern. Wahrhaft zu einer neuen Einheit verschmolzen sind normannische, byzantinische und arabische Elemente in einigen wenigen Meisterwerken der Epoche, doch wuchsen die einzelnen ethnischen und religiösen Gruppen nie, modern gesprochen, zu einem »Staatsvolk« zusammen, gewannen nie das Bewusstsein einer sizilianischen Identität. Und wahrscheinlich war eine solche auf Toleranz beruhende Synthese auch auf Dauer nicht haltbar in einer Zeit, in der die zen trifugalen Kräfte von Investiturstreit, feudaler Zersplitterung, Schisma und Kreuzzügen den mittelmeerischen und europäischen Raum zerrissen. Hohenstaufer, Anjous und Aragonesen Stupor mundi, »das Staunen der Welt«, nannten die Zeitgenossen Friedrich H. von Hohenstaufen. Als tyrannischen »Hammer der Welt«, als neuen Antichristen beschimpften ihn seine Gegner (allen voran der Papst und seine Anhänger, mit dem Friedrich um die Herrschaft in Italien in permanenter Auseinandersetzung stand), als heilsbringenden Friedensfürsten und messianischen Kaiser - ganz im Sinne der normannischen Herrschaftsauffassung - vergötterten ihn seine Anhänger. Als der Kaiser 1235 ein zweites und letztes Mal nach Deutschland kam (um seinen aufständischen Sohn Heinrich zu bestrafen), wirkte er mit seinem prachtvoll-fremdländischen Gefolge, den Arabern und Äthiopiern, den vielen exotischen Tieren, auf die Deutschen wie ein morgenländischer Potentat. Und noch heute ist das Bild dieser schillernden Persönlichkeit auch in der historischen Forschung umstritten, werden Beurteilungen, die ihn als Vorläufer der Renaissance oder als grossen Freigeist und Atheisten (so ein Urteil Friedrich Nietzsches) sehen, in ihrer Abhängigkeit von der zeitgenössischen klerikalen Propaganda erkannt. Sich selbst jedoch hat Friedrich immer als rechtgläubigen Christen bezeichnet, hat beispielsweise auch gegen Ketzer jederzeit effektiv und grausam durchgegriffen - bei dem oben erwähnten Streit mit seinem Sohn ging es u. a. um Ketzerverfolgung in Deutschland. Nachdem er die deutsche Königswürde errungen und seine Herrschaft dort etabliert hatte, betrieb Friedrich energisch die Wiederherstellung der Zentralmacht in seinem Erbkönigreich Sizilien, immer unter Berufung auf die Gesetze und die Staatsform seiner normanni schen Vorfahren. In den Assisen (Hoftagsbeschlüsse) von Capua aus dem Jahre 1220 widerrief er alle seit 1189, dem Todesjahr Wilhelms II., erteilten Privilegien, forderte die königlichen Rechte (Regalien) zurück, die Barone und Städte mittlerweile usurpiert hatten, liess alle unautorisiert errichteten Burgen schleifen. Der Aufbau eines straffen Verwaltungsapparats, dessen Beamten an der eigens zu diesem Zweck gegründeten Universität von Neapel ihre Ausbildung erhielten, ermöglichte Friedrich die wirkungsvolle Kontrolle und die hohe Besteuerung des Landes. In den Konstitutionen von Melfi (1231), die ebenfalls nicht ohne ihren normannischen Vorläufer denkbar sind, liess er das öffentliche, d. h., das Verwaltungs- und Beamtenrecht, das Straf-, Prozess- und Lehnsrecht für alle Bevölkerungsgruppen einheitlich niederlegen, ersetzte so das Personalitäts- durch das Territorialitätsprinzip und begründete damit seinen zentralisierten Einheitsstaat säkular - für seine Zeit erschreckend »modern«. (Diese Rechtskodifikation sollte im Königreich Sizilien bis zum Jahre 1819 in Kraft bleiben.) Juden und Muslime standen unter Königsschutz, erstere mussten sich durch‘ eine bestimmte Kleidung kenntlich machen - hier wird deutlich, dass Bevölkerungsgruppen, die unter den Normannen noch gleichberechtigt, die Muslime in gewisser Weise sogar staatstragend gewesen waren, nunmehr auf den Status geschützter Minderheiten abgesunken waren. Kunst und Wirtschaft unter Hohenstaufern und Aragonesen Das Reglementierungsbemühen Friedrichs erstreckte sich, über dasjenige seiner normannischen Vorfahren hinausgehend, bis in private Bereiche seiner Untertanen; so wurden z. B. Fluchen, häufiger Tavernenbesuch und Ehebruch staatlicherseits geahndet. Auch der ökonomische Sektor erfuhr eine durchgreifende Reglementierung nach »staatsmonopolistischen« und merkantilistischen Grundsätzen - so waren die Salzproduktion und der Bergbau königliche Monopole, und Seidenherstellung und -handel wurden mit drückenden Steuern belegt -, was sich für die freie Entwicklung der Wirtschaft als nicht eben zuträglich erweisen sollte. Friedrich selbst sah sich gern als Nachfahre der antiken Kaiser, und tatsächlich verweist ihn sein straf fer, reglementierender Regierungsstil in die Nähe der - spätantiken Caesaren. Ganze Bevölkerungsgruppen siedelte Friedrich um: Lombarden und Griechen wurden nach Sizilien »importiert«, an die 16 000 Muslime dafür ausgesiedelt und in einer Militärkolonie im unteritalienischen Lucera »heimisch« gemacht. 55 Der sizilianischen Wirtschaft versetzte er damit einen schweren Schlag, denn durch die Abwanderung der Muslime wurden Handel und Handwerk Kapital und Arbeitskräfte entzogen. Dieser »erste moderne Mensch auf dem Thron« ( Jacob Burckhardt) hat denn auch in Sizilien keine Kirchen- oder Klosterbauten initiiert. Seine architektonische Hinterlassenschaft besteht bezeichnenderweise aus militärischen Zweckbauten - Festungen, von denen aus er unbotmässige Städte kontrollierte. Nach der Rebellion von Centuripe z. B. liess Friedrich die Stadt zerstören, ihre Bewohner in den bedeutungsvoll »Augusta« genannten Ort transferieren und dort ein Kastell bauen. Von französischen Baumeistern und Handwerkern errichtet, verraten diese Festungen wie das Castello Maniace in Syrakus, das Castello di Lombardia in Enna oder das Castello Ursino in Catania den Einfluss der Kreuzfahrerburgen sowie islamischer Festungsbauten, die Friedrich während seines Kreuzzuges von 1228/29 kennengelernt hatte. Auch sollen zu jener Zeit noch arabische Festungen auf Sizilien selbst gestanden haben, und auch das Vorbild des Normannenpalastes, in dem Friedrich ja aufgewachsen war, dürfte von Bedeutung gewesen sein. Die Kastelle in Sizilien bestehen aus einem klotzartigen Rechteck mit vier Türmen an den Ecken und manchmal Halbtürmen in der Mitte der Mauerseite und lassen ein Höchstmass an mathematischer Regelmässigkeit und geradliniger Übersichtlichkeit erkennen. Architektonischen Schmuck erhielten nur die Portale; im Innern macht sich mit den Kreuzrippengewölben ein steigender Einfluss aus Nordeuropa bemerkbar. Die sorgfältige Fügung des Quadermauerwerks lässt zwar noch einmal an Vorbilder der normannisch-arabischen Kunst Siziliens denken, im allgemeinen jedoch zeigt die staufische Kunst vermehrt jene schon unter den letzten Normannenherrschern erkennbare Hinwendung zum abendländischen Kulturkreis. Obwohl Friedrich Sizilien vor allen seinen anderen Ländern geliebt haben soll, weilte er zu Lebzeiten (er wurde auf seine Anweisung hin im Dom von Palermo bestattet) lieber in Apulien: Sizilien war nicht mehr ein unabhängiges Königreich, sondern Teil eines umfassenderen Herrschaftsgebiets. (Es sollte im folgenden erst recht an die Peripherie der europäischen »Bühne« geraten.) Sein »moderner«, Züge absolutistischer Herrschaftsausübung vorwegnehmender Beamten- und Fiskalstaat, der das Land denn auch hoffnungslos‘ überforderte, liess sich unter seinen Nachfolgern nicht durchhalten. Die Aragonesen, von ihrem nicht enden wollenden Kampf gegen die Anjous in Unteritalien in Anspruch genommen, gaben dem Adel seine Rechte in breitestem Umfang zurück - die gegenläufige Entwicklung zur einstigen Zentralisierung der Macht in der Hand der normannischen und staufischen Könige setzte ein. 56 Diese feudalen Herrschaftsstrukturen sollten auch in der Folgezeit - bis ins 19., ja 20. Jh. hinein - für Sizilien bestimmend bleiben; ihre ökonomische Basis bildete die auf riesigen Latifundien bis zur Erschöpfung der Böden betriebene Landwirtschaft, die durch Abholzung der Wälder zur Gewinnung immer neuer Ackerflächen für den monokulturellen Hartweizenanbau das Gesicht der Insel radikal veränderte, ihr ökologisches Gleichgewicht zerstörte - die Folgen dieses Raubbaus wie Erosion und Trockenheit prägen die Insel noch heute. Angesichts dieser Entwicklung ist es nur zu verständlich, dass im 14. Jh. nun auch die Bautätigkeit auf die grossen Feudalherren überging. Der nach der führenden Familie Chiaramonte benannte Stil lässt sich am schönsten am gleichnamigen Palazzo, der ersten »Stadtburg« in Palermo, verfolgen. Von diesen Festungen aus mit ihren fensterlosen, ganz den Geboten der Verteidigung gehorchenden Untergeschossen kontrollierten die Adelsgeschlechter die Geschicke der Stadt. In diesen spätgotischen Palastkuben wirkt der normannisch-arabische Stil spürbar nach, so auch in den verschränkten Blendbogenarkaden des Palazzo Sclafani. Kennzeichnend ist hier die Betonung der Portale und Fenster durch exquisiten Bauschmuck, z. B. durch breite Bänder mit Zickzackornamenten auch dies ein Erbe, das sich über die staufische bis zur normannischen Kunst zurückverfolgen lässt. Kunst und Wirtschaft unter spanischer Herrschaft Nach der spanischen Herrschaftsübernahme zu Beginn des 15. Jh. sollte Sizilien für die nächsten vier Jahrhunderte von insgesamt 78 Vizekönigen regiert werden - dieser Posten galt als einer der einträg lichsten im spanischen Verwaltungsdienst. Die Vizekönige stützten sich, wie schon ihre aragonesischen Vorgänger, bei der Verwaltung der Insel grösstenteils auf den Adel (Titulados) und beliessen das Land ansonsten in seiner strukturellen Rückständigkeit. Die spezifisch spanische Form des Absolutismus, die sich keiner Form von Neuerung oder Verbesserung aufgeschlossen zeigte (»Immobilismus«), führte dazu, dass Sizilien in der Folgezeit von allen sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen, die ins moderne Europa führten, ausgeschlossen blieb. Spaniens Interesse an Sizilien beruhte im grossen und ganzen auf zwei Faktoren: der Einnahme von Steuern und dem strategischen Nutzen der Insel als mediterranes Bollwerk gegen die Türken. In der Kunst Siziliens bürgerte sich als Folge der spanischen Herrschaft zunächst die katalanische Spätgotik ein, ein floraler, aufs äusserste verfeinerter Stil, an dem die himmelwärts strebenden gotischen Bogen, Fenster und Portale wie in die Breite heruntergedrückt erscheinen - es kündigt sich hier bereits das Formgefühl der Renaissance mit ihren vorwiegend kubischen, rechteckigen Strukturen an. Als Haupt- werk dieses Übergangsstils gilt der Südportikus am Dom von Palermo (um 1465). Am Portal des Palazzo Abatellis (1495) zeigen die sich rechtwinklig schneidenden Stäbe der Torrahmung, dass hier im Vergleich zum oben genannten Portikus noch ein Schritt weiter in Richtung Renaissance erfolgt ist - eine Forment wicklung, die in etwa derjenigen der englischen Kunst vom Perpendicular zum Tudorstil vergleichbar erscheint. Von Pest und Krieg und existentieller Verunsicherung spricht eindringlich das Fresko »Triumph des Todes«, ein wertvolles zeitgenössisches Dokument (Mitte 15. Jh., Palermo, Sizilianische Regionalga lerie): Der Knochenmann reitet Damen und Herren, Bauern, Bürger, kirchliche und weltliche Potentaten, die sich in ihren prunkvollen spätmittelalterlichen Gewändern probeweise dem neuen Lebensgenuss hinzugeben scheinen, gleichmacherisch in den Grund. Auch die misslungene perspektivische Darstellung der Brunnen verweist darauf, dass dieses Fresko - wie die gesamte sizilianische Kunst jener Jahrzehnte - an der Schwelle zur Renaissance steht. Eine weitere Eigenart der sizilianischen Kunstentwicklung, die ihr seit der Eingliederung in das spanische Reich eigen ist, tritt hier ebenfalls zutage: Alle Stile, die die Insel nun ergreifen werden, kommen von ausserhalb, sind nicht mehr Ausdruck einer sizilianischen Identität wie zur Zeit der Normannen - und treffen in dieser Randzone Europas, die Sizilien nun darstellt, auch mit der entsprechenden Verspätung ein. So brachten fremde Meister unter einem fremden Herrscher Alfons V. von Aragon) die italienische Renaissance nach Sizilien. 1434 gründete Alfons, der sich als Renaissancefürst, als Mäzen und Förderer des Humanismus sah, die erste sizilianische Universität von Catania. Die bedeutendsten Künstler der Renaissance in Sizilien, die Bildhauer Francesco Laurana (ca. 1440-1500) und die Mitglieder der Gagini-Künstlerfamilie, allen voran Antonello Gagini (1478-1536), waren oberitalienische »Importe«, und Antonello da Messina stammte zwar, wie sein Name zeigt, von der Insel, verbrachte jedoch den Grossteil seines künstleri schen Lebens in Neapel, dem kulturellen und politischen Zentrum des aragonesischen Süditalien. Der Manierismus indes fand nur wenig Verbreitung in Sizilien. Hauptwerke sind der Brunnen des florentinischen Bildhauers Francesco Camilliani (um 1540-1586) auf der Piazza Pretoria in Palermo sowie Neptun- und Orionbrunnen Giovanni Montorsolis (1507 -1563) in Messina. Dieser »Brunnenwettstreit« zwischen den bei den Städten, die Anspruch auf die Stellung als Hauptstadt, als Caput regni, erhoben, fand ihr Medium wohl nicht zufällig in jenem aufwendigen, auf Repräsentation und Machtdemonstration hin angelegten Stil. Montorsoli, ein Schüler Michelangelos, entwarf auch den sog. Apostolato im Messiner Dom, eine Komposition monumentaler Altäre mit den Statuen der Apostel, deren Originale jedoch im Bombenhagel von 1943 bis auf die Johannesfigur vernichtet wurden. Sizilien im Zeitalter des Barock Eine kulturelle Blütezeit stellte in Sizilien nach den Höhepunkten der normannischen Zeit erst wieder der Barock dar, zu dem alle Bauten zu zählen sind, die vom ersten Viertel des 17. bis in das späte 18. Jh. hinein entstanden. Die Epoche war in wirtschaftlicher Hinsicht ganz durch die zuvor skizzierten Phänomene von Feudalismus und Immobilismus bestimmt. Das als Grundlage des »Baubooms« benötigte Kapital konzentrierte sich in der Hand der landbesitzenden Aristokratie, der religiösen Orden und auch der lokalen Bruderschaften (die durch die Bauaufträge des Adels reich wurden), auf alle Fälle jedoch in den Städten. . . Das von den abhängigen Bauern auf den Latifundien des Adels; erwirtschaftete Geld wanderte in den Bau von Palästen und Kirchen und in die prunkvolle aristokratische Hofhaltung, nicht - etwa zur Verbesserung der ländlichen Infrastruktur oder Modernisierung der Betriebe - zurück aufs Land: Die Beschäftigung mit der Landwirtschaft, wie auch mit allen anderen Formen von Handel oder Gewerbe, widersprach dem Selbstverständnis des süditalienischen Adels. Dieser überliess seine Güter Verwaltern, die das Letzte aus den Bauern herauspressten; ein katastrophaler Niedergang auf dem Agrarsektor und eine völlige Verarmung des Bauernstandes waren die Folgen. In der Verfilzung von Regierung, Adel, Grundherrschaft und hohem Klerus ist auch der Grund für jene spezifisch sizilianische, von Partikularinteressen geprägte Einstellung zum Staat zu suchen, die, von Gleichgültigkeit, Misstrauen und Abwehr gekennzeichnet, ihr Heil in »privaten« Machtstrukturen zu verwirklichen sucht. Die Familie als Versorgungsinstitut, die Brigantenbanden, der örtliche Patron waren allemal näher als der anonyme Staat mit seinem schwerfälligen und nicht verhandlungs bereiten Bürokratieapparat: Lokale Selbsthilfeaktionen, Klientelismus, Vetternwirtschaft und Korruption kennzeichneten - und kennzeichnen auch heute noch in weiten Teilen - die politische Mentalität in Sizilien. Der Adel jedoch, der noch zu Beginn der spanischen Herrschaft: auf seinen Gütern gelebt hatte, zog nun in Scharen an den palermitanischen Hof der Vizekönige, ins Zentrum der Macht (»Absentismus«). Prestigedenken, zähes Kleben an den Privilegien, eine ablehnende Haltung jeglichem Reformdenken gegenüber und eine selbst Zeitgenossen auffällige Prunksucht kennzeichnen die oberste gesellschaftliche Schicht jener Zeit. Die Vizekönige wussten aus der sprichwörtlichen Titelsucht des sizilianischen Adels klingende Münze zu schlagen: 1 Mio. Sizilianer ernährten gegen 57 Ende des 18. Jh. 142 Prinzen, 1500 Herzöge und Barone und 788 Marchesi. Stadtpaläste, Landvillen und ganze Städtegründungen, mit denen‘ die einzelnen Adelsfamilien ihren Machtbereich erweitern und an Ansehen gewinnen konnten, gingen auf das Baukonto des sizilianischen Adels. 200 000 Scudi vermochte allein der Prinz von Palagonia für seine Villa in Bagheria aufzuwenden 1754 hatte das Parlament eine gesamtsizilianische Abgabe von 80 000 Scudi an die Krone als zu hoch abgelehnt! Das Ende des Ancien Regime um die Wende zum 19. Jh., bedingt durch die Auswirkungen der Französischen Revolution, sah auch den Niedergang dieser Schicht, die ihre kostspielige Lebensführung mit völliger Verschuldung bezahlen musste. Kunst- und Bauwerke des Barock Der Barock in Sizilien war anfangs stark vom römischen Stil geprägt, empfing seine ersten Anregungen von dort: So ist beispielsweise der spätmanieristische Bau von S. Caterina in Palermo (Ende des 16. Jh.) klar auf solche Vorbilder zurückzuführen. Als Bauherren traten hier vor allem die gegenreformatorischen Orden auf, u. a. die Jesuiten (deren Ankunft und Vertreibung von der Insel gleichsam die »Eckdaten« des sizilianischen Spätmanierismus/Barock markieren: 1542 bzw. 1767), daneben Theatiner und Kapuziner. Aber auch ältere Orden wie die Dominikaner und Franziskaner bereicherten die barocke Kirchenlandschaft Siziliens. Vor allem die Benediktiner wurden durch Beitritte der jüngeren Söhne der Adelsgeschlechter, die man, um eine Zersplitterung des Familienerbes zu verhindern, einer . kirchlichen oder klösterlichen Laufbahn zuführte, reich und mächtig (die Abteien verlangten für die Aufnahme von Novizen einen hohen Betrag). Dasselbe gilt respektive auch für unverheiratete adlige Damen sowie die weiblichen Orden und Stifte. Auf städtischer oder parochialer Ebene erwuchs zwischen dem mannigfaltigen Bruderschaften religiöser und/oder berufsständischer Art ein regelrechter Wettstreit, der sich ebenfalls im Bau von Oratorien und Gotteshäusern niederschlug. Und schliesslich liessen auch die Gemeinden selbst Kirchen ausführen, meist dem Schutzpatron der Stadt geweiht und im Zentrum des Wohngebiets liegend. Drei Stil- und Entwicklungsstufen des sizilianischen Barock hat die - im übrigen erst sehr spät einsetzende und noch nicht abgeschlossene - kunstgeschichtliche Forschung herausgestellt. Die erste, der sog. »lokale Stil«, zeichnet sich durch überschäumende Phantasie, grosse Detailfreude und eine sehr freie Gestaltung aus und wirkt oft unverhüllt provinziell, naiv, z.T. sogar etwas wild und barbarisch. Die ersten Gebäude in diesem Stil, dem am weitesten verbreiteten, von den drei erwähnten, waren gleichzeitig auch die ersten barocken Schöpfungen in Sizilien überhaupt (etwa erstes Viertel 17. Jh.). 58 Gegen Ende des 17. Jh. traten dann sizilianische Baumeister auf den Plan, die ihre Ausbildung in Rom erhalten oder den römischen Barock durch Kupferstiche kennengelernt hatten. Vor allem Giacomo Amato (1643-1732) tat sich hier als Kulturvermittler hervor und brachte die Baukonzepte Carlo Fontanas, der für Sizilien besonders wichtig wurde, auf die Insel. Der Hauptvertreter des »römischen Stils« wurde aber erst Giovanni Battista Vaccarini (1702-1768), des sen Elefantenbrunnen mit dem Obelisken in Catania Beminis Elefanten vor S. Maria sopra Minerva in Rom imitiert. Vaccarinis recht akademisch-trockene Bauten in Catania lassen indes viel von jenem phantasievollen, für den sizilianischen Barock so eigentümlichen Schwung des »lokalen Stils« vermissen (in letzterem entstanden denn auch während dieser und der nächsten Phase weiterhin zahlreiche, wenn auch kunstgeschichtlich weniger bedeutende Bauten). Die Architekten dieser dritten, quasi »synthetisierenden« Stilstufe nun brachten die beiden ersten Phasen der sizilianischen Barockentwicklung zur Synthese, vereinten lokale Traditionen, volkstümliche Phantasie und dekorative Fülle und trugen kenntnis reich zur Weiterentwicklung der grossen Vorbilder bei. In der geschickten Ausnutzung des jeweiligen Geländes, in Detailreichtum und gestalterischer Präzision schufen sie einen spezifisch sizilianischen, die Bautraditionen des Landes aufgreifenden Stil. Die Höhepunkte dieser Entwicklung setzten Andrea Palma (1644-1730) mit der Fassade des Doms von Syrakus, Rosario Gagliardi (ca. 1700 - ca. 1770) mit seinen Kirchen in Noto, Ragusa und Modica sowie Tommaso Napoli (17. / 18. Jh.) mit seinen Villen in Bagheria. Stadtplanung und Profanarchitekur Den für Sizilien vielleicht typischsten Ausdruck fand der Barock in den zahlreichen Stadtneugründungen und -erweiterungen, durch die in grossangelegten Planungskonzepten ein neuer, nach utilitaristischen Gesichtspunkten gestalteter Lebensraum geschaffen wurde. Dies erstaunt zunächst angesichts des zuvor geschilderten »Immobilismus«, doch sollte nicht unterschlagen werden, dass zumindest Teile des Adels mit rationalistisch-aufldärerischem Gedankengut aus Nordeuropa vertraut waren und dies zur Steigerung ihrer Macht und ihres Ansehens einzusetzen wussten. Die neuen Zentren entstanden in Ebenen oder flachem Hügelland, da die »moderne« Zeit nach leichteren Verbindungs- und Transportmöglichkeiten und nach mehr Raum verlangte. Die mittelalterlichen Städte mit ihrer einst für die Verteidigung günstigen Lage auf Berg- oder Felshöhen boten diese Entfaltungsmöglichkeiten nicht. Die neugegründeten Ortschaften und Städte kennzeichnet ein nach mathematisch-geometrischen Prinzipien regelmässig gestaltetes System sich rechtwinklig kreuzender Strassen, das einerseits zukünf tiges Wachstum nicht behinderte, andererseits aber am Kreuzungspunkt der Strassen ein repräsentatives Stadtzentrum erhielt, bezeichnet durch die Gemeindekirche, das Rathaus und den - in den meisten Fällen nur selten bewohnten - Palast der lokalen Adelsfamilie. Die Nähe der Wohnhäuser zu diesem Mittelpunkt städtischen Lebens wies auf die soziale Stellung der Bewohner hin, die also gestaffelt zum Stadtrand hin abnahm. Das städtische Leben spielte sich grösstenteils auf den eigens zu diesem Zweck konstruierten Plätzen ab: Hier fuhren die Adligen in ihren Kutschen auf und ab, hier versammelten sich die Bürger, hier wurde der Markt abgehalten, hier wickelten sich die Höhepunkte der Prozessionen und kirchlichen Feste ab. Der Domplatz in Catania und die nach dem römischen Vorbild der Quattro Fontane erfolgte Anlage der Quattro Canti in Palermo dürfen als die grossartigsten Beispiele dieses städtebaulichen Gestaltungswillens gelten. Einen weiteren kalkulierten Akzent setzten die zahlreichen Brunnen, die mit ihren sprudelnd-bewegten Wassern die stetige Veränderung und Vergänglichkeit des Lebens symbolisierten, ein im Barock - wie auch die Auffassung des Lebens als Bühne - weitverbreiteter Topos. Ausdruck des adligen Repräsentationswillens, aber auch der Heranziehung der Adligen an den Hof waren die Stadtpaläste, am zahlreichsten natürlich in der Hauptstadt Palermo. Sie sind meist um einen von Arkaden gesäumten Innenhof herum angelegt. Das Untergeschoss wurde nicht bewohnt, es diente wirtschaftlichen Zwecken, das Mezzanin- oder Zwischengeschoss und kleinere Nebengebäude rund um den Hof waren für die Dienerschaft bestimmt, darüber lag dann der Piano nobile, das herrschaftliche Wohngeschoss. Die mächtige Fassadenfront zur Strasse hin, meist nur sparsam durch Pilaster gegliedert, erhielt ihre Hauptakzente durch die mit schmiedeeisernen Gittern, profilierten Giebeln und figürlichem Schmuck verzierten Fensterreihen sowie durch das besonders hervorgehobene Portal, über dem meist der typische ausladende, schmiedeeiserne Balkon entlanglief. Besonders in Palermo erfuhren die Treppenhäuser eine eingehende und prunkvolle Gestaltung, wofür der Palazzo Gangi-Valguarnera wohl das eleganteste Beispiel bietet. Während der heissen Sommermonate zogen sich die palermitanischen Adligen - wie lange vor ihnen schon die normannischen Könige - aufs Land zurück, und so liessen sie rund um die Hauptstadt Villen errichten: an der Piana dei Colli, am Fusse des Monte Pelle grino, oder in Bagherla, wo die schönsten Landsitze entstanden. Da die Bautätigkeit erst mit dem Beginn des 18. Jh. einsetzte, im Vergleich zum übrigen Italien also wieder mit echt sizilianischer »Verspätung«, weisen die Villen die für den späten Barock typischen kurvierten und komplizierten Grundrisse auf. Das ar- chitektonische Spiel mit Schein und Illusion, wie wir es vollendet in der von Tommaso Napoli entworfenen Villa Palagonia, der berühmtesten und meistbesuchten der Villen, vorfinden, ist ebenfalls ein für den Barock typisches Element. Immer wird das Herrenhaus von einer Fülle von Nebengebäuden umgeben, was der Anlage einen eigentümlich verschlossenen, von der umgebenden Landschaft getrennten Charakter verleiht. Die Dächer der Nebengebäude trugen oft Terrassen, die in der Abendkühle des Sommers zum Aufenthalt einluden. Der Piano nobile war nur durch eine breit angelegte Freitreppe vor der Fassade zu erreichen, die, immer symmetrisch, also doppelläufig, Zugang zum Garten bot und in ihrem phantasievollen Gestaltungsreichtum den eigentlichen Akzent dieser Sommerpaläste setzt - die Villa Palagonia schuf hier den Prototyp. Aussentreppen an Villen waren im übrigen Italien nicht gerade verbreitet, und so darf man vor allem in dieser Hinsicht von einem spezifisch sizilianischen Beitrag zum europäischen Barock sprechen. Sakralarchitektur Was jedoch das Bild der sizilianischen Städte und Orte, für jeden Reisenden sofort sichtbar prägt, sind die zahllosen barocken Kirchen, Klöster, Kapellen und Oratorien. Die geographische Umgebung, im hügeligen Südosten Siziliens z. B. die Hanglage der Städte, vermochte vor allem Rosario Gagliardi auf unnachahmliche Weise für seine sich steil über Freitreppen emportürmenden Kirchen zu nutzen (S. Giorgio in Ragusa und die gleichnamige Kirche in Modica). Innerhalb der auf grösstmögliche Wirkung bedachten städtebaulichen Konzeptionen erfuhren naturgemäss der Aussenbau und hier besonders Fassade und Kuppel (deren Höhe im Stadtbild Prestigewert besass) höchste Aufmerksamkeit. Eine interessante Kombination der Doppelturmfassade mit übereinandergestellten Säulenordnungen nach römischem Vorbild finden wir am Dom von Noto. Doch erst im 18. Jh. wurden die davor eher flachen Fassaden aufgebrochen, wurden mit Hilfe stark vortretender Säulen sowie gesprengter und gekröpfter Giebel dramatische Helldunkeleffekte und plastische Tiefenstaffelungen gesucht, wie es Andrea Palmas Fassade des Doms von Syrakus vollendet vorführt. Auch konvexe und konkave Fassaden traten in der Nachfolge Francesco Borrominis (1599-1667) mit der schon zuvor beobachteten Verspätung an sizilianischen Kirchenfassaden des 18. Jh. auf; in kühner Verbindung mit vorspringenden Säulenordnungen und den für Gagliardi typischen Voluten zeigen dies die beiden oben erwähnten Kirchen dieses Architekten. Die Kirche von S. Sebastiano in Acireale, an deren Portal mit seiner reichen, aber flächigen Dekoration noch der Stil des 17. Jh. vor dem grossen Erdbeben erkennbar ist, stellt in ihrer oberen Fassadenpartie das 59 früheste Beispiel der Einturmfassade dar. Die meist dreiteilige Fassade wird mit ihrer Mittelpartie durch ein Glokkengeschoss mit Bogenöffnungen für den Klangaustritt überhöht eine Variante, die sich auf dem italienischen Festland nicht findet und als typisch sizilianisch gelten darf. Vor allem die Kirchen im Südosten der Insel, und hier insbesondere diejenigen Rosario Gagliardis, weisen diese Fassadengestaltung auf. Der Grundriss der meisten grösseren Kirchen blieb der einer dreischiffigen Basilika, wobei in Sizilien wohl eine Erinnerung an das normannische Erbe - die Arkaden auf Säulen statt auf den im übrigen Italien üblichen Pfeilern aufsetzten (z. B. S. Giuseppe dei Teatini in Palermo). Die kleineren Gotteshäuser sowie diejenigen der weiblichen Orden waren dagegen meist einschiffige Saalkirchen, bei letzteren immer mit einer Nonnenempore im Westen, von der aus die Ordensschwestern sowohl am Gottesdienst teilnehmen als auch das Geschehen draussen beobachten konnten, ohne selbst gesehen zu werden (z. B. S. Caterina in Palermo). Daneben fand auch der Zentralbau mit seinen spezifisch barocken Varianten als ovaler, achteckiger, kreuzförmiger etc. Grundriss Verwendung (z. B. Sant‘ Antonio Abbate in Ferla und S. Chiara in Notor). Die Oratorien der oft miteinander wetteifernden Bruderschaften in Palermo boten Giacomo Serpotta (1656-1732) aus der berühmten Stuccatori-Familie ein reiches Betätigungsfeld. Schwerelos wirkende plastische Vorhänge überziehen die Wände, gebildet von ornamentalem Rankenwerk, illusionären Draperien, allegorischen Figuren und christlichen Heiligen, Putten sowie in diesen überbordenden Dekor eingelassenen Reliefs mit szenischen Darstellungen. Serpottas Meisterwerk stellt das zur Kirche S. Zita gehörende Oratorio deI Rosario dar. Ausklang des Barock In der auf die Jahrhunderte spanischer Herrschaft folgenden Zeit lassen sich auch Einflüsse aus dem west- und nordeuropäischen Barock ‚ausmachen; so entstanden während der wenigen Jahre unter österreichischer Regierung Kirchen, die, wie die Chiesa di Montevergine in Noto, Werke Fischer von Erlachs nachahmen. Im letzten Viertel des 18. Jh., als der Barock langsam ausklang, machten sich die ,Konzepte des französischen Klassizismus bemerkbar, als dessen wichtigster Repräsentant in Sizilien Giovanni Venanzio Marvuglia (1729-1814) gilt. Schon hier lässt sich jedoch feststellen, dass der von aussen importierte Stil nicht mehr, wie der Barock, im Lande aufgegriffen und den lokalen Traditionen und Mentalitäten anverwandelt wird. Dies gilt ebenfalls für Historismus sowie Jugendstil und ihre Hauptvertreter, die Architekten Giovanni B. Basile (1825-1891; Teatro Massimo, bzw. seinen Sohn Ernesto (1857-1932). 60 Palermo Italienische Reise, Johann Wolfgang von Goethe Palermo, Dienstag den 3. April 1787 Unser erstes war, die Stadt näher zu betrachten, die sehr leicht zu überschauen und schwer zu kennen ist, leicht, weil eine meilenlange Strasse vom untern zum obern Tor, vom Meere bis gegen das Gebirg‘ sie durchschneidet und diese ungefähr in der Mitte von einer andern abermals durchschnitten wird: was auf diesen Linien liegt, ist bequem zu finden; das Innere der Stadt hingegen verwirrt den Fremden, und er entwirrt sich nur mit Hülfe eines Führers in diesem Labyrinthe. Gegen Abend schenkten wir unsere Aufmerksamkeit der Kutschenreihe der bekannten Fahrt vornehmerer Personen, welche sich zur Stadt hinaus auf die Reede begaben, um frische Luft zu schöpfen, sich zu unterhalten und allenfalls zu courtoisieren. Zwei Stunden vor Nacht war der Vollmond eingetre ten und verherrlichte den Abend unaussprechlich. Die Lage von Palermo gegen Norden macht, dass sich Stadt und Ufer sehr wundersam gegen die grossen Himmelslichter verhält, deren Widerschein man niemals in den Wellen erblickt. Deswegen wir auch heute an dem heitersten Tage das Meer dunkelblau, ernsthaft und zudringlich fanden, anstatt dass es bei Neapel von der Mittagsstunde an immer heiterer, lustiger und ferner glänzt. Kniep hatte mich schon heute manchen Weg und manche Betrachtung allein machen lassen, um einen genauen Kontur des Monte Pellegrino zu nehmen, des schönsten aller Vorgebirge der Welt. Palermo, den 3. April 1787. Hier noch einiges zusammenfassend, nachträglich und vertraulich: Wir fuhren Donnerstag, den 29. März, mit Sonnenun tergang von Neapel und landeten erst nach vier Tagen um drei Uhr im Hafen von Palermo. Ein kleines Diarium, das ich beilege, erzählt überhaupt unsere Schicksale. Ich habe nie eine Reise so ruhig angetreten als diese, habe nie eine ruhigere Zeit gehabt als auf der durch beständigen Gegenwind sehr verlängerten Fahrt, selbst auf dem Bette im engen Kämmerchen, wo ich mich die ersten Tage halten musste, weil mich die Seekrankheit stark angriff. Nun denke ich ruhig zu euch hinüber; denn wenn irgend etwas für mich entscheidend war, so ist es diese Reise. Hat man sich nicht ringsum vom Meere umgeben ge sehen, so hat man keinen Begriff von Welt und von seinem Verhältnis zur Welt. Als Landschaftszeichner hat mir diese grosse, simple Linie ganz neue Gedanken gegeben. Wir haben, wie das Diarium ausweist, auf dieser kur zen Fahrt mancherlei Abwechslungen und gleichsam die Schicksale der Seefahrer im kleinen gehabt. Übrigens ist die Sicherheit und Bequemlichkeit des Paketbootsnicht genug zu loben. Der Kapitän ist ein sehr braver und recht artiger Mann. Die Gesellschaft war ein ganzes Theater, gutgesittet, leidlich und angenehm. Mein Künstler, den ich bei mir habe, ist ein munterer, treu er, guter Mensch, der mit der grössten Akkuratesse zeichnet; er hat alle Inseln und Küsten, wie sie sich zeigten, umrissen; es wird euch grosse Freude machen, wenn ich alles mitbringe. Übrigens hat er mir, die langen Stunden der Überfahrt zu verkürzen, das Mechanische der Wasserfarbenmalerei (Aquarell), die man in Italien jetzt sehr hoch getrieben hat, aufgeschrieben: versteht sich den Gebrauch gewisser Farben, um gewisse Töne hervorzubringen, an denen man sich, ohne das Geheimnis zu wissen, zu Tode mischen würde. Ich hatte wohl in Rom manches davon erfahren, aber niemals im Zusammenhänge. Die Künstler haben es in einem Lande ausstudiert wie Italien, wie dieses ist. Mit keinen Worten ist die dunstige Klarheit auszudrücken, die um die Küsten schwebte, als wir am schönsten Nachmittage gegen Palermo anfuhren. Die Reinheit der Conture, die Weichheit des Ganzen, das Auseinanderweichen der Töne, die Harmonie von Himmel, Meer und Erde. Wer es gesehen hat, der hat es auf sein ganzes Leben. Nun versteh‘ ich erst die Claude Lorrains und habe Hoffnung, auch dereinst in Norden aus meiner Seele Schattenbilder dieser glücklichen Wohnung hervorzubringen. Wäre nur alles ‚Kleinliche so rein daraus weggewaschen als die Kleinheit der Strohdächer aus meinen Zeichenbegriffen. Wir wollen sehen, was diese Königin der Inseln tun kann. Wie sie uns empfangen hat, habe ich keine Worte aus zudrücken: mit frischgrünenden Maulbeerbäumen, immergrünendem Oleander, Zitronenhecken etc. In einem öffentlichen Garten stehn weite Beete von Ranunkeln und Anemonen. Die Luft ist mild, warm und wohlriechend, der Wind lau. Der Mond ging dazu voll hinter einem Vorgebirge herauf und schien ins Meer; und diesen Genuss, nachdem man vier Tage und Nächte auf den Wellen geschwebt! Verzeiht, wenn ich mit einer stumpfen Feder aus einer Tuschmuschel, aus der mein Gefährte die Umrisse nachzieht, dieses hinkritzle. Es kommt doch wie ein Lispeln zu euch hinüber, indes ich allen, die mich lieben, ein ander Denkmal dieser meiner glücklichen Stunden bereite. Was es wird, sag‘ ich nicht, wann ihr es erhaltet, kann ich auch nicht sagen. Palermo, Dienstag den 3. April 1787. Dieses Blatt sollte nun, meine Geliebten, euch des schönsten Genusses, insofern es möglich wäre, teilhaft machen; es sollte die Schilderung der unvergleichlichen, eine grosse Wassermasse umfassenden Bucht überliefern. Von Osten herauf, wo ein flächeres Vorgebirg weit in die See greift, an vielen schroffen, wohlgebildeten, waldbewachsenen Felsen hin bis an die Fischerwohnungen der Vorstädte herauf, dann an der Stadt selbst her, deren äussere Häuser alle nach dem Hafen schauen, wie unsere Wohnung auch, bis zu dem 63 Tore, durch welches‘ wir hereinkamen. Dann geht es westwärts weiter fort an den gewöhnli chen Landungsplatz, wo kleinere Schiffe anlegen, bis zu dem eigentlichen Hafen an den Molo, die Station grösserer Schiffe. Da erhebt sich nun, sämtliche Fahrzeuge zu schützen, in Westen der Monte Pellegrino in seinen schönen Formen, nachdem er ein liebliches, fruchtbares Tal, das sich bis zum jenseitigen Meer erstreckt, zwischen sich und dem eigentlichen festen Land gelassen. Kniep zeichnete, ich schematisierte, beide mit grossem Genuss, und nun, da wir fröhlich nach Hause kommen, fühlen wir beide weder Kräfte noch Mut, zu wiederholen und auszuführen. Unsere Entwürfe müssen also für künftige Zeiten liegenbleiben, und dieses Blatt gibt euch bloss ein Zeugnis unseres Unvermögens, diese Gegenstände genügsam zu fassen, oder vielmehr unserer Anmassung, sie in so kurzer Zeit erobern und beherrschen zu wollen. Palermo, Mittwoch, den 4. April 1787. Nachmittags besuchten wir das fruchtreiche und an genehme Tal, welches die südlichen Berge herab an Palermo vorbeizieht, durchschlängelt von dem Fluss Oreto. Auch hier wird ein malerisches Auge und eine geschickte Hand gefordert, wenn ein Bild soll gefunden werden, und doch erhaschte Kniep einen Standpunkt, da, wo das gestemmte Wasser von einem halbzerstörten Wehr herunterfliesst, beschattet von einer fröhlichen Baumgruppe, dahinter das Tal hinaufwärts die freie Aussicht und einige landwirtschaftliche Gebäude. Die schönste Frühlingswitterung und eine hervor quellende Fruchtbarkeit verbreitete das Gefühl eines belebenden Friedens über das ganze Tal, welches mir der ungeschickte Führer durch seine Gelehrsamkeit verkümmerte, umständlich erzählend, wie Hannibal hier vormals eine Schlacht geliefert und was für ungeheure Kriegstaten an dieser Stelle geschehen. Unfreundlich verwies ich ihm das fatale Hervorrufen solcher abgeschiedenen Gespenster. Es sei schlimm genug, meinte ich, dass von Zeit zu Zeit die Saaten, wo nicht immer von Elefanten, doch von Pferden und Menschen zerstampft werden müssten. Man solle wenigstens die Einbildungskraft nicht mit solchem Nachgetümmel aus ihrem friedlichen Traume aufschrecken. Er verwunderte sich sehr, dass ich das klassische An denken an so einer Stelle verschmähte, und ich konnte ihm freilich nicht deutlich machen, wie mir bei einer solchen Vermischung des Vergangenen und des Gegenwärtigen zumute sei. Noch wunderlicher erschien ich diesem Begleiter, als ich auf allen seichten Stellen, deren der Fluss gar viele trocken lässt, nach Steinchen suchte und die verschiedenen Arten derselben mit mir forttrug. Ich konnte ihm abermals nicht erklären, dass man sich von einer gebirgigen Gegend nicht schneller einen Begriffmachen kann, als wenn man die Gesteinsarten 64 untersucht, die in den Bächen herabgeschoben werden, und dass hier auch die Aufgabe sei, durch Trümmer sich eine Vorstellung von jenen ewig klassischen Höhen des Erdaltertums zu verschaffen. Auch war meine Ausbeute aus diesem Flusse reich ge nug, ich brachte beinahe vierzig Stücke zusammen, welche sich freilich in wenige Rubriken unterordnen liessen. Das meiste war eine Gebirgsart, die man bald für Jaspis oder Hornstein, bald für Tonschiefer ansprechen konnte. Ich fand sie teils in abgerundeten, teils unförmigen Geschieben, teils rhombisch gestaltet, von vielerlei Farben. Ferner kamen viele Abänderungen des ältern Kalkes vor, nicht weniger Breccien, deren Bindemittel Kalk, die verbundenen Steine aber bald Jaspis, bald Kalk waren. Auch fehlte es nicht an Geschieben von Muschelkalk. Die Pferde füttern sie mit Gerste, Häckerling und Kleien; im Frühjahr geben sie ihnen geschosste grüne Gerste, um sie zu erfrischen, per rinfrescar, wie sie es nennen. Da sie keine Wiesen haben, fehlt es an Heu. Auf den Bergen gibt es einige Weide, auch auf den Äckern, da ein Drittel als Brache liegenbleibt. Sie halten wenig Schafe, deren Rasse aus der Barbarei kommt, überhaupt auch mehr Maultiere als Pferde, weil jenen die hitzige Nahrung besser bekommt als diesen. Die Plaine, worauf Palermo liegt, sowie ausser der Stadt die Gegend Ai Colli, auch ein Teil der Bagaria, hat im Grunde Muschelkalk, woraus die Stadt gebaut ist, daher man denn auch grosse Steinbrüche in diesen Lagen findet. In der Nähe von Monte Pellegrino sind sie an einer Stelle über fünfzig Fuss tief. Die untern Lager sind weisser von Farbe. Man findet darin viel versteinte Korallen und Schaltiere, vorzüglich grosse Pilgermuscheln. Das obere Lager ist mit rotem Ton gemischt und enthält wenig oder gar keine Muscheln. Ganz obenaufliegt roter Ton, dessen Lage jedoch nicht stark ist. Der Monte Pellegrino hebt sich aus allem diesem hervor; er ist ein älterer Kalk, hat viele Löcher und Spaltungen, welche, genau betrachtet, obgleich sehr unregelmässig, sich doch nach der Ordnung der Bänke richten. Das Gestein ist fest und klingend. Palermo, Donnerstag, den 5. April 1787 Wir gingen die Stadt im besondern durch. Die Bauart gleicht meistens der von Neapel, doch stehen öffentliche Monumente, z. B. Brunnen, noch weiter entfernt vom guten Geschmack. Hier ist nicht wie in Rom ein Kunstgeist, welcher die Arbeit regelt; nur von Zufälligkeiten erhält das Bauwerk Gestalt und Dasein. Ein von dem ganzen Inselvolke angestaunter Brunnen existierte schwerlich, wenn es in Sizilien nicht schönen, bunten Marmor gäbe, und wenn nicht gerade ein Bildhauer, geübt in Tiergestalten, damals Gunst gehabt hätte. Es wird schwerhalten, diesen Brunnen zu beschreiben. Auf einem mässigen Platze steht ein rundes architektonisches Werk, nicht gar stockhoch, Sockel, Mauer und Gesims von farbigem Marmor; in die Mauer sind in einer Flucht mehrere Nischen angebracht, aus welchen, von weissem Marmor gebildet, alle Arten Tierköpfe auf gestreckten Hälsen herausschauen: Pferd, Löwe, Kamel, Elefant wechseln miteinander ab, und man erwartete kaum hinter dem Kreise dieser Menagerie einen Brunnen, zu welchem von vier Seiten durch gelassene Lücken marmorne Stufen hinaufführen, um das reichlich gespendete Wasser schöpfen zu lassen. Etwas Ähnliches ist es mit den Kirchen, wo die Prachtliebe der Jesuiten noch überboten ward, aber nicht aus Grundsatz und Absicht, sondern zufällig, wie allen falls ein gegenwärtiger Handwerker, Figuren- oder Laubschnitzer, Vergolder, Lackierer und Marmorierer gerade das, was er vermochte, ohne Geschmack und Leitung an gewissen Stellen anbringen wollte. Dabei findet man eine Fähigkeit, natürliche Dinge nachzuahmen, wie denn z. B. jene Tierköpfe gut genug gearbeitet sind. Dadurch wird freilich die Bewunderung der Menge erregt, deren ganze Kunstfreude darin besteht, dass sie das Nachgebildete mit dem Urbilde vergleichbar findet. Gegen Abend machte ich eine heitere Bekanntschaft, indem ich auf der langen Strasse bei einem kleinen HandeIsmanne eintrat, um verschiedene Kleinigkeiten einzukaufen. Als ich vor dem Laden stand, die Ware zu besehen, erhob sich ein geringer Luftstoss, welcher, längs der Strasse herwirbelnd, einen unendlichen erregten Staub in alle Buden und Fenster sogleich verteilte. »Bei allen Heiligen! sagt mir«, rief ich aus, »woher kommt die Unreinlichkeit eurer Stadt, und ist derselben denn nicht abzuhelfen? Diese Strasse wetteifert an Länge und Schönheit mit dem Corso zu Rom. An beiden Seiten Schrittsteine, die jeder Laden- und Werkstattbesitzer mit unablässigem Kehren reinlich hält, indem er alles in die Mitte hinunterschiebt, welche dadurch nur immer unreinlicher wird und euch mit jedem Windshauch den Unrat zurücksendet, den ihr der Hauptstrasse zugewiesen habt. In Neapel tragen geschäftige Eseljeden Tag das Kehricht nach Gärten und Feldern, sollte denn bei euch nicht irgendeine ähnliche Einrichtung entstehen oder getroffen werden?« »Es ist bei uns nun einmal, wie es ist«, versetzte der Mann; »was wir aus dem Hause werfen, verfault gleich vor der Türe übereinander. Ihr seht hier Schichten von Stroh und Rohr, von Küchenabgängen und allerlei Unrat, das trocknet zusammen auf und kehrt als Staub zu uns zurück. Gegen den wehren wir uns den ganzen Tag. Aber seht, unsere schönen, geschäftigen, niedlichen Besen vermehren, zuletzt abgestumpft, nur den Unrat vor unsern Häusern.« Und lustig genommen, war es wirklich an dem. Sie haben niedliche Beschen von Zwergpalmen, die man weniger Abänderung zum Fächerdienst eignen könnte, sie schleifen sich leicht ab, und die stumpfen liegen zu Tausenden in der Strasse. Auf meine wieder- holte Frage, ob dagegen keine Anstalt zu treffen sei, erwiderte er, die Rede gehe im Volke, dass gerade die, welche für Reinlichkeit zu sorgen hätten, wegen ihres grossen Einflusses nicht genötigt werden könnten, die Gelder pflichtmässig zu verwenden, und dabei sei noch der wunderliche Umstand, dass man fürchte, nach weggeschafftem misthaftem Geströhde werde erst deutlich zum Vorschein kommen, wie schlecht das Pflaster darunter beschaffen sei wodurch denn abermals die unredliche Verwaltung einer andern Kasse zutage kommen würde. Das alles aber sei, setzte er mit possierlichem Ausdruck hinzu, nur Auslegung von Übelgesinnten, er von der Meinung derjenigen, welche behaupten, der Adel erhalte seinen Karossen diese weiche Unterlage, damit sie des Abends ihre herkömmliche Lustfahrt auf elastischem Boden bequem vollbringen könnten. Und da der Mann einmal im Zuge war, bescherzte er noch mehrere Polizeimissbräuche, mir zu tröstlichem Beweis, dass der Mensch noch immer Humor genug hat, sich über das Unabwendbare lustig zu machen. Palermo, den 6. April 1787. Die heilige Rosalie, Schutzpatronin von Palermo, ist durch die Beschreibung, welche Brydone von ihrem Feste gegeben hat, so allgemein bekannt geworden, dass es den Freunden gewiss angenehm sein muss, etwas von dem Orte und der Stelle, wo sie besonders verehrt wird, zu lesen. Der Monte Pellegrino, eine grosse Felsenmasse, breiter als hoch, liegt an dem nordwestlichen Ende des Golfs von Palermo. Seine schöne Form lässt sich mit Worten nicht beschreiben; eine unvollkommene Abbildung davon findet sich in dem »Voyage pittoresque de la Sicile«. Er bestehet aus einem grauen Kalkstein der früheren Epoche. Die Felsen sind ganz nackt, kein Baum, kein Strauch wächst auf ihnen, kaum, dass die flachliegenden Teile mit etwas Rasen und Moos bedeckt sind. In einer Höhle dieses Berges entdeckte man zu Anfang des vorigen Jahrhunderts die Gebeine der Heiligen und brachte sie nach Palermo. Ihre Gegenwart befreite die Stadt von der Pest, und Rosalie war seit diesem Augenblicke die Schutzheilige des Volks; man baute ihr Kapellen und stellte ihr zu Ehren glänzende Feierlichkeiten an. Die Andächtigen wallfahrteten fleissig auf den Berg, und man erbaute mit grossen Kosten einen Weg, der wie eine Wasserleitung auf Pfeilern und Bogen ruht und in einem Zickzack zwischen zwei Klippen hinaufsteigt. Der Andachtsort selbst ist der Demut der Heiligen, welche sich dahin flüchtete, angemessener als die prächtigen Feste, welche man ihrer völligen Entäusserung von der Welt zu Ehren anstellte. Und vielleicht hat die ganze Christenheit, welche nun achtzehnhundert Jahre ihren Besitz, ihre Pracht , ihre feierlichenLustbarkeiten auf das Elend ihrer ersten Stifter und eifrigsten Bekenner gründet, keinen heiligen Ort auf65 zuweisen, der auf eine so unschuldige und gefühlvolle Art verziert und verehrt wäre. Wenn man den Berg erstiegen hat, wendet man sich um eine Felsenecke, wo man einer steilen Felswand nah gegenüber steht, an welcher die Kirche und das Kloster gleichsam festgebaut sind. Die Aussenseite der Kirche hat nichts Einladendes noch Versprechendes; man eröffnet die Türe ohne Erwartung, wird aber auf das wunderbarste überrascht, in-dem man hineintritt. Man befindet sich unter einer Halle, welche in der Breite der Kirche hinläuft und gegen das Schiff zu offen ist. Man sieht in derselben die gewöhnlichen Gefasse mit Weihwasser und einige Beichtstühle. Das Schiff der Kirche ist ein offner Hof, der an der rechten Seite von rauhen Felsen, auf der linken von einer Kontinuation der Halle zugeschlossen wird. Er ist mit Steinplatten etwas abhängig belegt, damit das Regenwasser ablaufen kann; ein kleiner Brunnen steht ungefähr in der Mitte. Die Höhle selbst ist zum Chor umgebildet, ohne dass man ihr von der natürlichen rauhen Gestalt etwas genommen hätte. Einige Stufen führen hinauf: gleich steht der grosse Pult mit dem Chorbuche entgegen, aufbeiden Seiten die Chorstühle. Alles wird von dem aus dem Hofe oder Schiff einfallenden Tageslicht erleuchtet. Tiefhinten in dem Dunkel der Höhle steht der Hauptaltar in der Mitte. Man hat, wie schon gesagt, an der Höhle nichts verändert; allein da die Felsen immer von Wasser träufeln, war es nötig, den Ort trocken zu halten. Man hat dieses durch bleierne Rinnen bewirkt, welche man an den Kanten der Felsen hergeführt und verschiedentlich miteinander verbunden hat. Da sie oben breit sind und unten spitz zulaufen, auch mit einer schmutzig grünen Farbe angestrichen sind, so sieht es fast aus, als wenn die Höhle inwendig mit grossen Kaktusarten bewachsen wäre. Das Wasser wird teils seitwärts, teils hinten in einen klaren Behälter geleitet, woraus es die Gläubigen schöpfen und gegen allerlei Übel gebrauchen. Da ich diese Gegenstände genau betrachtete, trat ein Geistlicher zu mir und fragte mich, ob ich etwa ein Genueser sei und einige Messen wollte lesen lassen. Ich versetzte ihm darauf, ich sei mit einem Genueser nach Palermo gekommen, welcher morgen als an einem Festtage heraufsteigen würde. Da immer einer von uns zu Hause bleiben müsste, wäre ich heute heraufgegangen, mich umzusehen. Er versetzte darauf, ich möchte mich aller Freiheit bedienen, alles wohl betrachten und meine Devotion verrichten. Besonders wies er mich an einen Altar, der links in der Höhle stand, als ein besonderes Heiligtum und verliess mich. Ich sah durch die Öffnungen eines grossen, aus Messing getriebenen Laubwerks Lampen unter dem Altar hervorschimmern, kniete ganz nahe davor hin und blickte durch die Öffnungen. Es war inwendig noch ein Gitterwerk von feinem geflochtenem Messingdraht vorgezogen, so dass man nur wie durch einen Flor den Gegenstand dahinter unterscheiden konnte. 66 Ein schönes Frauenzimmer erblickt‘ ich bei dem Schein einiger stillen Lampen. Sie lag wie in einer Art von Entzückung, die Augen halb geschlossen, den Kopf nachlässig auf die rechte Hand gelegt, die mit vielen Ringen geschmückt war. Ich konnte das Bild nicht genug betrachten; es schien mir ganz besondere Reize zu haben. Ihr Gewand ist aus einem vergoldeten Blech getrieben, welches einen reich von Gold gewirkten Stoff gar gut nachahmt. Kopf und Hände, von weissem Marmor, sind, ich darf nicht sagen in einem hohen Stil, aber doch so natürlich und gefällig gearbeitet, dass man glaubt, sie müsste Atem holen und sich bewegen. Ein kleiner Engel steht neben ihr und scheint ihr mit einem Lilienstengel Kühlung zuzuwehen. Unterdessen waren die Geistlichen in die Höhle ge kommen, hatten sich auf ihre Stühle gesetzt und sangen die Vesper. Ich setzte mich auf eine Bank gegen dem Altar über und hörte ihnen eine Weile zu; alsdann begab ich mich wieder zum Altare, kniete nieder und suchte das schöne Bild der Heiligen noch deutlicher gewahr zu werden. Ich überliess mich ganz der reizenden Illusion der Gestalt und des Ortes. Der Gesang der Geistlichen verklang nun in der Höh le, das Wasser rieselte in das Behältnis gleich neben dem Altare zusammen, die überhangenden Felsen des Vorhofs, des eigentlichen Schiffs der Kirche, schlossen die Szene noch mehr ein. Es war eine grosse Stille in dieser gleichsam wieder ausgestorbenen Wüste, eine grosse Reinlichkeit in einer wilden Höhle; der Flitterputz des katholischen, besonders sizilianischen Gottesdienstes, hier noch zunächst seiner natürlichen Einfalt; die Illusion, welche die Gestalt der schönen Schläferin hervorbrachte, auch einem geübten Auge noch reizend - genug, ich konnte mich nur mit Schwierigkeit von diesem Orte losreissen und kam erst in später Nacht wieder in Palermo an. Palermo, Sonnabend, den 7. April 1787. In dem öffentlichen Garten unmittelbar an der Reede brachte ich im stillen die vergnügtesten Stunden zu. Es ist der wunderbarste Ort von der Welt. Regelmässig angelegt, scheint er uns doch feenhaft; vor nicht gar langer Zeit gepflanzt, versetzt er ins Altertum. Grüne Beeteinfassungen umschliessen fremde Gewächse, Zitronenspaliere wölben sich zum niedlichen Laubengange, hohe Wände des Oleanders, geschmückt von tausend roten nelkenhaften Blüten, locken das Auge. Ganz fremde, mir unbekannte Bäume, noch ohne Laub, wahrscheinlich aus wärmern Gegenden, verbreiten seltsame Zweige. Eine hinter dem flachen Raum erhöhte Bank lässt einen so wundersam verschlungenen Wachstum übersehen und lenkt den Blick zuletzt auf grosse Bassins, in welchen Gold- und Silberfische sich gar lieblich bewegen, bald sich unter bemooste Röhren verbergen, bald wieder scharenweis, durch einen Bissen Brot gelockt, sich versammeln. An den Pflanzen erscheint durchaus ein Grün, das wir nicht gewohnt sind, bald gelblicher, bald blaulicher als bei uns. Was aber dem Ganzen die wundersamste Anmut verlieh, war ein starker Duft, der sich über alles gleichförmig verbreitete, mit so merklicher Wirkung, dass die Gegenstände, auch nur einige Schritte hintereinander entfernt, sich entschiedener hellblau voneinander absetzten, so dass ihre eigentümliche Farbe zuletzt verlorenging, oder wenigstens sehr überbläut sie sich dem Auge darstellten. Welche wundersame Ansicht ein solcher Duft ent fernteren Gegenständen, Schiffen, Vorgebirgen erteilt, ist für ein malerisches Auge merkwürdig genug, indem die Distanzen genau zu unterscheiden, ja zu messen sind; deswegen auch ein Spaziergang auf die Höhe höchst reizend ward. Man sah keine Natur mehr, sondern nur Bilder, wie sie der künstlichste Maler durch Lasieren auseinander gestuft hätte. Aber der Eindruck jenes Wundergartens war mir zu tief geblieben; die schwärzlichen Wellen am nördlichen Horizonte, ihr Anstreben an die Buchtkrümmungen, selbst der eigene Geruch des dünstenden Meeres, das alles rief mir die Insel der seligen Phäaken in die Sinne sowie ins Gedächtnis. Ich eilte sogleich, einen Homer zu kaufen, jenen Gesang mit grosser Erbauung zu lesen und eine Übersetzung aus dem Stegreif Kniepen vorzutragen, der wohl verdiente, bei einem guten Glase Wein von seinen strengen heutigen Bemühungen behaglich auszuruhen. Palermo, den 8. April 1787. Ostersonntag. Nun aber ging die lärmige Freude über die glückliche Auferstehung des Herrn mit Tagesanbruch los. Petarden, Lauffeuer, Schläge, Schwärmer und dergleichen wurden kastenweis vor den Kirchtüren losgebrannt, indessen die Gläubigen sich zu den eröffneten Flügelpforten drängten. Glocken- und Orgelschall, Chorgesang der Prozessionen und der ihnen entgegnenden geistlichen Chöre konnten wirklich das Ohr derjenigen verwirren, die an eine so lärmende Gottesverehrung nicht gewöhnt waren. Die frühe Messe war kaum geendigt, als zwei wohl geputzte Laufer des Vizekönigs unsern Gasthofbesuch ten, in der doppelten Absicht, einmal den sämtlichen Fremden zum Feste zu gratulieren und dagegen ein Trinkgeld einzunehmen, mich sodann zur Tafel zu laden, weshalb meine Gabe etwas erhöht werden musste. Nachdem ich den Morgen zugebracht, die verschie denen Kirchen zu besuchen und die Volksgesichter und Gestalten zu betrachten, fuhr ich zum Palast des Vizekönigs, welcher am obern Ende der Stadt liegt. Weil ich etwas zu früh gekommen, fand ich die grossen Säle noch leer, nur ein kleiner, munterer Mann ging auf mich zu, den ich sogleich für einen Malteser erkannte. Als er vernahm, dass ich ein Deutscher sei, fragte er, ob ich ihm Nachricht von Erfurt zu geben wisse, er habe daselbst einige Zeit sehr angenehm zugebracht. Auf seine Erkundigungen nach der von Dacherödischen Familie, nach dem Koadjutor von Dalberg konnte ich ihm hinreichende Auskunft geben, worüber er sehr vergnügt nach dem übrigen Thüringen fragte. Mit bedenklichem Anteil erkundigte er sich nach Weimar. » Wie steht es denn“, sagte er, »mit dem Manne, der, zu meiner Zeit jung und lebhaft, daselbst Regen und schönes Wetter machte? Ich habe seinen Namen vergessen, genug aber, es ist der Verfasser des Werthers. Nach einer kleinen Pause, als wenn ich mich bedächte, erwiderte ich: »Die Person, nach der Ihr Euch gefällig erkundigt, bin ich selbst!« - Mit dem sichtbarsten Zeichen des Erstaunens fuhr er zurück und rief aus: »Da muss sich viel verändert haben!« - »0 ja‘« versetzte ich, »zwischen Weimar und Palermo hab‘ ich manche Veränderung gehabt.« In dem Augenblick trat mit seinem Gefolge der Vizekönig herein und betrug sich mit anständiger Freimütigkeit, wie es einem solchen Herrn geziemt. Er enthielt sich jedoch nicht des Lächelns über den Malteser, welcher seine Verwunderung, mich hier zu sehen, auszudrücken fortfuhr. Bei Tafel sprach der Vizekönig, neben dem ich sass, über die Absicht meiner Reise und versicherte, dass er Befehl geben wolle, mich in Palermo alles sehen zu lassen und mich auf meinem Wege durch Sizilien auf alle Weise zu fördern. Palermo, Montag, den 9. April 1787. Heute den ganzen Tag beschäftigte uns der Unsinn des Prinzen Pallagonia, und auch diese Torheiten waren ganz etwas anders, als wir uns lesend und hörend vorgestellt. Denn bei der grössten Wahrheitsliebe kommt derjenige, der vom Absurden Rechenschaft geben soll, immer ins Gedränge: er will einen Begriff davon überliefern, und so macht er es schon zu etwas, da es eigentlich ein Nichts ist, welches für etwas gehalten sein will. Und so muss ich noch eine andere allgemeine Reflexion vorausschicken, dass weder das Abgeschmackteste noch das Vortrefflichste ganz unmittelbar aus einem Menschen, aus einer Zeit hervorspringe, dass man vielmehr beiden mit einiger Aufmerksamkeit eine Stammtafel der Herkunft nachweisen könne. Jener Brunnen in Palermo gehört unter die Vorfahren der Pallagonischen Raserei, nur dass diese hier, auf eig nem Grund und Boden, in der grössten Freiheit und Breite sich hervortut. Ich will den Verlauf des Entste hens zu entwickeln suchen. Wenn ein Lustschloss in diesen Gegenden mehr oder weniger in der Mitte des ganzen Besitztums liegt und man also, um zu der herrschaftlichen Wohnung zu gelangen, durch gebaute Felder, Küchengärten und dergleichen landwirtschaftliche Nützlichkeiten zu fahren hat, erweisen sie sich haushälterischer als die Nordländer, die oft eine grosse Strecke guten Bodens zu einer Parkanlage verwenden, um mit unfruchtbarem Gesträuche dem Auge zu schmeicheln. Diese Südländer hingegen führen zwei Mauern auf, zwischen welchen man zum Schloss gelangt, ohne dass man gewahr werde, was rechts oder links vorgeht. 67 Dieser Weg beginnt gewöhnlich mit einem grossen Portal, wohl auch mit einer gewölbten Halle und endigt im Schlosshofe. Damit nun aber das Auge zwischen diesen Mauern nicht ganz unbefriedigt sei, so sind sie oben ausgebogen, mit Schnörkeln und Postamenten verziert, worauf allenfalls hie und da eine Vase steht. Die Flächen sind ab getüncht, in Felder geteilt und angestrichen. Der Schlosshof macht ein Rund von einstöckigen Häusern, wo Gesinde und Arbeitsleute wohnen; das viereckte Schloss steigt über alles empor. Dies ist die Art der Anlage, wie sie herkömmlich ge geben ist, wie sie auch schon früher mag bestanden haben, bis der Vater des Prinzen des Schloss baute, zwar auch nicht in dem besten, aber doch erträglichem Geschmack. Der jetzige Besitzer aber, ohne jene allgemeinen Grundzüge zu verlassen, erlaubt seiner Lust und Leidenschaft zu missgestaltetem, abgeschmacktem Gebilde den freisten Lauf, und man erzeigt ihm viel zuviel Ehre, wenn man ihm nur einen Funken Einbildungskraft zuschreibt. Wir treten also in die grosse Halle, welche mit der Grenze des Besitztums selbst anfängt, und finden ein Achteck, sehr hoch zur Breite. Vier ungeheure Riesen mit modernen, zugeknöpften Gamaschen tragen das Gesims, auf welchem dem Eingang gerade gegenüber die heilige Dreieinigkeit schwebt. Der Weg nach dem Schlosse zu ist breiter als gewöhn lich, die Mauer in einen fortlaufenden hohen Sockel verwandelt, auf welchem ausgezeichnete Basamente seltsame Gruppen in die Höhe tragen, indessen in dem Raum von einer zur andern mehrere Vasen aufgestellt sind. Das Widerliche dieser von den gemeinsten Steinhauern gepfuschten Missbildungen wird noch dadurch vermehrt, dass sie aus dem losesten Muscheltuff gearbeitet sind; doch würde ein besseres Material den Unwert der Form nur desto mehr in die Augen setzen. Ich sagte vorhin Gruppen und bediente mich eines falschen, an dieser Stelle uneigentlichen Ausdrucks; denn diese Zusammenstellungen sind durch keine Art von Reflexion oder auch nur Willkür entstanden, sie sind vielmehr zusammengewürfelt. Jedesmal drei bilden den Schmuck eines solchen viereckten Postaments, indem ihre Basen so eingerichtet sind, dass sie zusammen in verschiedenen Stellungen den viereckigen Raum ausfüllen. Die vorzüglichste besteht gewöhnlich aus zwei Figuren, und ihre Base nimmt den grössten vordem Teil des Piedestals ein; diese sind meistenteils Ungeheuer von tierischer und menschlicher Gestalt. Um nun den hintern Raum der Piedestalfläche auszufüllen, bedarf es noch zweier Stücke; das von mittlerer Grösse stellt gewöhnlich einen Schäfer oder eine Schäferin, einen Kavalier oder eine Dame, einen tanzenden Affen oder Hund vor. Nun bleibt auf dem Piedestal noch eine Lücke: diese wird meistens durch einen Zwerg ausgefüllt, wie denn überall dieses Geschlecht bei geistlosen Scherzen eine grosse Rolle spielt. Dass wir aber die Elemente der Tollheit des Prinzen Pallagonia vollständig überliefern, geben wir nachste hendes Verzeichnis. Menschen: Bettler, Bettlerinnen, Spanier, Spanierinnen, Mohren, Türken, Buckelige, alle Arten Verwachsene, Zwerge, Musikanten, Pulcinelle, antik kostümierte Soldaten, Götter, Göttinnen, altfranzösisch Gekleidete, Soldaten mit Patrontaschen und Gamaschen, Mythologie mit fratzenhaften Zutaten: Achill und Chiron mit Pulcinell. Tiere: nur Teile derselben, Pferd mit Menschenhänden, Pferdekopf auf Menschenkörper, entstellte Affen, viele Drachen und Schlangen, alle Arten von Pfoten an Figuren aller Art, Verdoppelungen, Verwechslungen der Köpfe. Vasen: alle Arten von Monstern und Schnörkeln, die unterwärts zu Vasenbäuchen und Untersätzen endigen. Denke man sich nun dergleichen Figuren schockweise verfertigt und ganz ohne Sinn und Verstand entsprun gen, auch ohne Wahl und Absicht zusammengestellt, denke man sich diesen Sockel, diese Piedestale und Unformen in einer unabsehbaren Reihe, so wird man das unangenehme Gefühl mit empfinden, das einen jeden überfallen muss, wenn er durch diese Spitzruten des Wahnsinns durchgejagt wird. Wir nähern uns dem Schlosse und werden durch die Arme eines halbrunden Vorhofs empfangen; die entgegenstehende Hauptmauer, wodurch das Tor geht, ist burgartig angelegt. Hier finden wir eine ägyptische fig ur eingemauert, einen Springbrunnen ohne Wasser, ein Monument, zerstreut umherliegende Vasen, Statuen, vorsätzlich auf die Nase gelegt. Wir treten in den Schlosshof und finden das herkömmliche, mit kleinen Gebäuden umgebene Rund in kleineren Halbzirkeln ausgebogt, damit es ja an Mannigfaltigkeit nicht fehle. Der Boden ist grösstenteils mit Gras bewachsen. Hier stehen wie auf einem verfallenen Kirchhofe seltsam geschnörkelte Marmorvasen vom Vater her, Zwerge und sonstige Ungestalten aus der neuem Epoche zufällig durcheinander, ohne dass sie bis jetzt einen Platz finden können; sogar tritt man vor eine Laube, voll gepfropft von alten Vasen und anderem geschnörkeltem Gestein. Das Widersinnige einer solchen geschmacklosen Denkart zeigt sich aber im höchsten Grade darin, dass die Gesimse der kleinen Häuser durchaus schief nach einer oder der andern Seite hinhängen, so dass das Gefühl der Wasserwaage und des Perpendikels, das uns eigentlich zu Menschen macht und der Grund aller Eurhythmie ist, in uns zerrissen und gequält wird. Und so sind denn auch diese Dachreihen mit Hydem und kleinen Büsten, mit musizierenden Affenchören und ähnlichem Wahnsinn verbrämt. Drachen, mit Göttern abwechselnd, ein Atlas, der statt der Himmelskugel ein Weinfass trägt. Gedenkt man sich aber aus allem diesem in das Schloss zu retten, welches, vom Vater erbaut, ein relativ ver nünftiges äusseres Ansehen hat, so findet man nicht weit vor der Pforte den lorbeerbekränzten Kopf eines römischen Kaisers auf einer Zwerggestalt, die auf einem Delphin sitzt. 69 Im Schlosse selbst nun, dessen Äusseres ein leidliches Innere erwarten lässt, fängt das Fieber des Prinzen schon wieder zu rasen an. Die Stuhlfüsse sind ungleich abgesägt, so dass niemand Platz nehmen kann, und vor den sitzbaren Stühlen warnt der Kastellan, weil sie unter ihren Sammetpolstern Stacheln verbergen. Kandelaber von chinesischem Porzellan stehen in den Ecken, welche, näher betrachtet, aus einzelnen Schalen, Ober- und Untertassen und dergleichen zusammengekittet sind. Kein Winkel, wo nicht irgendeine Willkür hervorblickte. Sogar der unschätzbare Blick über die Vorgebirge ins Meer wird durch farbige Scheiben verkümmert, welche durch einen unwahren Ton die Gegend entweder verkälten oder entzünden. Eines Kabinetts muss ich noch erwähnen, welches aus alten vergoldeten, zusammengeschnittenen Rahmen aneinander getäfelt ist. Alle die hundertfältigen Schnitzmuster, alle die verschiedenen Abstufungen einer ältern oder jüngern, mehr oder weniger bestaubten und beschädigten Vergoldung bedecken hier, hart aneinander gedrängt, die sämtlichen Wände und geben den Begriff von einem zerstückelten Trödel. Die Kapelle zu beschreiben, wäre allein ein Heftchen nötig. Hier findet man den Aufschluss über den ganzen Wahnsinn, der nur in einem bigotten Geiste bis auf diesen Grad wuchern konnte. Wie manches Fratzenbild einer irregeleiteten Devotion sich hier befinden mag, geb‘ ich zu vermuten, das Bestejedoch will ich nicht vorenthalten. Flach an der Decke nämlich ist ein geschnitztes Kruzifix von ziemlicher Grösse befestigt, nach der Natur angemalt, lackiert mit untermischter Vergoldung. Dem Gekreuzigten in den Nabel ist ein Haken eingeschraubt, eine Kette aber, die davon herabhängt, befestigt sich in den Kopf eines knieend betenden, in der Luft schwebenden Mannes, der, angemalt und lackiert wie alle übrigen Bilder der Kirche, wohl ein Sinnbild der ununterbrochenen Andacht des Besitzers darstellen soll. Übrigens ist der Palast nicht ausgebaut: ein grosser, von dem Vater bunt und reich angelegter, aber doch nicht widerlich verzierter Saal war unvollendet geblieben; wie denn der grenzenlose Wahnsinn des Besitzers mit seinen Narrheiten nicht zu Rande kommen kann. Kniepen, dessen Künstlersinn innerhalb dieses Toll hauses zur Verzweiflung getrieben wurde, sah ich zum erstenmal ungeduldig; er trieb mich fort, da ich mir die Elemente dieser Unschöpfung einzeln zu vergegenwärtigen und zu schematisieren suchte. Gutmütig genug zeichnete er zuletzt noch eine von den Zusammenstellungen, die einzige, die noch wenigstens eine Art von Bild gab. Sie stellt ein Pferdweib auf einem Sessel sitzend, gegen einem unterwärts altmodisch gekleideten, mit Greifenkopf, Krone und grosser Perücke gezierten. Kavalier Karte spielend vor und erinnert an das nach aller Tollheit noch immer höchst merkwürdige Wappen des Hauses Pallagonia: ein Satyr hält einem Weibe, das einen Pferdekopf hat, einen Spiegel vor. 70 Palermo, Dienstag, den 10. April 1787. Heute fuhren wir bergauf nach Monreale. Ein herrli cher Weg, welchen der Abt jenes Klosters zur Zeit eines überschwenglichen Reichtums angelegt hat; breit, bequemen Anstiegs, Bäume hie und da, besonders aber weitläufige Spring- und Röhrenbrunnen, beinah pallagonisch verschnörkelt und verziert, desungeachtet aber Tiere und Menschen erquickend. Das Kloster San Martin, auf der Höhe liegend, ist eine respektable Anlage. Ein Hagestolz allein, wie man am Prinzen Pallagonia sieht, hat selten etwas Vernünftiges hervorgebracht, mehrere zusammen hingegen die allergrössten Werke, wie Kirchen und. Klöster zeigen. Doch wirkten die geistlichen Gesellschaften wohl nur deswegen so viel, weil sie noch mehr als irgendein Familienvater einer unbegrenzten Nachkommenschaft gewiss waren. Die Mönche liessen uns ihre Sammlungen sehen. Von Altertümern und natürlichen Sachen verwahren sie manches Schöne. Besonders fiel uns auf eine Medaille mit dem Bilde einer jungen Göttin, das Entzücken erregen musste. Gern hätten uns die guten Männer einen Abdruck mitgegeben, es war aber nichts bei Handen, was zu irgend einer Art von Form tauglich gewesen wäre. Nachdem sie uns alles vorgezeigt, nicht ohne traurige Vergleichung dervorigen und gegenwärtigen Zustände, brachten sie uns in einen angenehmen kleinen Saal, von dessen Balkon man eine liebliche Aussicht genoss; hier war für uns beide gedeckt, und es fehlte nicht an einem sehr guten Mittagessen. Nach dem aufgetragenen Dessert trat der Abt herein, begleitet von seinen ältesten Mönchen, setzte sich zu uns und blieb wohl eine halbe Stunde, in welcher Zeit wir manche Frage zu beantworten hatten. Wir schieden aufs freundlichste. Die jüngern begleiteten uns nochmals in die Zimmer der Sammlung und zuletzt nach dem Wagen. Wir fuhren mit ganz andern Gesinnungen nach Hause als gestern. Heute hatten wir eine grosse Anstalt zu bedauern, die eben zu der Zeit versinkt, indessen an der andern Seite ein abgeschmacktes Unternehmen mit frischem Wachstum hervorsteigt. Der Weg nach San Martin geht das ältere Kalkgebirg hinauf. Man zertrümmert die Felsen und brennt Kalk daraus, der sehr weiss wird. Zum Brennen brauchen sie eine starke, lange Grasart, in Bündeln getrocknet. Hier entsteht nun die Calcara. Bis an die steilsten Höhen liegt roter Ton angeschwemmt, der hier die Dammerde vorstellt, je höher, je röter, wenig durch Vegetation geschwärzt. Ich sah in der Entfernung eine Grube fast wie Zinnober. Das Kloster steht mitten im Kalkgebirg, das sehr quellenreich ist. Die Gebirge umher sind wohl bebaut. Palermo, Mittwoch, den 11. April 1787. Nachdem wir nun zwei Hauptpunkte ausserhalb der Stadt betrachtet, begaben wir uns in den Palast, wo der geschäftige Laufer die Zimmer und ihren Inhalt vorzeigte. Zu unserm grossen Schrecken war der Saal, worin die Antiken sonst aufgestellt sind, eben in der grössten Unordnung, weil man eine neue architektonische Dekoration im Werke hatte. Die Statuen waren von ihren Stellen weggenommen, mit Tüchern verhängt, mit Gerüsten verstellt, so dass wir trotz allem guten Willen unseres Führers und einiger Bemühung der Handwerksleute doch nur einen sehr unvollständigen Begriff davon erwerben konnten. Am meisten war mir um die zwei Widder von Erz zu tun, welche, auch unter diesen Umständen gesehen, den Kunstsinn höchlich erbauten. Sie sind liegend vorgestellt, die eine Pfote vorwärts, als Gegenbilder die Köpfe nach verschiedenen Seiten gekehrt; mächtige Gestalten aus der mythologischen Familie, Phryxus und Helle zu tragen würdig. Die Wolle nicht kurz und kraus, sondern lang und wellenartig herabfallend, mit grosser Wahrheit und Eleganz gebildet, aus der besten griechischen Zeit. Sie sollen in dem Hafen von Syrakus gestanden haben. Nun führte uns der Laufer ausserhalb der Stadt in Ka takomben, welche, mit architektonischem Sinn ange legt, keineswegs zu Grabplätzen benutzte Steinbrüche sind. In einem ziemlich verhärteten Tuff und dessen senkrecht gearbeiteter Wand sind gewölbte Öffnungen und innerhalb dieser Särge ausgegraben, mehrere übereinander, alles aus der Masse, ohne irgendeine Nachhülfe von Mauerwerk. Die oberen Särge sind kleiner, und in den Räumen über den Pfeilern sind Grabstätten für Kinder angebracht. Palermo, Donnerstag, den 12. April 1787. Man zeigte uns heute das Medaillenkabinett des Prin zen Torremuzza. Gewissermassen ging ich ungern hin. Ich verstehe von diesem Fach zu wenig, und ein bloss neugieriger Reisender ist wahren Kennern und Liebhabern verhasst. Da man aber doch einmal anfangen muss, so bequemte ich mich und hatte davon viel Vergnügen und Vorteil. Welch ein Gewinn, wenn man auch nur vorläufig übersieht, wie die alte Welt mit Städten übersäet war, deren kleinste, wo nicht eine ganze Reihe der Kunstgeschichte, wenigstens doch einige Epochen derselben uns in köstlichen Münzen hinterliess. Aus diesen Schubkasten lacht uns ein unendlicher Frühling von Blüten und Früchten der Kunst, eines in höherem Sinne geführten Lebensgewerbes und was nicht alles noch mehr hervor. Der Glanz der sizilischen Städte, jetzt verdunkelt, glänzt aus diesen geformten Metallen wieder frisch entgegen. Leider haben wir andern in unserer Jugend nur die Familienmünzen besessen, die nichts sagen, und die Kaisermünzen, welche dasselbe Profil bis zum Überdruss wiederholen: Bilder von Herrschern, die eben nicht als Musterbilder der Menschheit zu betrachten sind. Wie traurig hat man nicht unsere Jugend auf das gestaltlose Palästina und auf das gestaltverwirrende Rom beschränkt! Sizilien und Neugriechenland lässt mich nun wieder ein frisches Leben hoffen. Dass ich über diese Gegenstände mich in allgemeine Betrachtungen ergehe, ist ein Beweis, dass ich noch nicht viel davon verstehen gelernt habe; doch das wird sich mit dem übrigen nach und nach schon geben. Palermo, Donnerstag, den 12. April 1787. Heute am Abend ward mir noch ein Wunsch erfüllt, und zwar auf eigene Weise. Ich stand in der grossen Strasse auf den Schrittsteinen, an jenem Laden mit dem Kaufherrn scherzend; auf einmal tritt ein Laufer, gross, wohlgekleidet, an mich heran, einen silbernen Teller rasch vorhaltend, worauf mehrere Kupferpfennige, wenige Silberstücke lagen. Da ich nicht wusste, was es heissen solle, so zuckte ich, den Kopf duckend, die Achseln, das gewöhnliche Zeichen, wodurch man sich lossagt, man mag nun Antrag oder Frage nicht verstehen, oder nicht wollen. Ebenso schnell, als er gekommen, war er fort, und nun bemerkte ich auf der entgegengesetzten Seite der Strasse seinen Kameraden in gleicher Beschäftig ung. Was das bedeute, fragte ich den Handelsmann, der mit bedenklicher Gebärde, gleichsam verstohlen, auf einen langen, hagern Herrn deutete, welcher in der Strassenmitte, hofmässig gekleidet, anständig und gelassen über den Mist einherschritt. Frisiert und gepudert, den Hut unter dem Arm, in seidenem Gewande, den Degen an der Seite, ein nettes Fusswerk mit Steinschnallen geziert: so trat der Bejahrte ernst und ruhig einher; aller Augen waren auf ihn gerichtet. »Dies ist der Prinz Pallagonia«, sagte der Händler, »welcher von Zeit zu Zeit durch die Stadt geht und für die in der Barbarei gefangenen Sklaven ein Lösegeld zusammenheischt. Zwar beträgt dieses Einsammeln niemals viel, aber der Gegenstand bleibt doch im Andenken, und oft vermachen diejenigen, welche bei Lebzeiten zurückhielten, schöne Summen zu solchem Zweck. Schon viele Jahre ist der Prinz Vorsteher dieser Anstalt und hat unendlich viel Gutes gestiftet! « »Statt auf die Torheiten seines Landsitzes«, rief ich aus, »hätte er hierher jene grossen Summen verwenden sollen. Kein Fürst in der Welt hätte mehr geleistet. « Dagegen sagte der Kaufmann: »Sind wir doch alle so! Unsere Narrheiten bezahlen wir gar gerne selbst, zu unsern Tugenden sollen andere das Geld hergeben.« Palermo, Freitag, den 13. April 1787. Vorgearbeitet in dem Steinreiche Siziliens hat uns Graf Borck sehr emsig, und wer nach ihm gleichen Sinnes die Insel besucht, wird ihm recht gern Dank zollen. Ich finde es angenehm sowie pflichtmässig, das Andenken eines Vorgängers zu feiern. Bin ich doch nur ein Vorfahr von künftigen andern, im Leben wie auf der Reise! Die Tätigkeit des Grafen scheint mir übrigens grösser als seine Kenntnisse; er verfährt mit einem gewissen Selbstbehagen, welches dem bescheidenen Ernst zuwider ist, mit welchem man wichtige Gegenstände behandeln sollte. Indessen ist sein Heft in Quart, ganz dem sizilianischen Steinreich gewidmet, mir von 71 grossem Vorteil, und ich konnte, dadurch vorbereitet, die Steinschleifer mit Nutzen besuchen, welche, früher mehr beschäftigt, zur Zeit als Kirchen und Altäre noch mit Marmor und Achaten überlegt werden mussten, das Handwerk doch noch immer forttreiben. Bei ihnen bestellte ich Muster von weichen und harten Steinen; denn so unterscheiden sie Marmor und Achate hauptsächlich deswegen, weil die Verschiedenheit des Preises sich nach diesem Unterschiede richtet. Doch wissen sie ausser diesen beiden sich noch viel mit einem Material, einem Feuererzeugnis ihrer Kalköfen. In diesen findet sich nach dem Brande eine Art Glasfluss, welcher von der hellsten blauen Farbe zur dunkelsten, ja zur schwärzesten übergeht. Diese Klumpen werden wie anderes Gestein indünne Tafeln geschnitten, nach der Höhe ihrer Farbe und Reinheit geschätzt und anstatt Lapislazuli beim Fur nieren von Altären, Grabmälern und andern kirchlichen Verzierungen mit Glück angewendet. Eine vollständige Sammlung, wie ich sie wünsche, ist nicht fertig, man wird sie mir erst nach Neapel schicken. Die Achate sind von der grössten Schönheit, besonders diejenigen, in welchen unregelmässige Flecken von gelbem oder rotem Jaspis mit weissem, gleichsam gefrornen Quarze abwechseln und dadurch die schönste Wirkung hervorbringen. Eine genaue Nachahmung solcher Achate, auf der Rückseite dünner Glasscheiben durch Lackfarben be wirkt, ist das einzige Vernünftige, was ich aus dem pal lagonischen Unsinn jenes Tages herausfand. Solche Tafeln nehmen sich zur Dekoration schöner aus als der echte Achat, indem dieser aus vielen kleinen Stücken zusammengesetzt werden muss, bei jenen hingegen die Grösse der Tafeln vom Architekten abhängt. Dieses Kunststück verdiente wohl, nachgeahmt zu werden. Palermo, den 13. April 1787. Italien ohne Sizilien macht gar kein Bild in der Seele: hier ist erst der Schlüssel zu allem. Vom Klima kann man nicht Gutes genug sagen; jetzt ist‘s Regenzeit, aber immer unterbrochen; heute donnert und blitzt es, und alles wird mit Macht grün. Der Lein hat schon zum Teil Knoten gewonnen, der andere Teil blüht. Man glaubt in den Gründen kleine Teiche zu sehen, so schön blaugrün liegen die Leinfelder unten. Der reizenden Gegenstände sind unzählige! Und mein Ge selle ist ein exzellenter Mensch, der wahre Hoffegut, so wie ich redlich den Treufreund fortspiele. Er hat schon recht schöne Conture gemacht und wird noch das Beste mitnehmen. Welche Aussicht, mit meinen Schätzen dereinst glücklich nach Hause zu kommen! Vom Essen und Trinken hierzuland hab‘ ich noch nichts gesagt, und doch ist es kein kleiner Artikel. Die Gartenfrüchte sind herrlich, besonders der Salat von Zartheit und Geschmack wie eine Milch; man begreift, warum ihn die Alten Lactuca genannt haben. Das Öl, der Wein alles sehr gut, und sie könnten noch besser sein, wenn man aufihre Bereitung mehr Sorg72 falt verwendete. Fische die besten, zartesten. Auch haben wir diese Zeit her sehr gut Rindfleisch gehabt, ob man es gleich sonst nicht loben will. Nun vom Mittagsessen ans Fenster! auf die Strasse! Es ward ein Missetäter begnadigt, welches immer zu Ehren der heilbringenden Osterwoche geschieht. Eine Brüderschaft führt ihn bis unter einen zum Schein aufgebauten Galgen, dort muss er vor der Leiter eine Andacht verrichten, die Leiter küssen und wird dann wieder weggeführt. Es war ein hübscher Mensch vom Mittelstande, frisiert, einen weissen Frack, weissen Hut, alles weiss. Er trug den Hut in der Hand, und man hätte ihm hie und da nur bunte Bänder anheften dürfen, so konnte er als Schäfer auf jede Redoute gehen. Palermo, den 13. und 14. April 1787. Und so sollte mir denn kurz vordem Schlusse ein sonderbares Abenteuer beschert sein, wovon ich sogleich umständliche Nachricht erteile. Schon die ganze Zeit meines Aufenthalts hörte ich an unserm öffentlichen Tische manches über Cagliostro, dessen Herkunft und Schicksale reden. Die Palermitaner waren darin einig, dass ein gewisser Joseph Balsamo, in ihrer Stadt geboren, wegen mancherlei schlechter Streiche berüchtigt und verbannt sei. Ob aber dieser mit dem Grafen Cagliostro nur eine Person sei, darüber waren die Meinungen geteilt. Einige, die ihn ehemals gesehen hatten, wollten seine Gestalt injenem Kupferstiche wiederfinden, der bei uns bekannt genug ist und auch nach Palermo gekommen war. Unter solchen Gesprächen berief sich einer der Gäste auf die Bemühungen, welche ein palermitanischer Rechtsgelehrter übernommen, diese Sache ins klare zu bringen. Er war durch das französische Ministerium veranlasst worden, dem Herkommen eines Mannes nachzuspüren, welcher die Frechheit gehabt hatte, vor dem Angesichte Frankreichs, ja man darf wohl sagen der Welt, bei einem wichtigen und gefährlichen Prozesse die albernsten Märchen vorzubringen. Es habe dieser Rechtsgelehrte, erzählte man, den Stammbaum des Joseph Balsamo aufgestellt und ein erläuterndes Memoire mit beglaubigten Beilagen nach Frankreich abgeschickt, wo man wahrscheinlich davon öffentlichen Gebrauch machen werde. Ich äusserte den Wunsch, diesen Rechtsgelehrten, von welchem ausserdem viel Gutes gesprochen wurde, kennen zu lernen, und der Erzähler erbot sich, mich bei ihm anzumelden und zu ihm zu fuhren. Nach einigen Tagen gingen wir hin und fanden ihn mit seinen Klienten beschäftigt. Als er diese abgefertigt und wir das Frühstück genommen hatten, brachte er ein Manuskript hervor, welches den Stammbaum Cagliostros, die zu dessen Begründung nötigen Dokumente in Abschrift und das Konzept eines Memoire enthielt, das nach Frankreich abgegangen war. Er legte mir den Stammbaum vor und gab mir die nö tigen Erklärungen darüber, wovon ich hier so viel an führe, als zu leichterer Einsicht nötig ist. Joseph Balsamos Urgrossvater mütterlicher Seite war Matthäus Martello. Der Geburtsname seiner Urgross mutter ist unbekannt. Aus dieser Ehe entsprangen zwei Töchter, eine namens Maria, die an Joseph Bracconeri verheiratet und Gross mutter Joseph Balsamos ward. Die andere, namens Vincenza, verheiratete sich an Joseph Cagliostro, der von einem kleinen Orte La Noara, acht Meilen von Messina, gebürtig war. Ich bemerke hier, dass zu Messina noch zwei Glockengiesser dieses Namens leben. Diese Grosstante war in der Folge Pate bei Joseph Balsamo; er erhielt den Taufnamen ihres Mannes und nahm endlich auswärts auch den Zunamen Cagliostro von seinem Grossonkel an. Die Eheleute Bracconeri hatten drei Kinder: Felicitas, Matthäus und Antonin. Felicitas ward an Peter Balsamo verheiratet, den Sohn eines Bandhändlers in Palermo, Antonin Balsamo, der vermutlich vonjüdischem Geschlecht abstammte. Peter Balsamo, der Vater des berüchtigten Josephs, machte Bankerott und starb in seinem fünfundvierzigsten Jahre. Seine Witwe, welche noch gegenwärtig lebt, gab ihm ausser dem benannten Joseph noch eine Tochter, Johanna Joseph-Maria, welche anJohann Baptista Capitummino verheiratet wurde, der mit ihr drei Kinder zeugte und starb. Das Memoire, welches uns der gefällige Verfasser vorlas und mir auf mein Ersuchen einige Tage anver traute, war auf Taufscheine, Ehekontrakte und andere Instrumente gegründet, die mit Sorgfalt gesammelt waren. Es enthielt ungefähr die Umstände (wie ich aus einem Auszug, den ich damals gemacht, ersehe), die uns nunmehr aus den römischen Prozessakten bekannt geworden sind, dass Joseph Balsamo anfangs Juni 1743 zu Palermo geboren, von Vincenza Martello, verheirateter Cagliostro, aus der Taufe gehoben sei, dass er inseiner Jugend das Kleid der Barmherzigen Brüder genommen, eines Ordens, der besonders Kranke verpflegt, dass er bald viel Geist und Geschick für die Medizin gezeigt, doch aber wegen seiner übeln Aufführung fortgeschickt worden, dass er in Palermo nachher den Zauberer und Schatzgräber gemacht. Seine grosse Gabe, alle Hände nachzuahmen, liess er nicht unbenutzt (so fährt das Memoire fort). Er ver fälschte oder verfertigte vielmehr ein altes Dokument, wodurch das Eigentum einiger Güter in Streit geriet. Er kam in Untersuchung, ins Gefängnis, entfloh und ward ediktaliter zitiert. Er reiste durch Kalabrien nach Rom, wo er die Tochter eines Gürtlers heiratete. Von Rom kehrte er nach Neapel unter dem Namen Marchese Pellegrini zurück. Er wagte sich wieder nach Palermo, ward erkannt, gefänglich eingezogen und kam nur auf eine Weise los, die wert ist, dass ich sie umständlich erzähle. Der Sohn eines der ersten sizilianischen Prinzen und grossen Güterbesitzers, eines Mannes, der an dem neapolitanischen Hofe ansehnliche Stellen bekleidete, verband mit einem starken Körper und einer unbändigen Gemütsart allen Übermut, zu dem sich der Reiche und Grosse ohne Bildung berechtigt glaubt. Donna Lorenza wusste ihn zu gewinnen, und auf ihn baute der verstellte Marchese Pellegrini seine Sicherheit. Der Prinz zeigte öffentlich, dass er dies angekommene Paar beschütze; aber in welche Wut geriet er, als Joseph Balsamo auf Anrufen der Partei, welche durch seinen Betrug Schaden gelitten, abermals ins Gefängnis gebracht wurde! Er versuchte verschiedene Mittel, ihn zu befreien, und da sie ihm nicht gelingen wollten, drohte er im Vorzimmer des Präsidenten, den Advokaten der Gegenpartei aufs grimmigste zu misshandeln, wenn er nicht sogleich die Verhaftung des Balsamo wieder aufhöbe. Als der gegenseitige Sachwalter sich weigerte, ergriff er ihn, schlug ihn, warfihn auf die Erde, trat ihn mit Füssen und war kaum von mehreren Misshandlungen abzuhalten, als der Präsident selbst auf den Lärm herauseilte und Frieden gebot. Dieser, ein schwacher, abhängiger Mann, wagte nicht, den Beleidiger zu bestrafen; die Gegenpartei und ihr Sachwalter wurden kleinmütig, und Balsamo ward in Freiheit gesetzt, ohne dass bei den Akten sich eine Registratur über seine Loslassung befindet, weder wer sie verfügt, noch wie sie geschehen. Bald darauf entfernte er sich von Palermo und tat verschiedene Reisen, von welchen der Verfasser nur unvollständige Nachrichten geben konnte. Das Memoire endigte sich mit einem scharfsinnigen Beweise, dass Cagliostro und Balsamo ebendieseibe Person sei, eine These, die damals schwerer zu behaupten war, als sie es jetzt ist, da wir von dem Zusammenhang der Geschichte vollkommen unterrichtet sind. Hätte ich nicht damals vermuten müssen, dass man in Frankreich einen öffentlichen Gebrauch von jenem Aufsatz machen würde, dass ich ihn vielleicht bei meiner Zurückkunft schon gedruckt anträfe, so wäre es mir erlaubt gewesen, eine Abschrift zu nehmen und meine Freunde und das Publikum früher von manchen interessanten Umständen zu unterrichten. Indessen haben wir das meiste und mehr, als jenes Memoire enthalten konnte, von einer Seite her erfahren, von der sonst nur Irrtümer auszuströmen pflegten. Wer hätte geglaubt, dass Rom einmal zur Aufklärung der Welt, zur völligen Entlarvung eines Betrügers so viel beitragen sollte, als es durch die Herausgabe jenes Auszugs aus den Prozessakten geschehen ist! Denn obgleich diese Schrift weit interessanter sein könnte und sollte, so bleibt sie doch immer ein schönes Dokument in den Händen eines jeden Vemünftigen, der es mit Verdruss ansehen musste, dass Betrogene, Halbbetrogene und Betrüger diesen Menschen und seine Possenspiele jahrelang verehrten, sich durch die Gemeinschaft mit ihm über andere erhoben fühlten und von der Höhe ihres gläubigen Dünkels den gesunden Menschenverstand bedauerten, wo nicht geringschätzten. Wer schwieg nicht gern während dieser Zeit? und auch nur jetzt, nachdem die ganze Sache geendigt und ausser Streit gesetzt ist, kann ich es über mich gewinnen, zu Komplettierung der Akten dasjenige, was mir bekannt ist, mitzuteilen. 73 Als ich in dem Stammbaume so manche Personen, besonders Mutter und Schwester, noch als lebend angegeben fand, bezeigte ich dem Verfasser des Memoire meinen Wunsch, sie zu sehen und die Verwandten eines so sonderbaren Menschen kennen zu lernen. Er versetzte, dass es schwer sein werde, dazu zu gelangen, indem diese Menschen, arm, aber ehrbar, sehr eingezogen, lebten, keine Fremden zu sehen gewohnt waren, und der argwöhnische Charakter der Nation sich aus einer solchen Erscheinung allerlei deuten werde; doch er wolle mir seinen Schreiber schicken, der bei der Familie Zutritt habe und durch den er die Nachrichten und Dokumente, woraus der Stammbaum zusammengesetzt worden, erhalten. Den folgenden Tag erschien der Schreiber und äusserte wegen des Unternehmens einige Bedenklichkeiten. »Ich habe«, sagte er, »bisher immer vermieden, diesen Leuten wieder unter die Augen zu treten; denn umihre Ehekontrakte, Taufscheine und andere Papiere in die Hände zu bekommen und von selbigen legale Kopien machen zu können, musste ich mich einer eigenen Listbedienen. Ich nahm Gelegenheit, von einem Familienstipendio zu reden, das irgendwo vakant war, machte ihnen wahrscheinlich, dass der junge Capitummino sich dazu qualifiziere, dass man vor allen Dingen einen Stammbaum aufsetzen müsse, um zu sehen, inwiefern der Knabe Ansprüche da rauf machen könne; es werde freilich nachher alles auf Negoziation ankommen, die ich übernehmen wolle, wenn man mir einen billigen Teil der zu erhalten den Summe für meine Bemühungen verspräche. Mit Freuden willigten die guten Leute in alles; ich erhielt die nötigen Papiere, die Kopien wurden genommen, der Stammbaum ausgearbeitet, und seit der Zeit hüte ich mich, vor ihnen zu erscheinen. Noch vor einigen Wochen wurde mich die alte Capitummino gewahr, und ich wusste mich nur mit der Langsamkeit, womit hier dergleichen Sachen vorwärts gehen, zu entschuldigen«. So sagte der Schreiber. Da ich aber von meinem Vor satz nicht abging, wurden wir nach einiger Überlegung dahin einig, dass ich mich für einen Engländer ausgeben und der Familie Nachrichten von Cagliostro bringen sollte, der eben aus der Gefangenschaft der Bastille nach London gegangen war. Zur gesetzten Stunde, es mochte etwa drei Uhr nach Mittag sein, machten wir uns auf den Weg. Das Haus lag in dem Winkel eines Gässchens, nicht weit von der Hauptstrasse, il Cassaro genannt. Wir stiegen eine elende Treppe hinauf und kamen sogleich in die Küche. Eine Frau von mittlerer Grösse, stark und breit, ohne fett zu sein, war beschäftigt, das Küchengeschirr aufzuwaschen. Sie war reinlich gekleidet und schlug, als wir hineintraten, das eine Ende der Schürze hinauf, um vor uns die schmutzige Seite zu verstecken. Sie sah meinen Führer freudig an und sagte: »Signor Giovanni, bringen Sie uns gute Nachrichten? Haben Sie etwas ausgerichtet?« Er versetzte: »In unserer Sache hat mir‘s noch nicht 74 gelingen wollen; hier ist aber ein Fremder, der einen Gruss von Ihrem Bruder bringt und Ihnen erzählen kann, wie er sich gegenwärtig befindet.« Der Gruss, den ich bringen sollte, war nicht ganz in unserer Abrede; indessen war die Einleitung einmal gemacht. - »Sie kennen meinen Bruder?« fragte sie. »Es kennt ihn ganz Europa«, versetzte ich; »und ich glaube, es wird Ihnen angenehm sein, zu hören, dass er sich in Sicherheit und wohl befindet, da Sie bisher wegen seines Schicksals gewiss in Sorgen gewesen sind.« - » Treten Sie hinein«, sagte sie, »ich folge Ihnen gleich«; und ich trat mit dem Schreiber in das Zimmer. Es war so gross und hoch, dass es bei uns für einen Saal gelten würde; es schien aber auch beinah die ganze Wohnung der Familie zu sein. Ein einziges Fenster erleuchtete die grossen Wände, die einmal Farbe gehabt hatten und auf denen schwarze Heiligenbilder in goldenen Rahmen herumhingen. Zwei grosse Betten ohne Vorhänge standen an der einen Wand, ein braunes Schränkchen, das die Gestalt eines Schreibtisches hatte, an der andern. Alte, mit Rohr durchflochtene Stühle, deren Lehnen ehmals vergoldet gewesen, standen daneben, und die Backsteine des Fussbodens waren an vielen Stellen tief ausgetreten. Übrigens war alles reinlich, und wir näherten uns der Familie, die am andern Ende des Zimmers an dem einzigen Fenster versammelt war. Indes mein Führer der alten Balsamo, die in der Ecke sass, die Ursache unsers Besuchs erklärte und seine Worte wegen der Taubheit der guten Alten mehrmals laut wiederholte, hatte ich Zeit, das Zimmer und die übrigen Personen zu betrachten. Ein Mädchen von ungefähr sechzehn Jahren, wohlgewachsen, deren Gesichtszüge durch die Blattern undeutlich geworden waren, stand am Fenster; neben ihr ein junger Mensch, dessen unangenehme, durch die Blattern entstellte Bildung mir auch auffiel. In einem Lehnstuhl sass oder lag vielmehr gegen dem Fenster über eine kranke, sehr ungestaltete Person, die mit einer Art Schlafsucht behaftet schien. Als mein Führer sich deutlich gemacht hatte, nötigte man uns zum Sitzen. Die Alte tat einige Fragen an mich, die ich mir aber musste dolmetschen lassen, eh‘ ich sie beantworten konnte, da mir der sizilianische Dialekt nicht geläufig war. Ich betrachtete indessen die alte Frau mit Vergnügen. Sie war von mittlerer Grösse, aber wohlgebildet; über ihre regelmässigen Gesichtszüge, die das Alter nicht entstellt hatte, war der Friede verbreitet, dessen gewöhnlich die Menschen geniessen, die des Gehörs beraubt sind; der Ton ihrer Stimme war sanft und angenehm. Ich beantwortete ihre Fragen, und meine Antworten mussten ihr auch wieder verdolmetscht werden. Die Langsamkeit unserer Unterredung gab mir Gele genheit, meine Worte abzumessen. Ich erzählte ihr, dass ihr Sohn in Frankreich losgesprochen worden und sich gegenwärtig in England befinde, wo er wohl aufgenommen sei. Ihre Freude, die sie über diese Nachrichten äusserte, war mit Ausdrücken einer herzlichen Frömmigkeit begleitet, und da sie nun etwas lauter und langsamer sprach, konnt‘ ich sie eher verstehen. Indessen war ihre Tochter hereingekommen und hatte sich zu meinem Führer gesetzt, der ihr das, was ich erzählt hatte, getreulich wiederholte. Sie hatte eine reinliche Schürze vorgebunden und ihre Haare in Ordnung unter das Netz gebracht. Je mehr ich sie ansah und mit ihrer Mutter verglich, desto auffallender war mir der Unterschied beider Gestalten. Eine lebhafte, gesunde Sinnlichkeit blickte aus der ganzen Bildung der Tochter hervor; sie mochte eine Frau von vierzigjahren sein. Mit muntern blauen Augen sah sie klug umher, ohne dass ich in ihrem Blick irgendeinen Argwohn spüren konnte. Indem sie sass, versprach ihre Figur mehr Länge, als sie zeigte, wenn sie aufstand; ihre Stellung war determiniert, sie sass mit vorwärts gebogenem Körper und die Hände auf die Knie gelegt. Übrigens erinnerte mich ihre mehr stumpfe als scharfe Gesichtsbildung an das Bildnis ihres Bruders, das wir in Kupfer kennen. Sie fragte mich verschiedenes über meine Reise, über meine Absicht, Sizilien zu sehen, und war überzeugt, dass ich gewiss zurückkommen und das Fest der heiligen Rosalie mit ihnen feiern würde. Da indessen die Grossmutter wieder einige Fragen an mich getan hatte und ich ihr zu antworten beschäftigt war, sprach die Tochter halblaut mit meinem Gefährten, doch so, dass ich Anlass nehmen konnte, zu fragen, wovon die Rede sei. Er sagte darauf, Frau Capitummino erzähle ihm, dass ihr Bruder ihr noch vierzehn Unzen schuldig sei; sie habe bei seiner schnellen Abreise von Palermo versetzte Sachen für ihn eingelöset; seit der Zeit aber weder etwas von ihm gehört, noch Geld, noch irgendeine Unterstützung von ihm erhalten, ob er gleich, wie sie höre, grosse Reichtümer besitze und einen fürstlichen Aufwand mache. Ob ich nicht über mich nehmen wolle, nach meiner Zurückkunft ihn auf eine gute Weise an die Schuld zu erinnern und eine Unterstützung für sie auszuwirken, ja, ob ich nicht einen Brief mitnehmen oder allenfalls bestellen wolle. Ich erbot mich dazu. Sie fragte, wo ich wohne, wohin sie mir den Brief zu schicken habe. Ich lehnte ab, meine Wohnung zu sagen, und erbot mich, den andern Tag gegen Abend den Brief selbst abzuholen. Sie erzählte mir darauf ihre missliche Lage; sie sei eine Witwe mit drei Kindern, von denen das eine Mädchen im Kloster erzogen werde; die andere sei hier gegenwärtig und ihr Sohn eben in die Lehrstunde gegangen. Ausser diesen drei Kindern habe sie ihre Mutter bei sich, für deren Unterhalt sie sorgen müsse, und überdies habe sie aus christlicher Liebe die unglückliche kranke Person zu sich genommen, die ihre Last noch vergrössere; alle ihre Arbeitsamkeit reiche kaum hin, sich und den Ihrigen das Notdürftige zu verschaffen. Sie wisse zwar, dass Gott diese guten Werke nicht unbelohnt lasse, seufze aber doch sehr unter der Last, die sie schon so lange getragen habe. Die jungen Leute mischten sich auch ins Gespräch, und die Unterhaltung wurde lebhafter. Indem ich mit den andern sprach, hört‘ ich, dass die Alte ihre Tochter fragte, ob ich denn auch wohl ihrer heiligen Religion zugetan sei. Ich konnte bemerken, dass die Tochter auf eine kluge Weise der Antwort auszuweichen suchte, indem sie, soviel ich verstand, der Mutter bedeutete, dass der Fremde gut für sie gesinnt zu sein schiene, und dass es sich wohl nicht schicke, jemanden sogleich über diesen Punkt zu befragen. Da sie hörten, dass ich bald von Palermo abreisen wollte, wurden sie dringender und ersuchten mich, dass ich dochja wiederkommen möchte; besonders rühmten sie die paradiesischen Tage des Rosalienfestes, dergleichen in der ganzen Welt nicht müsse gesehen und genossen werden. Mein Begleiter, der schon lange Lust gehabt hatte, sich zu entfernen, machte endlich der Unterredung durch seine Gebärden ein Ende, und ich versprach, den andern Tag gegen Abend wiederzukommen und den Brief abzuholen. Mein Begleiter freute sich, dass alles so glücklich gelungen sei, und wir schieden zufrieden voneinander. Man kann sich den Eindruck denken, den diese arme, fromme, wohlgesinnte Familie auf mich gemacht hatte. Meine Neugierde war befriedigt, aber ihr natürliches und gutes Betragen hatte einen Anteil in mir erregt, der sich durch Nachdenken noch vermehrte. Sogleich aber entstand in mir die Sorge wegen des fol genden Tags. Es war natürlich, dass diese Erscheinung, die sie im ersten Augenblick überrascht hatte, nach meinem Abschiede manches Nachdenken bei ihnen erregen musste. Durch den Stammbaum war mir bekannt, dass noch mehrere von der Familie lebten; es war natürlich, dass sie ihre Freunde zusammenberiefen, um sich in ihrer Gegenwart dasjenige wiederholen zu lassen, was sie tags vorher mit Verwunderung von mir gehört hatten. Meine Absicht hatte ich erreicht, und es blieb mir nur noch übrig, dieses Abenteuer auf eine schickliche Weise zu endigen. Ich begab mich daher des andern Tags gleich nach Tische allein in ihre Wohnung. Sie verwunderten sich, da ich hineintrat. Der Brief sei noch nicht fertig, sagten sie, und einige ihrer Verwandten wünschten mich auch kennen zu lernen, welche sich gegen Abend einfinden würden. Ich versetzte, dass ich morgen früh schon abreisen müsse, dass ich noch Visiten zu machen, auch einzupacken habe und also lieber früher als gar nicht hätte kommen wollen. Indessen trat der Sohn herein, den ich des Tags vorher nicht gesehen hatte. Er glich seiner Schwester an Wuchs und Bildung. Er brachte den Brief, den man mir mitgeben wollte, den er, wie es in jenen Gegenden gewöhnlich ist, ausser dem Hause bei einem der öffentlich sitzenden Notarien hatte schreiben lassen. Der junge Mensch hatte ein stilles, trauriges und bescheidenes Wesen, erkundigte sich nach seinem Oheim, fragte nach dessen Reichtum und Ausgaben 75 und setzte traurig hinzu, warum er seine Familie doch so ganz vergessen haben möchte. »Es wäre unser grösstes Glück«, fuhr er fort, »wenn er einmal hie her käme und sich unserer annehmen wollte; aber«, fuhr er fort, »wie hat er Ihnen entdeckt, dass er noch Anverwandte in Palermo habe? Man sagt, dass er uns überall verleugne und sich für einen Mann von grosser Geburt ausgebe.« Ich beantwortete diese Frage, welche durch die Unvorsichtigkeit meines Führers bei unserm ersten Eintritt veranlasst worden war, auf eine Weise, die es wahrscheinlich machte, dass der Oheim, wenn er gleich gegen das Publikum Ursache habe, seine Abkunft zu verbergen, doch gegen seine Freunde und Bekannten kein Geheimnis daraus mache. Die Schwester, welche während dieser Unterredung herbeigetreten war und durch die Gegenwart des Bru ders, wahrscheinlich auch durch die Abwesenheit des gestrigen Freundes mehr Mut bekam, fing gleichfalls an, sehr artig und lebhaft zu sprechen. Sie baten sehr, sie ihrem Onkel, wenn ich ihm schriebe, zu empfehlen; ebensosehr aber, wenn ich diese Reise durchs Königreich gemacht, wiederzukommen und das Rosalienfest mit ihnen zu begehen. Die Mutter stimmte mit den Kindern ein. »Mein Herr«, sagte sie, »ob es sich zwar eigentlich nicht schickt, da ich eine erwachsene Tochter habe, fremde Männer in meinem Hause zu sehen, und man Ursache hat, sich sowohl vor der Gefahr als der Nachrede zu hüten, so sollen Sie uns doch immer willkommen sein, wenn Sie in diese Stadt zurückkehren.« »O ja«, versetzten die Kinder, »wir wollen den Herrn beim Feste herumführen, wir wollen ihm alles zeigen, wir wollen uns auf die Gerüste setzen, wo wir die Feierlichkeit am besten sehen können. Wie wird er sich über den grossen Wagen und besonders über die prächtige Illumination freuen!« Indessen hatte die Grossmutter den Brief gelesen und wieder gelesen. Da sie hörte, dass ich Abschied nehmen wollte, stand sie auf und übergab mir das zusammengefaltete Papier. »Sagen Sie meinem Sohn«, fing sie mit einer edlen Lebhaftigkeit, ja einer Art von Begeisterung an, »sagen Sie meinem Sohn, wie glücklich mich die Nachricht gemacht hat, die Sie mir von ihm gebracht haben! sagen Sie ihm, dass ich ihn so an mein Herz schliesse« - hier streckte sie die Arme auseinander und drückte sie wieder auf ihre Brust zusammen -, »dass ich täglich Gott und unsere heilige Jungfrau für ihn im Gebet anflehe, dass ich ihm und seiner Frau meinen Segen gebe, und dass ich nur wünsche, ihn vor meinem Ende noch einmal mit diesen Augen zu sehen, die so viele Tränen über ihn vergossen haben.« Die eigne Zierlichkeit der italienischen Sprache be günstigte die Wahl und die edle Stellung dieser Worte, welche noch überdies von lebhaften Gebärden begleitet wurden, womit jene Nation über ihre Äusserungen einen unglaublichen Reiz zu verbreiten gewohnt ist. Ich nahm nicht ohne Rührung von ihnen Abschied. Sie reichten mir alle die Hände, die Kinder geleiteten 76 mich hinaus, und indes ich die Treppe hinunterging, sprangen sie auf den Balkon des Fensters, das aus der Küche auf die Strasse ging, riefen mir nach, winkten mir Grüsse zu und wiederholten, dass ich ja nicht vergessen möchte, wiederzukommen. Ich sah sie noch auf dem Balkon stehen, als ich um die Ecke herumging. Ich brauche nicht zu sagen, dass der Anteil, den ich an dieser Familie nahm, den lebhaften Wunsch in mir erregte, ihr nützlich zu sein und ihrem Bedürfnis zu Hülfe zu kommen. Sie war nun durch mich abermals hintergangen, und ihre Hoffnungen auf eine unerwartete Hülfe waren durch die Neugierde des nördlichen Europas auf dem Wege, zum zweitenmal getäuscht zu werden. Mein erster Vorsatz war, ihnen vor meiner Abreise jene vierzehn Unzen zuzustellen, die ihnen der Flüchtling schuldig geblieben, und durch die Vermutung, dass ich diese Summe von ihm wiederzuerhalten hoffte, mein Geschenk zu bedecken; allein als ich zu Hause meine Rechnung machte, meine Kasse und Papiere überschlug, sah ich wohl, dass in einem Lande, wo durch den Mangel von Kommunikation die Entfernung gleichsam ins Unendliche wächst, ich mich selbst in Verlegenheit setzen würde, wenn ich mir anmasste, die Ungerechtigkeit eines frechen Menschen durch eine herzliche Gutmütigkeit zu verbessern. Gegen Abend trat ich noch zu meinem Handelsmanne und fragte ihn, wie denn das Fest morgen ablaufen werde, da eine grosse Prozession durch die Stadt ziehen und der Vizekönig selbst das Heiligste zu Fuss begleiten solle. Der geringste Windstoss müsse ja Gott und Menschen in die dickste Staubwolke verhüllen. Der muntere Mann versetzte, dass man in Palermo sich gern auf ein Wunder verlasse. Schon mehrmals in ähnlichen Fällen sei ein gewaltsamer Platzregen gefallen und habe die meist abhängige Strasse wenigstens zum Teil rein abgeschwemmt und der Prozession reinen Weg gebahnt. Auch diesmal hege man die gleiche Hoffnung nicht ohne Grund, denn der Himmel überziehe sich und verspreche Regen auf die Nacht. Palermo, Sonntag, den 15. April 1787. Und so geschah es denn auch! der gewaltsamste Re genguss fiel vergangene Nacht vom Himmel. Sogleich morgens eilte ich auf die Strasse, um Zeuge des Wunders zu sein. Und es war wirklich seltsam genug. Der zwischen den beiderseitigen Schrittsteinen eingeschränkte Regenstrom hatte das leichteste Kehricht die abhängige Strasse herunter, teils nach dem Meere, teils in die Abzüge, insofern sie nicht verstopft waren, fortgetrieben, das gröbere Geströhde wenigstens von einem Orte zum andern geschoben und dadurch wundersame, reine Mäander auf das Pflaster gezeichnet. Nun waren hundert und aber hundert Menschen mit Schaufeln, Besen und Gabeln dahinterher, diese reinen Stellen zu erweitern und in Zusammenhang zu bringen, indem sie die noch übriggebliebenen Unreinigkeiten bald auf diese, bald auf jene Seite häuften. Daraus erfolgte denn, dass die Prozession, als sie begann, wirklich einen reinlichen Schlangenweg durch den Morast gebahnt sah und sowohl die sämtliche langbekleidete Geistlichkeit als der nettfüssige Adel, den Vizekönig an der Spitze, ungehindert und unbesudelt durchschreiten konnte. Ich glaubte die Kinder Israel zu sehen, denen durch Moor und Moder von Engelshand ein trockner Pfad bereitet wurde, und veredelte mir in diesem Gleichnisse den unerträglichen Anblick, so viel andächtige und anständige Menschen durch eine Allee von feuchten Kothaufen durchbeten und durchprunken zu sehen. Auf den Schrittsteinen hatte man nach wie vor reinli chen Wandel, im Innern der Stadt hingegen, wohin uns die Absicht, verschiedenes bis jetzt Vernachlässigtes zu sehen, gerade heute gehen hiess, war es fast unmöglich, durchzukommen, obgleich auch hier das Kehren und Aufhäufen nicht versäumt war. Diese Feierlichkeit gab uns Anlass, die Hauptkirche zu besuchen und ihre Merkwürdigkeiten zu betrachten, auch, weil wir einmal auf den Beinen waren, uns nach an dem Gebäuden umzusehen; da uns denn ein maurisches, bis jetzt wohlerhaltenes Haus gar sehr ergötzte - nicht gross, aber mit schönen, weiten und wohlproportionierten, harmonischen Räumen; in einem nördlichen Klima nicht eben bewohnbar, im südlichen ein höchst willkommener Aufenthalt. Die Baukundigen mögen uns davon Grund- und Aufriss überliefern. Auch sahen wir in einem unfreundlichen Local verschiedene Reste antiker, marmorner Statuen, die wir aber zu entzifffern keine Geduld hatten. ihre Bestimmung vollkommen erfüllen, werden sie uns deutlicher. Im Angesicht so vielerlei neuen und erneuten Gebildes fiel mir die alte Grille wieder ein, ob ich nicht unter dieser Schar die Urpflanze entdecken könnte. Eine solche muss es denn doch geben! Woran würde ich sonst erkennen, dass dieses oder jenes Gebilde eine Pflanze sei, wenn sie nicht alle nach einem Muster gebildet wären? Ich bemühte mich zu untersuchen, worin denn die vielen abweichenden Gestalten voneinander unterschieden seien. Und ich fand sie immer mehr ähnlich als verschieden, und wollte ich meine botanische Terminologie anbringen, so ging das wohl, aber es fruchtete nicht, es machte mich unruhig, ohne dass es mir weiterhalf. Gestört war mein guter poetischer Vorsatz, der Garten des Alcinous war verschwunden, ein Weltgarten hatte sich aufgetan. Warum sind wir Neueren doch so zerstreut, warum gereizt zu Forderungen, die wir nicht erreichen noch erfüllen können! Palermo, Montag, den 16. April 1787. Da wir uns nun selbst mit einer nahen Abreise aus diesem Paradies bedrohen müssen, so hoffte ich, heute noch im öffentlichen Garten ein vollkommenes Labsal zu finden, mein Pensum in der» Odyssee« zu lesen und auf einem Spaziergang nach dem Tale, am Fusse des Rosalienbergs den Plan der »Nausikaa« weiter durchzudenken und zu versuchen, ob diesem Gegenstande eine dramatische Seite abzugewinnen sei. Dies alles ist, wo nicht mit grossem Glück, doch mit vielem Behagen geschehen. Ich verzeichnete den Plan und konnte nicht unterlassen, einige Stellen, die mich besonders anzogen, zu entwerfen und auszuführen. Palermo, Dienstag, den 17. April 1787. Es ist ein wahres Unglück, wenn man von vielerlei Geistern verfolgt und versucht wird! Heute früh ging ich mit dem festen, ruhigen Vorsatz, meine dichterischen Träume fortzusetzen, nach dem öffentlichen Garten, allein eh‘ ich mich‘s versah, erhaschte mich ein anderes Gespenst, das mir schon diese Tage nachgeschlichen. Die vielen Pflanzen, die ich sonst nur in Kübeln und Töpfen, ja die grösste Zeit des Jahres nur hinter Glasfenstern zu sehen gewohnt war, stehen hier froh und frisch unter freiem Himmel, und indem sie 77 Die Stätten meiner frühen Kindheit, Giuseppe Tommasi di Lampedusa in: Die Sirene : Erzählungen / Giuseppe Tomasi di Lampedusa; aus dem Ital. von Charlotte Birnbaum. – München : Piper, cop. 1961 Erstes Kapitel Die Erinnerungen an die frühe Kindheit bestehen, glaube ich, bei jedermann aus einer Reihe von Wahr nehmungen durch das Auge, von denen viele zwar sehr klar, doch ohne jede chronologische Bedeutung sind. Eine »Chronik« der eigenen Kindheit zu schreiben, ist meiner Ansicht nach unmöglich: auch wenn man im besten Glauben handelt, würde man doch un richtige Eindrücke wiedergeben, weil in Wirklichkeit vieles zeitlich anders lag. Ich will daher die Methode anwenden, die Dinge in Gruppen zusammenzuneh men, und versuchen, einen runden, umfassenden Eindruck zu vermitteln, mehr im Raum als in der zeit lichen Aufeinanderfolge. Ich will vom Milieu meiner Kindheit sprechen, von den Menschen, die mich um gaben; von meinen Empfindungen, ohne dabei zu ver suchen, ihre Entwicklung a priori zu verfolgen. Ich kann versprechen, nichts zu berichten, was falsch ist; aber ich glaube nicht, dass ich alles sagen werde. Ich behalte mir das Recht vor, gelegentlich durch Weglassen nicht ganz bei der Wahrheit zu bleiben falls ich meine Ansicht nicht noch ändere. Eine der frühesten Erinnerungen, die ich zeitlich ge nau bestimmen kann, weil sie sich auf eine geschicht lich überprüfbare Tatsache bezieht, geht auf den 30. Juli 1900 zurück, also auf den Augenblick, in dem ich ein paar Tage älter als dreieinhalb Jahre war. Ich befand mich mit meiner Mutter und ihrer Zofe wahrscheinlich war es Teresa aus Turin - im Toiletten zimmer. Dies war ein Zimmer, welches, mehr lang als breit, Licht von zwei an den Schmalseiten einander gegenüberliegenden Balkonen erhielt; davon sah der eine auf den kleinen Garten, der unser Haus von dem Oratorium S. Zita trennte, der andere auf einen engen Innenhof. Der Toilettentisch - in haricot-Form, die Glasplatte mit einem rosa Stoff unterlegt, die Beine mit einer Art Rock aus weisser Spitze umhüllt - hatte seinen Platz vor dem Balkon, der nach dem Garten ging, und auf ihm befand sich ausser den Bürsten und anderen Kleinigkeiten ein grosser Spiegel; auch sein mit Sternen und sonstigen Glasornamenten verzierter Rahmen war aus Spiegelglas, und diese Sterne und Verzierungen gefielen mir sehr. Es war, glaube ich, morgens gegen elf Uhr, ich sehe noch das mächtige Sommerlicht durch die geschlossenen Jalousien des offenstehenden Fensters herein dringen. Meine Mutter kämmte sich mit Hilfe der Zofe das Haar; ich sass mitten im Zimmer auf dem Boden, ich weiss nicht mehr, was ich da tat. Ich weiss auch nicht, ob mein Kindermädchen Elvira - aus Siena - dabeiwar; ich glaube, sie war nicht dabei. Auf einmal hören wir hastige Schritte die kleine Innentreppe heraufkommen - sie verband die Räume meines Vaters, die im Zwischenstock genau unter uns lagen, mit denen meiner Mutter -, mein Vater tritt ein, ohne zu klopfen, und sagt aufgeregt ein paar Worte. Ich erinnere mich sehr genau an den Ton, in dem er sie sagte, aber nicht an die einzelnen Worte und auch nicht an ihren Sinn. Ich »sehe« aber noch die Wirkung, die sie hervor brachten; meine Mutter liess die silberne Bürste mit dem langen Griff fallen, die sie in der Hand hielt, Teresa sagte: »bon signour«, und alle im Zimmer waren bestürzt. Mein Vater war heraufgekommen, um uns die Er mordung von König Umberto mitzuteilen; es war in Monza geschehen, am Abend vorher, dem 29. Juli 1900. Ich wiederhole: ich »sehe« die Licht- und Schattenstreifen vom Balkon her noch heute vor mir, ich »höre« die erregte Stimme meines Vaters, das Geräusch der Bürste, als sie auf das Glas des Toilettentisches fällt, die piemonteser Anrufung des »Herrn im Himmel« der guten Teresa; ich »empfinde wieder« das Gefühl von Schrecken, das uns erfasste, aber das alles blieb für mich persönlich von der Nachricht vom Tode des Königs getrennt. Später wurde mir die geschichtliche Bedeutung erläutert, und so erklärt es sich, dass die Szene in meinem Gedächtnis haftengeblieben ist. Eine andere Erinnerung, die ich gut in jeder Einzelheit beschreiben kann, ist die an das Erdbeben von Messina am 28. Dezember 1908. Den Stoss merkte man in Palermo sehr wohl, aber ich entsinne mich seiner nicht; ich glaube, dass er meinen Schlaf nicht unterbrach. Ich sehe jedoch deutlich die hohe englische Pendeluhr meines Grossvaters, die damals im grossen Eingangssaal stand: sie war in der Schicksalsstunde um fünf Uhr zwanzig stehengeblieben; und ich höre noch, wie einer meiner Onkel- ich glaube Ferdinando, der in die Uhrmacherkunst ganz vernarrt war - mir erklärte, sie sei bei dem Erdbeben der vorigen Nacht stehengeblieben. Am Abend gegen siebeneinhalb Uhr, auch daran erinnere ich mich, befand ich mich im Essraum meiner Grosseltern - ich war dort oft während ihrer Abendmahlzeit, weil sie früher assen als ich - als einer meiner Onkel, wahrscheinlich derselbe Ferdinando, mit der Abendzeitung eintrat: sie meldete »schwere Schäden und etliche Opfer in Messina bei dem Erdbeben von heute morgen«. Diese Erinnerung ist visuell weniger lebhaft als die erste, aber sie ist vom Blickpunkt des »Geschehnisses« aus sehr viel genauer. Einige Tage danach traf aus Messina mein Vetter ein, der beim Erdbeben Vater und Mutter verloren hatte. Er wohnte bei meinen Vettern Piccolo, und ich weiss noch, wie ich ihn an einem bleichen, regnerischen Wintertag besuchte. Ich sehe auch den Schmerz meiner Mutter vor mir, als etliche Tage danach die Nachricht eintraf, dass man die Leichen ihrer Schwester Lina und ihres Schwagers gefunden hatte. Meine Mutter sass schluchzend im grünen Salon in einem grossen Sessel, in den sich sonst nie jemand setzte, sie 79 trug ihr kurzes Mäntelchen aus geflammtem Astrachan. Grosse Militärwagen fuhren durch die Strassen, um für die Flüchtlinge Kleidung und Decken zu sammeln; einer kam auch durch die Via Lampedusa, und ich musste von einem Balkon unseres Hauses aus einem Soldaten, der auf dem Wagen fast in gleicher Höhe wie der Balkon stand, Wolldecken reichen. Es war ein Artillerist mit der blauen, mit orangefarbenen Litzen verzierten Mütze; ich sehe noch das rötliche Gesicht und höre, wie er mit kontinentalem Akzent sagt: »grazzie, mein Junge.« Ich erinnere mich auch, wie man erzählte, dass sich die Flüchtlinge, die überall, selbst in den Logen der Theater, untergebracht waren, untereinander »auf eine sehr ungehörige Art« aufführten, und wie mein Vater lächelnd sagte: »Sie haben den Wunsch, die Toten zu ersetzen« - eine Anspielung, die ich sehr wohl verstand. Noch ein weiterer Tag haftet fest in meinem Gedächt nis: ich kann das Datum nicht gen au bestimmen, er lag jedoch weit vor dem Erdbeben von Messina, ich glaube eher, es war bald nach dem Tode des Königs Umberto. Wir waren Gäste der Florio in ihrer Villa in Favignana, im Hochsommer. Ich erinnere mich, dass mich das Kindermädchen Elvira früher weckte als sonst, gegen sieben Uhr, dass sie mir rasch mit einem Schwamm voll frischem Wasser über das Gesicht fuhr und mich dann mit grosser Sorgfalt ankleidete. Ich wurde durch eine kleine Seitentür in den Garten hinuntergeschleppt und musste von da über eine Treppe von sechs, sieben Stufen in die grosse offene Veranda hinaufsteigen, die nach dem Meer zu lag. Ich weiss noch, wie mich die Sonne an diesem Juli- oder Augustmorgen blendete. Die Veranda war vor der Sonne durch grosse, orangefarbene Planen geschützt, die der Seewind blähte und wie Segel auf und ab schlug ich höre noch, wie sie knatterten; hier sassen auf Rohrsesseln meine Mutter, die Signora Florio und andere Personen. In der Mitte der Gruppe sass eine sehr alte Dame, ziemlich gebeugt, mit einer Hakennase, in Witwenschleier gehüllt, die im Winde wild hinund herwehten. Dorthin brachte man mich, ich stand vor ihr, sie sagte einige Worte, die ich nicht verstand, beugte sich noch mehr nieder und gab mir einen Kuss auf die Stirn - ich muss also sehr klein gewesen sein, wenn eine sitzende Signora sich noch bücken musste, um mich zu küssen. Danach wurde ich wieder fortge schleppt und in mein Zimmer gebracht; man zog mir die Festkleider aus und bescheidenere an und führte mich an den Strand, wo die Jungen Florio und andere schon waren. Wir badeten alle zusammen und blieben dann lange unter der glühendheissen Sonne, um unser Lieblingsspiel zu spielen: im Sand nach kleinen Stücken tiefroter Korallen zu suchen, die hier einigermassen häufig zu finden waren. Am Nachmittag wurde mir eröffnet, dass die alte Signora die frühere Kaiserin der Franzosen gewesen war, Eugenie, deren Yacht vor Favignana ankerte; sie war am Abend zuvor bei den Florio zu Tisch gewesen 80 - wovon ich natürlich nichts wusste - und hatte am Morgen einen Abschiedsbesuch gemacht, um sieben Uhr - eine kaiserliche Unbekümmertheit, die meiner Mutter und der Signora Florio eine wahre Qual be reitete. Ihr also wurden die Sprösslinge vorgeführt. In diesen Tagen - Mitte Juni 1955 - habe ich Henri Brulard wiedergelesen, ein Buch von Stendhal. Seit dem nun schon fernen Jahre 1922 hatte ich es nicht mehr in der Hand gehabt; wie man sieht, war ich da mals noch besessen vom ausgesprochen Schönen und vom »Interesse am Sujet«, und ich entsinne mich, dass mir das Buch nicht gefiel. Jetzt kann ich denen, die es gewissermassen als Sten dhals Meisterwerk bezeichnen, nicht unrecht geben; es lebt darin Unmittelbarkeit der Empfindung, Auf richtigkeit, eine bewundernswerte Bemühung, die aufeinanderliegenden Schichten von Erinnerungen abzutragen, um auf den Grund zu gelangen. Und was für ein klarer Stil! Was für eine Fülle von Ausdrücken, die um so wertvoller sind, je allgemeiner sie gelten. Ich möchte versuchen, dasselbe zu tun. Es erscheint mir geradezu als eine Verpflichtung. Für den, dessen Leben sich dem Ende zuneigt, ist es ein Gebot, der Empfindungen, die durch diesen seinen Organismus gegangen sind, so viel ihm möglich ist zu sammeln. Nur wenigen wird es gelingen, auf diese Art ein Meisterwerk zu schaffen - Rousseau, Stendhal, Proust -, aber alle müssten solcherart etwas aufbewahren können, was ohne diese leichte Anstrengung für immer verloren gehen würde. Ein Tagebuch führen oder in einem bestimmten Alter seine Erinnerungen schreiben, müsste »von Staats wegen verordnet« sein: der Stoff, der sich nach drei, vier Generationen aufgehäuft hätte, würde einen unschätzbaren Wert darstellen: viele psychologische und historische Probleme, die die Menschheit peinigen, würden sich lösen. Es gibt keine Erinnerungen, mögen sie auch von unbedeutenden Persönlichkeiten geschrieben sein, die nicht gesellschaftliche und geradezu malerische Werte ersten Ranges enthielten. Das aussergewöhnliche Interesse an den Romanen Defoes beruht auf der Tatsache, dass sie sozusagen Tagebücher sind, genial, wiewohl nicht authentisch. Man überlege einmal, wie erst echte aussehen würden! Man stelle sich etwa das Tagebuch einer Pariser Kupplerin der Regence vor, oder Erinnerungen von Byrons Kammerdiener während der Zeit in Venedig! Was würde wohl alles darin stehen ... Was die »Qualität« der Erinnerung anlangt, stimme ich jedoch mit Stendhal nicht überein. Er stellt seine Kindheit als eine Zeit hin, in der er Tyrannei und Ge walttätigkeit zu dulden hatte. Für mich ist die Kind heit ein verlorenes Paradies. Alle waren gut zu mir, ich war der König des Hauses. Auch Persönlichkeiten, die sich später feindlich zu mir stellten, waren mir damals noch freundlich gesinnt. Daher möge sich der Leser - es wird keinen geben darauf gefasst machen, dass er in einem »Irdischen Paradies«, einem verlorenen, umhergeführt wird. Wenn er sich langweilt, so macht mir das nichts aus. Zweites Kapitel DAS HAUS LAMPEDUSA Ein solches Paradies war vor allem unser Haus. Ich liebte es mit vollkommener Hingabe und liebe es noch jetzt, da es seit zwölf Jahren nur mehr eine Erinnerung ist. Bis wenige Monate vor seiner Zerstörung schlief ich in dem Zimmer, in dem ich geboren wurde, vier Meter von der Stelle entfernt, wo das Bett mei ner Mutter während der Geburtswehen stand. Und es war mir eine angenehme Vorstellung, dass ich gewiss einmal in diesem Haus, vielleicht im selben Zimmer sterben würde. Alle anderen Häuser, in denen ich lebte - übrigens nur wenige, abgesehen von den Hotels -, waren Dächer, die dazu dienten, mich vor Regen und Sonne zu schützen, aber nicht Häuser im archaischen, verehrungswürdigen Sinn des Wortes. Es wird daher sehr schmerzlich für mich sein, dieses geliebte, entschwundene Haus wieder heraufzube schwören, wie es bis zum Jahre 1929 in seiner Unver sehrtheit und Schönheit, und nach allem weiter bis zum 5. April 1943 war: dem Tag, an dem die von jenseits des Atlantik herbeigeschleppten Bomben es suchten und zerstörten. Die erste Empfindung, die mir in den Sinn kommt, ist die seiner Geräumigkeit; und diese Empfindung rührt bei mir nicht davon her, dass uns in der Kindheit alles, was uns umgibt, grösser erscheint, sondern das Haus war wirklich sehr geräumig. Als ich seine Grundfläche überblickte - damals, als sie mit abscheulichen Trümmern bedeckt war -, betrugen seine Masse 1600 qm. Es war nur von uns bewohnt: in dem einen Flügel wohnten wir, in einem anderen meine Grosseltern väterlicherseits, im zweiten Stock meine Onkel, die Junggesellen waren; und so verfügte ich darüber ganz und gar zwanzig Jahre hindurch: über seine drei Höfe, seine vier Terrassen, seinen Garten, über seine ungeheuren Treppen, seine Gänge und Vorsäle, seine Stallungen, über die kleinen Zwischengeschosse für das Dienstpersonal und die Verwaltung ein wahres Königreich für einen Knaben allein, ein Reich, manchmal leer, manchmal bevölkert von Gestalten, die alle freundlich waren. Über keinen Punkt der Erde, dessen bin ich gewiss, hat sich je ein so heftig blauer Himmel gebreitet wie über unsere umschlossene Terrasse; nie hat die Sonne milderes Licht in Zimmer dringen lassen als durch die Spalten der Jalousien in den »grünen Salon«; nie haben feuchte Flecke aussen auf Hofmauern Formen gezeigt, die die Phantasie mehr angeregt hätten als die an meinem Haus. Alles an ihm ist mir lieb: die Asymmetrie seiner Mauern, die grosse Anzahl seiner Salons, der Stuck an den Decken, der schlechte Geruch der grosselterlichen Küche, das Veilchenparfüm im Toilettenzimmer meiner Mutter, die drückende Luft der Stallungen, das gute Gefühl bei dem blanken Leder der Sattlerei, das Geheimnis bestimmter, nicht fertig eingerichteter Räume im obersten Stock, der ungeheuer grosse Raum der Remisen, in denen die Wagen verwahrt wurden; eine ganze Welt voll zarter Geheimnisse, stets neuer und immer junger Überraschungen. Darüber war ich unumschränkter Herr; ich durchmass immerzu die weiten Räume, wenn ich vom Hof über die grosse Treppe bis zu der auf dem Dach gelegenen Loggia hinaufstieg, von der aus man das Meer sah, den Monte Pellegrino und die ganze Stadt bis zur Porta Nuova und Monreale. Und da ich mit Hilfe von mancherlei Umwegen die bewohnten Zimmer zu vermeiden wusste, fühlte ich mich allein und als absoluter Herrscher; nur Freund Tom folgte mir oft, er lief höchst aufgeregt dicht hinter mir her, die rote Zunge hing ihm aus seiner lieben schwarzen Schnauze. Das Haus - ich will es Haus nennen und nicht Palazzo, ein Name, der geschändet ist, seit man ihn jetzt den Massenwohngemeinschaften von fünfzehn Stockwerken beilegt - lag geradezu versteckt in einer der abgelegensten Strassen des alten Palermo, in der Via Lampedusa Nummer 17, eine mit schlimmen Vorbedeutungen beladene Zahl, die aber damals nur dazu diente, der Freude, die das Haus zu spenden wusste, einen Beigeschmack von möglicher Ungunst hinzuzufügen. Als dann die Stallungen in Warenlager um gewandelt waren, forderten wir, dass die Nummer geändert würde; es wurde 23 daraus, aber da ging es auch schon dem Ende zu: also hatte die Nummer 17 dem Hause doch Glück gebracht. Die Strasse war abgelegen, aber nicht besonders schmal, und gut gepflastert; auch nicht schmutzig, wie man glauben könnte, denn unserem Tor gegenüber erstreckte sich ebenso lang wie der unsere der alte Palazzo Pietra persia, der im Erdgeschoss weder Geschäfte noch Wohnungen hatte und nur seine strenge, aber sorgsam ausgewogene Fassade zeigte, weiss und gelb, wie es sich gehört, unterbrochen durch viele, von riesigen Eisengittern geschützte Fenster, die ihr den würdevoll-traurigen Anblick eines Klosters oder Staatsgefängnisses verliehen. Als dann die Bomben krachten, wurden viele dieser schweren Eisengitter in unsere nach dieser Seite gelegenen Fenster geschleudert - mit welch heiterer Wirkung auf die alten Stuckdecken und Muranoleuchter, kann man sich vorstellen. Aber wenn die Via Lampedusa, wenigstens so weit unser Haus reichte, anständig war, so waren es die Zugangswege nicht ebenso: in der Via Bara all‘Olivella drängten sich Elend und Verfall, und durch sie zu gehen, war eine traurige Angelegenheit. Es wurde etwas besser, als man die Via Roma quer hindurchlegte; aber auch dann blieb immer noch ein gutes Stück durch Schmutz und abscheuliche Zustände zurückzulegen. Die Fassade des Hauses hatte nichts architektonisch Wertvolles: sie war weiss, und die Öffnungen hatten eine schwefelgelbe Umrahmung; kurz, es war der 81 reinste sizilianische Stil des 17. und 18. Jahrhunderts. Das Haus erstreckte sich in der Via Lampedusa über etwa sechzig Meter und hatte an der Fassade neun grosse Balkone. Portale gab es zwei, fast an den Seiten des Hauses gelegen, und sie waren ungeheuer breit, wie man sie früher baute, damit die Wagen auch von schmalen Strassen aus im Innenhof wenden konnten. In der Tat wendeten dort ohne Schwierigkeit auch die Vierergespanne, die mein Vater mit Meisterschaft an den Galopp-Renntagen in der »Favorita« führte. Nachdem man das Portal, das man immer als Eingang benutzte, durchschritten hatte, war da, der Treppe gegenüber, eine Vorhalle mit Säulen aus dem schönen grauen Stein von Billiemi, die den darüber liegenden tocchetto, wieder einen Säulengang, trugen. Hier war der grosse, mit Kieseln gepflasterte Innenhof, den Reihen von Pflastersteinen unterteilten. Hinten be grenzten ihn drei grosse, auch wieder von Säulen aus Billiemi gestützte Bogen; diese trugen die Terrasse, die hier die beiden Flügel des Hauses verband. Die grosse Treppe war sehr schön, ganz in grauem Billiemi, mit zwei Aufgängen, jeder zu fünfzehn Stufen, die Wände gelblich. Vor dem zweiten Aufgang war ein geräumiger, länglicher Absatz mit zwei Mahagonitüren, je eine jedem Aufgang gegenüber, mit flachen vergoldeten Balkönchen an der Stirnseite. Gleich über den ersten Stufen zum Treppeneingang, jedoch noch aussen im Hof, hing die rote Schnur der Glocke, die der Pförtner läuten musste, um die Dienerschaft zu benachrichtigen, dass die Herrschaften sich »ins Haus zurückgezogen« hatten, oder dass Besuche gekommen waren. Die Zahl der Glockenschläge - die Pförtner führten sie vorzüglich aus, sie erzielten, wie, weiss ich nicht, trockene, von einander getrennte Schläge ohne lästiges Gebimmel unterlag einem strengen Protokoll: vier Schläge für meine Grossmutter, die Fürstin, und zwei für ihre Besuche, drei für meine Mutter, die Herzogin, und einen für ihre Besuche. Es kamen jedoch schwierig zu entscheidende Fälle vor: etwa wenn manchmal meine Mutter, meine Grossmutter und eine Freundin, die sie unterwegs mitgenommen hatten, im selben Wagen heimkehrten; dann wurde ein wahres Konzert von vier und drei und zwei Schlägen aufgeführt, das kein Ende nahm. Die männliche Herrschaft, mein Grossvater und mein Vater, verliess das Haus und kehrte dorthin zurück, ohne dass man für sie eine Bimmelei veranstaltete. Wenn man die zweite Treppenflucht hinaufgestiegen war, kam man in den weiten, lichterfüllten tocchetto, das ist ein Säulengang, in dem die Zwischenräume zwischen den Säulen zur erhöhten Behaglichkeit mit grossen, undurchsichtigen, rhombusartigen Glasscheiben ausgefüllt sind. In diesem tocchetto gab es nur wenige Möbel, mächtige Gemälde von Vorfahren und links einen grossen Tisch, auf den die eingegangenen Briefe gelegt wurden. Dort las ich einmal eine Karte, die aus Paris kam; sie war an den Onkel gerichtet, irgendein französisches Hürchen hatte dar82 auf geschrieben: »Dis a ton ami qu‘il est un mufle.« Der angrenzende Saal war ein ungeheurer, mit weissen und grauen Marmorplatten belegter Raum; die drei Balkone gingen auf die Via Lampedusa. Zum grossen Leidwesen meiner Eltern war dieser Saal vollständig im zeitgenössischen Stil erneuert worden, denn im Jahre 1848 war hier eine Bombe explodiert, hatte die schöne gemalte Decke zerstört und die Wandmalereien so beschädigt, dass sie nicht wiederherzustellen waren. Ich glaube, lange Zeit wuchs darin sogar ein schöner Feigenbaum. Der Saal wurde hergerichtet, als mein Grossvater heiratete, also im Jahre 1866 oder 1867; er war ganz in weissem Stuck gehalten mit einem lambris - einer halbhohen Bekleidung - von grauem Marmor. In diesem grossen Saal hielten sich die Diener auf und faulenzten hier auf ihren Sesseln, bereit, sich beim Klang der berühmten Glocke in den tocchetto zu stürzen. Wenn man eine Türe durchschritten hatte, die mit grünem Stoff verhängt war, kam man ins Vorzimmer; es hatte über dem Balkon Sopraporten mit Bildern von Vorfahren und über seinen beiden Türen eine Drapierung von grauer Seide und weitere Gemälde. Der Blick drang von da in die Folge der Salons, die sich die Fassade entlang einer an den andern reihten. Für mich begann hier der Zauber des Lichtes, das in einer Stadt wie Palermo, wo die Sonne heftig strahlt, auch in schmalen Strassen voller Kraft und je nach der Zeit verschieden ist. Dieses Licht war manchmal vor den Balkonen durch seidene Vorhänge gemildert; wenn sie hin- und herschlugen, prallte es verstärkt auf irgendeine Vergoldung am Gesims, oder es wurde vom gelben Damast eines Sessels zurückgeworfen; bisweilen waren die Salons, zumal im Sommer, dunkel, aber durch die Jalousien drang das Licht von draussen dennoch herein, so dass man empfand, wie mächtig es war; oder es fiel, je nach der Stunde, ein Strahl so gerade und genau umgrenzt herein wie der vom Berge Sinai; dieser Strahl war mit Myriaden Staubkörnchen bevölkert, die die Farbe der Teppiche - sie waren in allen Salons einheitlich rubinrot - feuriger machten. Ein wahrer Zauber von Lichtern und Farben, der meine Seele auf immer gefangennahm. Bisweilen finde ich in einem alten Palazzo oder in einer Kirche diese Leuchtkraft des Lichtes wieder, und ich müsste dann vor Sehnsucht vergehen, wäre ich nicht bereit, mir mit irgendeinem wicked joke herauszuhelfen. Nach dem Vorzimmer kam das Zimmer der lambris, so hiess es, weil es bis zur halben Höhe mit einer Täfelung von geschnitztem Nussbaumholz bekleidet war; dann folgte der sogenannte Speiseraum, dessen Wände mit einem orangefarbenen, geblümten Stoff bezogen waren, von dem Teile als Wandbekleidung im gegenwärtigen Zimmer meiner Frau noch am Leben sind. Links lag der grosse Ballsaal: die Böden waren aus Mosaik, die köstlichen in Gold und Gelb ausgeführten Schnörkel der Decken umrahmten mythologische Szenen: mit ländlicher Kraft und mächtig flatternden Gewändern tummelten sich hier alle Götter des Olymp. Danach betrat man das wunderschöne boudoir meiner Mutter; seine Decke war ganz mit altem, bemal tem Stuck überzogen, Blüten und Zweige in lieblich körperhaften Umrissen: wie eine Musik von Mozart. 83 Crocifissa M., Danilo Dolci in: Umfrage in Palermo / Danilo Dolci ; deutsche Uebersetzung von Hans von Hülsen. – Olten : Walter-Verlag, 1959 Setzen Sie sich ruhig. Heute sterben wir nicht. Ob diese Nacht, weiss nur Gott. Dreimal sind wir schon hier ausgezogen, auf Anweisung der Behörden, wegen dem Erdrutsch. Im ,35‘ fing es an. Es begann mit einigen wenigen Rissen auf der Erde, im Fussboden. Dann setzten sie sich auf den Mauern fort, die Tür liess sich nicht mehr schliessen, denn die Mauern bewegten sich, das ganze Haus geriet in Bewegung. In einer Woche hob sich der ganze Fussboden, und kurz vor der Geburt meiner Tochter Pinta brach das Gemäuer zusammen, und das Dach stürzte ein. Auch bei den andern Häusern wölbten sich die Mauern nach innen und aussen, nach allen Seiten. Es war Winter, ich hatte drei Kinder. Wir flüchteten uns und suchten bei meinem Vater Zuflucht. Wir wandten uns an die Stadtbehörde, und sie schickte uns einen Ingenieur. Er sah sich den Erdschlipf an, traf seine Verfügungen und wies uns hinaus. Er gab uns den Befehl, das Haus zu räumen, da er die Verantwortung trage. Das ganze Quartier war in Bewegung geraten, trug Schäden davon. Im Monat Juni reparierten wir das Haus so gut es ging, und im September zogen wir wieder ein. Wir hatten ja keine Mittel, um ein anderes zu suchen. Im ,40‘ dasselbe: Risse und Wölbungen in den Fussböden. Ein Stück Mauer fiel ein. Vier Kinder hatte ich, drei waren ja wenig! Im Februar erhielten wir wieder einen Ausweisungsbefehl. Es waren auch die Ingenieure gekommen, und sie lehnten jede Verantwortlichkeit ab. Im März zog ich aus und mietete ein anderes Haus. Da starb mein Mann, und ich blieb mit vier Kindern zurück. Im September tat ich, was ich konnte. Ich verwendete die Versicherung, die Ersparnisse und brachte das Haus wieder in Ordnung. Aber Jahr für Jahr gab es Schäden in diesen Häusern, vor allem wenn es stark regnete. In den Jahren mit geringen Regenfällen kam dies weniger vor. Da wir nicht wissen, wohin uns wenden, bleiben wir hier. Wir gehen weg und wir kehren wieder zurück. Dieses Jahr bewegen sich die Häuser Zentimeter um Zentimeter, jetzt sind es zwei Meter im ganzen. Die Häuser oben üben einen Druck aus auf ihre Nachbarn unten, und so gleiten alle abwärts. Wegen diesen Erdbewegungen bleiben wir oft ohne Licht. Die Strassen brechen auf, es platzen die Abwasserleitungen, wo es solche hat. Hausecken fallen und manchmal auch ganze Häuser. Wir säen hier Korn an, aber an gewissen Stellen kommt die Erde ins Gleiten, und das Korn wächst nicht. Nicht etwa der Erdrisse wegen, sondern die Erde ballt sich zusammen und kommt ins Rutschen. Manchmal platzen auch die Wasserleitungen wie bei Onkel Vincenzo und noch bei vielen andern. Der Zusammensturz erfolgt nicht unerwartet; wenn man die Gefahr sieht, geht man hinaus. Nachts? Mein Sohn 84 schlief gewöhnlich hier, und letztes Jahr fiel der Kalk von der Decke auf ihn, und er stürzte hinaus. Wenn die Tiere den Erdrutsch spüren, fangen sie an zu stampfen, auch sie fühlen die Gefahr, die Bewegung im Fussboden. Im ,40‘ - ich schlief - begannen die Maultiere mit den Hufen zu stampfen, Kalk fiel herunter, und so floh ich aufs Land hinaus. Wenn die Tiere Steine fallen hören, wollen sie fort. Der Tod ist bitter, aber sterben muss man ja, jeder wird von Furcht ergriffen. Wir haben das drahtlose Telephon im Haus. Stehlen können wir nicht gehen, durch die Risse hört jeder, was der andere tut und sagt. Um miteinander reden zu können, sprechen wir oft im geheimen zusammen. Alles hört und sieht man. Am Abend sieht man, auch wenn ich kein Licht hätte, mit dem des Nachbars und umgekehrt. Wer sich abends auszieht, löscht zuerst das Licht, sonst schaut man ihm von den andern Häu sern zu. Es geschieht oft, dass beim Zubereiten des Nachtessens Kalk von der Decke in die Pfannen fällt, infolge der Erschütterungen, und man isst Gips. Wenn der Wind geht, bewegen sich die Häuser, wie jemand, der schwach ist. Und schwach sind auch unsere Häuser, sie bewegen sich, sie zittern. Wenn ein starker Wind tobt, gehen wir hinaus, verhüllen den Kopf und ergeben uns in den Willen Gottes. Am Abend, wenn es windet, sitzen wir da und warten, ob die Mauern sich bewegen, und beten zur hl. Rosalia, damit der Wind sich lege. Der Rauch geht von einem Haus ins andere. Wir bringen das immer wieder in Ordnung, und doch befinden wir uns immer auf demselben Punkt. Hier war alles völlig eben, und jetzt kann man nicht einmal mehr einen Stuhl aufstellen, denn es sieht aus wie in einem Gebirge. Vor zwei Jahren habe ich alles völlig wiederherstellen lassen, Küche, Fussboden, alles war in Ordnung. Aber bald fing es wieder an, hier ein Riss und dort ein anderer, seit dem Monat März, und jetzt: haben sie uns schon wieder einen Räumungsbefehl geschickt. Jetzt sind wir sieben, die weggehen müssen; jedes Jahr gehen Leute weg. Der Erdrutsch ist gegenüber. Oberhalb ist ein Berg aus Gestein, Ilice heisst er. Früher trat das Wasser bei Toto Battaglia aus, dort haben sie zugemauert, aber statt dass das Wasser nun aufs Feld hinaus floss, fliesst es ins Dorf, und so sind wir alle zugrunde gerichtet. Es hat nämlich keinen eigenen Abfluss, es rieselt überall durch. Wir befinden uns unterhalb, und so fliesst das Wasser abwärts, und es sollten Wasserabflüsse gebaut werden, bevor das Wasser unser Quartier erreicht. Es sind etwa 240 Häuser, die durch diesen Erdrutsch bedroht sind, das ganze Quartier Rosalia. Der Boden saugt und saugt ununterbrochen Wasser auf, die Häuser werden baufällig. Der ganze Berg gerät allmählich in Bewegung, das ganze Quartier; die Leute murren, sie gehen aufs Stadthaus, um zu protestieren, aber jeder schaut nur für sich selbst. Der Erdrutsch geht weiter, und die Fa milienväter geraten in Not, um die Schäden wieder gut zu machen. Man geht aufs Rathaus, um zu reklamieren, dass man unbedingt etwas gegen diesen Erdrutsch machen müsse und damit man uns die Häuser wieder herstelle. - Heute, morgen, übermorgen - sie denken an uns ! Wenn die Wahlen sich nähern, sagen sie: «Ihr. müsst heraus». «Wo sollen wir denn hingehen?» fragen die Leute. -« Helft euch selber, unter freiem Himmel.»Es kommen die Ingenieure, Beamte: grausam, unerbittlich. Ist der Zustand gefahrdrohend, sagen sie: «Ihr müsst heraus»; aber da ist keiner, der eine andere Zuflucht für uns hätte. Und immer wiederholen sie: «Am Montag wird man mit den Arbeiten beginnen, in einem Monat wird man damit anfangen.» So wie es mit diesem Erdrutsch geht, geht es mit allen übrigen Angelegenheiten. Die Gemeinde ist arm, sie hat nichts, nur Schulden, und jeder denkt nur an sich. Mein Sohn arbeitet zwei, vielleicht drei Monate im Jahr. Wir, die Ärmsten, verstehen nichts. Geht es uns gut, so reicht es, die Zeitung zu lesen. Manchmal steht ein wichtiger Artikel darin, manchmal etwas über ein Unglück, oder da sind die Krämer, die etwas berichten, und im Quartier hat es einen oder zwei, die die Zeitung kaufen, und einer sagt: «Tizia hat die Zeitung gekauft»; so gehen sie auch eine holen, und wir kommen zusammen, gerade so wie jetzt, und eine liest vor. Ich habe einen Verwandten in Palermo, er bringt mir immer einige Neuigkeiten. Da ist jemand, der sich mit seiner Frau streitet, jemand hat sich vom Zug gestürzt, usw. Hier im Dorf gibt es mehr als 27 Personen, die vor Schwäche oder Entsetzen völlig den Kopf verloren haben. Letzte Woche am Samstag hat sich eine Frau von der Spitze des Iliceberges hinuntergestürzt: Eine Mauer stürzte halb zusammen, und sie klammerte sich an einem Fenster fest. Sie erschrak furchtbar, und infolge des ausgestandenen Schreckens verlor sie den Verstand. In der Strasse nebenan wohnt ein Mann, der schreit und schreit, dann ist er für ein paar Stunden wieder normal, und dann fängt er wieder an und sagt manchmal völlig unverständliches Zeug. «Du musst sterben, du musst sterben, du hast Menschenfleisch gegessen.» Er war ein arbeitsamer Mensch. Die Familien nebenan haben von den Behörden verlangt, ihn zu versorgen. Die Männer arbeiten zwei, drei Monate pro Jahr. Wenn sie nicht arbeiten, machen sie Schulden, immer mehr ... manchmal gibt der Krämer nichts mehr, und dann fangen sie an, mit Früchten zu handeln. Sie gehen aufs Land, um wildwachsende Gemüse [Fenchel, Zichorie] zu sammeln, um sie hier zu verkaufen. Das ist ein Kraut, das wild wächst, und doch geht der Gutsherr oft zum Flurwärter, da er nicht wünscht, dass die Leute auf seinem Grund und Boden herumlaufen. Die Schnecken werden nach „mitatellen” einem Mass, verkauft; hier kennt man das Gewicht nicht. Die Frauen pressen die Mandarinen aus, manchmal übernehmen sie auch die Arbeiten der Männer. Die meisten dieser Frauen lassen die Verfügungen und Verordnungen ausser acht. Oft müssen wir mitten in der Nacht fliehen. Einer stösst einen Schrei aus, die andern hören ihn, werden von Furcht ergriffen und fliehen, kalkweiss im Gesicht. Die Balken treten aus den Mauern heraus, lösen sich von ihnen, und wir fürchten, dass jeden Augenblick ein Stück auf uns herunterfällt. Am Vorabend des Josefstages [19. März] ist hier ein Haus zusammengestürzt, drei Türen weiter. Das Mädchen des Tana war ganz in der Nähe, sah dieses Furchtbare, sah die Mauersteine herunterstürzen, die Leute schrien: das Haus stürzt ein, und die Katze entkam gerade noch, und oh - auf einmal stürzte das Haus in sich zusammen; das Mädchen schrie. Die Türen sperren immer mehr; wenn man sie nicht mehr schliessen kann, ruft man den Schreiner, und auf einmal fehlt auf einer Seite eine ganze Handbreite ... Letzthin träumte ich: die Türe sei ganz schmal geworden, und ich musste durch das Fenster hinausgehen. Für gewöhnlich träumen wir nicht. Wir hören das Knistern in den Mauern, in denen sich Risse bilden. In der Nacht brechen die Backsteine, wir machen Licht und schauen nach, dann löschen wir das Licht wieder und warten. So geht es zwei-, dreimal jede Nacht. Im Winter schlafen wir wenig. Das Wasser dringt immer weiter vor, die Häuser bewegen sich, alles ist in Bewegung geraten. Zuerst stehen die zusammen, aber dann handelt jeder für sich selbst. Einer, der schreiben konnte, machte für alle Eingaben, und jeder zahlte 600 Lire. Dann ging ich der Sache nach, aber niemand wusste etwas davon, und es geschah nichts. Wir sammelten Unterschriften und schickten sie dem Polizeipostenchef der Provinzbehörde, der Regierung. Vor einigen Monaten kam der Abgeordnete F. und sagte uns, es liege hier gar kein Erdrutsch vor. Antonio und auch andere erhielten einen Brief. Sie geht hinaus und kehrt nach kurzer Zeit mit nachfolgendem Brief zurück, den wir textgetreu wiedergeben: Republik Italien Provinz Sizilien Präsidium A.E.L. Div. III. n. des Prot. 22589 Herrn Todaro Antonino, Sohn des verst. Franz Alia, Savoia-Strasse Unter Bezugnahme auf Ihr Gesuch für eine Unterstützung teilen wir Ihnen mit, dass die zuständigen technischen Instanzen, die in dieser Angelegenheit befragt wurden, uns auseinandersetzten, dass die Erdbewegungen, die sich in der Goriziastrasse in Ihrer Gemeinde zeigten, nicht die wesentlichen Merkmale eines Erdrutsches aufweisen. Deshalb können die angegebenen Schäden nicht als Folgen eines öffentlichen Notstandes betrachtet werden. Der zuständige Beisitzer [Unterschrift] Palermo, den 26. Oktober 1955. 85 Die Wiedergeburt, Beatrice Schlag in: Das Magazin Nr. 39, 10 / 2000 – Zürich: Tamedia An gewöhnlichen Tagen arbeitet Jerome Savary nirgends lieber als in den Cantieri culturali. Als er vor drei Jahren erstmals die heruntergekommenen Palermer Fabrikhallen besichtigte, die ihm der junge Alfio Scuderi kühn als «Kulturbaustelle» präsentierte, verliebte sich der französische Regiestar auf Anhieb in das zugige Gemäuer. Aber heute ist kein gewöhnlicher Tag, sondern ein elender. Der Scirocco bringt halb Palermo um den Verstand. Italiens Theaterliebling Alessandro Haber läuft schweissnass auf dem Bühnenpodest hin und her und verheddert sich immer wieder in seinem Text. Savary sitzt in einer stinkenden Zigarrenwolke am Regiepult und wirft erbitterte Blicke auf die Strasse hinaus. Fast vierzig Grad Heissluft bläst der Wüstenwind noch um Mitternacht durch die offenen Tore der Halle herein. Vom Lärm nicht zu reden. Schon zum dritten Mal knattert ein Motorino durch Habers grossen Monolog. Aber bei geschlossenen Toren würde man heute ersticken. «Pass auf, gleich gibt es Krach», flüstert Alfio Scuderi und geht auf Zehenspitzen zum Ausgang. Auf der Strasse zündet sich der 28-jährige Produzent von Molieres «Der Geizige» eine Zigarette an und strahlt, als er Savary drinnen endlich brüllen hört. «Bisher hat er noch nicht ein einziges Mal geschrieen, und in ein paar Tagen ist Premiere. Ich war schon sehr beunruhigt.» Eine Woche später werden die Theaterkritiker die messerscharfe Inszenierung bejubeln und Palermo beneiden, wo nach Weltstars wie Pina Bausch, Philipp Glass, Peter Greenaway, Karlheinz Stockhausen und Claudio Abbado nun auch der weltberühmte Franzose arbeitet. Savary wird vor der Presse Scuderis Pro fessionalität und Enthusiasmus feiern und neben der Schönheit der Stadt hauptsächlich den jungen Produzenten dafür verantwortlich machen, dass er bereits für eine weitere Inszenierung in Palermo zugesagt hat. Scuderi kann jetzt ein Eis gebrauchen. Inzwischen ist es ein Uhr nachts, aber an der Piazza Alberico Gentili sind immer noch alle Plastiktische besetzt. Mindestens zweihundert Leute zwischen fünfzehn und achtzig sitzen Stuhl an Stuhl unter Palmen und schlecken Eis. Rings um den Palmengarten stehen hässliche Hochhäuser. Die Autos sind mehrreihig geparkt, die Vespas stehen in Rudeln. Aber es geht hier nicht um Aussicht, sondern um Cremolata. Nirgends gibt es dickere Fruchtstücke in der weichen sizilianischen Gelato Variante als bei diesem namenlosen Eis kiosk, der vor zwei Jahren plötzlich da stand, wo zuvor ausser Müll nichts war. Seither ist es voll bis drei Uhr morgens. Die Frauen tragen durchsichtiges Leinen, die Männer weiche Lederschuhe ohne Socken. Gegen halb zwei parkt Elisabetta Di Stefani auf dem Trottoir gegenüber und winkt mit rudernden Armen. «Luca hat uns für morgen Abend zur Tavola Tonda eingeladen», ruft sie. Luca ist Leoluca Orlando, Palermos international gefeierter Bürgermeister. Jeder, der länger als drei Minuten mit ihm geredet hat, nennt ihn Luca. Das heisst, ein beträchtlicher Teil der Stadtbevölkerung, denn Orlando verbringt auch seine Freizeit mit Vorliebe öffentlich. Elisabetta sieht den Bürgermeister vor allem bei beruflichen Auftritten. Die Tochter einer Deutschen und eines Sizilianers arbeitet als Dolmetscherin und gelegentlich als Stadtführerin, . wenn Orlando auswärtige Gäste empfängt. Sie hat ihn 1995 in Brüssel in einem Restaurant kennen gelernt, wo sie nach dem Literaturstudium als Kellnerin jobbte. Er sagte, sie verschwende ihr Talent, er habe zu Hause gescheitere Arbeit für sie. Ein paar Monate später kehrte sie nach Palermo zurück, begeistert von seinen furiosen Projekten. Der ehemalige Jusstudent Alfio Scuderi erzählt eine ähnliche Geschichte. Fast alle Mitarbeiter Orlandos erzählen ähnliche Geschichten. Fast alle arbeiten sechzehn Stunden am Tag. Zurzeit ist Elisabetta für andere Jobs gebucht. Heute war sie den ganzen Tag mit einem Fototeam des Quelle-Versands unterwegs, das seine Frühjahrsmode für 2001 in Palermo ablichtet. Morgen kommen zwei Teams des französischen Mode-Versandriesen Porte Blanche. Davor betreute sie eine deutsche Werbeequipe, die mit Verona Feldbusch einen Spot drehte. «Hat alles nichts mit Palermo im Besonderen zu tun», sagt Elisabetta, «die Stadt ist eine ganz normale Location, fotogen, preisgünstig und ungefährlich.» Sie sagt das sehr lässig, dann muss sie selber lachen. «Nicht schlecht: Palermo eine ganz normale Location.» Jeden Monat gab es Staatsbegräbnisse Die Stadt ist alles andere als normal. Vor einem Jahrzehnt wäre keinem Fotografen der Welt eingefallen, seine teuren Kameras hier aufzustellen. Am Anfang der Neunzigerjahre war Palermo ein Synonym für Mafia und sonst nichts. Die Rate der Mafia-Morde lag bei zweihundert pro Jahr, manchmal waren es auch fünfzig mehr. Daneben bewegte sich ein Heer von Kleinkriminellen durch die verdreckte Stadt, die Taschen und Fotoapparate von Passantenschultern rissen, Autos knackten und Wohnungen aufbrachen. Die Polizeisirenen heulten 24 Stunden lang. Kaum ein Politiker oder Richter verliess sein Büro ohne Eskorte. Vielen nutzten die Leibwächter und die gepanzerten Dienstfahrzeuge nichts. In den Achtzigerjahren hatte die eng mit den staatlichen Institutionen verfilzte und daher juristisch weit gehend unbehelligte Mafia ihren grotesken, aber berechenbaren alten Ehrenkodex über Bord geworfen. Die Familie der Corleonesi war durch Drogenhandel, Schutzgelderpressung und die ihr von politi87 schen Strohmännern zugeschanzten öffentlichen Bau aufträge so reich und masslos geworden, dass sie einen gnadenlosen Krieg gegen andere Familien eröffnete, in dem auch Frauen und Kinder umgebracht wurden eine bis dahin unvorstellbare Tabuverletzung. Ausserdem ermordeten die Corleonesi erstmals in der über hundertjährigen Geschichte der Mafia reihenweise unliebsame Vertreter des Staates. Kein Monat ohne Staatsbegräbnis für einen «cadavere eccellente», eine aussergewöhnliche Leiche: Polizisten, Richter, Politiker. Der an eine Hauswand gesprayte Verzweiflungsschrei «Wen Gott hereinlegen will, den lässt er in Palermo auf die Welt kommen» wurde zum stehenden Satz. Wenn sie in jenen Jahren von Ausländern gefragt wurden, woher sie kämen, sagten die Palermer: aus Italien. Von dieser demütigenden Selbstverleugnung erzählt jeder, den man nach damals fragt: Denn Sizilianer sind Pass-Italiener. Ihre Insel mag auf dem Papier eine autonome Region italiens sein. In ihrem Bewusstsein ist es ein anderer Kontinent, kultiviert und kosmopolitisch. Hier lebten Phönizier, Griechen, Araber, Normannen, Spanier und Franzosen, ehe die Insel 1861 Teil des Königreichs Italien wurde. Italien ist für die meisten Sizilianer fernes, nicht besonders raffiniertes Festland geblieben, von dem überzogene Steuer forderungen und so gut wie nie Helfer kommen. Aber jetzt schämten sich die Palermer bis ins Herz für ihre von ein paar tausend Mafiosi terrorisierte Stadt, bei deren Namen die ganze Welt nur noch an Verbrechen dachte. Gleichzeitig wuchs ihre Resignation und ihre Lethargie mit jedem Toten. Eine Stadt, in der die meisten Polizisten, Richter und Politiker gekauft oder eingeschüchtert waren und die anderen erschossen wurden, hatte im Kampf gegen die Clans keine Chance. Wann immer ein forscher Politiker oder Polizeipräfekt ein hartes Durchgreifen gegen die Mafia versprach, erinnerten sie müde an Tomasi di Lampedusas «Leoparden», den 1958 erschienenen Roman über den Niedergang einer sizilianischen Adelsfamilie. «Wenn wir wollen, dass alles bleibt, wie es ist, müssen wir alles ändern», ruft der junge Adlige, als er sich der Revolution anschliesst. Genauso würde es auch weiterhin sein. Jeder Versuch einer Neuerung, jedes aufgeregte Anti-Mafia Dekret aus Rom war den Palermern Beweis, dass alles beim Alten bleiben würde. Zu Beginn der Neunzigerjahre hatte die Bevölkerung ihre Stadt der Mafia überlassen. Die Strassen waren tot, die Pizzerias leer. Das Nachtleben fand vor dem Fernseher statt. Die Euphorie ist mit Händen zu greifen Es gibt keine direkten Wege vom Nichts in die Normalität. Nicht einmal ein Jahrzehnt später ist Palermo eine Stadt in einem magischen Ausnahmezustand, von dem keiner weiss, wie lange er anhält. Die Stadt hat heute ein Kulturbudget von 45 Millionen Fran88 ken, fast dreimal so viel wie Venedig, und sie gibt es mit vollen Händen aus. Jeden Abend Kultur vom Sorgfältigsten, Oper, Theater, Rock, Jazz, Ausstellungen, Happenings. Alles, was das Fernsehen nicht hergibt, ist die Devise, und das zu sehr erschwinglichen Preisen. Hauptsache, die Leute kommen wieder auf die Strasse. Sie kommen. Fast jede Woche geht in der Stadt mit den 750 000 Einwohnern inzwischen ein neues Restaurant, ein Pub, eine Bar auf. Und ist sofort voll. Nicht, weil neu hip ist. Das Wort hip wird in Palermo nicht benutzt, das dazugehörige Gefühl ist unbekannt. Orlando hat die Rückeroberung Palermos durch seine Bewohner ohne Scheu vor grossen Worten Rinascita getauft, was man mit Renaissance oder Wiedergeburt übersetzen kann. Er stülpt jedem Politiker, der auf Besuch weilt, eine Coppola über, jene Schirmkappe, die einst ein Symbol des Mafioso war. Der Bürgermeister hat sie zum neuen Symbol Palermos stilisiert. Der Mafia soll kein Terrain überlassen werden, kein Wahrzeichen. Der Rapper Jovanotti trägt die Coppola auf der Bühne, Palermos verehrter Kardinal Salvatore Pappalardo auf der Strasse. Gerne nennt Orlando Männer, die er schätzt, Uomini d‘onore, Ehrenmänner. Das Wort heisst wieder, was es heisst. Und niemand nennt einen aufgeweckten Buben mehr liebevoll Mafiuseddu, kleinen Mafioso, und eine leidenschaftliche Frau Donna mafiosa. Die Euphorie über das Neue, Wiedergewonnene ist mit Händen zu greifen. Die Palermer können sich nicht satt sehen an ihrer Stadt, die um die Jahrhundertwende als schönste Europas galt und danach durch Bomben, Immobilienspekulation und systematische Vernachlässigung so zerstört wurde, dass ihre Schönheit kaum mehr zu erkennen war. Jeder restaurierte Brunnen, jedes von Dreck befreite Plätzchen wird gefeiert und in Beschlag genommen. Um halb drei Uhr morgens will uns Elisabetta unbedingt noch einen neuen Ort zeigen, wo man sich wie im Orientfühle. So ist es. Das «Maalox» liegt unmittelbar hinter der Palermer Moschee an der verschachtelten Piazza della Canna. Canna heisst Rohr, bei Gelegenheit auch Joint, und genauso duftet der kleine Platz. Er ist gerammelt voll mit vorwiegend jungen Menschen, kaum eine Vespa kommt durch. Vier Tischfussballpartien sind in vollem Gang, ein paar Dutzend Leute tanzen zu Bee Gees und Chubby Checker, wobei der Geräuschpegel der Stimmen den der Musik souverän übertönt. Es ist unmöglich, bis ins Lokal selber vorzudringen, das angeblich nicht viel grösser als ein Handtuch ist. Der Bier- und Mineralwasserausschank findet im Freien statt, für eine reichere Getränkeauswahl muss man anderswohin. Zum Beispiel um die Ecke ins «Cafe d‘Oriente», wo man für fast kein Geld Couscous essen und Wein oder türkischen Kaffee trinken kann. Wer will, bekommt eine Wasserpfeife auf den Tisch gestellt, was für viele ein richtig guter Grund ist, von der Piazza della Canna auf einen Sprung ins «Orien te» zu kommen. Mehr als ein Klub oder eine Disco ist das «Maalox» ein Treffpunkt derer, die nicht chic sein wollen. Man verwechsle das nicht mit einem alternativen Szenetreff in der Schweiz. Wie überall in Palermo sind die Leute auch hier mit sorgfältigster Lässigkeit gekleidet, die Haare glänzen. Kein schief getretener Absatz, keine unrasierte weibliche Achselhöhle auf dem ganzen Platz. Man will sich lediglich von den Labelfetischisten beiderlei Geschlechts unterscheiden, die im Park der Villa Sperlinga im schicken «Quba» sitzen, Bellini trinken und über Kleider reden. Hier reden sie über Palermo. Oder über Fussball, aber das muss erlaubt sein. Die Schmerzgrenze war überschritten Am nächsten Abend um acht wimmelt die Tavola Tonda, ein kleiner, terrassenartiger Platz im be scheidenen Hafenviertel, von Kindern. Zehn fünf köpfige Kinderdelegationen aus zehn EU-Ländern sind angereist. Der Bürgermeister von Newcastle, der seine Delegation begleitet, ist schon betrunken und lächelt glücklich. Bürgermeister Leoluca Orlando, eben vom demokratischen Parteikongress in Los Angeles zurückgekehrt, schwärmt von seinem amerikanischen Leihwagen, einem weis sen Mustang, mit dem er die ganze Küstenstrasse nach San Francisco hochgebrettert sei. Zum ersten Mal seit fünfzehn Jahren wieder am Steuer. In Italien muss er auch bei Freizeitausflügen auf den Rücksitz, rechts und links die Leibwächter. Ein alter Mann kommt auf ihn zu und will ihm die Hand küssen. Orlando zieht seine Hand blitzschnell zurück und legt sie dem Alten auf die Schulter. Die Männer, denen man in Sizilien die Hand küsst, sind andere. Unter der Terrasse stehen die drei gepanzerten Alfa Romeos für ihn und seine Eskorte. Sechs Bodyguards warten, aufmerksam, aber sichtlich entspannt. Die Zeiten, als sie den Bürgermeister bei jedem Schritt in der Öffentlichkeit mit gezückten Waffen abdeckten, sind vorbei. Der Beginn der Renaissance von Palermo ist exakt datierbar: 19. Juli 1992. An diesem Tag wurde der Richter Paolo Borsellino mit seiner fünfköpfigen Eskorte vor dem Wohnblock seiner Mutter in Palermo in die Luft gesprengt. Die Explosion war in der ganzen Stadt zu hören. Zwei Monate zuvor war Borsellinos Kollege und enger Freund Paolo Falcone, im In- und Ausland Symbol des Kampfes gegen die Mafia, mit Frau und Leibwächtern von der Mafia umgebracht worden. Mit Borsellinos Tod war die Schmerzgrenze der Palermer überschritten. Am Abend des Attentats war die halbe Stadt auf der Strasse. Die meisten versammelten sich vor dem Palazzo delle Aquile, dem Sitz der Stadtregierung. Aber es erwartete sie niemand. Der Bürgermeister wollte nichts hören und hatte nichts zu sagen. Die Palermer haben den Anblick des geschlos- senen Tores nie vergessen. Ihre Demonstrationen gingen so lange weiter, bis die Stadtregierung geschlossen zurücktrat. 1993, als nach einer Gesetzesänderung der Bürgermeister erstmals direkt vom Volk gewählt wurde, erhielt der engagierte Mafiagegner Leoluca Orlando 75 Prozent der Stimmen. Kulturelle Prävention Orlando setzte eine beeindruckende Repressions maschine zur Verfolgung der Mafia in Gang. Erstmals gab es reuige Mafiosi, die Namen von Komplizen nannten. Toto Riina, legendärer Boss der Bosse, Chef der Corleonesi, wurde verhaftet, ein unglaublicher Gesichtsverlust für die streng hierarchisch organisierte Mafia. Gleichzeitig begann Orlando ein kühnes Experiment, das er Kultur der Legalität nennt: die Bekämpfung des organisierten Verbrechens nicht nur durch Polizei und Justiz, sondern durch kulturelle Prävention. Kultur sollte den Palermern den Bürgersinn und das Gemeinschaftsgefühl wieder bringen, die ihnen die Mafia und eine korrupte Politikerklasse ausgetrieben hatte. Der Mann, den er bestimmte, das Konzept in die Tat umzusetzen, ist ein Glücksfall für Palermo. Francesco Giambrone, der bis zu seiner Ernennung zum Kulturassessor als Kardiologe gearbeitet und in seiner Freizeit viel beachtete Musik- und Ballettkritiken geschrieben hatte, ist neben Orlando die zweite Schlüsselfigur des Palermer Kulturschocks. Gleich mit seiner ersten Amtshandlung gewann Giambrone die halbe Stadt für sich: Er liess den bis anhin düsteren historischen Stadtkern mit warmen, hellen Laternen beleuchten. «Es war das Ei des Kolumbus», sagt Giambrone, «die Leute entdeckten plötzlich, dass die Strassen eigentlich ihnen gehören.» Entrümpeln, säubern, einweihen Kaum war die Stadt abends hell, trat der grauhaarige Mann mit dem milden Gesicht eine Kulturlawine los. «Es war ein Wahnsinn, was wir in den ersten Jahren machten», sagt er vergnügt mit seiner sanften Stimme, «es war viel, zu viel. Wir wussten auch, dass es zu viel war. Aber wir mussten Samen streuen und hoffen, dass einige davon Wurzeln schlagen. Würden unsere Initiativen greifen oder weggefegt werden? Wir wussten es nicht.» Die bemerkenswerteste Formel der rasanten städtischen Kulturpolitik hiess entrümpeln, säubern, einweihen. Es war keine Zeit da, alte Gebäude in langen Renovationsarbeiten wiederherzustellen. Die Palermer mussten schnell erleben, was ihre Stadt an Schönheit zu bieten hatte, wenn das Experiment gelingen sollte. Lieber eine sofort benutzbare Ruineals ein Baugerüst. Die Cantieri culturali etwa, ein Areal von 55000 Quadratmetern, wurden von der Stadt auf Giambrones Drängen zum Kulturgelände erklärt, ohne dass 89 irgendein Projekt bestand. «Wir hatten nur eine Idee, sonst nichts. Ex-Häftlinge räumten das Areal auf, dann machten wir in einer der kleinen Hallen sofort eine Ausstellung.» Inzwischen sind die Cantieri durch Theaterinszenierungen und Ausstellungen lokal und international so bekannt, dass der ursprünglich an ihrer Stelle geplante Parkplatz politisch nicht mehr durchsetzbar ist. Ein Symbol für die Plünderung Ebenso durchschlagende Erfolge waren Piazza Marina und Piazza Magione, beide im ehemals gefürchteten Kalsaquartier gelegen, das man vor ein paar Jahren noch «Palermo Kaliber 9» nannte. Piazza Marina mit dem angrenzenden kleinen Park war Rotlichtbezirk, Piazza Magione ein trostlos kahler Platz mit einer dachlosen, von Abfällen übersäten Kirchenruine namens Santa Maria dello Spasimo in der Mitte. Als Alfio Scuderi, damals noch beim Kulturassessorat angestellt, 1994 für ein Marionettentheater Spots im Park von Piazza Marina installierte, protestierten bei der ersten Lichtprobe noch aufgeschreckte Freier und Prostituierte aus den Büschen. Heute ist die Piazza ein so selbstverständlicher Treffpunkt, als sei es Jahrzehnte her, dass hier nur Drogen und Sex im Angebot waren. Ein Restaurant neben dem anderen machte auf. Tische sind trotzdem knapp. Wer sicher einen Platz will, muss inzwischen Tage vorher reservieren. Drei Gehminuten weiter östlich haben ebenfalls ExHäftlinge 1500 Lastwagen Schutt aus der nie fertig gestellten Kirche von Piazza Magione geräumt, die heute nur noch «Lo Spasimo» heisst, die Pein. Dann erst wurde deutlich, wie riesig das gotische Bauwerk war. Aber das früher als Lazarett und Sterbehospiz benutzte Spasimo, aus dessen Kirchenschiff die Bäume in den Himmel wachsen, ist nicht nur in sich ein Juwel. Es öffnete ein ganzes Viertel. «Als wir ins Spasimo kamen und ein Spektakel nach dem anderen veranstalteten», sagt Alfio Scuderi, «begann sich die Kalsa zu verändern. Plötzlich waren die ersten Strassenverkäufer da, dann gabs Getränke, dann selbst ernannte Parkwächter. Und mit jedem, der sich Arbeit schuf, zogen sich Diebe und Drogenhändler weiter zurück. Es gab eine Quartierkontrolle, weil die, die jetzt plötzlich Arbeit hatten, sich das Geschäft nicht kaputtmachen lassen wollten.» Giambrones glücklichster Moment als Kulturassessor war die Eröffnung des Teatro Massimo vor drei Jahren. Es war das Ende eines 24-jährigen Skandals. So lange war das nach Paris und Wien drittgrösste Opernhaus der Welt geschlossen gewesen. Der Anblick der verriegelten Oper mitten in der Stadt, sagt Giambrone, sei für die Palermer wie eine Wunde gewesen, ein Symbol für die Plünderung, Vernachlässigung und Zerstörung ihrer Stadt. Achtzig Millionen Franken hatten verschiedene Baufirmen in den 24 Jahren für Renovationen kassiert, die nie durchgeführt wurden. Als das Teatro Massimo 1997 mit Verdis «Nabuc90 co» wieder eröffnet wurde, war erst ein kleiner Teil der Renovationsarbeiten abgeschlossen. Seit 1999 ist Francesco Giambrone Intendant des Massimo. Als Erstes halbierte er die Preise für das junge Publikum und erklärte sämtliche Kleidungsvorschriften für aufgehoben. Die Oper ist täglich ausverkauft, und die Turnschuhe, Piercings und Tattoos im Foyer nehmen zu. Die Arbeitslosigkeit ist kaum gesunken Nur in Ausnahmefällen rückt das Teatro Massimo heute aus künstlerisch leichtgewichtigen Gründen ins Scheinwerferlicht. Anfang September wurde der imposante Treppenaufgang zum Laufsteg für eine Modeschau umdekoriert, bei der neben internationalen auch lokale Modemacher ihre Kollektionen zeigten. Palermos geltungsfreudige Mittelschicht riss sich um Eintrittskarten, denn die Show wurde fürs Fernsehen aufgezeichnet. Bürgermeister Orlando, der sich für neue Modetrends nicht annähernd so interessiert wie für alte Autos, sass die Veranstaltung im Namen einheimischen Modeschaffens ab. Der Applaus für ihn war höflich, nicht begeistert. Trotz des aufregenden Kulturlebens sind viele Palermer heute von ihrem Bürgermeister enttäuscht. Nun hatten sie einmal ihre tiefe Resignation überwunden und alle Hoffnungen auf ihn gesetzt, und was hat er in acht Jahren zu Stande gebracht? Kultur schön und gut, aber wo sind die Parkplätze? Hat er das Problem der chaotisch verstopften Strassen gelöst? Die Arbeitslosigkeit ist kaum gesunken, das alte Stadtzentrum nicht einmal ansatzweise renoviert. In Vierteln wie Albergheria oder Ballan vom Teatro Massimo zu Fuss keine zehn Minuten entfernt, sieht es an manchen Ecken aus, als sei nach den Bomben, die die Alliierten 1943 abwarfen, die Zeit stehen geblieben und nur der Müll weitergewachsen. «Die Palermer erwarteten keinen Veränderer», sagt Alfio Scuderi, «sie erwarteten einen Messias. Und weil Orlando nicht Messias ist, werden sie bei den nächsten Wahlen für Berlusconi stimmen. Der ist zwar kein Messias, aber immerhin ein Krösus.» An der kleinen Piazza Garraffello, mitten im VucciriaViertel, hat ein unbekannter Künstler im August eine fast vier Meter hohe Sperrholzkommode aufgebaut. Die Schubladen stehen für Wünsche. Heimliche Wünsche heissen auf Italienisch Schubladenträume. Der Kommode fehlen zwei Schubladen. In der Vucciria, deren Markt noch vor 30 Jahren als schönster Sukh Europas galt, sind die Häuser inzwischen in so desolatem Zustand, dass sich die Bewohner bekreuzigen, wenn es zu regnen anfängt. Wer es sich leisten konnte, ist aus dem Altstadtviertel weggezogen. Nachgekommen sind nordafrikanische Immigranten und Zigeuner. «Machen Sie sich um Ihre Handtasche keine Sorgen», sagt Mimmo, der Lebensmittelhändler, als ein Grüppchen Zigeunerkinder um die Ecke biegt, «die stehlen hier nicht. Die wissen, dass wir aufpassen.» In der Anfang September veröffentlichten Kri minalitätsstatistik Italiens liegt Palermo unter den grösseren Städten auf Platz elf, überrundet nicht nur von Rom und Neapel, sondern auch mehrere Plätze hinter Rimini und Bologna. 1999 wurden in Palermo elf Morde verübt - nach Meinung der Polizei nicht ein einziger von der Mafia. Dass Palermo nicht mehr gefährlicher ist als Manhattan, hat sich herumgesprochen. Natürlich gibt es nach wie vor Viertel wie das trostlose ZEN (Zona Espansione Nord), in die man besser nicht ohne Begleitung geht. Aber man bummelt ja auch nicht allein durch die Bronx. Die Zahlen ausländischer Palermobesucher haben sich seit 1993 mehr als verdoppelt. Dieses Jahr kommen vermutlich mehr als eine Viertelmillion die Wiedergeburt von Palermo zu bestaunen. Noch immer zahlen alle Schutzgelder Und die Mafia? «Wir wissen ganz einfach nicht, was die Mafia tut», sagt Giuseppe Ayala, ehemaliger Kollege von Falcone und Borsellino im Richterpool von Palermo, heute Senator für die Linksdemokraten in Rom. «Sie haben erkannt, dass die Ermordung der beiden Richter ein Riesenfehler war. Seither schiessen sie kaum noch, weder aufeinander noch auf uns. Vermutlich organisieren sie sich neu, vermutlich arbeiten sie noch internationaler als früher. Aber wer, wie und wo, ist uns unbekannt.» Mit dem Euro als idealem Mittel zur Geldwäsche ist die Abhängigkeit der Mafia von Helfern in ihrem eigenen Territorium noch kleiner geworden. Aber die Hoffnung, dass eine globalisierte Mafia den Standort Sizilien aufgeben wird, hegt niemand. Tatsache ist, dass ihre Platzhalter in Palermo weiterhin klar ihre Präsenz markieren. Praktisch alle Geschäftsinhaber der Stadt zahlen nach wie vor Schutzgelder. Den Aufrufen Orlandos zur Anzeige der Erpresser folgte bisher kaum jemand, und das mit gutem Grund. Keine noch so willige Polizei kann Hunderte von Geschäften und ihre Inhaber rund um die Uhr vor allfälligen Vergeltungsschlägen schützen. Der Bürgermeister glaubt, dass die Mafia sich auch in anderer Form bald wieder in Palermo bemerkbar machen wird. «Warum soll die Mafiosi mit vier Zahnlosen in einem Bergkaff sitzen, wenn sie hier ins Konzert gehen kann?», sagt Leoluca Orlando, «die Mafia ist immer da, wo die Leute sind. Die Frage ist, was passiert, wenn die Mafia ihr Geld in unsere neuen Lokale, Theater und Bars investieren will. Reicht unsere Kultur dagegen aus?» Am 31. Januar 2001 läuft Leoluca Orlandos zweite Amtszeit als Bürgermeister ab. Er kann nicht wieder gewählt werden. Danach würde er gerne sizilianischer Ministerpräsident werden, um das Projekt Wiedergeburt auf die ganze Insel auszudehnen. Seine Chancen sind gering. 91 Zum Thema Essen, Roberto Alajmo Palermo sehen und sterben / Roberto Alajmo; aus dem Italienischen von Karin Krieger – München: Carl Hanser Verlag, 2007 Alles bisher Gesagte wurde in der Überzeugung gesagt, dass zur Landschaft einer Stadt Liebe und Tod, Blicke und Gesichter gehören. Doch bevor man sich ihrer baulichen Struktur und den eigentlichen Monumenten zuwendet, gehört zur Landschaft einer Stadt vieles andere dazu, zum Beispiel Gerüche und Geschmacksempfindungen. Natürlich kann man Museen besuchen. Man kann auch Kirchen besichtigen. Aber um dir einen Eindruck von der Stadt zu verschaffen, musst du auf einen Markt gehen oder wenigstens in eine Imbissbude. Diese Regel gilt für jede Stadt der Welt, doch hier um so mehr, weil die Stadt einen Hang dazu hat, sich besonders aromatisch und schmackhaft zu präsentieren. Sie kehrt diese Seite gern öffentlich heraus. Es gibt jedoch Düfte und Speisen, die dir unbekannt bleiben werden, zumindest, wenn es dir nicht gelingt, ins Herz einer Familie vorzudringen, also in das einer Familienmutter, die dich zum Essen einlädt. So eine Einladung ist unbezahlbar. Du kannst nur in einem Privathaushalt die fritierten winzigen Fische verspeisen, die in den Restaurants nicht angeboten werden oder zumindest nicht angeboten werden sollten, weil das Fangen junger Fische verboten ist. Nur so kannst du auch die Speise kennen lernen, die nach Inhalt und Form das Kultgericht der häuslichen Gastronomie ist, den brociolone. Es hat keinen Sinn, in den Kochbüchern nach seinem Rezept zu suchen, du wirst es dort nicht finden. Grob gesagt, handelt es sich um einen Braten, doch eine konkrete Kochanleitung existiert nicht, weil jede Hausfrau ihn nach eigenem Gutdünken und mit den Zutaten zubereitet, die sie gerade zur Hand hat. Er kann aus einem Stück Fleisch bestehen oder aus ei nem Klumpen Hackfleisch, je nachdem. Die Füllung enthält einige feststehende Zutaten, die von Familie zu Familie aber variieren, und weitere veränderliche Grössen auf der Basis dessen, was von den vorangegangenen Tagen in der Küche übrig ist: hartgekochte Eier, Käse, Schinken und so weiter. Auch die Beilagen wechseln jedesmal. Die Hauptvarianten sind Erbsen, Kartoffeln oder Tomatensosse. Andere Privatgerichte sind neben dem brociolone Pasta mit sautierten Brokkoli, Pasta mit Sardellen, Pasta mit Anchovis und Semmelmehl, Thunfischragout und gebackene Saubohnen, die nur selten im Restaurant zu finden sind. Es gibt auch eine breite Palette öffentlicher Geschmacksproben, und an jeder lässt sich ein typischer Wesenszug der Stadt erkennen. Geh hinaus, und sei es auch nur, um einen Kaffee zu trinken. Womöglich genügt das ja, um den Bann zu brechen, der dich zurückhält. Du weisst, dass der Kaffee in Süditalien eine grosse gemeinschaftsstiftende Bedeutung hat. Er gehört zu einer hochwichtigen Geschmacksrubrik. Es gibt hier einen wahren Kaffeekult, der sich jedoch wesentlich von dem neapolitanischen unterscheidet. In Neapel ist das Kaffeetrinken eine fröhlich nach aussen 92 gelebte Zeremonie, in unserer Stadt ähnelt es einer rituellen Bussübung. Hier trinkt man Kaffee, weil es sein muss, und selbst wenn das eine Arbeitspause ist, handelt es sich doch um eine notwendige Pause. Wir sagen: Ich muss einen Kaffee trinken. Dieser Satz verdeutlicht den Zwang, dem man unterliegt. Der Kaffee kann mit der unentbehrlichen Dosis für einen Drogensüchtigen verglichen werden. Diese Unterschiede sind bezeichnend und helfen, die Ungleichheit zweier Städte zu verstehen, die oft und zu Unrecht in einen Topf geworfen werden. Denn so, wie sich Neapel nach aussen wendet, so wendet sich unsere Stadt nach innen. Nehmen wir ein Beispiel: In den Kirchen der Stadt beten alle beziehungsweise überwiegend die Frauen, weil die Männer nur sonntags in die Kirche gehen - in einer kauernden Haltung, die schon für sich ein Akt der Busse ist. In Neapel dagegen verharren Männer und Frauen würdevoll kniend oder auch stehend vor den Heiligenstatuen, mit weit geöffneten Armen und nach oben gerichteten Handflächen, so dass sie möglichst mit der gesamten Körperfläche eine Antenne für den besseren Empfang der göttlichen Gnade bilden. Doch zurück zu deinem Besuch in der Kaffeebar: Du musst wissen, dass der Kaffee in der Stadt als Konzentrat ausgeschenkt wird. Die Menge in der Tasse darf einen Fingerbreit nicht übersteigen, und noch besser ist es, wenn es sich dabei um den kleinen Finger handelt. Wenn der Gast keine näheren Angaben macht und oft selbst dann, wenn er nähere Angaben macht -, erscheint ein hochdosierter Adrenalinextrakt auf dem Tresen. Die kanonische Konzentriertheit schliesst nicht aus, dass der Gast nicht auch seinen persönlichen Wünschen freien Lauf lassen darf. Der Kaffee kann nämlich folgendermassen serviert werden: noch stärker (!), gestreckt, heiss, kalt, kalt mit granuliertem Eis, kalt ohne Zucker, mit Alkohol, mit wenig Milch, mit wenig heisser Milch, mit wenig kalter Milch, mit wenig Milch extra, ohne Koffein, mit Süssstoff, mit Rohrzucker, als Cappuccino, als Cappuccino mit Kaffee extra, als heisser Milchkaffee, als kalter Milchkaffee, in einer grossen Tasse, in einer Plastiktasse, in der Flasche zum Mitnehmen und mit Zucker, in der Flasche zum Mitnehmen ohne Zucker und ad libitum in vielen anderen Varianten. Wie schon Enzensberger sagte, steht dieser offensichtlichen, übrigens typisch italienischen Wunschfreiheit eine grundlegende Vereinheitlichung des Geschmacks gegenüber. Der Barmann wird nämlich unabhängig von der Bestellung in jedem Fall das servieren, was ihm in bezug auf Temperatur, Menge und Geschmack am meisten zusagt. Jeder Einwohner der Stadt hat seinen Lieblingskaffee und ein Lokal, wo er ihm genau so zubereitet wird, wie er, und nur er, ihn mag. Dieser Anspruch auf Originalität hat eine sehr breitgefächerte Phänomenologie. Ein Kennzeichen ist, beispielsweise, der Anspruch, den Namen von Dingen und Orten zu ändern und sie so dem eigenen Geschmack anzupassen. Wir haben das bereits bei Santa Maria dei Naufragati gesehen, wo aus den Schiffbrüchigen kurzerhand Ertrunkene werden. Ein weiteres Beispiel: Da der Name Sant‘Agostino für die schöne Kirche im Stadtviertel Capo als nicht angemessen erachtet wird, wurde sie nach dem Gutdünken der Anwohner in Santa Rita umbenannt. Dieser Hang zu einer privaten Namensgebung lässt sich an etlichen Orts bezeichnungen der Stadt ablesen. Die gemeinhin Politeama genannte Piazza besteht eigentlich aus zwei verkannten benachbarten Plätzen, der Piazza Castelnuovo und der Piazza Ruggiero Settimo. Die Piazza Mordini wird zur Piazza Croci. Die Piazza Verdi ist für alle die Piazza Massimo. Die Piazza Giulio Cesare ist La Stazione, ohne Piazza. Und aus der Piazza Vittorio Veneto wurde schlichtweg La Statua, die Statue. Daraus ergeben sich Dialoge, die für einen Fremdling surrealistisch anmuten können: „Wo wohnst du?« „An der Statue.« Wo man die Siegesstatue übrigens fast nicht sieht, da sie weit oben auf einem Obelisk prangt. Doch wenn die Einwohner der Stadt den Dingen neue Namen geben, so ist das für sie, als passten sie sie ihrem Geschmack an und bestätigten so die eigene Persönlichkeit. Unbeschadet der Tatsache, dass die Dinge stets so bleiben, wie sie im mer schon waren. Genau wie der Kaffee. Normalerweise wird der Kaffee in extrem heissen Tassen serviert. Um sicherzugehen, dass sich der Gast auch wirklich die Lippen verbrennt, lässt man die Tasse auf der Maschine stehen, bis sie glüht. Erst nach mehreren Stunden gilt die Tasse als einsatzfähig. Hat der Gast den ersten Schock überwunden, kann er darum bitten, dass seine Tasse ausgetauscht wird, und der Barmann kann dem nachkommen oder nicht, und zwar gern oder nicht. Falls er es tut, wird er die neue Tasse allerdings mit nicht nachlassender Arroganz unter fliessendes Wasser halten, als wollte er sagen: Was muss man hier nicht alles tun und erleben! Selbstverständlich wird der Gast von diesem Augenblick an nicht länger Gegenstand seiner Wertschätzung sein. Auch deshalb, also um es sich mit dem Barkeeper nicht zu verscherzen, protestiert der Gast in der Regel nicht und gibt sich mit der glühendheissen Tasse zufrieden. Deshalb und weil die glühendheisse Tasse eine Metapher für einen gewissen Sadomasochismus ist, der die Bewohner der Stadt in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen und in ihren Beziehungen zum Rest der Welt kennzeichnet. Eine weitere Geschmacksrubrik sind die stigghiola. Unter stigghiola (in der unveränderlichen weiblichen Pluralform) versteht man die Gedärme von Lamm oder Kalb, notdürftig entleert und dann gefüllt. Erlesener ist die Ziegenvariation. Stigghiola werden an Verkaufsständen an strategisch günstigen Orten der Stadt angeboten, immer auf der Strasse und unter zweifelhaften hygienischen Bedingungen. Übrigens legen die Kenner grösseren Wert auf den Geschmack der Ware als auf einwandfreie Hygiene, die manch einer im konkreten Fall geradezu für kontraproduktiv hält. Leuten, die glauben, auf diesem Gebiet für einen bestimmten Händler die Hand ins Feuer legen zu können, sollte man lieber misstrauen. Die einschlägigen Stände erkennt man an ihrer Duftwolke und an der kleinen Ansammlung von Müssiggängern, die sie umgeben. Wer kein Stammkunde ist, tut gut daran, sich durch jemand anders auszuweisen oder unabhängige Empfehlungen mitzubringen, wenn ihm an einer gesunden Verdauung liegt: »Zu‘ Tale schickt mich«, und so weiter. Dabei ist es nicht nötig, dass Zu‘ Tale von der Verwendung seines Namens weiss. Es ist nicht einmal nötig, dass zu Tale wirklich existiert. Die stigghiola sind die Krönung einer on-the-roadGastronomie, zu der auch musso, quarume und frittola gehören. Musso und quarume sind gekochte Ohren, Mäuler und Gekröse vom Kalb. Frittola wird in einem ausgeschlagenen Korb aufbewahrt und mit einem Tuch abgedeckt, damit sich die Temperatur hält. Bei Bedarf greift der Händler in den Behälter und zieht eine Handvoll glitschiger Fundstücke heraus, die er auf einem Stück Butterbrotpapier serviert. Was genau diese Fundstücke sind, wird man kaum erfahren, und das Tuch trägt ebenfalls nicht dazu bei, ihr Geheimnis zu lüften. Die Theorie sagt, es handele sich hierbei um Knorpel vom Rind und vom Schwein, die erst gekocht, dann gebraten und mit Safran bestäubt werden. Die Verkaufsstände, die solche Nahrungsmittel anbie ten, sind nicht nur das, was sie zu sein scheinen. Sie sind auch Prüfstände. Die Bewohner der Stadt führen dich dorthin, um deinen Magen und deinen Mut auf die Probe zu stellen. Die angebotene frittola ist vergleichbar mit der Tour der Ermordeten, die man den Besuchern zumutet, um ihr Durchhaltevermögen zu testen. Die Absicht hinter diesem Vorschlag ist in beiden Fällen die gleiche, und auch das Schaudern, das man dadurch meist hervorruft. Es lässt sich nicht mit Gewissheit sagen, warum ein ansonsten so gastfreundliches Volk seine Gäste einer solchen Behandlung unterzieht. Fest steht nur, dass die Bewohner der Stadt aus diesen sadistischen Manövern eine Art schmerzhaftes Vergnügen ziehen. Verglichen mit stigghiola, musso und frittola, ist das Fladenbrot mit Milz schon eine höherentwickelte Nahrungsspezies, das Bindeglied, das zu Brot und panella führt. Die Milz wird in den Imbissbuden in Schmalz gebacken und in einem grossen Topf warm gehalten, der in Wahrheit vor allem Lungenstücke enthält. Die Fladenbrote mit Milz unterteilen sich in pur und gemischt, wobei letztere mit geriebenem Käse und Ricotta versetzt sind. Neu ist die Zugabe von Zitrone, wenn man es wünscht. Um besser bedient zu werden, ist es gerade in diesem Fall ratsam, den Verkäufer zu kennen oder sich von ihm erkennen zu lassen, damit er die mutmasslich köstlicheren und weniger knorpligen Stücke aus dem Topf herausfischt. Ein anthropologisch interessantes Schauspiel findet in den frühen Morgenstunden immer am Imbissstand von Porta Carbone statt, wo sich ein kleiner Autostau, vor allem aus Lastwagen, bildet. Das Ritual verlangt, dass der Lasterfahrer vor seiner täglichen Tour ein Brot mit Milz verzehrt. Angesichts der frühen Stunde ist das eine Mutprobe, die zwischen Unglücksabwehr und Männlichkeitswahn schwankt. 93 Was die panelle, also Fladen aus Kirchererbsenmehl, angeht, lässt sich ein ähnliches Phänomen beobachten wie schon bei der glühendheissen Kaffeetasse. Zuvorkommend bäckt der Verkäufer die panelle sozusagen ad personam, was zur Folge hat, dass der Fladen über einen Zeitraum von etwa fünfzehn Minuten nicht an die Lippen geführt werden kann. Falls dir das auch passiert, solltest du dich über diese Tortur freuen, wäre die Alternative doch ein Fladenbrot aus kalten, schon vorgefertigten panelle, die normalerweise nur für die Auslage verwendet werden. Eine solche Bewirtung gilt als respektlos und bleibt lediglich naiven Touristen und gesellschaftlichen Parias vorbehalten. In so einer Imbissstube gibt es noch andere Spezialitäten: cazille - oder in der männlichen Form: cazzilli - (Kartoffelkroketten), ausserdem quaglie (gebackene Auberginenscheiben), broccoli e carciofi in pastella (Brokkoli und Artischocken im Teigmantel), sarde a beccafico (gefüllte Sardinen) und arancine (gefüllte, fritierte Reisbällchen), die in der Stadt in der weiblichen Form vorkommen. Die männliche Variante, arancini, gilt als provinziell und somit als nicht vorhanden. Um die besten arancine zu geniessen, muss man die Altstadt verlassen und ein Lokal besuchen, das vor einigen Jahren wegen mangelhafter hygienischer Bedingungen vorübergehend geschlossen wurde. Das provozierte einen kleinen Skandal, in dessen Verlauf sich die Einwohnerschaft, von neidischen Konkurrenten einmal abgesehen, geschlossen hinter den Betreiber stellte. Die vorherrschende Meinung war, dass, falls die Küche wirklich schmutzig gewesen sei, die grascia, also der Dreck, folglich zu den Zutaten der arancina gehöre. Wer sich entschliesse, eine zu essen, sei sich dessen bewusst. Man könne es ja so halten wie mit den Zigaretten und auf die Papierserviette oder auf die Verpackung schreiben: Fügt Ihrer Gesundheit erheblichen Schaden zu. Zu dieser Familie der soft-core-Nahrungsmittel- soft allerdings nur im Vergleich mit solchen hard-coreSpeisen wie etwa den stigghiola gehören zwei Untergruppen: der sfincione, eine Art Pizza mit Zwiebeln, Caciocavallo-Käse und Anchovis, die in Bäckereien und von fliegenden Händlern verkauft wird und für die die gleichen hygienischen Merkmale gelten wie für die arancine und ferner Mollusken, Seeigel, Schnecken und Kraken, in frugaler Form in speziellen Imbissbuden zu erhalten, die sich in den letzten Jahren mit einem Hang zum Überdimensionalen zu regelrechten Trattorien entwickelt haben. Vorsicht vor Kraken, die auf grossen Tellern serviert, vor deinen Augen kleingeschnitten und nur mit Zitrone gewürzt werden. Sie sind steinhart und voller Knorpel. Die Bewohner der Stadt mögen sie so, weil jede Weichheit für weibisch gehalten wird. Leiden heisst die Devise, auch wenn man Tafelfreuden geniesst. Neben den virilistisch-gastronomischen Angebereien gibt es in der Stadt auch ein Nahrungsmittel, das mehr als jedes andere stets hervorragend zubereitet wird. Es ist das genaue Gegenteil der bisher beschriebenen opulenten Gerichte: das Brot. Vielleicht liegt es am Wasser oder am Salz oder an sonstwas. Vielleicht auch an der grascia. Fest steht jedenfalls, dass das Brot der Stadt das beste Brot überhaupt ist. Solltest du immer noch nicht ausgehen wollen, versuch, dir ein Brötchen aufs Zimmer bringen zu lassen. Nur eines. Frag, ob es möglich ist, eines aus Vollkorn zu bekommen, das mit Sesamkörnern bestreut ist. Man wird sich erkundigen: „Weiter nichts?« Und du verneinst. Begnüg dich damit und hab Ver trauen. Sag, dass du einfach Lust darauf hast. Ein Brötchen ist genug. Das Brot der Stadt ist übrigens ein Brot für Arme, dazu gedacht, ohne etwas dazu gegessen zu werden. Ein Aufstrich ist überflüssig. Daher fällt es schwer, im Restaurant auf die Bedienung zu warten und dabei der Versuchung zu widerstehen, sich den Bauch mit Brot vollzuschlagen. Bleiben noch die Süssspeisen, und für die ist die Stadt berühmt. Das Symbol dieses Ruhms ist die cassata. Doch in ihrem Triumph aus Triglyceriden und pompösen Farbzusammenstellungen verkörpert die cassata nur das, was die Bewohner der Stadt von sich zeigen wollen. Ein Pendant zu dem traditionellen Karren, der ganz aus Zierat und Federbüschen besteht. Angesichts der fröhlichen Extrovertiertheit der klassischen cassata verdient allenfalls die fast einfarbige Schlichtheit der cassata al forno noch Erwähnung, deren Mürbeteighülle sich darauf beschränkt, als Schatzkästchen für die kostbare Ricotta zu dienen. Falls es überhaupt möglich ist, einen gemeinsamen Charakter der Stadtbewohner auszumachen, liegt er ohne jeden Zweifel in der Innerlichkeit der cassata al forno und nicht in der Äusserlichkeit der traditionellen cassata, dieses Zuckerwerks, das nur Fassade ist. Im Alltag ist die cassata eine ungebräuchliche Süssspeise, die man inzwischen fast nur noch kauft, um sie zu verschenken, um einer Pflicht zu genügen, um die Rechnung eines Freiberuflers in Naturalien zu bezahlen. Das gleiche gilt für den buccellato, eine herbe Variante des Strudels. Man verschenkt ihn zu Weihnachten, isst einen winzigen Happen davon und wirft den Rest noch vor dem Dreikönigsfest weg. Das ist so, weil die Konditorkunst der Insel, die beinahe vollständig arabischer Herkunft ist, höchst kalorienreich ist. Sie genügt der Anforderung, den höchsten Nährwert auf die kleinstmögliche Menge zu konzentrieren, und könnte dadurch gut und gern als Versuchsreihe für die Ernährung von Astronauten gelten. Ein Stück cassata ist so gehaltvoll wie eine ganze Mahlzeit. Das trifft auch für die cannoli und andere Spezialitäten zu, die, im Kalender nach Jahreszeiten und Festtagen gestaffelt, alle zusammen eine lange Reihe gutsortierter Süssigkeiten ergeben: gelo di melone; biancomangiare; Marzipanfrüchte; Marzipanschäfchen; kubbaita; pe trafennula; kandierte Kastanien; kandierte Äpfel; Zuckerpüpp chen; mustazzola cuccia; minne di vergine patata; sfinci di San Giuseppe; chiavi di San Pietro; cuori di Gesu; teste di turco sammartinelli und schliesslich die neueste phantasmagorische Erfindung eines Konditors aus der Via Colonna Rotta: die torta Setteveli, eine Schokoladentorte, dazu bestimmt, jede Zeit und jeden Geschmack zu überdauern. Durch die Forderung des modernen Lebens nach 95 leichter Kost wird das Aussterben oder die museale Bewahrung dieser süssen Spezialitäten absehbar. Ein Schicksal, das den trionfo di gola, eine pistaziengrüne Kalorienbombe, gegen die sich die cassata wie Diabetikerkost ausnimmt, vor gar nicht langer Zeit bereits ereilte. Zuletzt zubereitet wurde er von den Nonnen des Convento delle Vergini hinter dem Teatro Biondo, und zwar ausschliesslich auf Bestellung. Ein einheimisches Gerücht behauptete, die für die Ricotta verwendete Milch stamme von den Schwestern persönlich. Vom trionfo di gola ist bislang noch die gehaltvolle Schwere und die aufwendige Verarbeitung überliefert, doch in wenigen Jahren wird auch diese Erinnerung verschwunden sein. Im Panorama der Süssigkeiten verdienen die Eissortenein Kapitel für sich. Empfehlenswert unter den Eiscafes, die im Sommer Tische im Freien aufstellen, ist ein Cafe am Foro Italico, wo man noch immer so seltene und anderswo unbekannte Spezialitäten wie riso e chantilly oder scorsonera e cannella zubereitet. Das Lokal gehört unbedingt zu den auf unerklärliche Weise faszinierenden Orten einer Stadt, die in ihrer Gesamtheit auf unerklärliche Weise faszinierend ist. Man ist gern dort, doch man weiss nicht, warum: Gegenüber könnte das Meer sein, doch man sieht es nicht, die Kellner sind kurz angebunden, und aus dem Zustand der Einrichtung kann ein geübtes Auge schliessen, wie weit der Sommer bereits fortge schritten ist. Vom 14. Juli an, dem Tag, an dem das Fest der heiligen Rosalia begangen wird, stinken die Tischdecken, und es besteht der Verdacht, dass sie erst im September gewaschen werden. Das Cafe ist eines der alten Lokale, wo die Fliege in der granita zum Charme dazugehört. Die Fliege kann man jederzeit entfernen, der Charme bleibt. Verglichen mit den klassischen Konditoreiwaren müsste das Eis theoretisch weniger gehaltvoll sein. Doch es wird sofort mit der brioche kombiniert. Die brioche mit Eis ist einer der grössten Beiträge zum Fortschritt der Menschheit, den die Stadt je geleistet hat. Doch das heisst: Leichtigkeit ade. Auch hier bleibt es ein Rätsel, warum auf einem fast schon afrikanischen Breitengrad eine derart überladene Konditorkunst und - allgemeiner - Gastronomie Fuss fassen konnte. Die einzige plausible Erklärung ist, dass es sich um eine Form von cupio dissolvi handelt. Um den Wunsch nach Selbstzerstörung. Vielleicht erschliesst sich dieses Gefühl bei der Lektüre des Leoparden. Der Fürst sagt zu Chevalley: Alle Offenbarungen des sizilianischen Wesens kommen aus krankhafter Träumerei, auch die heftigsten; unsere Sinnlichkeit ist Sehnsucht nach Vergessen, unsere Flintenschüsse und Messerstiche Sehnsucht nach Tod; eine Sehnsucht nach wollüstiger Unbeweglichkeit - das heisst: wieder nach Tod - sind unsere Trägheit und auch unsere Eisgetränke. 96 Die Stadt liegt nicht am Meer Vielleicht liegt einer der Gründe für dein Zaudern im Hotel auch in den Zeitungsberichten, die du über die Lebensqualität gelesen hast. Dazu lässt sich nicht viel sagen. Zahlen sind Zahlen. Für die Bewohner der Stadt rückt einer der schlimmsten Augenblicke des Jahres heran, wenn die Zeitung Sole 24 Ore die Rangliste der Lebensqualität der italienischen Städte veröffentlicht. Es ist ein Moment allgemeiner Angst, weil zwar die Regierungen wechseln, doch die Stadt in dieser Rangliste stets ungefähr auf Platz einhundert bleibt. Manchmal auf Platz neunundneunzig, manchmal auf Platz einhunderteins, doch weiter entfernt man sich nicht. In manchen Jahren scheint es so, als habe sich etwas verbessert, zumindest in einigen Bereichen. Hoffnung keimt auf. Aber dann kommt jedesmal der Schlag ins Kontor: Platz einhundert. Platz neunundneunzig. Platz einhunderteins. Der Veröffentlichung der Liste folgt eine Woche voller Bürgerdebatten, privater Kommentare und öffentlicher Erklärungen. Von seiten der Stadtverwaltung beanstandet man die zugrunde gelegten Parameter, klammert sich an die sporadischen Anzeichen für eine Gegentendenz und schiebt die Verantwortung komplett auf die vorherige Regierung. Doch mittlerweile wird diese Rangliste seit zwanzig Jahren aufgestellt, und die Stadt kam, bis auf unmerkliche Verschiebungen, nicht von Platz einhundert herunter und schon gar nicht in aufstrebender Richtung, nicht einmal, als es irgendwann den Anschein hatte, als wäre sie die italienische Hauptstadt des neuen Rinascimento geworden. Meistens weist der Bürgermeister darauf hin, dass, falls überhaupt jemand, der Chef der Provinzverwaltung Anlass zur Sorge haben müsse, denn schliesslich werde die Erhebung auf Provinzebene durchgeführt. Doch dort verschwimmen die Verantwortungsbereiche und verlieren sich im Nichts. Also finden die Zeitungen immer einen Dichter oder Künstler oder Fernsehkomiker, der bereitwillig erklärt, dass er um keinen Preis der Welt in Bozen (um die Stadt zu nennen, die auf Rang eins der Liste liegt) leben wolle, weil es dort kalt sei. Die Bewohner unserer Stadt lesen das und lächeln sardonisch. Auch diese alljährliche Demütigung wird in einen verschämten Stolz umgewandelt. Zum Teufel mit Sole 24 Ore und seiner Liste. Was wollen denn diese Mailänder? Was verstehen die schon vom Leben, wo es bei denen immer neblig ist und wenn einem auf der Strasse schlecht wird, kein Mensch stehenbleibt, um ihm zu helfen? Ob wirklich kein Mensch stehenbleibt, wenn in Mailand jemandem schlecht wird, und in unserer Stadt dagegen jeder stehenbleibt, muss erst noch bewiesen werden. Doch gehören meteorologische Gesichtspunkte bei der Erstellung der Rangliste tatsächlich nicht zu den berücksichtigten Faktoren. Und das ist ein Trost. Mag es auch eine Binsenwahrheit sein, doch der Umstand, auf eine hohe Anzahl von Sonnentagen verweisen zu können, hilft, darüber hinwegzukommen, dass man in der einhundertsten Stadt Italiens wohnt. Selbst an grauen Tagen erwartet jeder eine Wetterbesserung, die das Herz weit für die Hoffnung öffnet. Heute mag es frühmorgens regnen, später vielleicht nicht mehr, morgen vielleicht ja, doch nicht den ganzen Tag. Das ist immer noch besser als ein Winter mit einem niedrigen, dunklen Himmel ohne Abwechslung und ohne die Aussicht auf eine Wetterän derung. Mag sein, dass Binsenwahrheiten banal sind, doch manchmal sind sie deswegen nicht weniger wahr. Das sollte Sole 24 Ore nicht ausser acht lassen. Gleichwohl rückt diese Betrachtung gefährlich in die Nähe eines unbegründeten Alibis. Mehrere Jahrhunderte lang rieten die Ärzte in ganz Europa ihren Patienten zu einer Reise auf die Insel, damit sie ihre Atemwegs leiden kurieren konnten. Ein Heilmittel, das sich oft als schlimmer als die Krankheit erwies. Auch Wagner, der zum Überwintern hergekommen war, musste mit ansehen, wie sein geliebter Sohn Siegfried an einem Fieber erkrankte, und glaubte von da an nicht mehr an die Vorzüge des gesunden Klimas, das er hier gesucht hatte. Und immer so weiter. Zahlreich sind die Begüterten, die aus gesundheitlichen Gründen auf Reisen gingen, in die Stadt kamen und hier in den schlechtbeheizten Unterkünften, die sie nicht gewohnt waren, den Gnadenstoss empfingen. Solltest du genügend Mut aufbringen, mein lieber Reisender, so geh auf den Friedhof Santa Maria di Gesu, wo zahllose Grabsteine mit ausländischen Namen stehen. Versuche, dir an jedem von ihnen das Schicksal eines armen Reichen auszumalen, der gekommen war, um fern von der Heimat zu sterben, mit verstopften Lungen und einem für die Hoffnung weit geöffneten Herzen. Klimatische Klischees treten im Süden häufig in Gestalt von Schlagern auf: Basta che ce sta o sole, basta che ce sta o mare, und das ist nun wirklich zuviel. An dieser Stelle muss man den Stereotypen Einhalt gebieten. O Sole mag ja noch angehen. Aber O Mare? Wer hat es denn jemals gesehen, das Meer in der Stadt? Wärst du doch nur ein unternehmungslustigerer Reisender, dann könntest du - wenn du kannst - versuchen, die ganze Küste abzuklappern, von Südosten bis Nordwesten, von Settecannoli bis Sferracavallo. Versuch, wenn du kannst, mit dem Auto möglichst nahe am Meer zu bleiben, und halte jedesmal an, wenn du es siehst oder für erreichbar hältst. Schon bei der Abfahrt würdest du nichts anderes entdecken als ein Kontinuum aus Mauern und Lattenzäunen. In Acqua dei Corsari ist das Meer dann endlich zu sehen, doch davon hat man nichts, denn es stinkt, und der Strand ebenso. Es folgt La Bandita, wo das Meer hin und wieder auf taucht wie eine Tafel aus braunem Schaum mit einem Saum aus Sand und Abfall, mehr Abfall als Sand. Seit mindestens fünfzig Jahren verwahrlost dieser Strandabschnitt. Es soll da zwar ein Projekt zur Sanierung der Küste geben, doch da es schon seit den achtziger Jahren existiert, ist es zwecklos, sich darauf zu verlassen. In Romagnolo stehen Schilder, die das Baden verbieten, doch sie sind des Guten zuviel, weil der braune Schaum an sich schon genügt, um den Badefreund zu entmutigen. Am Ufer stehen einige alte Häuser, doch nichts Modernes. Selbst der unverfrorenste unter den Bausündern käme nie auf die Idee, an so einem Meer zu bauen. In Sant‘Erasmo beginnt eine Reihe von Mauern und Zäunen, hinter denen keine Häuser liegen, sondern Eisenwarendepots, kleine Betriebe, die einen billigen Standort am Meer suchten. Wie man sieht, kostet es weniger. In Sant‘Erasmo liegt auch die Mündung des Oreto, eines Flusses, der dieses Meeres würdig ist, und noch ein Stück weiter trifft man auf das Istituto Padre Messina, das den Anfang des Foro Italico oder auch von La Marina markiert, also dessen, was früher einmal die Strandpromenade der Stadt gewesen war. Nur dass das Meer jetzt zweihundert Meter von der Strasse entfernt ist. Ausgerechnet dort hat man die Trümmer der Bombenangriffe abgeladen, und folglich hat sich das Meer zurückgezogen. Bis vor wenigen Jahren hatte man auf dieser Landzunge definitiv provisorisch auch einen Vergnügungspark eingerichtet und sogar einen kleinen Platz aus weissem Marmor mit einer Mannschaft von Heiligenstatuen, die aufgerufen waren, das Wunder einer ambientalen Aufwertung zu vollbringen. Das Wunder misslang, und die heiligen Herrschaften wurden später in das Stadtviertel Zen transferiert, damit sie dort ein womöglich noch komplizierteres Wunder in Angriff nahmen. Wegen dieses Geländes lagen sich die Gärtner der Stadtverwaltung und die eines privaten Unternehmens eine Zeitlang in den Haaren und stritten darüber, welches die beste Methode sei, hier englischen Rasen anzulegen, doch ohne dass sie je zu einer Lösung gelangt wären, die dem Salzgehalt mehr als sechs Monate hätte trotzen können. Jetzt gibt es ein paar Bäume dort, und wenn man sich konzentriert, kann man, ganz weit hinten, einen Streifen erkennen, der blau zu sein scheint. Dann kommt La Cala. La Cala ist der alte Hafen, der heute teils ein Yachthafen, teils eine Umweltkatastrophe ist. Um das Meer von La Cala, dessen Färbung ins Schleimweisse spielt und dessen Konsistenz ölig ist, ranken sich die Legenden. Man erzählt sich, dass bei den Fischern seit Jahren nur noch die Ratten anbeissen. In den Augen der Reeder aus aller Welt ist La Cala ein idealer Friedhof, weil man dort Schiffe versenken kann, deren Verschrottung zu teuer wäre. Man munkelt auch von einem Volk menschlicher Ameisen, die bei der Ankunft jedes neuen Bootes, das ausgeschlachtet werden soll, nach La Cala eilen und mit der Zerlegung beginnen. Sie tragen alles fort, was nicht niet- und nagelfest ist, und versenken das Skelett anschliessend. Manchmal dümpelt das Wrack noch an der Wasseroberfläche und behindert die Schif�fahrt, manchmal ragt der Grossmast heraus und wird seinerseits zum Anlegeplatz weiterer abzutakelnder Boote, die nun auch ihrem Untergang entgegensehen. Setzt man den Weg fort, taucht hinter La Cala eine Front von Palazzi auf. Wenn du dort ankommst, vergiss nicht, dir die Balkons an der Hauptfassade dieser Häuser anzusehen: Sie gehen auf das Festland hinaus. Vor die Wahl zwischen dem Blick aufs Meer und dem 97 Blick auf andere Palazzi gestellt, haben sich die Architekten dieser Häuser anstandslos für die zweite Variante entschieden. Schon Leonardo Sciascia hat darauf hingewiesen, dass die Stadt dem Meer den Rücken zudreht. Die Stadtbewohner verzichten leichten Herzens auf die Verlockung eines blauen Panoramas. Das Meer hört man und ahnt man, doch zu sehen ist es beinahe nirgends, und man will es auch gar nicht sehen. Auch als man mit einer provisorischen Gestaltung des Foro Italico begann, setzten sich die Leute verkehrt herum auf die Marmorbänke, um nicht, wie es deren Anordnung entsprochen hätte, das Meer zu betrachten, sondern lieber die Stadt, die ja schon immer vor aller Augen war. Noch ein Stück weiter liegt das Hafengelände, über das ein Urteil abzugeben unfair wäre: In jeder Grossstadt ist der Hafen aus unerfindlichen Gründen der letzte Ort, von dem aus man das Meer sehen kann. Man sollte sich immer rechts halten und darauf vertrauen, dass dort, wo der Zoll ist, auch der Hafen sein muss, und der Hafen muss unweigerlich am Meer liegen. Trotzdem verschwindet das Meer hier für einige Kilometer. Wir biegen in den Viale Cristoforo Colombo ein und stossen fast unmittelbar auf die Werft, die ein Trost ist: Sie stellt nicht nur den grössten Industriezweig der Stadt dar - der zweitgrösste ist, man stelle sich vor, das Teatro Massimo -, sondern ihrer Natur gemäss muss sie zwangsläufig am Meer liegen. Das Meer ist da, das muss man sich gesagt sein lassen. Das muss man einfach glauben. Und weiterfahren: Arenella, Acquasanta, Vergine Maria. Nun taucht ein kleiner Touristenhafen auf, doch man kommt unmöglich näher heran, wenn man nicht eines der am Pier liegenden Motorboote besitzt. Das Meer liegtgleich dahinter und regt, wie es häufig geschieht, zu tiefgründigen Gedanken an, besonders, wenn es die Gestalt einer Bucht annimmt. Wenn du hier wärst, würdest du dich wie jeder anständige Reisende gehalten fühlen, stehenzubleiben und nachzudenken. Einer der edelsten Gedanken, die dir angesichts des majestätischen Panoramas vor deinen Augen in den Sinn kämen, ist: Wie machen es all diese Leute bloss, all dieses Geld zu haben und all diese Boote zu besitzen? War das hier nicht eine Stadt mit geringem Pro-KopfEinkommen? War Unternehmermentalität denn hier nicht nur ein blasses Hirngespinst? Und wenn dies keine Unternehmer sind, was sind das dann alles für Leute, die sich eine Yacht leisten können? Was das angeht, könntest du solche Fragen unentwegt auch angesichts der Zaungitter am Ende einer Strasse stellen, hinter denen man fast schon auf die Klippen gebaute schlösschenartige Villen sieht. Oder auch angesichts der Masse von Luxusgeschäften in der Via Liberta. Wenn Vuitton beschliesst, ausgerechnet hier eine Filiale zu eröffnen, heisst das, dass man sich schon über die potentielle Kundschaft Gedanken gemacht haben wird. Und wenn bei den Zusammenkünften der Volvo- und BMW - Händler aus ganz Europa die Vertragspartner aus der Stadt mit grossem Beifall begrüsst werden, hat das gewiss seine Gründe. Nur dass hier im Gegensatz zu anderen Orten nie98 mand, der wirklich Geld hat, auch nur den geringsten Wert darauf legt, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen. Man präsentiert sich allenfalls im engsten privaten Kreis. Unter Freunden ist die Yacht durchaus ein Luxus, den man ganz auskosten muss. Doch wenn die richtigen Reichen ein Fest veranstalten, verhindern sie tunlichst, dass in irgendeinem Blättchen ein Photo davon auftaucht. Wer dagegen alles daransetzt, in Erscheinung zu treten, ist die demi-monde. Jene demi-monde, die sich in Schwarz kleidet und es eitel gestattet, dass sie gesehen wird, während sie die Stufen zum Teatro Massimo hinaufgeht, um sich der mondänen Langeweile eines Opernbesuchs zu unterziehen. Die richtigen Reichen halten sich fern, genauso wie sie es gern vermeiden, in der Liste der grössten Steu erzahler aufzutauchen. Denn warum sonst ist es in der Stadt so schwierig, einen wie auch immer gearteten Sponsor zu finden? Warum sonst sollte die örtliche Fussballmannschaft von jeher solche Mühe haben, einen Präsidenten zu finden, einen einheimischen Unternehmer, der bereit ist, nicht nur sein Geld zur Verfügung zu stellen, sondern auch seinen Namen? Mit etlichen Präsidenten hat es in der Vergangenheit vielleicht gerade deshalb ein schlimmes Ende genommen, weil sie sich allzuweit in die Öffentlichkeit gewagt hatten. Unauffällig leben ist die oberste Maxime der eigentlichen Mächtigen der Stadt. Und das nicht nur, weil man der Strenge des Fiskus entgehen möchte. Doch irgendwo müssen sie ihre Yachten ja lassen, und überhaupt tun solche Gedanken nichts zur Sache. Wir müssen weiterkommen, wir müssen das Meer finden. Wir müssen versuchen, ganz dicht heranzukommen, auch wenn das nicht leicht ist. Das imposante Hotel, das sich uns irgendwann in den Weg stellt, heisst Villa Igiea. Wärst du dort Gast, könntest du das Meer schon sehen, wenn du dich auf den Balkon stelltest. Allerdings könntest du nicht hineintauchen: Baden verboten. Die Fahrt muss also weitergehen, immer an der Küste entlang, sofern das möglich ist. Nach einem Kilometer, in Arenella, wird das Meer erneut sichtbar, dann verschwindet es wieder und taucht für knappe, unvergessliche, kurzlebige Ansichtskarten erneut auf. Bis Addaura sehen wir eine Abfolge von Mauern und Gitterzäunen, dazu mit Ketten verschlossene Tore, die vermutlich jedem, der kein Recht darauf hat, den Blick auf das Meer verwehren sollen. Und du, lieber Reisender? Auf welche Rechte könntest du pochen? Du, der du womöglich aus einer Stadt ohne Meer kommst, willst es ausgerechnet hier finden? Doch weiter. Die Kostproben vom Meer, die dem Auge vereinzelt gewährt werden, sind nicht der Rede wert, aus unserem Ausflug ist mittlerweile eine Fahrt von zwanzig Kilometer Länge geworden, und es fehlen nur noch wenige Kilometer bis zu dem Ziel, das auf dem langen Weg von Anfang an hätte angesteuert werden müssen: Mondello, der beliebteste Badeort der Stadtbewohner. Jetzt gilt es nur noch ein letztes Bollwerk in Form des Monte Pellegrino zu umfahren, eine letzte Kurve zu nehmen, ein letztes Gitter zu ignorieren, und schon kommt Mondello, das wie der Inbegriff einer Postkarte aussieht. Versuch, dir das vorzustellen. Versuch, dir die Bucht vorzustellen, wie sie auf den Mailänder Ingenieur Pietro Scaglia gewirkt haben muss, der eines schönen Tages im Jahr 1902 auf den Monte Pellegrino stieg, hinunterschaute und beim Anblick dessen, was damals ein Sumpfgebiet am Meer war, eine Idee davon bekam, was einmal Mondello werden könnte. Wahrscheinlich stellte er es sich mit weniger Schildern und weniger Ferienhäusern vor, als jetzt dort zu finden sind, doch der Rahmen und alles andere waren genauso wie heute. Er verliess also Mailand und zog auf die Insel, um seine Idee in die Tat umzusetzen. Er reichte einen Plan zur Melioration und Parzellierung der gesamten Bucht ein und wartete. Während Ingenieur Pietro Scaglia wartete, legte ein Konkurrent, die Belgisch-Italienische Gesellschaft, gleichfalls einen Antrag auf Parzellierung vor, der seinem sehr ähnelte, ja praktisch identisch damit war. Am Ende siegte der später eingereichte Vorschlag, also der von der Belgisch-Italienischen Gesellschaft, und Ingenieur Pietro Scaglia, der sein Vermögen und seine Existenz in dieses Projekt gesteckt hatte, nahm sich aus lauter Kummer das Leben. Irgendwo in Mondello gibt es eine kleine Gasse, die seinen Namen trägt. Melioration und Parzellierung wurden also durchgeführt, und wie. Damals gab es dort sogar einen Golfplatz und eine Strassenbahn, die durch den Parco della Favorita führte und Mondello mit der Stadt verband. Die Häuser wurden so wie in Ostende gebaut, denn in der Eile der Parzellierung hatte man beschlossen, das Modell einer belgischen Kleinstadt zu kopieren. Daher rührt das elegante, unpassende Äussere mancher Villen, die im Wohngebiet des Badeorts stehen. Sein ursprünglicher Kern bestand aus einer Ansamm lung von Fischerhäusern, die sich dicht um die Thun fischfangsteIle drängten. Von diesem Fangplatz ist nur noch der Turm an der Piazza erhalten, umzingelt von Bars und kleinen Restaurants, die vornehmlich samstags, sonntags, im Juli und im August geöffnet haben, wenn die Bewohner der Stadt in Massen nach Mondello strömen und es in ein gastronomisches Dorf verwandeln, wo man schlecht und teuer isst. Auch deshalb, weil in einer Stadt wie der unseren, wo der Vorteil, im Freien zu sitzen, dreihundert Tage im Jahr genutzt werden könnte, die einzigen Cafes mit Sonnenplätzen und Blick aufs Meer sich ausgerechnet hier auf der Piazza befinden. Die Beziehung, die die Bewohner der Stadt zu Mondello unterhalten, hat etwas ganz Eigenes. So kommt es zu so paradoxen Erscheinungen wie etwa Ferienhäusern, die nur fünf, sechs Kilometer von der Stadtwohnung entfernt gebaut werden. Trotzdem ziehen die Familien jedes Jahr im Juni feierlich nach Mondello um, wo sie für drei Monate die Annehmlichkeiten eines Urlaubs am Meer geniessen. Wieder einmal tritt der für die Bewohner der Stadt typische Hang zur Verschwendung zutage. Von Mondello nehmen sie nur das Schlimmste - das sommerliche Gedränge - und lassen das Beste ungenutzt: Herbst, Winter und Frühling, wenn das Chaos anderswo tobt, die Kälte nur kühl ist und die Wärme einfach mild. Zwischen Juni und September ist das Meer ausserdem gar nicht vorhanden. In dieser Zeit wird der Strand von Ba dekabinen in Beschlag genommen, die hier, als wäre man in Afrika, capanne, Hütten, genannt werden. Auch zu ihrer Hütte haben die Bewohner der Stadt ein ganz eigenes Verhältnis. Besonders diejenigen, die sich kein Ferienhaus leisten können, neigen dazu, die Hütte als ein solches zu betrachten, und machen ein Behältnis für jegliche Form von Komfort daraus. Früh am Morgen treffen die Familien ein, mit der Hütte als Stützpunkt, und kehren erst spätabends und widerstrebend in die Stadt zurück. Du solltest einmal versuchen, im Juli herzukommen. Die Freiflächen zwischen den Strandhütten werden bewusst cortili, Höfe, genannt, denn sie reproduzieren haargenau den Lebensraum des früheren mittelalterlichen Hofes und das Gemeinschaftsleben, das sich dort abspielte. Bis zum Sonnenuntergang - und auch noch danach, beim Licht von Acetylenlampen - spielt man in den Höfen des Strandes Karten, isst Nudelauflauf und übt sich in Konversation. Das alles mindestens bis Mit ternacht. Dann räumt man Tische, Stühle, Lampen, Hausrat, Nippes in die Hütte und fährt zurück in die Stadt. Doch in dem Bewusstsein, dass dies nur für die wenigen Stunden ist, die unausweichlich dem Schlaf vorbehalten sind; und am nächsten Tag kommt man wieder. Im Winter ist Mondello anders. Zunächst, weil man dort das Meer sehen kann, man kommt unmittelbar damit in Berührung. Und dann, weil diese Berührung möglich ist, ohne dass die Strandhütten im Weg sind. Irgendwann hatte man - doch nur für den tiefsten Winter - sogar beschlossen, den grünen Zaun abzubauen, der am Strandzugang den Blick auf die Bucht versperrte. Offiziell sollte er eine unangebrachte Nutzung des Sandstrands verhindern, eine Formulierung, von der kein Mensch weiss, was sie zu bedeuten hat. Der Strand ist zum Spazierengehen da, und der Zaun hatte ohnehin jede Menge Löcher. Was kann das also heissen? Dass der einzige plausible Grund, ihn stehenzulassen, der war, den Blick auf das Meer zu verwehren. Und trotzdem - jedes Jahr im Frühling stellen sie ihn wieder auf, und wieder heisst es: Panorama ade. Der Zaun von Mondello ist eine der besten Metaphern für das Verhältnis zwischen Stadt und Meer. Ein Verhältnis, das sich mit wenigen Worten zusammenfassen lässt: Die Einwohner der Stadt pfeifen auf das Meer. In der Überzeugung, von den Göttern abzustammen, verzichten sie mit der gleichen Arroganz auf das Meer, mit der sich ein Reicher seine Zigarre an einem Geldschein anzündet. Nur dass die Bewohner der Stadt alles andere als reich sind. Schlimmer noch, sie haben in vielerlei Hinsicht Flicken auf dem Hintern, doch deshalb verzichten sie nicht auf eine Grossspurigkeit, die ganz unbegründet ist. Sie haben das Meer, doch sie haben beschlossen, ohne es auszukommen. Sie lassen es weg wie das Trinkgeld im Restaurant, wenn man, 99 von dringenderen pflichten und wichtigeren Gedanken gerufen, davonläuft. Worin diese dringenderen Pflichten und wichtigeren Gedanken bestehen könnten, hat man nie erfahren. Doch sie pfeifen wirklich auf das Meer. Man muss sich nur einmal die Reaktionen ansehen, wenn entdeckt wird - und hin und wieder wird es entdeckt -, dass das Meer auch in Mondello ein einziges Gewimmel von Streptokokken und Staphylokokken ist. Die Stadtverwaltung verhängt ein Badeverbot, und was ändert sich bei den Bewohnern der Strandhütten? Nichts. Die Kartenspiele am Strand gehen weiter, die Auflaufformen mit den Nu deln kreisen nach wie vor unter den Sonnenschirmen, und die Duschen ersetzen das Bad im Meer. Nur ein kleiner Teil der Einwohnerschaft hat daran etwas auszusetzen. Die Mehrheit zieht es vor, über solchen Widrigkeiten zu stehen. Für eine Hütte am Meer zu bezahlen, obwohl praktisch das Meer fehlt, wird als normal empfunden. Sich beklagen, ja, immer. Doch protestieren wäre fehl am Platz, vielleicht sogar ein kleines bisschen vulgär. Die Stadt ist manchmal zum Verzweifeln, doch fast nie verzweifelt. Würde man hinter Monte Gallo weiter die Küste ent langfahren, käme man zur Fossa dei Gallo, wo das Meer noch nahezu sauber ist. Doch um das zu durchqueren, was auf der Karte als Naturschutzgebiet gilt, müsste man eine Mautgebühr an einen privaten Eigentümer zahlen. Naturschutzgebiet hin oder her, die Strasse, die am Meer entlangführt, gehört ihm. Noch ein Stück weiter käme Sferracavallo, ein weiterer Küstenort, doch du hättest recht, wenn du dich an dieser Stelle müde und verzagt fühlen würdest, nachdem du entdeckt hättest, dass es trotz aller Garantien, die die Kartographie liefern kann, das Meer in der Stadt nicht gibt oder dass es nicht zu sehen ist oder dass es verschmutzt ist oder dass es Privateigentum ist. Ich kann dich verstehen. Fast könnte man denken, du hättest recht, wenn du das Hotel nicht verlassen willst. Doch das stimmt nicht. Aus schwer erklärbaren Gründen stimmt es nicht. 100 Praktiken selbstinszenierter Exotik Reden die Bewohner der Stadt über ihre Vergangenheit, neigen sie ein wenig zur Schaumschlägerei. Geben ein bisschen an. Wie in Neapel und wie vielleicht in allen Städten Süd italiens erzählt man sich auch hier die Geschichte vom Taxifahrer, der sich mit einem Fahrgast aus dem Norden streitet. Sagen wir, der Einfachheit halber, mit einem Mailänder. Der Mailänder glaubt, übers Ohr gehauen worden zu sein, und es ist nicht ausgeschlossen, dass er recht hat. Er lässt einen Wasserfall von Beschimpfungen auf den Taxifahrer los, der mit einer Einleitung beginnt, die wahre Rassisten immer verwenden: »Ich bin ja kein Rassist, aber ... « Es folgt eine Reihe altbekannter Beleidigungen: »Wir arbeiten uns krumm, und ihr denkt nur ans Klauen, ihr Hinterwäldler ... « Und so weiter und so fort. Nachdem der Fahrgast sein Repertoire an Beleidigungen aufgebraucht hat, verstummt er endlich, um Luft zu holen. Erst jetzt kommt die Antwort des Fahrers: »Als ihr noch in Höhlen gehaust habt, waren wir schon schwul.« Auch wenn es sich hier nur um einen Satz aus der städtischen Gerüchteküche handelt, steckt darin doch der ganze Stolz, den die Bewohner der Stadt aus der Überzeugung ableiten, jetzt zwar heruntergekommen, doch zuvor dekadent und noch früher die Herren der Welt gewesen zu sein. Gemeinhin bildet sich jeder gern ein, er habe eine glückliche Kindheit verbracht. So etwas tut auch ein Gemeinwesen. Die Bewohner der Stadt haben ihren verschämten Stolz dahingehend verfeinert, dass sie sich eine nicht näher bezeichnete edle Abkunft zulegten. Eine Sehnsucht, die man als selbstexotisierend bezeichnen könnte: teils masturbatorisch, teils mit dem Hang, ein exzentrisches Bild von sich zu zeichnen. Bei diesen Praktiken selbstinszenierter Exotik gefällt sich die Stadt als originell, widersprüchlich und malerisch, wenn auch inzwischen von dem Thron gestürzt, den sie sich selbst errichtet hatte. »Sie halten sich für Götter«, schrieb Tomasi di Lampedusa. Und falls das nicht stimmt, fehlt zumindest nicht viel. Wann es diese glücklichen Zeiten gegeben haben soll, in denen die Stadt die Herrin der Welt war, lässt sich auf rein historischer Grundlage nur schwer beantworten. Manche datieren sie ans Ende des 19. und an den Beginn des 20. Jahrhunderts, als der russische Zar und der deutsche Kaiser die Targa Florio besuchten und die kaiserlichen Schiffe vor der Villa Igiea ankerten. Andere hingegen bewahren Friedrich II. ein ehrendes Gedenken, da sie ihn für so ziemlich den letzten Souverän halten, auf den sich die nunmehr verflüchtigten Hoffnungen auf einen modernen, weltlichen Staat richten konnten. Dass mit der poetischen Sinnlichkeit des Herrschers auch eine gewisse blutrünstige Schroffheit einherging, bleibt ein Thema am Rande, das den Bewohnern der Stadt keineswegs missfällt. Bei uns bewundert man die charismatische Persönlichkeit, den Mann, der sich mit allen Mitteln Geltung verschaffen kann. Und selbst wenn diese Mittel gesetzlos sein soll- ten, na wenn schon: Was wäre er sonst für ein Mann? Hauptsache, er lässt sich nicht erwischen. Doch abgesehen von der Prahlerei gab es tatsächlich eine kurze Zeit, in der die Stadt einen glänzenden Aufschwung erlebte. Das war während der arabischen Fremdherrschaft. Die Bewohner der Stadt hegen in bezug auf ihre Vergangenheit eine mehr oder weniger bewusste arabische Nostalgie. Die arabische Identität wird ebenso wie die mit der Mafia verbundene fast schon überheblich herausgekehrt: So ist es eben, wenn es uns so passt. Solltest du dich endlich entschliessen, dein Zimmer zu verlassen, wirst du allerdings entdecken, dass aus der arabischen Zeit nicht ein einziges architektonisches Zeugnis erhalten ist. Das erste, was den normannischen Königen einfiel, nachdem sie die Stadt eingenommen hatten, war, die Moscheen und andere Bauwerke aus der Zeit vor ihrer Eroberung dem Erdboden gleichzumachen eine regelrechte Auslöschung der Vergangenheit. Aus diesem Grund findet man heute strenggenommen nur wenig arabische Spuren. Allerdings legten die normannischen Könige später die Arroganz der Sieger ab, überlegten es sich anders und sahen ein, dass sie von den Arabern einiges lernen konnten. Das muss man den neuen Herrschern der Stadt wirklich lassen: Nachdem sie mit einer Kultur in Berührung gekommen waren, die der ihren diametral entgegengesetzt war, wurde ihnen fast augenblicklich klar, dass das spartanische Leben, das sie bis dahin geführt hatten, allzu beschwerlich war. Kriege zu führen und zu gewinnen war ja gut und schön, aber was dann? Wozu das alles? Es gibt eine Redensart, die dazu angetan ist, dem, der zuviel arbeitet und zuwenig von den Früchten seiner Arbeit erntet, den Wind aus den Segeln zu nehmen: Willst du etwa der Reichste auf dem Friedhof werden? Jedenfalls musste man den Arabern zugestehen, dass sie mehr Talent hatten, das Leben zu geniessen. Deshalb hüteten sich die diversen Rogers und Wilhelms wohlweislich, die arabischen Spezialisten zu verjagen, ja sie öffneten ihre Höfe für Dichter, Wissenschaftler und Beamte, für alle Wahrer einer fremden, doch äusserst faszinierenden Kultur. Die Stadt war nämlich damals, verglichen mit dem übrigen Europa, gar nicht so übel. Während sich, um nur ein Beispiel zu nennen, die übergrosse Mehrheit der Bevölkerung im Florenz zur Zeit des Dolce Stil Nuovo noch mit der Krätze herumschlug, war dieses Leiden hier weit weniger verbreitet. Das war der Möglichkeit, sich zu waschen, und der grossen Verfügbarkeit von Wasser zu verdanken, das durch kunstvoll angelegte Leitungen, auf deren Bau die Araber sich meisterhaft verstanden, in die Stadt gelangte. Doch die normannischen Könige wussten nicht nur die Aquädukte der arabischen Baumeister zu schätzen, sondern liessen sich von ihnen vor allem auch sogenannte sollazzi bauen, Lustschlösschen vor den Toren der Stadt, in denen die Herrscher sich von den Regierungsgeschäften erholen und sich mit den jeweiligen Mätressen verlustieren konnten. Einige dieser Bauwerke sind noch zu besichtigen und mittlerweile vollkommen in die bauliche Struktur der Stadt integriert. Am besten erhalten ist die Zisa - die Prächtige-, die Wilhelm 1. in vollkommener Nachahmung der arabischen Vorbilder erbauen liess. Die gleiche Funktion erfüllte Schloss Cuba, von Wil helm II. in der Absicht errichtet, es dem Kult der Musse zu widmen. Heute schmiegt es sich nahezu unvermutet in den Kreis der Palazzi am Corso Calatafimi, und man muss sich sehr anstrengen, um sich den Park vorstellen zu können, in dessen Zentrum das Schloss einmal stand. Dorthin verlegte Boccaccio in seinem Dekameron die sechste Novelle des fünften Tages. Nicht weit entfernt befinden sich, versteckt im Park der Villa Napoli aus dem 18. Jahrhundert, zwei weitere kleine Bauwerke aus normannischer Zeit mit arabischen Einflüssen: die Cuba Soprana und die Cubula. Der Corso Calatafimi ist eine ideale arabischnormannische Touristenroute. Auf ihm gelangt man auch zum Dom von Monreale, den die beiden Wilhelms als ihre letzte Ruhestätte auserkoren hatten. Als gutunterrichteter Reisender wirst du viel von den Mosaiken des Doms gehört haben, und diese Sehenswürdigkeit sollte genügen, um dich aus deinem Unterschlupf aufzuscheuchen. Solltest du jemals den Mut aufbringen, dein Zimmer wenigstens für ein paar Stunden zu verlassen, müsstest du dorthin gehen, zum Dom und zum Kloster. Denn dort findest du den besten Beleg für den Kosmopolitismus der Stadt in der Zeit um das Jahr 1100, für ein multikulturelles Zentrum, wo arabische, normannische und byzantinische Künstler in enger Gemeinschaft und mit einer grossen Begabung für eine Synthese der Stile zusammen arbeiteten. In der Klosteranlage befindet sich ein eckiger Brunnen mit einer stilisierten Palme, die hundertprozentig arabisch ist, obgleich sie in einem benediktinischen Umfeld liegt. Bei der Beschreibung des Doms verbietet nur die Zurückhaltung weitere Superlative: Geh und sieh ihn dir mit eigenen Augen an. Gemeinhin ist man der Auffassung, dass man sich dank dieser tiefverwurzelten Tradition des harmonischen Miteinanders in der Stadt keiner eklatanten Bekundungen von Rassismus entsinnen kann. Nur manchmal legt sich die Polizei mit farbigen illegalen Parkwächtern und Prostituierten an, ohne dass die Bevölkerung einschreitet. Wären es einheimische Parkwächter und Prostituierte, liesse ein Aufruhr im Viertel nicht lange auf sich warten. Doch für Ausländer, nein, da rührt sich niemand. Aber das ist Gleichgültigkeit, keine Feindseligkeit. Und es ist das einzige Symptom. Im übrigen geht es nicht darum, den, der anders ist, zu tolerieren; hier lebt man ohne solches Aufheben zusammen, ohne umständliche Theorien und ohne ostentative Brüderlichkeit. Jedenfalls bis heute. Auch in dieser Hinsicht ist in den Gesichtern der Zwanzigjährigen eine fatale Anfälligkeit zu lesen. Morgen könnte einer von ihnen auf die Idee kommen, dass es eine trendy Methode wäre, einen Obdachlosen anzuzünden oder einen Marokkaner zu ertränken, um Abwechslung in einen gewöhnlichen Samstagabend 101 zu bringen. Die Dinge ändern sich, und die Zukunft des harmonischen Miteinanders lässt sich nicht garantieren. Vorläufig jedoch schwingt soviel Arabisches in der Luft, dass es dir schwerfallen dürfte zu glauben, es gebe hier eigentlich keine arabischen Bauwerke. Du hast viele Bilder gesehen, und besonders die roten Kuppeln auf zahlreichen Kirchen sprechen eine deutliche Sprache. Doch abgesehen davon, dass sie heute nur wegen einer kapriziösen Restaurierung rot sind, gibt es hier auch einen Fehler im Geschichtsbild, der auf den Umstand zurückgeht, dass sich die Normannen sogar die Kirchen von den Moslems bauen liessen. Aus normannischer Zeit stammen die arabischen und gleichwohl höchst christlichen Kirchen La Magione, Dei Vespri, San Giovanni dei Lebbrosi, San Giovanni degli Eremiti, Santa Maria dell‘Ammiraglio und San Cataldo. Die Kuppeln sind irreführend, sie waren nur eine Zierde, die die neuen Herrscher nicht störte. Um zu sehen, wie gross der islamische Einfluss auf die Stadt war, sollte man, ungeachtet der nur spärlichen architektonischen Überreste, La Kalsa besuchen, ein Viertel, das zumindest auf den ersten Blick nur wenige Zeugnisse aus arabisch-normannischer Zeit aufweist. Doch hier zeigt sich mehr als anderswo, dass es nicht auf die Besichtigung einzelner Bauwerke des Viertels ankommt. Es kommt darauf an, dass man dort spazierengeht. La Kalsa war ursprünglich eine Zitadelle am Ufer des heute nicht mehr existierenden Flusses Kemonia, wo sich im Jahr 937 die Emire mit ihrem Hof niederliessen. Auch der Name des Stadtviertels ist arabisch: Al Halisa, die Auserwählte. Noch heute sprechen seine Bewohner einen mit besonderen Lauten gespickten Dialekt. So hat sich zum Beispiel der aspirierte Anlaut erhalten. Sie sagen: la Hausa. Und natürlich sind sie stolz auf ihre Herkunft und auf die Geschichte, die hinter ihnen liegt. Obwohl ihre Geschichte eine schreckliche ist. Am 9. Mai 1943 kamen alliierte Flugzeuge, um das Stadtviertel La Kalsa auszulöschen. Die Bomber sollten den alten Hafen zerstören und, wo sie schon einmal da waren, auch das Hinterland. Es gibt Photos von den Tagen danach, auf denen La Kalsa praktisch nicht mehr existiert. Man sieht darauf nichts als Trümmer. Überall Trümmer. Doch neben den Zerstörungen und den Toten - vielen Zerstörungen und vielen Toten - brachte der grosse Bombenangriff auch ein Unheil mit sich, gegen das man noch heute kaum etwas tun kann. Die Stadt bemerkte bei dieser Gelegenheit, dass sie ernsthafte Probleme mit der Vernarbung und, noch zuvor, mit der Wundheilung hat. Von 1943 bis heute hat sich die Wunde von La Kalsa nicht geschlossen, trotz verschiedener eifriger Sanierungsbemühungen besteht der Schaden fast im gesamten Viertel fort. Daher rührt der romantische Eindruck, La Kalsa wahre mehr als die übrige Stadt ein unverfälschtes Gesicht. Als wären Ruinen ein Synonym für Authentizität. Das moderne Leben hat das Viertel- vor allem in der Via Lincoln - zwar gestreift, sein Zentrum jedoch in städtebaulicher und geistiger 102 Hinsicht unversehrt gelassen. Trotz der Sanierung teilen sich in La Kalsa Hühner, Hunde und Menschen denselben Lebensraum. Die Touristen schlendern an Palästen vorüber, die durch Baugerüste zusammengehalten werden. Sie pressen ihre Photoapparate an die Brust, mit denen sie Zutritt in die elenden Hütten erhalten und die Erinnerung an alles Malerische festhalten, das sie aufstöbern können, besonders die Armut. Armut ist photogen. Und La Kalsa gehört zu den Vierteln, die beschönigend als »volkstümlich« bezeichnet werden. Oder als »problematisch«. So zynisch es auch klingen mag, doch La Kalsa - und die Stadt im allgemeinen - verdankt seinen Reiz zum grossen Teil dem dortigen Elend. Seine grösste Ressource ist das Unglück. Die Stadt ist in La Kalsa, und nach La Kalsa möchte sie stets zurück. In La Kalsa spürt man deutlich den Lauf der Geschichte unter den Füssen. Und oft kann diese Geschichte unter den Füssen das Gleichgewicht stören und einen fatalen Sturz verursachen. In vielerlei Hinsicht ist La Kalsa eine Metapher für die Stadt als Ganzes. Hier finden sich all ihre Widersprüche wieder. Das Viertel ist ein Gebiet höchster Mafiakonzentration. Doch hier wurden auch Falcone und Borsellino geboren, die als Kinder auf dem riesigen Feld der Piazza Magione Ball spielten. In La Kalsa steht auch Lo Spasimo, das jüngste Symbol für den Stolz der Stadt. Die Kirche Santa Maria dello Spasimo wird in den Reiseführern nicht einmal erwähnt, und auch die meisten Bewohner der Stadt wussten lange nichts von ihrer Existenz oder hatten nur wie von einem sagenumwobenen, versunkenen Ort von ihr gehört. Ein städtisches Atlantis. Nun, da die Begeisterung etwas nachgelassen hat, mit der man die Wiedereröffnung begrüsste, ist Lo Spasimo zur idealen Kulisse für Hochzeitsphotos geworden. Noch heute führen die Bewohner der Stadt ihre Gäste gern zu Lo Spasimo und bleiben dann drei Schritte hinter ihnen zurück, um sich an ihrer Verblüffung angesichts des Wunders einer gigantischen Kirche mit offenem Dach zu erfreuen, in deren Mittelschiff zwei Essigbäume gewachsen sind, doch unaufdringlich und nicht so in der Mitte, dass sie Theater- oder Musikaufführungen behindern könnten. Sobald sich die anfängliche Verblüffung des Gastes gelegt hat, erzählt man ihm die Geschichte einer Kirche aus dem 16. Jahrhundert, deren Bau wegen einer grassierenden Pest anscheinend nie vollendet wurde. Im Lauf der Zeit war Lo Spasimo ein Theater, eine Lagerhalle, ein Lazarett und eine Müllkippe. Man erzählt auch, dass das Gemälde, das die Kirche schmücken sollte, eine abenteuerliche Geschichte hat. Es wurde bei Raffael in Auftrag gegeben und stellte den Leidensweg Jesu dar. Doch das Schiff, das es auf die Insel bringen sollte, kenterte. Das Bild wurde, wie es heisst, wie durch ein Wunder gerettet, doch da die Kirche nie fertiggestellt wurde, blieb es schliesslich im Besitz der spanischen Krone. Heute hängt es im Prado. Das Epos von Lo Spasimo fand seinen krönenden Abschluss mit der abenteuerlichen Wiedereröffnung der Kirche Mitte der neunziger Jahre, als man Tonnen von Schutt notgedrungen etappenweise abtransportierte. Es war das Musterbeispiel für ein typisch italienisches Mirakel, irgendwo zwischen Improvisation und Planung, zwischen freiwilliger Leistung und Wunder. Die Idee war, die Restaurierung nach und nach anzugehen, denn sonst wäre es ungewiss geblieben, ob und wann die Kirche je hätte wiedereröffnet werden können. Nun, da die grossen Touristenströme sie wiederentdeckt haben, präsentiert sich die Klosteranlage Lo Spasimo wie eine Mischung aus Verfall und Glanz, ganz im Stil Piranesis ein Beispiel für den Hang zu halbwegs wiederaufgebauten Ruinen, das in Erwartung besserer Zeiten wohl für die ganze Stadt charakteristisch ist. Auch das Teatro Garibaldi am anderen Ende der Piazza Magione entspricht diesem unfreiwilligen ästhetischen Kriterium. Die Instandsetzungsarbeiten werden im Rahmen der Möglichkeiten und sowie ein bisschen Geld da ist fortgesetzt, doch inzwischen hat das Garibaldi durch die Aufführungen der Truppe um Carlo Cecchi, die sich für einige Jahre in den Resten dieses halbverfallenen Theaterseingerichtet hat, schon in ganz Europa von sich reden gemacht. Mein lieber Reisender, ich erzähle dir das alles schweren Herzens. Manchmal sieht es wirklich so aus, als tätest du gut daran, zu bleiben, wo du bist. Doch es ist meine pflicht, dir reinen Wein einzuschenken. Wie dem auch sei: Zu den Dingen, die du wohl nicht wirst sehen können, gehört der Palazzo Steri und die Holzdecke in der Sala dei Baroni aus dem 14. Jahrhundert, ein Meisterwerk, das dem Auge des Touristen vorenthalten bleibt, weil sich in diesem Stadtpalast, der früher der Familie Chiaramonte gehörte, heute das Dekanat der Universität befindet. Vor dem Palazzo Steri, in dem einst das Inquisitionsgericht sass, begannen die Prozessionen, die oft mit einer Umrundung der Piazza Marina und mit der Verbrennung des Verurteilten auf dem Scheiterhaufen endeten. Eine Hinrichtung anderer Art fand auf der Piazza Marina im März 1909 statt, die des italoamerikanischen Polizisten Joe Petrosino, dem ersten prominenten Mafiaopfer, das in den Strassen der Stadt ums Leben kam. Am Tag nach dem Mord kerbte ein anonymer Steinhauer ein Kreuz in das Fundament des Gitters der Villa Garibaldi, genau dort, wo Petrosino zusammengebrochen war. In den nachfolgenden Wochen, Monaten und Jahren machten sich weitere anonyme Personen die Mühe, weitere Kreuze in das Fundament des Gitters zu ritzen. Was anderswo nur ein dummer Studentenstreich gewesen wäre, wurde in der Stadt zu einer ganzen Serie dummer Studentenstreiche, die alle zusammen eine regelrechte damnatio memoriae ergeben. Es ist schwer zu sagen, wieviel Vorsatz sich dahinter verbirgt, schwer einzuschätzen, ob es eine konkrete Absicht gibt. Doch das Resultat bleibt das gleiche: Hätte man die Stelle nicht gekennzeichnet, wüsste niemand genau, wo Joe Petrosino ermordet wurde, und das wäre eine zusätzliche Warnung gewesen: Helden sterben, und obendrein erinnert sich morgen niemand mehr an sie. Viel würdest du versäumen, wenn du auf La Kalsa ver zichten wolltest. Da ist die Kirche La Gancia und die Kirche La Magione. Da ist der Palazzo Ajutamicristo, und da sind die drei Kirchen in der Via Torremuzza. Da ist Santa Maria della Catena. Ausserdem könntest du mit dem Auto oder zu Fuss einen Stadtbummel bei Nacht durch die vornehmsten oder die heruntergekommensten Gegenden von La Kalsa unternehmen. Zwischen den Restaurants rings um die Via Garibaldi findest du die movida, von der du wohl schon viel gehört hast. Hier ginge es wirklich mondän zu, wenn neben den grossen und kleinen Lokalen nicht unmittelbar die Imbissstände zu finden wären, die improvisiert wurden, um die Besucher von Lo Spasimo abzufangen, dazu die Karren der Händler mit unechten CDs und ihr ohrenbetäubender Lärm, die leichten Mädchen auf der Jagd nach Kunden und die anachronistischen Läden, die hartnäckig weiter scaccio verkaufen, also Sonnenblumenkerne und Trockenfrüchte. In der Via Alloro erstreckt sich zwischen einer Restaurierungsbaustelle und einer abgesperrten Gasse die endlose Folge von Palästen, deren Namen bereits die Eitelkeit ihres einstigen Glücks erahnen lassen: Bonagia, Castrofilippo, Monroy della Pandolfina, Naselli D‘Aragona, Faso di San Gabriele und Rostagno di San Ferdinando. Reichtum und Adel, Tugend und Verworfenheit, Licht und Schatten, Leben und Tod: Hier treffen alle Extreme aufeinander und existieren zugleich mit ihrem Gegenteil. Doch vielleicht erschreckt und lähmt dich gerade das. Die Angst vor grellen Farben zusammen mit der Angst vor dem Gegenteil: der Angst, dass dich die grellen Farben faszinieren könnten. 103 Palermo Stadtplan von 1581, in „Civitates orbis terrarum“, G.Braun und F. Hogenberg 104 Palermo französische handgezeichnete Karte 17.Jh 105 Palermo Stadtplan von 1713, „Palerme Capitale du Royaume de Sicile“ 106 Palermo Stadtplan von 1761, in „Lo stato presente della Sicilia“ 107 Palermo Stadtplan von 1818 108 Palermo Stadtplan von 1864 109 Palermo Stadtentwicklung im 20. Jh 1912 1971 1981 110 Geschichte (Palermo) Sizilien: Insel zwischen Orient und Okzident/ Birgit Carnabuci. – Köln: DuMont Buchverlag, 1992 Die Landeshauptstadt Palermo, die grösste Stadt der Insel (720 000 Einwohner), besitzt auch deren wichtigsten Hafen. Von der riesigen Hafenbucht (96 ha) leitet sich der Name der Stadt ab, die von den Griechen als Panormos, »All-Hafen«, bezeichnet wurde. Ihr ursprünglicher Name scheint Ziz, »die Blume«, gewesen zu sein, was ebenfalls ausgezeichnet passt, verfügt die Stadt doch über eine zauberhafte Lage inmitten einer Senke, umschlossen von hohen Bergen. Den Abschluss der Bucht bilden nach einer Seite der Monte Pellegrino und nach der anderen das Kap Zafferana. Im Sommer sorgen frische Meereswinde für Kühle, und die Berge schützen die Stadt gegen die rauheren Winterwinde. Dieses Klima fördert die Vegetation; die üppigen Gärten sind beliebte Treffpunkte der Palermitaner. Der Botanische Garten ist eine Besichtigung wert, auch wenn er sich in den letzten Jahren nicht eben zu seinem Vorteil verändert hat. Zu Goethes Zeiten war der Garten gerade neu angelegt: Hier nahm die Idee des deutschen Dichters über die Urpflanze Gestalt an. Geschichte Die Phönizier gründeten Palermo im 5. Jh. v. Chr., doch Bedeutung erlangte die Stadt erst, nachdem die Araber sie 831 zur Hauptstadt ihres sizilischen Reichs gemacht hatten. Sie wurde eine blühende Wirtschaftsmetropole, deren Einwohnerzahl - Schätzungen gehen von 300 000 Menschen aus - die jeder christlichen Stadt mit Ausnahme Konstantinopels übertraf. Arabische Besucher wie der Weltreisende Ibn Hauqal bewunderten die Schönheit der Stadt, die zahlreichen Moscheen, Paläste, Basarstrassen sowie den Kranz von Obstgärten und Parks, der die Hauptstadt umgab. Inmitten dieser Orangenhaine und Lustschlösser, die ihm einen ersten Eindruck vom Luxus der arabischen Kultur vermittelt haben werden, schlug Roger I. im Winter 1071 sein Heerlager auf. Obwohl die Normannen Palermo schon zu Beginn des darauf folgenden Jahres eroberten, verlegte erst die Regentin Adelaide im ersten Jahrzehnt des 12. Jh. die Hauptstadt hierher. Unter der Monarchia Sicula entstanden die grossen Denkmäler des arabisch-normannischen Stils, die auch heute noch die Hauptattraktion der an Sehenswürdigkeiten wahrlich nicht armen Stadt ausmachen. Im Jahre 1392 wurde Andrea Chiaramonte, der mächtige Feudalherr, auf Veranlassung des spanischen Generals Bernardo Cabrea auf dem Platz vor seinem Palast öffentlich enthauptet - ein Ereignis, das den Machtverlust der grossen Adelsherren und das Erstarken der aragonesischen Zentralmacht ankündigte. Palermo zog in der Folgezeit als Sitz des spanischen Vizekönigs fast den gesamten sizilianischen Adel an, 112 der sich hier seine Paläste erbauen liess, um dem Zentrum der Macht nahe zu sein. Die palermitanische Metropole jener Zeit bot ein typisches Beispiel für eine parasitäre Stadt, die jene von den Bauern auf dem Land erarbeiteten Geldmittel verschlang, ohne selbst produktiv tätig zu sein. Als Folge der in dieser Zeit vermehrt einsetzenden Landflucht entstand ein städtisches Proletariat, die Armenviertel wuchsen. Die Bevölkerungszahl, die nach dem Ende der staufischen Zeit rapide gesunken war, stieg langsam wieder an. Daneben erstarkten die Gilden der kleinen Kaufleute und Handwerker, an deren Spitze jeweils ein Konsul stand. Ein solcher Repräsentant des palermitanischen Mittelstands, der Goldschmied D‘Alesi, trat bei dem durch akute Lebensmittelknappheit hervorgerufenen Volksaufstand von 1647 als Führer hervor - mit seiner Hinrichtung brach die Rebellion in sich zusammen. Schon durch die Stadterweiterungen des 16. Jh. unter den spanischen Vizekönigen hatte Palermo seine mittelalterlichen Grenzen überschritten und war bis ans Meer gewachsen. Im Laufe des 18. Jh. verdoppelte sich die Einwohnerzahl dann auf etwa 200 000. Die heutige Neustadt dehnt sich mit viel baulichem Wildwuchs in alle Himmelsrichtungen aus. Ihr Mittelpunkt liegt in der Verlängerung der Via Maqueda, dem Viale della Liberta und Umgebung. In den letzten zwanzig Jahren setzte der Auszug der Bevölkerung aus der mittlerweile zum Sanierungsgebiet gewordenen Altstadt ein, ein Prozess, der sich in den meisten Städten am Mittelmeer beobachten lässt. Die Romanische Kunst in Palermo in: Romanisches Sizilien / Giovanella Cassata, Gabriella Costantino, Rodo Santoro. – Würzburg: Echter Verlag, 1988 Die Epoche der Romanik erstreckt sich auf Sizilien von etwa 1060 bis zum Ende des 12. Jahrhunderts. Politisch gesehen fällt diese Zeit mit der Bildung des durch das Geschlecht der Hauteville gegründeten Kö nigreiches Sizilien, des ersten grossen italienischen Einheitsstaates, zusammmen. Zwischen 1016 und 1091 erobern die normannischen Ritter Süditalien und Sizilien. Sie kommen zunächst in unabhängigen Gruppen, bevor Robert Guiscard und sein Bruder Roger, »der grosse Graf« aus dem Geschlecht der Hauteville, eine systematische Eroberung einleiten. Während sich die Herrschaft der Hauteville in Italien festigt, sind die Folgen des Investiturstreites zwischen dem Papst und dem römisch-germanischen Reich in ganz Europa spürbar. Das Papsttum stützt sich schliesslich auf die Hauteville, bestätigt deren Eroberungen und räumt ihnen die Prärogative päpstlicher Legaten ein2, um sich so für den Notfall einen bewaffneten Schutz zu sichern. Nach einer Zeit des guten Einvernehmens stellt sich jedoch heraus, dass die Ziele beider Parteien im Bereich der internationalen Politik allzu deutlich voneinander abweichen. Folglich verschlechtern sich die Beziehungen zwischen dem zukünftigen Königreich Sizilien und dem Päpstlichen Stuhl zusehends. Zu Beginn ihres sizilianischen Abenteuers beschränken sich die Kenntnisse der Normannen auf das, was für das Kriegshandwerk von Nutzen ist. Ihre Führer - insbesondere die Hauteville - erkennen jedoch bald, dass sie mit der Unterstützung der römischen Kirche ihre Eroberungen legalisieren können, und versuchen, sich gleichzeitig die Unterstützung der mächtigen Mönchsorden und später der‘ kulturell hochstehenden einheimischen Stände im Bereich der Verwaltung zu sichern. Ihre politischen und kulturellen Aktivitäten können sich also bald sowohl des geistlichen als auch des weltlichen Beistandes erfreuen. Ersterer gründet sich etwa zu gleichen Teilen auf lateinische (Benediktiner und Augustiner) wie auf griechische Mönche. Aus ihren Reihen gehen jene Baumeister hervor, die die Leitung der Werkstätten von Bildhauern und Dekorateuren übernehmen. Weltliche Unterstützung gewährt das - stark reduzierte - Patriziat Italiens, das sich den neuen Herren nur widerwillig, angesichts der militärischen Erfolge der Hauteville jedoch gezwungenermassen unterworfen hat, verbal jedoch weiterhin Konstantinopel, der Hauptstadt des wiedervereinigten römischen Reiches, die Treue hält. Aus dem Patriziat, das über beträchtlichen Grundbesitz verfügt, kommen auch die Rechtsgelehrten und Notare, auf die sich die neue Regierung stützt. So entsteht ein sehr heterogenes Amalgam, in dem das normannische Element die militärische Seite vertritt, während der Erfindungsgeist in der Baukunst von den Mönchen ausgeht und die Regierungsform byzantinischen Ursprungs ist. Vom normannischen Königreich Siziliens oder vom 114 normannischen Sizilien und folglich von der normannischen Kunst Siziliens zu sprechen, wäre in dieser Gewichtung irreführend, Denn in Wirklichkeit kann die Gründung des Königreiches Sizilien nicht als Schöpfung einer politisch-administrativen Struktur verstanden werden, die sich ausdrücklich an einem bereits bestehenden theoretischen Modell norman nischen Ursprungs orientiert. Wie alle normannischen Ritter, die als Söldner nach Italien kamen, um sich hier niederzulassen, waren auch die Hauteville nicht Träger einer besonderen Staatsidee, die sie etwa aus ihrer Heimat mitgebracht hätten. Der von ihnen gegründete Staat verdankt seine Gestalt im wesentlichen den legislativen und juristischen Initiativen der italienischen Hofbeamten aus dem byzantinischen Kulturkreis. Nun geht es darum, aus diesen - gleichwohl für das gesamte mittelalterliche Italien typischen - vielfältigen und gegensätzlichen politischen, religiösen und kulturellen Einflüssen diejenigen herauszukristalli sieren, die, durch Menschen und Ereignisse begünstigt, schliesslich kulturdominal1t wurden. Allein anhand dieser grundlegenden Bausteine lässt sich die ästhetische Qualität der sizilianischen Romanik charakterisieren und spezifizieren. Dieses Vorgehen ist um so dringender zu empfehlen, als man sich leicht verliert, wenn man die Kunst des Regnum Siciliae zu beschreiben versucht: So findet man in der Liturgie die geistige Konzeption eines Bauwerkes, die dessen Einheitlichkeit begründet, beispielsweise mit dessen Ausschmückung gleichgesetzt, die doch nur einen Teil des Gebäudes ausmacht. Wir müssen uns also zunächst den vorherrschenden kulturellen Strömungen zuwenden, die die Physiognomie und das Wesen der sizilianischen Kunst im 11. und 12 . Jahrhundert grundlegend geprägt haben. In diesen bei den Jahrhunderten unserer Epoche sind die Monarchie, die geistlichen Orden und das Patriziat die unbestrittenen Träger der herrschenden Kultur. Zwei Hauptzüge sind zu unterscheiden: der by zantinische, getragen durch die griechischen Mönche und durch jene in der Verwaltung sowie im sozialen Leben hochstehenden Laien, und der lateinische, der sich auf die herrschende Dynastie und die italienischen oder franco-normannischen Benediktinermönche stützt. Der erstgenannte Faktor wurde bis in unsere Zeit hinein unterschätzt und sogar im 19. Jahrhundert - mit arabischen Einflüssen verwechselt, während man den zweiten einfach als »normannisch« bezeichnete. So bildete sich der unglückliche Architekturbegriff »arabisch-normannisch« heraus. Andere Einflüsse können, selbst wenn sie verschiedentlich sehr bemer kenswert sind, nur als »parallele Strömungen« zu den dominanten Erscheinungen eingeschätzt werden. Hierbei handelt es sich insbesondere um fatimidische, maghrebinische, abbasidische und - weit schwieriger auszumachen - provenzalische Einflüsse. In diesen Kulturen muss man, wie gesagt, einen zusätzlichen Beitrag sehen, der die bestimmenden Faktoren qualitativ ergänzt hat, ohne jedoch in der Kunst deren Originalität und Einzigartigkeit zu erlangen. Worin bestand nun die sikulisch-byzantinische Tradition, die der sarazenischen Eroberung vorausging? Neben zahlreichen Kirchen mit typisch basilikaler Anlage, zu denen auch die mehrschiffigen sich seitlich in Arkaden öffnenden Kirchen gehören (»Pinta« in Palermo, San Pietro in Syrakus, Santa Foca in Priolo), sind die interessantesten Gotteshäuser diejenigen mit einem dreiteiligen Chor. Das entscheidende Kennzei chen ihres Altarraumes ist der Mittelteil, auf den sich drei häufig halbrund ausgebildete Apsiden öffnen (Chiesa del Salvatorello in Catania, »‘U vagnu« in Santa Croce Camerina, »La Trigona« in Cittadella dei Maccari, die Cuba in Santa Teresa bei Syrakus, San Pancrati in Cava d‘Ispica). Aus diesem reichen architektonischen Schatz wollen wir vor allem die Kirchen »‘U vagnu« in Santa Croce Camerina und San Salvatore in Rometta hervorheben, denn sie haben die Architektur der Romanik stark beeinflusst, insbesondere was die Raumordnung betrifft. Der besondere Reiz von »‘U vagnu« liegt in der aussergewöhnlichen Vorwegnahme des aus dem arabischen Mesopotamien stammenden lwan (Liwan), der später auch in der Palastarchitektur der sizilianischen Monarchie in dem Saal mit den drei Exedren wieder aufgegriffen wird. Bedeutender noch ist San Salvatore in Rometta. Diese Ortschaft war der letzte und heldenhaft verteidigte Stützpunkt der romdioi6, als sich der grösste Teil der Insel bereits seit fast einem Jahrhundert in den Händen der Sarazenen befand. San Salvatore ist ein kubischer Bau, der von einer auf einem Tambour aufsitzenden Kuppel überragt wird. Im Grundriss besteht die Kirche aus einem in ein Quadrat eingeschriebenen griechischen Kreuz. Die Eckräume sind kreuzgrat-, die Kreuzarme dagegen tonnengewölbt. Die gewaltige Kuppelkalotte über dem Zentralraum stützt sich im Innern auf Pendentifs, während aussen ein achteckiger Tambour ihren Unterbau bildet. In diesem Bauwerk ist bereits die ganze Botschaft der »romanischen« Architektur Siziliens enthalten. Nach den umstürzenden Ereignissen der sarazenischen Invasion war in dieser zentrierten Raumkonzeption sozusagen der Same für Gegenwart und Zukunft gelegt. Zunächst aber unterband der unsichere Fortbestand der christlichen Kirche unter der moslemischen Herrschaft den Bau neuer Gotteshäuser. Etwa zur gleichen Zeit lebt nach dem benediktinischen Vorbild von Montecassino auch der basilikale Bautypus wieder auf und verbreitet sich sehr rasch im Süden Italiens, vermittelt durch die Mönche, die nach und nach mit den normannischen Heeren vordringen. Mit diesem Bautypus verbinden sich ausserdem ganz bestimmte Schmuckformen. Wir haben hier also im hohen Mittelalter eine vollendete Blüte von - im wahrsten Sinne des Wortes - lateinischen Basiliken vor uns, während die romanische Formsprache mit unzähligen unterschiedlichen, den verschiedenen Ländern entsprechenden Ausdrucksweisen herangereift ist. Die Hauptbedeutung der Klöster liegt darin, dass sich aus den Reihen ihrer Mönche - insbesondere der fränkischen Benediktiner und Augustiner - die »normannischen« Baumeister rekrutierten. Die komplexen Techniken der romanischen Architektur, aus denen unmittelbar die Gotik hervorgehen sollte, entwickelten sich in den Benediktinerklöstern Nordfrankreichs, in Cluny, Bernay oder Citeaux. Innerhalb desselben benediktinischen Zustroms unterscheiden wir somit völlig verschiedene Stilrichtungen. Dieser Gegensatz kommt auch in der sizilianischen Ar chitektur zum Tragen, zunächst in der Rivalität beider Raumkonzeptionen im Verlauf der Bauarbeiten am Dom von Cefalu und später im Triumph der einfachen Raumidee nach dem Vorbild von Montecassino in der grossartigen Anlage des Doms von Monreale. Nun sollte man nicht annehmen, dass die soeben beschriebene Vielfalt der romanischen Sakralarchitektur Siziliens ausschliesslich ein Merkmal der Insel sei. Sie gilt vielmehr für alle Gebiete, die nach und nach unter sizilianische Herrschaft und Rechtsprechung gestellt wurden.Kalabrien allerdings ist mit der Entwicklung der mittelalterlichen Architektur auf Sizilien doppelt verbunden. Der Grund hierfür liegt einerseits in der Wirksamkeit der Mönche, die nach dem Einfall der Sarazenen von Sizilien dorthin geflüchtet waren, und andererseits in der sehr früh erprobten Durchdringung des lateinischen und des byzantinischen Grundrisses, wie sie sich in der Neo-Odighitria im Patirion in Rossano1o oder in den Kirchen Santa Maria in Tridetti, Santa Maria in Terreti, San Giovanni Vecchio und anderen bereits recht deutlich abzeichnet. Ausserdem versuchten die französischen Mönche gerade in Kalabrien besonders umfassend und kategorisch den Grundriss der nordeuropäischen Kirchen einzuführen. Halten wir also fest, dass die architektonischen Formen, wie wir sie an lateinischen Kathedralen Siziliens, insbesondere in Catania, Mazara und Cefalu finden, in Kalabrien ihre Vorläufer hatten. Schon vor langer Zeit hat man in San Giovanni Vecchio in Stilo, in den Bischofskirchen von Gerace und Mileto und in den Ruinen der sogenannten Kirche Roccella dei Vescovo di Squillace nahe der Küste von Catanzaro bedeutende Prototypen erkannt, die bereits das typologische Gemisch und die formalen Gegensätzlichkeiten aufweisen, die später für die grossen Bischofssitze Siziliens kennzeichnend sein sollten. In Kalabrien lässt sich zudem ein ausgeprägter Gegensatz feststellen zwischen den Werken der griechischen Mönche, die ihre kleinen Kirchen nach dem traditionellen Vorbild der Zentralbauten der byzantinischen Architektur errichteten (San Marco in Rossano, die „Cattolica« in Stilo, „Ottimati« in Reggio, die Krypta in Gerace usw.), und den Bauten der lateinischen Mönche, die sich mit der Leitung der grossen Bauhütten ihrer Kathedralen auseinanderzusetzen hatten. Aber gerade bei dieser letztgenannten Gruppe fällt auf, dass häufig, selbst dort, wo er nicht unerlässlich erscheint und vielfach auch gar nicht zweckmässig ist, der dreiapsidiale byzantinische Altarraum übernommen wurde. 115 Der Barock in Palermo in: Sizilianischer Barock / Anthony Blunt; übers. von Erika Schindel, Frankfurt a. M.: Ariel 1972 Während des 17. und 18. Jahrhunderts konzentrierten sich aller Reichtum und alle Macht Siziliens bei der landbesitzenden Aristokratie, doch änderte sich ihre Situation während dieser Periode grundlegend. Unter den frühen spanischen Vizekönigen lebte der Adel noch hauptsächlich auf dem Lande, aus dem er seine Einkünfte bezog und das er in den meisten Fällen mit Tatkraft und Umsicht bewirtschaftete. In der letzten Phase der spanischen Herrschaft übte jedoch der Hof des Vizekönigs in Palermo eine immer stärkere Anziehungskraft auf die Adligen aus, und so bildeten sie sich allmählich zu Grundherren heraus, die das ganze Jahr über abwesend waren. Die Folgen dieser Veränderung waren für die Bauern, aber ebenso auch für den Adel, verheerend. Die adligen Herren übergaben ihre Güter Verwaltern, deren einziges Interesse darin bestand, möglichst viel Geld aus den Bauern herauszupressen, was zu einem katastrophalen Niedergang der Landwirtschaft und zu völliger Verarmung des Bauernstands führte. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts waren die meisten Adligen stark verschuldet, weil sie die hohen Kosten für ihr repräsentatives Auftreten bei Hof aus Hypotheken bestreiten mussten, die sie auf ihre Güter aufgenommen hatten. Diese Lage der Dinge war im 18. Jahrhundert auch für das übrige Europa nicht ungewöhnlich, doch nahm sie in Sizilien besonders unerträgliche Formen an, weil hier das Feudalsystem ohne das Gegengewicht einer aufsteigenden Bürgerschicht unbeschränkt herrschte. Sich in irgendeiner Weise in Handel und Gewerbe zu betätigen, galt als Verstoss gegen die adlige Würde, und jeder Bürger, der zu Geld gekommen war, hatte nur den einen Wunsch, sich ein Landgut und einen Titel zu kaufen, um so schnell und unauffällig wie möglich in die Aristokratie aufzusteigen. Die Vizekönige machten sich diese Titelsucht alsbald zunutze. Der Verkauf von Adelstiteln wurde zu einer ihrer Haupteinkommensquellen und nahm kaum vorstellbare Formen an. Die alten Adligen beteiligten sich eifrig an diesem Spiel, denn nachdem es so viele Barone gab, hielten sie es für ihre Pflicht, sich einen Grafen- oder Herzogstitel zu kaufen, so dass deren Zahl ebenfalls ins Ungemessene stieg. Während es im 16. Jahrhundert einen einzigen Fürsten, zwei Herzöge, einen Marchese und einundzwanzig Grafen gab, zählte man Ende des 18. Jahrhunderts 142 Fürsten, 1500 Herzöge und Barone sowie 788 Marchese. Vor diesem Hintergrund wachsenden Glanzes und sich vermindernden Reichtums entstand die Barockarchitektur Palermos. Jeder Adlige brauchte seine Residenz, in der nicht nur er selbst mit seiner Familie lebte, sondern auch alle Bediensteten seines Hauses, die in den Mezzaningeschossen oder in kleinen Nebengebäuden rund um den Hof des Palazzo untergebracht waren. Die Dimensionen dieser Adelspaläste 116 waren riesig. Die Fassade des Palazzo S. Croce z. B. (Bild 114) zählt fünfzehn Fensterordnungen, die des Palazzo Butera beinah doppelt so viele, und der Grösse dieser Gebäude entspricht die Reichhaltigkeit ihres Fassadenschmucks und ihrer Innendekoration. Ein weiterer Sozialfaktor war von unmittelbarem Einfluss auf die barocke Baukunst Siziliens. Um die Einkünfte der grossen Güter nicht teilen zu müssen, ermutigte man die jüngeren Söhne, ins Kloster zu gehen, und zwang die Töchter, in ein Stift einzutreten. Jedes Kloster oder adlige Nonnenstift verlangte für die Aufnahme von Novizen einen mehr oder weniger hohen Betrag. Durch diese steten Einnahmen kam es zu dem enormen Reichtum einzelner Orden in einer Gesellschaft, die unausweichlich dem finanziellen Ruin entgegenging. Dies erklärt auch den Aufwand, mit dem etwa S. Martino delle Scale (Bilder 148, 149, 150) wieder aufgebaut wurde, und die verschwenderische Anwendung von Marmoreinlagen, die für die sizilischen Kirchen so charakteristisch ist. Palermos bemerkenswerte Leistungen im 17. Jahrhundert lagen nicht so sehr in einzelnen Bauten als in der Stadtplanung. Im Jahre 1565 wurde der mittelalterliche Strassenzug, der Palermo vom Hafen im Osten bis zum Normannenpalast im Westen durchquerte und hinauf nach Monreale führte, verbreitert und dadurch zur Lebensader der Stadt. Der damalige Cassaro trägt heute die Bezeichnung Corso Vittorio Emmanuele. Im Jahre 1581 wurde er in dieser Breite bis ans Meer durchgeführt, wo ein neues Stadttor, die Porta Felice, als Gegenstück zur Porta Nuova erbaut wurde. Um 1600 legte man eine grosse Querstrasse unter dem Namen Strada Nuova, die heutige Via Maqueda, an. Die Kreuzung dieser beiden Strassen wurde durch Abschneiden der Ecken zu einem „Quattro Canti“ genannten Platz erweitert, der ein Oktogon mit vier konkaven Seiten darstellt. Diese sind mit vier Brunnen geschmückt, sicherlich in Nachahmung der Quattro Fontane Papst Sixtus‘ V. Doch während es das römische Modell bei Brunnen bewenden liess, ist in der Piazza Quattro Canti das Dekorationsschema in dreigeschossigen Palazzi nach oben weitergeführt, die mit den Figuren der Tugenden und der Herrscher Siziliens besetzt sind. Wegen des engen Raums dieser Kreuzung wirkt das Ganze etwas enttäuschend. Die Kirchen Palermos Im Laufe des 17. Jahrhunderts wurde eine Reihe von Kirchen in Palermo erbaut. Die kleineren Kirchen, die meist geistlichen Bruderschaften gehören, sind im Grundriss rechteckig und haben flache Ausbuchtungen für die Seitenkapellen. Die grösseren sind in der Form des lateinischen Kreuzes gebaut und besitzen Seitenschiffe mit Kapellen. Was die zweite Gruppe von Kirchen dieses Typs im übrigen Italien unterscheidet, ist, dass ihre Arkaden fast ohne Unterschied auf Säulen statt auf Pfeilern ruhen. Wahrscheinlich geht dies auf die lokale Tradition der normannischen Kathedralen zurück. Die eindrucksvollste dieser Kir- 114 148 149 150 chen ist S. Giuseppe dei Teatini, begonnen 1612 nach Entwürfen von Giacomo Besio. Er gehörte selbst dem Theatinerorden an und soll von Geburt Genuese gewesen sein, verbrachte aber den ‚grössten Teil seines Lebens im Theatinerkloster von Palermo. In allen Kirchen dieses Typs sind die gewölbten Decken freskiert und durch breite Bänder von vergoldetem und weissem Stuck gegliedert. Aus dem 17 . Jahrhundert gibt es eine Anzahl von Fassaden, die darauf hindeuten, dass die Baumeister Palermos und des Nordwestens der Insel in dieser Periode unter dem unmittelbaren Einfluss festländischer Vorbilder standen. Als frühestes sizilisches Beispiel solcher Bauten erwähnten wir bereits die Jesuitenkirche in Trapani (Bild 92) von dem Messinesen Natale Masuccio aufgrund ihres toskanischen Charakters. Der Entwurf ist von besonderer Eigenart durch den starken Kontrast zwischen den strengen, scharfprofilierten, dorischen und jonischen Pilastern - erstere durch Paneele gegliedert, letztere kanneliert - und dem dekorativen Detail, das nicht nur aus Girlanden und Masken besteht, sondern über den Seitenportalen Grotesken und neben dem Mittelfenster Karyatiden aufweist. Dieselben durch Paneele gegliederten Pilaster erscheinen auch an der Fassade von S. Maria di Monteoliveto in Palermo. Aber hier handelt es sich um einen Fassadentyp des 16. Jahrhunderts, und die schwarze Lava, aus denen die Paneele der Pilaster geschnitten sind, ist von einem Rahmen aus weissem Stuck umgeben. Den gleichen Materialgegensatz zeigen die kühngeschwungenen schwarzen Voluten mit ihrem ungewöhnlichen Dekor aus stukkierten Bändern, die sich aus einem Lorbeergewinde entrollen. Durch eine gewisse Kühnheit des Entwurfs zeichnet sich die mit 1662 datierte Fassade von s. Matteo aus: „ Im Unterschied zu jenen beiden Fassaden besitzt sie einen dreigegliederten sizilischen Glockenstuhl. Einen solchen Glockenstuhl trägt auch S. Salvatore, ein Entwurf Paolo Amatos von 1682 (Bild 91). Die Dekoration der bei den Fassaden ist nur wenig verschieden und scheint auf das Vorbild von Kirchenbauten des Neapolitaners Cosimo Fanzago zurückzugehen. Doch eine ganz besondere, den beiden Kirchen gemeinsame Schmuckform findet sich nirgends sonst im Hauptland. Es ist die Rosette im Zentrum der Fassade, wiederum eine normannische Residenz. In der normannischen Baukunst sind Rosetten die Regel. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts entstanden in Palermo einzelne Kirchen, deren Baumeister offensichtlich mit den zeitgenössischen Bauten Roms vertraut waren. Der einflussreichste von ihnen war Giacomo Amato, der die Jahre zwischen 1670 und 1687 in Rom verbrachte. Dort wirkte er am Umbau der Maddalena mit, der Kirche des Ordens der Ministri degli Infermi, dem er angehörte, und hatte Zugang zu dem Studio Carlo Fontanas. In den Fassaden der Pieta, begonnen 1689, und der Chiesa S. Teresa (um 1686) scheint er dem Vorbild von Carlo Rainaldis S. Maria in Campitelli gefolgt zu sein, doch ist seine Säulenanordnung 118 lockerer als die des römischen Modells. In keiner seiner Fassaden hielt er sich überhaupt genau an sein Vorbild. Die Pieta hat eine Rosette wie S. Matteo und S. Maria di Monteoliveto, während S. Teresa durch die Doppelkurve des Giebels über dem Hauptportal und die schmalen Voluten, welche die Laternen der Seitenkapellen unbedeckt lassen, ungewöhnlich ist. Die grösseren Barockkirchen Palermos wie S. Domenico und die Chiesa Olivella zeigen die mehr nördliche Form der Fassade mit Doppeltürmen, wie wir sie schon in der Kathedrale von Noto kennengelernt haben. Im Gegensatz dazu sind die palermischen Versionen dieser Doppelturmfassade ziemlich durchschnittlich. Eine wesentlich interessantere Fassadenlösung zeigt eine Kirche von Giovanni Biagio Amico, einem in Trapani geborenen Geistlichen (1684-1754). Seiner Fassade von S. Anna in Palermo (Bild 95) geben die über Eck gestellten Säulen eine grosse Lebendigkeit - im Gegensatz zu Vaccarinis Kathedrale in Catania. S. Anna hätte auch heute noch die starke Dynamik, wenn nicht das dritte Geschoss, das dem Entwurf seine eigentliche Spannung verlieh, im Erdbeben von 1823 zerstört worden wäre. Noch wirkungsvoller im Spiel seiner schmalen, vielfach gebogenen Parallelen ist die obere Partie der Fassade von S. Lorenzo in Trapani (Bild 94) mit ihren beiden Türmen, die zu dem fast klassischen Säulenportikus unten in spannungsreichem Gegensatz stehen. Sie sei an dieser Stelle erwähnt, da sie vom gleichen Baumeister stammt. In ihren Kirchengrundrissen bevorzugten die palermischen Baumeister traditionelle Lösungen, aber gelegentlich findet sich auch eine ovale Kirche. Das früheste Beispiel dafür ist wohl S.Carlo, die Kirche der Lombarden, deren Bau 1648 beendet war. Sie ist eine Variante von Vignolas S. Anna dei Palafrenieri und fast mit Sicherheit das Werk eines festländischen Baumeisters, der möglicherweise aus Mailand kam. Die Kirche S. Salvatore von Paolo Amato ist nach dem Vorbild von Rainaldis S. Maria di Montesanto erbaut, aber selbst in ihrem heutigen Zustand - sie wurde nach ihrer Bombenzerstörung von 1943 als Konzerthaus sehr geschickt restauriert - besitzt sie noch eine Weite des Innenraums, die ihr Vorbild weit übertrifft. Im 18. Jahrhundert entwickelten dann verschiedene Baumeister aus Palermo und Umgebung, besonders Giovanni Biagio Amico, für ihre Kirchenentwürfe höchst komplizierte Spielarten des ovalen Grundrisses. Eine weitere Kirche sei noch erwähnt, nicht zuletzt deshalb, weil sie gänzlich ausserhalb der sizilischen Tradition steht. Es ist S. Francesco Saverio, erbaut von Angelo Italia (1628-1700), einem in Licata bei Agrigent geborenen Baumeister. Sie erhebt sich auf dem Grundriss eines griechischen Kreuzes und hat eine Mittelkuppel, einen halbrunden Chorabschluss und vier Kapellen zwischen den Kreuzesarmen. Die Kapellen sind sechseckig und gehen durch zwei Ge schosse. Im Obergeschoss sind sie durch eine offene Arkade mit dem Zentralraum verbunden (Bild 93). 91 92 93 94 95 Die Idee der vier Kapellen in den Ecken eines griechischen Kreuzes könnte eine Erinnerung an normannische Kirchenbauten sein, aber dass sie polygonal sind und sich oben zum Zentralraum öffnen, ist ohne Beispiel in Sizilien. Vielleicht hat Italia an Guarinis Kirchenentwürfe gedacht, die er vermutlich kannte. Doch in der Hochführung der Kapellen ins nächste Geschoss und ihrer Einbeziehung in den Innenraum liegt eher eine Vorausnahme der Raumkonzeptionen Bernardo Vittones, des grossen Nachfolgers Guarinis in Piemont. Eine der auffallendsten Eigentümlichkeiten palermischer Kirchen sind ihre kunstvollen Marmoreinlagen (Bilder 96-101). Diese Technik wurde bereits im Zusammenhang mit Messina gestreift (Bilder 21, 22, 23), kann jedoch wegen der zahlreichen Zerstörungen dort besser in Palermo gewürdigt werden, wo sich mehrere vollständig mit Marmor verkleidete Kirchen erhalten haben, darunter S. Salvatore, die Casa Professa der Jesuiten, die Immaculata und S. Caterina. Altäre und Kapellen mit diesem Dekor gibt es darüber hinaus in fast jeder grösseren Die Technik der Marmorinkrustation scheint Anfang des 17. Jahrhunderts in ‚Palermo eingeführt worden zu sein, doch haben sich nur wenige Beispiele aus dieser frühen Phase erhalten. .. Die einheimischen Geschichtsschreiber berichten zwar von Arbeiten aus den 1620er Jahren in ‚ der Casa Professa der Jesuiten und der Cappella di S. Rosalia, aber davon ist nichts mehr vorhanden. Eine Vorstellung von dem Charakter dieser frühen Arbeiten vermittelt das offenbar einzige erhaltene Beispiel dieser Periode, ein Altar in der Olivella. Seine Umrahmung trägt die Jahreszahl 1622 und umgibt eine meisterliche Marmoreinlage von kleinen floralen Motiven auf schwarzem Grund, noch ohne jedes Relief über die Entwicklung der Marmoreinlagetechnik kann man einige Aufklärung erhalten durch das Studium von Grabdenkmälern, für die sie vielfach benutzt wurde und die ja gewöhnlich mit Daten versehen sind. Sizilische Grabmale dieses Typs sind im Durchschnitt später als entsprechende Beispiele in Neapel. Eine besonders interessante Gruppe von Grabplatten findet man in der Kirche S. Giorgio dei Genovesi, deren Fussboden davon bedeckt ist. Sie gehören dem frühen 17. und dem 18. Jahrhundert an. Die aus der ersten Hälfte des 17. stammenden Grabplatten bestehen ganz aus weissem Marmor und tragen ausser einer eingetieften Inschrift und einem Wappen gewöhnlich eine dekorative Umrahmung in Flachrelief. Um die Jahrhundertmitte erscheinen dann schmale Streifen aus farbigem Marmor in den dekorativen Partien der Grabplatte, und etwas später sind die farbigen Marmorstreifen mit Blumen und Blattmustern in Weiss eingelegt. Ungefähr zur gleichen Zeit werden die Wappenfarben in Marmortönen wiedergegeben. Bei den in den Boden eingelegten Grabplatten führte die Abnutzung allmählich zum Verschwinden des Reliefs, und zwar um so eher, je vielseitiger die Einlagen waren. Da jedoch bei Wandgrabmalen die Flachheit 120 des Reliefs kein Vorzug war, geht hier die Tendenz auf stärkeren Reliefschnitt, sowohl in dem weissen Grund als auch in den farbigen Einlagen. Um die Mitte des Jahrhunderts hatte sich diese Technik durchgesetzt und wurde in grösserem Rahmen zur Dekoration ganzer Wände oder Kapellen benutzt. Sehr wahrscheinlich sind zumindest Teile der heutigen Dekoration des Chors der Immaculata (Bild 97) zwischen 1625 und 1651 ausgeführt, und mit der Ausschmückung der Cappella del Rosario in S. Zita (Bild 96) wurde im Jahre 1641 begonnen, so dass ihre Sockeldekoration um 1653 fertig war, während die oberen Wandpartien später ausgeführt sein mögen und die Figurengruppen erst dem frühen 18. Jahrhundert angehören. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurde die Technik der Marmoreinlagen populärer und gleichzeitig kunstvoller. In der Cappella del Rosario in S. Francesco, begonnen 1649, aber erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts vollendet, und in der Casa Professa, wo die Marmorauskleidung von Mittelschiff und Kapellen von 1665 bis 1691 dauerte, wurde in stärkerem Relief und mit grösserer Virtuosität gearbeitet. Dies gilt in noch höherern Mass für die Cappella deI Crocefisso in der Kathedrale von Monreale. Die Casa Professa ist das am meisten bewunderte Beispiel von Marmorinkrustation in Palermo. Leider erlitt sie schwere Bombenschäden, und trotz ihrer hervorragenden Restaurierung ist die Gesamtwirkung heute stark beeinträchtigt durch die rnodernen Fresken, welche die 1943., zerstörten ersetzten und durch ihre lebhaften Farben den zarten Tonabstufungen der Marrnoreinlagen Abtrag tun. Von der einzigartigen Wirkung einer solchen Dekoration verrnittelt die kleine Kirche der Immaculata in der Nähe der Porta Carini (Bild 97) einen ungleich besseren Eindruck, vor allem aber S. Caterina an der Piazza Pretoria (Bilder 98, 99, 101), beide im frühen 18. Jahrhundert mit Marmor verkleidet. Der Grundriss von S. Caterina ist der eines lateinischen Kreuzes mit flachen Querschiffarmen, einem Chor aus zwei Jochen und drei Kapellen an jeder Seite des Schiffs. Die Wände des Mittelschiffs sind durch korinthische Pilaster gegliedert, welche die Kapelleneingänge flankieren und ein Gesims tragen, das ungebrochen rund um das Kircheninnere läuft. Über dem Eingang befindet sich die Nonnenempore. Sie ist von zwei gedrehten Säulen aus rotem Marmor getragen und durch ein vergoldetes schmiedeeisernes Gitter abgeschlossen. Von der Empore aus zieht sich rund um das Innere eine Galerie. Sie verläuft oberhalb der Bögen der Kapelleneingänge und anschliessend um Querschiff und Chor. Meist ist sie hinter die Wand gelegt und nur ihre schmiedeeisernen Gitter treten etwas unterhalb des Gesimses der Hauptsäulenordnung hervor. Lediglich im linken Querschiffarm wird sie aussen herumgeführt, und hier ist sie nach allen Seiten vergittert. Die Pilaster stehen auf hohen Sockeln, die mit Hoch- 20 21 98 22 23 97 99 101 100 96 reliefs in weissem und farbigem Marmor dekoriert sind. Einige Reliefs illustrieren Szenen aus dem Alten Testament, andere bestehen in symbolischen oder heraldischen Motiven, und die übrigen zeigen rein dekorative Putten und Akanthusblätter (Bild 99). Die erstaunlichste Darstellung ist eine Szene aus der Jonaslegende. Gezeigt wird der ins Meer geworfene Jonas. Links unten erscheint ein grosser orangefarbener Walfisch, um den Propheten zu verschlingen. Er selbst ist in schwach gelblichem Marmor wiedergegeben. Rechts über ihm sieht man das im Sturm treibende Schiff mit gerefften Segeln. Seine Takelage ist durch wirkliche Drahtstückchen wiedergegeben, die an der Marmoreinlage befestigt sind, ein Extrembeispiel für die barocke Praxis, zunächst die Wirklichkeit mit Hilfe künstlerischer Medien nachzuahmen und dann plötzlid1 materialechte Einzelteile zu verwenden. Auf den Sockelvorsprüngen stehen allegorische Figuren in Hochrelief aus weissem Marmor, und an den Pilastern selbst sind Engelsputten angebracht, die Medaillonporträts der dominikanischen Heiligen in Händen halten. Über den Kapellenbögen befinden, sich Stuckreliefs mit Szenen aus dem Leben der hl. Katherina, der auch der reich geschmückte Marmoraltar im rechten Querschiff geweiht ist. Viele der dekorativen Wandpaneele enthalten Anspielungen auf das Wirken dieser Heiligen sowie auf den Dominikanerorden, dem die Kirche gehörte. Eine davon zeigt das Symbol des hl. Dominikus, einen Hund mit einer brennenden Kerze im Maul. Eine andere ist mit dem Baum des Lebens geschmückt. Wieder eine andere gibt den Märtyrertod des hl. Petrus wieder. Der Heilige hält eine Schriftrolle mit dem Wort credo in Händen, und über ihm stehen die Worte firmat et auget. Eine weitere Wandplatte zeigt einen Rad schlagenden Pfau und die Inschrift decor et rota, eine Anspielung auf das Rad, auf dem die hl. Katharina den Märtyrertod erlitt. Die Reichhaltigkeit und Brillanz dieser Marmoreinlagen ist überwältigend, und doch ist die Gesamtwirkung einheitlich und keineswegs überladen. Die Hauptlinien der Architektur sind so klar sichtbar geblieben, ja so deutlich hervorgehoben, dass die üppige Farbigkeit und fast uferlose Reliefdekoration ihrer strengen Ordnung unterworfen werden. Hier haben wir in der Tat sizilisches Barock in einer seiner typischsten Kunstäusserungen. Die berühmtesten Bauten des 18. Jahrhunderts in Palermo, deren Besichtigung zu den Pflichtübungen des Sizilienreisenden gehört, sind die drei Oratorien mit der Innenausstattung von Giacomo Serpotta (1656-1732). Architektonisch bieten sie nichts Besonderes. Sie sind nur von simpler Rechteckform und besitzen einen quadratischen, mit Seitengalerien versehenen Chor. Doch über ihre Wände ergiesst sich eine Flut von einzigartigem Stuckdekor in Form ornamentalen Rahmenwerks, imitierter Draperien, Fruchtgehänge, Trophäen, lebensgrosser allegorischer Figuren, die vor die Wand gesetzt sind oder in Ni122 schen stehen, Putten, die an Brüstungen hängen oder über Rahmen purzeln, und Relieftafeln mit winzigen Gestalten, die uns die Legenden der Heiligen vor Augen führen, denen die Oratorien geweiht sind. Nichts könnte heiterer sein als diese bewegte Dekoration. Aber die Absicht, die Künstler und Auftraggeber da mit verbanden, war ernster Natur, und in jedem Einzelfall erhielt der Bildhauer ein genau vor-‘ geschriebenes ikonographisches Programm, dem er zu folgen hatte. In S. Lorenzo illustrieren zwei Reihen kleiner Tafeln die Lebensgeschichten des hl. Laurentius und des hl. Franziskus, zu deren Ehren das Oratorium erbaut wurde. In S. Zita und dem Oratorio deI Rosario bilden die Mysterien des Rosenkranzes das Thema der Dekoration. Ihren Höhepunkt hat sie in S. Zita im Relief der Rückwand mit der Darstellung des Siegs von Lepanto gefunden, der durch das Ein greifen der Rosenkranzmadonna errungen wurde. Stets erhält die Legende ihre letzte Bestätig ung für den Beschauer durch die allegorischen Figuren der Tugenden, die an den Hauptpunkten der Wände verteilt sind. In vieler Beziehung bildet das Wirken Serpottas den Höhepunkt der bildnerischen Tradition Siziliens. Leider ist aufgrund der geringen Haltbarkeit des Stucks vieles, was aus dem 17. und 18. Jahrhundert an solchen Arbeiten existiert hat, zugrunde gegangen, aber es gibt noch genug, um zu zeigen, dass diese Kunstübung allgemein verbreitet war. Zu den besten Leistungen gehören die Stukkaturen der Kathedrale und der Kirche S. Domenico in Castelvetrano (1557 und 1591) von Antonio Ferraro. Beispiele im Stil des 17. Jahrhunderts, die Serpotta gesehen haben könnte, sind die Stuckdekorationen der Chiesa Madre in Ciminna und in der Kapelle der Annunziata in Castelbuono. Serpotta folgte auch einer örtlichen Tradition, insbesondere dem Vorbild Gaginis, von dem er bestimmte Eigenheiten übernommen hat. So ist die Kombination von lebensgrossen Figuren und Tafeln mit Gruppen von winzigen, freistehenden Figürchen eine Erfindung Gaginis. Er hat sie in der Dekoration des Chors der Kathedrale von Palermo angewandt, die aus den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts stammt. Solche kleinfigurinen Gruppen in dramatischer Aktion kommen öfter vor, etwa an den beiden Weihwasserbecken des 16. Jahrhunderts in der gleichen Kirche. Die Forschung ist geteilter Meinung darüber, ob Serpotta seine gesamte Ausbildung in Sizilien erhalten hat. Er kann eine ganze Menge bei seinem Vater gelernt haben, der in ziemlich schwerem Barockstil gute Arbeiten hinterlassen hat. Doch Serpottas lebensgrosse Darstellungen der Tugenden deuten auf eine so vollkommene Kenntnis der römischen Barockskulptur, dass trotz fehlender Beweise angenommen werden darf, dass er in Rom gewesen ist. Wenn er, wie es wahrscheinlich ist, die Reise als junger Mann von etwa zwanzig Jahren unternahm, hat er sich kurz vor Berninis Tod dort aufgehalten, zu einer Zeit also, als dieser seine grössten Leistungen vollbrachte und seine Schüler auf die verschiedenste Weise seine Anregungen verarbeiteten. Solchen Werken konnte Serpotta eine Menge über Form- und Bewegungsprobleme entnehmen, was der Bildhauerkunst seiner Heimatstadt noch unbekannt war. Sicherlich lernte er bei dieser Gelegenheit auch die Skulpturen des Flamen Francois Duquesnoy kennen, denn seine verspielten Engelchen haben nicht wenig mit dessen berühmten Putten gemein. Die erste seiner Innendekorationen war ein Auftrag der Dominikaner für das zu S. Zita gehörende Oratorio deI Rosario (Bilder 102 und 103). Zahlungen an Serpotta sind von 1687 bis 1717 urkundlich belegt. Als letztes wurde überraschenderweise das Sanktuarium stuckiert. Die langen Wände sind in ungewöhnlicher Manier dekoriert, so als ob Serpotta sich die Fenster des Palazzo Biscari in Catania (vgl. Bild 25) zum Vorbild genommen und sie ins Innere versetzt hätte. Ebenso erinnern die von Atlanten flankierten Türen an Aussen architektur , wenn auch in diesem Fall die Vorbilder eher an genuesischen Adelspalästen zu suchen sind. Die Gesamtwirkung ist trotzdem sehr harmonisch. Selbst das Gemälde über dem Hochaltar, das 1702 bei Carlo Maratta in Auftrag gegeben wurde, passt in seiner Gefühlshaltung und seinen lichten Farben zu Serpottas Innendekoration, wenn es auch nach künstlerischer Qualität an die Caravaggios oder van Dycks in anderen Oratorien nicht heranreicht. Als Hauptleistung dieses Oratoriums ist jedoch die Dekoration der Rückwand zu betrachten (Bild 102), deren Mitte ein Relief mit dem Sieg von Lepanto einnimmt. Die gesamte Wandfläche bedeckt ein von Putten getragener Stuckvorhang, in den gerahmte Tafeln mit kleinen, fast wie von Wachsmodellen abgedrückten Figurengruppen eingelassen sind. Gezeigt werden Szenen, die mit dem letzten Stadium der Mysterien des Rosenkranzes zusammenhängen, die Auferstehung und Himmelfahrt Christi auf der einen Seite, das Pfingstwunder und die Himmelfahrt Maria auf der anderen, in der Mitte die Marienkrönung über der Darstellung der Rosenkranzmadonna. Selbst die virtuosen Stukkateure des bayrischen Barocks haben kein Werk von grösserer Meisterschaft und so zauberhafter Phantasie geschaffen. Das Oratorium S. Lorenzo (1706-1708) ist kleiner und von geringerer Dynamik. Seine Wände sind durch korinthische Pilaster gegliedert und die Fenster von schlichterem Dekor umgeben. Zwischen sie fügte Serpotta die kleinen Figurentafeln ein, die er schon in S. Zita verwendet hatte. Auch die Rückwand hat eine bescheidenere Dekoration. Sie besteht aus einer Tafel mit dem Martyrium des hl. Laurentius, der merkwürdigerweise ein Stich nach Le Sueur zugrunde liegt; man könnte meinen, dass der Klassizismus dieses Malers eigentlich den Idealen eines Serpotta nicht entsprochen haben müsste. Das letzte der drei Oratorien, das zur Kirche S. Domenico gehörige Oratorio del Rosario (1720), stellte Serpotta vor eine ganz andere Aufgabe. Nicht nur war der Bau schon beendet, als er den Auftrag für die Innendekoration erhielt, sondern die Gemälde zum Thema der Mysterien des Rosenkranzes waren bereits an Ort und Stelle. Seine Tätigkeit bestand nur darin, die Innenausstattung durch eine Anzahl von Statuen in den Nischen zwischen den Gemälden, durch ovale Reliefs für die oberen Wandpartien und durch den Stuckdekor der Decke zu ergänzen. Diese sollte durch stukkierte Bänder für die Fresken vorbereitet werden, deren Höhepunkt das grosse Altargemälde van Dycks im Sanktuarium darstellte. Serpotta arbeitete auch in diesem Fall mit unerreichter Meisterschaft, aber ob ein so harmonischer Gesamteindruck entstanden ist wie in den beiden anderen Oratorien, bleibt eine offene Frage. Die Seicento-Malereien, die nach der Malweise ihrer Zeit schon von Anfang an in gedämpften Farben gehalten waren, sind im Laufe der Zeit nachgedunkelt, und so beeinträchtigen sie den lichten Charakter des in Gold und Weiss stukkierten Innenraums. Verglichen mit den beiden ersten Oratorien Serpottas hat das Oratorio del Rosario von Domenico eine grössere Leichtigkeit des Dekors, die dem Geist des frühen Rokoko verwandt ist. Noch ausgeprägter ist dies beim Oratorium von S. Caterina, das sich an die Kirche S. Olivella anschliesst (Bild 106) und um die gleiche Zeit (1722) von Giacomo Serpottas Sohn Procopio ausgeschmückt wurde. Hier gibt es keine Gemälde mehr; auch die kleinfigurigen Tafeln sind verschwunden, und selbst der lebensgrosse Skulpturenschmuck spielt kaum noch eine Rolle. Die Gesamtwirkung beruht auf einer meisterlichen Anwendung von lichtem, mit Gold durchsetztem Stuckdekor an den Wandund Deckenflächen eines Raums, der durch Fenster an beiden Längswänden sowie durch die Lichtöffnungen des Sanktuariums und der westlichen Galerie von Helligkeit durchflutet ist. Von besonderem Reiz in allen diesen Oratorien ist die Schönheit ihrer Möbelausstattung. Da, sie nur für die Mitglieder einer Bruderschaft errichtet waren, bedurften sie keiner umfangreichen Bestuhlung. Längs der Wände hatten sie für die begrenzte Teilnehmerzahl oder Zeremonien lediglich Bänke mit noch reicherem Dekor, als ihn die Oratorien selbst aufwiesen. Meist waren die Bänke kunstvoll aus Mahagoni geschnitzt und hatten phantasievolle Einlagen aus Perlmutt. In S. Lorenzo sind sie abwechselnd mit Rosen (Bild 112), den Attributen der Rosenkranzmadonna, eingelegt und mit einem eine Schlange tötenden Adler, dem traditionellen Symbol des Guten über das Böse. Im Oratorium von S. Caterina steht vor der Abschlusswand eine geschnitzte Ehrenbank (Bild 107), die dem Regenten der Bruderschaft vorbehalten war und meisterhaft gemalte Grotesken auf Goldgrund zeigt. Im Oratorio di S. Lorenzo haben die geschnitzten Bankkonsolen die Form von Figuren allegorischen Inhalts oder rein malerischen Charakters (Bild 113). Die gleiche Liebe zu guter Handwerksarbeit spricht aus vielen Details in den Kirchen Palermos, wie sie vor allem in der Nachbarschaft der Hochaltäre zu finden 123 sind. Die mit Marmorornamenten verzierten Stufen des Hochaltars von S. Zita (Bild 109), die in pietra dura eingelegten Antependien vieler Kirchen (Bild 111) und der prachtvolle Marmorfussboden im Sanktuarium von S. Caterina (Bild 110) sind ebenso hervorragende Beispiele meisterlicher Handwerkskunst wie die Wandverkleidungen der Kirchen. Besonders die eingelegten Fussböden des Barocks wirken wie ein Nachhall mittelalterlicher Tradition und sind nach Entwurf und Ausführung unmittelbar aus normannischen Kathedralen übernommen. Die Adelspaläste Palermos Die meisten Barockpaläste Palermos folgen dem bereits im späten 16. und im 17. Jahrhundert festliegenden Schema, bei dem ein Arkadenhof das Zentrum der Anlage bildet. Bei der Weiterentwicklung dieses Grundrisses spielte Giacomo Amato eine wichtige Rolle. Sein 1705 begonnenes Palazzo Cuto ist in zweigeschossigen Arkaden um einen schattigen Innenhof herumgebaut, eine Art Brunnenhof, wie er im Palazzo Reale vorkommt. Wenn die Anlage der Treppe wirklich von ihm herrührt - in ihrer heutigen Form stammt sie aus einem Umbau des Palazzo von 1760 -, war sie eine bemerkenswerte Neuerung, da sie nicht in einer Ecke des Hofs versteckt ist, sondern in der Hauptachse des Palazzo emporführt und im Blickfeld des Eintretenden liegt. Dieser dramatische Blickfang war zu diesem Zeitpunkt etwas ganz Neues, vermut lich auch für die Architektur des Hauptlandes. Der Plan des Palazzo Cattolica (Bild ‚116), ebenfalls ein Entwurf von Amato, aber erst aus der Zeit um 1720, ist noch origineller. Dem Besucher präsentieren sich zwei Arkadenreihen hintereinander, so dass er den Eindruck von zwei Höfen hat. In Wirklichkeit ist nur ein einziger vorhanden; doch besitzt er eine beträchtliche Tiefe und ist durch eine von Arkaden getragene Brücke in zwei Hälften geteilt, die nicht nur von ausgesprochen malerischer Wirkung ist, sondern gleichzeitig in der Höhe des piano nobile eine zweite Verbindung zwischen den beiden langen Seitenflügeln hergestellt. In der Palastarchitektur Neapels würden sich leicht Analogien zu diesem geschickten Spiel mit arkadengeschmückten Höfen und Treppen finden, doch stammen die grossen Meisterwerke dieser Art von Felice Sanfelice alle aus einer späteren Periode, und es ist nicht ausgeschlossen, dass Palermo in diesem Stadium der Entwicklung dem Festland voraus war. In späteren Bauten ist die Verbindung mit Neapel evident, besonders bei dem grossartigsten aller palermischen Treppenaufgänge, dem des Palazzo Bonagia (Bild 117), der Andrea Giganti, aus Trapani zugeschrieben wird und kurz nach 1760 entstanden ist. Obwohl der Palazzo durch Bomben weitgehend zerstört wurde, hat sich der Treppenaufgang, wenn auch beschädigt, erhalten. Leider ist er jetzt dem völligen Verfall ausgeliefert, da die Behörden nichts zu seiner Wiederherstellung tun. Genau wie beim Palazzo Cat124 tolica gehen die Seitenflügel sehr weit nach hinten und bilden einen engen, schmalen Hof. Er ist durch den Treppenaufgang, der die Terrasse trägt, gehälftet, und diese stellt, genau wie Amatos Arkadenreihe, im ersten Geschoss eine Verbindung zwischen den Seitenflügeln her. Man darf also sagen, dass Gigantis Treppe die Arkadenidee Amatos mit einem anderen Konstruktionsschema kombiniert, das seinem Ursprung nach rein neapolitanisch ist, nämlich mit dem von Sanfelice in seinem eigenen Palazzo sowie im Palazzo del Spagnuolo auf der Piazza dei Vergini und in vielen anderen Adelspalästen angewandten doppelläufigen, offenen Treppenaufgang. Giganti ist jedoch weit entfernt davon, Sanfelice im Detail nachzuahmen. Die neapolitanischen Treppen pflegten hinter einer Wand zu liegen, die zwar von Offnungen durchbrochen war, jedoch die Treppenfluchten weitgehend der Sicht entzog. Im Palazzo Bonagia dagegen ersetzt der Baumeister die Vorderwand durch eine dreifache von Säulen getragene Öffnung und durchbricht die rückwärtige Wand durch drei Arkaden, so dass die Treppe den Freiraum des Hofs fortsetzt und ein Durchbruch zum Garten hinter dem Palazzo geschaffen ist. Auch Sanfelices Treppen führten ursprünglich in den Garten. Heute sind diese Gärten bebaut und die Offnungen zugemauert, aber auch vorher besassen seine Treppenaufgänge nicht die gleiche Transparenz, wie sie der Palazzo Bonagia aufweist. Die meisten Treppenaufgänge Sanfelices bestehen aus Backstein und Stuck, nur im Palazzo Serra di Cassano konnte er sich in bezug auf Material und Bauformen grössere Freiheit gönnen, und von diesem Modell hat sich Giganti offenbar Anregungen geholt für seine wirkungsvolle Verwendung verschiedenster Materialien, insbesondere von rauhem schwarzern Tuff für das achitektonische Gerüst der Treppe und von glattem Marmor für ihren Dekor. Ein Treppenaufgang von besonderem Einfallsreichtum ist in Palermo eine Seltenheit. Die meisten sind relativ einfach. Es gibt nur einen einzigen von einer ausgesprochenen Genialität des Entwurfs, der an neapolitanische Vorbilder erinnert und diese sowie die Leistungen Sanfelices übertrifft, den Treppenaufgang des Palazzo Gangi (Bild 118). Seine architektonische Wirkung ist heute stark herabgemindert durch die Verglasung der Offnungen im piano nobile, so dass seine ursprüngliche Form als völlig offene Baustruktur nur noch schwer zu würdigen ist. Den beiden Aufgängen sind zwei Fluchten von je drei Stufen vorgelagert, die den Zugang zur Treppe von der Hofseite her und von der Eingangsseite des Palazzo an der Piazza S. Cecilia her bilden - von dort her geht es zunächst durch eine unter der Haupttreppe liegende Durchfahrt. Die Vortreppen münden in ein viereckiges Podest, von dem die Aufgänge ausgehen. Sie führen zu Podesten in Rhombenform und dann in einer weiteren Flucht zu dem grossen Podest vor den Repräsentationsräumen im Obergeschoss. Betrachtet man sich dieses Podest genauer, so stellt man fest, dass 118 116 117 120 131 119 125 es aus einem unregelmässigen Zehneck mit vier einspringenden Ecken besteht. Selbst Sanfelice bediente sich nie derart komplizierter Formen. Der Baumeister dieses Treppenaufgangs ist unbekannt, und auch das Entstehungsdatum steht nicht fest. Doch in Anbetracht der Eckigkeit des Entwurfs und des Klassizismus der Details, vor allem an der Eingangstür zum piano nobile, ist zu vermuten, dass der Treppenaufgang genau wie die Fassadendekoration des Palazzo aus ziemlich später Zeit stammt, also vielleicht von 1770-90, bestimmt aber aus einer späteren Phase wie der Rokokodekor des Ballsaals und des salone. Die Hauptfassaden der palermischen Adelspaläste sind im architektonischen Entwurf verhältnismässig einfach und zeigen wenig Pilasterschmuck. Gross ist dagegen der dekorative Reichtum ihrer Fenster. Sie sind mit allen Arten von mehrfach profilierten Giebeln gekrönt, die zumeist alle möglichen Reliefs und Medaillons mit figürlichem Schmuck enthalten. Die Mittelachse des Palazzo ist fast immer durch ein eindrucksvolles Portal betont, über dem sich ein Balkon mit gekanteten Seiten und ausladenden schmiedeeisernen Gittern befindet. Diese Anordnung ähnelt der von Vaccarini in Catania angewandten, aber ihre Wirkung ist anders. Die Baumeister Palermos übernehmen selten Vaccarinis Weiterführung der gekanteten Bewegung in den Einfassungen und Giebeln der Fenster und belassen diese in der Wandebene. Doch erreichen sie trotzdem gleichstarke Effekte, da sie sich der Tatsache bewusst sind, dass die Länge der Fassaden palermischer Palazzi und die dadurch bedingte vielfache Wiederholung schmiedeeiserner Balkone äusserst wirkungsvoll ist. Das auffallendste Beispiel dieser künstlerischen Einsicht ist der Palazzo S. Croce (Bild 114). Hier ist die Wirkung dadurch erhöht, dass nicht nur der piano nobile, sondern auch das darunterliegende Mezzaningeschoss Balkone erhalten hat. Bei Adelspalästen dieser Grössenordnung ist die Fassade oft durch drei Portale unterbrochen, was die Monotonie der gleichartigen Fensterordnungen im Erdgeschoss erfreulich belebt. Viele der grossen Adelspaläste Palermos sind in andere Hände übergegangen und in Büros oder kleine Wohnungen umgewandelt, so dass ihre Innendekoration nicht mehr vorhanden ist. Die wenigen Palazzi, die noch in alter Form erhalten sind, erlauben allerdings, streng architektonisch gesehen, den Schluss, dass das Innere nicht viel zu bieten hatte. Ihre Baumeister scheinen nicht an dem Formenreichtum interessiert gewesen zu sein, um den sich ein Mansart oder Bor rormini bemüht hätte. Sie sorgten statt dessen für eine luxuriöse Innenausstattungaus Seide und Brokat mit Spiegeln in geschnitzten und vergoldeten Rahmen, von bemalten Decken mit di-sotto-in-su-Fresken allegorischen oder mythologischen Inhalts, die von gemalten Architekturperspektiven umgeben waren, von Fussböden aus Majolikafliesen, oft mit geome126 trischen Mustern, oft aber auch zu Fliesentableaus mit Figurengruppen vereinigt, die zum Inhalt der Deckengemälde in Beziehung standen. Die repräsentative Folge von barocken Innenräumen enthält der Palazzo Gagni. Der grosse salone entspricht ganz dem oben beschriebenen Muster und hat eine ausnehmend schöne Decke (Bild 131) sowie einen wohlerhaltenen Majolikafussboden, während der nächste Raum, die Sala degli Specchi (Bilder 119 und 120), mit ihrer Wanddekoration und vor allem mit der erstaunlichen Konstruktion ihrer Decke einzig dasteht. Diese besteht aus einer äusseren, stark gewölbten Schale, die mit allegorischen Fresken des üblichen barocken Typs bemalt ist. Doch sind sie nur durch eine Reihe von öffnungen in der darunterhängenden Decke sichtbar. Sie ist flacher gewölbt und bildet eine Art Maske, die von Augenlöchern durchbrochen ist, eine Decke, deren Konstruktion schwer durchschaubar ist. Die un tere Decke scheint auf ganz flachen Bogen - vielleicht sogar nur Balkenlage - zu ruhen. Sie reicht von einer Seite des Saals zur anderen und ist durch Stukkierung zu den wunderbar geschwungenen Formen gehöht, die dann auch um die Ausschnitte herumgeführt sind, durch die man in die freskierte äussere Wölbung blickt. Der Saal empfängt sein Licht durch zwei Reihen von Fenstern, deren eine auf die Piazza und deren andere auf eine Terrasse mit einem kleinen hängenden Garten geht. Zwischen den Fenstern befinden sich dreigeteilte Spiegel in Rokokorahmen, deren hohe Mittelbekrönung im darüberliegenden Fresko wiederholt ist. Wenn der Saal für einen Ball benutzt werden sollte, wurden die Fenster durch Läden verschlossen, die mit bemalten und vergoldeten Paneelen geschmückt sind, so dass der gesamte Innenraum von der flimmernden Bewegtheit fragiler Rokokoornamentik erfüllt scheint. Am Ende des Ballsaals befinden sich zwei kleine Salons im gleichen Stil, die aber entsprechend ihrer geringeren Grösse etwas leichter dekoriert sind. Der Suite dieser Räume mag es an der handwerklichen Sorgfalt und Verfeinerung der Boiserien des französischen Louis Quinze fehlen. Allein, sie besitzt eine Heiterkeit und zeugt für eine Phantasie, wie sie ausserhalb Siziliens selten zu finden ist. 103 25 102 112 106 107 113 112 110 109 127 Bagheria Bagheria, Dacia Maraini Auszüge aus: Bagheria : eine Kindheit auf Sizilien / Dacia Maraini; aus dem Ital. von Sabina Kienlechner – München ; Zürich : Piper, 2002 ...»Das heute veraltete Eimer- oder Becherwerk bestand aus einer Reihe von kleinen, an einem Ket tenband befestigten Eimern; das Kettenband bewegte sich über ein mechanisches Räderwerk, entweder von einem Arbeitstier gezogen (gewöhnlich von einem Esel oder Maultier) oder kraft einer handbetriebenen Kurbel. Die Eimer schöpften auf diese Weise das Wasser aus den Reservoiren zur Bewässerung der Felder«, lese ich in Oreste Girgentis Buch über Bagheria, dem einzigen, das die vollständige Geschichte des Städtchens aufzeichnet. Ein ehrenwerter Mann, dieser Girgenti, peinlich genau in seinen Ausführungen; und offenbar liebt er seinen Heimatort sehr. Auch wenn man hinter seinen akkuraten Forschungen die grosse Sorge verspürt, nur ja keinen der Honoratioren des Örtchens zu beleidigen, etwa den Bürgermeister, die Prälaten oder die Adeligen oder die »hervorragenden Lehr kräfte«. Ein sehr ordentliches, vertrauenerweckendes Buch, den »Autoritäten« absolut hörig. Als Erscheinungsdatum wird das Jahr 1985 ange geben, aber ich nehme an, dass es sich um eine Wie derauflage handelt, denn das Buch wirkt, als sei es aus einer Schublade des 19. Jahrhunderts hervorgezogen worden. Auch die Photographien in ihrem schlichten Schwarzweiss sehen aus, als seien sie um die Jahrhundertwende entstanden; sie zeigen ein Bagheria, das es nicht mehr gibt, ergreifend, wie man die Schülerschaft des Manzoni-Konvikts aufgereiht sieht, oder die aus der Ferne aufgenommenen Teilansichten der Villen inmitten von Olivenbäumen, die bereits vor mindestens einem halben Jahrhundert abgeholzt worden sind. Mit keinem Laut verrät der ehrenwerte Herr Girgenti uns etwas über die mutwillige Zerstörung der Villen von Bagheria, die er doch liebt und bewundert. »Es begann mit einer Enteignung seitens der Ge meinde Bagheria um die Mitte der fünfziger Jahre«, schreibt Francesco Alliata, einer der wenigen unter meinen Verwandten (nebst meiner jungen Nichte Vittoria), die ein soziales Gewissen bewiesen haben. »Meine Tante Caterina und mein Bruder Giuseppe konnten die Gemeinde einfach nicht dazu überreden, ein anderes Gelände für ihre Zwecke zu benutzen.« Als Vorwand diente der Plan zum Bau eines neuen Schulgebäudes. Es handelte sich aber ganz gewiss um einen Vorwand, denn man hätte die Schule sehr gut auch ein wenig weiter rechts oder links erbauen können; das Privatgelände um die Villa Valguarnera aber reizte die Bauspekulanten, denn es lag im Zentrum Bagherias. Eine der wertvollen »grünen Lungen«, ein vor dreihundert Jahren entstandenes, von den damaligen Gärtnern liebevoll entworfenes Gelände wurde auf diese Weise brutal »gesäubert« und seiner jahrhundertealten Bäume, seiner Brunnen, Gartenwe- ge, Statuen und Sandsteinbalustraden beraubt und ist einem scheusslichen Schulgebäude gewichen, das aus keinem ersichtlichen Grunde an eben diesem Platz erbaut werden musste. Aber das war nur der erste Schritt, der scheinbar einem gemeinnützigen Interesse dienen sollte - wer will sich schon dem Bau einer öffentlichen Schule widersetzen? -, dem alsbald die Erbauung der Mietskasernen und Einfamilienhäuser folgte. Dass genaue Bebauungsgesetze zum Schutz der Landschaft, der Baudenkmäler und öffentlichen Grünanlagen existieren, kümmerte keinen. Bald nach der Enteignung wurde eine Strasse gebaut, dann noch eine Strasse, noch breiter als die erste, gefolgt von einer wilden Parzellierung des Geländes. Erst 1965, nachdem das Desaster bereits vollkommen war, wurde eine Untersuchungskommission aus Palermo eingesetzt, die nach Monaten eingehender Nachforschungen eine Liste von wahrlich beängstigenden, alarmierenden Machenschaften erstellte. Darauf wurden all jene mit vollem Namen genannt, die an der Zerstörung der beiden grünen Lungen Bagherias beteiligt gewesen waren, um diejenigen zu begünstigen, die man in Rom »palazzinari« (Bauspekulanten) nennt und die sich der teils unverhohlenen, teils anbiedernden, versteckten Unterstützung der lokalen Verwaltungspolitiker erfreuen: der Bürgermeister, Stadträte, Notare, Techniker und vieler anderer. »Die Gemeindeverwaltung«, schreibt Rosario La Duca, einer der aufmerksamsten Beobachter der si zilianischen Verhältnisse, »hat absichtlich die recht lichen Vorschriften ausser acht gelassen, die rechtzeitig erlassen worden waren; sie hat die private Spekulation begünstigt, sie hat uns ein eklatantes Beispiel von Korruption und politischer Sittenlosigkeit geliefert ... Nach Villa Butera geht die massakerhafte Stadtzerstörung von Bagheria gnadenlos weiter ... Die Verwaltung ist hier und jetzt, mit diesem Bericht, aufgerufen, sich vor der Justizbehörde für die schweren Vergehen zu verantworten, deren sie durch die Nachforschungen einer gewissenhaften und wachsamen Kommission bezichtigt wird. « Der eine oder andere hat Francesco Alliata be schuldigt, zusammen mit seiner Tante und seiner Cousine Marianna Alliata beim Ausverkauf der »grünen Lunge« mitgemischt zu haben. »Aber selbst wenn meine Verwandten sich schuldig gemacht haben sollten«, antwortete er weise »so wäre es doch Aufgabe einer ernsthaften, verantwortungsbewussten Gemeindeverwaltung gewesen, in ihrer Funktion als Bewahrerin der vom Staat erlassenen, bindenden Gesetze einzuschreiten und dies zu verhindern.« Dank meiner Freundschaft mit Professor Antonio Morreale, eine der ehrenwertesten, liebenswürdigsten und intelligentesten Persönlichkeiten Bagherias und ein leidenschaftlicher Erforscher der sizilianischen Geschichte, sind die Forschungsergebnisse der Untersuchungskommission des »Assessorato ai Lavori 129 Pubblici del Comune di Bagheria« (Amt für Öffentliche Arbeiten der Gemeinde Bagheria) aus dem Jahre 1965 in meine Hände gelangt. Beim Lesen dieser Blätter wird man sprachlos vor der unverschämten Arroganz, mit der die Gemein deverwalter ihre skrupellosen Aktionen in Gang setzten, offenbar in völliger Sicherheit darüber, straffrei auszugehen. »Die grösste Manipulation an den gesetzlich ge schützten Geländen von Bagheria geschah im Juli des Jahres 1963«, schreiben die Untersuchungskom missare. Ein paar Seiten weiter taucht erstmals der Name eines Mannes auf, von dem dann noch häufig die Rede sein wird, nämlich immer dann, wenn von einem zwielichtigen Vertrag, einem Projekt, einer Parzellierung berichtet wird: ein gewisser Nicolo Giammanco, Ingenieur. Ein obskurer Protagonist, gefährlich und zäh, dem es im Guten und im Bösen gelingt, überall seinen Willen durchzusetzen. Er hat etwas von einem Dämon, einem schäbigen Dämon, der sehr an die korrupte, unselige Gestalt des Solog ub erinnert. Gemeinderäte und Bürgermeister werden verhört, aber keiner weiss etwas, keiner kann sich erinnern. Einige weigern sich sogar, zum Verhör zu erscheinen. Sie verbarrikadieren sich in ihren Häusern, sind angeblich krank oder »verreist«. Einer der Gemeindesekretäre erklärt frank und frei, »sich nicht erinnern zu können, je an einer Aus schusssitzung teilgenommen zu haben, bei der man über den Preis des Schulgeländes oder über die Erweiterung des Baugeländes über die vom gesetzlichen Bauplan festgelegten Grenzen hinaus diskutiert hätte. Und er fügt hinzu, dass über solches möglicherweise erst geredet worden ist, nachdem die regulär festgesetzten Tagesordnungspunkte durchgesprochen waren und er sich folglich bereits aus dem Sitzungssaal entfernt hatte.« Aber wohin ist er denn gegangen? In den Korridor, um »eine Zigarette zu rauchen«? Oder hat er sich ins Klosett eingeschlossen, um abzuwarten, bis der Plan zurechtfrisiert und von den Gemeinderäten abgesegnet wäre, oder ist er einfach nach Hause ge gangen? Darüber steht nichts im Bericht der Unter suchungskommission. »Die Sache kam recht häufig vor«, erklärt der Ge meindesekretär, »und ich erinnere mich, dass jedes mal, wenn der Ausschuss über Themen der Öffent lichen Arbeiten diskutierte, ein Funktionär des Technischen Büros hinzugerufen wurde; dieser Funktionär war fast immer Ingenieur Giammanco.« Auch der Bürgermeister wird befragt, aber er sagt, er wüsste gar nichts. Alle fallen aus den Wolken, fast als hätte der Ausschuss nur aus leeren Köpfen bestanden, deren Hirne draussen vor der Tür abgelegt worden waren. Im Bericht der Kommission sind Fakten enthalten, die ans Groteske grenzen und einen zum Lachen bringen könnten, wenn die daraus entstandenen Folgen nicht 130 so tragisch wären: die Beschädigung und die Verkümmerung der Umgebung, die die Bewohner Bagherias hinnehmen mussten, die Zerstörung der architektonischen und landschaftlichen Schönheiten und damit des ganzen Reichtums dieses Ortes. So etwa erteilt die Gemeinde - um nur ein Beispiel zu nennen - zu einem gewissen Zeitpunkt der Firma Barone die Bewilligung, mitten im Bausperrgebietein Gymnasium zu errichten. Die Firma rodet die alten Bäume. Sie beginnt zu graben und Zement aufzuhäufen. Nach einigen Monaten aber verkündet die Gemeinde, dass die Arbeiten abgebrochen werden müssten, da man »festgestellt« habe, dass das Gelände gesperrt sei und nicht bebaut werden dürfe, weder für private noch für öffentliche Zwecke. Die Firma Barone verlangt verständlicherweise Schadenersatz. Die Richter gestehen ihr diesen zu, und die Gemeinde wird zum Zahlen aufgefordert, denn »obwohl sie den obengenannten gesetzlichen Bauschutz kannte und kennen musste, schloss sie mit der Firma Barone einen Vertrag ab und musste also damit rechnen, dass die für die Wahrung des Bauschutzes zuständige Behörde einschreiten und konsequenterweise den Abbruch der bereits begonnenen Arbeiten und die Aufhebung des Projekts anordnen würde«. Aber alle wissen, dass dies nur ein Betriebsunfall ist, nicht schlimm, und dass man schon einen Weg finden wird, die richterliche Forderung zu umgehen. Mit ein paar Einschüchterungen hier und der Verteilung von etwas Schmiergeld da können die Arbeiten bald wieder aufgenommen werden. Mitten im gesperrten Gebiet werden nun ohne Genehmigung der Aufsichtsbehörde die Fundamente für ein gigantisches zehnstöckiges Gebäude gelegt. Die Projekte sind von der Notarkanzlei sowie den Baukommissionen und Technischen Büros der Gemeinde ganz regulär bewilligt. Bei allen Projekten aber hat Ingenieur Giammanco seine Hand im Spiel. Die Untersuchungskommission vermerkt sogar: »Aus einer Besichtig ung an Ort und Stelle geht hervor, dass ein Teil der Strasse an das Grundstück des Ingenieurs Nicolo Giammanco angrenzt. « Derselbe Giammanco ist inzwischen ein Freund der Prinzessin Alliata geworden, und mit ihr entwirft er ein weiteres Parzellierungsprojekt »am oberen Ende der Via Seconda, trotz der von derselben Frau Alliata erlassenen Bausperre, wie der Gemeinde in einem Brief vom 24. 8. 57 mitgeteilt wurde«. Die Kommission entdeckt, dass die Bewilligungen des Technischen Büros häufig von Hand geschrieben sind, und zwar von der Hand des Ingenieurs Giammanco, und dann von seinem Chef, dem Ingenieur Trovati, unterzeichnet wurden. Ausserdem sind »alle Akten unvollständig: die Lizenzvergaben sind vorschriftswidrig, es fehlt der Stempel der Aufsichtsbehörde, es fehlt die Hinterlegung beim Rechnungshof der Präfektur für Stahlbetonbau, es fehlen die regulären Sit- zungen der Baukommission, es fehlen die Abgaben an die Sozialkasse für Ingenieure und Architekten«. Alle mit Privatpersonen abgeschlossenen Verträge wurden im Beisein des Notars Di Liberto Di Chiara aus Bagheria aufgesetzt, jedesmal »assistiert von Ingenieur Nicolo Giammanco, der als »technischer Berater« bezeichnet wird«. Er hatte also die gesamte Spekulation über das ge sperrte Gelände unter seine Kontrolle gebracht. »Einige Parzellen wurden ausserdem von Ingenieur Giammanco selbst aufgekauft.« Vom Bericht der Untersuchungskommission alarmiert, erklärte die Aufsichtsbehörde (wie ist es nur möglich, dass sie nicht schon früher darauf auf merksam geworden ist?), dass sie niemals die Geneh migung erteilen würde, das gesperrte Gelände zu bebauen. Doch es scheint sich niemand um die Er klärungen der Aufsichtsbehörde zu kümmern, denn »die Gemeindeverwaltung bewilligte zu eben dieser Zeit neue Parzellierungen des Geländes an der Via Seconda und liess zu, dass weitere Mietshäuser im Bausperrgebiet entstanden«. Kurz, sowohl der Bericht der Untersuchungs kommission als auch die Erklärungen der Aufsichts behörde sind leere Worte geblieben. Die Bauarbei ten gingen ungehindert weiter, die beiden grünen Lungen Bagherias waren »im Nu verschlungen«. An ihrer Stelle haben wir nun eine Grundschule, die auf wüstenhaftern, schlammigem Terrain hochgezogen wurde, ein Gymnasium, das niemals zu Ende gebaut wurde, und dazu eine Ansammlung von Neubauten, die unter völliger Missachtung der architektonischen und städtebaulichen Regeln in die Gegend gesetzt wurden. Als endlich der Bericht der Kommission veröffentlicht wurde und die Sache auch in die Zeitungen kam, ging man nicht etwa daran, die Schuldigen zu bestrafen und den Schaden - im Rahmen des Möglichen - zu beheben; vielmehr wurde alles mit einer Indemnitätserklärung, einer Amnestie, gelöst, die den Spekulanten nach einem kleinen Bussgeld Straffreiheit zusicherte. Genau gesagt: Herr Nicolo Giammanco wurde 1973 von der Beschuldigung, seine Amtspflicht veruntreut und für private Interessen ausgenutzt zu haben, kraft Amnestie und wegen mangelnder Beweise freigesprochen; als er 1975 Berufung einlegte, wurde seine Klage abgewiesen und er selbst dazu verurteilt, die Gerichtskosten zu tragen. Auf diese Weise wurden die grossartigen Villen Bagherias, die im 18. Jahrhundert entstanden sind und zu den wertvollsten Kunstdenkmälern Siziliens gehören, ihrer Umgebung beraubt; sie stehen nun da, inmitten des Häusermeers, wie misshandelte und erstarrte Zeugen einer Vergangenheit, die offenbar nicht schnell genug ausgelöscht werden kann. Man denke nur an die berühmten grotesken Sand stein-Figuren der Villa Palagonia, die so ungewöhn lich und originell sind, dass Menschen aus aller Welt herbeigereist kommen, um sie zu bewundern, zu photographieren, darüber zu schreiben. Aber während diese Meisterwerke des barocken Manierismus sich einst elegant in den Himmel erhoben, sind sie heute eingekesselt von hässlichen Häuserfassaden und willkürlich aufeinandergetürmten Wohneinheiten. Ich habe Professor Nino Morreale gefragt, ob die Situation in Bagheria sich inzwischen gebessert habe. Er antwortete: »Solange sich nicht irgendein Richter dazu entschliesst, die Verwaltungsakte von Bagheria bis auf den Grund zu erforschen, und solange alles dem guten Willen der wenigen Bürger überlassen ist, die sich dieser Mühe unterziehen, ist eine Besserung kaum möglich. «... ...Wir nähern uns jetzt dem Flügel, in dem Tante Felicita gewohnt hat. Der prachtvolle Gummibaum verliert seine Blätter: sie sind so dick und saftig, dass man meint, auf Fleischstücke zu treten. Seine Wurzeln haben den Terrassenboden durchbohrt und winden sich fett und schamlos um die geborstenen Rohre. Auch hier steht ein Brunnen mit den Resten eines Nymphäums, das Wasser ist trüb und von Algen durchwuchert. Wo einst Goldfische schwammen, sieht man jetzt Stücke der Dachrinne liegen, die der Wind abgerissen hat. Die Häuser des neuen Räubernestes Bagheria um züngeln bereits die ganze nördliche Gartenseite der Villa Valguarnera. Wenn es so weitergeht, werden sie in wenigen Jahren auch den Rest des Besitzes ver schlingen und nur die Villa selbst, wie einen Stummel inmitten der Zementhaufen, übriglassen. Und die Stadt wird eines ihrer kostbarsten architektonischen Denkmäler unwiederbringlich zerstört haben. Die Gemeinde von Bagheria ist reich, aber die Be wahrung ihrer Kunstdenkmäler war bisher die letzte ihrer Sorgen. Ich weiss nicht, was ich mir eher wün schen soll, dass die Villa von einer öffentlichen Insti tution oder von der privaten Industrie aufgekauft wird. In Palermo habe ich gesehen, wie eine öffent liche Institution ein Theater aufkaufte, um selbst die Angelegenheit seiner Wiederinstandsetzung zu »er ledigen«, das Theatergebäude wurde abgedeckt, doch schon nach wenigen Monaten wurden die Arbeiten unterbrochen, und nachdem es so offenliegend ein Jahr lang dem Wind und dem Regen ausgesetzt war, war die Angelegenheit tatsächlich »erledigt« und das Gebäude ruiniert. Andrerseits hatten meine Verwandten selbst dem Druck der Schulden nachgegeben und grosse Teile des Gartens im Stich gelassen, abgegeben und verkauft. Sollte dies das Schicksal unserer phantasmagorischen barocken Wurzeln sein? Dass all unser Protest nichts als ein Kampf gegen Windmühlen ist, nur mit einem blechernen Schwert in der Hand? Von jener niederen Tuffsteinmauer aus, die heute von 131 den Mietskasernen der überfüllten Peripherie von Bagheria bedroht wird, habe ich einst ein grossartiges Schauspiel beobachtet, bei dem der Mensch sich mit der Natur »vermählte«. Es war in einer Nacht des Jahres 1948 oder 49. Im Eckzimmer lag eine Frau mit sommersprossigem Gesicht, den Blick traurig nach innen gekehrt; und doch schien sie von einer wahnsinnigen Freude belebt. Sie erwartete ihr fünfzehntes Kind und hütete brav das Bett, wie die Ärzte ihr befohlen hatten. Alle vorangegangenen vierzehn Kinder waren schon vor der Geburt gestorben. Und jedesmal hatten sie ein Stück von ihrem Körper mitgenommen. Von diesem Körper, der in regelmässigen Abständen wiederauflebte und freudig und begierig einen weiteren kleinen Eindringling ernährte, um ihn dann plötzlich, man weiss nicht wie und warum, wieder zu verscheuchen, als würde er ihn verabscheuen. Ihr Mann, dem die Haare wie ein Turm über dem Kopf standen und der eine dicke Brille trug, ging im Zimmer auf und ab, wobei er an einer Zigarette sog, die er zwischen seinen dicken, fleischigen Fingern hielt. In jener Nacht, wenige Jahre nach Kriegsende, standen wir draussen, an die Brüstung jenes Gartenteils gelehnt, der nicht uns gehörte, und sahen den berühmten Feuerwerken zu, zu denen die Leute von Ferne, sogar von Cefalu und Misilmeri, nach Bagheria angereist kamen. Es war Sommer. Die Sonne war soeben untergegangen, noch sah man rosa Streifen und violette Schatten über dem Horizont schweben, die jedoch in grosser Eile von der aufsteigenden Nacht verschlungen wurden. Mit einem Mal erblüht vor uns ein Lilienfeld mit glitzernden Blütenblättern, die einen Augenblick lang aufleuchten und sogleich mit einem zischenden Laut zu Boden fallen und erlöschen. Gleich darauf ein Knall: bumm, woraufhin eine smaragdgrüne Kuppel erscheint, die sich in ein silbernes Kirchengewölbe verwandelt, dann in eine Handvoll Rubine, die hoch aufspritzen und, weisse Rauchfähnchen hinter sich herziehend, zu Boden sinken. Das Feuerwerk wurde zu Ehren des heiligen Giuseppe veranstaltet, des Schutzpatrons von Bagheria. Ein Fest, für das die Bagherianer, obwohl sie ständig über ihre grosse Armut klagten, sich Jahr für Jahr kräftig zur Ader liessen. Drei Familien von tüchtigen Feuerwerkern wurden fürstlich dafür bezahlt, dass sie alljährlich diesen Wettstreit der Glanzlichter austrugen, dessen einziger Richter das Publikum war. Inzwischen waren auf der Hauptstrasse tausend bunte Lämpchen aufgeflammt. Auf hundert kleinen Strassenständen wurden unter roten und silbernen Girlanden die verschiedensten Knabbereien angeboten: Kürbiskerne, Sonnenblumenkerne, Haselnüsse, Erdnüsse, Kichererbsen, gesalzene und gezuckerte Mandeln; und natürlich Eis mit kandierten Früchten, Meloneneis, gefüllte Törtchen und Schillerlocken, 132 Lakritze in Flocken, Zöpfen und Stangen. Plötzlich aber wird, ohne warnenden Windstoss und ohne Donner, der Himmel von einem langen Blitz zerrissen, der seine grossen und kleinen Goldäste nach allen Seiten hin ausbreitet. Das hatte noch niemand gesehen und niemand sich erträumt: das Spiel der Blitze, das sich über das Spiel der Feuerwerkskörper legte und sich mit ihm vermischte. Das Produkt der menschlichen Erfindung, das mit der launischen Erfindung der Natur in einen Wettstreit eintrat. Ein Duell, vor dem wir staunend erstarrten. Die Feuerwerksspiele enden mit einer Art Schlussstretta, die in Sizilien die »mascoliata finale«* genannt wird. Womit ein Erguss von männlicher Überschwenglichkeit gemeint ist, eine Imitation des Koitus, der eine männliche Herausforderung an Himmel und Erde darstellen soll. Bumm und bumm und bummtumtumm, die Funken spritzten und wirbelten, grüne Blumen setzten sich auf rote Sterne, während sich ein zitternder Vorhang von dünnen, schneefarbenen Regenfäden vor den Nachthimmel senkte. Just in diesem Moment setzte, wie von den »Knal lern« hervorgerufen, der Donner ein und erschüt terte Himmel und Erde. Die Blitze wurden noch länger, noch heftiger. Wir bekamen es mit der Angst zu tun unter den Bäumen, in die es jeden Augenblick einschlagen konnte. Aber wir konnten uns nicht lö sen von dem unerwarteten Schauspiel. So blieben wir und beobachteten den gnadenlosen Kampf bis zum Ende, in dem die Feuer der Erde die Feuer des Himmels herausforderten. Letzterer blieb schliesslich Sieger; nachdem es minutenlang geblitzt und gedonnert hatte, begann plötzlich ein harter, peitschender Regen herabzufallen. Tropfen, gross wie Kichererbsen, gingen über den Dächern nieder und überschwemmten weltuntergangsgleich Strassen und Höfe; Tausende von abgefallenen Blättern begannen zu schwimmen und zu strudeln und wurden durch das ganze Dorf getragen... * Ein sizilianischer Dialektbegriff, zusammengesetzt aus »mescolata« (Vermischung) und »maschio« (männlich). A. d. Ü 133 Bagheria Stadtentwicklung im 20. Jh 1912 1971 1981 Der Barock in Bagheria Sizilianischer Barock / Anthony Blunt; übers. von Erika Schindel, Frankfurt a. M.: Ariel 1972 Nachdem sich die sizilische Aristokratie Palermo zum Wohnsitz erkoren hatte, empfanden ihre Mitglieder das Bedürfnis nach einem Ort, an den sie sich während der heissen Jahreszeit in villeggiatura zurückziehen konnten. Infolgedessen entstand ausserhalb der Stadt in einem Gebiet, das im Mittelalter von den Gärten und Sommerpalästen der normannischen Könige erfüllt, aber im 16. und 17. Jahrhundert ziemlich verlassen gewesen war, eine Fülle von Villen, umgeben von Gärten, Weinbergen, Orangen- und Zitronenhainen. Zwei dieser Villenbezirke lagen dicht bei Palermo: Mezzo-Monreale, anschliessend an die nach Monreale hinaufführende Strasse, und die Piana dei Colli, ein Tal zwischen Palermo, Sferracavallo und Mondello, auf einer Seite von Monte Pellegrino begrenzt, auf der anderen von den Monti Gallo und Gibilforno. Zu gleicher Zeit, als diese Gebiete neu bebaut wurden, begann eine dritte Gruppe von Villen emporzuwachsen, die zwar an Zahl geringer, aber in ihren Ausmassen grösser war. Sie konzentrierte sich um das Dorf Bagheria, 15 km östlich von Palermo gegenüber den Buchten von Palermo und Solunto, und war im Norden vom Monte d‘ Aspra beherrscht (vgl. Karte). Von den Villen in Mezzo-Monreale ist fast die einzige noch vorhandene die Villa Napoli. Die übrigen sind der Expansion Palermos nach Westen zum Opfer gefallen. Doch selbst im heutigen Stadium des Verfalls spiegelt dieses eine Bauwerk die idyllische Vergangenheit dieses Gebiets wider. Es steht im Garten eines der grössten, von Orangenhainen umgebenen normannischen Paläste, nur ein paar hundert Meter von der Cubula entfernt. Die Villa selbst umschliesst Teile des Palasts der Konstanze von Aragon, der im 16. Jahrhundert durch zwei Loggien erweitert wurde. Im 18. erhielt sie einen offenen Treppenaufgang von phantasievoll kurvigem Verlauf. In der Piana dei Colli und in Bagheria hatten die Villen einen Standort von Dauer gefunden. und viele der im 18. Jahrhundert errichteten Bauten haben sich erhalten, wenn auch nicht selten in einem traurigen Verfallszustand. Soweit sich die Daten zurückverfolgen lassen, sieht es so aus, als ob man in beiden Gebieten mit der Bautätigkeit etwa gleichzeitig begonnen hätte, das heisst um 1700, und sie bis ans Ende des 18. Jahrhunderts fortgesetzt hätte. Die Villen der Piana dei Colli sollen zuerst behandelt werden, da die Villen in Bagheria anspruchsvoller und architektonisch besser durchgeformt sind. Oft findet man Ideen darin verwirklicht, die in einfacherer Form in den Villen der Piana dei Colli angedeutet sind. 136 Die Villen der Piana dei Colli Ehe die Piana dei Colli eine Villengegend wurde, war sie hauptsächlich ein Obstbaugebiet und wurde auch zur Jagd benutzt, eine Vergangenheit, die sich noch in den im 18. Jahrhundert erbauten Villen spiegelt. Oft bilden kleine Bauernhäuser oder casene das Kernstück der Villen, was zu gewissen Unregelmässigkeiten ihres Grundrisses führte, die heute noch sichtbar sind. Auch die anspruchsvollen Villen zeigen im Äusseren eine Schlichtheit, die zu ihrer ländlichen Umgebung ausgezeichnet passt, und die Vegetation der Conca d‘Ora ist in ihre Höfe eingedrungen, die noch immer ihrem anfänglichen Zweck dienen, dem Wachsen und Blühen von Oleandern, Bougainvilleas und anderen südlichen Pflanzen. Von dem gleichen ländlichen Charakter ist auch das Innere der Villen durchdrungen. Gelegentlich erscheinen die Götter und Göttinnen des Olymp in den Wandfresken, um die Tugenden ihrer Besitzer zu rühmen, aber weit öfter bestehen die Decken aus buntbemalten Balken (Bild 132), und die Wände sind mit Landschaften oder Trophäen geschmückt (Bild 130). Der Gesamtentwurf dieser Villa war teils durch ihren Verwendungszweck, teils durch lokale Traditionen bestimmt. Da sie nur als Sommeraufenthalt gedacht waren, sind sie den römischen Villen bei Frascati oder den Villen des genuesischen Adels entlang der ligurischen Küste näher verwandt als den von Palladio für seine venezianischen Auftraggeber erstellten Villen, die als Zentrum eines Landguts entworfen waren. Doch während sich die römischen und genuesischen Villen frei in die Landschaft öffnen, häufig mit einem weiten Blick in die Campagna oder über das Meer, zeigen die Villen der Piana dei Colli und in Bagheria einen merkwürdig verschlossenen Charakter, als ob die Eigentümer sich nicht von der Gewohnheit befreien könnten, ein Haus zu bauen, das im Notfall gegen Angriff von aussen zu verteidigen sei. Kaum eine der Villen steht frei in der Landschaft. Entweder besitzt sie einen Vorhof mit langen niedrigen Flügeln, oder sie ist rundum von Verwaltungs- und Stallgebäuden umgeben. In Bagheria liegen die Villen gewöhnlich an einer langen, schmalen, von Mauern begrenzten Zufahrt, die sie vollends von der Aussenwelt abschliesst. Die seitlich der Villen oder rundum angrenzenden Nebengebäude waren meist von Terrassen bedeckt, die von grosser praktischer Bedeutung waren, weil man sich in der Kühle des Abends darauf niederlassen oder ergehen konnte. In manchen Villen sieht man noch einzelne Bänke, wie sie in Zwischenräumen innen vor den Ballustraden standen. Einige waren in Stein gehauen (Bild 133), andere mit Majolikafliesen belegt wie die Bänke im Kloster S. Chiara in Neapel. Manchmal liegen die Terrassen am Ende des Hauptbaus der Villa , und man tritt durch französische Fenster aus den Räumen hinaus. In anderen Fällen sind sie nur über den obersten Podest der Aussentreppe erreichbar (Bild 126). Oft ziehen sie sich lediglich zu beiden 130 132 133 Seiten des Hofs entlang und sind durch eine Mauer verbunden, aber manchmal sind sie auch über die Eingangsseite weitergeführt, entweder in gerader Linie oder in mehrfach gebrochenen Kurven, wodurch sie dem Villeneingang einen echt barocken Charakter verleihen (Bild 129 und Figur 9). Gewöhnlich nehmen die seitlichen Terrassen einen geraden Verlauf, doch in einigen Fällen, wie bei der Villa Mortillara, sind sie in einer Reihe von Vor- und Rücksprüngen barock geschwungen. Die Fassaden der Villen zeigen eine überraschend einfache Gestaltung. Im Höchstfall ist die Hauptfront nach dem Hof oder Garten durch Pilaster aus goldbraunem Tuff oder aus Stuck von derselben Farbe betont. Oft unterbricht auch nichts die glatte Wandfläche als die Umrahmung der Fenster, die manchmal dekorative Giebel zeigen. Ungeachtet dieser nüchternen Fassaden besassen die Baumeister gestalterische Phantasie und wirkten diese in einer Besonderheit, nämlich im Treppenaufgang, aus. Da die Untergeschosse der Villen für die Küchen und die Dienerschaft bestimmt waren - manchmal auch zur Unterbringung einer Kapelle -, war der pianonobile mit den Hauptwohnräumen nur über eine Treppe erreichbar. In den Villen der Piana dei Colli sind diese Treppen der Fassade vorgelegt. Für die Baumeister war es offenbar eine reizvolle Aufgabe, den Aussentreppen möglichst komplizierte Formen zu geben, und so brachten sie eine erstaunliche Vielfalt von Treppenformen hervor. Immer sind es Doppeltreppen, die symmetrisch vor die Mittelachse des Hauses gelegt sind und zwischen ihren beiden Aufgängen einen Durchlass zum Garten besitzen. Manche Treppen sind parallel zur Fassade hochgeführt (Bild 128). Andere umschliessen in geraden Läufen ein Viereck. Bei anderen nehmen sämtliche Fluchten einen kurvigen Verlauf, wobei die obere und die untere in gleicher Richtung gebogensein können (vgl. Bild 137) oder die obere Treppenflucht die Richtung wechselt, so dass sich die konvexen Kurven einander wieder nähern (Bild 122 und Figur 4, S. 153). In der Villa de Simone (Bild 125) sind sämtliche Treppenfluchten und Podeste von Kurven bestimmt. Die Treppen steigen in einer vom Hof abgewandten konvexen Kurve auf, so dass der Blick des Besuchers zunächst auf die Seitenflügel und dann erst auf die Fassade des Hauses gelenkt wird, wenn er auf den Eingangspodest gelangt ist. Die Villa de Cordova (Bild 126 und Figur 5, S. 153) ist dadurch ungewöhnlich, dass die Treppe zum Teil von der Terrassenmauer umschlossen ist, und in der Villa Partanna (Bild 127), die überhaupt eine Sonderstellung unter den übrigen Villen einnimmt, bilden die Flügelbauten einen Winkel von etwa 120°, in den ein ovaler Treppenaufgang eingefügt ist. In gewissen Fällen verkehrt sich die konstruktive Phantasie in Willkür. Bei der Villa Lampedusa beginnt der Besucher seinen Aufstieg unmittelbar neben der Wand des Seitenflügels, ändert seine Richtung um 138 1800, so dass er auf einen Podest gelangt, der weiter vorn als sein Ausgangspunkt liegt, und wendet sich dann erst zurück zum Eingang des vorspringenden Vestibüls. Bei der Villa Castrofilippo (Figur 6, S. 154), die heute infolge Kriegszerstörung in Trümmern liegt, ist das gleiche Prinzip in noch komplizierterer Form angewandt, da die oberen Treppenfluchten kurvig geführt sind. Beim Treppenaufgang der Villa Malvagna (Bild 124 und Figur 3, S. 153) schliesslich, der sich als einziger Überrest erhalten hat, beginnt der Aufstieg fast unter der Eingangstür des piano nobile, wendet sich in Form einer Wendeltreppe in die Gegenrich tung und endet dann oben genau über dem Ausgangspunkt. Die Herkunft dieser Treppenaufgänge ist schwer festzustellen, doch gibt es ähnliche Aussentreppen auf dem italienischen Festland und in anderen europäischen Ländern. In erstaunlich wenigen Fällen sind solche Aufgänge aber an Villen zu· finden. Man darf ruhig sagen, dass ausserhalb Siziliens Aussentreppen an Villen: nicht das übliche sind. In Frascati zum Beispiel befinden sich die Wohnräume ausnahmslos im Erdgeschoss, während es in den Villen rund um Genua, wo der piano nobile wiederum das wichtigste Geschoss ist, die Baumeister vorzogen, die Treppen in das Gebäude selbst zu verlegen. Palladio verwendet gelegentlich in seinen Villen Aussentreppen, doch wenn er dies tut, so nur in einfachster Form, ganz unähnlich den dekorativen Treppenaufgängen in Sizilien. Der Treppentyp mit zwei kurvig verlaufenden Fluchten, wie er sich in der Villa Spina findet (Bild 121), lässt sich bis auf toskanische Vorbilder des 16. Jahrhunderts zurückverfolgen wie etwa Buontalentis Villa Pratolina, die Villa Liccioli in Rufina, die das Werk eines Ammanatischülers war, und die Villa Medici in Poggio a Caiano, wo der Aufgang in eine breite Terrasse, ähnlich den Terrassen sizilischer Villen, mündet. Der Treppenaufgang mit geraden Fluchten, die sich in doppeltem Lauf zurückwenden und dann parallel zur Hauptfassade der Villa aufsteigen, ist äusserst selten, hat jedoch einen berühmten Vorläufer in der Villa Caprarola. Das spannungsreiche Spiel von kontrastierenden Ecken und Kurven, das viele dieser palermischen Treppen charakterisiert, war sicherlich von Guarinis Beispiel inspiriert, mit dessen Bauweise die sizilischen Baumeister vertraut waren, teils durch seine Kirchenbauten in Messina, teils durch Kupferstichillustrationen und schliesslich auch durch die Tatsache, dass er für Vittorio Amadeo II., Herzog von Savoyen, tätig war, der von 1713-18 König von Sizilien wurde, wodurch sich enge Beziehungen zwischen Palermo und Turin ergaben. Guarinis Villa Govone (Figur 2, S. 153) zeigt eine Aussentreppe aus zwei geraden Fluchten, die sich in scharfem Knick zur Fassade der Villa zurückwenden. Sein Treppenentwurf für die Villa Racconigi dagegen steht den Aufgängen sizilischer Villen noch näher, da hier die Fluchten kurvig verlau- 126 Figur 9 129 136 Figur 10 134 Figur 11 fen, wobei sich die obere in die entgegengesetzte Richtung wendet. Varianten dieses Typs von gegenläufigen, kurvigen Treppenfluchten finden sich ausserdem in Neapel an den Kirchen des Baumeisters Sanfelice, etwa an S. Giovanni a Carbonara. Hätte diese Kirche die ursprünglich geplanten Balustraden erhalten, so wäre ihr Treppenaufgang den Schöpfungen der Piana dei Colli in der künstlerischen Absicht sehr ähnlich gewesen. Die S-förmig gekrümmten Fluchten des Treppenaufgangs der Villa Malvagna verraten eine gewisse Ähnlichkeit mit Felices einfallsreichem Entwurf der kleinen Treppe der linken Hofseite seines eigenen Palazzo in Neapel. In einem Einzelfall besteht eine merkwürdige Beziehung zu einem französischen Modell. Der Treppenaufgang der Villa de Simone wurde als einziges Beispiel mit nur kurvig verlaufenden Konstruktionselementen genannt, und er ist auch für sizilische Villen dadurch ungewöhnlich, dass sich seine Balustrade nicht aus einzelnen Säulen zusammensetzt, sondern aus durchbrochenem Gitterwerk besteht, wie es in Frankreich üblich war. Beide Merkmale finden sich in der berühmten Hufeisentreppe in der Cour du Cheval Blanc in Fontainebleau, erbaut von Jean du Cerceau. Tatsächlich, wenn man die untere Treppenflucht der französischen Treppe um 900 drehte, hätte man fast genau den Aufgang der Villa de Simone, sogar einschliesslich der Stützbogen. Eine solche Verbindung mit einem französischen Modell des frühen 17. Jahrhunderts mag unwahrscheinlich wirken, aber die Ähnlichkeit ist zu stark, um nur zufällig zu sein. Die Treppe von Fontainebleau konnte einem sizilischen Baumeister aus Stichen von Perelle und anderen französischen Stechern durchaus bekannt sein. Eines der sonderbarsten Landhäuser der Piana dei Colli ist die für die Principessa di Partanna zwischen 1722 und 1728 erbaute Villa (Bild 127 und Figur 8 ). Sie hat einen dreieckigen Grundriss und ist daher ohne Parallele. Ihre Fassade nach dem Hofe zu ist von zwei Flügeln flankiert, die im Winkel von 600 vorspringen und die Treppe in sich einschliessen. Sie scheint von einem Entwurf Carlo Fontanas für eine Villa im Veneto (Figur 7) inspiriert zu sein. Die Villa selbst wurde offenbar nie gebaut. Trotzdem scheint der Entwurf allgemein bekannt gewesen zu sein, denn er wurde auch von den Baumeistern wie Fischer von Erlach im Palais Althan in Wien und in einem Pavillon in KIesheim nachgeahmt sowie von Archer in dem Pavillon von Wrest Park. Dabei ist es typisch, dass die sizilische Villa als einziges Gebäude dieser Gruppe eine Aussentreppe besitzt. Bagheria Die Geschichte Bagherias ist völlig anders als die der Piana dei Colli. Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts war es nichts als ein von fruchtbarem Ackerland umgebenes Dorf. Aber im Jahre 1658 wählte Giuseppe Branciforti, Principe de Butera, der sich nach vielen 140 Amtsjahren als Minister des Vizekönigs aus dem öffentlichen Leben zurückzuziehen beschlossen hatte, als Bauplatz für sein Landhaus eine Stelle etwas oberhalb des Dorfes. Eine Zeitlang blieb dies die einzige Villa, doch Anfang des 18. Jahrhunderts folgten mehrere grosse sizilische Familien seinem Beispiel, und so entstand rund um das Dorf eine Reihe von Villen. Im Jahre 1769 entwarf einer der Nachkommen des Fürsten einen sorgfältig konzipierten Plan, der auf dem Corso Butera als Hauptachse basierte. Diese Achse wurde rechtwinklig geschnitten von einer anderen Strasse, dem heutigen Corso Umberto, der von der Chiesa Madre zu einem Paar schöner Barocktore führte, die das Ende des ursprünglichen Dorfs anzeigten, und setzte sich bis zu zwei eindrucksvollen Villen, der Villa Palagonia und der Villa Valguarnera, fort. Mit dem Bau der Villa Palagonia (Bilder 134 und 136, Figuren 10 und 11) im Auftrag von Francesco Gravina, Principe di Palagonia, wurde 1705 begonnen. Seit dem 18. Jahrhundert ist sie berühmt für ihre Gruppen von grotesken, ja monströsen Figuren auf den Gar tenmauern des Palazzo (Bild 140), die der Enkel des Erbauers hinzufügte. Sie schockierten Goethe und waren das Entzücken der Sitwells. Doch lenkten sie die Aufmerksamkeit von den architektonischen Qualitäten der Villa ab. Die Villa Palagonia und die benachbarte Villa Valguarnera (Bilder 135 und 137, Figur 12) wurden nach Entwürfen von Tommaso Napoli, einem Dominikanermönch, erbaut, von dem wir nahezu nichts wissen, ausser dass er einen Traktat über die Perspektive geschrieben hat. Die beiden Villen beweisen jedoch, dass er ein begabter Baumeister war. Die Villa Valguarnera (begonnen vor 1713 und im wesentlichen um 1737 beendet) ist das einfachere und edlere der beiden Bauwerke. Man nähert sich ihr durch eine lange, von Mauern umschlossene Zufahrt, die sich zu einem ovalen Hof öffnet, dessen kürzere Achse zum Hause führt. Der Hof ist von niederen Stall- und sonstigen landwirtschaftlichen Gebäuden umgeben, die eine Terrasse tragen. In der Mitte jedes Flügels befindet sich ein schmiedeeiserner Abgang in den Park. An den Seiten ist der Park relativ schmal. Er verbreitert sich jedoch hinter der Villa zu einem Parterre mit einem herrlichen Blick über die Bucht von Solunto, wie er in Sizilien nicht seinesgleichen hat. Genau wie bei den Villen der Piani dei Colli ist der Bau im Äusseren einfach, unterscheidet sich jedoch von ihnen durch seine konkav eingezogene Fassadenmitte. In diese ist der Treppenaufgang eingefügt. Jede Treppenhälfte besteht aus zwei durch ein Podest getrennten Fluchten, die gleichlaufend eingekurvt sind, genau wie die Treppe der Villa Mortillara in der Piana dei Colli. Doch ist die Wirkung hier grosszügiger, weil die Kurve der oberen Treppenflucht in der konkaven Wand weitergeführt ist. Bei der Villa Palagonia sind nur die sie umgebenden Nebengebäude erhalten. Ursprünglich jedoch bilde- 127 Figur 8 Figur 2 124 Figur 3 Figur 6 121 Figur 7 125 122 128 Figur 4 ten diese den Endpunkt einer langen ummauerten Zufahrt, auf der weitere groteske Figuren standen. Sie sind längst dahin, doch kann man sich von dem Anblick des Ganzen durch einen Stich des französischen Künstlers und Reisenden Jean Houel eine Vorstellung machen. Er beschreibt zwar sein Entsetzen über die Villa, fand sie aber doch interessant genug, um sie in einer Skizze festzuhalten. Das Gebäude selbst ist von sehr ungewöhnlicher Form. Der Mittelteil der Vorderfront ist konkav eingezogen und schliesst die Aussentreppe ein, bei des wie bei der Villa Valguarnera. Doch die rückwärtige Fassade beschreibt eine konvexe Kurve und setzt sich in zwei geraden Flügeln fort. Dieser Grundriss ermöglicht eine grosse Vielseitigkeit in der Gestaltung der Innenräume und bietet auch für die Aussentreppe einen geeigneten Hintergrund (Bild 134). Sie besteht ganz aus geraden Fluchten, die jedoch derart subtile Richtungswechsel vollziehen und sich dem Blick des Beschauers in so unerwarteten Schrägen vor den geraden und kurvigen Wänden der Villa darbieten, dass ihre Wirkung noch reizvoller ist als bei den Aussentreppen mit stark kontrastierenden Kurveneffekten. Das Innere der Villa, das hauptsächlich unter dem Enkel des Erbauers seine Ausstattung erhielt hat marmorverkleidete Wände sowie spiegelbesetzte Stuckdecken (Bild 141) und war einst mit aller Art von phantastischen Gegenständen ausgefüllt, die das Kuriositäteninteresse seines Bewohners befriedigten. Die beiden anderen Villen in Bagheria sind den geschilderten so nahe verwandt, dass man annehmen kann, auch sie seien von Napoli entworfen. Die Villa Cattolica (Figur 13) ist ein nahezu kubischer Block, der an seinen beiden Fronten von halbkreisförmigen konkaven Einsprüngen unterbrochen ist, deren einer eine kurvig verlaufende Aussentreppe enthält, ein Schema, das deutlich an die Villa Valguarnera erinnert. Darüber hinaus ist die Villa Cattolica von einer Folge niederer Gebäude umgeben, die in ihrem allgemeinen Charakter dem ovalen Vorhof der Villa Valguarnera ähnelt und in ihrem komplizierten Grundriss dem Entwurf der Villa Palagonia verwandt ist. Der Plan der Villa Larderia (Bild 138, Figur 14) ist noch komplizierter. Er enthält einen runden Mittelbau, von dem in Winkeln von je 1200 drei Flügelbauten ausgehen. Vielleicht ist diese Planung von dem bereits erwähnten Pavillonentwurf Carlo Fontanas abgeleitet. Doch hat Tommaso Napoli dieses Schema mit einer für ihn typischen Freiheit und Selbständigkeit übernommen. Zu diesen repräsentativen Barockvillen Bagherias kommen andere, die ebenfalls recht ansehnlich sind. Die Villa Rammaca zum Beispiel liegt etwa 2 km von dem Städtchen entfernt am Hang des Monte d‘ Aspra und ist durch ihre Einstöckigkeit ungewöhnlich. Man erreicht sie durch eine lange Zufahrt, die an beiden Enden mit hübschen Torpfeilern geschmückt ist und zu einer in Kurven verlaufenden Aussentreppe führt. 142 Auf ihr gelangt der Besucher zu einer Terrasse, die an der ganzen Länge der Villa entlanggeht. Der Anblick der Orangen- und Zitronenhaine, den man von dort aus geniessen konnte, ehe Bagheria mit seinen Häu sern von dieser herrlichen Landschaft Besitz ergriff, muss bezaubernd gewesen sein. 135 140 141 137 Figur 5 Figur 12 Figur 13 138 Figur 14 CAVE DI CUSA SELINUNTE Cave di Cusa und Cave di Barone in: Die Steinbrüche von Selinunt : die Cave di Cusa und die Cave di Barone / Deutsches Archäologisches Institut; von Anneliese Peschlow-Bindokat; mit einem Beitr. von Ulrich Friedrich Hein – Mainz am Rhein : von Zabern, 1990 In der näheren und ferneren Umgebung von Selinunt sind bisher fünf antike Steinbruchgebiete bekannt, die wegen ihrer Lage innerhalb des Territoriums der antiken Stadt als zu Selinunt gehörig anzusehen sind. Das erste befindet sich am Rande der archaischen Stadt, an den Hängen der Manuzza im Nordosten und vor allem im Südwesten. 4 km weiter nördlich folgen dem alten Gehöft Baglio Cusa die Cave di Barone. Das dritte Steinbruchgebiet, die nach ihrem ehemaligen Besitzer benannten Rocca oder Cave di Cusa, erstreckt sich südlich des Städtchens Campobello di Mazara, etwa 13 km nordwestlich von Selinunt. Fast ebensoweit enfernt, nur in nordöstlicher Richtung, ist das vierte, das erst vor zwei Jahren auf einem Höhen am Westufer des Belice entdeckt wurde. Am weitesten entfernt sind die Brüche von Misilbes Menfi, die auch heute noch ausgebeutet werden. Entsprechend den geologischen Gegebenheiten der Küstenregion von Selinunt stehen in allen Brüchen Kalkarenite (»Kalksandsteine«) an, die jedoch in ihrer Beschaffenheit von Bruch zu Bruch Unterschiede aufweisen. Das an den Bauwerken der antiken Stadt verwendete Gestein zeigt die gleichen Merkmale, so daß die Herkunft des Materials der verschiedenen Bauten aus den einzelnen Brüchen im großen und ganzen bestimmbar ist. Unverwechselbar ist der feine, hochwertige Kalkarenit der Misilbesibrüche, der in Selinunt jedoch nicht als gewöhnlicher Baustein, sondern fast ausschließlich für die Bauskulptur verwendet wurde. Daneben treten an den Bauwerken der Stadt noch andere Gesteinssorten auf, wie sie im Gelände von der Akropolis bis hin zu den Cave di Barone anzutreffen sind. Ihre Variationsbreite reicht von den mergeligen Kalken des Akropolisfelsens über Schillkalke, Konglomerate und Konglomerathaltige Kalkarenite mit deutlichen Anteilen von Muschelschalen bis zu den reinen Kalkareniten der Cave di Barone. Allein schon wegen seiner Nähe zur Stadt wird dieses Gebiet, solange es für die Bauten verwertbares Gestein bot, als Steinbruch gedient haben. Eine Erinnerung an die ehemalige Nutzung lebt heute noch in den Flurbezeichnungen »Latomie Landaro« und »Valle Latomie Margio« weiter. Das beste Baumaterial der Stadt stammt aus den Cave di Cusa. Es ist ein in sich homogener Kalkarenit aus gutgerundeten Körnern mittlerer Größe und hoher Festigkeit. Aufgrund dieser Eigenschaften wurde er ganz gezielt für die tragenden Teile des größten Tempels der Stadt, des Tempels G, verwendet, ebenso am Tempel C und F. Das Gestein der Cave di Barone weist demgegenüber größere Schwankungen in der Kornform und der Korngröße auf, Im Bereich der kleinen Korngrößen ist es von dem der Cave di Cusa nicht zu unterscheiden, d. h., Werkstücke mit diesen Merkmalen können sowohl aus dem einen wie aus dem anderen Steinbruchgebiet stammen, aber nur, soweit es sich um kleinere Formate handelt. Die Gewinnung größerer Werkstücke wie etwa die der Säulentrommeln oder Architravblöcke des Tempels G wäre in den Cave di Barone wegen zu geringer Schichtmächtigkeiten und aufgrund der weniger günstigen Zementierung nicht möglich gewesen. Kalkarenit wie der der Cave di Barone findet sich an Werkstücken der Tempel A, D und E wie auch an den Cella wänden des Tempels G. Der Kalkarenit der von ihrem Abbauvolumen her bescheidenen Manuzzabrüche war wegen der großen Schwankungen in der Korngröße im Vergleich zu dem der Cave di Cusa und dem der Cave di Barone ein Baustein minderer Qualität. Teile der Cella mauern des Tempels E und der Befestigungen der Akropolis könnten von hier stammen. Darüber hinaus läßt sich an diesen beiden Anlagen das gesamte Spektrum des zwischen der Akropolis und den Cave di Barone vorkommenden Gesteins beobachten. Aus der Tatsache, daß die Stadtmauern nach der Zerstörung im Jahre 409 v. Chr. aus Werkstücken der aufgegebenen archaischen Stadt und ihres Mauerrings wiedererrichtet wurden, ist ferner zu schließen, daß man bei der Anlage der alten Stadt vorwiegend auf das dort unmittelbar bzw, im näheren Umkreis anstehende Gestein zurückgegriffen hat. Gleiches gilt offensichtlich auch, nach dem bloßen Augenschein zu urteilen, für das Malophorosheiligtum. Der Kalkarenit der Brüche am Belice war wegen seiner geringen Festigkeit noch weniger für Bauzwecke geeignet als der der Manuzzabrüche. Was dieses Steinbruchgebiet jedoch vor den anderen auszeichnet, ist seine Lage an einem Flusslauf. Die Werkstücke konnten direkt aus dem Steinbruch verschifft und auf dem Wasserweg nach Selinunt transponiert werden, so daß die Probleme des Landtransporres hier entfielen. Werkstücke mit Gesteinsmerkmalen der Belicebrüche wurden von uns jedoch nur an dem vor wenigen Jahren entdeckten kleinen Tempel südlich des Malophorosheiligrums beobachtet. Da Gestein dieser Qualität aber auch in der Zone zwischen der Akropolis und den Cave di Barone vorkommt, ist seine Herkunft aus den Belicebrüchen unwahrscheinlich. Davon abgesehen übertrifft das Abbauvolumen dieser Brüche bei weitem die für die Errichtung dieses kleinen Tempels benötigte Menge an Gestein, so dass sie für andere, außerhalb des eigentlichen Stadtgebietes gelegene, bisher nicht bekannte Bauten ausgebeutet worden sein müssen. Das Vorkommen dieser unterschiedlichen Kalkarenite an den Bauten der Stadt erlaubt bereits wichtige Rückschlüsse auf die zeitliche Stellung der Brüche. Bisher ging man davon aus, daß als erstes die der Stadt am nächsten und anschließend die weiter entfernt gelegenen ausgebeutet wurden, eine Annahme, der man im Hinblick auf die Transportkosten zunächst 145 uneingeschränkt zustimmen würde. Im Falle von Selinunt muß jedoch zusätzlich ein weiterer Faktor berücksichtigt werden, die schwankende Qualität des Gesteins der Brüche und die daraus resultierende unterschiedliche Verwendbarkeit des Stein materials am Bau, Die geologischen Untersuchungen haben gezeigt, daß sich Material aus den weit von Selinunt entfernt gelegenen Cave di Cusa bereits am Tempel C, dem ältesten Großbau der Stadt, findet. Die Cave di Cusa waren demnach bereits im zweiten Viertel des 6. Jahrhunderts in Betrieb und gehören damit zu den ältesten Steinbrüchen der Stadt. Interessant ist ferner die Feststellung, daß für die Errichtung eines Bauwerks verschiedene Brüche ausgebeutet wurden. Der Tempel G ist dafür ein besonders markantes Beispiel. Hier finden sich am Stylobat konglomerathaltige Blöcke, die vom Fuß der Cave di Barone oder dem Ge lände südlich davon stammen können. Gleiches trifft für die Schillkalke zu, einen sehr leichten Baustoff, aus dem bezeichnenderweise Teile der Cellamauern bestehen. Beide Gesteinsarten kommen in den Cave di Cusa nicht vor. Von dort stammen jedoch Säulen, Kapitelle und Gebälk. Die Funktion des Werkstücks am Bau war bei der Wahl des Bruches ausschlaggebend, was bei der selinuntinischen Bauhütte auf eine sehr gute Kenntnis des örtlichen Gesteins schließen läßt: man wußte genau, welche Gesteinsqualität für die unterschiedlichen Belastungen ausgesetzten Archi tekturglieder eines Baus erforderlich und in welchem der Stadt am nächsten gelegenen Bruch sie zu finden war. Wegen ihrer Größe und der Qualität ihres Gesteins waren von den fünf genannten Brüchen nur die Cave di Cusa und die Cave di Barone für die Bautätigkeit Selinunts von Belang, Die Manuzzabrüche hatten diesen beiden gegenüber zwar den Vorteil der unmittelbaren Nähe zur Stadt, können aber allein schon wegen des geringen Umfangs keine große Rolle gespielt haben. Entscheidender dürfte unter diesem Gesichtspunkt das als »Latomie Landaro« bezeichnete Gelände zwischen der Akropolis und den Cave di Barone gewesen sein, dessen Abbauvolumen jedoch nicht mehr zu bestimmen ist. Die Brüche bei Menfi und am Belice fielen hingegen kaum ins Gewicht: Das Material der Menfibrüche wurde nur für besondere Zwecke benutzt, und bei dem der Belicebrüche ist es, wie bereits erwähnt, zweifelhaft, ob es überhaupt für die innerstädtischen Bauvorhaben Selinunts verwendet wurde. Die Bedeutung der Cave di Cusa und der Cave di Barone für Selinunt erkannte bereits der Do minikanermönch T. Fazello, dem neben ihrer Wiederentdeckung auch die Identifikation von Selinunt zu verdanken ist. Die erste Stelle gebührt dabei den Cave di Cusa. Allein schon der Vergleich der an bei den Plätzen gewonnenen Gesteinsmenge mag dies verdeutlichen: Das Abbauvolumen der Cave di Cusa betrug mindestens 145000 m3, das der Cave di Baro146 ne nur ein Drittel davon, nämlich 45000 m3 14. Die Bedeutung der Cave di Cusa liegt jedoch nicht allein in ihrer Größe. Weshalb dieses Bruchgebiet seit seiner Wiederentdeckung bis zum heutigen Tag zu einem Anziehungspunkt für Reisende aus aller Welt geworden ist und es auch für die Wissenschaft einen so großen Wert besitzt, hat andere Gründe. Unter den selinuntinischen Steinbrüchen sind die Cave di Cusa die einzigen, die bei ihrem Verlassen noch nicht vollständig ausgebeutet waren. Die Arbeiten waren kurz vor der Aufgabe des Bruches noch in vollem Gang, wie an den zahlreichen, hier liegengebliebenen, un fertigen Säulentrommeln, rechteckigen Blöcken und Kapitellen zu sehen ist. Entscheidend ist ferner, daß der Bau bekannt ist, für den diese Werkstücke bestimmt waren, und damit auch die Zeit, in der die Brüche in Betrieb waren bzw, aufgegeben wurden. Zu Recht wurden die Cave di Cusa bis in jüngste Zeit daher als ein Unicum angesehen. Um so unverständlicher muß es erscheinen, daß sie bis heute noch nicht aufgenommen und genauer untersucht worden sind. Sieht man ab von den zahlreichen Reisebeschreibungen seit dem 16. Jahrhundert und den mehr oder weniger ausführlichen Erwähnungen in der archäologischen Literatur, hat sich einzig G. Nenci vor einigen Jahren etwas eingehender mit ihnen befaßt und auf die wichtigsten Probleme hingewiesen, um die Fachwelt erneut auf diesen bedeutenden Platz aufmerksam zu machen und um zu einer intensiveren Beschäftigung mit ihm anzuregen. Unser Beitrag soll eine erste Antwort darauf sein und Anstoß zu weiterführenden Diskussionen geben. Seit dem Erscheinen von Nencis Artikel haben die Cave di Cusa durch die 1975 entdeckten Marmorbrüche von Milet mit ihren für den Apollontempel von Didyma bestimmten Werkstücken zwar etwas voll ihrer Einzigartigkeit, jedoch nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt, ganz im Gegenteil: ein Vergleich der Steinbrüche beider Städte kann vielmehr zur Lösung einiger Fragen in Selinunt beitragen, wo anders als in Milet jegliche antike Überlieferung über die Bautätigkeit der Stadt fehlt. ALLGEMEINE BESCHREIBUNG Die Cave di Cusa sind am Nordrand einer Felsbank angelegt, die sich südlich von Campobello di Mazara in ostwestlicher Richtung bis nach Mazara dell Vallo hinzieht und im Bereich des Abbaugebietes maximal 500 m breit ist. Nach Norden fällt die Bank steil ab und überragt die um liegende Ebene bis zu 8 m Höhe, während sie sich nach Süden leicht senkt. Außer den Cave di Cusa finden sich noch unbedeutende kleinere antike Bruchstellen an ihrem südlichen Ende bei dem Hirtengehöft Baglio Florio. Das Aussehen der Cave di Cusa wird bestimmt durch eine lange, senkrecht abgearbeitete Bruchwand, die sich durchgehend mit Ausnahme der wenigen Bruchausgänge und einer größeren Unterbrechung im westlichen Teil, wo sie an Höhe abnimmt, über eine Entfernung von 1,7 km verfolgen läßt. Über kürzere Strecken verläuft sie geradlinig, meist springt sie jedoch rechtwinklig vor und zurück, so daß unterschiedlich große Nischen und Vorsprünge entstehen. Die Wand wurde maximal auf die Höhe der Felsbank an dieser Seite, also auf 8 m Höhe, abgebaut. Ein Abbau in die Tiefe fand nicht statt. Ganz anders ist das Bild der gegenüberliegenden nördlichen Bruchwand. Von ihr haben sich nur noch geringe Reste in Gestalt vereinzelter Felsinseln, selten zusammenhängende Partien erhalten. Die Breite des Bruches beträgt durchschnittlich 40 m. Abgesehen von den oben genannten kleinen Bruchstellen bei dem Hirtengehöft am südlichen Ende der Felsbank wurde nur dieser schmale Streifen im Norden abgebaut. Eine Verbreiterung des Bruches nach Süden war nicht vorgesehen. Darauf weisen auch die Abraumhalden auf der Felsbank entlang der Bruchkante und ein im Innern an die Bruchwand angelehnter Schutthang im zweiten Abschnitt des Steinbruchgebietes. Die südliche Bruchwand galt in der Antike demnach als erschöpft. Nur an wenigen Stellen sollten noch Werkstücke gewonnen werden. Aus geologischer Sicht gibt es dafür keine Erklärung. Die langgestreckte Form des Bruches und seine geringe Tiefe im westlichen Drittel gehen zwar auf die Gestalt des hier vorhandenen bauwürdigen Gesteinkörpers zurück, doch wäre ein weiterer Abbau nach Süden ohne weiteres möglich gewesen. Weshalb dies nicht geschah, bleibt vorläufig eine offene Frage. Archäologische Gründe lassen sich dafür - zumindest bisher - nicht finden. Die Hauptmenge des Abraums wurde hinter den Resten der nördlichen Bruchwand zu unterschiedlich hohen Schutthalden aufgetürmt, an die sich heute unmittelbar Felder, Weingärten, Oliven- und Mandelbaumhaine anschließen. In der Antike wird es nicht sehr viel anders gewesen sein. Die fruchtbare Ebene im Norden sollte offensichtlich vom Steinbruchschutt freigehalten werden. Orientiert man sich an den im Bruchinneren stehengebliebenen Querwänden, lassen sich die Cave di Cusa in vier etwa gleichgroße Abschnitte (I-IV) einteilen, nach denen im folgenden, von Ost nach West vorgehend, die detaillierte Beschreibung erfolgen soll. Vor der Aufgabe des Steinbruchgebietes konzentrierten sich die Aktivitäten weitgehend auf die Reste der nördlichen Felswand und auf das westliche Ende des Bruches. Es sind vier Stellen, an denen bis zuletzt gearbeitet wurde. Die erste liegt in Abschnitt II, die drei anderen in Abschnitt IV. Gewonnen wurden vorwiegend großformatige Säulentrommeln, von denen sich 62 nachweisen ließen, Sie werden der Einfachheit halber hier tabellarisch aufgeführt, wobei die Numerierung ihrer Fundlage in ostwestlicher Richtung entspricht. DER TRANSPORT Die Frage, auf welche Weise diese großformatigen und schweren Werkstücke - die Trommeln wiegen bis zu 70 Tonnen - aus den Brüchen nach Selinunt transportiert wurden, hat bereits J. Houel unter Hinweis auf die von Vitruv überlieferte Erfindung des Chersiphron und des Metagenes zu beantworten versucht. Demnach wurden die Säulentrommeln des archaischen Artemisions von Ephesos in einen Holzrahmen gespannt und dann wie Walzen abgeschleppt, während die Architrave zusätzlich noch mit Rädern ausgestattet wurden, Im Unterschied zum Verfahren in Ephesos müssen in Selinunt jedoch auch die Säulentrommeln wegen ihrer konischen Form mit Rädern abtransportiert worden sein, zu deren Anbringung die quadratischen Löcher in der Mitte der beiden Lagerseiten vorgesehen waren. Von den bereits fertig gebrochenen Trommeln besitzt nur das außerhalb des Steinbruchgebietes liegende Stück Nr. 1, das bereits über eine kürzere Strecke transportiert worden war, bevor es liegenblieb, beidseitig ein solches Loch. Im Steinbruch selbst sind es zwei Trommeln, bei denen mit der Vorbereitung zum Transport begonnen wurde Sie weisen an einer Lagerseite eine derartige Vertiefung auf. Trommeln von über 4 m Höhe und Architrave von über 6 m Länge erfordern einen entsprechend breiten Transportweg, Von dieser Straße ist heute im Gelände jedoch keine Spur mehr zu finden. Im Bereich des Steinbruchgebietes wäre sie an der Nordseite zu vermuten, worauf auch die Lage der fertig gebrochenen Trommeln hier hinweist. Die schmalen Ausgänge an der südlichen Bruchwand können nur der Beseitigung des Abraums gedient haben. Daß die Werkstücke auf dem Landweg nach Selinunt gebracht wurden, steht außer Frage. Die Transportstraße zwischen der Stadt und den Brüchen ist vom 16. Jahrhundert bis zum Beginn unseres Jahrhunderts zur Genüge bezeugt. Wegen ihrer Breite und Ausführung, den tiefen Radspuren im Felsboden sowie der Zahl der hier liegengebliebenen Werkstücke - Houel spricht von sechs bis sieben Trommeln - galt ihr neben den Steinbrüchen die besondere Aufmerksamkeit der Besucher. Will man der Beschreibung von J. Hulot und G. Fougeres Glauben schenken, muß sie noch zu Beginn unseres Jahrhunderts in ausgezeichnetem Zustand gewesen sein. Danach ist es jedoch niemandem mehr gelungen, sie im Gelände zu identifizieren. Von den an ihr liegengebliebenen Werkstücken fand sich immerhin eine Trommel in der Nähe der Straßenkreuzung bei der Zufahrt zu den Cave di Cusa. Damit ist wenigstens der Beginn des Transportweges gesichert. Für seinen weiteren Verlauf kann man sich bislang nur an den alten Reisebeschreibungen, Kartenwerken und am Gelände selbst orientieren. Demnach müßte der Transportweg mit der von Selinunt nach Westen führenden Piste identisch sein, die parallel zur Küste nördlich der Dünen auf etwa gleicher Höhe verläuft 147 und die heute stellenweise asphaltiert ist. Ihre geringe Breite ließe sich mit Flurbereinigungen der jüngeren und jüngsten Zeit erklären. Fraglich wäre hier jedoch, an weichem Punkt die antike Straße nach Norden zu den Steinbrüchen abbog, ob erst bei der Einmündung der Piste in die von Campobella di Mazara nach Tre Fontane führenden Asphaltstrasse oder nicht bereits 2 km vorher, wo ein weiterer Weg nach Norden abzweigt. Für letztere Vermutung sprechen zwei Argumente: 1. die Verringerung der Entfernung zwischen den Brüchen und der Stadt um diese 2 km, sicherlich ein wichtiger Gesichtspunkt im Hinblick auf die hohen Transportkosten, und 2. die Lage der bereits erwähnten Trommel Nr. 1, die sich etwa 150 m östlich der Asphaltstraße Campobello di Mazara nach Tre Fontane auf einem Acker befindet. Es besteht kein Anlaß, daran zu zweifeln, daß sie nicht mehr an der Stelle liegt, an der sie während des Transportes zurückgelassen wurde, d. h., der antike Weg aus den Brüchen müßte auf jeden Fall bis hierhin geführt haben. Seine Fortsetzung in leicht südöstlicher Richtung bis zur Piste und dann dieser folgend, wäre die bequemste und kürzeste Verbindung zur Stadt. Ebenso wäre eine Überquerung des Selinustales in der Nähe des Malophorosheiligtums wegen des geringen Geländeabfalls leichter durchzuführen als weiter nördlich. Die einzige wirkliche Geländeschwierigkeit auf der gesamten Strecke stellte am Ende des Weges die Überwindung des Akropolishügels und des Osthügels der Stadt dar. ZUSAMMENFASSUNG Will man die bisherigen Beobachtungen zusammenfassen, läßt sich folgendes sagen: In ihrem gesamten Erscheinungsbild erwecken die Cave di Cusa bei dem unvoreingenommenen Betrachter den Eindruck, als wäre der Betrieb von heute auf morgen eingestellt worden. Berücksichtigt man dabei zusätzlich die auf dem Transportweg liegengebliebenen Werkstücke, vorausgesetzt, es handelt sich dabei nicht um auf dem Transport beschädigte und deshalb zurückgelassene Stücke, wird man in dieser Ansicht noch bestärkt. Der Gedanke an ein unerwartetes Ereignis, das zum Verlassen des Steinbruchs geführt hat, wäre die nächstliegende Erklärung. In Selinunt käme dafür nur die Zerstörung der Stadt durch die Karthager im Jahre 409 v. Chr. in Frage. Bis auf die vier genannten Stellen war das Gelände zu diesem Zeitpunkt so gut wie erschöpft. Bemerkenswert ist die intensive Nutzung des Felsgrundes, wie an den eng aneinander gereihten Werkstücken zu sehen ist. Um eine optimale Ausbeute zu gewährleisten und unnötige Arbeit beim Schroten zu vermeiden, wurde der Abstand der unmittelbar benachbarten Säulentrommeln auf 20 bis 30 cm reduziert. Das setzt von Anfang an eine sehr genaue Planung und Aufteilung des bauwürdigen Felsgrundes voraus. Die Hauptabbaurichtung verlief ostwestlich. Als letzte wurde die vierte Bruchstelle eröffnet. Bei 148 den anderen drei, die sich vorwiegend auf die Reste der nördlichen Bruchwand beschränken, fragt man sich zunächst, weshalb sie nicht in einem Zuge mit der übrigen Nordwand abgebaut wurden. Besonders augenfällig ist dies bei der ersten Abbaustelle, Achtet man aber auf die Qualität des Kalkarenits - er ist hier besonders gut -, wird dieses Vorgehen in einem Steinbruch mit schwankender Gesteinsqualität verständlich. Bei der Planung eines Baus von solch kolossalen Ausmaßen, wie ihn die Trommelgrößen belegen, wird man als erstes im Steinbruch die Stellen geprüft und reserviert haben, an denen so große Werkstücke wie Trommeln, Kapitelle und Architrave zu gewinnen waren. Je nach dem Stand der Arbeiten am Tempel wurden sie dann sukzessiv abgebaut, Gewonnen wurden vor dem Verlassen des Bruches vornehmlich Säulentrommeln von 2,00 bis 3,60 m Durchmesser. Fast zwei Drittel von ihnen sind noch mit dem Felsgrund verbunden, Das Freischroten erfolgte bis auf eine Ausnahme durch Anlage eines runden Kanals von durchschnittlich 40 bis 60 cm Breite, wobei die Verjüngung der Säule am Bau schon berücksichtigt wurde. Die Höhe der Trommeln ist unterschiedlich und wird vor allem durch die Mächtigkeit des anstehenden bauwürdigen Gesteins bestimmt gewesen sein, Änderungen während des Freischrotens ließen sich an zwei Stücken, eine nachträgliche Verkleinerung wegen Materialfehlers an einem bereits gebrochenen Stück beobachten. Nach dem Brechen war ein weiteres Bearbeiten und Glätten nicht mehr nötig. Bis auf die Herrichtung der Lagerseiten, die am Bauplatz erfolgte, waren die Trommeln versatzfertig, Selinunt in: Sizilien: Insel zwischen Orient und Okzident/ Birgit Carnabuci. Mit Beiträgen von Christoph Höcker und Helga Lehmkuhl. – Köln: DuMont Buchverlag, 1992 Die Ausgrabungen der antiken Stadt liegen dicht bei dem modernen Fischerdorf Marinella und umfassen drei Bereiche: Osthügel, Akropolis und Sakralgebiet der Malophoros. Der Name der Stadt verdankt sich dem wilden Sellerie, der ehemals reichlich in den Tälern der Umgebung wuchs, heute aber nur noch sehr selten vorkommt. Diese immergrüne Pflanze war dem Apollon heilig, und ihr Blatt ist auf einigen selinuntinischen Münzen abgebildet. Geschichte Um 628 v. Chr. (nach anderen Quellen 650 v. Chr.) baten die Einwohner der sikeliotischen Stadt Megara Hyblaea die Mutterstadt Megara, ihnen einen Städtegründer zu senden, der sie in den Westen der Insel führen könne, wo sie eine zweite Stadt anzulegen gedachten. Megara sandte daraufhin Pamillos. Gemeinsam mit ihm verließ eine Gruppe von Bürgern die Stadt, die selbst erst ein Jahrhundert alt war, um sich fern der anderen griechischen Städte Siziliens im Hoheitsgebiet der Karthager anzusiedeln. Nichts deutet darauf hin, daß diese etwas dagegen einzuwenden gehabt hätten. Auch sind keine Anzeichen von Widerwillen oder Widerstand seitens der Sikaner und Elymer bekannt - eher lassen bestimmte Einzelheiten an ein Einvernehmen aller Beteiligter denken. So wählten die neuen Siedler auffällig viele ihrer Schutzgottheiten unter denjenigen Göttern, die ursprünglich aus der phönizischen Götterwelt stammten und unter ihrem alten Namen auch bei den Karthagern Verehrung genossen. Der mit dem Stier kämpfende Herakles, der auf den Siegeln der Stadt, den Münzen und einer der ältesten Metopen abgebildet war, entspricht dem Melkarth der Phönizier, Europa auf dem Stier, von der ebenso eine Metope und andere Darstellungen existieren, der stierreitenden Astarte von Sidon und schließlich Aphrodite mit der Taube, häufig als Votiv- oder Grabbeigabe im Gebiet von Selinunt gefunden, der Kybele. Das Stadtgebiet von Selinunt war, typisch für die westlichen Neugründungen, durch geradlinige Straßen in regelmäßige Flächen geteilt worden, die sowohl das Sakralgebiet als auch dasjenige der öffentlichen Plätze mit einbezogen - ein System, das vor allem den phönizischen Städten eigen war. Ebenso war eine sich verjüngende Bogenform wie bei den Eingängen der Stadtmauer in ähnlicher Weise schon früher in Tiryns angewandt worden. Eine zweite Form, der Rundbogen, war vor Selinunt und der Euryalosfestung in Syrakus auf Sizilien nur in Erice und Segesta üblich, beides Städte, die zum Reich der Elymer gehörten, welche dem Mythos nach aus Kleinasien eingewandertwaren. 150 Den Karthagern standen die griechischen Interessen nicht im Wege: Die Gier nach Land war ihnen fremd, landwirtschaftliche Produkte erzeugten sie für ihren Bedarf genügend in Nordafrika; der Westen Siziliens war ihnen zwar als Handelsstützpunkt unentbehrlich, aber nur, weil er an einer für sie sehr wichtigen Handelsroute lag, die nach Sardinien und Südspanien führte, wo sich die großen Metallvorkommen befanden. Selinunt konnte sich also ungestört entfalten. Weiter westlich, beim heutigen Mazara, wo eine größere Bucht den Schiffen Schutz bot, baute es seine Handelsniederlassung auf, und sobald das griechische Akragas gegründet wurde (582 v. Chr.), dehnten die Selinuntiner ihren Bereich bis zum Fluß Halykos aus (dem heutigen Platani), um die Grenzen zwischen den beiden Reichen festzulegen. Über einen etwaigen Widerstand der Sikaner, in deren Land sie dabei eindrangen, gibt es keine Nachricht. Mit dem vermehrten Besitztum wuchs der Wille zur Macht, und 580 v. Chr., zu der Zeit, als die Selinuntiner ihren ersten großen Tempel errichteten, führten sie auch ihren ersten Aggressionskrieg gegen die angrenzenden Segestaner. Sie wurden besiegt, da die Karthager den elymischen Segestanern beistanden, doch sollte dies nicht der einzige Kampf zwischen den beiden Stadtstaaten bleiben. Die Wirtschaft Selinunts kann allerdings nicht sehr unter der Niederlage gelitten haben, denn ohne Unterbrechung wurden die großen Heiligtümer weitergebaut, so daß heute die Ruinen der antiken Stadt nicht nur ein Beweis für deren Wohlstand sind, sondern darüber hinaus ein gültiges Dokument für die Entwicklungsstufen des dorischen Tempels. Das blühende Selinunt wurde 409 v. Chr. von Hannibal, dem Sohn des Giskon, zerstört. Der eigentliche Grund des unerwarteten Angriffs der Karthager auf die befreundete Stadt war schon der Antike unerklärlich, und bis heute können darüber nur Theorien aufgestellt werden. Bei dem großen Angriff der Karthager auf die gesamte griechische Welt Siziliens 480 v. Chr. war Selinunt jedenfalls noch mit ihnen verbündet gewesen. Hannibal ließ die Mauern schleifen, 16000 Bürger auf der Agora hinrichten und 54000 als Sklaven verkaufen; 3000 gelang es, nach Syrakus zu entkommen. Hannibal gab dem im Exil lebenden Syrakusaner Hermokrates zwei Jahre später die Erlaubnis, den verödeten Ort wieder zu bewohnen, allerdings ohne die Mauern wiederaufzurichten. Kurze Zeit später fiel das Selinunt dieser zweiten Epoche unter die Herrschaft Dionysios 1., wurde aber von ihm 392 v. Chr. an die Karthager abgetreten und überlebte weitere 150 Jahre als kleine, unwichtige Ortschaft, die diese dann endgültig 250 v. Chr. aufgaben und zerstörten, um sie nicht den Römern in die Hände fallen zu lassen. Dort, wo das antike Selinunt gelegen hatte, entstanden zu byzantinischer Zeit eine Festung und ein kleines Bauerndorf. Der arabische Geograph Ibn Gubayr nannte den Ort Rahl‘-al-‘Asnam, ,Ort der Säulen«. Über das Erdbeben, das zu der endgültigen Zerstörung der antiken Bauten führte, gibt es keine schriftlichen Quellen, doch muß es im Mittelalter stattgefunden haben, denn die Säulen der Tempel wurden über den byzantinischen Bauernhäusern liegend gefunden. Wanderdünen bedeckten alle Ruinen, so daß zwar die Erinnerung an die antike Stadt fortbestand, das Wissen um ihren Standort jedoch verlorenging. Erst im 16. Jh. gelang es dem sizilianischen Gelehrten Tommaso Fazello, den einstigen Ort wiederzufinden. Bei den nun folgenden Ausgrabungen wurden die ersten Tempelgebäude freigelegt schon Ende des 18. Jh. waren die Ruinen der alten Stadt eines der beliebtesten Ziele der ersten europäischen Reisenden. Die Ausgrabungstätigkeiten wurden im 19. Jh. intensiv wiederaufgenommen. Als 1824 von den Archäologen Hittorf und Zanth der Tempel B wiederentdeckt wurde, fanden sie an diesem noch in kräftigen Farben gemalte Details, die allen bisherigen Vorstellungen - Tempel seien gänzlich weiß - widersprachen und zu heftigen Kontroversen führten. Heute ist das Gebiet von Selinunt zum archäologischen Park erklärt worden und soll mit Hilfe modernster Mittel systematisch erforscht, zum einmaligen Dokument einer vollständigen griechischen Stadt werden. Vorläufig sind die selinuntinischen Tempel nur mit Buchstaben bezeichnet. Dank einer Tuffsteinplatte, die aus den Trümmern des Tempels G gerettet wurde (Nationalmuseum von Palermo), sind zwar die Namen der in Selinunt verehrten Götter bekannt, doch konnten die ihnen zugehörigen Heiligtümer noch nicht mit Sicherheit identifiziert werden: „Die Selinuntiner sind Sieger im Namen folgender Götter: Wir siegen dank des Zeus, des Phöbos, des Herakles, des Apollon, des Poseidon und der Tyndariden, der Athena, der Malophoros, der Pasikrateia und der anderen Götter, aber vor allem dank des Zeus ... « GIBELLINA Come una porta, Carola Susani in: L’ infanzia è un terremoto / Carola Susani. – Roma: Editori Laterza Le rovine di Montevago sono vicine al paese ricostruito. Montevago è stata rasa al suolo dal terremoto del Belice, nel 1968. Per andarci si imbocca una strada larga. Montevago, vecchia e nuova, come Santa Margherita Belice, sta su un al- topiano pianeggiante, una placca calcarenitica quasi piatta: l‘acqua non scivola giù, si infiltra. Dove ti giri, tutto il resto lo vedi dall‘ alto. L‘altra estate eravamo in Sicilia occidentale, ma più su, nel Corleonese, a Bisacquino, che è un paese di montagna. Andrea e Ombretta con Eva di tre anni, gli amicicon cui condividevamo una casa padronale del Settecento, spoglia e simmetrica, sotto il santuario della Madonna del Balzo, si muovevano in lungo e in largo nel Belice, per esplorare e assaggiare vini. Sono andati anche alle rovine di Montevago. lo non ricordavo di esserci mai stata. Mi sono domandata: come mai? Quand‘ero piccola, dai quattro agli otto anni, abitavamo a Partanna, a pochi chilometri, in baracca. Forse mia madre non se la sentiva di portarci in una città di morti? Se è così, è stato un errore. Per quel che mi ricordo dell‘infanzia, per quel che so da tutti i bambini che conosco, da piccoli proviamo per la morte, per la distruzione e per il tempo una curiosità sfrenata. Nelle città morte ci sguazziamo, la decomposizione non ci fa paura. Ci serve perlomeno una storia, un personaggio inventato o ben isolato dal contesto, per specchiarci nell‘ orfano e farci un pianto; ma neanche in quel caso si placa la nostra sete di conoscenza, della condizione umana e delle forze con cui l‘umanità baccaglia. A Partanna, a cinque anni, io e Luca disegnavamo scheletri: scheletri addobbati, con crinoline e cappelli a larghe tese. Era un trionfo della morte. Probabilmente, fino all‘ adolescenza ci sentiamo felici e feroci spettatori; non vediamo perché, tra i personaggi in campo, non dobbiamo identificarci nel sasso, o ancora meglio nell‘ ailanto che cresce sui fossi. li sasso è un trionfo del tempo, l‘ailanto no, è un trionfo della vita, inestirpabile, invasiva. L‘infanzia si diletta di trionfi. È vero, questa non è tutta l‘infanzia, l‘infanzia non disdegna la commozione, le tenerezze, l‘amore. Però nell‘infanzia c‘è anche questa fascinazione per le rovine. Non mi ricordavo di essere stata a Montevago vecchia, eppure la descrizione mi era familiare. Un lungo, monumentale viale di marmo, alberato di alberi giovani, deserto. Ai due lati, rovine. Palazzetti rasi al suolo, di cui si riconosce il muro perimetrale, qualche stanza, terra accumulata, resti. Il viale che sbocca in una piazza lastricata di marmo, sulla quale incombe la chiesa madre sventrata. La chiesa era dedicata ai santi Pietro e Paolo, l‘avevano costruita nel 1712. Tutto attorno alla chiesa, alti lampioni: si accendono per le iniziative estive, concerti, spettacoli teatrali. La notte tra il 14 e il 15 gennaio, nell‘ anniversario del terremoto del Belice, una fiaccolata parte dal paese nuovo e arriva fino alla chiesa. La descrizione delle rovine, insomma, mi era familiare, forse altre volte Montevago vecchia mi era stata raccontata, o forse c‘ero stata e né io né mia madre ce ne ricordavamo. Quando ci sono andati Andrea e Ombretta non c‘era nessuno, era una giornata d‘estate, ma fosca e piena di nuvolaglia che si addensava. Forse c‘era anche vento. Hanno lasciato la macchina e hanno imboccato la strada di marmo, trascinandosi dietro il passeggino leggero della Chicco, tenendo la bambina per mano. Mi hanno raccontato che sulla soglia di un palazzo distrutto hanno visto scarpe, tante paia di scarpe. E giornali degli anni Sessanta. Le scarpe me le aspetto di più a Poggioreale, ma i miei amici si ricordavano che fosse Montevago. Sono passati quasi quarant‘ anni, per come conosco le amministrazioni della zona escludo che abbiano messo apposta giornali e scarpe come attrazione turistica. È facile che quelli fossero davvero giornali e scarpe lì dal terremoto. Miracolosamente preservati. Forse in quel posto c‘era un negozio di calzature. Le scarpe erano inve:chiate, non consunte, la foggia d‘altri tempi. Andrea è andato avanti, si è addentrato nelle rovine, con la macchina fotografica. Ombretta e la bambina sono restate indietro, sullaslricato di marmo a raccogliere sassolini. Ombretta dice che era inquieta. A Montevago vecchia il cielo è enorme. Si vede l‘intera volta. Ma era un cielo grigio, la giornata umida. Da una parte e dall‘ altra, dalle rovine, Ombretta sentiva voci interne, per colpa del silenzio. Andrea no. La macchina fotografica lo aveva riportato alla curiosità rapace dell‘infanzia. Esplorava. Entrava nella chiesa. Scendeva nelle case private. Cercava. La bambina correva su e giù. Ancora piccola, prendeva la questione della vita e della morte alla radice, si occupava di aghi di pino, raccoglieva foglie secche. Ombretta ha chiamato Andrea. Voleva andare via. L‘ha chiamato ancora. Non è stato facile strapparlo alla sua indagine. Tornando verso l‘automobile hanno visto piombare sul viale una faniglia di stupefatti turisti veneti, pallidi e con gli zainetti. A cena io e Andrea abbiamo parlato di fantasmi. Io ero agitata. C‘era al capo del mio letto, nella casa sotto la Madonna del Balzo, il ritratto di una donna pensierosa dagli occhi neri sfondamuri. Avevo detto ad Andrea: «Mi sento invadente, estranea, mi sembra di turbare un equilibrio». Lui aveva sorriso: «No, dai, dormire sotto il quadro, anzi, mi metterebbe pace». Adesso mi vendicavo, parlavo dei fantasmi avvinghiati alle rovine. Gi dicevo: «Ma li hai sentiti? non haiavuto paura?». Senza la macchina fotografica, Andrea era di nuovo permeabile come me. L‘indomani mi ha raccontato che quella notte, non era ancora l‘alba e ha sentito un rumore. So di che rumore parlava: era il gancio della finestra che sbatteva contro il muro. Ha continuato fino al mattino, ritmico e inesorabile. Nessuno di noi si è alzato per bloccare l‘imposta. Andrea 153 non riusciva a dormire. È sceso per le scale. È rimasto sulla soglia della grande cucina di campagna. La prima luce del giorno, blu, illuminava la stanza, toglieva colore agli oggetti. Proprio in corrispondenza del tavolo, un palloncino traslucido che avevamo comprato alle bambine galleggiava a mezz‘ aria. L‘olio si stava esaurendo. Andrea è uscito in fretta di casa, ha preso la macchina ed è andato in paese. L‘ho rassicurato: sotto la Madonna del Balzo non c‘è spazio per fantasmi inquieti. Se ci sono, sono addomesticati, anime del Purgatorio in visita. Quest‘inverno sono andata a Montevago. Era dopo capodanno e prima del 15 gennaio, una giornata fredda e piovosa. Avevo gli anfibi, ma la protezione che danno i miei anfibi è un‘ apparenza, hanno un buco invisibile, se finisco dentro a una pozzanghera imbarco acqua. Mia madre mi accompagnava, lei lavora nel Sosio e nel Belice con i progetti dell‘Unione europea perciò in questa zona conosce molte persone. Mi voleva affidare a Giuseppe Triolo. Giuseppe l‘avevo conosciuto quest‘estate, avevamo pranzato insieme alla Ficuzza, in un agriturismo nato da una stazione ferroviaria dismessa. Giuseppe ha venticinque anni, è di Montevago. Ha studiato fuori economia e commercio, ma ha deciso di tornare. Lui pensa che se tutti se ne vanno, la Sicilia, Montevago, non cresceranno mai (resisto al senso di colpa: io sono nel numero degli emigranti che non tornano). Giuseppe fa parte di un gruppo che elabora progetti, s‘inventa lavori. Per esempio, hanno comprato una macchina che toglie le spine ai fichi d‘India e si sono procurati delle commesse dai ristoranti. Montevago non ha problemi di parcheggio. Lasciamo la macchina sola accanto a un lungo marciapiede e scendiamo ad aspettare Giuseppe. Guardando giù dalla placca calcarenitica la valle è verde, verde militare, perché ci si riflette sopra il grigio del cielo. Grigio l‘asfalto, il marciapiede. L‘insieme degli edifici connessi che circonda la piazza della Repubblica e costituisce la città istituzionale, invece, è bianco sporco. Dentro uno degli edifici della cittadella delle istituzioni, dove stanno il Municipio, i vigili urbani e la biblioteca, mia madre e Giuseppe hanno un ufficio ancora in allestimento, ma con computer, tavoli e telefoni. Gli uomini che incontriamo, amministratori soprattutto, sprizzano ilarità, distacco dalle cose del mondo e buon umore. Marta, mia madre, dice che è una caratteristica di qui, di Montevago. Uno racconta del suo progetto di raccogliere tutte le ingiurie, cioè i soprannomi della zona. Ma non uno dietro l‘altro come un elenco, no, lui vuole farci raccontini, o forse l‘ha già fatto, in cui alle parole correnti si sostituiscono i soprannomi. Un altro, uno con la barbetta, dall‘ aria intelligente, dice che ci vuole un‘appendice glossario, perché se no il libretto lo possono leggere solo quelli di qui. Noi signore ci trattano un po‘ con galanteria e un po‘ con deferenza, ma sempre anche un poco a sfottò. Ci portano al bar, dove di femmine ci siamo solo noi. Giuseppe mi conferma che a tutt‘oggi non usa che le femmine 154 vadano al bar. Se non qualche volta in pausa pranzo. Il bar ha un odore di ricotta dolce bruciata che su di me ha l‘effetto di una vertigine. Divento euforica. È l‘odore dei bar del Belice che mi ricordo. È l‘odore del Bar. 1‘Ur- Bar della mia coscienza. Odore di stanzoni enormi e banconi minuscoli. Odore di lusso e povertà. Odore di: questo è quel che abbiamo, è tutto, altro non c‘è. Giuseppe mi accompagna dall‘ assessore al turismo. È un uomo con la faccia larga, ridanciano, con me fa il galante. Ma non come si fa con una signora, lo fa come con una ragazzina. Giuseppe mi aveva avvertito: dimostri meno anni. lo però ho quarant‘ anni. Quando l‘assessore mi dà del tu, sorrido e rispondo con il voi. Gli spiego che lavoro devo fare. Un libro sul Belice terremotato, città vecchie, città nuove, storia orale e così via. Gli chiedo se sa dove posso trovare del materiale. Mi procura tutti i depliant e le pubblicazioni che possiede su Montevago nuova, il vino, la nuova chiesa madre e il Sole nascente di Giò Pomodoro che sta in piazza. Anche un cd musicale. Gli chiedo del piano regolatore e dei progetti che sono serviti a costruire la città nuova. Montevago è una città di palazzine basse e orizzontali, strade larghe che s‘incontrano ad angolo retto. Passeggiando ho trovato quartieriche mi piacevano, quartieri razionalisti con il giardino. Solo che sanno di vecchio, il ferro è arrugginito, la mura tura corrosa, per via dei materiali o della manutenzione. Lui mi dà tutte le indicazioni di cui ho bisogno, però mi dice: «Non ne vale la pena». Dice che questo paese nuovo è brutto. Non ci si è affezionato, non lo ama. Desidererebbe forse qualcosa di più simile all‘ antico, anche imitativo, una fantasia di stratificazione. Gli chiedo se hanno un progetto per le rovine. Si ribella, ma sempre ridanciano: «Un intervento lo abbiamo fatto. Ci sei andata? lo hai visto?». Intende dire il selciato di marmo con i lampioni. Poi si entusiasma: «Con il tempo sarà come Pompei». Un po‘ scherza, ma un po‘ no: «Assessore, vogliamo lasciar fare tutto al tempo?». Lui ride ma non dice niente. Ci salutiamo, così Giuseppe e io ce ne andiamo alle rovine. Ma poi, penso, di che progetto parlo? Dove li trova i soldi l‘amministrazione? Montevago è un Comune povero, bastonato dall‘ assenza di lavoro e dall‘ emigrazione. Cosa voglio? L‘appalto per un albergo sulle rovine, con le rovine a carico dell‘ albergo, che le metta a disposizione della cittadinanza e le curi e le pulisca a scomputo? Oppure voglio tutto identico, soltanto un intervento di Boltanski, che semini di foto il selciato di marmo e lasci che le foto si sfaldino con la pioggia? C‘è un‘aria di tempesta. È anche piovuto. L‘asfalto a tratti è ancora bagnato. Dai finestrini della macchina di Giuseppe per un po‘ si vede solo cielo plumbeo. Le rovine ci si parano davanti, piatte, orizzontali, tranne i lampioni e la chiesa: il largo viale di marmo si è riempito qua e là di terra e di pozzanghere. Giriamo da dietro per posare la macchina. Attorno e dentro il perimetro delle case c‘è fango. Chiedo a Giuseppe se sa dov‘era la casa dei suoi nonni. Dice che se l‘era fatto dire da suo padre, ma che non è facile trovarla. Non manca l‘immondizia recente. Giuseppe mi spiega che l‘opposizione ha contestato il lastricato di marmo, che l‘opposizione dice che le rovine sembrano una discarica a cielo aperto. Quella che l‘altr‘ anno era all‘ opposizione in sostanza è la mia parte politica. Giuseppe, la sua associazione e non so quali altri ragazzi hanno ripulito di recente. Ma, a quanto pare, non dura. Chissà la munnizza come ci arriva? trascinata dal vento? depositata apposta? abbandonata dopo il picnic come capita nei cimiteri siciliani il 2 novembre? Penetriamo nel fango. Alla spalle della chiesa madre. Non c‘è nessuno. Nessun rumore. Soltanto i nostri passi. Il cielo. Oltre la chiesa c‘è il boschetto della memoria, un albero per ciascuno dei morti. Resto fredda, senza inquietudine, anche se di sicuro qualche corpo è rimasto sotto le macerie. Raramente ho paura dei cimiteri. Giuseppe mi racconta che a tredici anni lui e i suoi amici, tutti maschi, venivano qui per fare le prove di coraggio. Chiamati dal sentimento della propria storia, del tempo, della memoria, della morte. Chiamati dalla contemplazione: trionfo della morte, trionfo del tempo, trionfo dell‘ ailanto, trionfo della finzione, trionfo della munnizza, trionfo dei corvi. Penetravano nei perimetri delle case. Scoprivano i cunicoli. Ci entravano dentro cercando oggetti. Da sempre il Belice è terra di tombaroli, di gente che prende e scava il suo terreno, trova un vaso greco, lo vende o se lo tiene. Quello che cercano Giuseppe e i suoi amici è di più e di meno, roba più leggibile: un pezzo di coperta, un 33 giri degli anni Sessanta, una crozza. Mi dice che una volta hanno trovato ossa. Ma forse ossa di cani. Mi ha fatto vedere l‘accesso di un tunnel. Ora l‘hanno fatto chiudere. Per paura di perderci i figli dentro. Ma non se li sono tenuti a casa. I ragazzini di Montevago alle rovine ci vengono ancora. Ombretta e Andrea quest‘estate ci hanno incontrato un dodicenne in bicicletta. Sapeva tutto, del terremoto, delle baraccopoli, delle leggi. Sapeva tutto perché costruiva la sua identità conversando con la storia e con le forze. Sono così i ragazzini di Montevago. Sapienti. Racconto a Giuseppe che prima che mia madre mi dicesse delle loro esplorazioni, avevo scritto un libro per ragazzi, Il Licantropo, in cui tre dodicenni, due femmine e un maschio, facevano lo stesso. Cercavano le stesse cose e alla fine le trovavano: il tempo, la storia, il compianto. Giuseppe ne è contento. I ragazzi di Montevago guardano con pietà quelli di Gibellina. Come fanno a crescere a Gibellina? Gibellina è un altro dei paesi rasi al suolo dal terremoto dell 68. Ma a Gibellina non hanno le rovine, i perimetri delle case intasati di fango, la matrice sventrata, le scarpe e i giornali. Gibellina nuova è lontanissima dal pa- ese dov‘ era. Del paese vecchio non è restata traccia: al suo posto c‘è un‘opera d‘arte, il Cretto di Burri. Come fanno a Gibellina, si domanda Giuseppe, a diventare adulti? Giuseppe odia il Cretto. Non lo odia solo Giuseppe. Tutti i suoi amici odiano il Cretto. Dicono: questa colata bianca di cemento, che è? Ha tolto il vecchio paese. Ora che c‘è sopra questa cosa, non ci si può più tornare. Io amo il Cretto. Prende la forma della collina, è più chiaro del cemento, è bianco accecante, sembra gesso, ma non è friabile come il gesso. All‘interno è attraversato da isolati e strade monocrome e indistinte: il tracciato viario di Gibellina. Sta dov‘era la vecchia città. È una traccia che ne mantiene la memoria. Ci siamo andati una volta, io, mio marito Carlo, i nostri amici Tommaso e Franco. Tommaso che è penetrato dentro il Cretto mi dice che è una città fantasma, ma più piccola. Guardi i tetti delle case dall‘ alto. Se la percorri ti senti un gigante. È pulita, molto più pulita di quanto non ti aspetti. Ci cresce qui e là dell‘ erba. Guizzano le lucertole sotto il sole. La strada per arrivarci è una provinciale. È sconnessa e non ci passano quasi macchine. Sembra la strada per nessun posto. Invece a un certo punto ci arrivi. E ti fermi. Non sentilamorte. Non senti le forze. Non senti la storia di Gibellina. Non ce n‘è traccia. Senti il pensiero della morte. La meditazione sulle forze. Il pensiero sulla condizione dell‘umanità e sulla sua storia. Burri ha usato Gibellina per pretesto. Il terremoto dell‘ 68 per lui era un‘occasione, un esempio per parlare della condizione umana. Così fa l‘arte. Il Cretto non parla alla gente di Gibellina, come un monumento funebre sulla strada parla al viandante: qui c‘era una città, una volta. Giuseppe e i ragazzi di Montevago pensano che Burri abbia espropriato i ragazzi di Gibellina da se stessi. Perché ha sostituito la sua meditazione universale, venuta da un altro posto, al lento movimento che dalla scoperta di un nonno morto, delle mura della propria casa di famiglia a cielo aperto, porta al senso dell‘identità, che è unica ed è per questo parte della condizione umana. C‘è un fatto: non ho mai visto un ragazzino di Gibellina al Cretto. È vero che è lontano. Ma anche se hanno il motorino, non vengono di sicuro qui, se ne vanno verso il mare. Devo ricordarmi di dire una cosa a Giuseppe. Ho controllato. Gibellina quando è stato calato il Cretto non c‘era più da decenni. Non c‘erano le rovine a cielo aperto come a Montevago, a Poggioreale. Gibellina era talmente distrutta che poco dopo il terremoto è stata fatta esplodere con la dinamite. Poi il terreno è stato ripianato con le ruspe. Solo poche rovine sono rimaste in piedi. Burri non ha colpa. Burri ha soltanto messo una lapide. 155 Gibellina Nuova Gibellina Vecchia Fraintendimenti , Marcella Aprile 24/02/08 La catastrofe Il 14 gennaio 1968 la più violenta di una serie di scosse di terremoto distrusse totalmente Gibellina e Salaparuta e arrecò danni ingenti a uomini e cose in altri paesi della Valle del Belice, per una estensione di circa 280 mila ettari, prevalentemente ricadenti nella provincia di Trapani. Il numero dei morti fu abbastanza alto, poiché la scossa distruttiva colse nel sonno le sfortunate popolazioni e in un periodo di freddo piuttosto intenso. Ma, senza nulla togliere alla pietas per la tragedia umana, si deve considerare come, in effetti, quella catastrofe abbia rimesso in gioco un territorio siciliano escluso, fino a quel momento, da un qualunque tipo di sviluppo; e come abbia prodotto le condizioni perché risorse economiche e iniziative politiche dessero una opportunità imprevista a piccole città destinate, viceversa, all`abbandono. I primi soccorsi Accanto alle istituzioni, si mobilitò un notevole numero di volontari pronti a soccorrere con varie forme di aiuto le popolazioni colpite. Ma, pur non sottovalutando il valore della solidarietà, si deve tuttavia sottolinearne un carattere singolare: gran parte delle persone (soprattutto intellettuali e studenti), sopraggiunte da varie parti di Italia e anche dall`estero, usarono - per così dire - quella occasione per sperimentare utopie e ipotesi di politica partecipata su un campo ritenuto (a torto o a ragione) fertile per la sua condizione di tabula rasa. La ricostruzione, fase 1°. All`indomani del disastro, si mise immediatamente in moto una formidabile macchina per ricostruzione spinta, anch`essa, dall`idea della partecipazione e ben oleata dal convincimento di far transitare verso la modernità le popolazioni coinvolte attraverso e con l`intervento pilotato dello Stato. Il primo atto fu la costruzione delle baraccopoli, seguito dalla stesura di una ipotesi di infrastrutturazione dell’area con due grandi arterie l’autostrada Palermo/Mazara del Vallo e l’Asse del Belice, al cui incrocio (nei pressi di Partanna di Trapani) avrebbe trovato sede un grande polo industriale - e di uno strumento urbanistico nuovo di zecca, il piano comprensoriale. Ma l`unico e solo atto di partecipazione delle popolazioni fu la scelta della localizzazione dei nuovi insediamenti a fronte delle conurbazioni` o delle addizioni - sostitutive, nei fatti, dei vecchi paesi - concepite dai pianificatori. Il modello insediativo prescelto (proprio quello che doveva garantire il transito verso la modernità!) fu una sorta di commistione tra una cittàgiardino e un quartiere operaio degli anni Venti, con una doppia rete viaria carrabile e pedonale e con una densità piuttosto bassa. Sicché tra il 1969 e il 1976, sull’intero territorio del Belice, furono disegnati enormi plastici - a scala 1:1, nei quali si potevano vedere strade carrabili e pedonali 158 asfaltate, con il disegno dei marciapiedi e dei parcheggi e con gli impianti a rete già realizzati - bidimensionali, se non fosse stato per i lampioni stradali, per le cabine elettriche di trasformazione e per qualche schiera di case, disabitate, costruite dallo Stato; e, inoltre, furono tracciati e realizzati l`autostrada Palermo / Mazara del Vallo e il gigantesco svincolo di Partanna, orfano di un Asse del Belice mai più costruito. Nel frattempo, le popolazioni vivevano nelle baraccopoli, i cui ricoveri temporanei subivano una metamorfosi verso la permanenza` per opera degli abitanti; e alcuni famosi progettisti redigevano i progetti degli edifici pubblici che avrebbero dato il dovuto decoro ai nuovi paesi, ancorché privati della possibilità - sempre prevista nelle opere pubbliche - di vedere destinata alla dotazione di opere artistiche una piccola percentuale dei finanziamenti. La ricostruzione, fase 2°. Una situazione particolare determinò una svolta nella vicenda, l`accordo tra un comunista un democristiano e un libero pensatore che pose le condizioni per trascinare gli altri Sindaci in una rivolta pacifica contro lo Stato, con l`esito positivo: di ricondurre nelle mani delle amministrazioni locali la ricostruzione; di trasferire direttamente ai destinatari il contributo per la realizzazione di unità immobiliari nuove, congruenti con quelle distrutte o non più utilizzabili, barattando con i comuni la proprietà immobiliare abbandonata con la proprietà nei nuovi quartieri o nelle nuove localizzazioni; di attingere al contributo, anche, per il recupero di unità immobiliari danneggiate in quei paesi le cui popolazioni non avevano scelto il trasferimento in altro sito. Da quel momento in poi e nell`arco di pochissimi anni, le case furono costruite o riparate. Ma rimase in vita la leggenda dei baraccati, ancora per qualche tempo e fino a quando (siamo prossimi agli anni Ottanta) ai Sindaci non fu imposto, prima, di interrompere l’erogazione gratuita di acqua e luce nelle baraccopoli e, poi, di raderle al suolo, ponendo fine a un uso improprio della baracca ormai configuratasi, grazie alle addizioni e ai miglioramenti, come una vera e propria seconda casa a costo di gestione zero. La ricostruzione, fase 3°. Il Sindaco di Gibellina (uno dei tre della rivolta) aveva concepito un`idea di modernità affatto diversa e aveva iniziato a porre la questione della ricostruzione non tanto come il risarcimento dovuto del danno, ma soprattutto come l`opportunità per innescare forme di sviluppo e di incremento del reddito originate dai beni culturali e da un artigianato rinnovato, non già da una improbabile industrializzazione pesante o, peggio, dall`assistenzialismo di stato. Da qui la mobilitazione di artisti e di esperti al fine di convogliare su Gibellina Nuova pensiero e iniziative, nonché risorse per realizzarle. Nel nuovo paese - ancor prima che lo Stato passasse la mano alle amministrazioni locali - furono collocate - all`aperto - alcune grandi sculture, opera di artisti siciliani famosi, realizzate gratuitamente da privati. Successivamente, a paese già abitato, ebbero inizio i cicli di rappresentazioni teatrali d`avanguardia sul palcoscenico` dei ruderi di Gibellina Vecchia, in via di trasformarsi nel Grande Cretto di Alberto Burri. Furono anche organizzate cooperative di ricamatrici e di ceramisti, che usavano la loro maestria su disegni contemporanei, e attivati artigiani per la realizzazione delle macchine sceniche. Ma tutto questo fu riguardato - moralisticamente - come uno spreco di risorse, come la distribuzione di brioches quando, invece, mancava il pane; o, nel migliore dei casi, come la bizzarria di un sindaco alquanto singolare. All`inizio degli anni Ottanta un`altra iniziativa, di segno analogo, ipotizzò una nuova fase per la Valle del Belice, cioè la sua uscita definitiva dall`emergenza post terremoto e il suo riconoscimento come parte di un territorio complesso, luogo di un sistema insediativo che si era consolidato nell`arco di 25 e più secoli 2 di storia. I laboratori di progettazione di Gibellina individuarono questioni e proposero soluzioni possibili per Segesta come per Salemi, per Alcamo come per Vita; e inaugurarono una formula di lavoro - quello della presenza contemporanea, in forma seminariale, di gruppi di progettisti e di studenti universitari concentrati su temi precisi - che si è dimostrata molto efficace e che è stata più volte replicata con successo. Vi parteciparono 14 Comuni alcuni dei quali (soprattutto Gibellina e Salemi) utilizzarono progetti redatti in quella occasione o, comunque, si predisposero perché, in un futuro prossimo, progetti simili potessero essere eseguiti nelle loro giurisdizioni. Ma molte critiche si sollevarono contro i progetti realizzati o previsti, sotto l`ipotesi che fosse, comunque, privilegiato il versante del superfluo a scapito dell‘ utile e che si stessero, comunque, costruendo o immaginando cattedrali nel deserto. Quarant‘anni dopo Articoli, convegni, incontri hanno periodicamente stigmatizzato la ricostruzione post terremoto e le modalità con cui si è svolta, ascrivendone il fallimento alle inevitabili - quanto scontate - ruberie, malversazioni, scorrettezze amministrative e collusioni mafiose e portando a testimone le lagnanze (anche queste scontate) delle popolazioni interessate. Non nego che il versante oscuro delle forze in campo sia stato presente; penso, però, che non abbia avuto quel peso determinante che gli si attribuisce. Credo, invece, che il fallimento - se c’è stato - si sia prodotto a causa di successivi e continui fraintendimenti. Il primo: aver pensato che la modernità fosse una formula, un dispositivo, un modello da trasporre meccanicamente per garantirsi il successo. Il secondo: aver ignorato indizi e suggerimenti - tuttavia apparsi mentre le cose accadevano - che bizzarri non erano e solo troppo innovativi, forse. Il terzo: continuare a guardare la ricostruzione come se non avesse innescato alcun processo e, quindi, come un fenomeno da archiviare frettolosamente. Sono, invece, convinta che lì si è accumulato un patrimonio di conoscenza e di potenzialità, che aspettano ancora di sviluppare la loro energia e che, se inserite in un circuito virtuoso, possono fornire risorse e criteri per una nuova trasformazione. 159 Ein Fragment der Hoffnung, Rainer Franke in: in: Bauwelt Heft 13. – Gütersloh : Bertelsmann Fachzeitschriften GmbH, 1988 Ein Erdbeben 1968 in einer vergessenen Ecke Europas, dem verarmten Westen Siziliens, ein zerstörtes und 18 Kilometer entfernt wiederaufgebautes Landstädtchen, auf den ersten Blick ein Januskopf aus Avantgarde und Fehlplanung, in einer Landschaft existentieller Probleme aber eine Ausnahme und eine Hoffnung, die zumindest keine Gleichgültigkeit verdient: Stichworte aus dem Valle del Belice, aus Gibellina. Niemand verwechselt dort Dorfentwicklung mit Geranien und Biberschwänzen, das elende Mittelmass fehlt vollständig. Was in den letzten zwanzig Jahren scheinbar nicht, dann trotz allem geschah, ist - solche Worte lernt man im tiefen Süden - eigentlich ein sizilianisches Wunder. Wer einmal in einer Stadt wie Menfi war, wo sich seit der Invasion 1944 nichts mehr tun will, weiss, was ich meine. Nicht nur Gibellina, das gesamte Belice-Tal lehrt die unheilige Allianz aus Technokratie und römischem Zentralismus, die zweifache Gewalt: Natur und Politik. Dass in der Realität manchmal auch das Klagelied des Südens mitschwingt - «Meridionalismo doloroso» -, mag ich nicht bestreiten. 200 Jahre nach Goethes vermuteter (Übernachtung in der Poststation Salemi, bei Gibellina Nuova, prägte eher das Wort «Sciopero» die italienische Reise - Streik. Dass diese Arbeit dennoch möglich wurde, trotz leerer Gemeindearchive, ist neben dem Genius Loci («Warum sind Sie wiedergekommen?» ) der Hilfe der beteiligten Architekten sowie Regina Hundemer, Alcamo, und Franco Messina, Gibellina, zu verdanken. Die Übersetzungen besorgte Bruna Flimm. Ruderi In Santa Ninfa teilen sich die Wege, nach Norden in die Hügel führt die Strasse zu den Ruderi di Gibellina» , nach Westen ins Tal zeigt das Schild «Gibellina Nuova» . Wer beiden Hinweisen folgt, für den ist die Frage, welches nun die «Ruinen» sind, zunächst ambivalent. In den alten Ort führt eine gewundene, nach Gewittern des öfteren von ausgespülter, zerrissener Erde bedrängte Strasse, vorbei an vereinzelten Schafherden und leeren Betonterrassen, Spuren der Vergangenheit: Einer gegenwärtigen Vergangenheit, anders als die antiken Ruinen. Nach schier unendlichen Kurven irritiert ein ferner weisser Fleck in den Hügeln. Bei der Stadt der Toten, dem intakten, weil wiederaufgebauten Friedhof, hat man die Reste Gibellinas beinahe erreicht (nur ein Hügelrücken verdeckt sie noch). Hier überschreitet man eine scheinbar inszenierte, fast unmerkliche Schwelle - der seit jeher externe Friedhof, nun das Zeichen einer «unsichtbaren» Stadt -, die so gar nicht auf die Surrealität der «Ruderi» vorbereitet: Das in Dimension und Wirklichkeit kaum fassba160 re, weisse Betonrelief des Alberto Burri, sanft mitten ins zerstörte alte Gibellina gelegt. Unterhalb ein paar leere Gebäude, manchmal ein Bulldozer, der so vergeblich wirkt angesichts des Datums der Katastrophe, 1968, und immer noch Trümmer. Auf einem kleinen Plateau ein provisorisches Amphitheater aus Stahlgerüsten, Theaterplakate des letzten Sommers bezeugen die sich jedes Jahr wiederholende Inbesitznahme und das Verlassen, sozusagen symbolische Spolien auf den entleerten Hügeln des Belice: Die «Orestiade» , die jährlichen Festspiele. Daneben in alten Blechhütten das «Centro Hebron» - Drogentherapie. Auch «Gibellina Nuova» , weit im Westen, wird, nun deutlich sichtbar, von einem Stadttor repräsentiert, der 26 Meter hohen Inox-Skulptur von Pietro Consagra: «Stella» . Wieder ist die Schwelle mehrdeutig, man muss ihr Angebot wahrnehmen, wer nur auf der Landstrasse darunter hindurchfährt und nicht ausdrücklich abbiegt, der lässt und verlässt den neuen Ort «unberührt» . Das Tor als Einheit von Wesen und Bild: Die Verkehrsplanung als generatives Aufbauelement des Belice wie Gibellinas, ein «Vorbei» , der Massstabssprung zwischen Anspruch und Wirklichkeit der letzten zwanzig Jahre, selbst Kunst und Zeichen für Kunst, für den Korrekturwillen der Fehler durch Kultur, vor der Stadt und in der Stadt. Das Tor schliesslich als Teil des Freilichtmuseums Gibellina wie Gibellina als Teil des Freilichtmuseums Belice, eines Museums voller «Ruinen» , ein dialektischer Massstab. Die neue Stadt selbst scheint zuallererst nur eine lose Ansammlung von Avantgarde-Objekten zu sein, voller bekannter Namen: Die Kugel von Quaroni, der Turm von Mendini, der Kubus von Venezia, am Rande ein Zwitter aus Schule, Ambulanz und Museum für moderne Kunst, sogar ein ambitioniertes, bei knapp 5000 Einwohnern. Ein Katalog erinnert an die Beuys-Ausstellung 1986, alles wirkt sehr improvisiert. Reihenhauszeilen proben Chaos auf kleinstem Raum, die unendliche Weite der Plätze und Strassen wird von zahlreichen Skulpturen konterkariert, mitten im Agrarland Westsizilien, dem es so oft am Nötigsten fehlt, dem es deshalb auch an einer Sorge um den öffentlichen Raum mangelt - sie wird durch Staub und Risse substituiert. Der Kontrast zwischen «Notwendigem» und «Überflüssigem» ist auch im neuen Gibellina erstmal irritierend. Einen schlüssigen Eindruck dessen, was ich die «sizilianische Zeit» nennen möchte, vermittelt dagegen der Aufbaucharakter Gibellinas wie des gesamten Belice. Die unendliche Dauer und Widersinnigkeit des Alltags, mit der alles passiert, liegt ausserhalb eines nachvollziehbaren Zeitgefühls; ein Beispiel dafür sind überall die zahllosen Trümmer und Ruinen, nach zwanzig Jahren, ein anderes die Bauten Vittorio Gregottis. Als eines der wenigen Büros, die sich beständig um den Mezzogiorno kümmern, konnten die Gregotti Associati sogar grosse Projekte realisieren, aber: Die Universität in Cosenza wurde ihnen dabei weggenommen, der Entwurf für die Naturwissenschaftli- chen Fakultäten der Universität Palermo stammt aus dem Jahr 1969. 1984 waren die Gebäude endlich fertiggestellt, mit Ausnahme des nichttragenden Innenausbaues - bis zur nächsten Finanzierungsstufe stehen sie seither leer! Ebenfalls 1969 gewann Gregotti den Wettbewerb um das Quartier Z. E. N. in Cardillo, westlich Palermos, geplant für 20000 Menschen. Letztes Jahr (Text 1988) war gerade etwas mehr als ein Drittel gebaut - völlig ohne Zentrum, Freizeitanlagen oder Zufahrtsstrassen, sämtliche Feldwege hinein und hinaus werden von starken, schwerbewaffneten CarabinieriStreifen kontrolliert, die mir von einer Besichtigung eindringlich abrieten. (Nie allein, ohne Kamera, nur um die Mittagszeit und in Gruppen, ansonsten riskiere man, nicht mit heiler Haut wieder herauszukommen.) Z. E. N. wird von jugendlichen Banden so beherrscht, dass sogar die Carabinieri sich schützen müssen, wenn sie Autowracks abtransportieren. Hierher werden Altstadtbewohner aus baufälligen Bezirken umgesiedelt, hier ist ausserdem eines der Rekrutierungsgebiete der «neuen» Mafia, die sich vor einigen Jahren von der «alten» abspaltete, weil sie ohne jeden Ehrenkodex den bedingungslosen Drogenhandel wollte, auch in Sizilien - das schnellste und grausamste Geld. Die «ehrenwerte» Gesellschaft dagegen wird gejagt oder steht vor Gericht, sie war natürlich noch eine der «Produktionsbedingungen» des Wiederaufbaues im Belice, wenn auch nicht die einzige Geissel. Cronaca Am Nachmittag des 14. Januar 1968 wurde Westsizilien von leichten Erdbeben erschüttert. Die Bevölkerung war verunsichert, viele übernachteten im Freien, vor allem ältere Bewohner gingen jedoch wegen der Kälte wieder in ihre Häuser zurück. Um 3.03 Uhr in der Nacht, am Morgen des 15. Januar also, kamen neue, schlimmere Erdstösse, die Folgen waren katastrophal, sind es bis heute. 52 Gemeinden waren betroffen, in den Provinzen Trapani, Agrigent und Palermo, am schwersten das Valle del Belice. Vier kleine Städte an der Westflanke des Flüsschens Belice waren fast vollständig zerstört: Gibellina, Santa Ninfa, Salaparuta, Poggioreale. Die Zahl der Toten insgesamt war mit 1150 wegen der Vorbeben nicht so hoch wie befürchtet, 98000 Einwohner aber waren obdachlos, 10 000 mussten in schwer beschädigten Häusern leben. Rettungsaktionen kamen oft zu spät, weil besonders das Belice sehr schlecht erschlossen war, viele der Todesopfer sind darauf zurückzuführen. Die staatlichen Hilfsmassnahmen liefen dennoch relativ zügig an, Terrassen wurden in die Hügel planiert und mit Wellblechbaracken vollgestellt. Die Betroffenen fanden dafür schnell einen treffenden Namen: «Baraccopoli» . Über die Dauer dieser Ersatzstädte machte sich damals niemand eine Vorstellung, um jedoch von vornherein grössere soziale Spannungen zu vermei- den, teilte man jede Gemeinde in mehrere solcher Barackensiedlungen auf, allerdings willkürlich durchmischt. Gibellina, das zum Zeitpunkt des Bebens noch 6400 Einwohner hatte, wurde in zwei Lager verlegt, «Madonna delle Grazie» nördlich der Ruinen, das andere auf halbem Wege nach Santa Ninfa, «Rampinzeri» . Allgemeine Steuerbefreiung und finanzielle Hilfen sollten ein unmittelbares Abwandern der arbeitsfähigen Bevölkerung verhindern. Der kulturelle und planerische Kolonialismus des Nordens begann mit der Arbeit, das staatliche ISES, das römische «Institut zur Entwicklung des Sozialen Wohnungsbaus» , wurde mit dem Wiederaufbau der zerstörten Städte beauftragt. Zunächst stellte man Standortüberlegungen an. Der Vorschlag, das baulich und ökonomisch vollständig zerstörte Gibellina ganz zu verlegen, kam schnell, es gab keinen nennenswerten Widerstand. Nach acht Monaten schlug ISES als neuen Standort das Rampinzeri-Gebiet vor, das bedeutete: Verbleib im alten Tal, weit entfernt von den Feldern der Bauern, die immer jenseits der Hügel gelegen hatten. Am 31. August 1969 lehnte deshalb der Gemeinderat Gibellinas den ISES-Plan ab und forderte (stattdessen) einen Wiederaufbau der Stadt im Salinella-Distrikt, 18 Kilometer entfernt an der Wasserscheide zwischen Alcamo und Mazara del Vallo/Castelvetrano. Dort nämlich lagen die meisten Felder sowie ein Bahnhof, der allerdings bereits zu Salemi gehörte, brisanter noch, das zukünftige Baugebiet war im Besitz des Padrone Corleo, des Schwiegersohnes der SalvoSippe: Den Bankiers der Mafia. Die Auseinandersetzung, die damit begann, hatte in Sizilien Tradition, seit Jahrhunderten gab es Landbesetzungen, so war es auch diesmal. Ende 1970 legte ISES zwar den später auch verwirklichten Plan vor, aber das war noch lange nicht der Beginn der Bauarbeiten. Wie der Kampf um das Land gewonnen wurde, darauf bekommt man selbst heute keine Antwort, der Bau der «Lebensader» Autobahn direkt durch das Salinella-Gebiet bestärkte Gibellina jedoch endgültig in seiner Absicht. In den langen Jahren des Wartens und der Baracken verkam «Roma» zum Schimpfwort. 1976 endlich fingen die Urbanisationsarbeiten an. 1978 erhielten die Belice-Gemeinden durch geänderte gesetzliche Grundlagen direkteren Zugriff auf die Aufbaugelder, neun Jahre nach dem Erdbeben konnten dann erstmals andere Gebäude als Wellblechbaracken gebaut werden. Bis 1981 errichtete man in Gibellina Nuova Reihenhauszeilen im Sozialen Wohnungsbau für die Obdachlosen, Schulen und Kindergärten, einen Bauabschnitt des Rathauses, den neuen Friedhof - sowie hunderte von Privatwohnhäusern, selten mit Genehmigung und noch seltener mit Architekt. Wer im alten Ort ein Haus besass, erhielt ca. 60000 DM Subventionen und eine Hypothek von ungefähr 50000 DM. Früheren Mietern wurden Wohnungen zur Verfügung gestellt. Seit Beginn der 80er Jahre leben etwa 5000 Einwohner im neuen Gibellina. 161 Deserto urbano ISES liess einen riesigen Schmetterling nach Salinella flattern, den Stadtplan von Gibellina Nuova, entworfen von ihrem Architekten Fabbri: «Un nuovo tipo di vita a scala urbana» , dieser Massstab musste es wohl sein. Die «Idee» dieses Entwurfes aus dem Jahr 1970 erklärt sich ein wenig, wenn man weiss dass Ebenezer Howards Buch «Garden Cities of Tomorrow» (1902) erst 1962 in italienischer Übersetzung erschienen ist und eine breite Diskussion ausgelöst hat. Alle Wohnhäuser sind als doppelte Reihenhauszeilen konzipiert, jeweils von einem dazwischenliegenden Fussweg erschlossen. Zur Rückseite hat jedes Haus einen Garten und Garagen, dort befanden sich auch die Strassen. Der Autoverkehr, in sizilianischen Landstädtchen eher Belebung denn Problem, funktioniert folglich reibungslos, das Konzept jedoch nicht. Leben entfaltet sich natürlich, wenn überhaupt, entlang der Strassen, die Fussgängerzonen sind fast unbenutzt, Eingänge, Läden, Werkstätten, alles verlagert sich nach hinten. Es wäre eine mehr als freundliche Interpretation, wollte man Gibellina Nuova in die Tradition der Idealplanungen stellen, die es im Sizilien der Renaissance und im Barock gab, etwa als demokratische Verwandte feudaler Stadtformen. Da die Häuser ausserdem weit von den Strassen entfernt liegen, entstehen hier völlig diffuse Räume, ein merkwürdiges Zwittergefühl ohne Fassaden, die angestrebte Hierarchie ist nicht wahrnehmbar. Auch die Fusswege lassen einen im unklaren, ob sie nun öffentlich oder privat sind, «halbprivat» , d. h. halbschwanger. Die Massstabslosigkeit der grossen Wohnquartiere setzt sich fort in den Platzfolgen, die diese jeweils zerteilen, und auch die Mitte zwischen den beiden Hälften ist leer, eine «Deserto urbano» . Hier waren mit Ausnahme der Schulen und der Kindergärten an der Peripherie alle öffentlichen Gebäude vorgesehen, Kirche, Rathaus, Markt, Carabinieri, nicht genug jedenfalls für die zur Verfügung stehende Fläche, absehbares Stückwerk bis heute. Superflua Von Anfang an setzte deshalb Ludovico Corrao, seit dem Erdbeben Bürgermeister Gibellinas, Kunst und Kultur als Korrektiv und Mittel zum Aufbau ein. Er forderte zunächst die Intellektuellen zu publikumswirksamer Mitarbeit auf. Am ersten Jahrestag des Erdbebens traf man sich in den Ruinen zu einem Fackelzug, ein Jahr darauf erneut. Renato Guttuso malte das Bild «La veglia di Gibellina» , die Wache von Gibellina, Künstler und Bürgermeister des Belice verfassten einen «Aufruf zur Solidarität» , ... weil es viele Wege gibt, Freiheit zu verhindern, zu unterdrücken, den Menschen seiner Rechte und seines Stolzes zu berauben ... «. Die Klage des Südens. Als dann der ISES-Plan für die neue Stadt vorgelegt wurde, begann Corrao eine renitente Auseinander162 setzung mit dem Ministerium in Rom: NO! 1971 schliesslich gestand man ihm deshalb allseits renommierte Architekten zu: Vittorio Gregotti und Gianni Pirrone, zu der Zeit Professoren an der Architekturfakultät Palermo, planten zusammen mit Vater und Sohn Samona Rathaus, Markt und Bibliothek, Ludovico Quaroni die Pfarrkirche. Sie stimmten sich selbst untereinander ab und setzten ihre Gebäude in Beziehung, die Kirche als Stadtkrone auf einer Anhöhe, das Rathaus als Beginn eines Rückgrates durch die Mitte der Stadt. Pirrone bemühte sich um eine Verbesserung des Stadtplanes, Franco Berlanda, Carlo Melograni und andere entwarfen die Schulen. Bis Ende der 70er Jahre blieb dies alles Papier. 1979, also elf Jahre nach dem Erdbeben, konstatierte Corrao selbst: «Quod non fecit ,terremoto‘ fecerunt ... Die Konstruktion des neuen Gibellina bleibt leider episodenhaft und gelegentlich ohne eine klare Vision, um die kulturellen Wurzeln seiner Bevölkerung wiederzugewinnen und ohne die deshalb notwendige ökonomische Entwicklung. Die gesetzlichen Grundlagen haben beharrlich die Probleme total ignoriert, nur einmal gab es einen zaghaften Versuch des Parlamentes, wenigstens eine symbolische Summe von 500 Mio. Lire für Kulturgüter bereitzustellen. Neun Jahre nach diesem Gesetzesentwurf ist das Programm noch nicht beschlossen, keine Lira davon ausgegeben.» Dies betraf auch alle Konservierungsarbeiten in den alten Orten, Kirchenfassaden usw. Für kulturelle und künstlerische Eingriffe stellte Rom den kommunalen Verwaltungen schliesslich zwei Prozent der öffentlichen Zuschüsse zur Verfügung, die berühmten zwei Prozent! Corrao kritisierte scharf die staatlichen Prioritäten dieses ,Erst machen wir die Häuser, dann Kunst und Kultur‘: «Wir weisen diese eingebildete Logik des ,Erst‘ und des ,Nachher‘ zurück, weil man mit dem ,Erst‘ das ,Nachher‘ determiniert. Das Dilemma ist, dass man, statt Neues zu probieren, auch nicht das ,Erst‘ machen will. Es ist festzustellen: Elf Jahre sind vergangen, und das ,Erst die Häuser‘ blieb ein Versprechen. Der Wiederaufbau hat kaum 20 % erreicht, das neue Gibellina hat noch nicht die notwendigen und unentbehrlichen Schulen, keine Gesundheitsversorgung, kein Rathaus, nichts.» Tempo senza tempo, die sizilianische Zeit. Trotz fehlender Mittel war Corraos Arbeit nicht wirkungslos geblieben. Als 1977 fast als erstes der Friedhof der neuen Stadt gebaut wurde, gestaltete der Bildhauer Pietro Consagra die Tore und arbeitete weitere Projekte aus. 1978 gründete Corrao in den Räumen der im Bau befindlichen Mittelschule das «Centro Studi Belice» , ein Jahr später initiierte er grosse Künstlertreffen. Zum Manifest, «Gli artisti per la rinascita» , 15. Juni 1979, wurden neun Lithographien aufgelegt. Viele Teilnehmer entwarfen Skulpturen und Reliefs, es begann ein kreativer Prozess, der noch lange nicht abgeschlossen ist - hoffentlich -, die «Laboratori di progettazione» . Zusammen mit anderen betroffenen Gemeinden beauftragte Gibellina den Mailänder Augusto Cagnardi, mit einer unvoreingenommenen Bestandsaufnahme der Belice-Planungen, die er zwei Jahre später veröffentlichte: «Belice 1980 - Luoghi Problemi Progetti». Im September 1980 fand wieder ein «Convegno Internazionale sui Parchi» statt, Mitglieder der Architekturfakultät von Palermo unter der Leitung Pierluigi Nicolins (Chefredakteur der vierteljährlich erscheinenden Architekturzeitschrift LOTUS) und Gianni Pirrone organisierten mit vier Bürgermeistern einen Workshop, um «architektonische Antworten» zu geben. Bruno Minardi, Franco Purini, Umberto Riva, Alvaro Siza, Laura Thermes, Francesco Venezia u. a. entwickelten exemplarische Entwürfe für elf Kommunen, die in Cagnardis Bericht und zum Jahreswechsel 81/82 auf der Triennale Mailand ausgestellt und veröffentlicht wurden. Die Kritik der «Rekonstruktions-Kultur» fand ihre Fortsetzung im Convegno «L‘intervento minimo» , der minimale Eingriff, u. a. mit Lucius Burckhardt und Bazon Brock. Fünf weitere Veranstaltungen zu Themen der Anthropologie, der Literatur und des Films im Mittelmeerraum haben seither stattgefunden. 1983 schliesslich begannen die jährlichen Theaterfestspiele, die «Orestiadi di Gibellina» in den Trümmern der alten Stadt. «L‘arte non e superflua» , Kunst ist nicht überflüssig: Quantität und vor allem Qualität tragen inzwischen Früchte, viele Künstler und Architekten konnten Entwürfe realisieren, die Zahl der grossformatigen Skulpturen wächst von Jahr zu Jahr, momentan sind es schon über dreissig. Ludovico Corrao zu seiner Absicht 1979: «Unsere Initiative ist und will provokativ sein, wie jede Einmischung der Kunst in die vergewaltigte und unterdrückte menschliche Gesellschaft wollen wir das Recht auf Kultur fordern und Einspruch erheben gegen den staatlichen Plan, das grosse kulturelle, geschichtliche und künstlerische Erbgut dieser Bevölkerung auszurotten und zu enteignen.» La presenza del passato Sizilien war geprägt von einer Feudalstruktur, die in der Lethargie der Bevölkerung bis heute tiefe Spuren hinterlassen hat. Im Belice war das nicht anders, der Standort des alten Gibellina war beispielsweise absolut willkürlich, der Feudalherr hatte vom König die Erlaubnis bekommen, sich an dieser Stelle niederzulassen, und nahm alle seine Bauern mit, basta. Die Felder lagen deshalb weit entfernt, eben in jenem Salinella-Distrikt bei Gibellina Nuova. Als nach jahrhundertelangen Aufständen gegen die Landverteilung keine Barone mehr existierten, war es nach der Zerstörung für die Bewohner Gibellinas eine selbstverständliche Entscheidung, zu ihren Feldern umzuziehen und sich, wie Corrao sagt, «mit der Welt zu verbinden» . Den alten Standort bezeichnet er schlicht als eine «Klammer der Feudalherrschaft» . Die allgemeinen ökonomischen Probleme Westsiziliens jedoch gaben keinerlei Anlass zur Hoffnung. Seit den 30er Jahren schrumpfte die Bevölkerung, Arbeits- losigkeit und Abwanderung prägten nicht nur das Belice. Selbst die «parasitäre Ökonomie» (Nicolin), die Mafia, im 19. Jahrhundert auf dem Lande gross geworden, wanderte in die Städte ab. Siebzig Prozent der Menschen lebten, soweit noch möglich, von der Landwirtschaft, im Belice von einer Monokultur, dem Getreideanbau. Ansätze, dies endlich zu ändern, sogar eine Gebietsreform, gab es schon in den 60er Jahren vor dem Erdbeben, aber ohne grossen Erfolg. Wie Rom die Situation wirklich einschätzte und wie effizient vor allem die eigene Regionalregierung arbeitete, konnte jeder in den langen zehn Jahren nach der Katastrophe sehen. Beispielsweise im Vergleich mit Friaul (nach 1976), was die immensen Subventionen angeht. Das einzige, was sich zunächst tat, das war der Bau von 150 Kilometern Autobahn (seit 1972), eine gigantomane, aber insgesamt doch sinnvolle Verbesserung der Infrastruktur Siziliens. Ihre zahllosen unerklärlichen Pilotis liessen den Zynikern der Mafia genügend Raum, ihre Probleme zu lösen ... : Hilfsgelder verschwanden in Höhe von Dutzenden Lire-Milliarden, die Mafia war wieder da. Die Pläne flogen derweil so hoch wie die vermeintlichen Zuschüsse, sie gipfelten in einem Vorschlag des ISES, Gibellina mit Santa Ninfa, Poggioreale und Salaparuta zusammenzulegen und ein Aluminiumwerk mit 8000 Arbeitsplätzen zu bauen. Jedermann wusste, dass das nie realisiert werden würde. Die Kleinökonomie, die neben der Monokultur noch existierte, war mit dem Erdbeben fast erloschen, die familiären Strukturen wurden durch das Leben in den Baracken weiter zerstört. 20 Quadratmeter mussten hier für fünf bis neun Personen ausreichen: Wohnen in unerträglicher Dichte, Hellhörigkeit und bei extremen Witterungsbedingungen. Junge, männliche Arbeitskräfte wanderten meist aus, Frauen litten traditionellerweise besonders unter dem Zerfall der Familienstruktur. Corrao und seinen Kollegen war deshalb von Anfang an klar, dass nur eine neue ökonomische und dezentrale Organisation dem Belice eine Chance lassen würde, und das bedeutete für Gibellina eben: Umsiedeln, Anschluss an die Verkehrsachsen, Bewässerungsprojekte, vor allem weg von der Monokultur, hin zum Anbau von Oliven, Melonen, Wein, hin zu einer Verarbeitung dieser Produkte. Wein gab es in Westsizilien zwar schon immer, aber man schätzte ihn mit Ausnahme des Marsala nicht höher ein als Wasser, er wurde verschnitten. Das ändert sich nun langsam. Corraos Konzept war, jedem eine eigene Arbeit zu ermöglichen, und zwar nicht in einer Fabrik, auch und gerade den Frauen. Deshalb versuchte er, alte Handwerkstraditionen wiederzubeleben, er regte Kooperativen an. Zumindest bei der Keramikmanufaktur funktioniert das inzwischen, hier arbeitet man ausschliesslich nach Entwürfen von Künstlern. Diese bekommen nur Reise und Aufenthalt bezahlt, sie spenden ihre Entwürfe. Soweit es geht, werden 163 selbst grossformatige Plastiken von örtlichen Handwerkern und Helfern realisiert, ein fruchtbares und gegenseitiges Geben und Nehmen. Seit Ende der 70er Jahre hat auf diese Weise nicht nur die Bauindustrie, sondern ebenso die «überflüssige» Kunst vielen Arbeit gegeben, und nicht nur das. Neben einem massvollen Tourismus beschäftigen auch die Museen und die Theaterfestspiele zahlreiche «Laien» . Diese unmittelbare Verbundenheit der Bevölkerung, die Beziehung über das Machen, ist nicht zu unterschätzen. Ein Indiz dafür sind zum Beispiel Skulpturen-Zitate auf Textilien, traditionellen Teppichen und Zierbroten. Il Luogo Der Verlust eines Bezugspunktes, die reale, geistige und kulturelle Enteignung, das war und ist das Problem Gibellinas. Das Erdbeben zerstörte die Identität; der lange andauernden Versteppungen der sizilianischen Agrarkultur folgte der Umzug und dann die Versteppung der neuen Stadt. Für ein Verständnis des heutigen Gibellina ist aber nicht nur die Kenntnis der Kompetenzen und des Ablaufes, sondern auch der Hinweis auf eine Diskussion notwendig, die in den 60er und 70er Jahren in Italien ganz anders geführt wurde als bei uns, die Diskussion um den «Luogo» , den Ort. Ich denke beispielsweise an die theoretischen Arbeiten und Grossprojekte Vittorio Gregottis (,,Il territorio dell architettura» , 1966). Nichts visualisierte das Problem der Entwurzelung eindringlicher als die Anfänge dieser neuen Stadt. Der «Utopismo meccanocratico» , die Ideologie der idealen, verkehrsgerechten und durchgrünten Stadt, die im neuen Gibellina zum Ausdruck kommt - man kann sie schlecht anders als «modern» bezeichnen, oder besser «modernistisch» , wenn man die Frage nach der Qualität stellt. Der Strassenbau war das erste und einzige, was zunächst im Belice «funktionierte» , und seine Überdimensionierung im Verhältnis zur Grösse der Landstädtchen führte zu manchen Karikaturen, sozusagen Infra ohne Struktur, zumal die Wohngebiete oft sehr viel später gebaut wurden. Die Notwendigkeit zur Überwindung der verkehrsmässigen Isolierung sollte aber, wie andere Charakteristika des Belice, weniger nach Ihrer Phänomenologie als nach ihrem sozialen, historischen und ökonomischen Sinn für den Ort befragt werden. Zum Beispiel die Entscheidung, Gibellina zu verlegen, anstatt wie Poggioreale und Salaparuta, die alten Nachbarn, direkt neben den Trümmern wiederaufzubauen - beide sind inzwischen neue, aber aussterbende Pensionärsstädte. Das Umziehen als Charakteristikum des Ortes: Die oft willkürlichen Standorte der feudalen «Agrocitta» und die Anbaugebiete sind eher ein Hinweis darauf, dass Gibellina sich ursprünglich bereits an der jetzigen Stelle befunden hat. Deshalb behielt man auch den Namen bei und nannte die Stadt nicht Salinella, wie es die Provinzialregierung wollte. Im Vergleich der massstabslosen neuen mit der dichten 164 alten Siedlungsform sind heute zwar Verteidigungsgesichtspunkte hinfällig, nicht aber räumliche und damit auch klimatische Argumente. Der Schatten der Gassen und die Kultur der Höfe wäre angesichts der extremeren Witterung als Folge der Verkarstung Siziliens wichtiger denn je. Zum Verlust des Stadtraumes kam die erstmalige Konfrontation der Einwohner mit Architektur. Die meisten waren damit beim Bau ihrer Häuser völlig überfordert. Die einzige Gestaltungsregel - Höhe maximal 10,50 Meter, erdbebensicher, das war alles, «vollendete» dann, was der Stadtplan begonnen hatte. Der neue Standort stellte nicht nur die Frage nach Siedlungsform und Massstab, dies hat ja Rom präjudiziert, sondern zwangsläufig auch die Frage nach der Erinnerung. Was war mit den Ruinen zu tun, wie sollten gerade die Kinder der Baraccopoli die Öde der neuen Stadt verarbeiten, worauf zurückgreifen? Die kulturelle Initiative Corraos versuchte die Antwort: «Das Bedürfnis, das frühere Eigentum zu konfrontieren mit dem gegenwärtigen und zukünftiges Eigentum zu schaffen» , also Identität im Chaos wie in der Leere, das ist die sozialste Aufgabe der zahlreichen Skulpturen und Architekturen, besonders der «überflüssigen» . Das Fragmentarische der Arbeiten, ihr autonomer Charakter, ist dabei nicht Synonym der Konzeptionslosigkeit, sondern durchaus bewusstes Zeichen einer kritischen, illusionslosen Hoffnung. Einer Hoffnung, die die realen Mängel überlagern soll und die die Entwurzelung vielfältig reflektiert. Der «Pluralismus der Imagination» ergibt kein einheitliches Bild, aber immerhin ein Bild. Der Widerspruch als Prinzip ermöglicht eher eine gültige Antwort auf die Frage nach einer Existenz im heutigen Sizilien als ein «Hang zum Gesamtkunstwerk» sie geben könnte. Das Auffüllen des öffentlichen Raumes mit Architektur muss sich mehr noch als die Kunst im direkten Gebrauch beweisen, besonders wenn sie sich nach dem Willen ihrer Urheber schweigend in die Umgebung einfügt. Dabei wird die Umkehrung alter Bräuche, etwa der Wandel der feudalen Case di Stefano zum öffentlichen Museum und der Baraccopoli zu Gartenhäuschen oder Werkstätten nicht hinderlich sein. Ars longa vita brevis «Die Kunst soll nicht mehr Genuss Weniger, sondern Glück und Leben der Masse sein.» Arbeitsrat für Kunst. «Wir müssen begreifen, dass Kunst und Leben keine voneinander getrennten Gebiete sind. Und deshalb muss der Begriff ,Kunst‘ als Illusion, die mit dem realen Leben nichts zu tun hat, verschwinden.» Theo van Doesburg, Cornelis van Eesteren. Zitate aus dem heroischen Aufbruch der Moderne, deren Pathos eine Spekulation erlaubt: Ein Marx könnte kaum mehr erstaunt gewesen sein, seine kapitalistische Theorie im Russland des Ersten Weltkriegs aufgehen zu sehen, als Theo van Doesburg, Piet Mondrian oder Bruno Taut, ihren alten avantgardistischen Lieblingsgedanken im Belice der Gegenwart wiederzuentdec- ken. Was der ehemalige Kommunist Corrao und seine Verwandten im Geiste in Gibellina erreichen, ist keine Hommage an de Stijl, keine Suche nach objektiven Gestaltungsmitteln oder unmittelbarer Harmonie mit dem Kosmos, es ist gleichwohl unmittelbar eine reale Verbindung von Kunst und Leben. Mag eine aktuelle, transatlantische «Post» -Theorie auch inzwischen den «avantgardistischen Versuch, von der Kunst her ein neues Leben zu organisieren, ... als schon im Ansatz verfehlt» einschätzen, warum sollte es davon keine Ausnahme geben? Vielleicht gerade weil jede Voraussetzung für die Verwirklichung dieses Konzeptes fehlte, negativ wie positiv. Bäuerliche Kulturen scheinen ein fruchtbarer Boden zu sein. Mit Kunst und Theater hängen ja nicht nur neue Arbeitsplätze zusammen (wie schön, dies einmal nicht als Entschuldigung zu hören), jeder Künstler, der kommt, dokumentiert mit seiner Arbeit vor allem ein Interesse, für das eine lange benachteiligte Bevölkerung dankbar ist. Der Nachholbedarf einer Agrarkultur, für die viele technische Neuerungen noch relativ jung sind und die den Hunger noch nicht so lange vergessen hat, gibt dem «Superflua» eine Chance. Sicher gewöhnen sich besonders die Älteren schwer daran, aber das gilt genauso für den Umgang mit zahllosen Baumaterialien oder die bedenkenlose Müllproduktion. Die Zeit wird dabei ihre Rolle spielen. L. C. Ludovico Corrao, Jesuitenzögling und Anwalt aus Alcamo - bei der D. C. berüchtigt ob seiner brillianten Wahlkampfveranstaltungen, die er meist gleichzeitig mit deren eigenen anberaumte und die das Publikum der Christdemokraten schwinden liessen wie Wasser nach einem Dammbruch -, war Senator der Provinz Trapani in Rom, als im Belice die Erde bebte. Noch in der Nacht kam er in die am stärksten betroffenen Städte, auch nach Gibellina. Das Entsetzen, die Ohnmacht, der «Schrei der Verzweifelung» , diese Eindrücke wurden zum Anstoss für seine Arbeit. Die «Gibellinesi» nahmen ihn beim Wort, man wählte ihn zum Bürgermeister, erst Kandidat der P. C. I., ist er heute unabhängig. Ohne ihn läuft in der Stadt nichts. Mit allen Konsequenzen. Der Anfang: «Die Idee war der Sieg über den Tod, über die Agonie der vergangenen Jahrhunderte, Armut und Auswanderung. Analphabetentum, Mafia, Anarchismus, es fehlten die Grundlagen, man war gezwungen auszuwandern. ,Erdbeben‘ in den sozialen Strukturen gab es schon lange, das Drama der Natur kam nur dazu. Die Vergangenheit sprach gegen jede Hoffnung, ökonomisch wie geschichtlich, das Erdbeben sagte eigentlich: Hört auf, geht weg, es reicht!» Beeindruckt habe ihn aber auch: «Vier, fünf Tage nach der Katastrophe heirateten Paare in den Zelten vor den Trümmern, Kinder wurden geboren. Wie nach einem Vulkanausbruch bereitete der Tod auf der Lava neues Leben vor, die Natur hatte sich verjüngt.» Trotzdem, «warum sollte man ein schlechtes Schicksal wiederholen, warum einen Friedhof der Armut wieder aufbauen?» Die Suche: «Der Traum nach Schönem» , sagt Corrao selbstverständlich, «mit Kunst und Kultur» . Die Bereitschaft zu Neuem, normal für ein Volk der Emigranten, der Überlebenswille trotz der unendlichen Jahre der Baraccopoli, die Fähigkeit dieser bäuerlichen Kultur, wiederaufzustehen, das bezeichnet er als «eine grosse Lektion des Lebens. Und was, wenn nicht das Leben, ist das Problem der Kunst?» So möchte er auch seinen alten Satz verstanden wissen, «L‘arte non e superflua» . Die Tradition: Der ideelle, der geistige Anstoss war wichtig, das Belice war am Aussterben. So beantwortet er die Frage nach einer ursprünglichen Tradition mit einer Gegenfrage, «welche Tradition, bei der bewegten Vergangenheit Siziliens, die elimische, die griechische, römische, arabische, normannische, spanische? Die Sizilianer sind es gewohnt, dass immer Neues kommt, nicht nur in chronologischer Abfolge, sondern als gleichzeitige Kulturen, auch heute. Der Mensch von Gibellina ist ein wenig wie Odysseus.» Das Niveau: «Es ist für jeden Menschen ein Traum, Neues zu erobern. Die Aufgabe der Kunst ist, voranzutreiben, nicht stehenzubleiben. Es ist kein Bruch, sondern eine Entwicklung, ein Weiterlaufen, man bringt immer die Tradition mit ein. Piero della Francesca würde heute nicht mehr so malen wie früher, Raffael war seinerzeit ein Skandal. Der geistige Gehalt bleibt wichtig, nicht die Form.» Die Finanzen: «Hat man Geld, hat man keine Ideen, hat man kein Geld, hat man Ideen.» Wie er bzw. die Gemeinde das alles finanziert, ein Achselzucken, «immer war das Projekt da, dann kam irgendwie das Geld, es gibt tausend Wege. Es ist die Leere, die den Funken überspringen lässt. Statt eines Auftrages sage ich dem Künstler nur: Mach‘ einen Akt der Liebe. Keiner fragt, was es kostet, der Künstler nicht, ich nicht. Der Massstab ist die Freiheit.» Genau dies dürfte ein Grund sein, warum in Gibellina nun einige Architekten bauen, die bisher nichts oder nur wenig realisieren konnten. Roma: Corrao sitzt in seinem 1971 geplanten Rathaus, das im Sommer 1987 fertig wurde. Er lächelt. Die normale Verweildauer eines sizilianischen Bürgermeisters im Amt liege so bei sechs Monaten, ein gewisses Vergnügen muss es ihm inzwischen bereiten, in Rom, im Ministerium vorbeizuschauen. «Immer noch der!» Die Klagen seines Pfarrers, die Gemeinde werde auf ewig ohne Kirche bleiben, nur weil er einen so harten Kopf habe, hätte er immer mit einem «Jedenfalls härter als Rom» beruhigt. Man hört allerdings so nebenbei, dass er ihn nicht mag ... «Meine Aufgabe ist es, auf den Fehlern der anderen zu arbeiten. Dadurch, dass ich mich Künstlern anvertraue, bin ich sicher, denn auch der Fehler eines Künstlers bleibt Kunst.» Auf die Öffentlichkeit, sagt er, habe er nie spekuliert, obwohl er sich über die hilfreiche Wirkung bekannter Namen natürlich im klaren ist. «Jede Sache hat ihre eigene Kraft, und die Sachen rufen sich. Alles ist Zufall, aber irgendwo steht alles geschrieben.» 165 Pazienza Ein frühes «Vorwort» zum sizilianischen Wiederaufbau findet sich im ersten Band der «Oevres complètes» Le Corbusiers. Er berichtet 1915 von einer Anfrage aus Italien, sein System des «Maison Domino» im 1908 durch ein Erdbeben völlig zerstörten Messina anzuwenden. Das Domino wurde nicht realisiert, gleichwohl stellt man seither genau so die Erdbebensicherheit her, nämlich mit einem Betonskelett, allerdings schematischer statt serieller Natur. Der Beitrag des Belice zur italienischen Architektur heute und darüberhinaus aber liegt eindeutig in der Entwicklung einer kritischen Rekonstruktions-Kultur, die gerade mit Entwürfen nach Antworten sucht. Der Beginn dafür war das grosse «Laboratorium» des «Belice 80» , als die Wunden, die die unberechenbare Natur und das bürokratische Kalkül des Zentralismus aufgerissen hatten, zwar sichtbar wurden und nach Abhilfe verlangten, aber noch nicht endgültig waren und die meisten Neuplanungen hauptsächlich aus Strassen mit Peitschenmasten bestanden. Die «Modelle» des Belice boten in ihrer Unvollkommenheit ein breites Spektrum: Gibellina zog um, Poggioreale und Salaparuta wurden neben die Ruinen verlegt, Santa Ninfas Altstadt wurde in ihren alten Grenzen wiederaufgebaut, im Osten neue Wohnviertel angelegt. Die weniger betroffenen Städte Partanna, Salemi, Vita und Calatafimi erhielten ebenfalls neue, grosse Erweiterungen. Lange vorgesehene Verkehrsschneisen durch alte Zentren konnten zum Teil noch verhindert werden, die Baulücken wurden mehr oder weniger wieder gefüllt. Ein exemplarischer Kontrast ergibt sich dabei durch Gibellina Nuova und Salemi. Beide liegen sich nun im Tal gegenüber, durch die Autobahn getrennt, durch den Bahnhof verbunden, beide Städte bilden aber auch einen konzeptionellen Gegensatz zwischen der Totalplanung für Gibellina und der Absicht, nach 1980 die Altstadt Salemis wiederherzustellen und mit den neuen Vierteln im Norden zu einem Ganzen zu verbinden. Beide Städte sind auch die einzigen, die den Ideen und Architekten des «Belice 80» eine Chance zur Realisierung gaben. In Salemi ist Venezias Amphitheater fertig, Alvaro Sizas Umwandlung der Chiesa Madre-Ruine in einen Platz wird nach sieben Jahren... gebaut. Die Gregotti Associati haben unlängst den Wettbewerb für einen Stadtpark als Verbindung zwischen alt und neu gewonnen. Versuch dualer Harmonie hier, Rettung im Kontrast in Gibellina. Wenn man diesen Umgang mit Ruinen im weitesten Sinne summarisch bewertet, wie Siza, der Poet, mit «fast» Nichts, die Kirche eben nicht aufbaut, wie Burris Relief oder Venezias leere Häuser mit elementaren Gesten mehrschichtige Antworten geben, wie Laura Thermes «unrealistisches» Gibellina-Projekt von 1980 eine harte Analyse der Mängel lieferte, so ist diese Substanz, denke ich, durchaus mit dem Niveau eines Carlo Scarpa vergleichbar. Es sind archaische statt artifizielle Beiträge, aber genau das entspricht dem Genius Loci. Im Belice geht es nicht 166 um sterbendes Handwerk, sondern um ein sterbendes Land. Jede Kritik erweist sich ausserdem als vorschnell, wenn sie jene sizilianische Eigenart vernachlässigt, die man dort sooo gedehnt ausspricht: Pazienza, Geduld. Das gilt für die Barackenbewohner, die lieber dort statt in neuen Häusern wohnen wollen, weil es viel billiger ist, das gilt auch für die Architektur; jahrelange Pausen zwischen Rohbau und Fertigstellung sind keine Ausnahme, aber niemand weicht dabei vom einmal beschlossenen Weg ab. Purinis Apotheke von 1984 wird gerade mit dem Tuffstein verkleidet, der von Anfang an auf den Zeichnungen zu sehen war, Ungers Lageplan von 1982 für die Stadtmitte Gibellinas gilt, auch wenn Marcella Aprile jetzt dort ein neues Museum bauen soll. Corrao würdigt planerisches Engagement loyal. Die Kehrseite der Geduld ist die schwer zu überwindende ökonomische Agonie, das Entwickeln eines wirtschaftlichen Selbstbewusstseins, ohne das das Belice keine Zukunft hat. Die Provokation der Kultur kann Gibellina wie der Region dabei nicht schaden. Jede Plastik und jedes Projekt visualisiert schliesslich das Bedürfnis nach Korrektur, Schutz, Form, nach Symbolen und möglicher Erinnerung. Was mit den lausigen zwei Prozent der öffentlichen Baumittel und Spenden entsteht, beweist mit seiner Entstehung eigentlich schon seine Notwendigkeit in dem Sinne, dass es genügend freiwilliges Engagement provoziert hat, um unter den unmöglichen Bedingungen Gibellinas entstehen zu können. Die Frage nach dem «Modell» Gibellina beantwortet Ludovico Corrao: «Eine Sadt ist fertig, wenn es keinen Pioniergeist mehr gibt. Jede Lösung eines Problems ruft ein neues Problem hervor, das gelöst sein will. Das Projekt von Gibellina ist, dass man kein Projekt hat. Es ist ein ständiges Suchen und Forschen.» Offen dafür sollte nicht nur das Valle del Belice sein. CATANIA Italienische Reise, Johann Wolfgang von Goethe Catania, Mittwoch den 2. Mai 1787 In unserer Herberge befanden wir uns freilich sehr übel. Die Kost, wie sie der Maultierknecht bereiten konnte, war nicht die beste. Eine Henne in Reis gekocht, wäre dennoch nicht zu verachten gewesen, hätte sie nicht ein unmässiger Safran so gelb als ungeniessbar gemacht. Das unbequemste Nachtlager hätte uns beinahe genötigt Hackens Juchtensack wieder hervorzuholen, deshalb sprachen wir morgens zeitig mit dem freundlichen Wirte. Er bedauerte, dass er uns nicht besser versorgen könne: da drüben aber ist ein Haus wo Fremde gut aufgehoben sind und alle Ursache haben zufrieden zu sein. - Er zeigte uns ein grosses Eckhaus, von welchem die uns zugekehrte Seite viel Gutes versprach. Wir eilten sogleich hinüber, fanden einen rührigen Mann, der sich als Lohnbedienter angab und, in Abwesenheit des Wirts, uns ein schönes Zimmer neben einem Saal anwies, auch zugleich versicherte, dass wir aufs billigste bedient werden sollten. Wir erkundigten uns ungesäumt hergebrachter Weise, was für Quartier, Tisch, Wein, Frühstück und sonstiges Bestimmbare zu bezahlen sei? das war alles billig und wir schafften eilig unsere Wenigkeiten herüber, sie in die weitläufigen, vergoldeten Kommoden einzuordnen. Kniep fand zum erstenmale Gelegenheit seine Pappe auszubreiten; er ordnete seine Zeichnungen, ich mein Bemerktes. Sodann, vergnügt über die schönen Räume, traten wir auf den Balkon des Saals, der Aussicht zu geniessen. Nachdem wir diese genugsam betrachtet und gelobt, kehrten wir um nach unsern Geschäften und siehe! da drohte über unserm Haupte ein grosser goldner Löwe. Wir sahen einander bedenklich an, lächelten und lachten. Von nun an aber blickten wir umher, ob nicht irgend wo eins der homerischen Schreckbilder hervorschauen möchte. Nichts dergleichen war zu sehen, dagegen fanden wir im Saal eine hübsche, junge Frau, die mit einem Kinde von etwa zwei Jahren herumtändelte, aber sogleich von dem beweglichen Halbwirt derb ausgescholten dastand: Sie soUe sich hinweg verfügen! hiess es, sie habe hier nichts zu tun.-Es ist doch hart dass du mich fortjagst, sagte sie, das Kind ist zu Hause nicht zu begütigen wenn du weg bist und die Herrn erlauben mir gewiss in deiner Gegenwart das Kleine zu beruhigen? Der Gemahl liess es dabei nicht bewenden, sondern suchte sie fortzuschaffen, das Kind schrie in der Türe ganz erbärmlich und wir mussten zuletzt ernstlich verlangen, dass das hübsche Madamchen dabliebe. Durch den Engländer gewarnt, war es keine Kunst die Komödie zu durchschauen, wir spielten die Neulinge, die Unschuldigen, er aber machte seine liebreiche Vaterschaft auf das Beste gelten. Das Kind wirklich war am freundlichsten mit ihm, wahrscheinlich hatte es die angebliche Mutter unter der Türe gekneipt. Und so war sie auch in der grössten Unschuld dageblieben als der Mann wegging, ein Empfehlungsschreiben an den Hausgeistlichen des Prinzen Biscaris zu überbringen. Sie dahlte fort bis er zurückkam und anzeigte, der Abbe würde selbst erscheinen uns von dem Näheren zu unterrichten. Catania, Donnerstag, den 3. Mai 1787 Der Abbe, der uns gestern Abend schon begrüsst hatte, erschien heute zeitig und führte uns in den Palast, welcher auf einem hohen Sockel einstöckig gebaut ist, und zwar sahen wir zuerst das Museum, wo marmorne und eherne Bilder, Vasen und alle Arten solcher Altertümer beisammenstehen. Wir hatten abermals Gelegenheit unsere Kenntnisse zu erweitern, besonders aber fesselte uns der Sturz eines Jupiters, dessen Abguss ich schon aus Tischbeins Werkstatt kannte und welcher grössere Vorzüge besitzt als wir zu beurteilen vermochten. Ein Hausgenosse gab die nötigste historische Auskunft und nun gelangten wir in einen grossen hohen Saal. Die vielen Stühle an den Wanden umher zeugten dass grosse Gesellschaft sich manchmal hier versammle. Wir setzten uns, in Erwartung einer günstigen Aufnahme. Da kamen ein paar Frauenzimmer herein und gingen der Länge nach auf und ab. Sie sprachen angelegentlich mit einander. Als sie uns gewahrten, stand der Abbe auf, ich desgleichen, wir neigten uns. Ich fragte: wer sie seien? und erfuhr, die jüngere sei die Prinzessin, die ältere eine edle Catanierin. Wir hatten uns wieder gesetzt, sie gingen auf und ab wie man auf einem Marktplatze tun würde. Wir wurden zum Prinzen geführt, der, wie man mir schon bemerkt hatte, uns seine Münzsammlung aus besonderem Vertrauen vorwies, da wohl früher seinem Herrn Vater und auch ihm nachher, bei solchem Vorzeigen manches abhanden gekommen und seine gewöhnliche Bereit-willigkeit dadurch einigermassen vermindert worden. Hier konnte ich nun schon etwas kenntnisreicher scheinen, in-dem ich mich bei Betrachtung der Sammlung des Prinzen Torremuzza belehrt hatte. Ich lernte wieder und half mir an jenem dauerhaften Winkelmannischen Faden, der uns durch die verschiedenen Kunstepochen durchleitet, so ziemlich hin. Der Prinz, von diesen Dingen völlig unterrichtet, da er keine Kenner aber aufmerksame Liebhaber vor sich sah, mochte uns gern in allem wornach wir forschten belehren. Nachdem wir diesen Betrachtungen geraume Zeit, aber doch noch immer zu wenig, gewidmet, standen wir im Begriff uns zu beurlauben, als er uns zu seiner Frau Mutter führte, woselbst die übrigen kleinem Kunstwerke zu sehen waren. Wir fanden eine ansehnliche, natürlich-edle Frau, die uns mit den Worten empfing: sehen sie sich bei mir um, meine Herrn, sie finden hier alles noch wie es mein seliger Gemahl gesammelt und geordnet hat. Dies danke ich der Frömmigkeit meines Sohnes, der mich in seinen besten Zimmern nicht nur wohnen, sondern auch hier nicht das geringste entfernen oder 169 verrücken lässt was sein seliger Herr Vater anschaffte und aufstellte; wodurch ich den doppelten Vorteil habe, sowohl auf die so lange Jahre her gewohnte Weise zu leben, als auch, wie von jeher, die trefflichen Fremden zu sehen und näher zu kennen, die, unsere Schätze zu betrachten, von so weiten Orten herkommen. Sie schloss uns darauf selbst den Glasschrank auf, worin die Arbeiten in Bernstein aufbewahrt standen. Der Sicilianische unterscheidet sich von dem nordischen darin, dass er von der durchsichtigen und undurchsichtigen Wachs- und Honigfarbe durch alle Abschattungen eines gesättigten Gelbs bis zum schönsten Hyazinthrot hinansteigt. Urnen, Becher und andere Dinge waren daraus geschnitten, wozu man grosse bewundernswürdige Stücke des Materials mitunter voraussetzen musste. An diesen Gegenständen, so wie an geschnittenen Muscheln, wie sie in Trapani gefertigt werden, ferner, an ausgesuchten Elfenbeinarbeiten, hatte die Dame ihre besondere Freude und wusste dabei manche heitere Geschichte zu erzählen. Der Fürst machte uns auf die ernsterem Gegenstände aufmerksam und so flossen einige Stunden vergnügt und belehrend vorüber. Indessen hatte die Fürstin vernommen, dass wir Deutsche sei(e)n, sie fragte daher nach Herrn von Riedesel, Barthels, Münter, welche sie sämtlich gekannt und ihren Charakter und Betragen gar wohl unterscheidend zu würdigen wusste. Wir trennten uns ungern von ihr und sie schien uns ungern wegzulassen. Dieser Inselzustand hat doch immer etwas einsames, nur durch vorübergehende Teilnahme aufgefrischt und erhalten. Uns führte der Geistliche alsdann in das Benedictinerkloster, in die Zelle eines Bruders, dessen, bei mässigem Alter, trauriges und in sich zurückgezogenes Ansehn wenig frohe Unterhaltung versprach. Er war jedoch der kunstreiche Mann, der die ungeheuere Orgel dieser Kirche allein zu bändigen wusste. Als er unsere Wünsche mehr erraten als vernommen, erfüllte er sie schweigend; wir begaben uns in die sehr geräumige Kirche, die er, das herrliche Instrument bearbeitend, bis in den letzten Winkel mit leisestem Hauch sowohl als gewaltsamsten Tönen durchsäuselte und durchschmetterte. Wer den Mann nicht vorher gesehen, hätte glauben müssen, es sei ein Riese der solche Gewalt ausübe, da wir aber seine Persönlichkeit schon kannten, bewunderten wir nur, dass er in diesem Kampf nicht schon längst aufgerieben sei. Catania, Freitag den 4.Mai 1787 Bald nach Tische kam der Abbe mit einem Wagen, da er uns den entferntern Teil der Stadt zeigen sollte. Beim Einsteigen erreignete sich ein wundersamer Rangstreit. Ich war zuerst eingestiegen und hätte ihm zur linken Hand gesessen, er, einsteigend, verlangte ausdrücklich, dass ich herumrücken und ihn zu meiner Linken nehmen sollte; ich bat ihn, dergleichen 170 Zeremonien zu unterlassen. »Verzeiht«, sagte er, »dass wir also sitzen, denn wenn ich meinen Platz zu Eurer Rechten nehme, so glaubt jedermann, dass ich mit Euch fahre, sitze ich aber zur Linken, so ist es ausgesprochen, dass Ihr mit mir fahrt, mit mir nämlich, der ich Euch im Namen des Fürsten die Stadt zeige«. Dagegen war freilich nichts einzuwenden, und also geschah es. Wir fuhren die Strassen hinaufwärts, wo die Lava, welche 669 einen grossen Teil dieser Stadt zerstörte, noch bis auf unsere Tage sichtbar blieb. Der starre Feuerstrom ward bearbeitet wie ein anderer Fels, selbst auf ihm waren Strassen vorgezeichnet und teilweise gebaut. Ich schlug ein unbezweifeltes Stück des Geschmolzenen herunter, bedenkend, dass vor meiner Abreise aus Deutschland schon der Streit über die Vulkanität der Basalte sich entzündet hatte. Und so tat ich‘s an mehrern Stellen, um zu mancherlei Abänderungen zu gelangen. Wären jedoch Einheimische nicht selbst Freunde ihrer Gegend, nicht selbst bemüht, entweder eines Vorteils oder der Wissenschaft willen, das, was in ihrem Revier merkwürdig ist, zusammenzustellen, so müsste der Reisende sich lang vergebens quälen. Schon in Neapel hatte mich der Lavenhändler sehr gefordert, hier in einem weit höheren Sinne der Ritter Gioeni. Ich fand in seiner reichen, sehr galant aufgestellten Sammlung die Laven des Ätna, die Basalte am Fuss desselben, verändertes Gestein, mehr oder weniger zu erkennen; alles wurde freundlichst vorgezeigt. Am meisten hatte ich Zeolithe zu bewundern aus den schroffen, im Meere stehenden Felsen unter Jaci. Als wir den Ritter um die Mittel befragten, wie man sich benehmen müsse, um den Ätna zu besteigen, wollte er von einer Wagnis nach dem Gipfel, besonders in der gegenwärtigen Jahreszeit, gar nichts hören. »Überhaupt«, sagte er, nachdem er uns um Verzeihung gebeten, »die hier ankommenden Fremden sehen die Sache für allzu leicht an; wir andern Nachbarn des Berges sind schon zufrieden, wenn wir ein paarmal in unserm Leben die beste Gelegenheit abgepasst und den Gipfel erreicht haben. Brydone, der zuerst durch seine Beschreibung die Lust nach diesem Feuergipfel entzündet, ist gar nicht hinaufgekommen; Graf Borck lässt den Leser in Ungewissheit, aber auch er ist nur bis auf eine gewisse Höhe gelangt, und so könnte ich von mehrern sagen. Für jetzt erstreckt sich der Schnee noch allzuweit herunter und breitet unüberwindliche Hindernisse entgegen. Wenn Sie meinem Rate folgen mögen, so reiten Sie morgen bei guter Zeit bis an den Fuss des Monte Rosso, besteigen Sie diese Höhe; Sie werden von da des herrlichsten Anblicks geniessen und zugleich die alte Lava bemerken, welche dort, 1669 entsprungen, unglücklicherweise sich nach der Stadt hereinwälzte. Die Aussicht ist herrlich und deutlich; man tut besser, sich das übrige erzählen zu lassen.« Catania, Sonnabend den 5. Mai 1787 Folgsam dem guten Rate, machten wir uns zeitig auf den Weg und erreichten, auf unsern Maultieren immer rückwärts schauend, die Region der durch die Zeit noch ungebändigten Laven. Zackige Klumpen und Tafeln starrten uns entgegen, durch welche nur ein zufälliger Pfad von den Tieren gefunden wurde. Auf der ersten bedeutenden Höhe hielten wir still. Kniep zeichnete mit grosser Präzision, was hinaufwärts vor uns lag: die Lavenmassen im Vordergrunde, den Doppelgipfel des Monte Rosso links, gerade über uns die Wälder von Nicolosi, aus denen der beschneite, wenig rauchende Gipfel hervorstieg. Wir rückten dem roten Berge näher, ich stieg hinauf: er ist ganz aus rotem vulkanischem Grus, Asche und Steinen zusammengehäuft. Um die Mündung hatte sich bequem herumgehen lassen, hätte nicht ein gewaltsam stürmender Morgenwind jeden Schritt unsicher gemacht; wollte ich nur einigermassen fortkommen, so musste ich den Mantel ablegen, nun aber war der Hut jeden Augenblick in Gefahr, in den Krater getrieben zu werden und ich hinterdrein. Deshalb setzte ich mich nieder, um mich zu fassen und die Gegend zu überschauen; aber auch diese Lage half mir nichts: der Sturm kam gerade von Osten her über das herrliche Land, das nah und fern bis ans Meer unter mir lag. Den ausgedehnten Strand von Messina bis Syrakus mit seinen Krümmungen und Buchten sah ich vor Augen, entweder ganz frei oder durch Felsen des Ufers nur wenig bedeckt. Als ich ganz betäubt wieder herunterkam, hatte Kniep im Schauer seine Zeit gut angewendet und mit zarten Linien auf dem Papier gesichert, was der wilde Sturm mich kaum sehen, viel weniger festhalten liess. In dem Rachen des Goldenen Löwen wieder ange langt, fanden wir den Lohnbedienten, den wir nur mit Mühe uns zu begleiten abgehalten hatten. Er lobte, dass wir den Gipfel aufgegeben, schlug aber für morgen eine Spazierfahrt auf dem Meere zu den Felsen von Jaci andringlich vor: das sei die schönste Lustpartie, die man von Catania aus machen könne! Man nehme Trank und Speise mit, auch wohl Gerätschaften, um etwas zu wärmen. Seine Frau erbiete sich, dieses Geschäft zu übernehmen. Ferner erinnerte er sich des Jubels, wie Engländer wohl gar einen Kahn mit Musik zur Begleitung genommen hätten, welche tust über alle Vorstellung sei. Die Felsen von Jaci zogen mich heftig an, ich hatte grosses Verlangen, mir so schöne Zeolithe herauszu schlagen, als ich bei Gioeni gesehen. Man konnte ja die Sache kurz fassen, die Begleitung der Frau ablehnen .. Aber der warnende Geist des Engländers behielt die Oberhand, wir taten auf die Zeolithe Verzicht und dünkten uns nicht wenig wegen dieser Enthaltsamkeit. Catania, Sonntag den 6. Mai 1787. Unser geistlicher Begleiter blieb nicht aus. Er führte uns, die Reste alter Baukunst zu sehen, zu welchen der Beschauer freilich ein starkes Restaurationstalent mit bringen muss. Man zeigte die Reste von Wasserbehäl tern, einer Naumachie und andere dergleichen Ruinen, die aber bei der vielfachen Zerstörung der Stadt durch Laven, Erdbeben und Krieg dergestalt verschüttet und versenkt sind, dass Freude und Belehrung nur dem genauesten Kenner altertümlicher Baukunst daraus entspringen kann. Eine nochmalige Aufwartung beim Prinzen lehnte der Pater ab, und wir schieden beiderseits mit lebhaften Ausdrücken der Dankbarkeit und des Wohlwollens. 171 Catania Vedute, vor 1669 Catania Vedute von F. Orlando, 1761 Catania Vedute von A. Vacca, 1780 Catania Stadtplan von Sebastiano Ittar, 1832 Der Barock in Catania in: Sizilianischer Barock / Anthony Blunt; übers. von Erika Schindel, Frankfurt a. M.: Ariel 1972 Catania litt schwerer als jede andere grössere Stadt unter dem Erdbeben von 1693. Ausser dem mittelalterlichen Castello Ursino und den drei Apsiden der normannischen Kathedrale haben sich von älteren Gebäuden nur ein paar Portale erhalten, einige an der Kathedrale, andere an Adelshäusern. Im Grunde wurde die Stadt zwar an alter Stelle, aber doch ex novo erbaut, wobei die Stadtplaner zwei breite Hauptstrassenzüge anlegten, die sich auf der Piazza deI Duomo rechtwinklig schnitten und das neue Catania in vier Quartiere aufteilten. Der Wiederaufbau wurde unter der Oberleitung des Erzbischofs von Catania und mit Hilfe des einzigen überlebenden Baumeisters, Alonzo di Benedetti, rasch in die Wege geleitet. Doch wurden auch Baumeister aus anderen Städten zu Hilfe geholt, wahrscheinlich in der Hauptsache aus Messina. Heute ist es nicht mehr möglich, den Anteil Benedettos und seiner Helfer am Gesamtwerk zu unterscheiden, doch müssen sie in ungewöhnlicher Harmonie zusammengearbeitet haben, da der Stil ihrer Bauten erstaunlich einheitlich ist. Die ersten Stadien der Bautätigkeit spiegeln sich in den Gebäuden, die den grossen Platz um die Kathedrale umgeben. Die drei Palazzi der Südseite, das Erzbischöfliche Palais, das Seminario und ein Adelspalast an der Südwestecke, bezeichnen die erste Bauphase nach dem Erdbeben. Sie ähneln in ihrer Gestaltungsweise dem Municipio von Acireale und stellen zweifelsohne eine direkte Fortsetzung der im späten 17. Jahrhundert herrschenden Stilrichtung dar. Die Dekors um die Fenster sind phantasievoll im Detail und wirken, als ob sie mit der Laubsäge ausgeschnitten wären, was an eine Herkunft vom Holzschnittornament denken lässt. Doch den grössten Einfallsreichtum zeigt die verschiedenartige Rustizierung der durchgehenden Pilaster. Einzelne Teilabschnitte sind flach und entweder rechteckig oder oval, oft mit Diamantschnitt verziert, andere sind mit verschlungenem Dekor und wieder andere mit Akanthusblättern in Flachrelief geschmückt. Bei späteren Bauten ist dieser Dekorationsstil zu meisterlicher Vollendung entwickelt. Am Palazzo Massa z. B., der als einer von vier an den vier Ecken einer Kreuzung geplanten Palazzi entworfen wurde, wie wir es aus Palermo von der Piazza Quattro Canti kennen, sind je drei Pilaster am Ende der Hauptfronten gekuppelt, so dass die Fenster an den abgeschnittenen Ecken von sechs Pilastern flankiert sind, die in verschiedenster Weise phantasievoll rustiziert sind. Die Fenster über dem Hauptportal dieses Palazzo (Bild 24), an den Wänden des Palazzo Biscari (Bild 25) und .am Hauptflügel des Klosters der Benedettini (Bild 26) sind ebenfalls überreich geschmückt. Sie haben ihren Ausschnittcharakter völlig verloren und sprengen ihren Rahmen durch eine Fülle von Rollwerk, Masken, Fruchtgehängen, Kartuschen und Muscheln, sowie von Putten und mythologischen Figuren in Hochrelief. Die gesamte künstlerische Situation änderte sich um 176 1730 mit der Ankunft von Giovanni Battista Vaccarini, der vom Senat mit höchst schmeichelhaften Ausdrücken zum Stadtbaumeister ernannt worden war. Vaccarini ist 1702 in Palermo geboren und wurde wahrscheinlich kurz nach 1720 zur Ausbildung nach Rom geschickt. Dort lernte er die römische Formen sprache kennen, die sich auf einer Synthese der von Borromini und Bernini zwei Generationen vorher vertretenen Architekturideen gründete. Bereits vor 1700 hatten einzelne Baumeister begonnen, die Methoden der beiden grossen Meister zu vereinen. Frühe Beispiele dieser Fusion sind der Palazzo Altieri und der Palazzo Asti-Bonaparte von Giovanni Antonio de‘ Rossi. Eine zweite, noch einflussreichere Synthese gelang Carlo Fontana (gest. 1714), dessen Bauweise sich über ganz Europa verbreitete, zum Teil deshalb, weil er eine gewisse französische Zurückhaltung mit dem Monumentalstil des römischen Barock vereinigte. Dieser Stil behauptete sich auch weiter nach Fontanas Tod, und die relativ klassische Bauweise Galileis, wie wir sie in der Fassade der Lateransbasilika vertreten finden, ist auf Fontanas Einfluss zurückzuführen. Für Vaccarini scheint jedoch die rivalisierende Schulrichtung der Alessandro Specchi, Francesco de Sanctis und Filippo Raguzzini eine stärkere Anziehungskraft besessen zu haben. Diese Baumeister verwarfen Fontanas klassische Tendenzen und entwickelten einen bewegteren Stil. Die beiden ersten waren Meister im Entwurf von Aussentreppen, wofür Speechis Treppe von S. Ripetta von 1704, die heute nicht mehr vorhanden ist, und de Sanctis‘ Spanische Treppe von 1723-25 Musterbeispiele bilden. Raguzzinis Hospital S. Gallicano (1725-26) und seine Bauten rund um die Piazza S. Ignazio (1727-28) entstanden zu der Zeit, als Vaccarini in Rom weilte, und besonders letztere entsprachen sicherlich seinem Geschmack. Man sollte auch daran denken, dass der grösste Baumeister seiner Generation, Filippo Juvara, ebenfalls Sizilianer war und demselben Kardinal Ottobuoni seine Förderung verdankte, der Vaccarini von Palermo nach Rom geholt hatte. Ein weiterer sizilischer Baumeister, Pietro Passalacqua, war zu dieser Zeit sehr wahrscheinlich ebenfalls in Rom tätig, wenn auch seine frühesten nachweisbaren Bauten späteren Datums sind. Die Folgen der Ankunft Vaccarinis in Catania spiegeln sich am deutlichsten im Municipio, das den Abschluss der Nordseite der Piazza deI Duomo bildet (Bild 31). Das Erdgeschoss war schon begonnen, als er die Bauleitung übernahm, und so zeigt es die für den Frühstil Catanias charakteristische Rustizierung. Vaccarinis Fenster und Obergeschoss erhielten jedoch gänzlich andere Stilformen. Die Pilaster sind weiter hochgeführt, aber ohne Rustizierung, und sie tragen ein Gesims, wie es im zeitgenössischen Rom üblich war. Auch die Fenster sind vom hergebrachten römischen Typ. Im Untergeschoss sind es halbrunde Segmentfenster, wie sie Rossi liebte, und die Fenster des piano nobile zeigen gekröpfte Giebel mit rückläufiger Endigung, die Vaccarini in späteren Bauten oft verwendete. Der Eindruck römischer Monumentalität wird erhöht durch das mächtige Portal, dessen freiste- Platz der Kathedrale 24 25 31 33 26 hende Doppelsäulen einen geraden Balkon tragen. Vor dem Municipio errichtete Vaccarini 1736 einen Brunnen, der mit einem obeliskentragenden Elefanten geschmückt war, dem Wappensymbol Catanias. In der Idee geht der Brunnen auf Berninis Elefant vor S. Maria sopra Minerva in Rom zurück, aber während dort der Sockel aus einem einfachen Quader besteht und sich das Hauptinteresse auf die Bewegung des Tieres richtet, trägt er hier figuralen Schmuck, und der aus schwarzer Lava bestehende Elefant ist mehr ein heraldisches Motiv und ziemlich primitiv gestaltet. Obelisk wie Elefant sind angeblich alt, beide jedoch stark restauriert. Vaccarini vervollständigte den Platz durch den Bau der Domfassade an der Ostseite, ein Werk, das sich über dreissig Jahre hinzog und erst 1768 beendet war. In dieser Fassade kommt seine Vertrautheit mit der Formensprache des römischen Barock sehr überzeugend zum Ausdruck. Es ist Vaccarini jedoch nicht recht gelungen, die verschiedenen Partien der ungewöhnlich breiten Front zu einer überzeugenden Einheit zu verbinden. Wenn auch die über Eck gestellten Säulen und die schwungvollen Kurven der Fensterbekrönungen ausserordentlich lebendig wirken, gilt diese Dynamik nur für Einzelheiten und nicht für die Gesamtfläche der Fassade. In seinen anderen Entwürfen war Vaccarini mehr Erfolg beschieden. Seine besten Palastfassaden sind im Mittelteil stark betont (Bild 33). Die Mitte des Palazzo Valle besitzt zum Beispiel ein durch kräftige und an den Seiten schräggestellte Konsolen hervorgehobenes Portal, das von einem dekorativen Balkon bekrönt ist. Der Mittelteil des Balkons springt in einer harmonisch ausgewogenen Kurve vor und setzt sich nach beiden Seiten in schrägen Geraden fort, die ein Stück über die Konsolen hinausgehen. Das diesem Unterbau entsprechende, dreigeteilte schmiedeeiserne Balkongitter wäre im lebhaften Spiel seiner Kurve in der zeitgenössischen Architektur Roms undenkbar gewesen. Sein Bewegungsrhythmus setzt sich in der Giebelbekrönung der Mittelpartie der Fassade fort sowie in den kleineren Balkonen entlang der Fassade. Schmiedeeiserne Balkongitter dieses Typs waren in der sizilischen Profanarchitektur des 18. Jahrhunderts sehr beliebt und finden sich überall auf der Insel. Aus Vaccarinis Entwürfen für arkaden geschmückte Höfe geht hervor, dass er auch für heiter-beschwingte Architekturschöpfungen begabt war. Dazu gehört das ihm mit grosser Wahrscheinlichkeit zugeschriebene Jesuitenkolleg mit seinen Arkaden im Obergeschoss, die schwungvolle doppelte Bekrönungen tragen, sowie die Universität (Bild 34), deren Arkaden zwar nüchterner wirken, deren Innenhof jedoch durch ein dekoratives Pflaster aus schwarzer Lava und Kieseln belebt ist. Die - leider stark verfallene - Loggia seines Wohnhauses (Bild 36) beweist, dass er auch reizvolle Wirkungen in kleinerem Rahmen hervorzubringen verstand. Die Kirchenentwürfe Vaccarinis waren von grossem Einfluss auf die zeitgenössische Baukunst Siziliens. Er war der erste, der die in den letzten fünfzig Jahren in Rom gültigen Grundrisstypen hier einführte. Sein 178 Entwurf von S. Agata basiert z.B. auf S.Agnese an der Piazza Navona, und seinem Entwurf von S. Giuliano hat er den ovalen Grundriss von S. Maria in Monte Santo auf der Piazza del Popolo zugrunde gelegt. Doch in beiden Fällen wandelte er diese Vorbilder nach seinen Ideen ab. In S. Agata (Bild 40) hob er den Chor dadurch hervor, dass er ihm zum Kirchenraum eine wesentlich höhere Öffnung gab, als sie die grösseren Seitenkapellen besitzen. Er erreichte damit die Betonung der auf den Altar zuführenden Mittelachse der Kirche und wirkte ihrem Charakter als Zentralbau entgegen, der für S. Agnese bestimmend war. In S. Giuliano ist der überkuppelte Zentralraum ein längliches Oktogon und kein Oval mehr wie beim römischen Vorbild, eine Veränderung, die dem Raum eine stärkere Dynamik verleiht. Für die Innendekoration beider Kirchen war Vaccarini nicht mehr zuständig. Sie wurde erst nach seinem Tod vorgenommen. S. Agata ist mit leichten, stukkierten Rokokopaneelen verziert, die zwar künstlerisch reizvoll sind, aber zur römischen Monumentalität des Innenraums schlecht passen, während das Innere von S. Giuliano zu Beginn des 19. Jahrhunderts erneuert wurde, wobei die Wände einen dunkelbeigen Anstrich erhielten und ein ringsumlaufender vergoldeter Zahnfries hinzugefügt wurde. Vaccarinis Fassadengestaltung ist unterschiedlich. Bei S. Giuliano (Bild 38) entschied er sich für einen einfachen gerundeten Vorsprung in der Mitte einer sonst geraden Fassade, die er durch flache dorische und ionische Pilaster betonte. Der Giebel dieses Mittelteils erhob sich fast bis zur Höhe der den Zentralraum krönenden, oktogonalen Loggia, auf der die Nonnen die kühle Abendluft geniessen und von wo aus sie an Festtagen ungesehen die vorbeiziehenden Prozessionen beobachten konnten - eine übliche Einrichtung in vielen sizilianischen Klöstern. Die Fassade von S. Agata ist komplexer (Bild 27). Im Grundriss ist sie doppelt S-förmig gekrümmt wie die Fassade von Borominis S. Carlo alle Quattro Fontane, bei der jedoch umgekehrt wie hier die äusseren Partien konkav und der Mittelteil konvex ist. S. Agata besitzt ein Obergeschoss mit hoher Attika, in das der Giebel des Mittelportals hineinragt. Ein ungewöhn licher Zug sind die schmiedeeisernen Körbe, die in der Höhe der Kapitelle aufgesetzt sind. Für alle sizilischen Klosterkirchen war es charakteristisch, dass sich auf der Westseite die Nonnenemporen befanden. Ihre ausladenden, vergitterten Balkone stellten eine malerische Bereicherung des Innenraums dar. Aber in diesem Fall sind die Nonnenemporen nach aussen ver legt und zu einem Dekorationsmotiv der Fassade‘ geworden. Bei sizilischen Kirchen kommt dies hie und da vor, vor allem in Catania (vgl. Bild 32). Aber selten erstrecken sich diese Fensterkörbe über die volle Breite der Fassade und sind vom Baumeister so geschickt in den Entwurf einbezogen. Die Fassade von S. Agata zeigt Vaccarini auf dem Höhepunkt seines Talents für den Entwurf dekorativen Details. Der glatte Kalkstein Catanias, der sich ausgezeichnet für die Herausarbeitung feiner Einzelheiten eignet, gestattete ihm die exakte Umsetzung der 34 36 38 40 bronzenen Festonborte von Berninis Baldachin der Peterskirche in Stein, und so liess er sie unterhalb Der Barockstil Vaccarinis beherrschte die Architektur Catanias für mehrere Jahrzehnte, doch gab es auch Baumeister, die in anderem Stil bauten als er, wenngleich deren Namen nicht überliefert sind. Die Fassade der Jesuitenkirche ist ein Entwurf in der konventionellen römischen Bauweise, während das benachbarte S. Benedetto (Bild 32) sich enger an syrakusische Vorbilder anschliesst, zumindest in seinem Untergeschoss mit dem durch schwere balkenkopfartige Gebilde betonten Gesims und dem gebrochenen, figurenbesetzten Segmentgiebel. Diese Fassade ist vermutlich ziemlich späten Datums, da das hinter ihr liegende Vestibül die Jahreszahl 1763 trägt. Das Vestibül selbst (Bild 43) hat eine ungewöhnliche und einfallsreiche Form. Es diente vor allem dazu, die Treppenflucht aufzunehmen, die das Kircheninnere mit der viel tieferliegenden Strasse verbindet. Auf halber Höhe ist dann die Treppe von einem mit schwarzem und weissem Marmor eingelegten Podest unterbrochen, an das sich beiderseits zwei runde Plattformen anschliessen. Sie führen zu den Klostereingängen und sind von Balustraden mit lebensgrossen Engeln in berninischer Manier umgeben. Es bestehen gute Gründe für die Vermutung, dass Vaccarini 1756, als er damit beschäftigt war, Marmor für die Kapelle des Königlichen Palasts in Caserta auszuwählen, Neapel besucht hat. Bei dieser Gelegenheit scheint er die neue, klassizistische Bauweise kennengelernt zu haben, der Fensterkörbe als reizvolles Relief an der gesamten Kirchenfront entlanglaufen. Eine noch brillantere Leistung stellen die Kapitelle dar. In bewundernswert scharfer Profilierung geben sie die Lilien der Jungfräulichkeit, die Palmen des Märtyrertums und die Krone der himmlischen Glorie wieder, sämtlich Symbole der hl. Agata, der die Kirche geweiht war. Fast mit Sicherheit holte sich Vaccarini die Anregung zu diesen symbolischen Kapitellen von Guarini (Bild 29), der in seinem Architekturtraktat eine ganze Seite solcher Entwürfe bringt. Doch geht Vaccarini über sein Vorbild hinaus, indem er nicht nur die Akanthusblätter, sondern auch das Rosetten und Rankenwerk, die typischen Merkmale des korinthischen Kapitells, durch Symbolmotive ersetzt, so dass sein Entwurf ausschliesslich aus Palmen, Lilien und Kronen besteht. Angesichts der Neuartigkeit und Erfindungskraft dieser Kapitelle ist man überrascht, als Mittelpunkt seiner Fassade ein Portal anzutreffen, das in seiner allgemeinen Form auf einen sizilischen Portaltyp des 17. Jahrhunderts zurückgeht, wie er sich etwa an der Fassade von S. Sebastiano in Acireale findet. Die Erklärung dafür mag in der Tatsache liegen, dass dreissig Jahre lang an S. Agata gebaut wurde und die Mittelpartie der Fassade als Ganzes vermutlich wesentlich später entworfen ist als das Portal die Vanvitelli und Ferdinando Fuga hier eingeführt hatten, so dass sich der Einfluss ihres Stils in seinen Spätwerken, wie dem Collegia Cutelli und der Picola Badia, bemerkbar macht. Im Vergleich zum Hof des Jesuitenkollegs ist die römi180 sche Dorik des Collegio Cutelli ebenso feierlich und monumental wie die des Atriums in Caserta. Doch die Tatsache, dass es sich um einen runden Hof handelt, wirkt einer zu grossen Strenge entgegen. In der Mittelachse des Collegio gegenüber dem Eingang steigt eine imposante Treppe empor, die in einem Rechteck mit halbrunden Schmalseiten endet. In die Treppe eingemeisselt ist die Jahreszahl 1779. Da dies elf Jahre nach dem Zeitpunkt von Vaccarinis Tod war, kann sie nur von einem seiner Schüler erbaut sein. Möglicherweise liegt ihr jedoch ein Entwurf des Meisters zugrunde. Sie würde seinem Altarstil genau entsprechen. Vaccarinis barocke Neigungen spiegeln sich in einem Detail des Collegio Cutelli wider, der Fussbodenornamentik aus weissen Steinen und Lava, die noch lebhafter bewegt ist als die des Jesuitenkollegs. Ein profanes Spätwerk Vaccarinis war der Palazzo del Principe di Reburdone, dessen Hauptcharakteristikum die offene doppelläufige Treppe am Ende des Hofes ist. Sie folgt in der Konstruktion einem Muster, das Felice Sanfelice häufig in neapolitanischen Adelspalästen angewandt hat. Hier besteht jedoch ein wichtiger Unterschied. Während Sanfelice in echt barocker Manier die Treppenflucht als willkommenen Anlass für eine starke Betonung der Diagonalen benutzte, hat sich Vaccarini eine Komposition aus zwei horizontalen Arkadenreihen ausgedacht, wobei nur das Ansteigen der seitlichen Balustraden des Untergeschosses verrät, dass es sich um eine Treppe handelt und nicht einfach um eine zweistöckige Loggia. Die Strenge des Details entspricht den klassizistischen Tendenzen von Vaccarinis Spätstil. Es gibt in Catania zwei weitere Kirchen im Stil der Spätphase Vaccarinis, die vielleicht von seiner Hand stammen, die Chiesa del Crociferi und SS. Trinità. Sie unterscheiden sich insofern von seinen früheren Schöpfungen, als ihre Fassaden eine breite konkave Mittelpartie besitzen, die von ziemlich schmalen, geraden Seiten flankiert ist. In SS. Trinità ist die Mittelpartie gleichmässig eingezogen, während sie in der Chiesa deI Crociferi zu drei geraden Flächen gebrochen ist. Dadurch wirkt die Gesamtfassade eckig, und es ergeben sich unangenehme Unterbrechungen in dem kurvig verlaufenden Giebel, der das untere mit dem oberen Geschoss optisch verbindet. Auffallend sind bei diesen Kirchen die römisch beeinflussten, klassizistischen Details. ähnliche Schmuckformen finden sich an Vaccarinis Fassade der Piccola Badia von S. Benedetto. Hier müssen die durchgehenden Pilaster einer früheren Phase angehören, während die scharfgeschnittenen einfachen Schmuckmotive des Portals für seinen Spätstil typisch sind. Die späten Kirchenbauten Vaccarinis bilden ein Verbindungsglied zu den Werken Stefano Ittars, des bedeutendsten Baumeisters der nächsten Generation. Er entstammte einer toskanischen Familie namens Guidone da Hittar, die sich in Rom niedergelassen hatte, wo er auch seine Ausbildung erhielt. Über seine Lehrer ist nichts bekannt, aber aus dem Stil seiner Werke geht hervor, dass er die klassizistische Bauweise, die um die Jahrhundertmitte im Kreis um den Kardinal Alessandro Albani propagiert wurde, beherrschte. Im 32 43 27 37 39 Jahre 1765 besuchte er Catania und lernte dort den grossen Archäologen und Sammler Ignazio Paterno, Fürsten von Biscari, kennen. Dieser veranlasste ihn zum Bleiben und überredete den sehr angesehenen örtlichen Baumeister Francesco Battaglio, dem jungen Ittar seine Tochter zur Frau zu geben. Battaglios Wirken an diesem Adelspalast stellt eine merkwürdige Episode in der Geschichte der Baukunst Catanias dar. Der Hof mit seinem unvollendeten Treppenaufgang und seiner Einfahrt ist im ortsüblichen Stil gebaut, genauer gesagt, in der späten Manier Vaccarinis, aber in den übrigen Teilen des Palazzo liess Battaglia seiner überströmenden Bauphantasie freien Lauf, so dass er Einfälle verwirklichte, die für Catania ungewöhnlich sind. Auf der einen Seite des Palazzo legte er eine Terrasse mit Pavillons an (Bild 25), die in ihren Dachprofilen die Chinoiserie-Mode widerspiegeln. Sie sind jedoch relativ unauffällig gegen den Überschwang des grossen Salone, der den grössten Teil des Palazzo an der Strassenseite einnimmt. Während der Palazzo mit seinem Blick auf den Hafen von aussen kalt und klassizistisch wirkt, verkörpert der Salone ein Stück Rokoko, wie es In der Fülle seines spielerischen Dekors in Sizilien einmalig ist. Im Grundriss stellt er ein ovales Oktogon mit einem Alkoven auf einer Seite dar, in dem ursprünglich ein Paradebett gestanden haben soll. Die Deckenwölbung öffnet sich in der Mitte in einem Oval, durch das der Blick auf eine mit Allegorien geschmückte, höhergelegene Wölbung fällt, die durch unsichtbare Fenster belichtet ist. Rund um die Öffnung zieht sich eine Galerie, auf der die Musiker sassen, wenn ein Ball stattfand. Man erreicht sie über eine kleine Treppe, die geschickt in einen Zwischenraum zwischen dem Salone und den Fenstern der Hauptfassade eingepasst ist. Der Reichtum der Stuckdekoration von Salone und Treppenaufgang ist in der Tat ohne Parallele in Sizilien, ja auch in Süditalien. Sie besteht aus eleganten Rocaille-Ornamenten von beträchtlicher Stärke, die sorgfältig mit einem Spachtel herausgearbeitet sind, und zwar in einer Technik, die an spätbayrische Stukkaturen erinnert, wie sie im Kaisersaal in Nymphenburg oder in den Festsälen venezianischer Adelspaläste zu finden sind. Man kann nur vermuten, dass der Fürst von Biscari, der Beziehungen zu halb Europa hatte, Stukkateure aus dem Norden zur Ausgestaltung dieses überwältigend reich verzierten Ballsaals herangeholt hat. Francesco Battaglia scheint auf seinen Schwiegersohn keinerlei Einfluss ausgeübt zu haben, denn dieser folgte der Richtung zum Klassizismus, wie ihn Vaccarinis Spätstil verkörperte. Seine wichtigsten Arbeiten sind Kirche und Kloster S. Placido (Bild 37), die er in alleiniger Verantwortung baute, und die Fassade der Collegiata (Bild 39), deren Hauptteil bereits längere Zeit stand. In beiden Kirchen bleibt Ittar bei einem zurückhaltenden Wechsel zwischen konkaven und ebenen Fassadenflächen, wie ihn die Chiesa deI Crociferi und SS. Trinid aufwiesen. In S. Placido ist die konkave Mitte von zwei schmalen, ebenfalls konkaven Seitenflächen flankiert, die leicht nach hinten gedreht sind, damit sich ein stärkerer Kontrast zur 182 Mittelpartie ergibt. In der Collegiata sind die Seitenflächen nicht eingekurvt und stehen ausserdem in der gleichen Ebene wie die Fassade. Sie enden jedoch in Pfeilern, die aus einem Pilaster und einer freistehenden Säule zusammengesetzt und um 45 Grad aus der Ebene der Fassade gedreht sind. Das Ganze ist belebt durch Hinzufügung einer tiefen kassettierten Nische als Hauptbetonung des Obergeschosses, und die Fassade endet unvermutet in einem quadratischen Glockenstuhl mit runder abgestufter Bedachung, die entfernt an die Formphantasie Guarinis erinnert. Ganz allgemein betrachtet stimmt Ittars dekoratives Detail aufs beste mit dem zeitgenössischen römischen Geschmack überein. Aber manchmal greift er auch auf lokale Traditionen zu·‘ rück und gibt ihnen eine persönliche Note wie zum Beispiel in den Klostergebäuden von S. Placido. Hier besteht die nahezu einzige Dekoration in durchgehenden Pilastern an den Ecken, die statt der Kapitelle‘ dreieckige guttae des von Giacomo deI Duca eingeführten und im Osten Siziliens ausserordentlich verbreiteten Typs besitzen. Solche guttae finden sich sogar noch im späten 19. Jahrhundert an den gusseisernen Fensterkörben Catanias. Das Kloster der Benedettini war schon im ersten Stadium des Wiederaufbaus Catanias in Angriff genommen worden, aber es dauerte Jahrzehnte, bis wesentliche Fortschritte zu verzeichnen waren, und der Bau wurde nie ganz vollendet. Als letztes blieb der Neubau der Kirche übrig. Er wurde, wahrscheinlich nach einem Entwurf von Antonio Amato, 1730 begonnen, aber im wesentlichen von Francesco Battaglio durchgeführt. Als das Kloster während der Napoleonischen Kriege vor dem finanziellen Ruin stand, war die Fassade noch unvollendet. Das Innere der Kirche ist ein weiter, kahler Raum auf der Grundlage des lateinischen Kreuzes und entbehrt fast allen Schmucks. Eine Ausnahme bildet das geschnitzte Chorgestühl, eine schöne Arbeit von Gaetano Francese und Niccolo Bargnaso aus Palermo, sowie die wundervolle Orgel, ein Werk des Donate dei Piano, das 1765 vollendet war. In den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts wurden an den Klostergebäuden verschiedene bauliche Veränderungen vorgenommen, und 1794 baute Antonio Battaglio, ein Sohn Francescos, ein neues Treppenhaus ein (Bild 44). Es ist zwar noch barock in der Gesamtplanung, aber in der Anwendung der Säulenordnungen und im dekorativen Detail völlig klassizistisch empfunden. 29 Chiesa della SS Trinita 44 ÄTNA Der Ätna - Mongibello, Eberhard Horst in: Sizilien - Königin der Inseln : ein Reiseführer / (Text) von Eberhard Horst ; (Photographien) von Josef Rast. – Olten : Walter, 1964 Von Enna aus sahen wir den Ätna zum erstenmal. Ein Anblick, der sich einprägt: fern und von leichten Dunstschleiern besänftigt, ruhte das breit abfallende weiße Gipfeldreieck auf den Wolkenbänken, ein Bild vollkommener Harmonie und Majestät. Dann schlugen wir einen großen Bogen nach Süden und Südosten, sahen von den Hybläerbergen und vom Euryalosberg bei Syrakus den Ätna und kamen in Catania, an der Zyklopenküste, in seinen unmittelbaren Bereich. Den schönsten [und am häufigsten fotografierten] Ätnablick gewährt Taormina. Bezaubernd im Frühjahr, wenn das frische Grün des vorgelagerten Tals und der Hänge von weißen und rosafarbenen Blüten übersät ist, wenn das Schneedach des Berges blendend weiß unter dem klaren Himmel liegt. Jedem Sizilienfahrer ist der Ausblick von Taormina vertraut. Die meisten sehen von hier aus zum erstenmal in der Dunkelheit die Feuerkrone, die Glutfäden, die oberhalb des Gipfels auf und nieder steigen, Zeichen kleinerer Ausstöße, die in den Kraterschlund zurückfallen. Er ist immer in Bewegung, der größte tätige Vulkan Europas, der die dreifache Höhe des Vesuv hat. Die Schönheit seines Anblicks kann nicht über sein zwiespältiges Wesen hinwegtäuschen. Er ist Segenspender und Todbringer, der despotisch die Insel beherrscht. Verschwenderisch schenkt er dem umliegenden Land eine strotzende Fruchtbarkeit. Dann reißt er die Erde auf und schickt mit seinen Feuerströmen Vernichtung. Aus eigener Macht hat er sich im Quartär von einem Inselvulkan zu einem landfesten, 3263 Meter hohen Riesen aufgetürmt, der fast ausschließlich aus Lava- und Tuffschichten besteht; wahrhaft der Berg der Berge, der Mongibello [die abgeschliffene Zusammensetzungvon «monte» und dem arabischen « djebel»], wie der Vulkan genannt wird. Ohne Zusammenhang mit den anderen Gebirgen, von den Flußtälern des Simeto und Alcantara umzogen, ragt das kreisrunde gigantische Bergmassiv aus der meernahen Ebene. Aber die weite Basis von rund zweihundert Kilometer Umfang, eine Fläche von etwa tausendfünfhundert Quadratkilometern bedeckend, läßt die Hänge sanft ansteigen und gibt dem Berg weiche, harmonische Konturen. Wenn man hinaufkommt, ändert sich das Bild. Man sieht, daß der Berg ein ganzes System größerer oder kleinerer Kraterkegel versammelt, die meist in Gruppen zusammenstehen. An die zweihundert solcher Gruppen hat man gezählt. Es sind die Wunden des Berges, aufgebrochene und wieder verkrustete Geschwüre, aus denen irgendwann einmal Feuergestein ausbrach oder glühende Lava herausquoll. Die unteren Kegel sind überwachsene, freundlich ländliche Hügel. Oberhalb der Vegetationsgrenze stehen die Krater in der trost- losen, grauenhaften Mondlandschaft von Asche und Lava. Ab zweitausend Meter Höhe haben wir die bewohnbare, bewachsene Erde verlassen und sind einer formlosen, öden grauschwarzen Urwüste ausgesetzt, die an den Anfang und das Ende der Welt denken läßt. Jedoch liegt über dem Gipfelbereich während acht Monaten des Jahres eine Schneedecke. Die Region ab tausendsechshundert Metern hat in der Regel von Dezember bis Mai Schnee. Der Hauptkrater bildet eine riesige unregelmäßige Schale mit einem Umfang von mehr als zwei Kilometern, deren Sohle von kleineren Kegeln besetzt ist. Ständig bewegt die kochende Lava den Grund, steigen Rauchmassen auf und wallen über den Kraterrand. Heftige Böen, die am Gipfel bis zu hundertfünfzig Stundenkilometer erreichen, drücken die Rauchmassen nieder und zwingen ihnen die Richtung auf. Die Kraterränder verändern sich, je nach der eruptiven Tätigkeit. So wechselt die Gipfelhöhe, die auf den neuesten Karten mit 3263 Metern verzeichnet ist, jedoch 1900 3274 Meter betrug, 1942 3269 Meter, 1953 3242 Meter, 1960 3296 Meter. Nach den jüngsten Ausbrüchen im April 1964 hat sich der Zentralkrater wiederum auf 3355 Meter erhöht. Trotz seiner ruhelosen Tätigkeit ist der Hauptkrater relativ ungefährlich. Die großen Eruptionen brachen aus den Ätnaflanken hervor und spalteten unter ungeheurem Druck die Erddecke. So mag vor Urzeiten das gewaltige Einbruchstal der Valle del Bove entstanden sein, das sich östlich unterhalb des Gipfels erstreckt. Ein vulkanisches Urtal mit Steilwänden von sechshundert bis tausendzweihundert Metern. [Im Frühjahr als Skigebiet beliebt, mit Schutzhütte, Talhöhe 1685 Meter.] Die größeren geschichtlichen Ausbrüche, deren Lavaströme das Meer erreichten, setzten in verhältnismäßig geringer Höhe ein. Der Ausbruch von 1381 trat nicht weit von Mascalucia in 450 Meter Höhe hervor. In 800 Meter Höhe liegen die Monti Rossi oberhalb Nicolosi, die Krater des geschilderten Ausbruchs von 1669. Fast eine Milliarde Kubikmeter Lava und Feuergestein quollen aus der aufgerissenen Erde und kamen erst nach vier Monaten zur Ruhe. Merian berichtet aus dem Jahre 1669: «Unter andern ward der Flecken Nicolosi jämmerlich zugerichtet; und mittlerweile die Einwohner ihre geringe Armuth auffs Feld mit genauer Noth zu salviren vermeynten, wurden hinter ihnen her die Häuser zerstoßen und übern Hauffen geworffen, daß sie sich also unterm freyen Himmel und dem schröklichen Stäuben der Aschen auffhalten musten und doch sich nicht sicher befanden. Und weil sie sahen, daß sich die Erde an unterschiedenen Orten auffzuthun begunte und verschlungen zu werden beförchteten, begaben sie sich Hauffenweise nach Catanea zu.» Der verheerendste Ausbruch unseres Jahrhunderts, der 1928 das Städtchen Mascali zerstörte, ergoß sich aus den nordöstlichen Ätnaflanken in tausendzweihundert Meter Höhe. Im zwan185 zigsten Jahrhundert wurden bisher zwölf Ausbrüche registriert. Die Vulkanologen haben die Gesetze des Vulkans erforscht. Sie schrieben die Entstehungsgeschichte, sammelten die Beobachtungen aller Eruptionen und kontrollieren jede Bewegung des Ungeheuers. In 2942 Meter Höhe, nahe dem Gipfel, steht das Ätnaobservatorium. Von hier aus wird jede geringe Veränderung, jeder Atemstoß oder Auswurf gemessen, wird ein Netz wissenschaftlicher Berechnungen über den Feuerriesen geworfen, so daß Voraussagen möglich sind. Bändigen läßt er sich nicht. Schon das Altertum beschäftigte sich mit dem feuerspeienden Berg. Empedokles soll in einem Steinturm nahe dem heutigen Observatorium gewohnt und den Vulkan beobachtet haben. Jedoch sein Freitod im Ätna, der in Hölderlins Dramenfragmenten aufgenommen wurde, gehört der Legende an. Pindar und Aischylos beschreiben den Ausbruch des Jahres 475 vor Christus. Griechen und Römer sahen den Feuerberg als mythisches Wesen. Homer, der den Ätna nicht namentlich nennt, spricht von Polyphem und den Zyklopen. Später werden aus den homerischen Schafhirten die Schmiedegesellen des Hephaistos. Der Feuerschlund wird zur Esse. Immerfort dröhnt aus dem Berg das Hämmern der Gehilfen, die Rüstzeug und Schmuck für die Götter und Heroen schmieden. In Vergils drittem Gesang der Äneis ist es der Riese Encelades, der unter dem Berg liegt, der Feuer ausspeit und bei jeder Körperdrehung das Land erbeben läßt. Hesiod [Theogonie], Pindar [Erste Pythische Ode] und Aischylos [Der gefesselte Prometheus] sprechen von dem hundertköpfigen scheußlichen Giganten Typhon, der seinen Riesenleib unter dem Berg wälzt und aus den Kratern Feuer schnaubt. Das Ungeheuer Typhon, als Sohn der Erdmutter und des Tartaros in der kilikischen Höhle geboren, war der Schrecken des Götterhimmels. Als sich Typhon erneut empörte, hielt ihm Zeus seine Blitze entgegen. Der besiegte und aus vielen Wunden blutende Typhon floh nach Sizilien. Dort stürzte Zeus den Ätna über das Scheusal. Allem, was je über den Ätna geschrieben wurde, stehen die Verse Pindars voran. In der Hieron I. gewidmeten ersten Pythischen Ode heißt es: «Im schrecklichen Tartaros liegt der Götter Feind, / der hundertköpfige Typhon, den einst gehegt I die vielbenannte kilikische Höhle; doch nun I belasten über Kyme, umgürtet vom Meer, I die Hügel und Sizilien ihm die zottige Brust, / und die Säule des Himmels hält ihn fest, / der schneeige Ätna, Amme I des schneidenden Eises das ganze Jahr./ Heiligste Quellen un-/ nahbaren Feuers werden I aus seinen Schlünden gespien; am Tag / ergießen brennenden Strom von Rauch / die Flüsse; in Nächten führt Felsen herab I mit Krachen zum tiefen Grunde des Meers I die wälzende Purpurlohe. Hephaists I gewaltigste Bäche sendet empor / das Ungetüm. Das ist anzuschaun I ein Wunderzeichen, 186 ein Wunder auch / zu hören von denen, die nah sind, I wie er gefesselt an schwarz-belaubten Gipfeln und Hängen / des Ätna, und scheuert und stachelt das Bett I den angelehnten Rücken ihm ganz.» Aufstieg, Gärten und Krater Aufstieg und Besteigung des Ätna machen heute keine Beschwernis. Eine Tagesfahrt, sofern man keine Sondertouren vorhat. Von Catania führt die angenehme asphaltierte Strada dell‘Etna mit mäßigen Steigungen [sieben bis neun Prozent] bis zur Casa Cantoniera in 1881 Meter Höhe [35 km]. Dort kann man sich der 1958 gebauten Seilbahn anvertrauen, die zum Vulkanologischen Observatorium in 2942 Meter Höhe emporfahrt. [Die Funivia ist von Mai bis September in Betrieb.] Nach einem Fußmarsch von einer knappen Stunde erreicht man den dreihundert Meter höher gelegenen Hauptkrater. Der rasche Wechsel von der sommerwarmen Meeresküste zu der vulkanischen Urlandschaft, zu den Schneefeldern am Gipfel und den schwarzen Kraterwänden ist ungemein reizvoll. Die schnelle, bequeme Anfahrt sollte jedoch nicht dazu verführen, auf warme, wetterfeste Kleidung und kräftige Schuhe zu verzichten. Das würde man sehr bereuen. Dem Unkundigen - zumal bei unsicheren Wetterverhältnissen - empfehle ich die Auskunftsstelle der Sezione Etna del Club Alpino Italiano in Catania, Via Bicocca 8. Dem Club Alpino Italiano [C. A. I.] gehören die Schutzhütten am Ätna. Er vermittelt auch Bergführer, die aber für den normalen Anstieg nicht unbedingt nötig sind. Über die Prachtstraße Catanias, die Via Etnea, verlassen wir die Stadt. Auf der ersten Wegstrecke passieren wir Dörfer und Gärten, kommen durch Gravina di Catania, Mascalucia [420 m] und erreichen Nicolosi in 689 Meter Höhe. Nicolosi, das letzte Städtchen, ist ein Wendepunkt. Hier endete vor noch gar nicht langer Zeit die Fahrstraße; man zog weiter auf Maultieren, reichlich versorgt mit Decken und Mundvorrat, ein mühsames Unternehmen. Für uns ist Nicolosi interessant, da hier die Vegetation wechselt. Bis hierher ziehen sich die üppigen mittelmeerischen Fruchtgärten, gedeihen Orangen und Zitronen, entfaltet die Blumenflora ihre farbige Pracht. Zahlreich sind die Rebgärten, die aus dem phosphat- und mineralhaltigen Boden den aromatisch rassigen Ätnawein ziehen. Auch oberhalb von Nicolosi bis tausendzweihundert Meter finden wir noch Weinkulturen, gedeihen Mandeln und die begehrten ätneischen Haselnüsse. Aber hier wechselt das Bild. Im Übergang bis zu tausendsechshundert Meter sehen wir noch Obstbäume, Kirsche, Birne, Apfel. Dann folgt die Waldregion mit mächtigen Kastanien und Eichen, den hochgelegenen Buchen und Schwarzföhren, eine Zone, die an Pindars «schwarzbelaubte Gipfel und Hänge» erinnert. Hinter Nicolosi beginnt die eigentliche Auffahrt. Wir sehen zur Linken die Zwillingskrater der Monti Rossi, friedliche Denkmäler des Ausbruchs von 1669. Zu- rückblickend folgen wir den breiten Spuren hügelabwärts gezogener Lavaströme, sehen grün-bewachsene Nebenkrater. Weit unten liegt Catania, schäumt das Meer an die Küste. Sobald die Straße die ersten Lavahalden durchschneidet, zeigt die Bergzone ihren eigentümlichen und schönsten Schmuck. Auf dem schwarzen Boden erstarrter Lava, auf aschengrauem Geröll blüht goldgelb der Ätnaginster. Oft bedecken die wetterfesten Büsche ganze Hänge und Kuppen. Ginster wächst noch oberhalb der Waldregion. Hier treffen wir auch noch den rosafarbenen Astragalus, ein kugelig-dorniges Gesträuch, das die Sizilianer Spino santo nennen. Die oberen Pflanzenzonen, die spärlich bewachsenen Halden zwischen den Bergwäldern, sind das Revier der Ätnahirten. Sie leben mit ihren Schafen und Ziegen oft wochenlang in der Einöde. Man sieht sie selten. Aber mitunter wechseln sie die Plätze und folgen ein Stück der Straße. Ich sah die Berghirten einmal an einem Regentag. Wolkenschleier trieben über die Hänge und machten das Gelände noch öder und gespenstischer. An einer Kehre tauchten sie auf, wetterharte Burschen mit dunklen, schwarz bärtigen Gesichtern, derbe, unverarbeitete Schaffelle und Decken über den Schultern. Mit ihnen zogen die zu Boden geduckten Schafe, struppige Hunde und ein Maulesel, der einen großen, verrußten Kessel und Geräte trug. Als ich den Hirten einen Gruß zurief, gaben sie irgend etwas zur Antwort in einem Dialekt, den ich nicht verstand. Noch unterhalb der Casa Cantoniera biegt nach links eine Straße ab, die nach einem Kilometer zum Grande Albergo Etna führt [1715m]. Das Berghotel liegt reizvoll in der Pineta di Serra di Nave; herrliche Ausblicke nach Süden und zum Golf von Catania! Das Hotel ist geöffnet von Januar bis März und von Mitte Juni bis Mitte September. Auch am Ende der Fahrstraße, etwas oberhalb der Casa Cantoniera, liegt eine bewirtschaftete Schutzhütte, der Rifugio Sapienza [1910 m]. Wer nicht zum Gipfel möchte, kann von hier aus kleinere interessante Wanderungen unternehmen und in die ersten Kraterschlünde blicken. Man wandert über schmutzig-rötlichen Grus, über grauschwarze Geröllhalden und Lavabrocken, die Abfälle des gigantischen Hochofens mit Hunderten von Feuerstellen. Schon von hier aus umfaßt der Blick die gesamte Ostküste. Talwärts ziehen die erstarrten Flüsse der Lavamassen. Deutlich sieht man, wie ein Lavastrom einen Hügel erreicht hat, sich teilte und nur einen kleinen grünen Helm übrigließ, während er das Leben ringsum erstickte. Ein überwältigendes Erlebnis ist der Aufstieg zum Hauptkrater. Für den Fußweg benötigt man vier Stunden. Auf gut halber Höhe liegt der Piccolo Rifugio [2644 m], die kleine Schutzhütte des C. A. I. Der Anstieg zu Fuß ist nicht allzu beschwerlich, jedoch sollte sich der Unkundige erfahrenen Begleitern oder einem Führer anvertrauen. Meist schwebt man mit der Seilbahn hinauf zum Ätnaobservatorium [2942 m] und überblickt die Formationen der trostlos stumpfen Urlandschaft. Oft umlagern während der letzten dreihundert bis vierhundert Meter Wolkenbänke den Berg, während die Gipfelzone frei liegt. Will man zum Sonnenaufgang auf dem Gipfel sein, so kann man im Touristenraum des Observatorium übernachten. Das letzte Wegstück führt durch eine düstere, nicht mehr irdische Wüste. Bis an den Fuß des Hauptkraters erstreckt sich das Hochplateau, der Piano del Lago, nur von kleineren Erhebungen durchbrochen. Man stapft über Asche und Lava oder über glitzernden Schnee. Alles Leben, alle Farben sind erloschen, es sei denn, der Vulkan rührt sich und schleudert Glutfontänen empor, die bis zu dreihundert Meter hochsteigen können. Am oberen Kraterrand stehend, während aus der schwarzen bodenlosen Tiefe ungefüge Rauchmassen hochquillen, sind wir dem Ungeheuren der Erdgewalt ausgesetzt. Ein Augenblick, der etwas Erschreckendes und Reinigendes hat. Hebt man den Blick und schaut rundum, so liegt ein grandioses Panorama ausgebreitet. Bei gutem Wetter ist die ganze Insel überschaubar : der Girlandensaum der Ostküste; im Süden das krause Bergland der Monti Iblei, der Hybläerberge; im Nordosten beginnend die Bergzüge der Peloritani, die nach Westen in die Nebrodi und schließlich in die Madonie übergehen. Sehr gut kann man die kalabrische Küste mit Reggio und den Bergrippen des Aspromonte erkennen. Im Norden steigen die Vulkanberge der Äolischen Inseln aus dem Meer. Bei klarem Frühlicht sieht man die äußersten Punkte Siziliens, ganz fern im Westen den Monte Erice, an der Südostspitze das Kap Passero. 187 Ätna „Eruzione dell‘ Etna“ von A. Bova, um 1750 Ätna Luftbild vom 22. 07. 2001 Case e Palmenti del‘Etna, Eugenio Magnano di San Lio in: Etna - il vulcano e l’uomo / scritti di S. Agati ... [et al.]; fotografie di Franco Barbagallo – Catania : Maimone, cop. 1993 L‘architetto incaricato nel 1831 dal governo borbonico di delineare la mappa del territorio del nuovo comune di Giarre, appena staccatosi da Mascali, disegna una grande superficie verde segnata appena dalle sottili venature di strade e torrenti e punteggiata da una miriade di case di campagna grandi e piccole. Accanto ad alcune case compaiono alcuni secolari pini domestici che, con eguale rilevanza della casa padronale, contrassegnano il paesaggio etneo; non vengono invece rappresentati i corpi rustici bassi che pure esistono accanto alle case padronali. Forse nessuna immagine è più efficace e sintetica di questa veduta a volo d‘uccello nel delineare quelle che dovevano essere le caratteristiche fisiche del territorio etneo nel secolo scorso, specialmente nei versanti orientale e meridionale. Le viti basse coltivate ad alberello, dove oggi vediamo soprattutto folti agrumeti e periferie urbane, esaltavano la presenza dei volumi squadrati delle case padronali, erette sui corpi bassi dei rustici o su terrapieni nei siti più elevati dei fondi. Le case punteggiavano col colore acceso degli intonaci un vastissimo territorio, un unico grande vigneto che andava da Belpasso fino a Mascali e Piedimonte e poi, nel versante nord, fino a Randazzo. Questo paesaggio fortemente antropizzato caratterizzava peraltro già nel secolo XVI gran parte del territorio dell‘Etna, specialmente nelle pendici meridionali a ridosso di Catania dove sorgevano i casali di Misterbianco, S. Giovanni La Punta, S. Giovanni Galermo, Viagrande, Trecastagni, Pedara, San Gregorio, le varie Aci, anche se, invece di comode residenze padronali vi erano soprattutto delle più sicure torri, alcune di antica data, altre appena costruite dai proprietari per se stessi o per gli affittuari. A partire dal 1624 il vescovo di Catania Massimo, come conte di Mascali, concede in enfiteusi anche i vasti territori della contea a nord di Aci Aquilia. La regione etnea, rispetto ad altre aree della Sicilia, sembra già da allora differenziarsi, così come molte aree intorno alle città maggiori, per la limitata estensione della proprietà terriera connessa alla pratica di colture intensive, prime fra tutte quella della vite associata con gli alberi da frutta; e questo carattere particolare del territorio etneo - o almeno dei versanti orientale e meridionale - si riflette negli insediamenti e nelle architetture rurali. Forse la fertilità dei terreni vulcanici e la collocazione geografica, sicuramente la grande tenacia delle popolazioni locali nel ricavare spesso terreno coltivabile dagli ammassi pietrosi delle sciare vecchie e nuove, furono i fattori determinanti di un insediamento umano così esteso e così fitto. 190 Sebbene le pendici dell‘Etna fossero relativamente ricche di acque sorgive rispetto ad altre aree della Sicilia, per la presenza fino a primavera delle nevi del vulcano e per la natura permeabile dei terreni, in antico queste acque furono sfruttate solo in parte a causa delle limitate conoscenze tecniche dell‘epoca. In mancanza di sorgenti, perché l‘uomo potesse abitare, era pertanto quasi sempre indispensabile costruire una cisterna che desse una sufficiente riserva d‘acqua, che servisse anche per abbeverare gli animali e, se in esubero, anche per coltivare un piccolo orticello. Alcune grandi cisterne erano condominiali e venivano costruite dal signore del luogo per tutti gli abitanti del villaggio; ne abbiamo un esempio in quella grandissima di Pisano, con il collo esagonale ornato da intagli in pietra lavica e chiusa all‘interno di un recinto contornato di case al quale si accede da un bellissimo portale a bugne; ma simili cisterne pubbliche vi erano anche a Milo e a S. Venerina, per fare solo alcuni esempi fra quelli che ci sono noti. Nelle case padronali più grandi talvolta le cisterne diventavano due o tre, una delle quali era riservata per gli usi di casa. L‘acqua piovana giungeva nelle cisterne dai tetti, attraverso imbriciate, catusate e canalate, quasi sempre realizzate con elementi in terracotta impermeabilizzata; ma per l‘irrigazione di orti e giardini si utilizzava anche l‘acqua di cisterne e gebbie che raccoglievano l‘acqua da strade e da torrenti, o dalle sempre insufficienti sorgenti. Le case ed il modo di abitare dell‘Etna derivano da un lato dall‘influenza di culture egemoni succedutesi in Sicilia, dall‘altro da inveterate e tenaci tradizioni autoctone nelle quali un ruolo fondamentale gioca la presenza del vulcano che così fortemente contraddistingue il territorio. Guardando al passato, si rileva un‘evoluzione, comune ad una ben più ampia area geografica, nel passaggio dalle residenze-torri cinquecentesche, costituite da due o più stanze sovrapposte e collegate attraverso ripide scale lignee alle prime casine del Seicento e della prima metà del Settecento caratterizzate da una sequenza di stanze terranee allineate su un unico prospetto con i servizi sul retro, per arrivare infine alle sofisticate casine del secondo Settecento e dell‘Ottocento aventi ambienti differenziati nelle dimensioni e nei collegamenti in funzione delle diverse destinazioni d‘uso e di un modo più complesso ed esigente dell‘abitare in villeggiatura. Col passare del tempo muta l‘aspetto esterno delle case sia dal punto di vista complessivo che nei particolari. Tipici delle residenze dell‘Ottocento sono ad esempio gli archi ciechi che, anche con evidenti funzioni antisismiche, girano spesso su ogni lato della casa padronale e ne sorreggono l‘ampio ballatoio; essi il più delle volte sono privi di qualunque modanatura, come le arcate solenni ed austere di un acquedotto romano, e con la densa e netta ombra che creano con la loro cavità segnano il volume dell‘edificio anche da notevole distanza. Un aspetto che però caratterizza sempre, nel loro evolversi, le residenze rurali dell‘area etnea, più di altre zone dell‘isola, è il contatto diretto degli ambienti con lo spazio esterno, sia esso lo spiazzo del baglio, sia esso l‘ampia terrazza sostenuta da archi o da un terrapieno che circonda la residenza padronale. La casa terranea generalmente viene assunta senza complessi come tipologia residenziale anche dall‘aristocrazia per varie ragioni: la regione etnea per la sua alta densità abitativa risulta in genere più sicura di altre, la campagna è ricchissima di pietra per le murature ma povera della calce necessaria per i muri più alti, inoltre anche a contatto col terreno, si hanno buone condizioni igieniche per la natura estremamente permeabile dei suoli vulcanici; infine la casa bassa è una risposta validissima al continuo ripetersi dei terremoti che caratterizza le aree vicine al vulcano. La rarità della calce in aree dove un tempo si arrivava solo a dorso di mulo da un lato, e l‘esigenza di terrazzare i ripidi pendii dall‘altro svilupparono fra le popolazioni etnee la tecnica della muratura a secco, realizzata con la „pietra di sciara“ che la bonifica dei terreni continua a fornire in quantità illimitata. La pietra dei muri a secco caratterizza non solo i fabbricati rustici, ma tutto il paesaggio etneo segnato dalle armacie e dai paramuri dei terrazzamenti dei pendii, dalle rasole che li congiungono, dai muri di recinzione delle chiuse e dalle cosiddette torrette, depositi di pietrame proveniente dalla spietratura dei campi, organizzate spesso a terrazze digradanti come Pavimentazione stradale con basalto lavico in una ziqqurat babilonese. Era perciò la pietra lavica ferrigna, dello stesso colore del vulcano, rude ed espressiva come poche altre materie, a caratterizzare più di ogni altro materiale le architetture dell‘Etna, che fosse usata in pezzi informi di tutte le dimensioni saggiamente coricati sui muri o in blocchi squadrati cui davano forma gli intagli faticosamente scolpiti dai pirriaturi, togliendo scheggia dopo scheggia con la subbia e il martello, col mazzolo o la bocciarda. Imitando, per quanto il materiale lo consentiva, il disegno e le ricche figurazioni del barocco cittadino, la pietra lavica dominava le architetture dell‘Etna, specialmente nelle campagne e nei paesi più lontani dal mare, dove il maggior costo di trasporto della più duttile pietra di Siracusa compensava la maggiore difficoltà di lavorazione del basalto lavico disponibile in loco. Quando agli inizi dell‘Ottocento si costruiranno le prime strade carrozzabili sulle pendici del vulcano, allora la pietra di Siracusa soppianterà del tutto, almeno nella costruzione delle ville padronali, la pietra lavica, che resterà relegata per la sua maggiore durabilità nei basamenti e nei corpi rustici, al punto da divenire segno di povertà per poi tornare ad essere, ai nostri giorni, materiale pregiato. Altro materiale che un tempo caratterizzava le case dell‘Etna era il legno, utilizzato allora anche per le grate, per i cancelli, per i balconi e le ringhiere e per tutta una serie di manufatti di completamento, tanto che le case dell‘Etna, ancora nel secolo XVIII ricca di boschi nonostante lunghi secoli di disboscamento, dovevano apparire come architetture lignee più di quanto oggi non possa sembrare. Molte di queste parti lignee, facilmente preda del fuoco e poco durature, vennero gradualmente sostituite da analoghi elementi in muratura o in ferro, specialmente quando, col progredire dell‘industria siderurgica e del commercio nell‘Ottocento, il prezzo del metallo divenne sempre più competitivo. I fastosi ricami in ferro battuto, che già nel Settecento ornavano le cancellate delle chiese, i portali e i balconi delle case più ricche in città, si estesero quindi all‘architettura minore ed alle case di campagna, raggiungendo il massimo splendore nei cancelli che chiudevano gli accessi carrai ai fondi, opere di artigiani locali certamente in grado di reggere il paragone con la migliore tradizione europea del ferro battuto. In legno erano le strutture che sorreggevano i tetti delle case, dei corpi rustici, della cantina e del palmento: l‘ampiezza di questi ultimi locali richiedeva spesso la creazione di grandi capriate o forfici nonché altri generi di strutture aeree nelle quali veniva messa a dura prova la capacità inventiva dei progettisti e dei „mastri d‘ascia“ locali che, con uno straordinario ed inventivo empirismo, sopperivano spesso alla penuria di legname ed alle carenze di una ridotta tradizione di carpenteria. 191 I manti delle coperture, generalmente ad una falda per i rustici, a due falde per la cantina e a padiglione per la casa padronale ed il palmento, erano realizzati con i coppi, che in ordinati filari poggiavano su sottili asticelle lignee (costarelle) le quali, a loro volta, poggiavano sui travetti (coscialetti) disposti secondo la pendenza. La pietra lavica a vista, gli intonaci realizzati con la calce mescolata all‘azolo di colore ferrigno o con la ghiara rossa oppure con la sabbia di fossa che dava alla casa lo stesso colore del terreno circostante, il legno rustico verniciato col solo olio di lino cotto oppure col verde di Venezia o con la „terra rossa“, e le ampie superfici dei manti di tegole nei tetti, che col passare delle stagioni si coprivano di muschi e licheni, davano alle case dell‘Etna colori particolari, ingredienti essenziali di quella „identità“ dell‘architettura antica con la quale qualunque materiale „moderno“ entra in contrasto, in maniera feconda e stimolante talvolta, in maniera negativa e sgradevole il più delle volte. Fra le tante, una caratteristica della casa rurale che sembra particolarmente accentuata nell‘area etnea è data dal contatto diretto dei locali rustici con la residenza padronale alla quale sono strettamente connessi funzionalmente e figurativamente. Il palmento e la cantina soprattutto, che sono gli ambienti più di frequente presenti nell‘area etnea, caratterizzata nei secoli XVIII e XIX dalla monocoltura della vite, sono spesso allogati in un unico volume edilizio con la residenza, al di sotto o a lato di essa, collegati da scale lignee e porte interne direttamente con l‘interno della casa, a sottolineare l‘origine pur sempre contadina del possidente terriero che unisce le cure del fondo alla villeggiatura. Pur uniformandosi alle tradizioni locali, i nobili introducono spesso nelle loro casine di villeggiatura elementi che richiamano le ville dell‘aristocrazia palermitana, come ad esempio gli scaloni scenografici a tenaglia che ritroviamo nella villa del marchese di S. Giuliano a Viagrande, nella casa del barone Musumeci a Femminamorta o nell‘ex casina dei Gesuiti a Viagrande; ma le case dell‘Etna raramente ostentano il lusso di quelle palermitane o napoletane perché più forte rimane il legame con la tradizione contadina a cui gran parte della nobiltà catanese affida la propria ricchezza. Gli spazi più suggestivi e particolari dei complessi rurali della campagna etnea sono il palmento e la cantina, architetture che come poche altre si legano in maniera inscindibile con il processo di trasformazione di un prodotto agricolo, in questo caso dell‘uva, trasformata in mosto e poi in vino secondo una pratica consolidata da una tradizione antichissima. Poiché il palmento è indispensabile per produrre il vino, ogni vigna possiede il suo palmento: da quello grandissimo o doppio delle grandi proprietà al palmentolo senza cantina delle piccole vigne, dove il mosto veniva tenuto giusto il tempo di una prima fermentazione e poi, 192 appena possibile, trasportato nelle cantine in paese o in città. Chi non aveva il palmento era costretto a pigiare la sua uva in quello degli altri, servitù onerosa sotto vari aspetti, fra i quali quello di dover organizzare la vendemmia quando il vicino aveva terminato la propria. Come in tutti i paesi dove si produce il vino, la vendemmia rappresentava uno degli avvenimenti più importanti dell‘anno e pertanto essa costituiva un vero e proprio rito ed una festa codificati da precise regole che si tramandavano di generazione in generazione, affinché ogni anno tutto potesse funzionare nella migliore mamera. Le squadre dei vendemmiatori, fra i quali venivano reclutati donne e ragazzi, riempita la cesta d‘uva fra i filari di viti ad alberello, passavano in fila indiana davanti alla doppia finestra del buttatoio, situato nel punto più alto del palmento, e qui scaricavano nella prima finestra la cesta piena d‘uva per riceverla vuota dalla seconda. Nel pista, che era impermeabilizzato con un pavimento (da cui il termine palmento) di pietra lavica o di battume, l‘uva subiva una prima spremitura da parte di una squadra di operai a piedi scalzi: quello così ottenuto era il mosto migliore che attraverso le bocche di cane scendeva direttamente nei tini ricevituri per sedimentare o fermentare con le vinacce, e quindi passare, attraverso canali in muratura e in legno impeciato, oppure trasportato a spalla in otri, nelle grandi botti della cantina. Le vinacce, ancora ricche di polpa dopo la prima spremitura, venivano buttate dal pista nella vasca del conzo dove col torchio, venivano ulteriormente spremute per dare ancora mosto, di qualità però inferiore a quello di prima spremitura. A costruire il torchio, ingegnosa e robusta macchina in legno di remote origini, erano dei veri e propri tecnici specializzati, mastri d‘ascia che dovevano essere in grado di risolvere coi limitati mezzi tecnici a disposizione i non facili problemi di trasporto e messa in opera dei grandi tronchi di quercia, i legni di conzo, che costituivano l‘elemento principale del torchio. Il legno di conzo lavorava come una leva di secondo grado, incernierata, con la spada e due robuste pietre annegate nella muratura, ad un massiccio pilastro che irrobustiva in quel punto il muro del palmento; all‘estremità opposta una vite in legno con una grossa pietra appesa la pietra di conzo costituiva la forza applicata per la spremitura delle vinacce poste in una catasta a strati fasciata con corde di vimini, sotto un piatto di legno al centro del legno di conzo. L‘operazione della spremitura col torchio, era estremamente laboriosa e veniva eseguita in varie fasi perché ad ogni tratto di spremitura bisognava riassestare la catasta sotto il piatto. L‘insieme del pista, dei tini, del tinozzo, del conzo e l‘area di manovra attorno alla pietra di conzo ed alla vite lignea che la sollevava era allocato in un grande ambiente coperto da un tetto a capriate lignee che spesso assumeva un aspetto monumentale, così come monumentali erano le grandi cantine seminterrate con due file di grandi botti dove il mosto diventava vino. Le cantine dell‘Etna, come peraltro tutte quelle del Mezzogiorno d‘Italia, erano costruite per essere fresche anche nella lunga stagione estiva, mentre gli inverni miti non comportavano il rischio che si raggiungessero temperature troppo basse. Spesso venivano interrate, se il terreno consentiva lo scavo e, se possibile, venivano collocate a nord della casa, mentre esigue finestre venivano aperte a settentrione o tutt‘al più verso est; a volte le pareti della cantina venivano forate con lunghe e strette feritoie che miglioravano l‘aerazione evitando nel contempo le costose grate e gli infissi delle finestre. Attorno alle case, come già accennato, tutto il fondo e la vigna venivano antropizzati con una miriade di piccoli e grandi manufatti che, nel loro complesso, costituivano la vera forma di un paesaggio nel quale un ruolo complementare ed un peso equivalente hanno natura e artificio. Tutto comunque faceva perno sulla residenza: dai viali che la congiungevano alla strada pubblica, ai cancelli, spesso monumentali, che ne segnavano il punto di accesso sulla strada pubblica, dalle rasole che conducevano tutte al buttatoio del palmento, ai sedili in pietra che ne segnavano il termine contro un muro di confine, dalle piante ornamentali e da frutto che rendevano ameni certi angoli della vigna alle loggette-belvedere spesso collocate sulle torrette di pietre, ad un tempo postazioni dei guardiani, meta delle passeggiate e luogo di contemplazione del panorama. Che si trattasse della piccola vigna del contadino o del grande fondo di un aristocratico, ciascuna proprietà era organizzata come un piccolo mondo a sé stante, chiuso e difeso dai muri di confine, all‘interno dei quali il proprietario poteva organizzare un microcosmo a proprio modo, nella misura in cui le esigenze contingenti di ogni giorno gli consentivano. Per questo le case di campagna risultavano concepite secondo modelli meno rigidi rispetto alle case di città e nei mesi di villeggiatura trascorsi in campagna la vita intima e familiare assumeva un ruolo più centrale, seppure fra le mille incombenze della vendemmia. La civiltà dell‘Etna è soprattutto una civiltà contadina, ed in essa la casa dell‘uomo rappresenta l‘espressione più concreta e palpa bile per le caratteristiche intrinseche dei materiali e delle forme dell‘Architettura. Interno di un palmento Intagli in pietra lavica 193 Santi e Demoni dell‘Etna, Vincenzo Pappalardo in: Etna - il vulcano e l’uomo / scritti di S. Agati ... [et al.]; fotografie di Franco Barbagallo – Catania : Maimone, cop. 1993 Presenza inquietante, di sconvolgente imprevedibilità, col potere di spezzare nell'improvviso l'assetto delle economie e delle società attorno ad essa sviluppatesi, eppure fonte di ricchezza capace di garantire la stabilità di insediamenti umani plurimillenari, l'Etna ha costituito il fenomeno naturale di maggiore incidenza nella formazione dell'immaginario religioso e culturale delle popolazioni stanziate nelle fasce montane e pedemontane del vulcano. Un' elaborazione di origine autoctona, ben presto sincretizzatasi e diffusasi oltre Stretto in seguito all' incontro con le civiltà migrate nel tempo in Sicilia, accompagnando i primi coloni greci e i tanti dominatori dei secoli successivi. Un mito a due facce Fertilità e distruzione: il fuoco ha da sempre stretto la condizione dell'uomo in una inestricabile ambivalenza, destino di prosperità e alea di morte. Per questo non vi è civiltà che non abbia costruito attorno ad esso un complesso di riti e di articolate simbologie: una cultura inscindibilmente legata al mondo dei contadini, la cui economia appunto risente degli effetti fertilizzanti del fuoco e ne soffre il potere di devastazione. La mitologizzazione del fuoco ha perciò sviluppato diadi inscindibili di divinità buone e malvage, simboli di peccato e purificazione, di verità e menzogna: in Grecia, Apollo dio cosmico del fuoco ed Efesto maniscalco infernale; a Roma, Vesta dea del fuoco domestico e Caco spirito infernale della grotta dell'Aventino. Più complessa la figura latina di Vulcano, divinità ipoctonia cui si sacrificano le armi dei nemici, ma la cui rappresentazione si pone accanto a quella di Maia (Maia Volcant), alla Terra Madre, in una associazione significativa col tema della fecondità agraria. Anche per l'antica cultura ebraica la rappresentazione del fuoco è dialettica, "dal momento che Jahvé è presente nel suo popolo come giudice che porta sia la salvezza che la punizione, anche il fuoco che l'accompagna appare deputato a una duplice funzione" (H. Bietenhard). In un modo particolare si rivela allora il rapporto religioso-culturale delle popolazioni etnee di ogni tempo con il loro vulcano. Un rapporto fervido di suggestioni e rappresentazioni che darà alimento ad una robusta esportazione di immagini e di miti, il cui attecchimento caratterizzerà in modo strutturale l'universo di credenze e i modi di espressione religiosi del mondo greco e romano prima, cristiano e occidentale dopo. L'ambivalenza della rappresentazione del fuoco si articola presso le popolazioni etnee in numerosi miti di distruzione e fecondità, arricchendosi della specificità del tema della sotterraneità: la divina materia che distrugge le case e i raccolti, ma che alimenta e dà crescita alle piante abita sotto terra, vive all'interno di cavità misteriose e insondabili. Tifeo e Proserpina sono le due raffigurazioni mitiche del tema. Tifeo, il mostro partorito dalla Terra congiuntasi al 194 Tartaro, con cento teste di drago e gli occhi di fuoco; le folgori di Zeus liberarono il mondo dal terrore di lui percuotendolo ed ardendolo. Eschilo e Pindaro lo immaginarono disteso sotto la Trinacria, con i piedi al capo Lilibeo, il braccio sinistro legato al capo Pachino e il destro al capo Peloro: con la testa in direzione dell'Etna, il mostro sbuffava e si agitava dando così terremoti ed eruzioni. Proserpina è la divina figlia di Cerere, che Plutone rapisce, secondo la tradizione, presso la grotta di San Giovanni Galermo; è la dea indigeta che agisce dal di dentro, che Varrone designa come "quella che veglia sulla germinazione del grano", e che in Arnobio è la vegetazione che in autunno si cela nel grembo della terra, per poi, di nuovo apparire in primavera. Accanto ad essi, si addensa una folla di creature e personaggi nei quali la fervida fantasia di popoli vichiana mente poetici volle animare fenomeni e luoghi geografici: così i Centomani, mostri con cento braccia invisibili e cinquanta teste che emergevano nei tanti crateri del vulcano; e i Ciclopi, Sterope, Bronte e tanti altri nei quali presero fattezze umane il fulmine, il tuono e tanti altri accadimenti della natura. Con l'evoluzione della civiltà, il mito si complica, si raffina e l'originaria auguralità agraria si riveste di significati morali: accanto alla diade fertilità-distruzione sorgono altre ambivalenze, bene-male, puroimpuro. L'affermazione del culto del dio Adranos, "promotore del bene, vendicatore del male" (Radice), divinità autoctona o forse importazione dell'iranico Adar, è il segno di un progresso della concezione religiosa dei popoli etnei, e dell'acquisizione di contenuti morali nel fondo di una costruzione culturale che vede sempre il rapporto con il vulcano come punto di riferimento essenziale. Divinità ignea, ad Adranos era dedicato un tempio sulla cui ubicazione si è molto discusso (l'odierna Adrano, l'area di S. Maria di Licodia); immerso nel bosco, il tempio era protetto da mille cani i quali accoglievano mansueti i puri, ma strappavano i vestiti e accompagnavano a casa gli ubriachi, e mordevano mettendo in fuga assassini e libidinosi. Testimonianza significativa di una società che comincia a distinguere e a strutturare in diversi gradi la colpa. Timoleonte vi andò, secondo la leggenda, a sacrificarvi; durante la battaglia si videro aprirsi le porte del tempio ed il simulacro del dio "squassare la lancia e grondare tutto sudore" (Radice). In altri casi la sensibilità delle antiche popolazioni siciliane riconobbe all'Etna la capacità divina di premiare la virtù e punire la malvagità. Così nella bellissima leggenda, conosciuta anche da Aristotele, di Anfinomio ed Anapia, i due giovani salvati dalla lava del vulcano mentre a spalla ponevano in salvo gli anziani genitori. E il tiranno agrigentino Falaride, rispondendo ai Catanesi che gli avevano bruciato nelle fiamme del vulcano in attività trenta emissari, commenta che" ... essendo il fuoco partecipe della divina sorte, sta punendo con l'eruzione l'oltraggio" (Diodoro Siculo). Divinità fortemente legata al tema dell'auguralità, l'Etna non tardò ad essere interrogata come fonte di auspici e divinazione. Anch'essi ancorati alla simbolo- gia del fuoco che man mano maturava. Così, in Pausania il Periegeta il fuoco è segno di benedizione, ed è di sinistro augurio il fumo dell'Etna. L'irrompere del Cristianesimo e dei suoi simboli rovescia l'interpretazione del fenomeno naturale: in Paolo Grosio ed in Servio, autori di un'epoca già fortemente cristianizzata, è male quando dall'" ... Aetna mons Siciliae non fumum, sed flammarum egerit globos", non fumo, ma vortici di fiamme vengono fuori. E' però un rovesciamento di criteri su cui converrà ancora parlare. Intanto Pausania, autore di un'epoca di ancora radicato paganesimo, racconta di altre pratiche divinatorie degli abitanti dell'Etna, tutte fiduciose del carattere bene augurale del fuoco. Così, erano gettate nelle fiamme del vulcano in eruzione monili d'oro e d'argento, vasi preziosi, animali: se essi andavano giù, se il fuoco cioè li accoglieva, era buon segno; altrimenti, era sventura. Umbilicus Inferni Il trascorrere dall'epoca pagana a quella cristiana segna una riconversione di criteri e modi di interpretazione della cultura colta circa la rappresentazione religiosoculturale dell'Etna. Il vulcano siciliano mantiene tuttavia una sua ferma centralità nell'immaginario dell'Europa civilizzata. La concezione siculo-greca subisce una radicale trasformazione a contatto con la tradizione giudaicocristiana del fuoco come luogo di punizione oltreterrena. L'immagine ebraica della Gehenna, la valle di Hinnom nella quale bruciavano le mondezze di Gerusalemme, viene presto ad evolversi nell'idea di un inferno di fiamme; e il fuoco dell'Etna viene assimilato a quel luogo di pene. Il mito si radicalizza, viene a confondersi con una concezione cristiana fortemente dualista, perdendo, almeno apparentemente, quella caratteristica ambivalenza dell'epoca pagana. Il fuoco, che nella tradizione vetero-testamentaria manteneva una connotazione dialettica, assume invece, nelle 71 citazioni che si contano nel Nuovo Testamento, prevalentemente - anche se non esclusivamente - i due sensi di tribolazione terrena e punizione oltre terrena: " ...immagini provenienti dalla vita contadina servono ad illustrare il giudizio escatologico di Dio" (H. Bietenhard). Viene soppresso il corno positivo della diade ambivalente; non troveremo più il fuoco benigno che fa crescere le piante, ma il luogo terribile di espiazione e di monito ai fedeli. Si è già visto nell'accostamento di Pausania e Paolo Grosio come, nel breve volgere dal II al V secolo, si rovesci la concezione augurale del fuoco dell'Etna. Isidoro da Siviglia si spinge addirittura in una improbabile ricerca etimologica, facendo derivare il nome Etna dal suffisso di Gehenna: Gehenna-Gehetna dunque. I santi Gerolamo e Giovanni Crisostomo, Minucio Felice, Paciano vescovo di Barcellona e Riccardo di Siracusa, i martiri Patrizio e Pionio, il monaco Cesario e papa Gregorio Magno designano l'Etna come bocca dell'inferno, ed anche in epoca moderna " ... assai vi propende il dottissimo Cardinale Bellarmino" (G.B. Massa). Anche Cluverio testimonia come i vulcani fossero considerati il Tartaro, oppure " ... Tartari spiramenta, et caminos". Né mancano i tentativi di reinterpretazione del mito antico: così Cluverio parla di Tifeo e lo identifica con Satana, che vive perciò incatenato sotto l'Etna. Venendo a mancare l'accento positivo sulla fertilità che la civiltà contadina di epoca pagana aveva posto sul fuoco, le eruzioni dell'Etna divennero presto manifestazioni diaboliche, e la distruttività in essi insita espiazione di colpe collettive ed individuali. Il fenomeno darà spazio al sorgere di sante e santi taumaturghi in grado di controbilanciare il potere negativo del vulcano con i meriti di una santità nella cui rappresentazione si mescolano elementi di complessa ed articolata origine, e caratterizzerà le manifestazioni religiose scaturite dal rapporto con il vulcano in senso prevalentemente penitenziale. Intanto il carattere demoniaco delle eruzioni e dei terremoti dell'Etna costituisce motivo per l'elaborazione di alcune fascinose leggende. G.B. Masculo narra ad esempio di un'apparizione diabolica che avrebbe preceduto l'eruzione del 1536. Un mercante di Messina si imbatteva presso Taormina in uno strano uomo: diceva di essere un architetto e di voler costruire una casa sulla cima dell'Etna, " ... hispida erat barba, horrida supercilia, statura supra vulgarem, color prorsus Aethiopis ... "; quando il mercante chiedeva come potesse essere possibile costruire sin lassù, il finto costruttore spariva facendo morire di spavento l'interlocutore. La stessa sera avrebbe avuto inizio la tremenda eruzione. In epoca di caccia alle streghe tali credenze si tradussero talora in drammatici episodi di cronaca: così, secondo il Carrera, il demonio sarebbe stato l'artefice del terremoto del 22 febbraio 1633, perché taluni " ... guidati dalla persona malefica s'impiegarono di notte a cercar tesori, nel che furono osservate brutte superstizioni, e atti indegni d'homo christiano". L'episodio ebbe uno strascico giudiziario, poiché alcuni indiziati vennero trascinati dinanzi ad una Corte ecclesiastica e condannati con durezza. Accanto a questa rappresentazione negativa, cristianizzata, dei demoni abitatori dell'Etna sopravvive tuttavia, residuo quasi miracoloso di una cultura violata, qualche sporadica reminiscenza dell'antica concezione popolare che vede ancora negli spiriti del vulcano gli indispensabili compagni e i garanti della riuscita del lavoro. Il Radice raccolse questa piccola invocazione: Diavuli ch 'abitati Muncibeddu, Calati ch 'aviti a fari 'na jurnata; Purtativi l'incunia e lu marteddu: c'è di vuscari 'na bona jurnata. Lo stesso può dirsi della leggenda relativa alle origini del monte Mojo, che conosciamo grazie a Filoteo. Essa racconta di due fratelli, proprietari di un grande campo di grano; ma uno era cieco, e al momento di spartire il raccolto l'altro, adoperando un moggio, beffava il fratello non vedente. Tale era la quantità della mietitura che il grano rubato al fratello cieco cumulava, sino a formare un grande monte. Finita la sparti- 195 zione però, un fulmine di Dio bruciava il fratello fraudolento e dava fuoco al cumulo illecitamente raccolto, che così si trasformava nell'arido monte del moggio, monte Mojo appunto. E' appena il caso di accennare al legame agreste tra il gitano e il cratere eccentrico del Mojo, ed al carattere igneo del fulmine vendicatore e punitore. Empedocle ed Elisabetta d'Inghilterra Il tema dell'uomo malvagio che viene sprofondato nel cratere del Mongibello torna più volte nelle leggende e nelle tradizioni dell'Etna, attraversando il passaggio dal mondo pagano a quello cristiano. In esso è possibile far risaltare nel modo più evidente quella caratteristica trasformazione che la concezione del fuoco subisce nel trascorrere delle due civiltà. L'origine archetipica del motivo sembra essere riconducibile al mito della morte di Empedocle: il filosofo agrigentino venerato come un dio muore scomparendo nella bocca dell'Etna. Il senso originario del mito lo si rileva dalle testimonianze di Ippoboto e di Pausania - entrambe raccolte da Diogene Laerzio - per le quali il filosofo si sarebbe lasciato precipitare nel vulcano per dare suggello alla fama di essere un dio che attorno a lui aleggiava. La restituzione dei calzari, l'indumento che calpesta la terra, è simbolo dell' abbandono della natura umana e dell'acquisto di una dignità superiore. Significativi questi versi canzonatori riportati dallo stesso Diogene, che si chiedono come fosse possibile che i megaresi venerassero un sepolcro del filosofo se questi "... si lanciò nei crateri di fuoco e bevve la vita". La cultura antica, radicata in una concezione ambivalente del fuoco, interpreta l'essere accolto dalle fiamme del vulcano come un'accoglienza nel mondo degli dei. In clima cristiano lo stesso mito empedocleo viene ripensato e modificato: così Filoteo degli Omodei, nel XVI secolo, dirà della superbia del filosofo che credeva di essere un dio, ed era perciò divorato dall'ira vendicatrice del vulcano. Il fuoco non santifica e non è più fonte di vita, ma punisce e vendica il sacrilegio; il particolare dei calzari perde adesso ogni significato sotteso, e resta inesplicabile. Già in questo rovesciamento appaiono le coordinate di interpretazione del mito che sosterranno la riproduzione di altre leggende obbedienti allo stesso schema: innanzi tutto, il vulcano assume il carattere di forza negativa, mezzo e luogo di punizione; in secondo luogo, le miracolose apparizioni di anime che in esso vengono viste precipitare hanno come protagonisti personaggi potenti, di diffusa influenza politica e sociale. Il tema rivela dunque caratteristiche non popolari, apparendo denso di riferimenti colti, sottomesso ad obiettivi di parenesi ecclesiastica e, talora, di contingente polemica politica. Il motivo dell'Etna come luogo di punizione e di supplizio per malvagi era comunque in varia maniera diffuso nell'antica religione dei Siculi; esso era però qui l'opposto dialettico e complementare della concezione ambivalente del fuoco. In questa prospettiva va ad esempio inquadrato il culto riservato ai gemelli Palici a Palagonia presso le acque sulfuree del lago Naftia. 196 E' interessante notare come in questo caso, nel rovesciarsi della prospettiva assunta, si capovolga pure la simbologia dell'accoglienza di oggetti e persone nel seno della Terra. Figli di Zeus e della ninfa Etna Talia, partoriti da una fenditura apertasi nel fianco della montagna, i Palici erano divinità ipoctonie, sotterranee, che nelle fonti sulfuree trovavano il canale di comunicazione tra il mondo degli inferi e quello degli uomini. Presso il loro tempio erano condotti a giudizio i malfattori; il giuramento, scritto su una tavolozza di legno, veniva immerso nel lago: se questa rimaneva a galla gli dei confermavano la testimonianza del reo, che veniva dunque liberato; ma se il legno andava a fondo il malfattore spergiuro era annegato vivo nel cratere. I malvagi che spergiurano e la tavoletta dello spergiuro vengono cioè accolti dalla Terra, il cui fuoco perciò stimmatizza e punisce il torto. La letteratura e l'immaginazione cristiana dunque riconoscono nell'Etna la principale, anche se non esclusiva, porta d'accesso all'inferno. Gregorio Magno condannò l'eresia di Teodorico immaginando la sua anima trascinata sin sul cratere di Vulcano dal pontefice Giovanni e dal nobile Simmaco. Già nel VII secolo il re franco Dagoberto viene, secondo Aimonio, trascinato da una torma di diavoli nella bocca dell'Etna; ma le preci dello sventurato commuovono i santi Dionigi, Maurizio e Martino che, apparsi in cielo, liberano il disperato supplice. Il mito segue le dispute teologiche del tempo e, con Origene, dubita dell'eternità dell'inferno: così anche s. Pier Damiani afferma che si udivano dentro il vulcano i lamenti dei dannati e che, grazie alle preghiere, alcune anime riuscivano a fuggire. Nessuna di queste classiche leggende raggiunge però il fascino e l'intensità di quella raccolta a Bronte dal Radice. La protagonista, la regina Elisabetta d'Inghilterra, è una ripresa del motivo di propaganda religiosa e politica. Come Faust, la grande regnante inglese aveva concluso un patto col diavolo, in cambio di quarantaquattro anni di trono. Alla sua morte, Satana si recò a prenderla e intraprese il cammino verso quella terribile e definitiva dimora: "stanco dal viaggio e dal peso ... depose la regale preda in cima alla rocca Calanna, tra Bronte e Maletto, dirimpetto all'Etna"; quindi il corteo si precipitò fumando nella bocca del vulcano. Un pastore lì presente corse atterrito a chiamare il prete, il quale, arrampicatosi sulla roccia, vi trovò una pantofola tempestata di gemme e con, arabescato, il nome di Elisabetta. Torna il motivo empedocleo del calzare; la sua connotazione è qui tuttavia ambivalente: segno di dannazione e di fugacità di ogni gloria umana, ma anche oggetto augurale e simbolo premonitore. Davanti agli esorcismi del sacerdote, prosegue la leggenda, la pantofola si sollevò in aria e fu vista precipitare nei pressi della vicina abbazia di Maniace; proprio nel luogo in cui, quasi due secoli dopo, gli eredi dell'ammiraglio Orazio Nelson avrebbero stabilito la residenza della loro nuova ducea di Bronte: "Voglion dire che la regina era venuta a mettere sotto la protezione della Gran Bretagna quelle terre". Dopo essere stato creato duca, quando era a Palermo, una dama portò all'ammiraglio un cofanetto: apertolo, egli vi trovò la pantofola; ma la donna era sparita. Nelson portò quella scarpa sempre con sé, come talismano durante le battaglie. Poi ne fece dono a lady Hamilton. Nella notte che precedette Trafalgar la dama del cofanetto apparve in sogno all'ammiraglio, e chiese della scarpetta; ma saputo che non era più con lui, gli preannunziò la morte e scomparve. Lo schema dello sprofondamento nell'Etna come punizione e purificazione non faticò a passare dal mito alla realtà del supplizio: così durante l'alto Medioevo, il vescovo Leo fece precipitare nel vulcano in eruzione il mago Eliodoro, residuo isolano di persistenti resistenze pagane. Tema colto, non popolare, tuttavia il mito del potente che sprofonda nella bocca del vulcano è recepito dalla cultura bassa, entra a far parte del bagaglio dei fedeli più umili; viene assorbito talora in forme puramente esteriori, sovrappositive; talora viene interiorizzato e adattato. Difficile reperire le tracce del secondo, più interessante fenomeno. Nella Diavolata che si rappresenta nelle domeniche di Pasqua ad Adrano si può cogliere ancora, nelle forme corrose dell'adattamento letterario subìto dalla rappresentazione sacra nel corso del XVIII secolo, la sopravvivenza di una modificazione popolare del tema: qui i demoni che ingaggiano la lotta con gli angeli e l'umanità redenta vengono fuori da una voragine che ha l'aspetto del vulcano, e gli attori che sostengono la scena erano, almeno fino all'inizio del secolo, scelti tra esponenti di specifiche fasce sociali. Esattori, avvocati prendono le sembianze del diavolo, di Satana, della morte, sintomo di un'enfasi negativa che la considerazione popolare pone sui ruoli del potere economico e giudiziario, ma anche anelito di riscatto e penitenza nei tormentati protagonisti di tali categorie sociali. Il tema della caduta di anime nel cratere dell'Etna compare sporadicamente anche in qualche leggenda popolare. Qui però scompaiono gli accenti propagandistici, e la cultura popolare si dispiega nella rappresentazione delle sue angosce e delle sue inquietudini esistenziali. A parte il mito, conosciuto dal Pitré, di Lucifero che si nasconde nel Mongibello perché inseguito dall'arcangelo Michele, suggestiva è la credenza raccolta dal Calì Fragalà nel versante orientale del vulcano. Una leggenda, che sarebbe risalente al secolo VIII d.C., narra di una vecchia mendicante che si aggirava per il villaggio chiedendo ricovero; ma nessuno le dava ospitalità. Allora la vecchia storpia, bestemmiando, si rifugiò in una caverna lì vicina, la grotta della Vennia: allo scoccare della mezzanotte si udirono tuoni, boati e un grido di donna, mentre si apriva una voragine di fuoco, e fulmini solcavano il cielo. Di lì a qualche giorno, la vecchia fu trovata morta, con gli occhi inceneriti e le labbra nere. Da allora, ogni notte, Satana celebra le sue nozze, e per il trascorrere dei dodici colpi di campana si udirebbero grida strazianti di dolore. La mammella del Padre Iddio Scossa da una rappresentazione infernale dei fenomeni vulcanici, la popolazione cristiana dell'Etna ha da sempre cercato di esorcizzare la potenza distruttiva delle eruzioni mettendo in opera una serie di gesti e riti penitenziali e affidandosi al potere positivo di santi e oggetti sacri. Le varie ed articolate leggende e devozioni sorte a quest'ultimo riguardo si configurano nelle categorie di mentalità magica del popolo, e la gran parte di esse può essere inquadrata in quell'area di credenze che gli antropologi definiscono come magia di contatto, per cui il tatto o la presenza dell'oggetto magico-sacro produrrebbero il miracolo. La devozione che ha costituito il più rilevante fenomeno di associazione tra fede cristiana e presenza del vulcano è sicuramente quella riservata alla martire catanese Agata. Già l'elaborazione agiografica contiene in sé i termini dell'utilizzazione magica del suo carisma: torturata, Agata cammina sui carboni ardenti; vince cioè il potere distruttivo delle fiamme. Per similarità (altra categoria caratterizzante della mentalità magica) la santa catanese si riveste così di un potere esorcistico, apotropaico, sul fuoco e su quel luogo del fuoco che è l'Etna. Sempre per similarità, tale potere si trasferisce pure sugli oggetti personali, il velo, e, per contatto, sugli oggetti che vengono toccati dal velo. Il numero di miracoli attribuiti ad Agata è rilevante, non vi è praticamente eruzione o terremoto, che abbia interessato l'area sud-orientale dell'Etna, in cui non si sia riconosciuto un intervento sovrannaturale della santa: già negli anni immediatamente successivi alla sua morte, il popolo si sarebbe rivolto alla sua protezione contro le devastazioni del vulcano; Ugo Falcando ringrazia per la sua protezione in occasione del terremoto del 1179 (o 1183); lo stesso per il sisma del 1329. Dell'eruzione del 1408 ci è rimasto un preziosissimo documento nelle 53 terzine di un canto del certo Andrea Anfuso da Messina, il quale pone in riferimento la cessazione del fenomeno con l'intercessione della santa e con la presenza della regina Bianca. E poi le eruzioni del 1444 di S. Agata Li Battiati; quelle del 1536, documentate dal Filoteo e dal Selvaggio; del 1537 a Mompileri; le eruzioni dal 1603 al 1636 raccontate dal Carrera. Interessanti alcuni particolari che emergono dalle cronache. Il Filoteo narra ad esempio dell'improvviso raffreddamento del magma al contatto col sacro velo, sicché si vide qualcuno " ... pedibus etiam nudis ... desuper illaesis deambularetur", camminare a piedi nudi sulla lava. Le capacità miracolose della santa si trasferiscono così anche sui fedeli. E Tomaso Tedeschi Paternò, testimone dei terribili mesi del 1669 e splendida incarnazione della mentalità magica dell'epoca, racconta alcuni fatti miracolosi seguiti al duello, così vien detto, tra il velo e la lava: c'è chi prende in mano i sassi infuocati, chi ci cammina sopra; c'è chi tocca le reliquie con la bambagia che, gettata nel fuoco, non brucia; e c'è ancora chi affonda una verga nel magma, senza che essa prenda fuoco. Il naturale raffreddamento dei fronti lavici appena interrotta l'alimentazione viene collocato in un tempo magico evocato dalla pre- 197 senza dell'oggetto miracoloso, e la minuziosa enumerazione degli episodi straordinari è testimonianza dello stupore di chi si sente sollevato dalla realtà e immerso in un momento di sospensione delle leggi naturali. Il Carrera illustra una prassi devozionale di grande interesse. Nel 1634 la lava scende verso FIeri e Milo. Paolo Torrisi, beneficiale della Cattedrale, lì gode di una proprietà che rischia di essere investita: allora, " prese il drappo terzanello" e tagliatolo in più pezzi " le cinse di cottone benedetto, ch'haueua toccate le reliquie, e ne circondò le siepi della vigna". Operazione magica di contatto: la lava passò senza toccare il podere. Ma già nell'eruzione del 1536 un devoto aveva adottato lo stesso metodo per un podere sito tra Nicolosi e il Monastero di S. Nicola, che fu poi per un tempo conosciuto come la "vigna di sant'Agata". L'eruzione del 1669 è quella che più sconvolge l'assetto economico e sociale delle popolazioni dell'Etna La figura di Agata travalica però in questo caso le categorie devozionali e magiche che si sono sin qui delineate e assume una carica culturale capace di assicurare il permanere del senso d'identità in un popolo toccato da una tragedia immane. Il 19 aprile, quando sembrava che la lava dovesse seppellire il duomo, la folla accompagnava le reliquie della santa che venivano spostate via mare nella chiesetta di S. Maria di Ognina. Poi, il miracoloso galleggiare nel fuoco dell'icona di s. Agata a Naumachia, dopo che la colata ne aveva distrutto la base, l'arrestarsi della lava a 300 metri dalla Cattedrale diedero speranza, impulso ad una volontà di ricostruzione e voglia di ricominciare. Nelle molte testimonianze dirette che ci rimangono di quell'evento è possibile rintracciare con chiarezza l'aspetto penitenziale che caratterizza l'approccio religioso suscitato dal vulcano in eruzione. Una processione con le reliquie della Madonna e di s. Lucia muove 1'11 marzo da Malpasso a Nicolosi: " ... cinque mila persone, tutte in habito penitente, e lagrimevole adatto ad impetrar pietà dall'offeso Nume delle loro sciagure; qual battendosi a sangue, qual con acute punte d'acciaio trafigendosi il petto, qual mezzo ignudo trascinandosi per terra, e quasi tutte coronate di spine" (Tedeschi Paternò). Il giorno successivo, in una processione di Catania, lo stesso vescovo Bonadies conduce per la città le reliquie di Agata con il capo cinto di spine. Quantunque la fede nei confronti della santa catanese assuma un ruolo rilevante nel quadro della religiosità popolare etnea, altre figure mistiche si affiancano nel sentimento devozionale delle genti che popolano il vulcano. Non ci risulta sia mai stata disegnata una mappa che consenta di percorrere l'itinerario devozionale che segna il rapporto con l'Etna delle varie comunità cresciute all'ombra del vulcano. Né del resto il compito appare semplice, poiché molte devozioni si sono succedute e talora mutamenti dell'asse antropologico hanno influito sull'universo simbolico della religiosità popolare. Di sicuro si può affermare che le devozioni di più sicura presa sociale sono quelle maturate presso gli stanziamenti di economia agraria: è infatti sulle campagne che si scarica il potenziale distrut198 tivo del vulcano, ed è sulle inquietudini dei contadini che poggia il rapporto religioso dell'uomo etneo con la sua montagna e con i suoi santi. Nessuna tradizione di rilevante interesse antropologico è perciò possibile rintracciare nelle pur numerose popolazioni di pescatori dell'area etnea. L'invocazione al pescatore Pietro rintracciata a Riposto in un santino del 1930 (Se dall'Etna o dal maTe ruggente/ci minaccia divino flagello ... ) è conseguenza del dissidio tra il giarrese s. Isidoro Agricola e il ripostese Apostolo, trasferimento sul piano religioso della contesa civile che divise le due comunità nel 1823. Un rapido sguardo ai centri etnei interessati in epoca storica da eruzioni particolarmente drammatiche consente di evidenziare alcune delle principali fedi devozionali emerse nella sensibilità popolare. Molto diffusi appaiono i culti mariani: l'eruzione del 1408, la stessa della Regina Bianca, distrugge il territorio di Pedara, lasciando intatta una cappelletta della Madonna dell'Annunciazione, che sarà poi eletta patrona della città; alla stessa Madonna era dedicata la chiesa di Mompileri davanti alla quale si ferma la lava del 1669, dopo avere però sepolto alcuni simulacri mariani; sempre all'Annunziata è legato un viscerale attaccamento della fede brontese, emerso a partire dalle eruzioni del '700; a Zafferana l'eruzione del 1792 costituisce invece l'occasione del duraturo affetto nei confronti della Madonna della Provvidenza. A Randazzo, una madonnina bianca sovrasta il portale di meridione della cattedrale di S. Maria, quello che guarda verso il vulcano, e la fede popolare vuole che sia a vigilanza del fuoco della montagna; molto bella la tela conservata nella stessa chiesa, nella quale si vede una Madonna spegnere con il latte del seno una colata che minaccia la città: anche in questo caso il contenuto simbolico è trasparente, con il latte bianco di purezza che vince il rosso fuoco del peccato e della devastazione. Il Borzì narra come, in occasione dell'eruzione del 1886, Nicolosi fosse sede di processioni a s. Agata, all'Immacolata, a s. Giuseppe, a s. Antonio da Padova e a s. Antonio abate; da Mascalucia il clero portò le reliquie di s. „Diavolata“ ad Adrano Vito, da Gravina quelle di s. Antonio; partirono processioni da Borrello con la Madonna della Guardia, da Belpasso con s. Lucia, da Massannunziata con il nemico acerrimo dei demoni, l'arcangelo Michele. Altri culti riproducono l'attaccamento cittadino alla patrona: durante il terremoto del 1693 il magistrato di Acireale fa esporre l'immagine di s. Venera; a Paternò s. Barbara ferma l'eruzione che nel 1780 minaccia il fedo di Ragalna; a Mascali, durante l'eruzione del 1865, i popolani si rivolgono al patrono Leonardo abate, addebitando al suo intervento la salvezza dell'abitato; a Piedimonte invece, nel corso della stessa eruzione, i fedeli si rivolgono a s. Ignazio, quando la lava ormai si dirige alle porte della città. Il patrono Egidio è a Linguaglossa protagonista di una splendida leggenda raccolta dal Pitré. NelI556la città era minacciata da una improvvisa eruzione, la gente scappava, le masserizie erano poste in salvo; solo una vecchia inferma e senza parenti non riusciva ad allontanarsi e inginocchiata pregava il santo abate. A un tratto dal cielo apparve Egidio; consolò la donna di-cendole di non preoccuparsi e le fece dono di un bastone; la vecchia si trascinò dinanzi alla colata e lì piantò il bastone: la massa infuocata si fermò. Scarso successo ha nella religiosità legata all'Etna la figura del Cristo, e nei rari episodi in cui essa appare ci si trova quasi sempre davanti a manifestazoni del clero colto: il Carrera narra ad esempio dei monaci di S. Nicola, i quali, nel 1536, si sarebbero opposti alla lava che rischiava di investire il monastero con la reliquia del sacro chiodo, riuscendo a fermare il fuoco. Quando invece il riferimento a Cristo si fa popolare, esso è costretto a piegarsi al fondamentale schema agatino: nel 1669 le chiese di Catania espongono l'Eucarestia, "che pur d'alcuni Padri si chiama mammella del Padre Iddio" commenta il Tedeschi Paternò. Lo stesso Dio cristiano assume fattezze femminili, e viene accolto dalla sensibilità del popolo etneo nelle forme del familiare riferimento ad Agata. In generale comunque, pur con le eccezioni che si sono evidenziate, il devoto dell'Etna ha riservato il successo cultuale più rilevante a figure di sesso femminile. S. Agata, le Madonne dell'Annunziata, del Pileri, della Vena e della Provvidenza, insieme ad altre figure muliebri incarnano una dimensione religiosa che per la civiltà etnea è inscindibile dal rapporto con il vulcano; che riesce anzi ad attecchire nella coscienza civile e sociale della popolazione, dando origine a tradizioni religiose durature e documentate da una cospicua produzione affabulatoria ed invocativa. Non mancano certo le figure maschili ed episodi di elaborazione devozionale ad essi relativi: a Bronte l'eruzione del 1654 fu così all'origine di una fugace devozione nei confronti di s. Felice da Cantalice, che in apparizione avrebbe spazzato con una scopa la lava ormai prossima al convento dei cappuccini; ma il culto non si radica, e presto sparisce. Con più rilievo si delinea invece il ruolo di Antonio Abate il cui culto appare ancor oggi vitale nella fede di Nicolosi e Misterbianco: tuttavia il legame col fuoco del santo viene testimoniato in molte regioni europee, ed esso si rivela dunque di origine eteroctona, importazione felice di una devozione che ha tratto altrove le radici del suo accostamento con i simboli della devastazione ignea. Un legame generico col fuoco piuttosto che uno specifico con l'Etna. Solo nell'area settentrionale e nord-orientale dell'Etna, nei comuni di Linguaglossa e Piedimonte, ma anche di Mascali e Giarre, le figure di sacralità femminile paiono in ombra e, tutt'al più, come nel caso del vecchio culto mariano di Vena, paiono solo accompagnare, con la forza di una tradizione che si spinge sino al VI secolo dell'era cristiana, più moderni attaccamenti religiosi maschili: qui però sembra pesare, più che altrove, l'importazione di modelli religiosi venuti al seguito dei dominatori di epoca medievale e moderna: francesi sono infatti i santi Egidio e Leonardo, spagnoli Isidoro e Ignazio. L'insediarsi di comunità straniere ha in questi casi spezzato la continuità culturale dell'asse antropologico locale, confondendo le radici di tradizioni plurimillenarie. In altri luoghi però, laddove l'influsso dei popoli conquistatori non prevaricò e la tradizione culturale indigena mantenne una sua genuinità, la prevalenza di figure femminili ci riporta ad una cultura popolare ancestrale; al riemergere, negli schemi della rappresenta zione cristiana, di ataviche forme della civiltà contadina. La fisionomia delle sante e delle madonne, cui la sensibilità popolare chiede un potere di controllo sulla natura che distrugge e che punisce, rimanda a quell'universo di credenze e di cultura religiosa legato al culto della Terra Madre. Nelle tante madonne e sante cristiane, la civiltà religiosa dell'Etna fa rivivere l'egiziana Iside, la greca Demetra, la romana Cerere, e le altre divinità femminili con cui il mito antico raffigurò la terra e la continuità del mondo contadino. La prospettiva cristiana, che aveva eliminato dalla antica concezione ambivalente del fuoco la positiva rappresentazione della fecondità della terra, svela qui la sua limitatezza, la riduzione solo apparente del fuoco a mero simbolo infernale, la conquista incompleta della cultura popolare. Calato nel vissuto del popolo etneo, il rapporto della cultura contadina con il vulcano mantiene una continuità di simboli e di espressione religiosa in grado di transitare senza sostanziali alterazioni da una civiltà pagana ad una cristiana. Simbologie e linguaggi culturali che, pur perdendo col tempo coscienza delle loro origini, hanno mostrato la capacità di esprimere inquietudini, ansie e speranze di generazioni lontane tra loro migliaia di anni, ma tutte accomunate da una ineliminabile labilità dell'uomo quando esposto ai rischi dell'esistenza. 199 NOTO Vorgängerstadt - Zerstörung - Neugründung in: Noto : Idealstadt und Stadtraum im sizilianischen 18. Jahrhundert / Paul Hofer; Einf. von Werner Oechslin. – Zürich: Institut für Geschichte und Theorie der Architektur, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich, 1996 Die alte Stadt Noto, in ihren vorgriechischen, griechischen, römischen und mittelalterlichen Lebensabschnitten blühend oder darniederliegend, stand bis Januar 1693 auf exponiertem, nach drei Seiten steil abfallendem Sporn über dem Zusammenfluss zweier Wildbäche am Südrand der hybläischen Berge, sieben Kilometer nordwestlich der heutigen Stadt. Im Mittelalter mit dem Ehrentitel Noto „l‘ ingegnosa” ausgestattet und noch im 16. Jahrhundert, nach Ausbau ihres Kastells unter dem Vizekönig Gonzaga, als eine der fünf stärksten Festungen Italiens betrachtet, zählt sie im Jahr 1681 12043 Einwohner und enthält, nach Ausweis des Chronisten und Augenzeugen der Zerstörung, Filippo Tortora, 56 Kirchen, wovon fünf Pfarrkirchen, zwei Kollegialstifte, elf Mönchs- und acht Nonnenklöster.“ Sie ist damit nach Syrakus die zweitgrösste Stadt Südostsiziliens und gibt einem Hauptteil der königlich-spanischen Verwaltung der Insel den Namen Val di Noto. In der Nacht vom 9. auf den l0.Januar 1693 erschüttert ein erster Erdstoss die Stadt und mit ihr fast ganz Südostsizilien. Die aufgeschreckte Bevölkerung flüchtet sich in die Umgebung; ein zweiter Stoss folgt Sonntag, 11. Januar nachmittags, ein dritter, der verheerendste, in der Nacht auf den 12. des Monats. Der Stadtgrund gerät in wellenförmige Bewegung, alles Gebaute stürzt, abgrundtiefe Erdspalten öffnen sich; nach einer Serie von Nachbebenstössen verdunkeln schwere Staubund Rauchwolken die Sonne, sintflutartiger Regenfall, Blitz- und Hagelschlag folgen; in den Trümmern sind Plünderer am Werk; die Zahl der Toten steigt auf 3000 an, um weitere 2000 vermehrt durch die im Sommer 1693 unter den Über lebenden ausgebrochene Epidemie. Erst nach einigen Tagen kehren die Geflüchteten aus ihrem Hauptsammelplatz bei S. Maria di Gesu ausserhalb der Porta delia Montagna in die zerstörte Stadt zurück. Von den durch Tortora auf 500 bezifferten Handwerkern um 1690 bleiben um 1700 noch 200. Laut dem zwei Jahre später in Palermo erschienenen Bericht des Augenzeugen Domenico Guglielmini liegen insgesamt 42 südostsizilische Städte ganz oder partiell in Trümmern. Mitte Februar 1693 treten die überlebenden Notabeln zu einer ersten Beratung zusammen. Sie bleibt ohne greifbares Resultat. Kurz darauf trifft die Ankündigung eines ersten Augenscheins durch den neuernannten Generalstatthalter für den Wiederaufbau Notos, Giuseppe Lanza, Herzog von Camastra ein. In den Trümmern wird eine Notbaracke aufgestellt; tags darauf, am 24. Februar 1693, ergibt die Konferenz des Herzogs mit den Giurati di Noto ein Inventar der bis dahin erwogenen Standorte der Rekonstruktion; ausser der von einer starken Partei vornehmlich des Handwerkerstandes und von der ersten Meinung des Herzogs verfochtenen Wiedererrichtung am alten Ort stehen fünf Territorien zur Debatte: der Hafen Vendicari, die Carruba dell‘ Advento oder Busulomone über dem rechten Ufer des Asinaro, die Terrasse über der Einsiedelei von Madonna della Marina, das Landgut Falconara in unmittelbarer Meeresnähe und das Feudo delle Meti am Hang über dem linken Asinaro-Ufer. Unter Einfluss des Stadtadels und der unter diesem führenden Familie Landolina spricht sich die Mehrheit der Versammlung für einen Standortwechsel aus. Am 9. Mai ergeht an die geflüchtete Einwohnerschaft die formelle Aufforderung, sich auf dem sito delle Meti niederzulassen; Ende Juni wird der Schrein des Stadtheiligen S. Corrado in feierlichem Zug dorthin überführt; ausser Ackerbau-Interessen der grundbesitzenden Nobilität gibt die Verkehrslage an der Fernstrasse zwischen Augusta, Lentini, Syrakus und Modica den Ausschlag und dies trotz Fehlens örtlichen Grundwassers und trotz eher ung ünstiger Territorialverhältnisse; tatsächlich ist das Gut dem Baron Ignazio Astuto in Palazzolo, Erbpächter des Marchese di Avola, zinspflichtig. Im sicheren Glauben, die neue Stadt werde auf der Hügelkuppe des feudo delle Meti errichtet, verlässt der Generalvikar am 9. März den Ort, worauf die Giurati dem Vizekönig selbst den Dank für die Zustimmung zum neuen Standort entrichten. Mitte April trifft der neu eingesetzte Generalkommissär Giuseppe Asmundo, Richter an der Gran Corte, in Noto ein; sein Auftrag lautet, Ordnung in den Wiederaufbau zu bringen und dabei bis zu dessen Abschluss auszuharren; ein vierköpfiger Arbeitsausschuss, worin Adel und Klerus mit je zwei Repräsentanten vertreten sind, sehr ihm zur Seite. In diese Wochen, kurz vor oder gleichzeitig mit dem Eintreffen des Bevollmächtigten, muss, nach Lilian Dufour und Henry Raymond, der Aufenthalt und Stadtentwurf des Jesuitenarchitekten Angelo Italia gesetzt werden; im strengen Wortsinn nicht urkundlich gesichert, ist dessen Autorschaft an der Stadtanlage doch dreifach, zweimal durch den Bericht Asmundos vom 28. August 1698 und einmal durch den Anonimo des frühen 18. Jahrhunderts bezeugt. Im Gegensatz zur Meinung der Behördenvertreter, aber in Übereinstimmung mir den klerikalen und privaten Bauwilligen wählt Italia als Weichbild den Hügelfuss statt der Hügelkuppe; nur dort liesse sich ohne übermässige Kosten Trinkwasser zuführen. Zwischen dem 8. und 14. Dezember 1694 stellt der Herzog von Camastra die Konzentration der Niederlassungen auf den Hügelfuss Richtung linkes AsinaroUfer fest, worauf der Generalvikar, ohne Rücksicht auf die schwierige Wasserversorgung, mit Nachdruck die Überbauung auf der Kuppe fordert. Die Kontroverse zwischen dem bereits im unteren Gutsteil siedelnden Klerus und der Mehrzahl der Nobilität einerseits und den Bevollmächtigten der Regierung andererseits nimmt an Heftigkeit zu, bis der Herzog im 201 Dezember 1694 den Interimsbau der Stadtkirche, die baracca della Madrice samt dem Schrein des Stadtheiligen handstreichartig auf den Pianazzo transportieren lässt. Anschliessend folgt die Hinaufverlegung des Kollegiatsstifts SS. Crocefisso und zweier Klöster auf die Hügelkuppe und die Aufforderung an alle noch in der Umgebung Notos Verstreuten, sich daselbst niederzulassen. Ungeacht der offensichtlich regen Bautätigkeit und der Haltung der Behörden steht jedoch der Standort noch nicht unverrückbar fest. Beträchdiche Teile der geflüchteten Bevölkerung warten in umliegenden Dörfern und Städten ab, was sich auf dem Meti-Gut abspielt. Juni 1698 geht namens einer Mehrheit des Adels, der Geistlichkeit und des Volkes von Noto ein Memorial an den König von Spanien, in welchem, nach ausführlicher Übersicht über die Problemlage, Pro und Kontra der Wahl von 1693 einander gegenübergestellt werden. Die Tendenz des Aide Memoire liegt auf der Bevorzugung des alten Standortes; beantragt wird die Entsendung eines zum endgültigen Entscheid bevollmächtigten königlichen Delegierten. Die Parteigänger des Wiederaufbaus am alten Ort geben sich jedoch noch nicht geschlagen. Drei Massnahmen folgen auf das Memorial vom Juni 1698. Zum einen wird der Generalkommissär Asmundo eingeladen, über die Umstände und Beweggründe der Verlegung in das feudo delle Meti einen detaillierten Bericht ab zulegen. Zum andern ergeht an die Giurati di Noto Auftrag, auf Herbst 1698 eine allgemeine Befragung der Einwohnerschaft über Rückkehr in die alte Stadt oder Verbleib auf dem Meti-Gut durchzuführen; unmittelbar nach deren Abhaltung wird Antonio Impellizzeri, Marchese di Camporeale und Capitano di Giusrizia im Zeitpunkt des Erdbebens, aufgefordert, ein Gutachten über die Sachlage abzufassen. Gemäss Bericht vom 8. und 12. Oktober über die inzwischen durchgeführte Volksbefragung haben sich von den 749 Stimmenden des dritten Standes vorab der Kaufleute und Handwerker 481 für Wiederaufbau am alten und lediglich 266 für Verbleib am neuen Standort, die führenden Stände jedoch einhellig wie die Reprä sentanten der Nobilität oder fast geschlossen wie der Klerus und die freierwerbenden Ärzte, Notare, Apotheker und Gewürzkrämer für die im Werden begriffene Neustadt ausgesprochen. Am 20. Januar 1699 erhält der Bischof von Syrakus und neue Generalvikar Auftrag, die Ergebnisse der Volksbefragung zu bestätigen und die Gemüter zu beruhigen. Indessen führt die erneut und schärfer als zuvor zutagetretende Polarisierung der Überlebenden, wonach Handel und Handwerk für Noto vecchia, Stadtadel, Geistlichkeit und Freierwerbende für die neue Stadt eintreten, zunächst lediglich zu neuer Überprüfung der Kontroverse. Anfang Mai 1699 begibt sich der Generalvikar Bischof Asdrubale Termini in Begleitung des Ingenieurs Formenti ins umstrittene Gelände, veranlasst eine neue planmetrische Gesamtauf202 nahme bei der Standorte und erstattet darüber am 24, Mai einen ausführlichen vergleichenden, durch Expertise Formentis vom 9. Mai ergänzten und durch die zwei Planaufnahmen dokumentierten Bericht von den zuständigen Instanzen überprüft und genehmigt, geht das Dossier am 13. August an den königlichen Hof in Spanien ab. Noch einmal schlägt das Pendel zugunsten der zerstörten Bergstadt aus; sowohl der technische Bericht Formentis als auch das Gutachten der verantwortlichen Behörde, des Tribunale dei Real Patrimonio, empfehlen die Rückkehr dorthin; nicht nur seien die Lage gesünder, die Winde günstiger, das Trinkwasser reichlich vorhanden, sondern die von Karl V. ausgebaute Stadtbefestigung sei aufrecht und das beschädigte Kastell mit der vergleichsweise geringen Summe von 5000 Scudi zu restaurieren. Anfang September gleichen Jahres protestiert ein Brief des Pfarrherrn Corrado Bellofiore gegen den RückkehrEntscheid der vorgesetzten Behörde und fordert den Vizekönig auf, den Rücktransport von Baumaterial an den alten Standort zu unterbinden. Das Verhalten der Behörden ist schwankend geworden; vorübergehend wird der Kompromiss erwogen, Noto Nuova als entfernte Vorstadt von Noto Vecchia fortzuführen, doch schreckt das Beispiel von Lentini und Carlentini davon ab. Auf einen neuen Augenschein und Bericht von Feliciano de Aponte, Militärgouverneur von Augusta, vom 22. Dezember 1699 folgt der Befehl an die Bevölkerung, an den alten Ort zurückzukehren; kurz darauf befürwortet ein neuer Consiglio generale die freie Wahl jedes Einzelnen zwischen Alt- und NeuNoto. Im feudo delle Meti jedoch nimmt die Bautätigkeit unaufhaltsam zu. Klerus und Adel teilen das Gelände unter sich auf und errichten, unbekümmert um das Auf und Ab der behördlichen und kommunalen Beschlüsse, ihre vorerst noch interimsmässigen Sitze. Gegen Ende 1702 reift an den entscheidenden Stellen, an den Höfen von Madrid und Palermo, der Entschluss, dem Wettstreit der Meinungen ein Ende zu bereiten. Am 24. November erscheint der Vizekönig, Kardinal Giudice, Erzbischof von Monreale, in Begleitung von Ferdinando d‘ Accagna, Gouverneur von Messina, auf dem Platz. Angesichts von Anzahl und Beschaffenheit der auf dem feudo delle Meti bis 1702 errichteten monastischen und privaten Bauten ent scheidet sich der Vizekönig für den neuen Standort. Am 26. Dezember gibt er den Giurati di Noto eingehend Bericht. Es ist die Anonyme Chronik, die dessen lapidaren Ausspruch am Schluss des Augenscheins überliefert: las fabricas han deciso la lite. Nach Überwindung des Widerstandes seitens der am alten Ort neu Niedergelassenen und ihres Anführers Landogna bestätigt am 31. März 1703 ein Erlass des Königs gegenüber den Giurati di Noto und dem Tribunale del Real Patrimonio in Messina den endgültigen Entscheid. Zehn Jahre und zweieinhalb Monate nach der Katastrophe von 1693 fällt die Waagschale zugunsten Noto Stadtplan 203 des meernäheren Standortes, und Noto Vecchia wird unwiderruflich zur Ruinenlandschaft aus Trümmern, Macchia und einer einsamen Einsiedelei Dreieinhalb Jahre später, am 25. November 1706, läutet die in der Woche zuvor neugegossene, von Bischof Asdrubale Termini getaufte und geweihte Grosse Glocke die Periode der Verwandlung Notos aus einer Notbautenund Barackenversammlung in eine steinerne Stadt ein. Die Transformation der Naturreliefs Wohl jedes feste, auf Dauer berechnete Werk des bauenden Menschen setzt sich aus dem allenfalls vorgefundenen Bestand, aus Eingriff und Zutat, aus Aggression und Kumulation zusammen. Allen anderen Unternehmungen voran gilt dieser Satz für den Neubau einer Stadt. Ein bestimmtes Stück wenn nicht jungfräulichen, so doch bis dahin nichtstädtisch genutzten Landes wird auf seine klimatische, geologische, verkehrs- und versorgungstechnische Eignung geprüft und, in Noto nach zehn Jahren eines aufreibenden Entscheidungsprozesses, für gut befunden. Aus dem Wirkungsviereck zwischen Gründermotiv, Stadtkonzept, Bewohnerwillen und Standortbeschaffenheit geht der Gründungsplan hervor. Kaum jemals aber kann der Stadtgrund, selbst bei hervorragender Lagequalität im allgemeinen, ohne kräftige Veränderung des vorgefundenen Geländeprofils überbaut werden. Spätestens seit den Neugründungen „hippodamischen Typs in Westkleinasien und auf Sizilien gehört die aggressiv einschneidende Transformation des Naturreliefs zu den Hauptarbeiten des kompromisslos zupackenden Städtebaus. Dramatischer noch als Knidos, Herakleia am Latmos, Assos und Aigai demonstriert Prime den Angriff des Machens auf die widerspenstige Natur; dem lebhaft bewegten felsigen Gelände ist das streng orthogonale Strassennetz ohne jedes Ausweichen abgerungen. Selbst dort, wo weder Felsriegel noch Bodenwellen zu durchstossen, noch hemmende Geländesenkungen aufzuschütten sind, greift der Bauende mit Fundamentgruben, Kanälen und Stadtgraben in den gewachsenen Grund; indem er aushebt oder ausbricht, ist er, per forza di levare, Tiefbauer und darin, als ein Wegnehmender, dem Bildhauer der Briefstelle Michelangelos verwandt, bevor er, per via di porre, die oberirdische Stadt aufführt. Tritt in den Aussenquartieren Catanias überall die von den Strassen durchschnittene Lava des Ätnaausbruchs von 1669 in abweisendem Graphitgrau zutage, so ist es in Noto der anstehende Kalktuff, dessen helles Honiggelb an den Sockeln der Gebäudefluchten, an Palasthofdurchgängen, Freitreppenwangen und Gasseneinschnitten allenthalben blossliegt. Die Präsenz des Felsgrundes ist mitprägendes Element des Stadtbildes. Wo immer Strassen, Treppen, Korridore in ihn einschneiden, sind die Erdgeschosse der anstossenden Hochbauten nicht gemauert, sondern, in Ein204 zelfällen bis auf das Niveau des ersten Stockwerks, aus dem örtlichen Gestein herausgebrochen. Was im Profanbau des italienischen Festlandes wohl nur, in grösserem Massstab, die Festungs- und Schlossarchitektur kennt, das Aushauen des Felsgrundes zum Sockel monumentaler Quaderbauten, hat hier die übergreifende und damit Stadtbild prägende Doppelgestalt des Artefakts in zwei werkstoffgleichen Gestehungsphasen: Die Basispartien sind in den Tuff eingeschnitten, die Geschosswände darüber aus dem gleichen, nun aber zu Quadern gebrochenen und zusammengefügten Material aufgemauert - materia prima, einmal in belassener, aber ausgehauener, dann, in losgelöster Gestalt, als Hausteinverband. Wo Sockelflächen der Wetterungunst ausgesetzt sind, da greift die Erosion die untersten Quaderzeilen und den abgeschroteten Felsen, dem sie aufruhen, in völlig gleichem Grade an. Die Grenze zwischen anstehendem und gebrochenem Naturstein verwischt sich oft bis zur Unkenntlichkeit. Die zwei Werkstufen des Artefakts werden wieder eins. Den hier kartierten, frei sichtbaren grösseren Felsanschnitten innerhalb des orthogonalen Rasters, steht daher eine mindestens ebenso grosse Anzahl von Sockelstellen gegenüber, deren Grenze zwischen dem ausgehauenen und dem gehauenen Kalktuff nicht mit Sicherheit oder, noch häufiger, als unter Verputz liegend überhaupt nicht abzulesen ist. Sie sind, mir zwei Ausnahmen, in die Kartierung auch dort nicht aufgenommen, wo die enge örtliche Nachbarschaft frei sichtbarer Anschnitte die Annahme unmittelbar nahe legt. Die durchschichtete Aussenfront Im Werk der führenden Architekten Notos bleibt die Trennzone zwischen Baukörper und Aussenraum, die Fassade, bis auf einige qualifizierte, aber seltene Grenzfälle ein zunächst durchaus festes, tektonisch dichtes Gebilde: zwar niemals starrer Panzer, wohl aber Schild des Gebäudes unter Dach gegen Gasse und Platz unter freiem Himmel. Die Mauer zwischen Innen und Aussen wird nicht als das Aufzubrechende, seines spezifischen Gewichts zu Beraubende aufgefasst. Es kommt weder zum antimuralen Lichtfilter in der Art des Flügels zwischen Cour d‘ honneur und parkseitigem Hufeisen des Schlosses von Lunéville noch zur dünn schaligen Schatulle des allein zählenden Innenraums in der Art der Wieskirche Dominikus Zimmermanns. Es gibt sowohl Transparenz als Perforation, aber nie als entmaterialisierend wandauflösendes Prinzip. Es sind vielmehr gerade Dichtegrad, Ponderation und murale Konsistenz, die im Kräftespiel der Gassenfront den Prozess, der nachstehend analysiert wird, erst ermöglichen: die Umwandlung des öffentlichen Freiraumes aus scharfgeschnittener, schluchtartig abweisender Volumetrie in ein von übergreifenden Impulsen reich durchwirktes, selbst aber stabiles, nie extrem durchbrochenes Gefäss dialogischer Vitalität. Der Mauerkörper wird nicht geschwächt. Er bleibt, wie Noto La Cattedrale immer schon im Barock, Stirnwand, Brustwehr des Gebäudes gegen den Luftraum; gleichzeitig aber wird der Träger seiner eigenen Aussenschicht, Kern und Splint zu seiner «Rinde», der Durchdringungszone zwischen Mauerkörper, Gasse und Platz. Was noch im Hochbarock Schrittmass zeremonieller maniera grande und Pathos deklamatorischer Portale war, verwandelt sich, in den Kompositionen ersten Ranges, in hochspiriruelle Ordnungen dichtverflochtener, untief gestaffelter, in die durchgearbeitete Fläche zurückgebundener Textur. Wir gehen aus von einer beschränkten Reihe einfacher Gliederungen, wie sie in jeder voll durchgebildeten Gassen- oder Platzwand der Hang- und Mittelzone zwischen Via Trigona und Via Aurispa zahlreich vorkommen, Objekt ist noch nicht der Kontext, sondern das Vokabular der geschichteten Fassade, die einzelne Formgruppe in ihrer Relation zum Wandgrund. Lisenen, Pilaster, Wandvorlagen, zurückgestaffelte Fassungen von Portalen und Fenstern sind dabei nicht, wie in der konventionellen Sehweise, als Instrumente der Vertikalgliederung, sondern als Bestandteile der Flächenrechnung gesehen und gewertet, als dreidimensional vor- oder zurücktretende, horizontal oder vertikal begrenzte, „stehengelassene“ Elemente ihrer intermittierenden - Flächenschicht. - In einer zweiten Näherung wird die einfache Staffelung als kategoriale Norm des Gesamtreliefs anhand ausgewählter Fronttypen des Sakral- und Profanbaus herausgearbeitet; sie ist zugleich Ausgangspunkt des Versuchs einer quantitativen Ordnung der Flächenkomposition nach Schichtzahlen, Aufschlüsselung der graduell zunehmenden Profilschärfe der Aussenfront in die Tiefe der Wand hinein. Schon hier ist klarzustellen, dass dem Versuch einer Differenzierung nach Verfeinerungsstufen keinerlei ParallelvorsteIlung eines zeitlichen Ablaufs zugrunde liegt. Einfache und hochentwickelte Formgruppen laufen in den entscheidenden Jahrzehnten zwischen 1725 und 1770 nebeneinander; auch hier muss die Architektursprache des mittleren Jahrhundertdrittels in Vokabular und Syntax als ein Ganzes genommen und befragt werden. Ins Blickfeld rückt zuletzt, aus grösserem Abstand, die Totalität des geschichteten Reliefs im Erscheinungsbild der Platzund Gassenwand. In Sicht kommt damit das unterscheidende Grundverhalten spätbarocker Baufluchten im Kontext der öffentlichen Freiräume, aus dem sich die „Kür“ der linear verschränkten Gliederungen und die disziplinierte Regie von Ausladung und Einschwingung erst eigentlich entwickelt. Formeln einfacher Schichtbildung Wo immer Frontöffnungen, Portale, Hauseingänge und Fenster durch gestaffelte Einfassungen aus dem Wandgrund vortreten, da bleibt die Schar paralleler, jedenfalls gegenständiger Rund- und Karniesstäbe, Kehl- oder Kantprofile klar auf die Maueröffnung bezogen: schattenwel{end plastische Konturierung, 206 dem Rahmen eines Tafelbildes unmittelbar verwandt und, mindestens aus naher Sehdistanz, als isolierende Begrenzung eines Frontteils der Öffnung, nicht der Wandfläche zugeordnet. Zu dieser Basisformel gehören, wiewohl schon zurückgestaffelt, auch die Wandöffnungen, deren Rahmung nicht mehr stetig, sondern in die zwei Ebenen des inneren Profils und einer nur geringfügig, noch nicht flächig ausladenden Rücklage differenziert ist; noch ist die isolierende Wirkung kräftiger als die ausladend überleitende (Abb 47). Bereits innerhalb dieser noch umschliessenden, noch nicht in die Wandfläche zurückprofilierten Reliefgruppe tritt ein «Topos» in die Motivsprache ein, der beredter als jeder andere die Lust an Frequenzsteigerung der Aussenelemente durch Fächerung untiefer Schichten ausdrückt. In die Frontflächen dichter Lisenen- und Pilasterstaffeln sind in Gestalt vertiefter Lineamente schlanke Fülllmotive mir gekurvten Schmalseiten eingehauen; diese sind von der je vorderen Schicht, hinter der die ihr nachfolgende durchzulaufen vorgibt, scheinbar überschnitten; durch einen oft virtuos, oft aber nur andeutend eingesetzten „graphischen“ Kunstgriff wird das Kompositionselement der Schar untiefer Schichten als scheinarchitektonische Überlappung vorgetragen. (Abb. 48.) Auf einer zweiten, illusionistischen Ebene vollzieht der Architekt, gleichsam sich selbst paraphrasierend, nochmals nach, worum es ihm kompositionell geht: Staffelung nicht allein als Staccato des Neben- und Nacheinander, sondern als Aufblätterung, vergleichbar einem geognostischen Diagramm. Wohl nur selten verschafft die Sprachgeschichte der Architektur nicht im Entwurf, sondern am Bau selbst Wahrnehmungen von ähnlich aufdeckender, wiewohl nie aufdringlicher Eloquenz. Nie geräuschvoll in Szene gesetzt und daher kaum jemals beobachtet, kommt die Formel ausserhalb Notos und Südostsiziliens nur ganz vereinzelt vor und auch dort, mit alleiniger Ausnahme eines Vorläufers in Catania, nicht vor dem zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts. Im Instrumentar der Netiner Bauten Gagliardis fehlt bis auf drei knapp wahrnehmbare Einzelfälle die Sinnestäuschung durch «hinterschobene» Füllmuster, nicht aber die nach Motivation und Wirkung genau übereinstimmende partielle Überlappung der je tieferen Rücklage durch die vordere Schicht (Abb. 49, 51) oder, so am Hauptportal von S. Maria dell`Arco, das «Unterlaufen» der tordierten Frontsäulen durch lebhaft profilierte Eintiefung der Sockel- und Pilasterstirnen im Rücken bei der Säulenschäfte. Unter Verzicht auf jenes graphische Vortäuschen erzielt der Architekt die gleiche, nun aber dreidimensionale, dem alliterierenden Vers der Poetik verwandte Verdichtung und Steigerung des zurückgestaffelten Reliefs. Sobald aber das Rahmenwerk des Portals oder Fensters den eindeutig umschliessenden und konturierenden Charakter verliert, verändert sich die Zuordnung. Die zurückliegende, wandnähere Ebene wird ambiva- Das Geländerelief im heutigen Kurvenplan 1 Pianazzo, † Lage von SS. Crocefisso 2 Steilhang; 3 Mittelstadt (Corso), + Lage der Chiesa Madre; 4 Unterstadt; 5 Lage Kapuzinerkloster; 6 Coffitella; 7 Asinaro. lent: einerseits noch immer Teil des «Bildrahmens», andererseits aber bereits Teil der Mauerflucht. Aus Umschliessung wird Wandvorlage. Ohne ihre kräftig plastische Silhouettierung im geringsten einzubüssen, laden Fenster und Portal mit ihrer letzten Unterlage breitflächig aus und werden eins mit der geschichteten Wand. Die Stadt ist überreich an Vilriationen dieser gleitenden Verwandlung. Wir begegnen ihr am schlichten Bürgerhaus und am Magnatenpalast, im profanen wie im klösterlichen und parochialen Bereich. Wo Hauseingang und Erdgeschossfenster mit der je achsengleichen Frontöffnung des Stockwerks darüber durch ein: oder doppelschichtige Wand vorlagen flächig verbunden sind, da alterniert die Fassade im stetigen Wechsel zwischen planem Wandgrund und risalitartig flach vortretender Portal- und Fensterachse. Für diese wiederum oft scharf artikulierten, oft nur leicht anspielend eingesetzten Varianten der Ambivalenz zwischen Vertikalgliederung und flächiger Staffelung sei im folgenden der Oberbegriff der gebundenen Achse verwendet (Abb. 50); als vertikales Übergreifen von Geschoss zu Geschoss innerhalb ein und derselben Travee gesehen, entspricht er der Formel des Enjambements von Strophe zu Strophe in der literarischen Prosodie. Bei unterscheidender Wahrnehmung des Verhältnisses zwischen den plastischen Elementen der Frontdisposition und ihrer Grundfläche vermehrt sich das, Vokabular der Überleitung vom Relief zurück zur Wand. Zwei architektursprachlich interessante, vom Prinzip der gebundenen Achse völlig unabhängige Leitformen der Ambivalenz seien herausgegriffen. An der Hauptfront der Casa dei Rifugio im Ostteil des vorderen Pianazzo und an der Nordfassade von S.Maria del`Arco teilt Gagliardi die stichbogige Bekrönung - dort der Obergeschossfenster, hier des Seitenportals - in drei Teilstücke, wobei die vortretenden Segmente, als Profilierungen des gebogenen Gesimses, fest eingeschriebener Bestandteil der Fenster- oder Portaleinfassung bleiben (Abb.47/3; 51/1). Wo aber die Gesimsstücke, immer bei Gagliardi, in Umbildung eines Motivs aus dem Repertoire Guarinis auf kurze, meist stark eingeschwungene Basen gesetzt sind, wodurch sie sich, extremer als bei Guarini, zu fächerförmig silhouettierten Ausladungen verselbständigen, da wechselt die Formel ihren Stellenwert. Die Segmente sind nicht mehr, Brechungen oder „Risalite“ des profilierten oberen Rahmenwerks, sondern überhöhen es, der Mauerkrone eines Stadtwappens vergleichbar. Es ist diese signetartig scharf geschnittene Folie der gefächerten Bekrönung, durch die das Motiv zum „Autogramm“ Gagliardis wird: zeichenhaft geprägte, in Noto nur bei ihm auftre-tende Leitform. Aufs neue wird aus Einfassung Wandvorlage: durch Gesimsstücke konturierte, der Frontfläche satt aufliegende Schicht (Abb. 51/4-6). In seiner ausgefeiltesten, bis ins letzte Profil durchdachten Fassade, der Corso-Front des Collegio, verleiht der Architekt dem Bedeutungswechsel einer einzigen 208 Vokabel durch Veränderung allein ihres Stellenwerts die formale Eleganz eines Lehrstücks. In den Traveen zwischen den drei Portalen sind die vortretenden Segmente der Fensterbekrönungen im Obergeschoss in die stichbogig geschlossene doppelschichtige Rahmung fest eingespannt (Abb. 51/3); am Erdgeschoss jedoch akzentuieren die drei Gesimsstücke der Oberlichteinfassungen die vor den Wandgrund geschobene, intermittierend ausgeschnittene Wandvorlage (Abb. 51/6). Um das frontgliedernde Gewicht der drei - allein am Erdgeschoss auf die Gasse ausladenden - Portale innerhalb der langgestreckten Front nicht zu verschleifen, sind die ebenerdige Öffnungen zwischen ihnen nicht mehr durch dichtgestaffeltes Rahmenwerk umschlossen, sondern binden über eine einzige blattartig flache Rücklage in die Wand ein. Auch hier ist das Detail nicht Dekor. Es ist vielmehr vollwertiges Element im gesamtkompositionellen Kalkül unter dem Decknamen eines Ornaments. Lässt sich der Schritt vom Relief zur Schicht am Wechselbezug zwischen Rahmenwerk und Mauergrund vornehmlich an der Frontbildung Gagliardis ablesen, so gehört die genau analoge Verwandlung der Fensterund Nischenkonsole zum Wortschatz des Netiner Spätbarocks weit über die Pilotbauten der Führungs gruppe hinaus. Die konvex oder plan ausladende, füllig skulpierte Breitkonsole, wie sie ganz allgemein den sakralen und profanen Aussenbau des 17. Jahrhunderts auf Sizilien und dem Festland kennzeichnet, verschwindet auch in Noto nie ganz aus dem Repertoire der Frontgliederung (Abb. 52/1), wird jedoch, spätestens seit 1730, zum Relikt jener älteren, formisolierenden, noch nicht formübergreifenden Relation zwischen Motiv und Wand. Wo aber Fenster und Nische nicht mehr auf starkschattenden Reliefkonsolen, sondern auf ein- oder mehrschichtigen, meist kurvilinear geschnittenen und nur noch schwach erhabenen Blenden aufruhen, da erfasst die Verwandlung, die wir an den Bekrönungen verfolgten, nun auch die Basiszone. Auch da schichtet sich das Rahmenwerk in die Wandfläche zurück (Abb. 52/2-6). Wiederum kommt es dabei nicht zur Verdrängung des älteren durch das jüngere Muster, sondern zu deren Mischung oder Miteinander. Wir begegnen dem Motiv, für das im folgenden das Kennwort Folienkonsole verwendet sei: vereinzelt auch ausserhalb der Stadt.In Noto allein verzweigt es sich zu breiter Variantenzahl. So spannt sich, am Ende einer kurzen Sackgasse auf der Kuppe des Agliastrello-Qartiers (Vico Scarrozza), die völlig schmucklose Blende unter den sechs Kragsteinen des Aussichtsbalkons an der Palazzina des Vico Rosmarino übel die ganze Breite der konkavkonvex geschweiften Südfront; an eingeschossigen Keinbürgerhäusern bildet sie sich zur oft einzigen, oft nur noch schwach ablesbaren Flächengliederung der Gassen- oder Platzfront zurück (Abb. 52/4, 5); in Gestalt des Lambrequin-Motivs greift die von der Fensterbank abfallende Blende, in brauenförmig geschwungener Führung Noto, Naturfelsanschnitte im Stadtinnern. Hof des ehemaligen Klosters S. Chiara, unterhalb der Klosterkirche. Unten: Pianazzo, Palazzo Impellizzeri di S. Giacomo, Sockel der Südfront und SE-Ecke. 209 (Abb. 53/1) oder wimpelartig, sowohl auf die Kämpfer- und Kapitälzone von Ecklisenen und -pilastern21 als auch auf Brüstungssockel von Palastterrassen über (Abb. 53/2-4).27 Die «Konsole» ist selbst als Fiktion nicht mehr tragend, sondern hängend, ein Überlappen, dessen Raffung die Stirnfläche des Pilasters oder Sockels teils verhüllt, teils freigibt gleich einem halbgeöffneren Vorhang. Die geschichtete Wand im Stadtraum Zu den Paradoxien der Grundkonzepte im Wertfeld der europäischen Architekturgeschichte gehört, dass in der Zahl der gemeingebräuchlichen Aspekte derje nige der Durchschichtung fehlt, obschon das Phänomen selbst spätestens seit der Hochromanik vor aller Augen steht. Tritt im altrömischen Sakral- und Profanbau die Staffelung der Wandfläche in mehrere frontparallele Stufen fast ausschliesslich an Innengliederungen, am äusseren Aufbau jedoch nur ganz vereinzelt hervor, so ist es die kirchliche Architektur sowohl des byzantinischen als auch des mittel und westeuropäischen 12. Jahrhunderts, in der die dreibis fünfstufig geschichtete Portal- und Chorfront annähernd gleichzeitig in England und im englisch beherrschten Aquitanien, im Osten Frankreichs, im Elsass und im Rheintal, „jenseits der Alpen in der Toskana und vollends im normannischen Sizilien erstmals zur „Pathosformel“ der Aussenerscheinung aufsteigt. In der Hoch- und Spätgotik verliert sie zugunsten der linear oder vollplastisch geprägten Stab- und Gitterfront den Vorrang, ohne jemals ganz zu verschwinden. In Florenz vor allem überlebt die Blendbogengliederung des Baptisteriums und von S.Miniato al Monte im ganzen 14. Jahrhundert, wird von Leon Battista Alberti in die Neugestaltung der Fassade von S. Maria Novella virtuos integriert und verwandelt sich, gleichzeitig mit der von Grund auf neuartigen Formulierung des Schichtprinzips an wand des Cortile dei Belvedere in ihrer ursprünglichen eingeschossigen Gestalt, der Hof- oder Aussenfront durch Wechsel zwischen Doppelpilastern und planen Rücksprüngen starkschattendes Relief verleiht, beschränkt er sich auf drei- oder vierstufige Staffelung (Abb.67); spätestens seit J. Ackerman steht fest, dass an den Hoffronten des Cortile della Pigna die fünffache Stufung des Erdgeschosses auf die spätmanieristische Amplifikation des Bramante- Wandsystems von 1504 durch Mascarino (1582) zurückgeht (Abb.68). Erst in der Wendezeit zwischen“ Hochklassik und Frühmanierismus tritt das Prinzip der Flächenschichtung durch eine in die Wandtiefe greifende Mehrzahl flacher Stufen führend hervor. An den römischen Palastbauten Raffaels und Giulio Romanos aus dem zweiten und dritten Jahrzehnt des Cinquecento lässt sich die zuerst unauffälige, dann immer entschiedenere Veränderung der Wandstruktur Zug um Zug ablesen. Mit der metall-, scharf geschnittenen Blendenfront von Giulio Romanos Mantuaner Wohnhaus (um 1544), mit der 210 Aussengliederung der Apsiden am Petersdom Michelangelos: (1546/1564)170 und, in später nie mehr erreichter Durchschichtungsfülle, mit den: Palast- und Kirchenprospekten Palladios in Vicenza und Venedig (1550-1580) überspannt das Thema das gesamte mittlere und spätere 16. Jahrhundert, durch-; wirkt im römischen und piemontesischen Frühund Hochbarock die Frontkomposition sowohl der Frühzeit Berninis als auch das Schaffen Borrominis und Guarino Guarinis und mündet, in völlig ungeschwächter Verwandlungsenergie, an Hauptwerken der Vittone, Raguzzini, Gregorini und Manieri ein in den Formenkanon des Spätbarocks. Erst auf der Hochstufe des Klassizismus kommt es zu der, proklamatorisch geschärften, sehr bald aber wieder aufgegebenen Lossage von der gestaffelten zugunsten der stahlplattenartig glatten Wand. Wir sahen, dass in den dreihundert Jahren zwischen der Begründung der Renaissance in Florenz und dem Ausgang des Spätbarocks eine kaum überschaubere Fülle reichdurchschichteter Aussenfronten respondierend Bezug nimmt auf den vorgefundenen oder, spätestens seit Rossellinos Domvorplatz in Pienza, mehrseitig mitgeschaffenen räumlichen Konnex. Mit einigen Ausnahmen sind es Einzelbauten in fester Relation mit einem fassbaren innerstädtischen oder peripheren Teilkomplex: Ein Bau profanen, monastischen oder öffentlich-kirchlichen Charakters tritt, in herausfordernd kontrastierendem oder diszipliniert eingliederndem Verhalten, in den gegebenen oder mitgeschaffenen Verband; selbst einer klar aussenräumlich gerichteten Sehweise erscheint der Dialog zwischen Kirche und Vorplatz, Palast und Gasse, Markthalle und Markt als der normale Fall. Was uns nicht, oder bestenfalls im Ansatz begegnete, das ist das nicht planmässig gesteuerte, sondern intermittierende Übergreifen eines eminent dialogischen Grundverhaltens“ der Auffassung der Front als eines durchschichteten Körpers, auf eine ganze Stadt. Wir nennen „dialogisch“ jedes kategoriale Verhalten, das die Aussenwand nicht als Brustwehr und Panzer des Baukörpers, sondern als durchlässige Hülle oder mehrschichtige „Rinde“ auffasst, durch die der Ball mit Platz und Gasse kommuniziert; wo Frontteile vorspringen, formen sie den Umraum; wo sie zurückweichen, dringt dieser in den Frontkörper ein. Das Phänomen ist allgegenwärtig. Jede simultan oder sukzessiv durchstrukturierte Stadtgestalt kennt eine Unzahl von Verschränkungen zwischen Baukörper und Aussenraum. In spätmittelalterlichen, manieristischen und spätbarocken Gassenfluchten greift die horizontal und vertikal durch den, bedarf es eines wahrnehmungskritischen Rückgriffs auf die Ausgangslage. Wir stellten fest, dass der über mindestens fünf Hauptepochen der Architekturgeschichte Europas greifenden Präsenz des Schichtprinzips das annähernd vollständige Fehlen der durch sie geforderten, auf sie eingestellten Optik gegenüber steht. Tatsächlich entspricht der traditionellen Wahr- Abb, 47 Einfach gesaffelte, noch nicht flächig ausladende Fenstereinfassung 1 Seminario degli Alunni (Collegio, Westhot), Fenster über dem inneren Hofportal. 2 Casa dei PP. Filippini, Hauptfronr Via Cavour, Obergeschoscschossfenster. 3 Casa dei Rifigioio, Via Trigona Obergeschossfenster. 4 Via Galiko Galiki, Ostflucht unterhalb S. Anronio Abate, Hauptfenster der Gassenfront eines Bürgerhauses; Rücklage rechts: Ühergang zur Staffelung 1 2 3 4 1 2 Abb. 48 Einfach gestaffelte Fensterter und Portaleinfassungen mit fiktiv hinterschobener Rücklage. 1 Eckhaus Via Ducezio Nordflucht/Via Arnoldo d. Brescia 2 Vi. Antonio Sofia, oberstes Privathaus gegenüber Freitreppe S. Maria del Gesu. 3 Piazza XVI Maggio, Nordseite E, Eckhaus zu Via Bovio, Südfront. 4 Via Fratelli Ragusa, Bürgerhaus am Nordostaufgang zu Via Trigon 3 4 211 nehmung sowohl des Bauwerks als eines Solitärs als auch seines Umraums als einer ihm zugeordneten, von ihm mitgeprägten räumlichen Einheit genau der frontale Aufriss, die vereinzelnde massstäbliche scenografia der Architekturtraktate. Die Aussenfront ist als stabile Ebene eines zweidimensionalen Teilungssystems gesehen; die dritte Dimension ist die Sache des ergänzenden Betrachterauges, nicht der Darstellung. Wahrnehmungssubjekt der Frontalansicht ist der „objektfixierte“ stehende Beschauer. Auch bei Einbeziehung des Umraums ist sein Sehfeld fest begrenzt. Anders Schrägperspektive, Vogelschau, Übereckenansicht, Axonometrie. Die Fronttiefe wird zur ebenbürtigen, bei starker Ausladung oder Einbuchtung klar führenden Dimension. Die Teilungsebene, meist Alleingegenstand oder doch Gerüst der konventionellen Frontanalyse, ist nun nicht mehr Projektion, sondern Stirnfläche einer perforierten, gestaffelten oder mehrschalig strukturierten Grenz- oder Hüllzone zwischen Baukörper und Aussenraum. Der Standort wird variabel. Erst über die diagonale Sehachse tritt das grössere Umfeld, der Platz, die Gassenflucht ins Blickfeld ein. An Stelle des Stativs tritt die «fahrende Kamera»: Apperzeption des Übergreifens, Gewahrwerden der Sukzession. Dem axial gegenüberstehenden Betrachter und seinem «Sprecher», dem Darsteller der Frontalansicht, erscheint der Bau als Bild; dem diagonal und ambulant Wahrnehmenden erscheint die Tie fendimension der Wande und gleichzeitig, durch ihre Sukzession, der Stadtraum. Dass sich die zwei Sehweisen nicht alternativ, sondern komplementär zueinander verhalten, bedarf keiner Begründung. Die erste, «normale», bleibt unangefochten in Kraft. Erst im Übergang zur zweiten, «axonometrischen» Optik kommt die Stadt als ein Kontinuum in Sicht. Im mehrdimensional geschärften Bewusstsein des alpenüberschreitenden, kontinentweit pendelnden Verkehrs der Typen und Motive nach Noto zurückkeh rend, stellen wir zunächst fest, dass die Stadt zweierlei nicbt ist: Erfinderwerkstatt für motivische oder bautechnische Innovation, Quellpunkt architektonischer Fernwirkungen, Von aussen hereingeführte Stränge werden aufgelöst und neu geknüpft. Was Noto leistet, heisst nicht genuine Findung, Urproduktion, sondern Zusammenführung, Verdichtung und Verfeinerung herangeführten Materials zu einer zuletzt von Grund auf individuellen, diszipliniert durchgearbeiteten, jedoch unstarren Figur. An diesen hoch komplizierten Werdeprozess kommt nur eindringende Aufschlüsselung der führenden Wertgruppen und ihres Instrumentars heran. Wo sich aus klar übernommenem Wortgut und bereits unverwechselbarem Vokabular eine Architektursprache völlig eigenen Gepräges bildet, da allein gewinnt auch der Stadtraum unterscheidbare Gestalt. Den Wertgruppen, denen wir in den Stadtkernen des Kontinents zwar hundertfach, jedoch ohne manifeste stadträumliche Verspannung begegnen, stellen wir die durchschichtete Aussenfront 212 als unplanmässig wiederkehrende, keiner Norm botmässige Grundfigur sakraler, monastischer und privater Baukörper in offener Verteilung über einen ganzen Stadtkern gegenüber. Soweit wir sehen, vereinigt sie sich in keiner andern sizilischen oder festlanditalienischen Stadt zu vergleichbarer Dichte, Variationsfülle und Permanenz. Die insgesamt 18 Kirchen, Ordenshäuser und Paläste, an deren Aussengestalt Flächenstaffelung nicht als Einzelmotiv unter anderen, sondern als Grundformel der Frontbildung zutage tritt, sind bereits mehrfach unter konvergierenden Aspekten aufgeführt worden. Sie sind daher nicht nochmals individuell, sondern gesamthaft auf ihren Stellenwert „im Stadtraum befragt und im Zusammenhang des Kernzonenplans verzeichnet. Vier Grundzüge des Gesamtverhaltens treten markant hervor. Es sind einmal die massive Konzentration des hier analysierten Fronttyps auf die Mittelstadt zwischen den Nordfluchten von Via Cavour und Via Aurispa einerseits, der Via Galilei und des Immacolata-Klosters andererseits; alsdann die völlig offene, keiner erkennbaren Regel folgende Orientierung, wobei die vorherrschende südliche der meerwärts gerichteten Hanglage der Stadt selbst entspricht; keine einzige Platz- und Gassenwand kennt lückenlos geschlossene Fluchten geschichteter Fassaden; selbst in den langen West-Osttransversalen gibt es zwar benachbarte, nie aber einander gegenüberstehende, dem Schichtungsprinzip unterworfene Gassenfronten. Bei manifester Verdichtung auf die Mittelstadt kommt es an keiner Strasse und aufkeinem Platz zu beidseitig einander antwortenden oder rechtwinklig gestellten Fluchten mehrerer flächenhaft durchstrukturierter Fronteinheiten. Das Ergebnis ist von primordialer Bedeutung. Gibt es in Noto öffentliche Freiräume von formal geschlossener, durch verbindlich auferlegte Muster verein heitlichter Durchgliederung? Nein. Die bindenden Kräfte wirken nicht auf der Regelebene ein. Sie gerinnen nicht zur Norm. So auch das Grundprinzip der maueraufschliessenden, nicht folienhaft vorgeblendeten, sondern in sie mehrstufig eindringenden Schichtung der Aussenwand. Das Prinzip versteinert nicht zum Ritual. In meist verhaltener Sprache teilt es sich, die häufigen Intervalle mühelos überspringend, den Platz- und Gassenwänden mit. Es gibt weder das Fortissimo römischer Halbsäulenparaden noch den starr filigranen Prunk zeremonieller Schauprospekte. In der Verspannung mehrerer autonomer Formsysteme kommt es da und dort bis zum Raffinement, nie aber zu Draperie, Kulisse, Maskerade. Die Raumgrenzen bleiben unangetastet. Nirgends entwickeln sie sich zum Blendwerk. Architektur bleibt Architektur. Am Schluss dieses Durchgangs steht die Wahrnehmung, dass mit dem Phänomen der unstetigen, intermittierenden Durchschichtung das Bauprinzip der Stadtanlage selbst, die aus dem Felsgrund gewonnene, aus ihm reichvariiert emporgeführte Staffelung der Abb. 49 Partielle Überlappung der Rücklage in der Eckpartie der Portaleinfassung 1 Cattedrale, Seitenportal E und W, 2 S. Maria del Carmelo, Seitenportal S (mit Gewändeprofilen). 1 2 Abb. 50 Die ‚Gebundene Achse‘ in der Frontbildung des spätbarocken Palastbaus. 1 Palazzo Accardo, Via Aurispa Nordflucht W, Ecke Vico Melfi. 2 Palazzo Villadorata, Hauptfront Via Nicolaci, unterste Achse (Sockelpartie unten rechts nicht ursprünglich). 3 Palazzo Battaglia, Fassade Via Cavour, Überleitung vom 1. zum 2. Obergeschoss 1 2 3 Abb.5I Die gefächerte Bekrönung am Aussenbau von Hauptwerken Gagliardis. 1 S. Maria dell‘Arco, Nordportal (Giebelaufsätze weggelassen), Vgl. Casa deI Rifugio, oben Abb.47/3. 2 S. Domenico, Hauptfront: Bekrönung der Nischen unterhalb des Kranzgesimses. 3 Collegia, Front am Corso und S. Carlo, Ostfassade Vestibül: Obergeschossfenster, vgl. hier 6, 4 S. Maria det Carmelo, Frontfenster über Hauptportal; vgl. Seitenportal S, oben Abb, 49/2. 5 Chiesa Madre (Cattedrale), Hochfenster der Längsfassaden W und E. 6 Collegia, Corsofront, Oberlichter der Erdgeschosseingänge zwischen den Portalen; S. Carlo; Ostfassade Vestibül, Erdgeschossfenster 1 2 3 4 5 6 213 vier Hauptstufen eindringt in den Innenraum des Stadtkerns. Die bewegte Front im Stadtraum Angesichts der Tatsache, dass die leitmotivische Verwendung konvexer, konkaver, konvexkonkaver, elliptischer Grund- und Aufrisselernente im europäischen Manierismus und im Barock bis in dessen Endstufe hundertfach variiertes Gemeingut bleibt, würden Hinweisreihen zu formlosem Ballast. So gibt es geschwungene und gekehlte Balkonplatten, Fensterbrüstungen und Supraporten auf dem ganzen italienischen Festland bis hinauf in die Alpentäler und, in Mitteleuropa, bis nach Schlesien und Polen. Zum gebauten Bestand treten die trotz schweren Verlusten immer noch überreichen Zeichnungs- und Stichsammlungen, eine kaum überschaubare Fülle teils kühn ausladender, teils nervös gebrochener oder phantasievoll gestufter Projekte, Studien, Schnitte durch die Phasenvielfalt der Entwurfsprozesse, Wir beschränken uns auf den durch Siracusa-Ortiga, Catania, Modica, Ragusa, Scicli, Noto abgesteckten südostsizilischen Horizont. Selbst bei summarischer Bestandesaufnahme zeigt sich, dass in Zahl und Variationsspielraum der kurvilinearen Portal-, Balkon- und Fensterprofile Regionalzentren wie Ragusa und Scicli Noto nahekommen, währed das spätbarocke Ortigia, Vaterstadt Gagliardis, in der Anzahl geschwungener Balkone und Portalaufsätze die Stadt seines Wirkens weit übertrifft. Ähnliches gilt für die ein- oder auswärts gekrümmten Kirchen oder Klosterfronten: den fünf Netiner Einzelbauten dieses Modus stehen deren acht in Catania gegenüber. Eingedenk jedes Vorbehalts gegen tabellarisches Aufrechnen, im Blick vielmehr auf die qualitative Nähe der Hauptwerke Vaccarinis in Catania und derjenigen Gagliardis in Noto, Modica, Ragusa, Caltagirone stellt „sich doch, innerhalb unserer Bezugsebene der fliessend oder kantig bewegten Aussenfronten, die Frage nach dem unterscheidenden Rang des Netiner Stadtkerns. Mit einziger Ausnahme der auf Sizilien wohl singulären doppelschalig konkaven Front von S. Carlo lässt sich die Frage von keinem isolierbaren Bauwerk, nur vom Ensemble her beantworten. Weder Syrakus noch Catania, noch Ragusa, Modica und Scicli kennen die numerisch kleine, aber gleichmässige Verbreitung der kurvilinear geführten oder akzentuierten Aussenfront auf Kirche, Kloster, Btuderschaftshaus, Magnatenpalast und Patrizierhaus durch bald unauffällige, bald spektakuläre Ausladung. In dieser qualitativen Ebenmässigkeit und Variantendichte der Leittypen bei geringen Quanten innerhalb der einzelnen Formreihe liegt eine der durch noch so zutreffende epitheta ornantia nicht einmal andeutbaren Ursachen der Wirkungsintensität von Notos Stadtkern. Lassen wir, für einmal die Grenzfalle der platz- und gassenseitigen Auskrag ung, die trapezförmigen Vorsprünge und die allein im Eisenwerk konvex bewegten 214 Aussenfronten ausser Betracht, dann konzentriert sich das hier verfolgte Phänomen im Stadtbild eindeutig auf die Hangzone und die Mittelstadt. In diesem Perimeter des dichtesten Auftretens dürfen die Mikroelemente einschliesslich der wenigen verschwundenen nicht von den grossbemessenen oder doch ins Auge springenden Vorkommnissen getrennt werden. Wer aus einem figurenreichen Relief nur die Protagonisten wahrnimmt, verfehlt dessen Aussage. Erst durch das Ineinandertreten der grossen und der lediglich quantitativ nachgeordneten, im kompositionellen Kalkül aber ebenbürtigen kleinen Ausladung entsteht das teppichartig satt geknüpfte Ensemble einer bewegten Gassenflucht. Jene anderen, flächigen, in den zwei vorausgehenden Abschnitten herausgearbeiteten Strukmrierungen des Aussenbaus, die Staffelung der Wand als Schichtungsfolge und die Verschränkung des Vertikalsystems, werden durch die Bewegung der Front nach vorn oder rückwärts weder abgelöst noch überspielt. Das Kleid wird nicht abgelegt, sondern bewegt sich mit. Die Fassade lädt um einen kleinen oder grossen Schritt nach, vorwärts aus oder tritt zurück; ihre Gliederung jedoch bleibt unverändert wie in einer choreographischen Einheit das Kostüm. Hat Ausladung, je nach Impulsstärke, mit dem Elektrisierenden der Pantomime oder mit dem Zündenden des oratorischen Gestus zu tun so sind die Auslegerwirkungen der konkaven, konvexen, konkavkonvexen Voraus- oder Zurückschwingung nicht Zwingen, sondern Spangen der Fronteinheit und zugleich, in der Horizontalen, Spangen zwischen Baukörper und Aussenraum. Mehrmals war dabei zu beobachten, dass die Ausfallschritte nach vorn oder seitwärts eine bestimmte Dimension niemals durchstossen; selbst die Kreissegmentvorhallen von S. Domenico und Palazzo Ducezio, Maxima des Ausladens im Stadtinnern, erreichen trotz ihrer Lage ausserhalb einer beidseitig bebauten Gasse nicht den vollen Halbkreis. Die fortissimi der Kathedralenfront von Syrakus, des unvollendeten Prospekts von S. Antonio in Buscemi und vollends von S. Nicola in Catania wären in Noto irritierende Dissonanz. Es ist die bis ins Alliterierende durchgliederte, nie aber drastisch überhängende Plastizität, die auch, in augenfälliger Analogie, die Dachlandschaft Notos auszeichnet. In diesem Sinne lässt sich das Flugbild der Stadt mit ihren zentralen Gassenfluchten in Parallele setzen: Aus der Vogelschau tritt das Stadtrelief mit den Hohlformen des Strassennetzes als ein den Fenster- und Geschossintervallen innerhalb einer Frontentwicklung unmittelbar Verwandtes prägnant hervor. So auch die nirgends breit überschatteten Dachzonen: Ihr ebenso formdichtes als ausgeglichenes Relief entspricht demjenigen der Paläste, Kirchen, Klöster, Patrizier- und Bürgerhäuser aus der Sicht des Besuchers, der die Gassen und Plätze ruhig durchschreitet. Spätestens an dieser Stelle tritt ins Bewusstsein, dass Schichtprinzip und vertikale Verschränkung als zwei Abb.52 Die Folienkonsole: Nebeneinander der traditionellen skulpierten Hochreliefkonsole und der einschichtigen Flachblende ohne bildhauerischen Zierat (3-7) Abb. 53 Die Lambrequin-Konsole und ihre Übertragung auf die Kapitäl- und Kämpferzone des spätbarocken Palastbaus Abb.66 Pienza, Piazza Axonometrische Einsicht in den Trapezplatz mit Domfront und Palazzo Piccolomini. Links: Schrägansicht von zwei Achsen der Domfassade; Schichtfolge in den vier Hauptebenen: Wandgrund (0), Portalgewände (a), Sockelfüllungen (b), Sockelstirnen (c); darunter Horizontalschnitt durch den Frontkörper, in halber Sockelhöhe, Gesims- und Portalprofile leicht vereinfacht, Papstwappen im Tondo des Tympanons weggelassen. Abb. 67 Rom, Belvederehof, Nordfront des Cortile dlla Pigna: Donaro Bramante, Wandsystem beidseits der axialen Exedra, Erdgeschoss, entworfen 1503 O Wandgrund; A-D vierstufige Staffelung; die (spätere) Quadrierung des Mauergrundes analog Westtrakt (Abb, 68) und das Obergeschoss (Aufstockung 1550-1555) weggelassen O Wandgrund; A-E fünfstufige Staffelung. Zur Quadrierung der Rücksprünge, s. 215 hochentwickelte Differenzierungen der Aussenwand dem Aufbau einer stabilen, jedoch nicht starr verschlossenen Bauherrengesellschaft aus Klerus, Nobilität, Patriziat und Bürgerschaft genau gegenüberstehen; wir nehmen teil an einer wechselseitigen Identifikation, durch die Ausladung, Schritt aus dem Frontgrund hinaus immer dort Anerkennung statt Majorisierung des Stadtraums bedeutet, wo das Schrittmass beschränkt, frei von Einschnürung und Sperre bleibt. Kennzeichnend dafür ist die - im Vergleich mit Stadtpalästen Mittelitaliens und ihrer Verklammerung von Baukörper und öffentlichem Stadtgrund durch Sitz bänke am Mauerfuss - verwandte, formal aber kontrastierende Verzahnung von Palast- und Kirchenfronten mit der Gasse in Gestalt jener botteghe, Rechteck-Ein buchtungen des Strassenvolumens in die profan oder sakral genutzte Bausubstanz. Nehmen Säulenportal oder Risalit ein Stück Strassenrand in Anspruch, so dringt der öffentliche Freiraum über kommerziell oder kleingewerblich geprägte „Marktnischen“ in die Erdgeschosse ein; wo vollends Risalite mit sackgassenartig gefangenen Verkaufsläden alternieren, entsteht aus Vorsprung und Eintiefung ein wellenförmiger Wechsel, in dem sich die belebte Gasse als ein Pulsierendes erfüllt. Aufs neue werden Platz und Strasse Orte dialogischer Interferenz zwischen Hohl und Voll, Anruf und Antwort, von klösterlicher oder herrschaftlicher Umschlossenheit inmitten nichthierarchischen werkoder festtäglichen Verkehrs: con ciosia che la citta non sia altro che una certa casa grande, e per lo contrario la casa una piccola citta. Im vollen Bewusstsein möglicher Überinterpretation oder blosser Metonymie sei doch, abschliessend, die freilich einzeln nicht nachprüfbare These wenigstens im Umriss vorgebracht, dass zwischen dem flächenhaften, langwelligen oder polygonalen Relief des Stadtraums durch die Modulation der Baufluchten einerseits, der Schichtung und dem Wechselverkehr der städtischen Sozietäten an dererseits Bezüge laufen, ähnlich jenen anderen zwischen Stufung der Baukörper und Terrassierung der Landschaft vor Anlage der Stadt. 216 Abb. 69 Die geschichtete Aussenfronr im Stadtraum. Übersichtsplan im Baubestand vom Septem-ber 1977. Nicht kartiert: Schichtung einzelner Prontteile ohne Dominantcharakter Abb.130 Noto: kurvilineare und trapezförmige ausladende Aussenfronten und Frontteile des 18. und 19. Jahrhunderts einschliesslich Balkonplatten und -geländer. Der Barock in Noto in: Sizilianischer Barock / Anthony Blunt; übers. von Erika Schindel, Frankfurt a. M.: Ariel 1972 Noto ist unter den sizilischen Barockstädten aus zwei Gründen einzigartig: durch die Regelmässigkeit seines Stadtplans und die Schönheit seines Baumaterials. Die alte Stadt, die 15 km weiter nördlich gelegen hatte, wurde 1693 vollständig zerstört, und nach längerem Hin und Her beschloss man, vor allem unter dem Einfluss des gelehrten Giovanni Battista Landolina, das Gemeinwesen an neuer Stelle wieder aufzubauen, wozu er mit Unterstützung dreier örtlicher Baumeister einen Gesamtplan entwarf. Die neue Stadt war durch drei Parallelstrassen festgelegt, die sich waagrecht an einem sanft ansteigenden Hang entlangzogen. Sie wurden rechtwinklig von einer Reihe schmälerer Strassen geschnitten. Als Zentrum städtischen Lebens waren drei Plätze eingeplant, deren jeder sich von der Hauptstrasse hügelauf zog und als Abschluss eine Kirche hatte. Diese Anordnung ergab einen Grundriss von grosser Übersichtlichkeit mit wirkungsvollen Blickfängen. Meist bestanden sie in einer Kirche oder einem Kloster, mit denen die Stadt in grosser Zahl ausgestattet wurde. Der Stein aus den unweit nördlich gelegenen Brüchen ist in der Textur ebenso fein wie der Catanias, jedoch von einem blassen Gelb, das in der Sonne einen unbeschreiblichen Goldschimmer annimmt. Er ist weich genug für feines Relief, kann aber auch ebensogut glatt verarbeitet werden, so dass die Schönheit des Materials rein zur Geltung kommt. Unter den zahlreichen Adelspalästen ist der bedeutendste der Palazzo Ducezio, das heutige Rathaus, zugeschrieben Vincenzo Sinatra. Sein Entwurf ist in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich. Er ist langgestreckt, niedrig und auf drei Seiten von einem Säulenportikus umschlossen, der an den Ecken kurvig eingezogen ist. Ein Portikus mit ähnlichen Kurvaturen, diesmal an einer Kirchenfassade, findet sich an der Kirche S. Paolo in Palazzolo Acreide, die vermutlich ebenfalls von Sinatra stammt. Besonders ins Auge fällt der Palazzo Villadorata durch seine Balkone, deren Konsolen mit Löwen, geflügelten Pferden, aus Akanthusstauden hervorquellenden Engeln und grotesken Halbfiguren geschmückt sind, wie man sie sonst nur aus gotischen Wasserspeiern kennt. Dieser Balkontyp ist an vielen Adelspalästen in Noto zu finden und überhaupt eine Spezialität des Südostens der Insel. Der längste Balkon dieser Art befindet sich in Palazzolo Acreide, und der merkwürdigste ist wohl an einem Adelspalast in Scicli zu sehen, wo verschiedene Köpfe offenbar karikierte Porträts sind und denselben grotesken Realismus zeigen wie die monströsen Figuren der Villa Palagonia in Bagheria. Beim Palazzo Villadorata liegt ein gewisser pikanter Reiz in dem Gegensatz zwischen diesen Balkonen und dem von klassizistischen Säulen gerahmten Hauptportal, über 218 dem sich ein Gurtgesims mit einem Fries aus fast klassisch empfundenen Greifen befindet. Die kirchliche Architektur Notos ist recht verschieden. Manche Kirchen, wie S. Francesco, haben den an der Ostküste im späten 17. Jahrhundert gängigen Dekor. Im besonderen Fall der Fensterbekrönung des Klosters S. Salvatore erscheinen Schmuckformen, die eher apulischen als sizilischen Vorbildern ähneln. Unter den kleineren Kirchen Notos gehört zu den eindrucksvollsten die Chiesa del Montevergine, die mit ihrer stark eingezogenen Mittelpartie den dramatischen Abschluss einer der erwähnten ansteigenden Kreuzungen bildet. Das Ungewöhnliche dieser Fassade liegt darin, dass in ihre Kurvatur nicht nur die Doppeltürme, sondern auch das Mittelschiff einbezo gen sind, eine Grundrisslösung, die sich auch in Fischer von Erlachs Dreifaltigkeitskirche in Salzburg findet. Vielleicht kannte sie der sizilische Baumeister aus einem Stich. Subtiler gestaltet ist der Belvedere des Klosters S. Salvatore, der auf dem kurvig bewegten Unterbau von drei konkaven Fassadenpartien ruht. Sämtliche Fenster sind mit einem ausladenden Fensterkorb versehen, was die gefängnishafte Klausur des Klosterlebens nach aussen betont. Die Kathedrale, einer der spätesten Kirchenbauten Notos, hat eine breite Fassade mit gebrochenem Giebel, der von acht freistehenden Säulen getragen und von zwei niedrigen Türmen flankiert ist. Die Säulenordnung des Giebelgeschosses wiederholt genau die der Mittelpartie des Untergeschosses, eine für Italien sehr ungewöhnliche Fassadenform, die ein französi sches Vorbild, nämlich Mansarts Entwurf von Notre Dame in Versailles, nachahmt . Es ist nicht überliefert, ob der unbekannte Baumeister Frankreich besucht hat oder ob er diese Kirche nur aus Stichen kannte. Doch in Rücksicht auf die engen Kontakte zwischen Sizilien und Frankreich nach der Mitte des 18. Jahrhunderts ist es nicht unmöglich, dass er dorthin gereist ist. Der Typ der doppeltürigen Fassade wurde in sizilischen Kirchen auf alle möglichen Arten variiert, aber keine davon kommt dem französischen Modell so nahe wie die Kathedrale von Noto. In S. Domenico in Palermo ist die untere Säulenordnung durch das gesamte Obergeschoss durchgeführt, so dass die Türme über einem durchgehenden Gesims stehen und den Mittelgiebel beherrschen. In der wundervollen Fassade der Chiesa Matrice in Palma di Montechiaro von Angelo Italia aus dem Jahre 1703 folgt der Entwurf dem Typ der Kathedrale von Noto, doch haben die Türme ein drittes Geschoss erhalten und enden in einer Zwiebelkuppel. In der Kathedrale von Caltanisetta ist diese Entwurfsidee aufgenommen, aber mit pedantischer Trockenheit durchgeführt, während sie in S. Flavia bel Bagheria mit neuem Leben erfüllt ist, dadurch, dass sie in die spielerische Eleganz des Louis Seize übersetzt und das Turmgeschoss zu einer kompakteren Form zusammengezogen ist. Die bemerkenswertesten Kirchen Notos gehören zu einer Gruppe, die sich mit dem Baumeisternamen Rosario Gagliardi verbindet. Er war Stadt- und Bezirksbaumeister von Noto, aber seine wichtigeren Bauten stehen in Ragusa und Modica. Die Fassade der Chiesa dei Collegio ist zwar noch stark beeinflusst von den Schmuckvorstellungen der vorhergehenden Ge neration, zeigt jedoch die kühne überecksteIlung von Säulen vor einer kurvig geführten Fassade, was eines der Hauptmerkmale seiner Bauweise ist. Das gleiche gilt für das Innere der Kirche S. Chiara, die ihm ebenfalls zugeschrieben wird, während die Chiesa dei Carmine, ein langgezogenes Oval mit reicher Gliederung durch korinthische Pilaster, das im Grundriss auf Vaccarinis S. Giuliano zurückgeht, stärker mit Gagliaris S. Giuseppe in Ragusa verwandt ist. Der Barock in Ragusa Die Baugeschichte von Ragusa nahm fast den gleichen Verlauf wie die von Modica, was nicht überrascht, da die beiden miteinander rivalisierenden Städte ähnlich gelegen waren, demselben Verwaltungsbezirk angehörten und nur wenige Kilometer voneinander entfernt waren. Für beide Städte war ihre steile Hanglage von entscheidender Bedeutung und hat die örtlichen Baumeister zu szenisch effektvollen Entwürfen veranlasst, die das Auffallendste an ihren Architek turschöpfungen sind. Beide Städte wurden beim Erdbeben von 1693 zerstört, und beide betrieben ihren Wiederaufbau in einem dem gleichzeitigen Wiederaufbau Catanias verwandten Stil. Die Kathedralen S. Giovanni in Ragusa, entworfen im Jahre 1694, und S. Pietro in Modica, vielleicht von den gleichen Baumeistern, illustrieren diese Formensprache. Sie zeigen durchgehende Pilaster mit einer wesentlich nüchterneren Rustizierung, als sie sonst im Osten Siziliens üblich ist, und viel einfachere Fensterformen. In beiden Fällen steht die Kirche auf einem Abhang, doch nutzte der Baumeister diese Lage in verschiedener Weise. S. Giovanni ist auf eine Terrasse gesetzt, die weit in den Platz vor der Kirche hineinspringt, während bei S. Pietro eine breite von Statuen flankierte Treppe vorgelegt ist, die eine Lieblingslösung dieses Gebiets darstellt. Erst in der nächsten Generation brachte die Architektur Ragusas und Modicas dank der schöpferischen Persönlichkeit des Rosario Gagliardi ihre besten Werke hervor. Über Gagliardis Werdegang ist wenig bekannt, doch hatte er eine dominierende Stellung im ganzen Bezirk, was aus der stolzen Signatur seiner Entwürfe für S. Giorgio hervorgeht. Sie lautet ingegniere della citta di Noto e sua Valle, d. h. nicht nur Baumeister der Stadt Noto, sondern des gesamten Val di Noto, also des südöstlichen der drei Bezirke, in die Sizilien eingeteilt war. Für S. Giorgio in der Unterstadt Ragusas, auch Ragusa Ibla benannt, liegt alles klar. Die Entwürfe sind nicht nur mit 1744 datiert, sondern auch mit dem Vermerk versehen, dass sie vom parocco Don Felice Gianpicciolo „gekauft“ wurden. Im Hinblick auf die Vorsichtsmassnahmen der Zeit bei einem solchen Unternehmen ist es interessant, festzustellen, dass die Pläne zur Begutachtung Michele Longari, dem Stadtbaumeister von Messina, und Giovanni de Amico, Baumeister des Patrimonio von ganz Sizilien vorgelegt worden waren. S. Giorgio in Ragusa ist die einzige Kirche, deren Entwurf nachweislich von Gagliardi stammt, aber auch die Fassade von S. Giorgo in Modica ist mit grosser Wahrscheinlichkeit sein Werk oder zumindest die Arbeit eines ihm sehr nahestehenden und begabten Nachfolgers. Bei beiden Kirchen ist die besondere Lage des Bauplatzes geschickt genutzt, um dem Ganzen eine repräsentative Treppenflucht vorzulegen. In Ragusa führt diese auf einen Platz hinunter, dessen Achse zur Kirche leicht abgeknickt ist, während die Treppe in Modica in zweihundertfünfzig Stufen auf die unten entlangführende Strasse zugeht. S. Giorgio in Ragusa ist die kleinere Kirche mit nur drei Achsen, S. Giorgio in Modica hat deren fünf. Aber in beiden Kirchen et der Turm über der Mittelpartie den künstlerischen Höhepunkt des Entwurfs. Die konvexen Mittelpartien zeigen bis hinauf zu den oberen Turmgeschossen durch freistehende Säulengruppen eine grosse Reichhaltigkeit des Dekors. In Ragusa sind die Säulen in Dreiergruppen angeordnet und in zur Fassade parallele, konvexe Ebenen gestellt, während in Modica je eine Säule allein vorkommt und je zwei gestaffelt vor dem stärker konvexen Mittelteil stehen. Der Turm in Ragusa folgt Gagliardis Entwurfszeichnung genau. In Modica sollen das oberste Geschoss und der Turmabschluss erst aus dem 19. Jahrhundert stammen. In beiden Kirchen ist versucht, die Wirkung der Fassade durch phantasievolle Ausgestaltung der Portale zu steigern. Das Mittelportal in Ragusa ist mit Fruchtgehängen geschmückt, die von einem gebrochenen Rahmen in auffallend eckiger Skulptierung umgeben sind. Er ist in der Mitte durch eine von Putten getragene Kartusche unterbrochen. Darüber befindet sich ein konventioneller, ziemlich schwerer Segmentgiebel, der lediglich durch zwei schwachreliefierte Kegel mit dem Portal verbunden ist. In Modica hat der Baumeister mit Rücksicht auf die Breite der Kirche die Zahl der Eingänge auf fünf vermehrt, und der Portaldekor ist noch wesentlich reicher. Bei den seitlichen Portalen herrscht eine ausgeprägte Zweiteilung der Dekoration. Die beiden Gewändestützen sind in kurvigem Verlauf zu einem geschwungenen Segmentgiebel emporgeführt. Zwischen diesem und der Portalöffnung liegt ein Schmuckfeld mit einem Dekor aus Putten, Rollwerk, Palmen und Sternen in Hochrelief. Einen noch phantasievolleren, fast wilden Dekor zeigt das doppelt so hohe Mittelportal. Die dynamisch bewegte Ornamentik zwischen dem völlig unverbundenen, gewellten Giebel und der Portalöffnung enthält in ih219 ren Wappen und Putten Formen, die man als Rokoko zu bezeichnen versucht ist. Die römischen Nachfolger Berninis und Borrominis hatten einen Portaltyp entwickelt, bei dem der Giebel von dem darunter befindlichen Portal weitgehend isoliert war - man denke etwa an die Fassade von S. Maria Maddalena in Rom, aber sie hatten diese Zweiteilung nie mit derselben Freiheit durchgeführt, wie sie S. Giorgio in Modica zeigt. Man könnte hier eher an süddeutsche oder sogar portugiesische Barockportale denken. S. Domenico in Noto und S. Giuseppe in Ragusa Ibla pflegten ebenfalls Gagliardi zugeschrieben zu werden, was aus stilistischen Gründen auch überzeugend ist. S. Giuseppe ist eine etwas kompaktere Version von S. Giorgio in Ragusa, und S. Domenico ist eine Art Vorspiel für S. Giuseppe. Keine der beiden Kirchen hat nur annähernd die gleichen dramatischen oder szenischen Qualitäten, aber in mancher Hinsicht sind sie im Entwurf von subtilerem Charakter. Auch hier wird die konvexe Mittelpartie betont, und zwar durch rechtwinklig vorspringende Säulen, aber sie sind anders verteilt. In S. Domenico, wo im Untergeschoss ziemlich schwere dorische Säulen und darüber ionische verwendet sind, bestehen die Vorsprünge aus je einer Säule. Eine Säule steht am Ausgangspunkt der Ausbuchtung und eine weitere wesentlich näher zur Fassadenmitte hin. In S. Giuseppe handelt es sich um korinthische Säulen und solche mit Kompositkapitellen. Gagliardi hat ihre grössere Leichtigkeit dadurch ausgeglichen, dass er ihr architektonisches Gewicht zusammengefasst und an den Ausgangspunkt der Fassadenrundung eine Gruppe von zwei Säulen und einem quadratischen Pfeiler gestellt hat. Der Effekt dieser Fassadenverkleidung ist nicht nur einmalig, sondern auch stark dramatisch. Bei bei den Kirchen sind die Seitenpartien der Fassade im Obergeschoss mit Voluten von ungewöhnlichem Erfindungsreichtum geschmückt, deren Gestaltung typisch für Gagliardi ist. Die Fassade von S. Domenico hat eine Giebelbekrönung nach römischer Tradition, während Gagliardi seinen Entwurf von S. Giuseppe durch einen sizilischen Glockenstuhl abschliesst, den er in die Gesamtfassade meisterhaft einbezogen hat. Gagliardis grösste Begabung lag in seinen Fassadenentwürfen, aber auch seine Innenräume zeugen von seinem Ideenreichtum. Das Mittelschiff von S. Giorgio in Modica war wahrscheinlich von einer früheren Kirche hinterblieben, aber für S. Giorgio in Ragusa geht aus Entwurfszeichnungen hervor, dass mit Ausnahme der Mittelkuppel, die erst im 19 . Jahrhundert hinzukam, die gesamte Kirche nach Gagliardis Entwürfen erbaut wurde. Ihre Mittelschiffarkaden sind von quadratischen Pfeilern getragen, deren korinthische Pilastervorlagen auf sdtwarzen Marmorsockein ruhen. Das Gesims hat reichprofilierte Verkröpfungen, einen plastisch durchgeformten Fries und ein Zierband mit Kugelmotiven unterhalb des Gesimses, wie wir sie schon einmal in den Trompen des 16. Jahrhunderts in 220 S. Francesco in Comiso beobachten konnten. Dieser Formenreichtum in Verbindung mit den doppelten Einsprüngen der Deckplatten über den Pilastern gibt dem Entwurf einen überraschenden Grad von Lebendigkeit und Dynamik, wenngleich er in seinen Grundelementen auf die nüchternen Mittelschiffsarka den der Kathedrale von Catania zurückgeht. Wie S. Giorgio hat S. Domenico in Noto als Grundriss ein lateinisches Kreuz, während S. Giuseppe in Ragusa und die Chiesa deI Carmine in Noto die Form eines gelängten Oktogons von edlen Proportionen besitzen und mit elegantem Rokokodekor auf weissen Feldern ausgestattet sind. Gagliardis Lösung des sizilischen Glockenstuhlproblems durch Umwandlung der Mittelpartie der Fassade in einen Turm: die sich schon in der Kathedrale von Syrakus vorbereitete - war offenbar ohne Parallele in Italien. Sie entspricht jedoch, wahrscheinlich mehr zufällig als durch direkte Beeinflussung, einem in Nordeuropa weitverbreiteten Typ, der beispielhaft in Balthasar Neumanns fränkischen Kirchenbauten und in Hawskmoors Londoner Kirchen vertreten ist. Dieses Muster wurde im Val di Noto in weiten Bereichen übernommen und findet sich vielfach abgewandelt in kleineren Städten. Die eleganteste Variante ist wohl S. Giovanni in der Oberstadt von Modica. Die Kirche steht wie S. Giorgio oberhalb einer grossen Treppe. Wenn das von örtlichen Historikern für die Fassade angegebene Datum 1839 stimmt, ist die Kirche ein bemerkenswertes Beispiel dafür, wie lange in manchen Teilen Siziliens ein ausgesprochener Stil des 18. Jahrhunderts, ohne an Lebendigkeit einzubüssen, fortlebte. Gagliardis meisterliche Anwendung kurviger Fassadenlösungen und seine phantasievollen Portalentwürfe fanden im Südosten weite Verbreitung. Ein besonders gelungenes Beispiel dafür ist S. Antonio in Buscemi. Wenn die Kirche auch unvollendet geblieben ist, hat sie doch in ihrem Untergeschoss die Lebendigkeit von Gagliardis Formensprache und besteht aus einem weissen Kalksteinmaterial, das an Syrakus erinnert. Die Neustadt von Ragusa, die im frühen 18. Jahrhundert rund um die Kathedrale angelegt wurde, enthält eine Anzahl schöner Adelspaläste von ziemlich ungewöhnlichen Formen. Sie sind fast alle langgestreckt und niedrig, vielleicht um künftigen Erdbeben besser standzuhalten, und haben nur zwei Geschosse. Ihre Mittelachse ist durch einen Balkon betont, unterhalb dessen ein Portal in den Garten führt. Die übrigen Teile der Fassade haben regelmässige Fensterdurch brüche mit abwechslungsreich geschwungenen Giebelbekrönungen und schmiedeeisernen Balkonen. Wiederum stellt sich die Analogie zu portugiesischen Adelspalästen, wie etwa in Braga, ein. Das alte Ragusa Ibla betrachtete die Neustadt offenbar als einen etwas vulgären Abkömmling und fuhr bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts fort, in seinem, eigenen, engbegrenzten Bezirk Palazzi im traditionel- len Stil zu bauen. In der Nähe des Eingangs zur Stadt befinden sich zwei Adelspaläste mit ähnlichen grotesken Figuren wie am Palazzo Villadorata in Noto. Am Ende des Hügels, auf dem die Altstadt liegt, oberhalb von S. Giorgio und S. Giuseppe, gibt es ausserdem in einer geisterhaft stillen Gegend eine Gruppe von Adelspalästen, die noch heute die klösterliche Atmosphäre der alten Stadt widerzuspiegeln scheinen. Sie sind nicht so repräsentativ wie die Palazzi in der Oberstadt, enthalten aber Einzelzüge von unerwartetem Reiz, einen barocken Balkon auf Konsolen, deren Skulptierung noch einfallsreicher ist als der Portal schmuck von S. Giorgio, oder ein Klubhaus in strengem Klassizismus. Am reizvollsten und wohl auch am spätesten entstanden ist ein kleiner Palazzo, der um einen runden Hof mit offener Treppe nach bekannter barocker Manier erbaut wurde, selbst jedoch klassizistisch mit den entsprechenden geraden Balustraden ist. 221 Noto Vedute von Paolo Labisi, um 1760 Noto Stadtplan, 1968 223 Bibliografie Reise-Tagebuch 1786 : (Italienische Reise) / Johann Wolfgang Goethe; hrsg. von Konrad Scheurmann und Jochen Golz. – Mainz : von Zabern, 1997 Das weinfarbene Meer / Leonardo Sciascia ; aus dem Italienischen von Sigrid Vagt – Berlin : Wagenbach, 1997 Sicily as metaphor : conversations / Leonardo Sciascia; pres. by Marcelle Padovani; transl. by James Marcus – Marlboro, Vermont : Marlboro Press, cop. 1994 Merian, Sizilien, 4/2004 – Hamburg : Jahreszeiten-Verlag, 2007 Sizilien: Insel zwischen Orient und Okzident/ Birgit Carnabuci. Mit Beiträgen von Christoph Höcker und Helga Lehmkuhl. – Köln: DuMont Buchverlag, 1992 Die Sirene : Erzählungen / Giuseppe Tomasi di Lampedusa; aus dem Ital. von Charlotte Birnbaum. – München : Piper, cop. 1961 Umfrage in Palermo / Danilo Dolci ; deutsche Uebersetzung von Hans von Hülsen. – Olten : Walter-Verlag, 1959 Das Magazin Nr. 39, 10 / 2000 – Zürich: Tamedia Palermo sehen und sterben / Roberto Alajmo; aus dem Italienischen von Karin Krieger – München: Carl Hanser Verlag, 2007 Romanisches Sizilien / Giovanella Cassata, Gabriella Costantino, Rodo Santoro. – Würzburg: Echter Verlag, 1988 Noto : Idealstadt und Stadtraum im sizilianischen 18. Jahrhundert / Paul Hofer; Einf. von Werner Oechslin. – Zürich: Institut für Geschichte und Theorie der Architektur, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich, 1996 Abbilungen und Pläne: Ferdinando Scianna - quelli di Bagheria : [mostra, Galleria Gottardo, Lugano, 02.05.-24.08.2002] / Galleria Gottardo ; [a cura di Alberto Bianda ... et al.] – Lugano : Fondazione Galleria Gottardo, 2002 Catalogo ragionato generale dei dipinti di Renato Guttuso / a cura di Enrico Crispolti – Segrate (Milano) : Mondadori, 1985 Cartografia generale della città di Palermo e antiche carte della Sicilia / di Rosario La Duca – Napoli : Edizioni scientifiche italiane, 1975 Spazio e società : rivista internazionale di architettura e urbanistica. no. 41-44 – Rimini : Maggioli Editore, 1988 Dopo il terremoto : Belice 1980 : Laboratorio di progettazione = After the earthquake / testo: Pierluigi Nicolin e.a. ; commenti: Vittorio Gregotti e.a. – Milano : Electa, 1983 Noto : Idealstadt und Stadtraum im sizilianischen 18. Jahrhundert / Paul Hofer; Einf. von Werner Oechslin. – Zürich: Institut für Geschichte und Theorie der Architektur, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich, 1996 Sizilianischer Barock / Anthony Blunt; übers. von Erika Schindel, Frankfurt a. M.: Ariel 1972 Bagheria : eine Kindheit auf Sizilien / Dacia Maraini ; aus dem Ital. von Sabina Kienlechner – München ; Zürich : Piper, 2002 Die Steinbrüche von Selinunt : die Cave di Cusa und die Cave di Barone / Deutsches Archäologisches Institut; von Anneliese Peschlow-Bindokat; mit einem Beitr. von Ulrich Friedrich Hein – Mainz am Rhein : von Zabern, 1990 L’ infanzia è un terremoto / Carola Susani. – Roma: Editori Laterza Bauwelt Heft 13. – Gütersloh : Bertelsmann Fachzeitschriften GmbH, 1988 Sizilien - Königin der Inseln : ein Reiseführer / (Text) von Eberhard Horst ; (Photographien) von Josef Rast. – Olten: Walter, 1964 Etna - il vulcano e l’uomo / scritti di S. Agati ... [et al.]; fotografie di Franco Barbagallo – Catania : Maimone, cop. 1993 Seminarwoche Frühlingssemester 2008 Professur Wolfgang Schett Departement Architektur, ETH Zürich Organisation: Gianluca De Pedrini und Isabel Gutzwiller Produktion Broschüre: Ralf Figi Druck: Druckzentrale ETH Hönggerberg © bei den Autoren Zürich, April 2008 Sizilien Seminarreise Frühlingssemester 2008 Professur Wolfgang Schett Departement Architektur Eidgenössische Technische Hochschule Zürich Inhaltsverzeichnis Palermo Bagheria 5 Monreale 49 Selinunte 55 Gibellina 63 Catania 79 Noto 85 Karten 91 Touristisches 95 41 Teilnehmende Adressen Michael Adamina Eugene Arvinte Jan Berni Rosanna Borsotti Daniel Deimel Nikolai Dunkel Guillermo Dürig Nuria Eugster Colin Ferguson Martina Fischer Patrice Gruner Christina Imfeld Patrick Meier Natascia Minder Madeleine Ohla Stefan Roos Anna Salvioni Martino Simoni Françoise Vannotti Diana Zenklusen Jean-Claude Campell Nadine Kahnt Iris Moor Stefanie Müller Hotel Palermo (27.04. bis 30.04.) Organisation Gianluca De Pedrini Isabel Gutzwiller Hotel Cortese Via Scarparelli n° 16 90134 Palermo Tel/ Fax 0039 091 331722 Hotel Catania (01.05. bis 03.05) Hotel I Vespri Via Montesano 5 95131 Catania Tel./ Fax.: 0039 095 310 036 Reise Hinfahrt: Samstag, 26.04.2008 Abfahrt Bahn: Abfahrt Bahn: Abfahrt Schiff: Sonntag 27.04.2008 Ankunft Schiff: Rückfahrt: Samstag 03.05.2008 Abfahrt Bahn: Sonntag 04.05.2008 Ankunft Bahn: Abfahrt Bahn: Abfahrt Bahn: Ankunft Bahn: ab Zürich HB, 12.45 am Treffpunkt Zürich HB 13.09 Uhr. Ankunft: Milano Cle. 16.42 Uhr Milano Cle. 17.00 Uhr. Ankunft: Genova PP 18.42 Uhr 22.00 Uhr, Treffpunkt 20.45 Uhr im Hafen beim Terminal Traghetti (Einkaufszentrum mit Fähren- büro Grandi Navi Veloci) Palermo 18.00 Uhr ab Catania, Treffpunkt 18.20 vor Bahnhof Catania Cle. 18:44 Uhr. Bologna Cle. 08.59 Uhr Bologna Cle. 10.16 Uhr. Ankunft: Milano Cle. 12.00 Uhr Milano Cle. 12.25 Uhr. Zürich HB 16.51 Uhr Programm Samstag 26. April ab Zürich HB, 12.45 am Treffpunkt Sonntag 27. April Schiffreise Filme über Sizilien Montag 28. April Palermo morgen Wohnsiedlung ZEN mit Prof. Andrea Sciascia nachmittag Stadtspaziergang mit Prof. Marco Nobile und Emanuela Garofalo Dienstag 29. April Palermo morgen Villen in Bagheria mit Dott. Domenica Sutera nachmittag Stadtspaziergang mit Prof. Stefano Piazza Mittwoch 30. April Selinunte, Gibellina ganzer Tag Ausflug mit Prof. Marcella Aprile Donnerstag 1. Mai Catania morgen Busfahrt nach Catania nachmittag Catania Freitag 2. Mai Noto ganzer Tag Ausflug mit Dott. Mercedes Bares Samstag 3. Mai Catania ganzer Tag frei abends ab Catania, Treffpunkt 18.20 vor Bahnhof Sonntag 4. Mai an Zürich HB 16.51 Uhr Palermo Normannenpalast (Palazzo Reale) (zweite Hälfte 11. Jh.) Den ältesten dokumentierten Siedlungskern hier bilden die Überreste eines Festungshaus mit einem Tor aus dem 6. bis 5. Jahrhundert v. Chr. Unter den Römern und Arabern wurde die Festung erweitert und verstärkt. In der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts liessen Robert Guiscard und Roger I. die alte arabische Festung umbauen und weiter befestigen: Diese gut gesicherte Burg wurde ihre Residenz. Bereits die Araber hatten das befestigte Gebäude als Verwaltungssitz genutzt (831-1072) und dabei ältere byzantinisch und punisch-römische Bauteile verwendet. Zeitgenössischen Textquellen zufolge, darunter al Idrisis Buch Rogers von 1154 und den Schriften Romualds von Salerno, liess Robert Guiscard zur Stadt hin den so genannten Roten Turm (Torre Rossa) errichten. Roger II. liess später die Festung als Königspalast ausschmücken und ausbauen: Hinzu kamen die Cappella Paltina, diverse neue Räume sowie drei Türme, nämlich im Süden die Torre Greca, im Norden die Torre Pisana mit der befestigten Schatzkammer und gleich daneben die Torre Gioaria. Wilhelm I. setzte das Werk seines Vaters fort und liess als weiteren Turm die möglicherweise erst von seinem Sohn Wilhelm II. vollendete Torre Chirimbi errichten. Die Mosaiken des „König-Roger Saals“ (Stanza di Regero) stammen erst aus der Zeit der Regierung Wilhelms I. und Wilhelms II. Nach dem Tod des Stauferkaisers Friedrich II. (1250) war das Königsschloss nur noch Militärgarnison, während der Hof als solcher zur Zeit der Vizekönige in den Palast der Familie Chianmontc an der Piazza Marina umzog. Palermo Der Bau selbst ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nachhaltig umgebaut und erweitert. Von den mit Bestimmtheit aus der Normannenzeit stammenden Teilen des Palasts sind heute noch erkennbar: die Cappella Palatina mit Krypta, das Gebäude mit den Kerkern für politische Gegner innerhalb der Befestigungen im Südteil des Palasts sowie die nebeneinander am Nordrand des Komplexes stehenden Toren und ist mit einem Kreuzgewölbe überdeckt, die Wanddekoration zeigen überwiegend Elemente, wie sie für profane normannische Gebäude typisch sind. Oberhalb des hohen Marmorsockels erstrecken sich kostbare Mosaiken aus der Herrschaftszeit Wilhelms I. (um 1170) über Wände, Lünetten, Leibungen und Gewölbe. In den grossen Lünetten stehen sich Leoparden, Löwen, Hirsche, Pfauen, Kentauren und Bogenschützen zwischen Obstbäumen und Palmen symmetrisch gegenüber. Blattvoluten aus Zweigen mit Blättern und Blüten bilden die verschlungene Dekoration des Gewölbes, unterbrochen von geometrische Bändern an den Schnittpunkten und Medaillons mit Löwen und Greifen. Eine dominante Rolle in der Komposition spielt der im Mittelpunkt des Gewölbes in einem Oktogon abgebildete staufische Gioaria und Torre Pisana. Nicht erhalten sind die so genannte Torre Rossa, die Torre Greca (von der heute eine spätere Renaissance-Rekonstruktion zu sehen ist) sowie die 1571 zerstörte Torre Chirimbi. Im Inneren des Palasts gab es noch den „Tiraz“, eine bereits von den Arabern gegründete Seidenmanufaktur, in der auch der Mantel König Rogers so meisterhaft angefertigt wurde. 5 Normannenpalast (Palazzo Reale) (zweite Hälfte 11. Jh.) Die Hauptfassade zeigt nach Süden hin eine lang gestreckte. regelmässig gegliederte Gebäudeeinheit mit zwei Portalen, die 1616 vom Vizekönig Giovanni Fernandes Paceco. dem Marchese di Vigliena, errichtet wurde. 1791 wurde auf der Spitze; der Torre Pisana die von Giuseppe Piazzi gegründete Sternwarte der Universität installiert. Durch die Sala del Vicere und die Sala della Preghiera gelangt man zur Sala dei Venti und zur Stanza di Ruggero in der Torre Gioaria. Bei der Sala dei Venti oder delle Quattro Colonne wurde die Decke vollständig verändert. Das heutige hölzerne Zeltdach mit bemalter Unterseite stammt von 1713. Östlich an die Sala dei Venti i angrenzend befindet sich der so genannte König-Roger-Saal (Stanza di Ruggero): Der kleine rechteckige Raum ist an den Schmalseiten mit Nischen versehen In der Torre Gioaria liegt unterhalb der Sale dei Venti die Sala degli Armigeri. Der (für Besucher geschlossene) Hauptsaal im Obergeschoss der Torre Pisana wird heute für Empfänge des Präsidenten des sizilianischen Parlament genutzt. Der quadratische Raum mit Kreuzgewölbe liegt in der Mitte des Turms; ein teilweise mit Spitztonnengewölbe versehener Gang bildet die Verbindung zu einem zur Frontseite zeigenden Fenster in der Aussenmauer. Reste der ursprünglichen Mosaiken, nach Meinung einiger Fachleute mit Jagdszenen, bestätigen, dass auch dieser Raum kostbar. ausgeschmückt war. Im Stockwerk darunter liegt die (für Besucher geschlossene) Sala del Conio e del Tesoro, in der noch heute in jeder der vier Ecken ein in den Fussboden eingelassenen grosser 6 Krug zu sehen ist. Die nach dem Übergang des Gebäudes vom Kronvermögen in Staatsbesitz und später das Eigentum der Region Sizilien ab 1921/22 durchgeführten Restaurierungsarbeiten dauern bis heute an. Capella Palatina (ab 1131, geweiht 1143) Geschichte In jenem Jahr, in dem Roger H. zum König von Sizilien gekrönt wurde - es war das Jahr 1130 -, veranlasste er a auch den Bau der Königskapelle, der Cappella Palatina. Sie war ursprünglich als privates Bethaus des königlichen Palastes geplant und sollte nach Ansicht einiger Experten die der heiligen Maria von Jerusalem geweihte Kapelle ersetzen, welche ehemals im Palast Robert Guiscards stand. Patron der neuen Kapelle wurde der Apostel Petrus. Die Gründungsurkunde ist abhanden gekommen. Ein Dokument mit dem Datum vom 28. April 1140 bezieht sich auf die Weihe der Cappella Palatina, die übrigens bereits im Jahre 1132 Gemeindekirche geworden war. Was die Mosaiken der Kapelle anbelangt, so nimmt man an, dass der Zyklus im Altarraum im Jahre 1143 abgeschlossen gewesen sein muss, denn aus diesem Jahr stammt die griechische Inschrift an der Basis der Kuppel. Die Mosaiken des Langhauses sind später entstanden. Romualdo Salernitano (von Salerno) schreibt sie der Zeit Wilhelms 1., des Schlechten, zu. In dieser Zeit wurde auch die Decke fertiggestellt. In der Einweihungspredigt des Theophanes Cerameus - sie wird in die Zeit zwischen 1143 und 1149 datiert - heisst es, die Mauern der Kapelle seien »mit seidenen Tüchern geschmückt«; demnach waren die Wände zu jener Zeit also noch nicht mit Mosaiken verkleidet. Bei der Vollendung der Mosaiken wich Wilhelm von der Idee sei. seines Vaters ab, eine vollkommene Symbiose zwischen der »architektonischen. Konzeption und der Schönheit der Formen zu Palermo erlangen. Die für die Dekoration der Langhauswände eingestellten Mosaizisten_ waren mit Sicherheit abendländischer Herkunft, was sichtlich den Charakter und das Gesamtbild des Werkes veränderte. Man kann jedoch festhalten, dass sowohl der Bau der Palatina als auch dessen Ausschmückung mit Mosaiken in die Herrschaftszeit der Normannen fiel. In der Mitte des 14. Jhs wurden Unter Ludwig von Aragon sämtliche Mosaiken erneuert. Damals entstand auch die Darstellung des thronenden Christus mit den Heiligen Pe trus und Paulus. Zahlreiche Restaurierungen wurden im Laufe des 15. Jhs durchgeführt. Zwischen 1460 und 1468, unter der Herrschaft Johannes‘ von Aragon, ist unter vielen anderen die Arbeit Domenico Garginis an den Mosaiken im linken Seitenschiff erwähnenswert. Im Jahre 1478 begann die Renovierung der Decke über dem Hauptschiff. Zwischen 1482 und 1499 folgte die Ausbesserung der Decken über den beiden Seitenschiffen. Anfang des 16. Jhs (1506) wurde die äussere Galerie angefügt und mit Mosaiken geschmückt. Um die Mitte des 18. Jhs nahm Mattia Moretti, Leiter der Restauratorenschule, die Karl III., König von Sizilien, 1733 in Palermo gegründet hatte, Arbeiten im Innern der Kapelle auf, wobei er versuchte, bei den Ausbesserungen den ursprünglichen Stil nachzuempfinden. Im Gegensatz dazu adaptierte Santi Cardini di Arezzo, der ihm als Leiter der Schule nachfolgte und die Restaurierungen weiterführte, Stil, Gewänder und Formen seiner Zeit. Die Arbeiten dieser Mosaizisten wurde zunächst von Pietro 7 Capella Palatina (ab 1131, geweiht 1143) Casamassima und schliesslich, zur Zeit Ferdinands II., von Rosario Riolo fortgesetzt. Seit 1936 wurden die Bausubstanz und der Mosaikschmuck der Palatina erneut mehrfach restauriert. Die Mosaiken wurden gereinigt, die am meisten gefährdeten wurden abgelöst und neu angebracht. Nach all diesen Instandsetzungen und Überarbeitungen ent spricht die Cappella Palatina - abgesehen von der Baustruktur und einem Teil der Mosaiken - heute sicherlich nicht mehr ihrem ursprünglichen Erscheinungsbild des 12. Jhs. Trotz aller Erneuerungen hat sich jedoch die Harmonie des Gesamtwerkes bis zum heutigen Tag bewahrt. Besichtigung Im Gegensatz zu früheren Zeiten, als das Bauwerk frei im Hof des Königspalastes stand, ist ein Rundgang um die Cappella Palatina heute nicht mehr möglich, da sie fast ganz hinter späteren Gebäuden verborgen liegt, die sie zum Teil in ihre eigene Konstruktion einverleibt haben. Die Kapelle bildet gleichsam das Zentrum der königlichen Palastanlage, des heutigen Palazzo dei Normanni, der als Sitz des sizilianischen Parlaments dient. Einst wirkte sie durch ihre kubi schen Bauformen und den plastischen Wandschmuck aus hohen, in die Seitenmauern des Altarraumes eingelassenen Bogenstellungen. Diese Elemente verliehen ihr zusammen mit der Kuppel und dem Glockenturm einen besonderen Reiz. Die äussere Struktur ist jedoch, wie gesagt, heutzutage durch die Gebäude des Palastes verdeckt. Vom Erdgeschoss aus gelangt man über eine Treppe zum ers8 ten Stockwerk, in dem sich links in der Galerie der Eingang zur Kapelle befindet. Vorgelagert ist ein schmaler Portikus, dessen sechs stark gedrückte Spitzbögen auf sieben Säulen mit hohen Basen stehen. Sechs der Säulen sind aus ägyptischem Granit, eine ist aus Marmor. Bis auf ein Kapitell im maurischen Stil sind die Kapitelle korinthisch. Durch die fünfte Arkade, die breiter ist als die übrigen, gelangt man zum Seiteneingang der Kapelle. Der Portikus liegt zwischen zwei vorgeschobenen Baukörpern, genauer gesagt zwischen der Aussenmauer des rechten Querhausarmes der Kapelle und dem Unterbau eines Glockenturmes. Innerhalb des Portikus befinden sich an den Unteren Mauerpartien Marmorplatten, die von Mosaikbändern mit geometrischen Motiven eingefasst sind. In den oberen Wandpartien folgen auf die gemauerten, die Fenster umrahmenden Voluten Mo saiken aus den ersten Jahren des 19 . Jhs, die die Geschichte Davids erzählen. Sie haben das aus dem 16. Jh stammende Werk des Mosaizisten Pietro Oddo ersetzt, das nur in einem ganz kleinen Ausschnitt an einer der Bogenlaibungen erhalten blieb. Das Thema dieser früheren Mosaiken ist uns nicht mehr bekannt. Die heutige Abfolge der Bilder aus der Geschichte Davids wird unterbrochen durch ein grosses Bildwerk, in dessen Mitte ein alter gekrönter Mann - Symbol Palermos - dargestellt ist. In der Hand hält er zwei kleine Medaillons mit den Porträts Ferdinands von Bourbon und Marie-Carolines, des damaligen Herrscherpaares von Sizilien. Auf der Rückwand ist links in einem Werk von Casamassima Roger II. dargestellt. Die Inschrift besagt: »Rogerius rex tradit Simoni Palatinae cappellae cantori institutionis chirographum anno MCLX« (König Roger übergibt Simon, dem Vorsänger der Cappella Palatina, die Gründungsurkunde im Jahr 1140). Das darunter in die Wand eingelassene Hochrelief mit vollplastischen Figuren erinnert an die 1800 gefeierte Taufe des damaligen Erbprinzen Francesco. An der gegenüberliegenden Wand, der Aussenwand des Querhauses, ist die Stadt Palermo abgebildet, darunter wiederum ein Hochrelief mit Figuren zum Andenken an die Hochzeit Marie-Christines mit CharlesFelix von Savoyen zu Beginn des 19. Jhs. Man wird in der Tat daran erinnert, dass die Königskapelle im Laufe so vieler Jhe Zeuge vieler religiöser Feierlichkeiten der verschiedenen Herrscherhäuser war, die Sizilien regierten. Bevor man zum Portikus gelangt, sieht man an der linken Mauer in der Loggia eine Marmorplatte mit dreisprachiger Inschrift, die an eine Wasseruhr erinnert. Jene Uhr hatte Roger II. erbauen lassen; sie war einst im Glockenturm untergebracht. Der Eingang der Kapelle liegt gegenüber der grössten Arkade des Portikus und stammt aus dem späten 19 . Jh. Die Tür wurde von dem Bildhauer Rosario Bagnasco nach einer Zeichnung von Patricolo ausgeführt. Es ist eine Holztür, deren beide Flügel in einzelne Felder mit floralen Motiven unterteilt sind. Nur die beiden mittleren Tafeln sind als Hochrelief gearbeitet und stellen bildliche Szenen, die Berufung des heiligen Petrus und die Übergabe der Schlüssel, dar. Vor der Hauptfassade der Kapelle liegt ein Vestibül, durch das man früher direkt in die königlichen Gemächer gelangte. Von diesem Vestibül aus betritt man links die Sakristei, in der unter anderem das »Tabularium« (das Archiv) aufbewahrt wird. Es umfasst bedeutende Urkunden, die wertvolle Hinweise auf die verschiedenen Bauabschnitte der Kapelle und auf die Entstehung ihrer Ausschmückung liefern. Rechts erhält man durch zwei Bronzetüren Zutritt in die Palastkapelle. Die Kirche beeindruckt durch ihre ausgewogenen Proportionen. Es ist eine dreischiffige Basilika, deren von einer Kuppel überwölbter Altarraum höher liegt als die übrigen Teile des Gebäudes. Die Baustruktur stellt eine Verbindung aus dem langgestreckten Grundriss des lateinischen Kreuzes, hier vertreten durch das dreischiffige Langhaus, und dem typischen Zentralbau der byzantinischen Kirchen dar, den wir in dem von der Kuppel überwölbten Altarraum wiederfinden. Weder der Altarraum mit seinen drei Apsiden noch das Querhaus ragen über den rechteckigen Grundriss der Kirche hinaus. Hinzu kommt als islamisches Element die prächtige, skulptierte und bemalte Stalaktitendecke aus Holz. An der Westmauer der Kapelle steht links des Eingangs, fünf Stufen über dem Bodenniveau erhöht, der grosse Königsthron, dessen Wangen reich mit Mosaiken verziert sind. Die als Rückenlehne des ‚Thrones dienende Wand besteht aus einem Quadrat, das von einem Dreieck aus Marmor mit verschiedenen geometrischen Einlegearbeiten überfangen ist und in der Mitte das Wappen von Aragon trägt. An den Seiten sind zwei Löwen in weissen Marmormedaillons einge lassen, umgeben von Mosaiken mit floralen Motiven und Vögeln. Im oberen Wandteil ist ein thronender Christus dargestellt. Zu seinen Seiten stehen die Apostel Petrus und Paulus; über ihnen sind die Büsten der Erzengel Michael und Gabriel dargestellt. Die Schäfte der beiden Weihwasserbecken rechts und links der ‚Thronwangen sind aus Porphyr. Sie tragen vielfarbig verzierte Schalen. Schaft und Schale stehen jeweils auf einem Marmorsockel aus vier kauernden Löwen. Das Langhaus der Kapelle besteht aus einem grösseren Mittelschiff und zwei kleineren Seitenschiffen. Daran schliesst sich der Altarraum an, der genauso breit ist wie das Mittelschiff, jedoch fünf Stufen höher liegt. Hinter der letzten Stufe verläuft eine Schranke aus durchbrochenem Marmor mit geometrischen Motiven; in der Mitte befindet sich ein kleines Messinggitter. Zu beiden Seiten des Chores sind hinter dem neuzeitlichen Chorgestühl breite, mit Mosai ken verzierte Marmorplatten angebracht. Der Chor wird begrenzt durch zwei Bögen, die auf Säulen aus ägyptischem Granit ruhen. Daneben stehen zwei weitere Säulen aus Zwiebelmarmor, die den Triumphbogen tragen. Rechts und links des Altarraumes schliessen sich auf gleicher Höhe zwei rechteckige, tonnengewölbte Räume an, auf die sich jeweils eine Apsis öffnet. In der rechten Apsis steht der dem Apostel Petrus geweihte Altar, in der linken Apsis der Altar des Heiligen Sakramentes. Beide Altäre stammen aus dem frühen 19. Jh. Am Ende der Seitenschiffe führen zwei Treppen zur Krypta unter dem Altarraum hinab. Die Seitenschiffe sind vom Mittelschiff auf jeder Seite durch fünf Säulen aus ägyptischem Granit getrennt, zwischen denen Säulen aus Zwiebelmarmor stehen, die bis auf ihre mittlere Höhe kanneliert sind. Sie tragen vergoldete korinthische Kapitelle oder Kompositkapitelle. Das Langhaus wird durch fünf Fenster in jeder Seitenschiffwand und durch ebenso viele oberhalb der Arkaden erhellt. Das Fussbodenmosaik setzt sich aus kleinen Hartsteinen Zusammen: aus Porphyr, gelbem und grünem Serpentin und Granit, die so gelegt sind, dass sich eine Vielfalt sehr schöner Motive ergibt. Dieses Dekor ist auch deshalb besonders wirkungsvoll, weil die unterschiedlichen Farben hervorragend mit dem Gold harmonieren. Der Boden »gleicht einer Frühlingswiese; während jedoch die Blumen welken und sich verändern, ist diese Wiese unzerstörbar und ewig, hier können nur unsterbliche Blumen wachsen« (aus der Predigt des Theophanes Cerameus, des Erzbischofs von Taormina, zur Weihe der Kapelle). Die geschnitzte und bemalte Stalaktitendecke ist ein seltenes und prächtiges Zeugnis für die Kunstfertigkeit der maghrebinischen Kunstschnitzer und der persischen Dekorateure. Die Flachdecke über dem Mittelschiff ruht auf einem mächtigen, nischenverzierten Fries. Das Holz dieses Frieses ist mit einer Leinwand bedeckt, auf die die arabischen Dekorateure in Temperafarben gemalt haben. Die Tafeln der mittleren Zone tragen arabische Inschriften aus kufischen Schriftzeichen. Die Decke des Mittelschiffes unterscheidet sich in ei nigen Dingen von den Decken der Seitenschiffe. Diese stützen sich auf zu den Seitenmauern hin geneigte Balken mit Nischen und Hohlräumen, in denen Tiere, Menschen oder Pflanzen abgebildet sind. Die Motive ähneln denen an der Decke des Mittelschiffes, die jedoch wesentlich stärker ausgestaltet ist. Sie ist flach und weist an den Rändern Waben und zahlreiche Nischen und Hohlräume auf. Im Mittelbereich befinden sich sternförmig ausgebildete, achteckige Kassetten, deren Ränder Inschriften aus kufischen Schriftzeichen tragen. Dieses Gesamtwerk aus konkaven und konvexen Zonen, die mit vielfältigen Motiven bemalt und zum Teil vergoldet und mit Einlegearbeiten ver sehen sind, machen die Decke der Palatina trotz der im Lauf der Jhe durchgeführten Erneuerungen zu einem wertvollen Zeugnis für die Arbeit der Maghrebiner. Bemerkenswert ist, dass Roger. II. in der Gestaltung dieser Decke eine Lösung suchte, die mit den von den Byzantinern ausgeführten Mosaiken harmonierte und nicht etwa in Konkurrenz zu ihnen trat, sondern mit ihnen im Einklang den Besucher der Kapelle noch tiefer in ein ihn bezauberndes Reich eintauchen liess. Daher ist auch die Decke über dem Hauptschiff - abgesehen von den mittleren Kassettenreihen - mit vielen Malereien verziert. Personen in königlichen Gewändern oder Szenen aus dem täglichen Leben sind hier dargestellt. Auf vielen Bildern sieht man Männer, die mit gekreuzten Beinen am Boden hocken: Harfenspieler, Trommler, Männer mit Kastagnetten und Tanzszenen. Öfter noch sind Tiere gemalt: Rinder, Enten, Tiger, Kamele, Elefanten und Adler, Falken, Pfauen und Gazellen, die von Männern auf den Schultern getragen werden. Bei den Pflanzen ist die Palme das Hauptmotiv. Herrlich und von strahlender Kraft sind die Mosaiken, die das Innere der Kapelle schmücken. Die Mosaiken in der Kuppel und im Querhaus sind älter als die im Langhaus und auch von einer anderen Hand geschaffen. Aus der In- 9 Capella Palatina (ab 1131, geweiht 1143) schrift an der Basis der Kuppel können wir schliessen dass die Mosaiken hier bereits 1143 vollendet waren während die des Langhauses in die Zeit zwischen 1160 und 1170 datiert werden müssen. Im Zentrum der Kuppel ist der Christus Pantokrator, umgeben von vier Engeln und vier Erzengeln, in hieratischer Haltung dargestellt. In dem Oktogon, das die Kuppel trägt, sieht man im Innern der Trompen die vier Evangelisten in sitzender Pose, auf dazwischenliegenden Flächen vier stehende Gestalten der grossen Propheten und in den Zwickeln darüber Büsten weniger bedeutender Propheten. An einem der Bögen, die die Kuppel tragen, genauer gesagt an dem Bogen vor der Apsis, ist die Verkündigung dargestellt, an dem gegenüberliegenden Bogen die Darstellung im Tempel. Die seitlichen Bögen sind mit Propheten geschmückt und die Bogenlaibungen mit Heiligen in Medaillons. Vom Halbkuppelgewölbe der Hauptapsis schaut ein segnender Christus herab. Die Jungfrau Maria mit den Heiligen ist ein Werk aus dem 18. Jh. Die Bildnisse seitlich der Bogenstel lung, die Erzengel und darunter die Heiligen Gregor und Silvester sind in der nachnormannischen Epoche entstanden. Das Halbkuppelgewölbe des Diakonikon wird von einer Halbfigur des heiligen Paulus beherrscht. Darunter, dort, wo sich ursprünglich das Fenster befand, ist die heilige Anna mit der Jungfrau Maria zwischen den Heiligen Philippus und Sebastian gezeigt. Diese Werke stammen sämtlich aus dem 18 . Jh. Oberhalb der Apsis des Diakonikon begegnet uns nochmals eine Christusbüste und darunter ein Weihnachtsbild. An der linken Mauer des Querhauses ist auf gleicher Höhe wie die vorher genannte Szene der Traum des heiligen Joseph und die Flucht nach Ägypten dargestellt, im zweiten Register die Taufe Christi, die Verklärung und die Auferstehung des Lazarus und im dritten und letzten Register der Einzug in Jerusalem. Im Halbkuppelgewölbe der Prothesis hat im 16. Jh die Halbfigur des heiligen Andreas jene des Apostels Paulus ersetzt. Das Bild darunter mit dem heiligen Joseph und dem Jesuskind datiert aus dem 18. Jh; es wird von den Heiligen Stephanus und Barnabas flankiert. Darüber erscheint eine Hodegetria - Maria als Halbfigur, das Kind auf dem linken Arm tragend - mit Johannes dem Täufer. An der gegenüberliegenden Wand sind drei Heiligenfiguren dargestellt, an der linken Wand vier Bischöfe aus der griechischen Kirche: Johannes Chrysostosmos, Basileios, Gregorios von Nyssa, der „Theologe“, und der heilige Nikolaus. Am Gewölbe erblickt man die Himmelfahrt Mariens, umgeben von den Aposteln. An den Wänden des Mittelschiffs sind in zwei Zonen Episoden aus dem Alten Testament dargestellt, von der Schöpfungsgeschichte bis zum Kampf Jakobs mit dem Engel. In den Mosaiken der bei den Seitenschiffe wird die Geschichte der Heiligen Petrus und Paulus erzählt. Diese Arbeiten wurden vor dem Ende des 12. Jh unter Wilhe1m II. abgeschlossen. Im rechten Seitenschiff befinden sich zwei Objekte von grosser historischer und künstlerischer Bedeutung: der Ambo und der Osterleuchter. Der Ambo besteht aus zwei gegeneinander versetzten Kuben. Sie werden von Säulen getragen, von denen einige kanneliert und aus Zwiebelmarmor, andere aus Porphyr sind. Von den Stirnseiten ist eine aus 10 Porphyr, während die andere mit vielfarbigen Mosaikeinle gearbeiten verziert ist. Die Lesepulte stellen einen Löwen und einen Adler dar - die Symbole der Evangelisten Markus und Johannes. Der 4,50 Meter hohe marmorne Osterleuchter ist eines der hervorragendsten Beispiele romanischer Skulptur in Sizilien. Er ist in fünf Register eingeteilt, die durch Kränze von Akanthusblättern zugleich gegeneinander abgesetzt und miteinander verbunden sind. Der Sockel wird durch vier Menschen und Tiere verschlingende Löwen gebildet. Darüber erhebt sich der Schaft mit figürlichen und floralen Motiven und heiligen Symbolen. Im dritten Register‘ sind in der Mitte ein von Engeln getragener Christus und, kniend, König Roger II. dargestellt. Den oberen Abschluss bilden drei halbnackte Figuren, die die Kerzenfassung des Leuchters tragen. Der zwischen 1930 und 1935 durch den Architekten Francesco Valenti restaurierte Narthex besteht aus drei Jochen, die durch schmale spitzbogige Rippen, welche auf vier schlanken Marmorsäulen aufliegen, voneinander getrennt sind. Bis auf eines wurden sämtliche Kapitelle erneuert. In den Narthex gelangt man entweder durch den südlichen Portikus oder, aus der Kapelle kommend, durch zwei Bronzetüren, über denen sich Fenster mit steinernen Gittern öffnen. Ein Fenster befindet sich über der Tür, die zum Portikus führt, und Zwei weitere in dem Durchgang, durch den man in die Sakristei gelangt. An der linken Wand ist ein Fresko aus der Krypta angebracht, das Maria mit dem Kinde zeigt. Es wird in das 12. bis 13. Jh datiert. Von dem Narthex aus betritt man auch die Sakristei, die mit zahlreichen modernen Werken ausgeschmückt ist, da ein grosser Teil der alten Ausstattung 1963 durch einen Brand zerstört wurde. Daneben. liegt der Kapitelsaal. In der Sakristei werden der Kirchenschatz und das Archiv aufbewahrt, das, wie gesagt, viele interessante Ur. kunden birgt, griechische, arabische und lateinische, insgesamt annähernd. 200 Stück. Sie stammen aus dem 11. bis 18 . Jh. Eine aus historischer Sicht besonders bedeutsame Urkunde ist ein in Gold. schrift beschriebenes Pergament aus dem Jahre 1140, das heisst aus der Zeit Rogers II. Hier in der Sakristei finden wir auch liturgisches Gerät. Neben anderen Dingen gehört zum Kirchenschatz eine umfangreiche und wertvolle Sammlung ägyptischer, byzantinischer und arabisch-sizilianischer Kästen. Eines der seltenen Stücke ist eine ovale ägyptische Schatulle aus Holz, die mit kleinen, mit Menschen und Tiermotiven verzierten Plättchen bedeckt ist und aus dem 12. bis 13. Jh stammt. Die Krypta unter dem Altarraum ist älter als die Kapelle selbst. Zwei Treppen am Ende der Seitenschiffe führen hinab. Der Eingang wurde bei den Restaurierungsarbeiten 1927 freigelegt. Der Raum hat einen quadratischen Grundriss, wobei sich vorn ein Durchgang mit einem Kruzifix befindet, das eine Zeitlang dem Steri gehörte. Bei den Arbeiten wurde 1927 neben anderen Räumen und Durchgängen auch die Kammer freigelegt, in der die sterblichen Überreste Wilhe1ms II. beigesetzt waren. Hier ruhten auch die Ge beine der Pfarrherren der Kapelle. Schliesslich brachten die Restaurierungen von 1927 noch die Grundmauern des unter Roger 11. erbauten Kirimbiturmes zutage. Cubala (zweite Hälfte 12 Jh.) Palermo Der von Wilhelm II. während seiner Regentschaft angelegte prächtige königliche Park wird uns von verschiedenen Autoren als reich an Brunnen und üppiger Vegetation, bevölkert von Vögeln und Tieren aller Art geschildert. Ausserdem befand sich hier, wie Fazello schreibt, eine Reihe von Kiosken, offenen Pavillons, die nahezu einen Portikus bildeten: Sacellis testudinatis ex omni parte patentibus ad delitias Regum orbiculari opere extructis frequens (reichlich ausgestattet mit kleinen, nach allen Seiten offenen, überwölbten Gebäuden, die im Rund gebaut waren, zum Entzücken des Königs). In Italien findet man eine vergleichbare Anlage nur noch im Garten des Palazzo Rufolo in Ravello. Einer dieser Pavillons ist heute noch am Ende des Corso Calatafimi in gutem Zustand erhalten. Er steht im Garten der Villa Napoli und ist bekannt unter dem Namen Cubula oder Piccola Cuba. Dabei handelt es sich um einen Kiosk aus einem typisch arabisch wirkenden, würfelförmigen Unterbau und einer kleinen, rötlichen Kuppel die über Ecktrompen mit dem Unterbau verbunden ist. In den vier Steiten öffnen sich Spitzbögen mit abgestuften Archivolte und maurischem Ornament. Dieser Dekor, der sich am letzten Geschoss des Glockenturms der Martorana, an der Kirche Santo Spirito und besonders an den Portalen der Chiesa della Magione wiederfindet, erlaubt die zeitliche Einordnung der Cubula in die letzte Periode der normannischen Architektur Siziliens, die durch die intensive Suche nach der Wirkung von Licht und Schatten gekennzeichnet ist. 11 Zisa (1165-1180) Geschichte Die Zisa ist einer der prächtigen, inmitten der Gärten und der erfrischenden Wasserläufe der Conca d` Oro angelegten Bauten, die den normannischen Königen als Orte der Entspannung dienten. Die Zisa gilt als das prunkvollste der Solatia, der islamisch-normannischen Lustschlösser. In erstaunlich kurzer Zeit unter Wilhelm 1. errichtet, war der Bau mit erheblichen Kosten verbunden. Ihren Abschluss fanden die Arbeiten unter Wilhelm II. zwischen 1164 bis 1180. Romuald von Salerno und Hugo Falcandus zufolge - beide waren Zeitgenossen der letzen Normannenkönige - wollte Wilhelm 1. mit den prächtigen Solatia Favara und Minenio seines Vaters, Rogers H., rivalisieren. Minenio hielt der Historiker Michele Amari für den »Scibene«, einen heute leider verfallenen Normannenbau im Vorort Altarello di Baida. Seit jeher hat die Zisa das Interesse von Archäologen und Kunsthistorikern geweckt: von dem arabischen Reisenden Ibn Gubair, der Palermo im Jahre 1183 besuchte und ihre Herrlichkeit pries, oder dem Dominikaner Leandro Alberti aus Bologna, der sie 1526 in einer detaillierten Beschreibung würdigte, bis hin zu den Archäologen des letzten Jahrhunderts: Gioacchino Di Marzo, Salvatore Morso und Michele Amari. Letzterer lieferte den bedeutendsten Beitrag zur Datierung des Gebäudes. Es war Amari, dem es gelang, die teilweise noch erhaltenen arabischen Schriftzeichen auf den Friesen zu entziffern. Die erste Inschrift, die in kufischen Lettern gehalten war, schmückte die Mauer der Attika auf der der Stadt zugewandten Seite. Die Attika der vier Seiten 12 Palermo wurde im 14. und 15. Jahrhundert - wohl um die Verteidigungsfähigkeit des Baus zu sichern - zu einem Zinnenkranz umgestaltet. Die zweite Inschrift, in der arabischen Schrift Neschi gehalten, befand sich auf der inneren Archivolte den Eingangsbogens zum Brunnensaal. In den letzten Jahren lieferten Giuseppe Spasitrano und Wolfgang Krönig einen bemerkenswerten historischen Beitrag zur Untersuchung dieses bedeutenden Bauwerkes. Sie stützten sich dabei auf archäologische Funde ausserhalb des eigentlichen Gebäudes und auf Entdeckungen bei den jüngsten Restaurierungs- und Instandsetzungsarbeiten, die nach den schweren Einstürzen des linken Flügels und eines Teils der Westfassade 1971 nötig geworden waren. Besichtigung Die Baustruktur der Zisa, die Bestimmung ihrer Räume sowie die Gesamtanlage mit den zugehörigen Elementen - dem Bassin vor der Fassade, der Kapelle 40 Meter rechts der Fassade und dem Thermalbad - scheinen heute endgültig geklärt zu sein. Dies verdanken wir der überaus exakten Beschreibung des Dominikanermönches Leandro Albertis sowie den Funden, die die jüngsten Restaurierungsarbeiten ans Licht brachten. Das dreigeschossige Bauwerk ist auf einem rechteckigen Grundriss von 36,36 x 19,60 m errichtet und hat eine Höhe von 25,70 m. In der Mitte der Seitenmauern springen zwei Türme von der Grundfläche 4,35 x 2,35 m hervor. Das Mauerwerk bilden Kalksteinquader aus den Steinbrü- chen von Carini (Foresta). Obwohl die Gewölbe, die die drei Etagen überfangen, ebenfalls aus Kalksteinquadern gesetzt sind, handelt es sich in den quadratischen Räumen um Kreuzgratgewölbe und in den rechteckigen Räumen um sich durchdringende Tonnengewölbe. Bis auf den Marmorfussboden im Brunnensaal bestehen die Fussböden übera1l aus in Fischgrätenverband angeordneten roten Tonziegeln. Das Äussere des Gebäudes - und das gilt für sämtliche Bauten jener Epoche - überrascht durch den perfekten würfelhaftkompakten Zuschnitt des Gesamtbauwerkes (Stereotomie) und durch die ausgesuchte Eleganz, in der die Aussenmauer mit Gesimsen in jeder Etage und abgestuften Blendbögen um die Fenster gegliedert sind. Das Erdgeschoss mit seinen drei Eingangsportalen, Vor denen die Fischweiher lagen, besteht aus einem Vestibül, das die gesamte östliche Fassadenfront einnimmt, dem grossen Brunnensaal und zwei symmetrisch angelegten Raumgruppierungen, die durch zwei enge Flure zu erreichen sind. Von hier aus führen zwei Treppen zu den oberen Stockwerken. Der quadratische Brunnensaal nimmt die gesamte Höhe von zwei Stockwerken ein und weist drei grosse Seitennischen auf, die oben mit Muqharnas (Stalaktitengewölben) versehen sind. Dieser prächtige Fest- und Empfangssaal ist besonders wegen der grossen Quelle in der Wand gegenüber dem Eingang bemerkenswert, deren Wasser aus zwei kleinen Sammelbecken in einen kleinen Kanal fliesst, unter der Türschwelle hindurch in das Vestibül gelangt und schliesslich in die Fischteiche mündet, Der Brunnen selbst besteht aus ei- ner geneigten Platte, über die das Wasser sanft zwischen zwei mit Mosaiken verzierten Treppen hinabfliesst. Man fühlt sich unversehens in den Orient versetzt. Dies liegt nicht nur an den Muqharnas, sondern auch am Mosaikschmuck der Innenwände (über der Quelle die Darstellung einer Jagd in einem Paradiesgarten) und an den schlanken Säulen, die in die Kanten der hohen Sockelleisten eingestellt sind. Darüber erhebt sich über einem schmucklosen Kalksteinmauerabschnitt ein Kreuzgratgewölbe. Der Mittelteil des ersten Stockwerks wird durch die Vorhalle und den Brunnensaal eingenommen. Symmetrisch dazu liegen zwei durch einen entlang der Westseite verlaufenden Korridor verbundene Räume in den beiden Gebäudeflügeln, Das zweite Stockwerk war um ein grosses offenes Atrium ange ordnet, das genau über dem Brunnensaal lag. Die Wohnräume waren sowohl durch den an der Westseite verlaufenden Korridor als auch durch den Aussichtssaal über der Vorhalle an der Hauptfassade verbunden. Im Jahre 1600 wurde das Atrium mit einem grossen Kreuzrippengewölbe überdacht. An die zur Zisa gehörenden Gebäude erinnern heute nur noch die 1973 wiederentdeckten, nahe der Nordwestecke gelegenen Thermen (die Ausgrabungsarbeiten sind noch nicht abgeschlossen) und die Kapelle. Letztere, in einer Urkunde von 1274 »Chiesa della Trinita« (Dreifaltigkeitskirche) genannt, bestand nur aus einem einzigen Schiff und war durch einen Komplex aus niedrigen Gebäuden mit dem Palast verbunden. 13 Cuba (fertiggestellt 1180) Geschichte Der Palast der Cuba steht etwa einen halben Kilometer von der Porta Nuova entfernt an der Strasse von Palermo nach Monreale. Lange hielt sich die These, die Cuba sei arabischen Ursprungs, bis sich schliesslich die Zuordnung zur Romanik durchsetzte, wie sie bereits von Girault de Prangey vorausgesehen wurde und auch durch spätere Untersuchungen bis hin zur Deutung der Inschrift am Gebäudeabschluss bestätigt wurde. Diese bezieht sich ausdrücklich auf Ihren Gründer Wilhelm II. und trägt die Jahreszahl 1180, die mit Sicherheit den Abschluss der Bauarbeiten angibt. Um den Namen »Cuba« rankten sich die verschiedensten Legenden, bis dahin, dass man annahm, »Cuba« und »Zisa« seien die Namen zweier Töchter eines sizilianischen Königs. Heute sind sich die Experten darin einig, dass der Name »Cuba« aus dem Arabischen kommt und im Laufe der Zeit praktisch unverändert blieb. Ebenso einmütig lehnen Fachleute heute einen griechischen Ursprung des Gebäudes ab. Man nimmt an, dass der Name auf das arabische Wort cubat zurückgeht, was soviel bedeutet wie Gewölbe, überwölbtes Gebäude, fornix concameratum opus, und sich wohl auf eine Kuppel über dem Gebäude oder eher noch auf einen überwölbten Portikus vor dem Bauwerk bezieht. Die ältesten und sichersten Auskünfte über die Cuba, die meist deskriptiver Art sind, verdanken wir dem Historiker Fazello (16. Jahrhundert) der neben seinen eigenen Eindrücken sehr sorgfältig über alles berichtet, was andere vor ihm über die Schönheit und die Pracht des Gebäudes geschrieben 14 Palermo haben. Der inmitten eines kleinen künstlichen Sees gelegene Palast erhob sich in einem ausgedehnten Park, umgeben von einem dichten, reizvollen Garten. Man weiss dass dieser Lustgarten im Jahre 1194 während der Herrschaft des Staufers Heinrich VI. zerstört, später jedoch in seiner ursprünglichen Schönheit wiederhergestellt wurde. Die Cuba gehörte als Ort der Entspannung bis ins 14. Jahrhundert zum königlichen Besitz und wurde dann an Privateigentümer veräussert. 1516 wurde sie Eigentum des Fürsten Monroy von Pandolfina. In der Folgezeit ging sie jedoch wieder in den königlichen Besitz ein, denn aus einem im Staatsarchiv von Palermo aufbewahrten Dokument geht hervor, dass die Ehegatten Bettina Battaglia und Michele Ariaca 1571 den Palast für den königlichen Hof zurückkauften. Dank desselben Dokumentes ist uns auch, wenn auch nur in groben Zügen, der damalige Zustand der Cuba überliefert. Sie war noch mit einem Marmordekor und durch Terrassen verschönert und von einer dichten Vegetation aus Bäumen und Reben umgeben. 1575, als die Pest auch Palermo erreicht hatte, wurde die Cuba in ein Hospital umgewandelt. Im 18. Jahrhundert wurde dann im Palast und im Garten eine Kaserne eingerichtet, in der die Kavallerie der Bourbonen ihren Standort hatte. Noch heute ist die Cuba von einer Kaserne umschlossen, und von ihrer ursprünglichen Anlage ist recht wenig erhalten. Nur einmal, 1936, wurde eine Reihe von Ausgrabungen durchgeführt, um festzustellen, ob Pfeiler vorhanden waren, die eine Mittelkuppel getragen haben könnten. Bombenangriffe und Erdbeben haben schweren Schaden angerichtet und das Gebäude fast völlig zerstört, so dass seine ursprüngliche Schönheit heute nur noch schwer zu erkennen ist. Um die einstige Schönheit zu bezeugen, sei an Boccaccio erinnert, der in der sechsten Erzählung des fünften Tages seines »Decamerone« von der Cuba als den case bellissime spricht; ein arabischer Dichter jener Zeit beschreibt sie als eine der kostbaren Perlen, die Wilhelm II. in den Schoss des glanzvollen alten Palermo gelegt hat. Besichtigung Der in einem ausgedehnten königlichen Park errichtete Palast War früher ringsum von einem kleinen künstlichen See umgeben, so dass man ihn nur über eine Brücke erreichen konnte. Tatsächlich ist das Gebäude auf einem hohen Sockel errichtet, der ehemals gänzlich Unter Wasser gestanden haben muss. Die wuchtigen, kubischen Formen spiegelten sich demnach in der Oberfläche des Sees. Die Aussenmauer erfuhren dadurch eine gewisse Belebung, dass jeder Seite ein Vorbau in Gebäudehöhe wie ein schmaler Turm vorgelagert war. Die hohen, typisch arabischen Blendbögen bildeten die einzigen Schmuckelemente der Cuba. Im Gegensatz zu anderen Bauten der damaligen Zeit, bei denen diese Blendbögen nur die Fenster einfassen, erstrecken sie sich bei der Cuba mehrfach abgestuft über die gesamte Höhe und umrahmen eine grosse Anzahl blinder oder offener Fenster, die einfach oder gekuppelt sein können und harmonisch angeordnet sind. Als krönenden Abschluss trug das Gebäude einen Fries mit einer arabischen Inschrift, aus der das Baudatum 1180 und der Name Wilhelms II., des Königs und Gründers der Cuba hervorging. Nicht nur vom äusseren Aufbau sondern auch vom Grundriss her weist die Cuba bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit dem ebenfalls rechteckigen, jedoch kleineren Palast der Zisa auf. Das Innere bestand aus einem einzigen quadratischen Mittelsaal, der die gesamte Höhe des Bauwerks einnahm. Aus dem, was von diesem Saal noch erhalten ist, schliesst man, dass sich in ihm Pendentifs aus Stuckstalaktiten befunden haben müssen. Nach den kleinen Fenstern zu urteilen, kann der Raum nicht besonders hell gewesen sein, das ein dringende Licht reichte jedoch gewiss aus, um die prunkvollen Dekorationen der Wände und des Fussbodens zur Wirkung kommen zu lassen. Tatsächlich wurden im Innern der Cuba Reste eines Mosaikfussbodens und der Marmorverkleidung gefunden. Bei den oben erwähnten Ausgrabungsarbeiten hat man die Fundamente von vier Säulen freigelegt, die sich nahezu in der Mitte des Saales befanden. Wie das Gebäude ursprünglich gedeckt war, lässt sich heute noch nicht mit Sicherheit sagen. Die Reste der Fundamente der vier Säulen sowie die Spuren von Verbindungsbögen zwischen dem MitteIquadrat und den vier Wänden, die den Saal umschliessen, haben zahlreiche Experten zu der Annahme veranlasst, der Raum könnte von einer Kuppel mit sehr grossem Durchmesser überwölbt gewesen sein. Da sich in der Raumkonzeption jedoch diejenige des Mittelsaales im oberen Geschoss der Zisa wiederholt, ist anzunehmen, dass auch dieser imposante Mittelsaal der Cuba nach oben hin offenstand. Tatsächlich weist das Innere der Zisa keinerlei Gewölbe auf, und in den Fussboden ist ein von vier Säulen umstandenes Impluvium eingelassen. So erscheint es wenig glaubhaft, dass die vier Säulen der Cuba eine Kuppel getragen haben sollen. Heute befindet sich der kaum jemals restaurierte Bau in einem völlig vernachlässigten Zustand. Nur Ruinen sind erhalten, der Sockelbau und ein kleiner Teil der Aussenmauer, an dem gerade noch die auflockernde Wandgliederung durch die Blendbögen zu erkennen ist. Die Abdeckung des Palastes ist wie alles übrige eingestürzt, und die Trümmer, die den Innenraum des Gebäudes zugeschüttet haben, versperren den Zugang, so dass genauere Untersuchungen nicht möglich sind. 15 Santa Maria dell‘ Ammiraglio ( La Martorana) (1143-85) Geschichte Eines der bedeutendsten sakralen Bauwerke, das zur Zeit der Normannenherrschaft in Palermo errichtet wurde, ist die Kirche Santa Maria dell‘ Ammiraglio oder dell‘ Antiocheno, die allgemein unter dem Namen »La Martorana« bekannt ist. Georg von Antiochien, Grossadmiral des Königreiches Sizilien unter Roger II., liess sie zu Ehren der Heiligen Jungfrau erbauen, aus Dank für ihren Schutz bei seinen Unternehmungen auf den Meeren. Dass Georg von Antiochien tatsächlich der Stifter der Kirche war, besagt eine arabischgriechische Urkunde, die im Archiv der Cappella Palatina aufbewahrt wird. Ein weiterer Hinweis ergibt sich aus einer heute nur noch teilweise erhaltenen Inschrift, die oben am Aussenbau der Kapelle zu lesen ist, sowie aus dem Stiftermosaik im Innern der Kirche. Die arabisch-griechische Stiftungsurkunde gibt nicht nur Aufschluss über den Auftraggeber, sondern auch über die Entstehungsdaten der Martorana. In der Tat scheint der Bau bereits 1143 errichtet gewesen zu sein. Nach einer dreijährigen Pause wurden die Arbeiten wiederaufgenommen und bis 1185 fortgeführt. In diesem zweiten Abschnitt wurde die Kirche um einen inneren, an die ursprüngliche Fassade angebauten Narthex, ein Atrium mit herrlichen Mosaiken, einen äusseren Narthex und einen Campanile erweitert. Diesem Glockenturm widmet der Araber Ibn Gubair in seinem sizilianischen Reisebericht eine ausführliche Beschreibung. Die ursprüngliche Kirche weist die Form eines in ein Quadrat eingeschriebenen Kreuzes auf. Die vier Kreuzarme sind 16 Palermo tonnengewölbt, während niedrige Kreuzgratgewölbe die quadratischen Eckjoche decken. Die Kuppel in der Mitte ruht auf vier Säulen, und ein achteckiger Laternenturm überragt die Kirche. Die drei Ostapsiden und die Reste des durchbrochenen Zinnenkranzes, der einst den Bau krönte, erinnern an die im Orient zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert nach dem byzantinischen Kanon erbauten Kirchen. Diese in Süditalien weitverbreiteten Formelemente verbinden sich hier mit typisch sizilianischen Stilmerkmalen wie den Spitzbögen, den Tonnengewölben, den abgestuften Trompen im La ternenturm und den Ecksäulen. Aus einigen Dokumenten geht hervor, dass Honorius III. die Kirche im Jahre 1221 dem griechischen Klerus anvertraute, doch scheint die Betreuung der Martorana ab 1226 in denselben Händen gelegen zu haben wie die der Palatina. 1282 wurde die Kirche in politische Ereignisse verwickelt: Nach dem Vespergottesdienst zu Ostern, einem Ereignis, das als »Sizilianische Vesper in die Geschichte einging, fand sich das Parlament im Narthex zusammen, der als Sitz der Schutzgarde von Palermo diente, um Peter von Aragon die Krone Siziliens anzutragen. 1435 überliess König Alphons von Aragon die Kirche den Nonnen eines nahegelegenen, von Eloisa Martorana im Jahre 1194 gegründeten Benediktinerklosters, dessen Schicksal sie hinfort teilte. Auf diese Weise erhielt sie auch den Namen, unter dem sie heute bekannt ist. Nach dieser Übernahme musste die Kirche eine Vielzahl von Veränderungen über sich ergehen lassen, bis sie 1451 fast nicht mehr benutzt werden konnte, und die Universität von Palermo das Eingreifen König Alphonsos forderte, der die notwendig gewordenen Sicherungsmassnahmen veranlassen sollte. Der erste entscheidende Eingriff, in dessen Verlauf die Westfassade abgerissen wurde, erfolgte 1588. Auch die Portalvorhalle und der Narthex verschwanden, und die Kirche wurde bis zum Campanile verlängert, so dass ihr Grundriss nun die Form eines lateinischen Kreuzes annahm. Weiterhin errichtete man eine neue, monumentale Fassade, die sich an der heutigen Piazza Bellini erhebt. In der Zeit von 1683 bis 1686, der Amtszeit der Äbtissin Giuseppa Caterina deI Castillo, empfanden die Nonnen die Mittelapsis für ihre liturgischen Zeremonien als unzulänglich, liessen sie daher mitsamt ihren Mosaiken entfernen und an ihrer Stelle den heutigen Altarraum errichten, der aus einer wesentlich tieferen, mit einer Kuppel gedeckten Kapelle besteht. Anfang des 18. Jahrhunderts beschlossen die Nonnen, die neue Kirche mit einem Dekor aus unterschiedlichen Marmorsorten zu bereichern und das Gewölbe mit Fresken auszumalen. 1726 wurde der Campanile durch ein Erdbeben beschädigt, und man beschloss, sein letztes Stockwerk, das von einer originellen, rötlichen Kuppel bekrönt war, abzutragen. Die Renovierungsarbeiten wurden dem Architekten Giuseppe Patrico übertragen und begannen 1870. Dabei wurde ein Teil des ursprünglichen Gebäudes wiederhergestellt, doch gingen gleichzeitig kostbare Arbeiten aus der Barockzeit, die man für wertlos erachtete, gänzlich verloren. Besichtigung Blickt man von der Piazza Bellini auf die Martorana, so fällt sofort der deutliche Kontrast zwischen der Barockfassade und den Teilen des ursprünglichen Gebäudes auf, an denen die architektonischen Merkmale aus der Zeit seiner Gründung noch erhalten sind. Zu diesen Merkmalen gehören die schlichte, kubische Kontur des aus kleinen Quadern zusammengesetzten Bauwerks, die kleinen Spitzbogenfenster, die nach aussen stark ausgeschrägt sind, und die Kuppel auf dem hohen, achteckigen Unterbau. Noch heute kann man den wertvollen Türsturz über der kleinen Tür bewundern, die früher zum Sprechzimmer des Klosters führte: Die äusserst elegant in Medaillons aus Blattvoluten eingefügte Jagdszene scheint von einem byzantinischen Künstler zu Künstler zu stammen. Besonders stark ist der Kontrast zwischen der Barockfassade und dem an der Westmauer des Langhauses anlehnenden Campanile. Der in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts erbaute Turm hat einen quadratischen Grundriss und umfasst vier Stockwerke. Das letzte Stockwerk, das die Kuppel trug, wurde 1726, nachdem es durch ein Erdbeben beschädigt worden war, abgetragen. In jeder Etage öffnen sich nach allen Seiten grosse, gekuppelte Spitzbogenfenster mit eleganten Mittelsäulen. In den letzten beiden Geschossen sind die Ecken, in die weitere bogentragende Säulchen eingestellt sind, abgerundet. Um zur Kirche zu gelangen, durchquert man einen kleinen Garten, zu dem einige Stufen hinaufführen, und geht dann unter dem Campanile hindurch. Innen weist die Kirche wie schon aussen eine Mischung aus normannischen und barocken Zügen auf. Diese Durchdringung zwingt uns, hier auch solche Elemente zu berück sichtigen, die eigentlich den zeitlichen Rahmen dieses Bandes Sprengen. Sobald man die von zwei Säulenreihen aus orientalischem Granit mit korinthischen Kapitellen in drei Schiffe unterteilte Kirche betritt, kommt man mit dem barocken Teil des Bauwerks in Berührung. Man gelangt zunächst in einen grossen Vorraum, dessen acht Säulen - zwei von ihnen sind mit sarazenischen Inschriften versehen - die Sängerempore tragen. Die Gewölbe sind 1744 von Olivio Sozzi mit Fresken ausgemalt worden, die in lebhaften Farben Maria, umgeben von verschiedenen benediktinischen Heiligen, darstellen. Rechts befindet sich eine kleine Seitentür, deren hölzerne Türflügel vermutlich von dem im 12. Jahrhundert entfernten Hauptportal stammen. Sie bestehen aus 28 rechteckigen Feldern mit geschnitzten Palmetten, die in der Mitte eine Art Vielpassmedaillon bilden. Der mittlere Teil der Kirche ist vollständig mit Fresken bedeckt, die 1717 von Guglielmo Borremans geschaffen wurden und Szenen aus den Evangelien zeigen. Dank der im Jahre 1870 von Patricolo durchgeführten Restaurierungen können wir uns anhand einiger gut sichtbar gebliebenen Bauelemente den Umriss des ursprünglichen Baukerns aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts vorstellen. Der ursprüngliche Zentralbau bestand - wie noch heute zu sehen ist - aus einem Quadrat mit vier durch gedrückte Spitzbögen verbundenen Säulen im Mittelteil. Über ihnen erhebt 17 Santa Maria dell‘ Ammiraglio ( La Martorana) (1143-85) sich ein hohes oktogonales Prisma mit gestuften Trompen in den Ecknischen, die eine halbkugelförmige Kalotte tragen. Während die Kreuzarme tonnengewölbt sind, tragen die Seitenschiffe Kreuzrippengewölbe. Das Bauwerk ist nicht ‚nur in seiner architektonischen Konzeption interessant, sondern auch in seiner vollkommenen Anpassung an die Anforderungen der byzantinischen Liturgie, nach der hier die Gottesdienste gefeiert wurden und werden; denn bis heute wird die Messe im griechischorthodoxen Ritus gehalten. Die Wände sind mit Mosaikzyklen bedeckt, die der religiösen Unterweisung dienen sollen: Jedem Abschnitt des Innenraumes entspricht ein bestimmter Teil der östlichen Liturgie. Die ursprüngliche Atmosphäre des normannischen Bauwerks ist durch den tiefen und hellen Altarraum verändert, der zwischen 1683 und 1686 an Stelle der ganz mit Mosaiken ausgekleideten Hauptapsis errichtet wurde. Der neue Altarraum ist mit bunten Marmorintarsien und Stuck ausgestaltet. Auf dem Altar steht ein wertvoller Tabernakel aus Lapislazuli. Das Kuppelgewölbe trägt Fresken von Antonino Grano aus dem frühen 18 . Jahrhundert. Ursprünglich waren die Mauern des Kernbaus bis zu einer Höhe von vier Metern mit Platten und Kreuzen aus Porphyr und Serpentin bedeckt, während alle übrigen Flächen mit Mosaiken ausgelegt waren. Die Mosaiken der Hauptapsis und die der Westmauer, die wegen der Verlängerung der Kirche abgerissen wurde, sind für immer verloren. Alle anderen Mosaiken kann man aber noch heute in ihrer vollständig erhaltenen Schönheit bewundern. Die Anordnung der vier Mosaiken folgt einem so vollendet klaren und symmetrischen Plan, wie er sich in keiner anderen zeitgleichen Kirche Siziliens findet. Die Bestimmung der Martorana für die Ansprüche der griechischen Liturgie lässt sich bereits daraus ersehen, dass sämtliche Inschriften der vier Mosaiken griechisch geschrieben sind. Mittelpunkt der Ausgestaltung ist die Kuppel, in der in einem zentralen Medaillon der thronende Christus Pantokrator dargestellt ist, die rechte Hand zum Segen erhoben, mit der linken ein geschlossenes Buch auf den Knien haltend. Im äusseren Ring der Kuppel umgeben vier Engel in anbetender Haltung das Medaillon des Pantokrators. Die Kuppel ruht auf einem hölzernen Fries, der eine von Patricolo entdeckte Inschrift trägt. Diese wurde von Amari als der ins Arabische übersetzte Text einer byzantinischen Hymne identifiziert. In dem zylindrischen Unterbau der Kuppel sind die Propheten dargestellt, in den Nischen der Trompen die Evangelisten. Der Triumphbogen ist mit einer Verkündigungsszene geschmückt, in den Apsidiolen sieht man links den heiligen Joachim, rechts die heilige Anna. In den Laibungen der vier Bögen, die das Ganze tragen, sind in jeweils sieben Kreisen Heiligenbildnisse eingefügt. Es ist bemerkenswert, wie die Darstellungen, die die himmlische Liturgie und die biblische Geschichte dem Menschen verständlich wiedergeben, sich von der Kuppel ausgehend bis in den Teil fortsetzen, den man als Querhaus bezeichnen könnte und der von den nördlich und südlich an die Kuppel angrenzenden Tonnengewölben überfangen ist. In diesem Querhaus sind acht Apostelgestalten einander gegenübergestellt. Gegenüber dem Altarraum, in dem im 18 Westen an das Mittelquadrat grenzenden Tonnengewölbe, ist die Geburt Christi und der Tod Mariens dargestellt. Hier wird noch einmal deutlich, dass die Kirche der Gottesmutter geweiht ist. Die bestimmte Themenverteilung im Bildprogramm byzantinischer Kirchen sollte dem Gläubigen den Zugang zur Realität des Jenseits erleichtern. Mit grosser Wahrscheinlichkeit war in der Hauptapsis Maria als Orantin dargestellt. Schwieriger ist es, Rückschlüsse auf die Ausschmückung des Narthex und des Vorhofes zu ziehen. Heute sind nur zwei Mosaiken an Wänden von Seitenräumen der neuen Kirche erhalten. Es ist gut möglich, dass sie sich hier von Anfang an befanden, Vorausgesetzt die Hypothese, nach der diese Mauern Überreste der ursprünglichen Westwand des Narthex seien, erwiese sich als Zu treffend. Auf den Mosaiken ist rechts der Stifter der Kirche, Georg von Antiochien, gezeigt, wie er vor Maria kniend ihren Segen empfängt, und links König Roger, dem Christus die Königsskrone aufsetzt. Die Bilder sind vermutlich zwischen 1143 und 1151 entstanden. Diese Datierung wird dadurch bestätigt, dass mehrere Experten die Mosaiken der Martorana für eine verkürzte Version des Mosaikschmuckes der Palatina halten, auch wenn die ikonographischen Schemata der letzteren weitaus komplexer und detaillierter sind. Palazzo Chiaramonte (Palazzo Steri) (ab 1307) Palermo Die Familie Chiaramonte ist die mächtigste der grossen Feudalherren Siziliens im 14.Jh. Ihr Ursprungsgebiet ist die Gegend von Agrigent. Zahlreich sind ihre Burgen. Gewaltig ist ihr Machtzuwachs in grossen Teilen Siziliens seit dem späten 13.Jh.; er wird sichtbar in dem seit 1307 in Palermo errichteten Palazzo Chiaramonte (meist bekannt unter dem Namen 10 "Steri", von "hosterium"), an wichtiger Stelle innerhalb der Stadt (Hafennähe, Piazza Marina). Der Bau wurde begonnen von Manfredi 1. Chiaramonte, Graf von Modica und Seneschall des Königreichs, bis 1380 weitergeführt, im zweiten Obergeschoss nie vollendet. Dem steilen Aufstieg der Familie folgte der jähe Sturz: 1396 wurde Andrea Chiaramonte vor seinem Palast in Palermo enthauptet als Rebell gegen König Martin 1. von Aragon. Der mächtige Baublock ist ein Quadrat von 40 m Seitenlänge mit quadratischem Säulenhof, im Erdgeschoss zwei Arkaden auf jeder Seite, im Obergeschoss je drei. Die zur Piazza Marina gerichtete "Ostseite zeigt ein Erdgeschoss von enormer Höhe: völlig abweisend, ungegliedert und ohne Eingang (das vorhandene Portal ist nach-mittelalterlich), das Obergeschoss mit prachtvollen Fenstern in Form von dreiteiligen Säulenarkaden unter gemeinsamer spitzbogiger Blendarkatur. Das Innere hat auf der flachen Balkendecke seines Hauptsaales berühmte GemäldeFolgen, deren Darstellung mittelalterlicher Legenden und Geschichten besonderes Interesse beanspruchen (Trojanischer Krieg; Tristan und Isolde). Nur Nord- und Südseite des Palastes hatten kleinere Eingänge; vor letzterer liegt die gut erhaltene Kapelle des Palastes: S. Antonio allo Steri. 19 Dom (Cattedrale) (geweiht 1185) Die Südfront der Kirche blickt auf den weitläufigen Kirchhof, der 1761 mit Marmorbalustraden eingefriedet wurde. Auf dieser Fläche stand bereits in frühchristlicher Zeit (im 4. Jahrhundert) eine Friedhofskapelle. Über deren Ruine liess Bischof Viktor im Auftrag von Papst Gregor I. dem Grossen 592 eine Marienkirche bauen und weihte sie 604 ein. Nach der arabischen Eroberung wurde die Kirche im 9. Jahrhundert in eine grosse Moschee für die Einwohner der Zitadelle im Cassaro umgewandelt, der bis 938 Sitz der Emire war. Nach der Eroberung Palermos, durch die Normannen wurde wieder eine christliche Kirche daraus (1072) die Bischof Nikodemus zurückgegeben wurde. Nach dem Erdbeben von 1169 wurde sie unter Wilhelm II. nach den Entwürfen des Erzbischofs Walter of the Mill (von 1169 bis 1190 im Amt) vollständig neu gestalltet. Der Neubau wurde 1185 geweiht. Von Anfang an war die Kirche sowohl Gotteshaus als auch Festung und sogar königliche Grablege, die den Monarchen ihrer Familie und den Erzhischöfen vorbehalten war, Für diesen Zweck reservierte man zwei symmetrisch zu beiden Seiten des Altarraums gelegene Bereiche in Übereinstimmung mit der Position von Königs- und Bischofsthron. Der Bau von Walter of the Mill war eine dreischiffige Basilika. Der erhöhte Altarraum bestand aus dem Querschiff und einem Riegel mit drei Apsiden. Deren mittlere grösser als die Seitenapside war. Das lange Kirchenschiff war durch zehn Spitzbögen gegliedert, die auf neun Viererbündel korinthischer Säulen an jener Seite des Mittelschiffs ruhten, plus einem korinthischen Säulenpaar an jedem Ende. Nach Os20 Palermo ten erstreckt sich über die Apsidien hinaus eine Krypta, zu der man durch die Tür links im Presbyteriumrium gelangt. Dort stehen die Sarkophage Palermitanischer Erzbischöfe aus verschiedenen Epochen. Wann die Krypta gebaut wurde ist ungewiss. Einige Autoren nehmen an, dass sie zeitgleich mit der Kirche des Waller of the Mill entstand, andere halten sie für älter. Von der alten normannischen Basilika erhalten ist noch ein quadratischer Raum mit Apsis, in dem Spuren des ursprünglichen Fussbodenbelags zu erkennen sind, sowie symmetrisch dazu ein weiterer Raum mit Resten einer darüber angebrachten Loggia und zwei Einzelbogenfenster unter einer grossen Rosette und einem kleinen muqarnas Ornament. Um 1429 wurde vor der Südfassade der Portikus angebaut ein Werk Antonio Gamharas, Das Ostwerk ist an der Aussenseite durch zweifarbige Einlegearbeiten und verschränkte Blendbögen verziert, ein Motiv, das sich am Dom von Monreale wieder findet. Fortlaufend versuchte man, di. Kirche dem jeweiligen Zeitgeschmack anzupassen. Unter anderem wurde 1767 der königliche Architekt Fenlinando Fuga mit dem Entwurf für eine vollständige Neugestaltung der Ausschmückung der Kirche beauftragt. Ausgeführt wurde sie unter der Leitung von Giuseppe Venanzio Marvuglia und Salvatore Attinelli von 1781 his 1801. Die Arbeiten umfassten eine komplette Neugestaltung des Innenraums nach klassizistischem Vorbild. Die Seitenschilfe wurden verbreitert, wofür man einen Teil der Seitenkapellen opferte, die Vierer-Säulen-Gruppen wurden aufgeteilt und die Schäfte der alten Säulen umgestaltet und an die neuen Pfeiler angelehnt, die alten Kapitelle durch neue ersetzt. An den Jochen der Seitenschiffe wurden kleine Säulen mit einem Überzug aus farbigen Majolikaplättchen aufgestellt. Das Mittelschilf erhielt ein Tonnengewölbe mit Lünette und wurde von ursprünglich 10 auf acht Joche verkürzt. Schliesslich wurde auch der Chor umgestaltet und mit einer klassizistischen Kuppel überspannt. 1840-1844 kamen noch die Westtürme im neugotischen Stil nach Entwürfen von Emanuele Palazotto hinzu. Bis heute folgten mehrfach Restaurierungs· und Sanierungsarbeiten. 21 Piazza Pretoria Im Herzen der Stadt vor dem Rathaus, begrenzt von zwei bedeutenden Kirchenbauten und der Via Maqueda, dazu nahe den »Quattro Canti“, füllt der grossartige Brunnen mit seinem mehrgeschossigen Rund fast den ganzen Raum des Platzes. Dieser Brunnen ist das Werk zweier Florentiner Bildhauer, des Francesco Camilliani (t 1586; mehrfache Signaturen und das Datum 1555) und seines Mitarbeiters Michelangelo Naccherino, vollendet um 1555; ausgeführt im Auftrag des Don Pietro di Toledo, Vizekönig von Neapel, für seine Villa in Florenz. Durch den Tod des Auftraggebers kam es nicht zur Aufstellung. Die Stadt Palermo erwarb den Brunnen im Jahre 1573. Transport der 644 Stücke und Aufstellung (durch den Sohn Camillo Camilliani) nahmen Jahre in Anspruch. Die ungewöhnliche Grösse und Opulenz des Brunnens rechnete mit freier, parkartiger Umgebung; in Palermo hat man durch Absenkung des Platz-Bodens und Zufügung des äusseren Stufenrings dem Ganzen zu besserer Wirkung verholfen. Der zweigeschossige Aufbau ist durch vier flache Treppen verbunden und zugleich gegliedert, und in die konzentrische Ordnung des Ganzen ist der reiche figürliche Schmuck in symmetrischen Entsprechungen harmonisch eingefügt: In den vier durch die Treppen abgeteilten Abschnitten der unteren Plattform befinden sich vier Wasserbecken mit den vier liegenden Personifikationen der ursprünglich toskanisch benannten Flüsse, nunmehr aber als Palermitaner Wasserläufe umbenannt, jeweils flankiert von zwei Tritonen und Nereiden. Die vier Treppenläufe, unten und oben 22 Palermo von Paaren antiker mythologischer und Götter-Gestalten flankiert, überbrücken ein rundes Wasserbecken, dessen Rückwände der zweiten, höheren Plattform angehören und deren Nischen grosse Tierköpfe zieren in der Funktion von Wasserspeiern. In der Mitte des Wasserbeckens der oberen Plattform erhebt sich der steile Schaft dreier nach oben kleiner werdender Wasserschalen, bekrönt von einer Statuette so dass das Wasser von dieser Höhe aus von Schale zu Schale herabströmt. Schon Giorgio Vasari sprach von 15jähriger Arbeit des Bildhauers am Brunnenschmuck und bezeichnete diesen Brunnen als einen, der in seinem Reichtum in Florenz, ja in ganz Italien nicht seinesgleichen habe. Kein Zweifel aber kann darüber bestehen, dass die Stadt Palermo diesen Brunnen erworben hat im künstlerischen Wettstreit mit Messina um den Rang der Hauptstadt, den diese kurz zuvor durch die beiden stattlichen Brunnen des Toskaners Montorsoli bekräftigt hatte. Chiesa di S. Maria della Catena (ab 1500, geweiht 1540) Chiesa di S. Caterina (ab 1566-1596) Die Marienkirche am alten Hafen von Palermo, der hier durch eine Kette geschlossen werden konnte (daher ihr zusätzlicher Name), ist ein hervorragend schöner Bau jener für Sizilien in der Zeit um und nach 1500 eigentümlichen Stilform, welche spätgotisch-spanische mit solchen der Renaissance des italienischen Festlandes verbindet. Sowohl die Vorhalle mit ihren drei flach bogigen Arkaden über Säulen mit antikisierenden Kapitellen, mit den fein ziselierten Formen der turmartigen Eckpfeiler und des Masswerks an den abschliessenden Gesimsen (dieses vor allem auch an den Apsiden) zeigt die Verbindung dieser beiden Elemente ebenso wie das Innere der dreischiffigen gen Säulenbasilika mit ihren verschiedenen Gewölbeformen (gotische Kreuzrippen- und Sterngewölbe und Tonnengewölbe in den Seitenschiffen). Die Kirche, um 1500 begonnen, war wohl kaum vor 1540 vollendet; Baumeister ist doch wohl Matteo Carnilivari, vielleicht in der Ausführung auch Antonio Scaglione, der an dem verwandten und fast gleichzeitigen Bau von S. Maria di Portosalvo nachweisbar ist. Kirche und Klosterkomplex der Dominikanerinnen im Zentrum der Stadt, ausgezeichnet durch die glanzvoll einheitliche Innendekoration des Barock. Als Bau 1566 begonnen, 1596 geweiht, folgt die Kirche dem Typus weiblicher Ordensbauten: einschiffig, kreuzförmig mit dominierender Vierungskuppel, mit Seitenkapellen und Westernpore über dem Eingang. Die Fassade im Westen und die freiliegende Flanke zeigen die einfachstrenge Pilasterordnung dieser Zeit; im ganzen römischen Vorbildern verpflichtet. Das "Innere der Kirche aber ist im Laufe des 17. und 18. Jh. im Zusammenwirken aller Künste mit einem Dekor überkleidet, bei welchem ausser Reliefplastischem sich vor allem in der Technik der farbigen Stein-Intarsien ein Hauptelement sizilischen Barocks in grosser Virtuosität zeigt. Palermo 23 Porta Nuova (1583) Die Porta Nuova befindet sich auf dem höchsten Punkt der Stadt neben dem Königspalast und am Ausgang des »Cas saro“, der die ganze Stadt durchschneidenden, aus arabischer Zeit stammenden Strassenachse (heute Corso Vittorio Ema nuele), die am Hafen endet, und der dort gelegenen »Porta Felice“. Hier war 1535 Kaiser Karl V., von seinem siegreichen Feldzug in Tunis zurückkehrend, nach einer Woche des Aufenthalts in Monreale im Triumph wird noch gesteigert durch die vier weit überlebensgrossen nackten Dreiviertel Figuren der in Hermen-Form aus den Pilastern herauswachsenden „Mauren“, der besiegten afrikanischen Gegner des Kaisers. In Gegensatz zu der militärisch-fortifikatorischen Architektur-Sprache des gesamten Unterbaus steht die graziöse Leichtigkeit der fünfbogigen offenen Säulenloggia oben, bekrönt von einem Pyramidendach mit Majolikaschmuck und dem Motiv grosser Adler. 24 Palermo Quattro Canti (1609) Mitte der Stadt ist die Kreuzung zweier gradliniger Hauptstrassen: des von der Höhe der Porta Nuova im Süden der Stadt (neben dem Königspalast) zum alten Hafen, zur „Cala“ und zur Porta Felice hinabführenden, schon aus arabischer Zeit (9.-11. Jh.) stammenden „Cassaro“, des heutigen Corso Vittorio Emanuele, und der am 21. Dezember 1608 feierlich begonnenen „Via Nuova“, später nach dem Vizekönig genannten Via Maqueda. Durch Abschrägung der Ecken (hinter deren einer die Kirche S. Giuseppe dei Teatini) bildet sich hier die achteckige „Piazza Vigliena“ (der spanische Vizekönig), doch gemeinhin allein als „Quattro Canti di Citta“ bezeichnet. Die gleichmässige architektonische und plastische Ausgestaltung dieser vierkurvig einwärtsschwingenden Palastfronten, in den Jahren 1609-20 vollendet, im statuarischen Schmuck sich noch weit länger hinziehend, ist von bedeutender städtebaulicher Wirkung. Mit dem „Teatro dei Sole“ dieses oktagonalen Platzes, in Permanenz von der Sonne beleuchtet, Werk des Architekten Giulio Lasso, gewann die Stadt Palermo Anschluss an die im 16. Jh. erfolgte neuzeitliche städtebauliche Systematik, wie sie z. B. in Rom in der Strassenkreuzung der „Quattro Fontane“ erfolgt war, hier jedoch der gesamten Stadt eine neue Mitte gab. Jeweils in drei Achsen und drei Geschossen gegliedert, nimmt die breitere Mitte im Erdgeschoss einen Brunnen auf mit den weiblichen Statuen je einer der vier Jahreszeiten und grossen Inschrifttafeln; im Geschoss darüber die Nischenstatuen der vier spanischen Könige Karl V., Philipp II., III. und Palermo IV.; im Obergeschoss die vier Statuen der weiblichen SchutzHeiligen von Palermo: Cristina, Ninfa, Oliva und Agata. 25 Palazzo Abatellis (1953-54) Carlo Scarpa Der Palazzo Abatellis wurde zwischen 1490 und 1526 von Matteo Carnelivari erbaut; nach verschiedenen, im Laufe der Jahrhunderte erlittenen Schäden brachte 1943 eine Bombe die Loggia, den Portikus, den Südwest-Flügel und den West-Turm zum Einsturz. Der Auftrag an Scarpa erging im Anschluss an die von ihm entworfene Einrichtung der Antonello-Ausstellung in Messina und aufgrund der Empfehlung von Professor R. Calandra, der nach einem Besuch des Museo Correr die Bedeutung von Scarpas MuseumsArchitektur erkannt hatte. Nach Beendigung der Arbeiten erhielt der Architekt den Premio Nazionale für ein Werk, von dem Walter Gropius sagte: »Die beste Museums-Einrichtung, die ich jemals in meinem ganzen Leben gesehen habe.« Das Gebäude auf rechteckigem Grundriss ist ganz auf einen Innenhof mit umlaufenden Loggien ausgerichtet. Scarpa behielt den mit Flusskieseln gepflasterten Hof bei, der durch Diagonale gegliedert ist, die zu den vier Ecken und damit zu den Eingangstreppen führen. Die Fenster in der Fassade setzte Scarpa hinter das Masswerk, also in eine von den Dekorationselementen getrennte Ebene, so dass sie diese nicht stören. Aus der Notwendigkeit heraus, das Überkommene in seinem Entwurf zu respektieren, trennte Scarpa die verschiedenen Ebenen der Fensteröffnungen und der Einfassungen. Er übertrug so nach Palermo die sehr venezianische Art der Raumbehandlung mit verschiedenen, sich überlagernden Ebenen. Die ausgestellten Werke wurden so ausgewählt, dass die Räume des Museums nicht überladen wirken; die anderen sind im Magazin in eigens dafür vor26 Palermo gesehenen Ständern untergebracht, die deren Besichtigung erleichtern. Das Beeindruckendste an dieser Arbeit ist die Anordnung der Bilder und Skulpturen, ihre dreidimensionale Einrahmung. Scarpa verband in dieser Arbeit eine fast instinktive Sensibilität den Werken gegenüber, die ihn das richtige Licht, die richtigen Materialien und Farben wählen liess, mit seinem aussergewöhnlichen Formempfinden. Er liess bei der Aufstellung der Gemälde auf Trägerelemente einen Zwischenraum zwischen Stütze und Wand, so dass dort Luft zirkulieren kann, während die Leinwände so angebracht sind, dass sie bequem Untersuchungen ermöglichen. Scarpa will dem Besucher einen bestimmten Rundgang nahelegen, indem er ihn dazu bringt, bei den Objekten zu verweilen, die er für wichtig hält. Dies gelingt ihm, indem er auch den lustlosesten Besucher motiviert, ihn anlockt, seine Neugier weckt, ihn um eine Skulptur herumführt und ihn veranlasst, ein Bild zu drehen, um es im besten licht zu sehen. Eine neue freitragende Innentreppe, deren Steinstufen in sechseckigem Zuschnitt auf einer Eisenwange aufliegen, verbindet das Erdgeschoss mit der ursprünglichen Haupttreppe, die zum ersten Stock führt. Der Palazzo Abatellis ist ein Beispiel für architektonische Poesie und gleichzeitig für die Umsetzung grosser kritischer Urteilskraft. Die Architektur übernimmt eine kritische Rolle; Ihre Fähigkeit, die ausgestellten Kunstwerke durch die Repräsentationsweise zu interpretieren, ist eine besonders originelle Form der Kunstkritik. 27 Quartiere ZEN 2 (zona espansione nord) 1969 V. Gregotti, F. Amoroso, S. Bisogni, H. Matsui, F. Purini Dopo Palazzo Abatellis, immersi nel quartiere della Kalsa, è opportuno ampliare lo sguardo e aggiungere alla lettura del palazzo del Carnilivari, che introduce alla comprensione del centro storico, due architetture progettate alla fine degli anni 60, che trovano la loro ragion d‘essere nel confronto con il territorio urbano, estesosi ben oltre il recinto della città murata. Due architetture che, a partire dal dialogo con la geografia, intesa come il modo di essere fisico della storia, sviluppano il loro principio insediativo. Protagonista di queste due opere è Vittorio Gregotti che progetta con Gino Pollini, a Parco d‘Orléans, i Dipartimenti di Scienze dell‘Università degli Studi di Palermo e con Franco Amoroso, Salvatore Bisogni, Hiromichi Matsui, Franco Purini, nella parte piu a nord della cosiddetta Piana dei Colli, il quartiere ZEN 2. La lettura dei Dipartimenti e dello ZEN 2, inserita successivamente alla visita nel centro storico e ad una indispensabile sequenza di prospettive colte dai tornanti che si inerpicano su Monte Pellegrino, amplia lo sguardo sull‘intera città facendo cogliere le qualità morfologiche della nuova dimensione urbana. I due interventi, concepiti ad un anno di distanza l‘uno dall‘altro, e a quindici anni dal lavoro di Scarpa, introducono nell‘ ambito palermitano temi di ricerca progettuale assolutamente innovativi, iniziando a concretizzare quel „punto di flesso“ della cultura architettonica italiana attenta ad enucleare «le questioni connesse alla relazione tra oggetto e contesto». Entrambe le architetture, accomunate da una 28 Palermo forte caratterizzazione ideologica, hanno avuto una diversa fortuna critica. Mentre il tema del quartiere di edilizia residenziale pubblica, in auge in Europa fra le due guerre e in Italia nel secondo dopoguerra, registrava alla fine degli anni 60 l‘ultimo momento di grande attenzione, per poi essere quasi completamente dimenticato, all‘ opposto il tema dell‘università resterà, almeno per tutti gli anni 70 e 80 al centro dell‘ attenzione disciplinare. Questa condizione ha fatto SI che lo ZEN 2, a parte i commenti dei primi anni 70, restasse come isolato, trascurato, in balia di chi, additandolo a capro espiatorio delle insufficienze dell‘ architettura contemporanea, ha preferito mistificare e nascondere responsabilità precise, in buona parte gravanti sulla sfera politica ed amministrativa, riversandole esclusivamente sulle spalle dei progettisti. Fatta questa premessa, si può svelare l‘essenza del progetto dei Dipartimenti, partendo da alcune considerazioni suggerite da un dipinto della metà del Settecento: Veduta della città di Palermo a volo d‘uccello da Boccadzfalco di Juan Ruiz. li quadro contiene un nucleo di verità indispensabili nel mettere a fuoco quelle riflessioni sulle interazioni tra architettura e luogo su cui si fondano i Dipartimenti di Gregotti e Pollini (hanno fatto parte del gruppo di progettazione Spartaco Azzola e Hiromichi Matsui). Nella prospettiva di Ruiz è facilmente rintracciabile, quasi centralmente, Porta Nuova trafitta dall‘asse Cassaro-Strada Colonna (gli odierni corso Vittorio Emanuele e Calatafimi), poco piu a destra la traccia del fiume Oreto, sullo sfondo la città murata e lo spettacolare golfo commentato dall‘ ampia distesa verde della piana. Dalla tela si possono estrapolare alcune caratteristiche insediative dell‘ architettura extra-moenia che sembrano, a distanza di piu di due secoli, rintracciabili nei Dipartimenti. I piccoli oggetti, dispersi fuori le mura, segnano alcuni incroci fondamentali, presidiano le direzioni della futura espansione proponendosi come fulcri delle nuove borgate, senza mai confondersi con il paesaggio agreste. Essi sembrano prismi centrifugati ed espulsi dal cuore urbano per svolgere una premeditata azione pianificatrice. Con questi volumi dalla stereometria perfetta i Dipartimenti stabiliscono un rapporto fortissimo compiendo a posteriori, rispetto all‘ espansione, un‘azione complementare tendente a rasserenare ciò che del nuovo mondo urbano è sfuggito al controllo dei „piccoli oggetti“ dipinti da Ruiz. Il progetto, quindi, sembra fondarsi su una necessità di ordine rispetto al contesto piu vicino e disgregato della città nuova, e sulla volontà di riapprezzare, con una traccia chiara, la ricchezza della condizione geografica che tanto affascinava lo stesso Pollini. Tralasciando l‘immagine dell‘intera Piana ed approssimandosi al Parco d‘Orléans (compreso nel dipinto settecentesco tra l‘alveo dell‘Oreto e il solco del corso Calatafimi), caratterizzato nella parte terminale dalla Fossa della Garofala da cui sgorgava il fiume Kemonia 17, sarà possibile capire come hanno preso forma quelle motivazioni geografiche ed urbane nell‘ architettura di Gregotti e Pollini. Nel passaggio dall‘immagine pittorica alla realtà è opportuno precisare gli attuali confini del Parco, e riflettere sulle relazio- ni stabilite dalle nuove facoltà realizzate, al suo interno, dagli anni 50 in poi. Come primo limite va ricordato, a nord, il tracciato della via Altofonte, che ricalca il letto del Kemonia, ad est la villa d‘Aci-Orléans e la via Brasa, a sud la via Basile e ad ovest la circonvallazione che taglia il perimetro fusiforme del Parco prima che questo si sia richiuso. All‘interno di quest‘ area a losanga, che sembra incunearsi nel tessuto del centro storico, è evidente il solco di Viale delle Scienze sui bordi del quale, spesso con casualità rispetto alla sua giacitura geometrica, hanno preso forma le nuove sedi accademiche. All‘ opposto i Dipartimenti di Scienze, sorti come testata conclusiva dell‘insediamento universitario, accolgono l‘assialità del percorso valorizzandolo come radice del proprio principio insediativo. Dalla corrispondenza stradaarchitettura nasce il sistema delle piazze che segue i diversi livelli del terreno valorizzando con la sua forma la flessuosa incisione della Fossa. Su questo sistema, colonna vertebrale dell‘intero progetto, si attestano, oltre ai volumi realizzati di Biologia, Chimica e Fisica, le residenze universitarie (poste sul margine della Fossa della Garofala) e i corpi di fabbrica di Matematica e Geologia, che avrebbero definito il margine di ponente componendosi con il fondale della corona di alti colli, elemento determinante nella geografia di Palermo. L‘organismo architettonico fondato sulla esaltazione dello spazio pubblico e collettivo degli studenti, comprendente anche un teatro all‘aperto, ricavato nel dislivello del terreno, e una ampia serie di servizi a scala urbana, nasce, quindi, come fulcro di un nuovo rapporto università-città. 29 Quartiere ZEN (zona espansione nord) 1969 Con le motivazioni urbane che propongono i Dipartimenti come « ... cellula simbolica di una città futura del l‘immaginazione e della libertà sociale al potere» si fondono gli studi di Gregotti sulla geografia, «intesa come il modo di descrivere il solidificarsi e sovrapporsi dei segni della storia in una forma», già espressi nelle riflessioni de Il territorio dell‘architettura, ed ulteriormente esplicita ti, insieme ad altri temi progettuali, ne La città visibile. Fra i principi che il progettista espone, in quest‘ultima pubblicazione, è indispensabile richiamare almeno «l‘applicazione del principio dei recinti e dei loro nessi di congiunzione come fondamenti della struttura urbana». « ... Atto di architettura per eccellenza, il recinto è ciò che stabilisce un rapporto specifico con un luogo specifico ed insieme il principio di insediamento con il quale un gruppo umano propone il proprio rapporto con la natura cosmo. Ma anche il recinto è la forma della cosa, il modo con cui essa si presenta al mondo esterno, con cui essa si rivela». Come si rivelano i Dipartimenti? Quale rapporto specifico stabiliscono con il luogo? In quale relazione stanno i molteplici interni con la chiara ed univoca sagoma esterna? Se la risposta alla seconda domanda ha, di fatto, costituito lo spunto di partenza di questo scritto, è necessario, contemporaneamente, conoscere da una descrizione piu attenta come il principio dei recinti, e gli altri temi progettuali, hanno influenzato gli spazi dell‘ architettura. Evidente è il valore di limite che assume la veste grigia con cui i Dipartimenti emergono dal suolo, costruendo il diaframma fra la parte urbanizzata, del complesso universitario, e quella terminale del Parco. Tra i lunghi «spalti di fortezza», larghi 3,60 m, trovano posto tra sversalmente gli spazi dei Dipartimenti di Biologia, Chimica e Fisica ognuno dei quali « ... è costituito da due corpi tra loro collegati, uno essenzialmente dedicato alla didattica dei corsi preparatori ed uno alla ricerca e allo sviluppo didattico degli studi avanzati. Ciascuno di questi corpi si sviluppa su due piani, oltre ad un piano interrato di parcheggi e servizi, ed è fondato su un modulo base strutturale e di impianti di 7,20 x 7,20 m». Le tre piazze costituiscono sia lo strumento di cònnessione tra strada e architettura e tra architettura e città, sia il punto di vista privilegiato dal quale apprezzare e coniugare il paesaggio degli alti colli con quello architettonico nascosto dietro gli spalti di fortezza. Infatti, oltrepassando le lunghe quinte grigie ci si accorge come la «fabbrica per studiare» celi all‘interno una ricchezza spaziale dall‘ esterno assolutamente inimmaginabile. Nel passaggio da esterno a interno si possono mettere in luce altre fondamentali componenti dell‘architettura descrivibile, altrimenti, facendo riferimento al solo rigore insediativo e al tono duro dell‘architettura industriale richiamato da Pierluigi Nicolin. Valicare i murifacciata obbliga, invece, a prendere coscienza della miscela delle influenze fra i due progettisti. La contrapposizione fra esterni austeri e ricchezza spaziale degli interni, tipica dell‘atteggiamento progettuale di Gregotti, viene precisata ed esaltata dalla griglia strutturale (prefabbricata e precompressa) che diventa fattore linguistico determinante degli spazi della ricerca e della didattica. 30 Si deve ricordare come il tema dell‘ approfondimento strutturale emerga dalla ricerca di Figini e Pollini sin dal tempo dei progetti concorsuali per il Palazzo del Littorio (1934) e per le scuole di Brera (1935), forse piu che dalla raffinata interpretazione data da Gregotti alla lezione di Perret. I Dipartimenti, allora, si possono descrivere come momento di sintesi fra il metodo razionale di Pollini, che esalta il valore spaziale della struttura, e quella tensione verso una „irraggiungibile obiettività“ che Gregotti eredita da Perret. A questo impianto di principi e forme si devono aggiungere altri due temi che contribuiscono a determinare la ricchezza degli interni: la luce e il gioco delle trasparenze. Tutto il progetto in realtà sembra essere influenzato dalla luce, anche se l‘aspetto ancora disadorno delle piazze porta a scoprirlo solo dopo aver oltrepassato la soglia tra esterno ed interno. Le piazze dovrebbero distinguersi per il peculiare rapporto che ognuna di esse intrattiene con la luce. Come ha notato Nicolin «la prima, alla quota piu bassa, ha le ombre geometriche delle forme in cemento che si staccheranno sul pavimento assolato; nella seconda i recinti di terra consentiranno ad una piantagione di lecci di formare l‘ombra vegetale di un pergolato; la terza, alla quota piu alta, sarà arricchita dalle riflessioni di uno specchio d‘acqua». Quest‘ultima immagine richiama temi cari sia alla progettazione islamica sia a quella di Mies van der Rohe. Proprio Mies, maestro delle trasparenze, può offrire una ulteriore chiave di lettura per svelare le qualità degli interni. L‘eco proveniente dalle cristalline composizioni del Maestro del less is more, abile come pochi ad intersecare, con velature e trasparenze, spazi interni ed esterni, agisce complementarmente a quella derivante dalla spazialità delle Carceri piranesiane o a quella, piu vicina e non meno suggestiva, dell‘Archivio Storico Comunale di Palermo di Giuseppe Damiani Almeyda. La essenzialità dello skyline della sagoma esterna si frantuma nelle infinite prospettive offerte dalla sezione, sottolineate e moltiplicate dalla luminosità che si diffonde dai lucernai. Ma alla sezione che taglia trasversalmente le insulae non bisogna sacrificare quelle che dall‘interno guardano gli horti conclusi recintati dai corpi della didattica e della ricerca e dai lunghi spalti grigi. Questi spazi, tra interno ed esterno, inquadrati dalle grandi vetrate miesiane, insieme alla qualità della luce zenitale, sembrano recuperare, con tutte le differenze di scala, alcune basilari esperienze di Figini e Pollini, dalla villa studio per un artista alla V Triennale di Milano (1933), all‘Asilo Nido al Borgo Olivetti a Ivrea (1939-40). Tutti episodi che rivivono a Palermo, risplendendo nella memoria, accesi da una reale e calda luce mediterranea. La definizione del principio insediativo dei Dipartimenti costituisce l‘indispensabile premessa per capire il radicamento architettura-territorio del quartiere ZEN 2. Come la „fabbrica per studiare“ si relaziona al Viale delle Scienze COSI il quartiere si fonda sul prolungamento, previsto dal Piano Regolatore Generale del 1962 e mai realizzato, di via Libertà. Il rapportarsi alla continuazione dell‘asse concretizza una prossimità fisica e spaziale con la città e, nello stesso tempo, àncora il nuovo insediamento ad una geometria non casuale, generata da una filiazione diretta del tracciato Oreto- Ma- queda - Ruggero Settimo-Libertà che segna la planimetria di Palermo da sud a nord. Questa scelta potrebbe essere inclusa come la prima „negazione“ fra quelle enucleate nel primo paragrafo della relazione di progetto, „struttura dell‘immagine“. Negazione rispetto alla casualità con cui molti quartieri di edilizia economica e popolare si ponevano rispetto al territorio e, negazione, nel caso specifico, nei confronti dell‘ ingiustificata disposizione planimetrica del primo nucleo del quartiere (ZEN 1) che non stabilisce alcun tipo di relazione né con la trama piu minuta delle vicine borgate di Pallavicino, Partanna e Cardillo, né con la struttura morfologica della città. La matrice dell‘immagine del quartiere di Amoroso, Bisogni, Gregotti, Matsui e Purini, è la natura compatta della città mediterranea. «Non tanto la dimensione empirica dell‘insediamento murato medievale, difeso verso l‘esterno, quanto piuttosto nell‘ accezione dello stretto rapporto tra suddivisione agricola del terreno e costruito, tra il segno semplicissimo (del quadrato e del rettangolo) immediatamente ricostruibile e la complessità della crescita interna». Questa matrice morfologica spinge a leggere in maniera differente la similitudine imposta dai documentari televisivi, fra le insulae, a volte bruciate o abbandonate, del quartiere e alcuni luoghi sfiniti e degradati del centro storico. Ma associare lo ZEN 2 ad un centro storico spettrale fa cogliere, indipendentemente dalla volontà dei giornalisti, ed inizialmente soltanto per la relazione esistente fra immagini negative, una verità di fondo che evidenzia un‘analogia fra il quartiere di edilizia popolare e il nucleo storico palermitano. L‘affinità, apparentemente indimostrabile, esiste e si di svela con forza, se non ci si accontenta, allo ZEN 2, di passeggiare all‘ esterno, lungo i muri perimetrali delle insulae e, nel centro storico, lungo i due assi, Maqueda e corso Vittorio Emanuele1 che, incrociandosi nel 1600, hanno diviso la città murata in quattro mandamenti. li tessuto interno di ogni mandamento, formato da spazi nati da necessità concrete, vicoli, piccole e grandi corti, in cui si stabiliva e si rafforzava la solidarietà fra gli uomini, è come racchiuso da una città ufficiale, la cosiddetta quinta città, di cui ha scritto Edoardo Caracciolo, che ha il suo tesoro piu prezioso nella piazza Vigliena. A questa „ufficialità“ del centro storico corrisponde, nel quartiere ZEN 2, la chiarezza di impianto e alla vitalità dei mandamenti va associata la „domesticità“ degli interni pubblici delle insulae. Per capire queste analogie bisogna superare le prove comparative proposte da Pasquale Lovero ed entrare in un‘ insula, occupata dai regolari assegnatari, per verificare come all‘austera geometria dell‘impianto planimetrico faccia da contraltare una vita interna tutt‘ altro che rarefatta e formale. Solo COSI è possibile scoprire le peculiarità di un progetto, attento alle qualità private dell‘ alloggio ma soprattutto proteso ad affermare l‘importanza della vita in comune che viene esaltata utilizzando come riferimento quel tessuto minuto di vie e di cortili che sono l‘essenza della città murata. Si tratta di un progetto per certi versi rivoluzionario rispetto alle altre proposte presentate al concorso bandito dallo IACP di Palermo nel 1970 ma, pur sempre, di un frutto ancora acerbo che presenta qualche comprensibile asprezza. Fra queste, comunque, sarebbe un grave errore includere la ripresa dell‘isolato come una eredità ottocentesca accolta per moda e subita con passività. L‘isolato nello ZEN 2 rinasce dopo l‘attento studio delle acute interpretazioni fatte in Olanda da Brinkman allo Spangen, da Oud nel Tusschendijken, COSI come la strada, riproposta in tutte le sue accezioni, viene riscoperta dopo il ventaglio di possibilità mostrato ed offerto da Le Corbusier nelle sue estenuanti ricerche sull‘ abitare. I riferimenti moderni, tuttavia, possono spiegare parte del progetto e mai potranno costruire l‘intero retroterra culturale che si basa su una conoscenza profonda degli spazi storici della città che sono stati letti, interpretati, e nello stesso tempo riproposti con distanza critica. F atte queste brevi considerazioni sulle misconosciute qualità dell‘insediamento di edilizia economica e popolare, è obbligatorio riferirsi all‘ attuale condizione della Piana dei Colli. Oggi, a venticinque anni di distanza dal progetto originario, le scelte del gruppo Gregotti si stagliano con chiarezza e la forte caratterizzazione formale, piu che isolarlo, consente al quartiere di conferire identità ad un insieme urbanizzato che va ben oltre i suoi limiti fisici. La sigla ZEN infatti può indicare, in senso metonimico, l‘intera parte nord della Piana che, COSI, si identifica con l‘ultimo frammento di città che si contrappone alla frantumazione del territorio provocata dalla serie infinita di tristissimi recinti privati. ZEN 2 e Dipartimenti, basati su un rapporto intenso con il luogo e con la storia della città, si propongono, a loro volta, come indizi di due itinerari alternativi. Lo ZEN 2 può essere utilizzato come termine di paragone implicito con cui confrontare, a posteriori, due prece denti quartieri palermitani di edilizia residenziale pubblica, entrambi della metà degli anni 50, ma programmaticamente opposti nella loro formulazione progettuale: Borgo Ulivia e Borgo Nuovo e il successivo Complesso di edilizia residenziale pubblica ed attrezzature sociali di Villabate. I Dipartimenti, invece, possono essere visti come la prima tappa del lavoro di Gino Pollini a Palermo, che, dopo Parco d‘Orléans, si è impegnato, tra il 1974 e il 1978, a coordinare la parziale ristrutturazione interna della Facoltà di Architettura di via Maqueda. 31 Ristsrutturazione della Facoltà di Architettura via Maqueda n. 175 Architekt: Gino Pollini Il progetto coordinato da Gino Pollini, nonostante le difficoltà realizzative esposte da Marcello Panzarella in una prima presentazione dei lavori33, concretizza la scelta di stabilire un rapporto organico tra alcuni nuovi collegamenti verticali, il rifacimento di alcune aule e il preesistente e pluristratificato complesso architettonico, in altre parole tra «l‘insieme di edifici» che costituisce la Facoltà e le esigenze che quest‘ultima comporta. «La natura del complesso è particolare: si tratta di un‘ aggregazione di edifici tra via Maqueda, via Calderai, vicolo Bellini e piazza Bellini, una stratificazione frutto di piu di duemila anni di storia, a ridosso delle mura puniche e del letto coperto del fiume Kemonia. Ne fanno parte un convento seisettecentesco, resti della cosiddetta casa Martorana, di epoca normanna, e addizioni ottocentesche, anche se non mancano testimonianze e reperti di numerose altre epoche storiche. A questa natura particolare, somma di tante stratificazioni, si aggiunge il progetto contemporaneo guidato da uno dei maestri del razionalismo italiano, che coordina e progetta direttamente alcuni episodi della ristrutturazione. Fra i momenti piu significativi vanno ricordati l‘intervento dello stesso Pollini nell‘ Aula Magna, in collaborazione con Tilde Marra e Giuseppe Laudicina, quello di Anna Maria Fundarò, e le due scale, una di Pasquale Culotta e Giuseppe Leone, l‘altra dello stesso Pollini, che rispondono al tema 32 Palermo funzionale valorizzando le relazioni fra i livelli diversi. Pasquale Culotta, nel suo scritto sull‘ esperienza di Pollini a Palermo, coglie, soprattutto nella trasformazione dell‘aula magna, quella tensione poetica che ha animato tutta la ricerca architettonica del maestro razionalista. Per Culotta infatti, « ... il caposaldo dell‘intervento di Pollini rimane l‘architettura dell‘ aula magna. Trasforma un‘ anonima, grande aula rettangolare, controsoffittata con un incannucciato piano, con una sola porta di accesso su una manica di corridoio, in un luogo che riassume progettualmente tutti i temi spaziali e architettonici esplorati e contenuti nell‘intero organismo. Pollini scopre che il controsoffitto nasconde un tetto a due falde a capriate di legno e decide di progettare l‘aula magna, mettendo a nudo il tetto di legno e aprendo una parete con una grande finestra a nastro, per leggere la complessità dei percorsi esterni, e di modo che dalle quote piu alte si possa avere una vista sull‘ aula magna e viceversa. Nella copertura Pollini opera una interessante invenzione. Fa disporre un tavolato a doghe per nascondere l‘orditura secondaria del tetto, tessendolo secondo la direzione del puntone della capriata e fa dipingere con il carbolineum con tinta che vira sul nero - sia il tavolato sia le capriate. In questo dettaglio, in cui colgo la chiave della sottile procedura progettuale seguita da Pollini, il maestro fa emergere la sua ricerca poetica della forma, alta espressione della costruzione dello spazio, non vincolata dalla natura dei materiali o di una scontata tecnologia ma resa significativa dal „senso“ conferitole dall‘ autore dell‘ opera». In sintonia con la tensione poetica espressa da Pollini, è l‘intervento di Anna Maria Fundarò che ha ricomposto alcuni degli spazi didattici intorno all‘ Aula Magna. Il progetto, in particolar modo, ha saputo risolvere con eleganza molti dei problemi posti dalla difficile coesistenza, in un volume articolato, fra aule e spazi di distribuzione. Nel disegno dei tompagni, che dividono le une dagli altri, l‘architetto Fundarò è riuscita, con calibrati tagli, a preservare l‘intimità della didattica e ad illuminare il percorso che si avvolge alle spalle dell‘ Aula Magna. Questo duplice obiettivo è stato raggiunto costruendo anche alcuni interessanti squarci prospettici in cui confluiscono entrambi gli ambienti. Culotta e Leone utilizzano il tema della scala per ridefinire, in pianta, la geometria del vestibolo d‘ingresso successivo al cortile della casa Martorana e, al piano d‘arrivo, per organizzare lo spazio che divide l‘ingresso posteriore dell‘ Aula Magna da quello dell‘Istituto di Disegno Industriale. La chiarezza della soluzione planimetrica viene confermata dalla sezione verticale in cui la scala ritaglia uno spazio a doppia altezza all‘interno del quale interagiscono gli sguardi di chi proviene dalle rampe con quelli di chi sosta nella zona di arrivo e di partenza della scala. La scala di Pollini, a cui si accede da uno spazio che precede il cortile Martorana, è, per gli studenti, pur nella sua semplicità, un punto di riferimento certo per orientarsi nella ricchezza spaziale e di percorsi che caratterizza la Facoltà di via Maqueda. L‘immagine della scala ritagliata all‘interno dell‘arco si staglia nella memoria di ogni allievo che scopre poi, nel corso degli anni, che il suo punto di riferimento è una lezione di architettura, Poche ma incisive scelte caratterizzano il progetto che spiega, forse piu di intere architetture, come la ricerca della semplicità sia un percorso arduo che solo illindore del risultato finale spinge a considerare facile. L‘intradosso che segue l‘andamento dei gradini, il fluido tubo metallico che accompagna nella sua salita ogni piccolo movimento della scala, le aperture che re1azionano, prospetticamente, il percorso con il prossimo e verdeggiante cortile delle Palme, sono alcune delle caratteristiche dell‘intervento di Pollini, che ha il suo vertice nel nuovo valore figurativo attribuito all‘arco. Questo viene trasformato da necessario elemento strutturale della vecchia macchina architettonica a indispensabile strumento formale del nuovo progetto. Il suo profilo viene esaltato dalla presenza di alcuni gradini che il progettista „spinge“ al suo interno denunciando, dal confronto degli spessori, come la leggerezza dell‘intervento moderno possa convivere con la possente dimensione della vecchia struttura. 33 Edificio Sges via Marchese di Villabianca n. 121 Architekten: Giuseppe Samonà, Alberto Samonà, Giuseppina Marcialis Samonà Da quest‘ultimo intervento di edilizia residenziale pubblica prende l‘avvio la riflessione sull‘ attività di Giuseppe Samonà a Palermo. Dalla villa Scimemi (1950), che precede l‘esperienza di Borgo Ulivia, al Piano Programma (1978-81) si può tracciare, all‘ interno dell‘ itinerario principale, un percorso speciale compiuto da uno dei protagonisti dell‘architettura italiana del XX secolo. Tra la lezione wrigthiana recepita ed espressa con sicurezza nella villa a Mondello e le proposte del Piano Programma dei primi anni Ottanta, il Direttore dello IUAV realizza, in collaborazione con Alberto Samonà e con Giuseppina Marcialis Samonà, una delle architetture piu significative della sua carriera: la sede della SGES, oggi ENEL, in via Marchese di Villabianca. Per comprendere a fondo le ragioni di quest‘opera, il cui primo progetto è del 1953, il secondo del 1955, mentre l‘esecuzione va dal 1961 al 1963, si dovrebbero, anche se solo en passant, ricordare alcuni di quei progetti elaborati e realizzati tra i primi anni 50 e gli anni 60, a distanza di poco tempo l‘uno dall‘altro. L‘Ospedale di Bari (1948-53), la sede dell‘ INAIL a San Simeone a Venezia (1952-56), la villa Scimemi (195054), gli isolati della Palazzata di Messina (VI-1956, IV1958, 34 Palermo IX-1959), l‘insieme delle esperienze dei quartieri di edilizia economica e popolare realizzati tra il 1951 e il 1959, sia in Veneto che in Sicilia, dimostrano come le diverse espressioni formali siano sempre in relazione al piu coerente rispetto delle caratteristiche urbane. Queste, ad esempio, vengono rimarcate nell‘edificio della SGES di Palermo, come in molti isolati della Palazzata e nella sede INAIL a San Simeone, quando Samonà, dall‘incredibile miscela di rimandi che vanno da Wright a Mies, da Terragni a Le Corbusier, nel «suo „comporre“ che procede assoggettando frammenti, fa prevalere la lezione di Perret. In particolar modo, la sede della SGES di Palermo stabilisce con l‘INAIL di Venezia dei legami molto forti che vanno indagati sia sul piano linguistico che su quello urbanistico. Infatti le sedi della SGES e dell‘INAIL possono essere utilizzate sia da un punto di vista compositivo, per esemplificare una interpretazione del principio della verità strutturale, promossa da Viollet le Duc, sia da quello urbano, per capire che importanza avesse scegliere come riferimento privilegiato, tra la fine degli anni 40 e i primi anni 50, il linguaggio di Auguste Perret. Questo implicava una attenta valutazione degli elementi dello spazio urbano tradizionale (strada, piazza, lotto, isolato, monumento) riproposti, dal maestro francese, nella ricostruzione di Le Havre. Ad emergere, quindi, al di là delle infinite scomposizioni linguistiche presenti in qualsiasi opera di Giuseppe Samonà, sono le motivazioni urbanistiche che indirizzano le scelte formali dell‘ architettura. Se quindi per le partiture verticali, per il gioco tra il posizionamento dell‘infisso e lo spessore della struttura si possono recuperare alcuni dei commenti fatti da Vittorio Gregotti per l‘INAIL di Venezia e precedentemente da Francesco Tentori per l‘isolato IX di Messina, edifici accomunati dal riferimento al poeta del abri souverain, a queste letture bisogna aggiungere, per la sede SGES, un‘annotazione che tenga conto sia dell‘eleganza con cui Samonà procede fra i suoi frammenti, sia del complesso di relazioni che stabilisce tra la sua architettura e la città. Per l‘edificio di via Marchese di Villabianca, però, si sono chiamati in causa molti dei cosiddetti Maestri del Movimento Moderno, facendo sorgere immediata una domanda: come si può affermare che esiste una intima coerenza nella ricerca di Samonà, che fa leva sulle motivazioni urbane, quando questi fa convivere nelle sue architetture linguaggi che derivano da un retroterra culturale diverso e che spesso approdano a formulazioni urbane opposte? Come si fa, in altre parole, a far convivere Le Havre con Broadacre City e queste con la provocatoria Ville Radieuse? Tutto si spiega facendo emergere il modo in cui l‘architetto palermitano aveva interpretato l‘ideologia dell‘ avanguardia da cui derivavano molte delle proposte urbane che Samonà non condivideva affatto. Significativa e chiarificatrice, a questo proposito, è l‘interpretazione data da Tafuri sul particolare assorbimento da parte del Direttore dello IUAV della lezione di Le Corbusier. «Non a caso, il Le Corbusier che interessa Samonà in questi anni (e anche dopo) non è l‘autore del Pian Obus per Algeri, né l‘infaticabile polemista, né colui che cerca nuovi ruoli per il lavoro intellettuale‘ scontrandosi con le piu varie resistenze istituzionali. Nasce ora, si può dire, non tanto l‘ostilità, quanto la piu totale estraneità di Samonà per ogni forma di „avanguardia“. Il Le Corbusier su cui Samonà riflette, non permettendosi di far trapelare ancora i frutti di tale difficile assorbimento, è quello che si presenta, a sua volta, come erede del monumentalismo cubista: l‘interprete di una sintesi formale „senza tempo“, metafisica, sospesa nella contemplazione del „miracolo“ dei propri astratti equilibri. Senza averne compiuta coscienza, Samonà stava compiendo una spietata critica dell‘ideologia dell‘avanguardia. Decantandone e facendone precipitare le valenze utopiche, egli la riduceva a linguaggio puro: vale a dire, dato il contesto in cui operava, a sistema di segni svuotato di senso. Allo stesso modo Samonà, fedele alla tradizione europea, aveva rifiutato il modello urbano proposto dall‘ architettura organica, pur apprezzandone, a livello architettonico, « ... la forza di espressione e la capacità di rinnovamento». Per le ragioni sopraesposte non sorprende, nell‘osservare il prospetto della SGES su via Autonomia Siciliana, vedere come il tema dei pilotìs, espressi con una forte matericità, possano convivere sia con le striature orizzontali del corposcala cilindrico sia con le perrettiane aperture verticali che contraddistinguono tutto il volume. Ai segni derivanti dalle ricerche del vecchio continente si aggiunge, alla base del corposcala, una finestra a losanga, matrice geometrica di tante composizioni wrightiane, che contamina e corrode, insieme ai piccoli scarti delle aperture orizzontali, il volume cilindrico. Sempre questo prospetto consente a Samonà di recuperare il tema della smaterializzazione del pian terreno, argomento progettuale che si concretizza per la prima volta nel Palazzo postale al quartiere Appio a Roma del 1934 e che viene espresso con maggiore enfasi nell‘edificio ANAS, sempre a Palermo, del 1965, ed in modo emblematico nella proposta per la nuova sede degli uffici della Camera dei Deputati a Roma del 1967. Nel prospetto su via De Cosmi, invece, vengono riletti alcuni passaggi di due fra le piu elitarie ricerche del XX secolo: quella di Mies van der Rohe, nel volume che accoglie il pubblico, e quella di Giuseppe Terragni nel blocco che serra l‘angolo con la via Maggiore Toselli. Quest‘ultimo, che sembra nato dalla reiterazione di una porzione di uno dei „cinque“ prospetti della Casa del Fascio a Como, probabilmente quello su via M. Bianchi, si accosta con eleganza all‘intelaiatura metallica dell‘ architettura miesiana. Le velature del vetro cemento incorniciate dai telai in beton brut, del corpo ad angolo tra la via Toselli e la via De Cosmi, si propongono sia come sfondo di un ipotetico padiglione del M.LT., che ritrova nella Magna Grecia il suo originale archetipo, sia come interpretazione del tema della trasparenza caro all‘ artista del less is more e al piu importante architetto italiano fra le due guerre. „Contaminazioni e sovrapposizioni“: questi sembrano essere in sintesi i soggetti compositivi esplorati da Samonà nella sede della SGES, che, comunque, non dimentica in questo suo „vagare tra i linguaggi della tradizione“ di commentare la specifica condizione di contesto. Infatti i volumi sottolineano con le loro altezze la diversa ampiezza delle strade e affrontano, in modo del tutto innovativo, il rapporto stabilito tra il ventre del lotto e la strada. Questa connessione non è piu mediata, sul filo della via Marchese di Villabianca, da un paramento oltre il quale scoprire, come nel centro storico, la corte. Alla sorpresa implicita nella tipologia storica i progettisti hanno preferito uno spazio che si denunciasse subito, proponendo un piccolo giardino appartenente tanto all‘architettura quanto alla città. Tale scelta riformula la soglia fra isolato e struttura urbana e trova una risposta al diverso rapporto, sempre piu ottico e meno tattile, tra uomo e architettura, che si stabilisce in un contesto profondamente diverso da quello del nucleo antico. Il giardino, quindi, che si offre alla città senza restare racchiuso in una corte privata sembrerebbe riproporre il principio, tipico nella ricerca funzionalista, del rifiuto dell‘isolato chiuso ma, in realtà, trova fondamento anche nella ripresa della tradizione palermitana di fine Ottocento, che si era caratterizzata nel completare la via Libertà con due preziosi giardini. 35 Banca Commerciale Italiana via Mariano Stabile n. 152 Architekten: BBPR (Gian Luigi Banfi, Ludovico Barbiano di Belgiojoso, Enrico Peressutti, Ernesto Nathan Rogers Coetanee delle opere di Samonà sono quelle realizzate dai BBPR53 e quelle appartenenti al progettista palermitano Leonardo Foderà. Se per Giuseppe Samonà il richiamo, almeno in una fase della sua esperienza progettuale, a Perret è un dato certo, per descrivere l‘esperienza palermitana dei BBPR non è superfluo dire che questa sembra essere tesa fra due poli apparentemente opposti: da una parte il „principio del rivestimento“, che ha la sua prima formulazione nell‘ opera teorica e progettuale di Gottfried Semper, dall‘ altra la sincerità strutturale derivata dalla lezione di Viollet le Due. Iniziando dall‘edificio della Banca Commerciale Italiana (1962-65) di via Mariano Stabil‘e si motiva il rimando al Prinzip der Bekleidung perché quest‘edificio ricorda la poetica wagneriana della Plattenverkleidung, utilizzata dall‘architetto austriaco, con varie declinazioni, in numerose architetture. Sulla facciata i leggerissimi aggetti segnano progressivamente la distinzione tra basamento e paramento; ed è proprio questa parte a presentare i pannelli marmorei che lasciano intravedere, nello spessore degli interstizi compresi tra lastra e lastra, un piano di facciata leggermente arretrato che costituisce il supporto, l‘ordito, su cui si disegna la trama. 36 Palermo I piccoli scarti che distinguono la composizione sono frutto di una tensione che, seppur imbrigliata dal rispetto della morfologia dell‘intero isolato, spinge verso l‘esterno. L‘avanzamento del prospetto, è un tema ricorrente nelle realizzazioni urbane dei BBPR, i cui casi piu significativi sono: l‘edificio per uffici e abitazioni tra piazza Statuto e corso Francia a Torino (1959), e con ancor maggiore enfasi, la convessità che caratterizza l‘edificio per uffici e sala d‘esposizione per la Hispano Olivetti a Barcellona (1964). In via Mariano Stabile il basamento è leggermente arretrato rispetto al paramento ed include, oltre all‘ingresso, un primo ordine di finestre. il passaggio tra interno ed esterno è definito spazialmente da due pareti curve fascianti una breve rampa di scalini che introduce il cliente in una vasta e luminosa sala rettangolare. Sarebbe spropositato richiamare la Postparkasse ma l‘attenzione ai valori della superficie, tipica della Wagnerschule, è testimoniata anche da altre scelte che caratterizzano la spazialità interna. Questa tensione figurativa è esaltata nella parete concava della scala che collega, attraverso lo spazio della grande sala, il piano seminterrato al primo piano, e nel rivestimento floreale di Renato Guttuso (con il quale i BBPR avevano già collaborato nel 1935 quando realizzarono la Sala della Tecnica Sportiva) che cromaticamente, per contra· sto, esalta la tonalità bianca del grande invaso a scala urbana. Edificio del Giornale di Sicilia via A. Lincoln n. 21 Architekten: BBPR (Gian Luigi Banfi, Ludovico Barbiano di Belgiojoso, Enrico Peressutti, Ernesto Nathan Rogers Diverso, forse opposto, è il tema sviluppato nel complesso edificio del Giornale di Sicilia di via Lincoln55 (1966). Le differenze vanno cercate al di là delle specificità funzionali che possono distinguere due distinte progettazioni. Il Palazzo del Giornale di Sicilia, di fronte l‘Orto Botanico, a pochi metri dalla Porta Reale e dal grande complesso della Kalsa, si differenzia da tutte le altre architetture palermitane dei BBPR perché, piu che i temi compositivi legati alla superficie, che accomunano la Banca e il successivo Palazzo Amoroso, si inserisce in quel filone di ricerca che ha la sua origine nella casa in Rue Franklin n. 25 bis di August Perret. In quest‘ultima per la prima volta si distinguono, in un edificio di abitazioni, gli elementi strutturali in cemento armato, in realtà rivestiti da gres flamé, dai tompagni. Ma gli interessanti ragionamenti sull‘impaginato compositivo non riescono a contenere una volumetria eccessiva rispetto alle specifiche caratteristiche della morfologia urbana. Quindi, pur essendo interessante il modo in cui il gruppo milanese declina il tema della „sincerità strutturale“, modulando la distinzione fra parte basamentale, di pertinenza del Giornale, e quella superiore destinata ad abitazioni, si avverte, in modo ineludibile, il prepotente fuori scala nei confronti della piu minuta volumetria di Porta Reale. La parte basamentale, definita elegantemente da otto paraste, individua una relazione Palermo con il sistema della porta ma, il volume sovrastante, che si sviluppa a partire da un piano interamente loggiato, contraddice evidentemente il tentativo di dialogo. Questa soluzione, l‘ultima in ordine cronologico, sostituisce le tre precedenti le quali dimostrano il difficile iter incontrato dai progettisti nello stabilire una compatibilità interna al volume fra funzioni assai diverse, ed una esterna tra il nuovo edificio ed un intorno ricco di importanti preesistenze storiche, La proposta realizzata riesce, rispetto alle precedenti, ad acquietare lo stridore fra le funzioni ma non a smorzare quello venutosi a creare tra architettura nuova e città storica, 37 Palazzo Archimede via Ricasoli n. 59, via Libertà n. 33 Architekten: Leonardo Foderà, Andrea Nonis Per l‘edificio di via Ricasoli, alla spazialità „NeoLiberty“ dell‘ androne si accompagna un uso morfologicamente diverso del telaio strutturale. In questa architettura, di cui si può proporre una analogia con la sezione trasversale dell‘edificio del 1955 per uffici e abitazioni tra piazza Statuto e corso Francia a Torino dello studio BBPR, sono i soli elementi verticali ad emergere e a definire le partiture di facciata dopo aver accompagnato un leggero sbalzo in avanti a partire dal primo piano. Questa architettura va comunque letta complementarmente all‘ edificio Miraglia che, continuandone il fronte su via Libertà, definisce l‘angolo con la via Archimede. Le differenze funzionali fra i due edifici (quello con ingresso in via Ricasoli prevalentemente destinato ad abitazioni, a parte la fascia del piano terreno e dell‘ ammezzato, e quello Miraglia esclusivamente adibito ad uso commerciale e ad uffici) vengono esaltate per costruire all‘interno del medesimo fronte due volumi distinti e, nello stesso tempo, profondamente relazionati. Si potrebbe sostenere che buona parte del progetto stia nella soluzione di attacco fra le due architetture, dove le scansioni verticali delle aperture delle abitazioni lasciano spazio a delle logge leggermente arretrate che si saldano al volume interamente dedicato ad attività commerciale e ad uffici. Quest‘ultimo, nato come blocco chiuso monocromatico, si stacca dall‘ edificio adiacente oltre che per differenza cromatica, soprattutto per l‘uso di nastri continui di finestre che 38 Palermo disegnano l‘intero paramento. Tale parte, prevalente nell‘ estensione dei prospetti, è nettamente distinta dal coronamento caratterizzato da una lastra di copertura leggermente aggettante, e dal basamento staccato dal paramento da una opportuna risega, oggi malauguratamente coperta da una troppo ampia, e quindi sbagliata, insegna pubblicitaria. La scelta finale ha in parte compromesso la volontà di Foderà e Nonis, evidente in una prospettiva d‘insieme, tendente a sottolineare l‘unità complessiva delle due parti mediante un‘unica lastra di coronamento. Dal disegno, infatti, si evince che lo sbalzo della copertura dell‘edificio commerciale era accompagnato, sullo stesso filo, da una identica sporgenza che concludeva il volume delle abitazioni. Il comune limite nel coronamento, interrotto soltanto nella porzione delle logge, rinsaldava la difficile dualità compositiva. Edificio Per Abitazioni Corso Pisani Architekten: Culotta e Leone Dalla Pretura, proseguendo in direzione di piazza Indipendenza, si può proporre una sosta in corso Pisani dove è stato realizzato un edificio dalla grande forza volumetrica, progettato da Pasquale Culotta e Giuseppe Leone, con Salvatore Incorpora, Nicola Mineo, Sergio Verace, Attilio Milan e Giuseppe Mangano, per incarico dell‘ IACP di Palermo. Quest‘ architettura «la cui esecuzione non affidata ai progettisti, tradisce alcuni importanti „materiali“ organizzativi del linguaggio architettonico, come il disegno degli infissi, il monocromatismo dell‘intero impianto e la scelta del colore (un tenue e luminoso celeste di progetto sostituito da un colore ocra) consente di approfondire i ragionamenti sui rapporti fra architettura e città. 1: edificio alto sette piani, contenente 26 alloggi per piano, permette di esaminare due temi fondamentali: il primo afferente al modo in cui si può interpretare il nuovo ai margini della città storica; il secondo connesso allo svolgimento del tema dell‘ abitare teso oltre i problemi posti dalla ricerca sull‘ alloggio. Questi due argomenti si coniugano con il rispetto per la struttura storica che viene esplicitato dalla sottolineatura del tracciato viario potenziato dal corpo unico, lungo 234 metri, e si snoda «descrivendo e sottolineando le diverse situazioni spaziali che lo fronteggiano: l‘andamento sinuoso del tracciato viario di corso Pisani, l‘angolo retto tra via Onorato e Palermo Corso Pisani. Insieme alla chiarezza della traccia planimetrica e alla efficacia del volume, il nuovo edificio segna la fine dell‘isolamento del quartiere Porrazzi dall‘intorno. Prima della realizzazione della nuova architettura il sistema del Porrazzi viveva al di sopra di un alto zoccolo che di fatto ne impediva l‘integrazione, in termini di relazioni fisiche e sociali, con il resto della città. Il grande edificio, quindi, se da una parte marca corso Pisani come strada corridoio, dall‘ altra è promotore di un attento progetto di suolo che raccorda le quote dell‘importante vena urbana con il resto del quartiere. I passaggi lasciati liberi al pian terreno, su corso Pisani, sono i segni tangibili di questa integrazione decisamente piti spinta nel progetto che nella realizzazione. 39 Bagheria Villa Palagonia (1715) Bagheria Die Villa Palagonia, seit 1715 erbaut von Ferdinando Gravina, principe di Palagonia, durch den Dominikaner-Ar chitekten Tommaso Maria Napoli, ist wohl die bekannteste der Villen von Palagonia. Hier ist in einer grossen axialen Gesamtanlage alles gleichsam in Schwingung versetzt: die das Herrenhaus, das Casino, umgebenden Gartenmauern mit den Nebengebäuden ebenso wie das Hauptgebäude selbst. Konvex vorschwingend ist die Eingangsfront zur Bergseite; zwei schräggestellte Flügelbauten flankieren die konkave Mitte der Gartenseite, in welche die mehrfach umbrechende, doppelläufige Aussen- und Freitreppe in den piano nobile hinaufführt; sie ist in fast allen Villen um Palermo das entscheidende, der gesellschaftlichen Selbstdarstellung dienende Wirkungselement und erlebte zahlreiche, immer neue Lösungen. Schon die Reisenden des 18. ]h., unter ihnen zu· mal auch Goethe (1787, in seiner „Italienischen Reise“), haben die Villa Palagonia mit herber Kritik bedacht, und zwar kaum deren architektonische Anlage, sondern die zahlreichen Steinskulpturen, welche die den Hauptbau umgebenden Mauern und Portale bekrönen und ihr Entstehen erst dem Enkel des Erbauers verdanken. Es ist in der Tat ein ganzes Heer von menschlichen und tierischen Phantasiegebilden, Ungeheuern, ja Monstrositäten, die allem Gewohnten und erst recht einem klassischen Geschmack zuwider sein mussten 41 Villa Valguarnera (1914) Die Villa Valguamera, 1714 durch den Architekten Tommaso M. Napoli begonnen für die principessa Anna Valguar nera, ist noch heute ausgezeichnet durch die relativ gute Erhaltung des gesamten Baukomplexes und der ausgedehnten Gartenanlagen. Das Casino erreicht man auch hier über lange mauerbegrenzte Wege mit Toren, zu den Seiten die Gärten abgesondert lassend. Man steht dann vor der Fassade, deren breiter Mittelteil konkav zurückschwingend die doppelläufige Freitreppe aufnimmt, festlich bekrönt durch das Giebeldreieck mit seinem plastischen Schmuck (Ende 18. Jh.), in der bedeutenden Gesamtwirkung gesteigert durch den querovalen Vorplatz, den die niedrigen Flügelbauten umgrenzen. Die Rückseite des Hauses präsentiert eine vorspringende Terrasse mit Blick auf Küste und Meer, zugänglich im piano nobile durch einen querovalen mittleren Festsaal. 42 Bagheria Villa Cattolica (1736) Bagheria Die Villa Cattolica [27], im ersten Jahrzehnt des 18. Jh. von Francesco Bonanni, principe di Cattolica, erbaut, stellt sich dar als ein kompakter, fast quadratischer Baublock in erhöhter Lage, seine Dominanz über die Nebengebäude durch die ungewöhnliche Dreigeschossigkeit noch steigernd. Die Mitte der Vorder- und der Rückseite sind kurvig einwärts geschwungen; an der Front fügt sich die doppelläufige Freitreppe dieser Kurve ein, in den axial betonten Eingang des piano nobile führend. Die Anlage ist erst vollständig mit den sie rings umgebenden, dienend untergeordneten Nebengebäuden, die das Herrenhaus in eine zentrale Grundrissordnung einfügen von zwei senkrecht sich durchkreuzenden Achsen mit halbkreisförmigen Endungen über einem grossen Quadrat mit geknickten Ecken, über denen das fortifikatorische Element von Bastionen mit Zinnenkranz anklingt. - Seit 1974 ist die Villa Sitz der städtischen „Gal leria d‘arte moderna“, deren Grundstock eine grosszügige Schenkung des aus Bagheria stammenden Malers Renato Guttuso bildet. 43 Villa Cuto Sulla fondazione della villa non si hanno notizie certe, ma per impianto e caratteri stilistici può essere datata tra la fine del XVII e gli inizi del XVIII secolo. Si tratta probabilmente dello stesso edificio appartenuto in origine al principe Baldassarre Naselli di Aragona, come sembrerebbero dimostrare i busti leonini che decorano i timpani delle finestre e fiancheggiano uno dei portali interni della villa, motivo questo presente anche nello stemma dei Naselli. È possibile inoltre riscontrare qualche analogia tra questa villa e il palazzo baronale costruito per gli Aragona, intorno allo stesso periodo, entrambi caratterizzati dall‘uso compatto e serrato dei volumi e dal loro prevalente slancio verticale. Soltanto nel primo Ottocento, la proprietà sarebbe stata acquistata dalla famiglia Filangeri principi di Cutò, il cui monogramma è visibile nella raggiera in ferro battuto che decora il portale esterno, per poi passare, come lascito ereditario, ai Tasca di Cutò. Nella staticità dell‘impianto e nell‘uso di volumi puri, simmetricamente disposti intorno alla corte, oltre che nell‘uniformità della cortina muraria che avvolge la fabbrica, è rintracciabile ancora un‘impostazione manieristica, assimilabile più ai palazzi cittadini che non alle contemporanee residenze di campagna. Di queste, manca inoltre la graduale mediazione fra natura e architettura, mantenute in questo caso come due entità autonome. L‘edificio si chiude infatti intorno ad una ridottissima corte quadrangolare, schermata sul quarto lato da un possente muro di cinta, percorribile in quota. Questo è scandito all‘esterno da lesene binate che sostengono la cornice di coro44 Bagheria namento e tra le quali si inseriscono l‘arco del portale, lungo l‘asse longitudinale del palazzo, e due nicchie laterali. Il loro profilo è marcato da mostre sporgenti in pietra da taglio, che risaltano scure sul fondo chiaro dell ‚intonaco, come avviene in tutte le altre aperture. Due statue femminili sono inoltre accolte nelle nicchie, le quali rappresentano uno dei pochissimi ornati di gusto settecentesco presenti nella villa. Al piano terra, il corpo principale è attraversato trasversalmente da una galleria rettilinea, inquadrata sui due fronti da archi a pieno centro, che permetteva la diretta comunicazione tra la corte e l‘area del giardino, estesa davanti alla villa. Proprio dall‘interno della galleria si accede al ricco scalone di marmo rosso, con rampe doppie a tenaglia, le quali si appoggiano prima alle due ali della fabbrica per ricongiungersi poi al centro, nell‘ ampio ballatoio di servizio al piano nobile. È anche questa una struttura molto singolare per una residenza estiva, in quanto ripropone un modello di scalone di facciata coperto, più comunemente utilizzato nei palazzi di città. Esso occupa l‘intera larghezza della corte, ma non è da questa visibile perché occultato da una cortina muraria, scandita da un ordine gigante di lesene. Queste inquadrano i cinque archi aperti in corrispondenza del piano nobile, per essere poi riprese in alto sino alla cornice di coronamento del fronte. L‘arco centrale è inoltre servito da un balcone che sporge all‘interno della corte sopra tre grosse mensole di tufo scolpite, motivo riproposto anche nei balconi dei fronti esterni. Assai interessante è la distribuzione degli ambienti nei due piani su cui si eleva l‘intero edificio perché, grazie alla galleria, al piano terra, e all‘ampio vestibilo fruibile dallo scalone, viene qui proposto un esempio anche se parziale, al piano nobile di „appartment double“. Attraverso il vestibolo si accede infatti al grande salone centrale, che prospetta esclusivamente sul fronte principale, e a due appartamenti laterali, le cui stanze si distribuiscono in enfilades lungo le ali. Fra cui, sono quindi contenuti sia il corpo scala che il salone ed il vestibolo del piano nobile, presentando, tra l‘altro, questi ultimi due, la stessa estensione planimetrica. Proprio al di sopra di questo blocco centrale è stata realizzata, in epoca posteriore, un‘ altana. Essa è aperta da una serie continua di archi a tutto sesto su pilastri, ed è coronata da un muro d‘attico dal quale emerge il tetto a quattro falde. Le pile che lo scandiscono proseguono in alto, oltre la cornice, il ritmo dettato dalle lesene sovrapposte ai pilastri inferiori. La loggia è accessibile, attraverso una scala esterna, dalla terrazza ricavata sul tetto dell‘edificio, e di conseguenza, nella parete di fondo della corte, è stato sostituito il coronamento. Il muro d‘attico sormontato da vasi di pietra e la cornice sporgente, che corrono lungo tutto il perimetro della villa, si interrompono per fare qui posto ad una tipica balaustra settecentesca a colonnine e pile. La struttura dell‘ altana si differenzia dal loggiato inferiòre sia per i materiali utilizzati, sia per il mancato salto cromatico tra le cortine murarie e gli elementi decorativi, sia per la carente modulazione plastica delle masse. Queste caratteristiche permettono quindi di considerarla con sicurezza come un‘aggiunta effettuata in epoca più recente. I piani di facciata presentano una duplice scansione verticale: la prima è affidata a semplici fasce d‘intonaco che circondano i pannelli, entro i quali si distribuiscono le aperture; la seconda, ad un ordine di paraste, realizzate in blocchi di tufo, che si sovrappongono a quelle solo sul fronte principale, e marcano gli spigoli della fabbrica. Questi sono arrotondati in corrispondenza del piano terra, sino alla sottile fascia marcapiano che lo delimita, così da conferire maggiore robustezza all‘intera struttura. Il fronte principale, quello rivolto in origine al giardino, è quindi suddiviso in cinque partiti. In ognuno di essi si aprono un arco a pieno centro, al piano terra, che porta in chiave un grosso blocco di tufo, e un balcone, al piano nobile, oltre il quale una cornice ellittica simula le finestre di un ammezzato. I vani dei balconi sono circondati da mostre di pietra e sormontati da comici mistilinee, entro la cui concavità sono contenuti i busti leonini. Essi si appoggiano a mensole ornate da dentelli, che sporgono al centro dall‘architrave. Solo il vano centrale si differenzia per l‘uso di un timpano triangolare, portato più in alto dal prolungamento delle mostre verticali. Anche i fronti laterali sono divisi in cinque settori, di cui il più interno contiene qui tre ordini di aperture. Mentre al piano nobile è riproposto lo stesso motivo del prospetto principale, il piano terra si apre con finestre, circondate sempre da mostre di pietra e concluse in alto da archi ribassati. Il tema dell‘ oculo ellittico viene raddoppiato, per disporsi in alto tangenzialmente alla cornice e sotto le finestre del piano terra, con l‘asse maggiore orizzontale. Un‘analoga distribuzione si ha nelle facciate di testa delle due ali, dove vengono soltanto eliminati i balconi a petto d‘oca, ma le ampie finestre conservano lo stesso apparato decorativo. Nessuna traccia rimane infine del giardino, la cui area è oggi occupata dalla stazione ferroviaria di Bagheria. Esso presentava una flora organizzata in parterres regolari, bordati da siepi e attraversati da viali rettilinei, paralleli ai fronti della villa. Filari di cipressi o pergolati dovevano inoltre arricchire l‘impianto. (N. D.)· 45 Villa Villarosa (1766) Sita a Bagheria alle falde del Monte Giancaldo, circondata oggi da costruzioni che ne occultano persino da vicino la vista, la villa Notabartolo di Villarosa non rientra tipologicamente fra le ville barocche del bagherese, pur essendo coeva alle stesse. L‘impostazione chiaramente razionalistica (che rimanda al Peti t Trianon, a Versailles, di J. A. Gabriel, 1762-68) ha creato non pochi problemi circa la sua esatta datazione, spesso quasi aprioristicamente collocata nell‘ultimo decennio del secolo XVIII. Più recenti ricerche d‘archivio hanno accertato che l‘edificazione è avvenuta nel quadriennio 1763-66, e che al 1790-92 sarebbero da ascrivere, invece, le opere di restauro e di sistemazione del complesso. Circa la realizzazione è accreditata l‘ipotesi che vi abbia preso parte l‘architetto G.Venanzio Marvuglia (autore anche del palazzo Notabartolo di Villarosa, a Palermo) pur non potendo se ne documentare i rapporti con la famiglia, per la costruzione della casina, se non dal 1766. Il blocco parallelepipedo, impostato su un‘ ampia terrazza balaustrata, con portico ottastilo sul fronte principale, che occupa le due elevazioni di cui la fabbrica è costituita, ha alle sue spalle un giardino recinto di forma rettangolare. L‘impianto della villa, simmetrico rispetto al suo asse trasversale, è organizzato secondo una sequenza di spazi di rappresentanza (portico d‘ingresso, salone rettangolare da ballo a doppia altezza, col lato lungo parallelo al piano di facciata, sala quadrata comunicante col fronte posteriore) intercomunicanti e di disimpegno per gli ambienti di residenza ai due lati. Scale interne, ricavate in appositi vani, mettono in comunicazio46 Bagheria ne il piano terra con il piano superiore ed il piano cantinato (presenza, quest‘ultima atipica, che rimanda da vicino, tipologicamente, alle dimore urbane). Il prospetto principale è informato dalla presenza del portico con colonne corinzie scanalate e capitelli finemente scolpiti, affiancato ai due lati da partiti architettonici con ampie finestre e mostre e timpani di disegno classico, al piano terra, e finestre di forma quadrata ornate da doppie comici; partiti che ritmano allo stesso modo i prospetti laterali. Il prospetto posteriore, in pietra tufacea non intonacata, articolato anch‘ esso dal medesimo partito, è inquadrato al centro, ove al posto della finestra si trova una porta-finestra, da parastrea bugne lisce poste altresì a segnare tutti i cantonali della fabbrica. Il cornicione continuo aggettante è sormontato, in corrispondenza del portico, da un muretto d‘attico balaustrato; in corrispondenza del partito centrale del prospetto posteriore, da un timpano. Del disegno del giardino, di impianto presumibilmente coevo alla costruzione della fabbrica, non rimane traccia se non nei viali sinuosi ancora parzialmente riconoscibili tra la flora alberata all‘interno del recinto. (G. L. T.) Villa Larderia (1745) Bagheria Il tipo a blocchi articolati ha nella villa Larderia l› esempio maggiore, essendo impostata secondo una rigorosa legge geometrica di aggregazione che ha tre assi di simmetria inclinati tra di loro di 120° in ognuno dei quali è ricavato un blocco rettangolare. Questi di saldano al centro con opportuni raccordi in un blocco cilicndrico, che rappresenta il cuore figurativo e distributivo della villa, la cui caratterizzationi al piano nobile ha un taglio planimetrico per la prima volta dei vani, che vanno dal circolare, all ovale, oltre che a quelli tradizionali quadrati e rettangolari. Questo schema tipologico, basato su una rigorosa articolazione geometrica si affiancava a Bagheria a quello piu frequente, detto palazzo, e costituito dal blocco rettangolare, dal quale fuoriesce lo scalone all aperto. In generale le ville erano circondate da muri di cinta ed arevano a delimentarli corpi bassi, in base ad una scenografia gerarchica delle fabbriche, che esaltava il feudalismo agricolo ancora esistente. 47 Monreale Duomo di Monreale (1172-1189) Geschichte Wenige Kilometer von Palermo entfernt liegt der Dom von Monreale, von dem gesagt ist, er sei der »schönste Tempel der Welt«. Der Dom, gehörte zu einem grösseren, auf eine königliche Stiftung zurückgehenden baulichen Ensemble, das aus drei unterschiedlichen Teilen bestand: der Kirche, dem Kloster und dem königlichen Palast. Wir verdanken diese Anlage dem jüngsten Normannenkönig, Wilhelm H., »dem Guten«, der, nachdem er den Thron bestiegen hatte und 1172 volljährig geworden war, mit dem Bau der Kirche begann. Sie sollte mit dem Kloster und dem Palast ein Ganzes bilden: Sumptibus propriis et laboribus sub ipso principio nos tri regiminis aedificatum (zu Beginn unserer Herrschaft auf unsere Kosten und durch unsere Arbeit erbaut). In diesem Satz aus einer Urkunde des Königs weist der Begriff regiminis auf die Regierung des Königs nach den Jahren der Regentschaft hin. Die extrem kurze Zeit, in der das so mächtige architektonische Werk entstand - der Bau der Kathedrale war bereits im Jahre 1185 vollendet -, ist der Entschlossenheit des Königs zu verdanken, der, kaum mündig, dem Ruhm seines Grossvaters Roger H. in nichts nachstehen, ja ihn sogar übertreffen wollte. Diese neue Kirche, mit der auch der theokratische Charakter der neuen Regierung unterstrichen werden sollte, rivalisierte mit derjenigen, die gleichzeitig auf Geheiss des Erzbischofs Walter in Palermo errichtet wurde. Nach einer alten Legende erschien die Muttergottes selbst dem König im Traum, als dieser sich, von der Monreale Jagd erschöpft, unter einem Baum ausruhte. Sie hiess ihn, ihr zu Ehren eine Kirche zu bauen, nachdem sie ihm den Ort gezeigt hatte, an dem sein Vater einen Schatz versteckt hatte. Tatsächlich weihte der König die Kirche im August 1176 der Himmelfahrt Mariä. Die Benediktinermönche, die er mit ihrem wenig später zum Bischof geweihten Abt Theobald aus Cava dei Tirreni hatte kommen lassen, stattete er reichlich mit Privilegien und Gütern aus, wie es aus der Urkunde von 1176 hervorgeht. Im Jahre 1183 erhebt Papst Lucius III. Monreale mit der Bulle Licet Dominus in den Stand eines Erzbistums. Der Bulle ist zu entnehmen, dass der Bau der Kirche damals bereits abgeschlossen war. 1185 wird am Hauptportal die Bronzetür, ein Werk des Bonannus von Pisa, angebracht. 1190 erhält das Portal des nördlichen Seitenschiffes eine Bronzetür von Barisanus von Trani. 1257 weiht der päpstliche Legat Kardinal Rudolph, Bischof von Albano, die Kirche im Namen des Papstes Clemens IV. der Heiligen Jungfrau in ihrer Geburt. Im Laufe der Jahrhunderte wurde die Kirche und besonders ihr Innenraum häufig umgestaltet. 1492 liess Kardinal Giovanni Borgia, Neffe Alexanders III., das Portal vor dem Diakonikon und der Sakristei errichten. 1498 wandte König Ferdinand II., der Katholische, eine bedeutende Summe zur Instandsetzung der Kathedrale, des Klosters und des Bischofspalastes auf. 1524 beauftragte Kardinal Cardona den aus dieser Gegend stammenden Mosaizisten Pietro Oddo mit der Restaurierung der Mosaiken und eines Teils des Fussbodens. Zwischen 49 Duomo di Monreale (1172-1189) Rom ausgeführt wurde. Im November 1811 zerstörte ein Feuer das hölzerne Chorgestühl, die Fenster, die Orgeln, die Emporen sowie die Bedachungen des Sanktuariums und der Seitenschiffe. Auch der Marmor und die Mosaiken wurden in Mitleidenschaft gezogen. Durch das gesamte 19. Jahrhun dert hindurch und auch in unserem Jahrhundert wurden umfangreiche Restaurierungsarbeiten durchgeführt. Zur Zeit werden die Dächer instandgesetzt, und man befasst sich mit der schwierigen Aufgabe, die von Termiten befallenen Holzdecken zu restaurieren. 1536 und 1537 liess Kardinal Alessandro Farnese, damals Erzbischof von Monreale, zahlreiche Reparaturen an der Kirche und dem Kloster durchführen und erteilte 1547 den Brüdern Giovanni und Fazio Gagini den Auftrag, den seitlichen Portikus der Kathedrale wieder aufzubauen. 1595 liess Kardinal Ludovico II. de Torres, der zu dieser Zeit Erzbischof war, die Cappella San Castrense bauen und veröffentlichte im Jahr darauf unter dem Namen seines Sekretärs Giovanni Luigi Lello das Buch Historia della chiesa di Monreale. Im Jahre 1658 liess Msgr. Los Cameros die bleiernen Gitter von den Fenstern abnehmen und die Ikonostase entfernen, die das Langhaus vom Altarraum trennte und die Sicht verstellte. Die Kapelle des Kruzifixes wurde zwischen 1687 und 1690 nach den Plänen des Bruders Giovanni di Monreale und auf Anordnung des Msgr. Roano erbaut, der sicherlich mit seinem Landsmann de Torres konkurrieren wollte. In eben jenen Jahren wurden auch die Bronzetüren von Bo nannus und Barisanus restauriert. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde die Kapelle des heiligen Benedikt in den rechten Querhausarm eingelassen. In der zweiten Hälfte desselben Jahrhunderts, einem wahrhaft goldenen Zeitalter für das Land, war Msgr. Francesco Testa, Erzbischof von Monreale, der zweifellos grösste Mäzen des Baukomplexes. Ihm sind viele Instandsetzungsmassnahmen an der Kathedrale zu verdanken, der Ausbau der Kapellen, Höfe und Portale und besonders der neue Hauptaltar aus vergoldetem Silber, der bei Louis Valadier in Auftrag gegeben und zwischen 1770 und 1773 in 50 Besichtigung Bis auf die beiden Säulenvorhallen hat der Dom von Monreale sein ursprüngliches Erscheinungsbild bewahrt. Der Hauptportikus war womöglich bereits im ersten Bauplan vorgesehen. Da die Kirche von Anfang an sowohl mit dem Kloster als auch mit dem königlichen Palast verbunden war, gab es stets nur zwei Eingänge, den Nordeingang und den in der Hauptfassade. Beide sind durch montumentale Bronzetüren geschmückt, die auf Anordnung Wilhelms II. hergestellt wurden. Vor jedem Eingang liegt ein später angefügter Portikus, der sich jeweils auf einen Platz hin öffnet. Beide Plätze haben im grossen und ganzen ihr ursprüngliches Aussehen bewahrt. Sieht man von der oberen Partie der Fassade, die nicht durch den Portikus verdeckt ist, und natürlich von den drei nach Osten ausgerichteten Apsiden ab, die den aus Palermo kommenden Reisenden durch ihre Schönheit und ihren Reichtum in Bewunderung und Erstaunen versetzen sollten, ist die wuchtig und imposant wirkende Kathedrale von aussen betont nüchtern gehalten. Die Hauptfassade im Westen erhebt sich an dem nach Wil helm II benannten Platz. Sie wird von zwei Ecktürmen flankiert, wie. sie bei den grossen religiösen Bauwerken Siziliens in jener Zeit üblich waren. Diese beiden Türme, die in den beiden ersten Abschnitten eher massig wirken und im zweiten Abschnitt je ein Spitzbogenfenster haben, unterscheiden sich dadurch, dass der Südturm noch zwei weitere, jeweils zurückgesetze Stockwerke mit einfachen~und gekuppelten Fenstern aufweist, während der Nordturm mit dem zweiten Stockwerk abschliesst. Darauf liess der Kardinal Ippolito dei Medici den Glockengiebel mit seinen Zinnen errichten. Die steinere Turmspitze auf dem rechten Turm fiel 1807 einem Blitzschlag~schlag zum Opfer. 1770 wurde anstelle des eingestürzten ursprünglichen Narthex der Portikus zwischen den beiden Türmen errichtet. Ober diesem sich in drei Rundbogenarkaden öffnenden Portikus erblickt man am oberen Teil der Fassade die typischen Kreuzbogenstellungen mit ihren vielfältigen Inkrustationen, durch die ein lebhaftes Farbenspiel entsteht. An dem mit reichgeschmückten Archivolten eingefassten Hauptportal sind in dem Rankenwerk mit seinen Menschen- und Tierfiguren eindeutig griechische Motive zu erkennen. Dieses Portal aus dem 12. Jahrhundert umfasst die grosse Bronzetür des Bonannus von Pisa aus dem Jahre 1186. Sie besteht aus zwei in 46 Tafeln unterteilten Flügeln, auf denen Szenen aus dem Alten und Neuen Testament dargestellt sind. Die vier untersten Tafeln sind mit Löwen- und Greifenpaaren verziert. In die Seitenschiffe sind 17 Fenster eingelassen, wobei sich kleinere offene und grössere Blendfenster abwechseln. Sämtliche Fenster sind mit Einlegearbeiten aus farbigem Stein geschmückt. An der Nordseite liegt der herrliche Portikus aus dem 18. Jahrhundert, ein Werk Gian Domenicos und Fazio Gaginis. Darunter öffnet sich die zweiflügelige Bronzetür des Barisannus von Trani aus dem Jahre 1179. In einen rechteckigen Rahmen mit geometrischen Motiven eingepasst, weist die Tür 28 Tafeln mit Kampfesszenen, Episoden aus dem Leben von Heiligen und Wappentieren orientalischer Art auf. In Bändern aus Flechtwerk und Blumen sind Medaillons aufgereiht. Das Äussere des Chorhauptes ist der am reichsten geschmückte Teil des gesamten Bauwerks. Sich überkreuzende Blendarkaden überziehen die drei Apsiden. Das reiche Farbenspiel entsteht nicht nur durch die polychromen Inkrustationen aus braunem Kalkstein und schwarzem Lavagestein, sondern auch dadurch, dass die kleinen Säulen auf hohen, bunten Sockeln stehen und in die Blendfenster farbige, runde Scheiben unterschiedlichen Durchmessers eingelegt sind. Die Kirche ist dreischiffig und hat den Grundriss eines lateinischen Kreuzes. Sie folgt dem Typus der frühchristlichen Basilika. Der Altarraum mit den drei Apsiden ist gegenüber dem Langhaus erhöht. Das Mittelschiff ist beidseitig von den Seitenschiffen durch je neun Säulen getrennt, die auf hohen Sockeln stehen und korinthische oder figürlich gestaltete Kapitelle tragen. Auf letzteren Stand in Medaillons die Gesichter der Göttinen Ceres und Juno dargestellt, umrahmt von den symbolischen Füllhörnern. Die Kapitelle tragen reich mit Mosaiken geschmückte Kämpferaufsätze, auf denen die Spitzbögen ruhen. Mit Ausnahme der Säulen, Kapitelle und Sockel ist das gesamte innere der Kirche mit herrlichen Mosaiken verkleidet. Diese nehmen eine Gesamtfläche von über 6000 Quadratmetern ein und wurden in sehr kurzer Zeit - vermutlich zwischen 1180 und 1190 - von byzantinischen Mosaizisten gefertigt, die es verstanden, ihre Arbeit mit derjenigen der islamischen Bautrupps in einen gelungenen Einklang zu bringen. Experten haben jedoch die kurze Entstehungszeit bezweifelt und sind der Ansicht, dass an den Mosaiken bis ins 13. Jahrhundert hinein gearbeitet wurde. Wie dem auch sei, das gesamte Werk sowohl die eher expressiv als auch die realistischer gehaltenen Mosaiken, bildet eine Einheit von tiefer poetischer Harmonie. Die Restaurierungsarbeiten, die im Laufe der Jahrhunderte vorgenommen wurden, haben die Einheitlichkeit des Gesamtwerkes nicht beeinträchtigt. Sämtliche bildlichen Darstellungen folgen einer eigenen Logik, und zwar sowohl vom dekorativen und künstlerischen als auch vom theologischen und dogmatischen Standpunkt aus. Die Inkarnation des Wortes Gottes ist dreimal in drei verschiedenen Momenten dargestellt: in der Erwartung der versprochenen Fleischwerdung, in Szenen aus dem Alten Testament; in der Mensch werdung; in dem Wort, dessen Botschaft durch die Kirche weiterwirkt. Vom Halbkuppelgewölbe der Mittelapsis blickt die grandiose Gestalt eines segnenden Christus Pantokrator herab. Am Triumphbogen ist in zwei Bildern Wilhelm II. dargestellt. Auf dem einen Mosaik empfängt er von Christus die Königskrone, auf dem anderen übergibt er der Gottesmutter das Modell der Kathedrale von Monreale. Das Mittelschiff zeigt Szenen aus dem Alten Testament. Im Querhaus ist das Leben Jesu geschildert. In den Seitenschiffen wird die Geschichte der Kirche illustriert, und es folgen weitere Ereignisse aus dem Leben Jesu. In den beiden Jochen der Nebenapsiden schliesslich wird das Leben der Apostel Petrus und Paulus erzählt. Die Holzdecken, die wir heute bewundern können, sind sämtlich im Zuge der Restaurierungsarbeiten originalgetreu erneuert, nachdem die ursprünglichen Decken 1811 durch ein Feuer zerstört worden waren. In den einzelnen Teilen der Kirche wurden unterschiedliche Deckentypen verwendet: Der Ostteil ist überwölbt, wodurch der Altarraum hervorgehoben wird, während der Westteil Holzdecken trägt. Die Seitenschiffe sind flachgedeckt, und die Balken sind abwechselnd mit bunten geometrischen. und floralen Motiven geschmückt. Dagegen trägt das Mittelschiff einen offenen Dachstuhl, der nur zum Teil bemalt ist. Der Fussbodenbelag des Altarraums stammt aus dem 12. Jahrhundert. Auch wenn dieser Boden in späterer Zeit an einigen Stellen erneuert wurde, so weisen doch die noch vorhandenen Partien aus porphyr, Serpentin und anderen Gesteinsarten typische Motive der islamischen Kunst auf, wie etwa die achtstrahligen Sterne in sternförmigen Vielecken. Der Fussboden des Langhauses, der im 16. Jahrhundert entstand, nimmt zwar die Motive des älteren Bodenbelages auf, wurde jedoch um Muster aus dem späten Manierismus bereichert. Im Sanktuarium ist am linken Ostpfeiler der Königsthron angelehnt. Seine spitzgiebelig zulaufende Rückenlehne besteht aus rotem Porphyr und Marmor und ist mit floralen Motiven geschmückt. Die Thronwangen bilden zwei Platten aus durchbrochenem Marmor mit Greifenpaaren, die Anklänge an die islamische Kunst erkennen lassen. Unter dem Triumphbogen steht der 1771 von dem französischen Künstler Louis Valadier in Rom geschaffene Silberaltar. Es sei noch auf den Altar im linken Seitenschiff hingewiesen, unter dem eine Zeitlang die sterblichen Überreste des Königs Ludwig IX. von Frankreich begraben lagen. Beachtenswert sind auch die in der Mitte des 19. Jahrhunderts erneuerten Sarkophage der Königin Margarete von Navarra und ihrer Söhne Roger und Heinrich. Nahe der rechten Apsis werden die Sarkophage Wilhelms 1. und Wilhelms II. aufbewahrt. Der Sarkophag Wilhelms 1. ist aus Porphyr und stammt aus dem 11. Jahrhundert, der Wilhelms II. wurde im 16. Jahrhundert erneuert. Auf das rechte Seitenschiff öffnen sich die Cappella San Benedetto und die Cappella San Castrense aus dem 16. Jahrhundert. Im linken Querschiffarm befindet sich die Cappella del Crocifisso. Sie ist ein herrliches Beispiel für die Kunst des Barock und wurde Ende des 17. Jahrhunderts nach einem Plan von Fra Giovanni da Monreale errichtet und unter Angelo Italia fertiggestellt. Von diesen Kapellen aus gelangt man zum Kirchenschatz mit seinen zahlreichen Goldschmiedearbeiten und wertvollen Handschriften. Er umfasst auch ein kleines kupfernes Reliquiar, das vermutlich aus normannischer Zeit stammt. 51 Chiostro di Monreale (1172-82) Der Kreuzgang ist der einzige noch erhaltene Teil des ehemaligen, im späten 12. Jahrhundert im Süden der Kirche errichteten Benediktinerklosters. Gegenwärtig ist nur der Südflügel, ein grosser unbedeckter Raum, zu besichtigen, den man durch eine Tür des Kreuzgangs betritt. Obwohl einige Experten die Datierung für problematisch halten, richtet man sich meist doch nach der Entstehung der Kathedrale. Der Bau der Kirche wurde mit Sicherheit im Jahre 1172 begonnen, während der Anfang der Arbeiten für den Kreuzgang vermutlich etwas später, nämlich um 1176, anzusiedeln ist. Damals schon bewohnten die aus La Cava dei Tirreni kommenden Benediktiner das Kloster. Man nimmt an, dass die Bauarbeiten schnell voranschritten und gegen 1189, dem Todesjahr Wilhelms II., abgeschlossen waren. Sicher ist die unterschiedliche Qualität der Kapitelle dem Drängen des Auftraggebers zuzuschreiben. Ausserdem waren hier offensichtlich aufeinanderfolgend verschiedene Hände am Werk. So haben Fachleute den Kreuzgang als ein typisches Ergebnis der Arbeit eines mittelalterlichen Bautrupps betrachtet, in dem die Arbeiter eines Werkverbandes einem einzigen Meister unterstellt waren. Der Kreuzgang von Monreale ist das vollkommenste, prächtigste und grösste Beispiel seiner Art. Er weist exakt die Form eines Quarates auf. Seme 208 Säulen stehen auf einer Art Stylobat. Auf jeder Seite des Quadrates tragen Doppelsäulen 26 Spitzbögen, deren Anfangssteine am Innenlauf über die Deckplatte der Kapitelle hinausragen. Die Bögen und deren Umrahmungen sind an der Aussenseite mit geometrischen 52 Monreale Inkrustationen aus Bimsstein und Lava geschmückt. Unter dem mächtigen Gesims, das gleichförmig alle vier Flügel des Kreuzgangs umläuft, entfaltet sich ein aussergewöhnlicher Formenreichtum: Das gilt sowohl für die Säulen, deren Schäfte glatt belassen, mit bunten Einlegearbeiten oder mit zickzack-, schachbrett- und winkelförmigen Mosaiken verziert sind, als auch für die Kapitelle in der Vielfalt ihrer Gestaltung. Auch die Säulenbasen mit ihren Rundstäben und Eckverzierung_ gen weisen einen reichen plastischen Dekor auf, wie etwa die Blattwerkmotive und die Masken zwischen den doppelten Basen. Ein weiteres gemeinsames Merkmal der vier Galerien des Kreuzgangs ist die symmetrische Anordnung der Schmuckmotive und Inkrustationen an den gekuppelten Säulen rechts und links des Mittelpaares. An den Ecken des Kreuzgangs sind die Säulen zu Vierergruppen zusammengefasst, und an der Nordwestecke bilden sie einen kleinen Hof mit einem Springbrunnen in der Mitte. Auf jeder Seite durch drei Bogenstellungen begrenzt, stellt dieser quadratische Raum einen sehr gelungenen Innenwinkel dar. Vier Säulen und drei Kapitelle wurden in jüngerer Zeit vollständig erneuert. Über der grossen Brunnenschale erhebt sich ein sehr schlanker Schaft mit horizontal verlaufendem Zickzackornament. Auf den Schaft ist ein runder Knauf aufgesetzt, in den ringsum zwölf Figuren von Bacchanten und Musikern eingemeisselt sind. Darüber sind abwechselnd Löwen- und Menschenmasken dargestellt, und grosse Blätter umrahmen die Öffnung, aus der das Wasser hervor- quillt. Stilistisch gesehen sind in diesem Kreuzgang ganz unterschiedliche bildhauerische Elemente vertreten, die den verschiedenen Strömungen der romanischen Kunst - etwa der apulischen, der kampanischen, der lombardischen, der provenzalischen, der burgundischen Romanik oder jener der Ilede-France zugerechnet werden können. Da ein einheitliches gestalterisches Programm fehlt, haben die Kunsthistoriker die Kapitelle entweder nach Stilrichtungen oder nach den bevorzugt dargestellten Motiven klassifiziert. Tatsächlich ist es möglich, fünf verschiedene Meister zu identifizieren, von denen zwei im eigentlichen Sinne Bildhauer, zwei weitere Bildhauer und Marmorarbeiter waren und ein letzter ausschliesslich als Marmorarbeiter betrachtet wird, als »Marmorarius«, wie er sich selbst bezeichnete. Einer der fähigsten Meister, die an diesem Kreuzgang gewirkt haben, ist nach Ansicht Salvinis der Bildhauer mit dem Beinamen »Meister der Dedikation«. Er schuf eines der bedeutendsten Kapitelle des Kreuzgangs, nämlich das des Königs Wilhelm, der als Stifter des Domes der Gottesmutter die Kirche überreicht. Auf der anderen Seite dieses Kapitells sind allegorische Darstellungen der Tugenden skulptiert. Während dieser Meister dazu neigt, die Figuren zu verkleinern und gerne Miniaturdarstellungen in den Stein schneidet, ist der »Meister der Aussendung der Apostel« (benannt nach dem von ihm bevorzugt bearbeiteten Thema) leicht an seiner Vorliebe für reiche figürliche Darstellungen und an einer grosszügigen Gestaltung der Gesichter und Gewänder zu erkennen. Ein weiterer, eindeutig zu unterscheidender Bildhauer von ebenfalls bemerkenswerter Begabung ist der »Meister der Putten«, so genannt, weil er häufig Kinder dar stellte, die akrobatische Kunststücke vollführen, oder halbwüchsige Atlanten. Die Handschrift dieses Meisters lässt sich an einer grossen Zahl von Kapitellen erkennen. Mit dem Namen »Meister der Adler« wird ein Bildhauer bezeichnet, der auf den Kapitellen mit Vorliebe Motive aus der Vogelwelt in grosser stilistischer Übereinstimmung gestaltete. Auf einem Kapitell mit rein dekorativen Motiven ist schliesslich der Name Filius Costantinus Marmorarius eingemeisselt, der Name eines Künstlers, von dem wir als einzigen mit Sicherheit sagen können, dass er römischer Herkunft war. Vielleicht trieb ihn die Eitelkeit, seinen Namen auf einem Kapitell zu hinterlassen, obwohl dieses nicht sonderlich geglückt erscheint. 53 Selinunte Osthügel,Akropolis, Malophoros Die Tempel des Osthügels Die drei erhaltenen Bauten sind mit Gewissheit nicht die einzigen in diesem Gebiet gewesen. Bis jetzt konnten indes weder eine Einfassungsmauer des Tempelbezirks noch die Altäre der drei existierenden Heiligtümer gefunden werden. Moderne Bautätigkeit hat viele Spuren sicherlich unwiederbringlich zerstört, allerdings erhofft man sich von den noch nicht abgeschlossenen geophysischen Untersuchungen weitere Einsichten. Der südlichste, der Tempel E, ist der jüngste dieser östlichen Tempelgruppe. Er entstand kurz nach der Schlacht von Hirnera, wohl zwischen 470 und 450 v. Chr. Der mit seinen Stylobatmassen von 67,80 x 25,30 m zweitgrösste Tempel der Stadt wurde 1956 wiederaufgebaut. Das Gebäude bietet gleichsam ein Musterbeispiel eines klassischen Tempels. Seine Ringhalle von 6 x 15 Säulen umschliesst eine Cella mit Opisthodom und Pronaos in antis, deren Längswände auf der Achse der zweiten Säule der Schmalseite präzise eingefluchtet sind. Nicht nur der Grund-, sondern auch der Aufriss war mit den 10,15 m hohen Säulen ausgewogen proportioniert. Der selinuntinischen Tradition folgend wurde jedoch das archaische Adyton beibehalten . Seitlich neben der achtstufigen Treppenrampe, die an der Ostfront zum Eingang führt, Sind zwei Sockel erhalten, die der Form nach zu urteilen liegende Figuren trugen, wahrscheinlich Tiere oder Sphingen. Der Pronaos lag erhöht, vom Säulengang durch ein Gitter getrennt. Seine zwei Eingangssäulen weisen weniger Kanneluren auf als die der Peri- Selinunte stase (18 und 20). Der noch einmal um einige Stufen höher liegende Naos ging in das Adyton über, das sich auf einem wiederum höheren Niveau befand, so dass der Weg zum Allerheiligsten, in dem die Kultstatue aufbewahrt wurde, ein ständiges Emporsteigen erforderte - der Unterschied betrug insgesamt 1,30 m. Der im Adyton aufgestellte quadratische Stein könnte der Sockel gedient haben. Eine kleine, in der Nähe des Tempels gefundene Weihgabe mit einer Aufschrift an Hera lässt vermuten, dass ihr das Heiligtum geweiht war. Eine zweite Theorie hält es für dem Dionysos geweiht. Die fünf gefundenen Metopen des Frieses über Pronaos und Opisthodom bestanden aus Tuffsteinreliefs. Sie zählen zu den schönsten erhaltenen Werken des ,strengen Stils< (Nationalmuseum von Palermo; s. Abb. 85, 86, 89, 90). Den äusseren Metopenfries schmückten Malereien. Dem Tempel gegenüber liegt ein altes Bauernhaus, in dem ein kleines Antiquarium (2) untergebracht ist: Eine fotografische und graphische Dokumentation unterrichtet über Wiederaufbau und vorherigen Zustand des Tempels, zudem enthält es höchst interessante architektonische Fragmente, an denen noch deutlich die ehemaligen Farben zu erkennen sind: Triglyphen - blau, Regula - rot, Mutuli - blau, untere Geisonplatte - zinnoberrot usw. Zwei vortrefflich erhaltene Palmetten weisen als Dekor ein stark abstrahiertes, gemaltes Gorgonenhaupt auf. Tönerne Dachplatten und die dazugehörigen Verbindungsziegel machen die Technik der Dachbedeckung verständlich, zeigen aber auch deren dekorativen Aspekt. 55 Osthügel,Akropolis, Malophoros Bleiklammern in T- oder Z-Form, die zum Verklammern der Quadersteine dienten, veranschaulichen die Bautechnik des Tempels. Das Antiquarium ist verschlossen, wird jedoch auf Nachfrage vom Aufsichtspersonal jederzeit geöffnet. Die Grundmauern zwischen dem Tempel E und dem folgenden Tempel F gehören zu einem byzantinischen Bauernhaus, das bei einem Erdbeben von den fallenden Säulen des Tempels zerstört wurde. Der archaische Tempel F (3; um 530 v. Chr.), der älteste der erhaltenen Sakralgebäude des Osthügels, ist eine recht eigenwillige Peripteralkonstruktion mit 6 x 14 Säulen, in der Substanz ähnlich dem Tempel C der Akropolis und den frühen Heiligtümern von Syrakus. Sie alle haben die Betonung der Vorderfront durch eine doppelte Säulenreihe gemein, die auf der Achse der dritten Säule der Längsseiten liegt. Durch dieses ,Überspringen einer Reihe von Säulen entstand vor dem eigentlichen Heiligtum, der Cella, eine ausgedehnte Halle. Von den syrakusanischen archaischen Tempeln unterscheiden sich die beiden selinuntinischen durch das Fehlen der zwei Säulen und der Anten des Pronaos, dessen Eingang bei ihnen von starken Quermauern flankiert ist. Wie bei den meisten archaischen Tempeln liegen auch beim Tempel F die Längswände der Cella noch nicht auf der Achse der zweiten Säule der Vorderfront - wie später bei den klassischen -, sondern auf der Mitte des Interkolumniums zwischen zweiter und dritter Säule. Dadurch wird die Cella dieses Tempels, der mit Stylobatabmessungen von 61,80 x 24,40 m doch recht grosszügig proportioniert ist, sehr schmal und langgestreckt. Ein Opisthodom existiert noch nicht, die Cella bzw. das in Selinunt übliche Adyton wird an der Rückseite von einer glatten Mauer abgeschlossen. Die Säulen beim Tempel F wirken ausser-gewöhnlich leicht. Sie weisen noch keine Entasis auf und enden mit einem flachen, weitaus-ladenden Echinus. Ihre Kanneluren sind nicht sehr tief, die Kanten der Hohlkehlen sind - als einziges Beispiel in Sizilien - nicht scharf, sondern bilden schmale Bänder. Als ebenfalls ungewöhnlich dürfen die weiten Säulenabstände und vor allem die sie verschliessende, 4,50 m hohe Mauer gelten, in der sich an der Vorderfront zwischen den Säulen fünf Tore öffneten. Ringsum waren an den zugemauerten Interkolumnien Türen vorgetäuscht, die in allem den vorderen, wirklichen Eingängen glichen. Die Betonung der Stirnseite verstärkten die reliefierten Metopen (Fragmente von zwei 1823 gefundenen Metopen im Nationalmuseum von Palermo; s. Abb. 91). Architrav und Fries sind relativ schmal. Alle diese Einzelheiten lassen leichte ionische Tendenzen erkennen, die in dem nebenanliegenden Tempel G noch verstärkt hervortreten. Am Fussboden sind noch die halbkreisförmigen Schienen zum Öffnen des Cellatores zu sehen. Mit grösster Wahrscheinlichkeit war der Tempel der Athena geweiht. Der gewaltige Tempel G (4), der letzte der Dreiergruppe, ist mit seinen Stylobatabmessungen von 50,10 x 110,10 m und einer Ringhalle von 8 x 17 Säulen (Säulenhöhe 14,70 m, Säulendurchmesser 3,26 m) der grösste dorische Ringhallentempel, der je gebaut wurde - das noch etwas grössere Olympieion in Akragas war kein eigentlicher Ringhallen56 tempel. Er wurde kurz nach der Fertigstellung des Tempels F begonnen, doch zog sich seine Bauzeit wie bei den grossen Heiligtümern des griechischen Ostens über eine Spanne von einem halben Jahrhundert hin (520-470 v. Chr.). Der Bau ist, nicht nur, was seine Grösse anbetrifft, deutlich von den ionischen Riesentempeln Kleinasiens beeinflusst, die im 6. Jh. v. Chr. in Ephesos, Didyma und auf Samos entstanden. Diese Tempel waren Dipteroi, also Bauten mit zwei ineinanderliegenden Säulenkränzen. Als markantes Kennzeichen wiesen sie, wie auch der Tempel G, acht Frontsäulen auf, im dorischen Tempelbau eine seltene Erscheinung. Der fehlende zweite Säulenkranz des Tempels G findet sich nur in der inneren Säulenstellung vor dem Pronaos angedeutet -der Tempel G wird deshalb als Pseudodipteros bezeichnet. Auch der zwei Joch tiefe Abstand der Ringhalle von der Cella, der diese zu einem eigenständigen Gebäude innerhalb des Tempels werden lässt, hat ostgriechische Vorbilder. Der älteste Teil des Gebäudes, die Vorderfront, ähnelt derjenigen des Tempels F. Drei vergitterte Tore, je eines pro Schiff, schlossen die Cella ab. Die Schiffe wurden, ähnlich wie in Ephesos oder Milet, durch zwei doppelstöckige Reihen von je zehn monolithischen Säulen getrennt; an ihrem Ende lag eine kleine Kapelle, gleichsam ein »Haus im Haus<. Auf der Höhe der ersten Reihe lief über den Seitenschiffen eine Galerie entlang, zu der beidseitig Stufenrampen führten. Es ist nicht sicher, ob das Mittelschiff zum Himmel hin offen war, wie früher angenommen wurde; bei jüngeren Untersuchungen scheint der Ansatz für das Dach gefunden worden zu sein. An den Kapitellen kann man die Veränderung der Form von der archaischen zur klassischen Zeit sehr gut verfolgen: Archaisch flach und weit ausladend an der Frontseite, werden sie an den Langseiten immer voller, um an der Westseite die runde Form des klassischen Kapitells anzunehmen. Der Tempel war einst in kräftigen Farben bemalt, wovon Spuren gefunden wurden. Allerdings sind manche Feinarbeiten nie vollendet worden: So weisen nur die älteren Säulen an der Vorderfront schon die Kannelierung auf. Dass in einem Steinbruch (Cave di Cusa) gleich grosse Säulentrommeln wie die des Tempels gefunden wurden, beweist nicht, dass dieser nie vollendet wurde, da sie ja bei ihm nicht fehlen. Die eingangs zitierte Inschrift, im Adyton des Tempels gefunden, nennt ausserdem eine goldverkleidete Zeusstatue, die die Selinuntiner im Apollonheiligtum aufstellen liessen, nur ist nicht sicher, in welchem. Der Tempel G scheint entweder Apollon oder Zeus geweiht gewesen zu sein. Akropolis Vom Osthügel aus ist das Gelände jenseits des Flusstals gut zu überblicken (s. Abb. 55). Die Akropolis befand sich auf einem Plateau, dessen Südseite aus dem Meer aufstieg und das im Osten und Westen die Flüsschen Hypsas und Selinus begrenzten (heute Gorgo Cottone und Modione). Bei ihren Mündungen schnitten nun versandete Buchten in das Land ein, die sich vortrefflich als kleine Häfen eigneten. Bei der Mündung des Gorgo Cottone, den man auf dem Weg zur Akropolis überquert, sieht man, halbverdeckt von Sand, noch einige Steine des antiken Anlegestegs und Reste der Magazine. Dicht daneben, wo einst das Stadttor lag, erhebt sich die grosse Stadtmauer, die ehemals das gesamte Siedlungsareal umschloss, 409 v. Chr. zerstört und nicht wiedererrichtet wurde. Dahinter sieht man eine in Stufen errichtete zweite Mauer, die die Erdaufschüttungen, durch die das Stadtgelände vergrössert wurde, stützte. Am Rand des Südhangs befand sich ein antiker Leuchtturm (heute steht an dieser Stelle ein Haus). Nicht weit davon entfernt beginnt die 8 m breite Hauptstrasse, die geradlinig das Stadtgebiet bis zum Nordtor durchschneidet. Sie wird neben weiteren, schmaleren Querstrassen von einer ebenfalls fast 9 m breiten Strasse gekreuzt, die die beiden Häfen miteinander verband und vom südwestlichen zum südöstlichen Stadttor führte. Schon im späten 7.Jh. v. Chr. hatte die Stadt dieses regelmässige Strassennetz erhalten, das dem Ort urbane Strukturen verlieh. Im Südosten wurde etwa ein Drittel der Akropolisfläche aus dem Siedlungsgebiet ausgegrenzt und für zwei grosse Heiligtümer nördlich und südlich der grossen Querstrasse reserviert. Beide Heiligtümer wurden im 5. Jh. v. Chr. von einer niedrigen Ternenosmauer umgeben, die, wie in griechischen Städten üblich, die Trennung von Siedlungs- und Sakralgebiet unterstrich. Die Bezeichnung Tempel 0 (5) steht für eine Plattform, die vielleicht nie die Basis eines Tempels werden sollte. Jedenfalls sind nicht einmal, wie bei einem Tempelbau üblich, die geplanten Standorte für Säulen darauf angegeben. Südöstlich davon lagen mehrere kleine Kapellen, darunter auch eine phönizische. In byzantinischer Zeit war die Plattform Teil der Festung; die ausgehöhlte Vertiefung gehörte zu einem Backofen. Stark unter Steinraub litt der nahe Tempel A (6), ein Ringhallentempel mit 6 x 14 Säulen und Stylobatabmessungen von 40,30 x 16,13 m, wie Tempel 0 südlich der grossen Querstrasse gelegen. Er besass Pronaos und Opisthodomos in antis mit je zwei Mittelsäulen. Cella und Adyton lagen jeweils um eine Stufe erhöht. Innerhalb der Quermauern an beiden Seiten des Eingangs befanden sich steinerne Wendeltreppen, und die Decke der Cella war mit verzierten Platten verkleidet. Ausser dem Beibehalten des Adytons weicht der um 480-470 v. Chr. errichtete Tempel in nichts von einem dorischen Tempel ab. Am Fussboden vor dem Pronaos des Tempels A sind die Symbole des Baal-Hadad (Stierkopf ) und der Tanit wieder-gegeben. Der Bodenbelag geht auf die Zeit nach 409 v. Chr. zurück. Westlich dieser zwei griechischen Heiligtümer befinden sich die Reste eines karthagischen Sakralgebietes. Es bestand aus einem rechteckigen, von einer Mauer umgebenen Hof, an dessen Nordseite ein Gebäude mit zwei vortretenden Seitenflügeln und einem kleinen Bezirk zur Aufbewahrung von Urnen lag. Wesentlich dichter bebaut und von komplizierterer Struktur war das Heiligtum nördlich der Querstrasse. An seine Südmauer angelehnt finden sich Reste eines grossen Opferaltars, der vermutlich älter ist als das Strassensystem von Selinunt und bei der Anlage der grossen Querstrasse z.1. abgetragen werden musste. Daneben ist die neunstufige Rampe des 57 Osthügel, Akropolis, Malophoros Tempels B (7) zu erkennen, eines kleinen hellenistischen Heiligtums (8,40 x 4,60 m) aus dem 3-4. Jh. v. Chr. mit vier vorgelagerten dorischen Säulen, einem Pronaos und einer quadratischen Cella; der Sockel der Kultstatue steht noch an Ort und Stelle. Neben dem grossen Tempel C lag ein kleines archaisches Heiligtum (17,65 x 5,50 m; um 580 v. Chr.) in der alten Form des Megarons, dem ringhallenlosen Vorläufer des dorischen Tempels. Der erste Raum zeigt in der Mitte noch den Ansatz zweier quadratischer Pfeiler, die das spitze Dach stützten. Der zweite Raum hatte die Funktion eines Adytons. Ein dritter kleiner Raum wurde später angefügt, steht aber nicht mit den älteren in Verbindung. An der Stelle eines nebenanliegenden zweiten Megarons errichteten die Selinuntiner 570-560 v. Chr. ihren ersten grossen Ringhallentempel, den heutigen Tempel C (8). Seine 6 x 17 Säulen, die sich ohne Entasis kontinuierlich verjüngen, erreichen eine Höhe von 8,65 m. Die Eck- sind stärker als die anderen Säulen (Durchmesser 1,95 zu 1,77 m), Eck- und Fassadensäulen weisen jeweils 20 gegenüber sonst 16 Kanneluren auf. Mit 63,70 x 24 m im Stylobat ist Tempel C der grösste auf der Akropolis. Tempel C ist wenig jünger als die archaischen Tempel von Syrakus und ihnen im Plan sehr ähnlich - es fehlen nur die zwei Säulen am Eingang zum Pronaos. In seinem Aufbau zeigt er jedoch bereits eine weit grössere Ausgeglichenheit der Proportionen als jene. Die Säulenabstände sind entschieden breiter, die Säulen höher und mit mehr Kanneluren versehen, Architrav und Fries leichter, und die Raumeinteilung der Triglyphen und Metopen ist im Gegensatz zu Syrakus harmonisch und gut proportioniert. Reliefmetopen waren an der Fassade angebracht, ein reicher Dekor verzierter Tonplatten schmückte den Giebel, der im Zentrum in einer grandiosen Darstellung des Gorgonenhauptes gipfelte (drei Metopen, Reste der Gorgone und der Terrakottaverkleidung im Nationalmuseum von Palermo). Der Tempel wurde 1925/27 teilweise wiederaufgebaut und vielfach falsch rekonstruiert. Dem Heiligtum scheint das städtische Verwaltungsarchiv angeschlossen gewesen zu sein. In seinem Bereich, westlich an die Hauptstrasse grenzend, befindet sich eine Reihe kleiner, teils miteinander verbundener Räume, in denen Bruchstücke von Schreibtäfelchen und Hunderte von Tonsiegeln gefunden wurden; sie alle zeigen Darstellungen des Herakles. Den grossen freien Platz östlich des Tempels begrenzte zum Hügelende hin ein Portikus (57 m lang, 2,80 m breit). Zwischen diesem und dem Heiligtum lag der Opferaltar. Ähnliche Gestaltungsprinzipien wie Tempel C weist auch der nördlich von ihm liegende Tempel D (9; um 540 v. Chr.) auf, allerdings deuten einige Strukturen bereits auf eine Loslösung von archaischen Bautraditionen. Mit einer Ringhalle von 6 x 13 Säulen stellt dieser Tempel eine absolute Ausnahme unter den westgriechischen Tempeln und einen kühnen Vorgriff auf klassische Gestaltungsmuster dar. Da die Stylobatproportion von 56 x 24 m ungefähr der des Tempels C entspricht, die Längsseiten jedoch jeweils vier Säulen weniger besitzen, kam es zu ungewöhnlich weiten Säulenabstän58 den, und in dieser weiten und lichten Ringhalle lag erneut eine sehr langgestreckte Cella mit Pronaos und Adyton. Der Verzicht auf die tiefe Vorhalle mit doppelter Säulenstellung, wie sie bei Tempel C begegnet, half bei der Kaschierung dieses Entwurfproblems und rückt den Tempel näher an die klassische Form heran. Die Säulen haben eine leichte Entasis und steigern ihre Eleganz durch eine grössere Zahl von Kanneluren als die beim Tempel C (25 bzw. 16 an den dem Pronaos vorgelagerten Säulen). Die Veränderung der Kapitelle wirkt dagegen weniger glücklich, die geschwungene Linie ist dabei verlorengegangen, und so hält hier das Resultat den Vergleich mit Tempel C nicht aus. Die Westfront des Tempels grenzte an die Nord-Süd-Hauptstrasse, der Altar lag im Osten. Der Fussboden der Cella und des Säulengangs der Tempel C und D weist runde oder quadratische Vertiefungen auf, vielleicht zum Befestigen von Statuen oder Weihgeschenken. Nicht weit entfernt vom Nordostwinkel des Tempels D blieb die Basis eines kleinen archaischen Heiligtums mit seinem Opferaltar erhalten. Diesem sog. »Tempel der kleinen Metopen< (15,20 x 5,40 m) werden, ohne es sicher beweisen zu können, die sechs kleinen Metopen im Nationalmuseum von Palermo zugeschrieben (s. Abb. 87 und 92). Das Gewirr von Grundmauern östlich der Tempel geht hauptsächlich auf Bauten aus der zweiten Epoche von Selinunt zurück, als hier der Markt eingerichtet wurde. Bei den Wohnhäusern, einem chaotisch anmutenden Gewirr von Grundmauern, liegen die Gebäude aus den verschiedenen Epochen der Stadtgeschichte über- und nebeneinander. Ab Mitte des 6. Jh. v. Chr. waren die älteren, aus Lehm, Holz und Fachwerk errichteten Häuser durch geräumigere Steinbauten ersetzt worden, die sich um einen Innenhof gruppierten und mindestens zwei Stockwerke besassen; die unteren, zur Strasse hin gelegenen Räume wurden oft als Geschäfte vermietet. Die Reste dieser Häuser erkennt man an den sorgfältig bearbeiteten Tuffsteinquadern. Bei dem Wiederaufbau nach der Zerstörung 409 v. Chr. wurden die noch verwendbaren Überreste der alten Gebäude in die neuen integriert oder lieferten das dafür nötige Baumaterial. Die Bautechnik war nun phönizisch, d. h. grosse, senkrecht stehende Steine (Orthostaten) bildeten das Skelett der Wände, während die Zwischenräume mit kleinen Steinen aufgefüllt wurden. Die Fassaden erreichten nur eine Breite von 4-9, die Türen von etwa 1 m. Befestigungsanlagen Die ursprüngliche, aus grossen, eckigen Tuffsteinen errichtete Stadtmauer, 10 m hoch und an ihrem oberen Rand 2,50 breit, war von aussen mit Verstärkungskonstruktionen und an allen Eingängen mit Türmen versehen und umschloss das gesamte Wohngebiet, Akropolis und Asty. Bei der Akropolis blieben einige Abschnitte mehr oder weniger gut erhalten. Dort wurden später die alten Anlagen mit jeglichem zur Verfügung stehenden Material ausgebessert; darunter wurden auch zwei archaische Metopen entdeckt, die sich jetzt im Museum von Palermo befinden. Mehrere Zugänge wurden vermauert. An der am meisten gefährdeten Nordseite entstanden die mächtigsten Verteidigungsanlagen: beim Stadttor wurde die Schutzmauer auf einer Länge von 22 m durch einen 2 m starken Anbau verstärkt, der beidseitig symmetrisch mit einem quadratischen Turm endete. Das Tor selbst wurde dabei von 9,10 m auf 2,85 m verengt. Ihm vorgelagert, entstanden auf unterschiedlichem Niveau zwei langgestreckte Plätze, durch ein dreistöckiges Bauwerk getrennt und von zwei mächtigen Türmen im Norden und Westen geschützt. Der tiefer gelegene Platz (Höhenunterschied 5 m) diente wohl als Sammelplatz für ausstürmende oder sich zurückziehende Truppen, denn die weiteren Anlagen sind auf seinen Schutz hin ausgerichtet: Zwölf Bogeneingänge öffnen sich auf den unteren Stock der Anlage, die von den drei oberen Stockwerken aus verteidigt werden konnten. Die dahinter liegenden parallelen Gänge standen mit dem Westturm in Verbindung, der obere Teil des hohen Gebäudes dagegen mit dem Nordturm. Weitere Konstruktionen an den übrigen Seiten des Platzes hatten die Aufgabe, Massenanstürme zu erschweren und eventuelle Rückzüge zu decken. An Nord- und Ostseite wurde, der Stadtmauer vorgelagert, eine zweite, niedrigere Mauer errichtet, die heimliche Truppenverschiebungen ermöglichte. Dicht beim Westturm konnte die Stadt durch einen unterirdischen Ausgang verlassen werden. Diese Verteidigungsbauten wurden wahrscheinlich während der kurzen Oberherrschaft des Dionysios von Syrakus errichtet (397-392 v. Chr.). Auf spätere Zeiten geht eine weitere, im Nordosten der Stadt-mauer angeschlossene Anlage mit halbrundem Turm zurück, deren Bautechnik allerdings minderwertiger ist. Demeter Malophoros-Heiligtum Das westliche Sakralgebiet mit dem Heiligtum der Malophoros (»die Granatapfeltragende<) ist Demeter als Göttin der Unterwelt gewidmet. An keinem anderen Ort kann man die Verschmelzung phönizischer und griechischer Mythen deutlicher erkennen als in diesem Sakral Bezirk an der ehemaligen Flussmündung; die ehemals tiefe Bucht ist indes heute versandet. An dergleichen Plätzen pflegten die Phönizier Memmonia anzulegen - Kultstätten, in denen der sich auflösende Fluss, der über den Regen wieder zur Quelle und somit zum Fluss wird, den Zyklus von Vergehen und Werden versinnbildlichte. Ein ähnlicher Symbol gehalt liegt dem Malophoroskult zugrunde, in dem Demeter als Spenderin von Leben und Tod, als grosse Urmutter, verehrt wurde. Eine vergleichbare Funktion hatten auch die thrakische Unterwelts- und Mondgöttin Hekate, deren Name ebenfalls auf einer Inschrift in diesem Sakral Bezirk zutage kam, und Aphrodite in Verbindung mit Adonis inne, von der Hunderte Terrakottendarstellungen gefunden wurden. Schon während die Siedler ihre ersten Wohnhäuser bauten, errichteten sie ein kleines Megaronheiligtum jenseits der Mündung des Selinus. An der Wende vom 6. zum 7. Jh. v. Chr. wurde dieses erste Heiligtum vergrössert. Andere waren in seiner nahen Umgebung entstanden, und im 5. Jh. v. Chr. wurde das Gebiet mit einer Mauer umschlossen, und der Ternenos der Malophoros erhielt einen monumentalen Eingang (Propylon). Kurz vor den Mauern des heiligen Bezirks steht ein kleiner Tempel mit vorgelagertem Altar, Pronaos, Naos und Adyton (1). Im letzteren blieb die Basis erhalten, die noch die Vertiefungen zum Verankern der drei Bethel aufweist - drei abgestumpfte konische Säulen, die für die Phönizier die magische Quelle allen Lebens versinnbildlichten (beth-el = Haus Gottes). Angeschlossen an den Ternenos der Malophoros, mit diesem zwar verbunden, aber mit eigenen Eingängen von aussen her versehen, liegt ein quadratischer Sakral Bezirk mit einem sehr kleinen, ebenfalls quadratischen Heiligtum und verhältnismässig grossen Wasserbecken (2). Allem Anschein nach war er für den Kult der Hekate bestimmt. Hinter diesem und vor dem Propylon ist ein Kreis aus Steinen erhalten (3), der entweder als Imitation des eleusinischen Brunnens oder als Sockel für ein Abbild der dreigesichtigen Hekate betrachtet wird. Vom Propylon (4) sind die Stufenrampen, Ansätze der Säulen und die Sitzbänke des Innenraums erhalten. Von hier aus führte eine von Zypressen und Pinien beschattete Strasse zum Tempel der Malophoros. Auf dem freien Platz sind verschiedene archaische Altäre auszumachen. Vor dem Tempel liegt der grosse Altar (5), flach und ohne Stufen. In einer steinernen Rinne (6) wurde das Wasser einer als heilig betrachteten Quelle an dem Altar vorbeigeleitet. Trotz mehrerer Umwandlungen blieb die sehr archaische Form des Tempels (7) unverändert. Er besteht aus einem Pronaos, Cella und Adyton, ohne erhöhte Basis oder Säulen. Das mit einer Nische versehene Adyton überdachte ein Tonnengewölbe (der Ansatz ist noch erkennbar), Cella und Pronaos dagegen eine flache Decke. Die Wände waren mit Stuck überzogen, den Aussendekor bildeten verzierte Tonplatten. An der Ostseite befand sich ein Doppelportikus (8) mit innen und aussen entlanglaufenden Sitzbänken. Dahinter lag, allerdings nur von ausserhalb des Ternenos zu betreten, ein langer Korridor (9), der zu zwei Räumen unbekannter Funktion führte. Nach Norden hin liegt ein weiteres ummauertes Gebiet, in dessen Nordostwinkel ein quadratischer Ternenos (17 x 17 m) das sog. Heiligtum des Zeus Meilichios umschliesst (10). Zeus Meilichios scheint eine Gleichsetzung mit BaalHadad, dem Vater Aleyins (Adonis), zu sein, der im Mythos durch seinen Aufenthalt in der Unterwelt mit Persephone in Zusammenhang stand. Ausser dem kleinen, völlig ungriechischen Tempel (5,20 x 3 m, mit zwei monolithischen Säulen) im Innenraum enthält es Altäre und Räume unbekannter Verwendung. An Nord- und Südseite lief je ein Portikus entlang. In dem Urnenfeld (11) westlich dieses Bezirks wurden Grabstelen gefunden (Nationalmuseum von Palermo), deren Art in der Antike keine Parallelen findet und die wahrscheinlich auf einen alten, vorgriechischen Brauch zurückzuführen sind. In dem Gelände befinden sich wiederum drei Bethelsteine. 59 Cave di Cusa Cave di Cusa: three „journeys“ Alvaro Siza Vieira with Roberto Collova, Nuno Lopez, Eduardo Sauta Moura Collaborators: A. Ali, B. Asaro, I. Bertrand, S. Lentini, P. Mincio, Olivier, V. Trapani The Rocche di Cusa are ancient quarries of calcareous tufa, where materials were extracted for construction of the town of Selinunte and its temples. After the conquest of Carthage in 409 B.c. the quarries were disused; it is still possible to see the incisions made in the rock, during extraction of the stones for the pillars, or a capital roughly hewn out. The subject of the project was access to the quarry area, a sort of „gateway to the past.“ But at Cusa it is hard to distinguish between past and present: the situation is so fleeting that work in the quarries might have been broken off yesterday and this makes any chronological concern insigntficant. Everything here remains discrete, humdrum and the suspension, the cut in time, has seemingly fixed certain allusions, almost certain rules for this place, which ends up perhaps having absolutely nothing in common with the Greek temples. The Cave di Cusa are the condensation of transformation and continuity: the pieces of semi-finished limestone are parts of a building, it is true, but also the geography of that landscape: these pieces of architecture keep their roots in the ground, they are still rocks. 60 Selinunte Steinbrüche (Cave di Cusa) Das meiste Baumaterial gewannen die Selinuntiner in einem nur 5 km entfernten Steinbruch, den sog. Latomien. Für den Bau ihres grössten Tempels holten sie das Gestein aus den 13 km entfernten »Cave di Cusa< (Richtung Campobello di Mazara), deren Steinqualität kompakter und deren Farbe heller war. Dort sind einige der Trommeln von den Massen des Tempels G in den verschiedenen Arbeitsphasen stehengeblieben, andere, gespaltene auf dem Gelände verstreut. Anfang unseres Jahrhunderts sollen einige noch auf der antiken Zufahrtsstrasse nach Selinunt gelegen haben. Bei einer Gruppe sind zwei schon vollständig isolierte Säulentrommeln neben einer dritten im Anfangsstadium zu sehen. Die Arbeit wurde von oben her begonnen, wie es scheint mit doppelten Rundsägen, so dass nur der in der Mitte der Spuren stehengebliebene Teil des Felsens herausgeschlagen werden musste - Kalkstein lässt sich mit Wasser- und Sandzufuhr leicht sägen, auch mit weniger hartem Material. Kanäle für die Wasserzufuhr kann man in dem Fels gut erkennen. Bei genauerer Beobachtung sieht man, dass jeder Kreis wie in einem Quadrat steht, d.h. es sind im Gestein deutlich rechtwinklige Vertiefungen auszumachen, die eventuell zum Aufstellen einer Maschine gedient haben könnten. 61 Gibellina Il Creto di Gibellina Alberto Burri (1968) Gibellina Nach dem Erdbeben 1968, das im sog. Tal des Belice mehrere Ortschaften mehr oder weniger stark beschädigte, wurde den Einwohnern des fast völlig zerstörten Bergdorfes Gibellina untersagt, ihre Häuser wieder aufzubauen. Zehn Jahre waren sie gezwungen, in ungesunden Wellblechbaracken zu leben, bis der Staat entschied, 28 km entfernt, dicht an der Autobahn, ein Gibellina Nuova zu errichten. An dem Wiederaufbau waren Architekten und Künstler ganz Italiens beteiligt (Pietro Gonzaga, Gino Severini, Fausta Melotti, Arnaldo Pomodoro, Ignazio Moncada u. a. m.). Das Resultat ist sehr umstritten. Auch die verlassene Ortschaft in den Bergen entging nicht dem Kunstrausch: Nach einem Projekt von Alberto Burri wurden die Ruinen mit weissem Zement eingegossen, und nur die tiefen Gräben des alten Strassensystems durchschneiden das kompakte Ensemble aus Zement. Nach der Meinung einiger Intellektueller sei der Ort in seiner Trostlosigkeit nun vorzüglich dafür geeignet, Theaterstücke, vornehmlich Tragödien, aufzuführen. Doch über die Jahre hinweg erwies sich die Initiative als wenig erfolgreich. 63 Il Creto di Gibellina Alberto Burri (1968) You reach it after kilometres of passing scarcely another vehicle, with next to no inhabited houses. More than thirty years after the earthquake, in almost total silence, amidst stillstanding ruins you can make out the tiled floors of a home, concrete beams with their reinforcements twisting in the air, or doors opening onto nothingness, If you go there at night, the Cretto offers an eerie presence: its white surfaces dimly but clearly reflect the moonlight and stand out against the absolute darkness of its surroundings. Alberto Burri‘s idea for Gibellina is linked to his monochrome series, Cretti. They went on show in Bologna for the first time in 1973, and are in fact aqueous masses compounded of vinyl glues and zinc or kaolin white, which Burri leaves horizontal to dry on trestles, constantly controlling their evolution; he examines and manipulates them daily during the drying process until the paste finally splits and cracks. The matter acquires corporeity and a cracked landscape appears in it, furrowed with manifold fissures which will abound in the gradual objectualisation of Burri‘s painting, The central theme of these paintings is the process of reorganisation of matter when submitted to a sudden change in state. But this is not nostalgic matter which activates our memory by associating colour and texture with memories. It is abstract, monochromatic, deprived of all external references and remaining opaque to everything but its own processes, anything beyond its system of transformation. As a result, the artist accepts forms and configurations which he can neither completely foresee or anticipate, and becomes an apparently 64 non-central factor in his work, adopting a tangential, foreign, distanced attitude. His role then lies in initiating processes, setting them under way and letting them follow their course, controlling their development, accelerating or slowing it, inverting or restructuring the external conditions -humidity, density of load, configuration of limits-, yet without directly modifying or transforming any but secondary aspects. What becomes manifest in this series of works, as in so many contemporary works and authors, is the total independence of the painting and, by extension, of the artistic proceedings and products. What Burri refers to in his Cretti is not, as a first glance would seem to indicate, the ground cracked by drought and sun. Even horizontal work, like in Pollock‘s drippings, checks the traditional means of visual control over the result. This underlines their radical autonomy: their purpose lies within them, in the event that produces them. What we are presented with in the Cretti is merely a selfreferring process, unrelated to any figurative allusion which points up the properties of the matter and the course of time in the configurations -temporary states of balance- it gradually adopts, One night in January 1968, while Alberto Burri‘s work was obsessively, slowly turning around matter and its processes, an earthquake shook the valley of the river Belice, which crosses the western edge of Sicily from north to south. Over a thousand people died and almost a hundred thousand lost their homes. Twelve towns were completely destroyed, including Gibellina. Situated in an impoverished area but one of great cultural richness, between Segesta and Selinunte, at that time it had over six thousand inhabitants. Only the cemetery was left standing. Unlike other communities affected by the quake -Salaparuta, Santa Ninfa or Poggioreale- which decided to rebuild their towns from scratch over the ruins of their houses, the new Gibellina was to be built along the lines of the garden city model, near the train line and a motorway, on a plain some 20 kilometres from the remains of the original town destroyed by the seism. After his visit to the town in 1981, Alberto Burri proposed a great white Cretto which would blend in with the lie of the land over part of the ruins of Gibellina Vecchia, like a sudden solidification of a mass in fluid state: a large waving surface, cracked with passable fissures and rifts which roughly reproduce the layout of the old town. In this way, a mesh of paths is woven between the 122 blocks into which this great white outflow is split: „People can walk along the paths to the places where the church, the town square used to stand, where the fiestas were held .. ,“ Rather than removing the ruins with all their rubble, they are left inside the blocks: cases built with side walls of white concrete shuttered with plastic and sealed with a layer of concrete. They form a discontinuous archaeological landscape, composed of warped white surfaces containing the remains of walls, roofs, personal effects: the material possessions of a disappeared, exiled population which has moved its homes to a distance of some kilometres. In the fissures of the Cretto, the visitor looks out slightly above the warped planes which seal the ruins. This spatial mechanism generates a constantly changing multiplicity of perceptions of these surfaces: some sloping, some almost vertical; on occasion merely disappearing into the sky, and often into the abstract hills of the Belice valley, But the Cretto of Gibellina should not be seen or analysed as a mere transposition in scale of the Cretti of the seventies, Neither the process nor the materiality could ever be the same; the coherence of Burri‘s career precludes an interpretation of it as a simple, unreflective repetition or an artistic discovery. THE CRETTO IS ABOVE ALL AN ACT OF NEGOTIATION WITH THE PLACE AND MEMORY, WHICH BURRI GIVES TO AN ALIENATED, UPROOTED POPULATION; BY IDENTIFYING THE FORM OF A PROCESS OF RESTRUCTURING OF MATTER -IN SOME WAYS SIMILAR TO WHAT HAPPENED TO GIBELLlNA- AND THE FORM OF THE DESTROYED TOWN, HE CREATES A MECHANISM TO LINK EVENTS, CONFIGURATION AND TIME. In Burri‘s artistic work, just like in the actuations of certain American artists -Robert Smithson, Michael Heizer, Walter de Maria .. ,to which this work may be likened for its scale and relation with the landscape, we see an interest in the entropy of the processes of self-organisation which characterise material systems. In the Cretto, this concern with explaining, manifesting a time which regulates the fluctuations in levels of organisation, becomes an active attempt to stabilise 65 Il Creto di Gibellina Alberto Burri (1968) a process, cancel it out, by proposing an actuation which, in turn, makes this dissipating instability -the 1968 earthquakevisible. In the form of the streets of old Gibellina, it identifies with a stable situation of non-balance, what physicists call a „stationary state“. SUPERPOSED OVER THIS OBJECTIVE NOTION OF TIME, SEEN AS A MAGNITUDE OF LINEAR REFERENCE WHICH MEASURES THE LEVELS OF ENTROPY OF MATTER, IS A RETROSPECTIVE time which delves into the past to link memory -broken, fractured by the cataclysm- and place, seeing that it is impossible to recognise signs, physical imprints of habitation in it. But this on-site project has nothing to do with the conceptions that the architecture discipline is developing. Burri‘s proposal does not attempt to be a founding act that signposts a place and aspires to be permanent or essential; it does not celebrate its tectonicity as a metaphor for building, that existential task which uses what is stable to link man with his land and his past. This more complex, open concept of place is a field of forces marked out by directions and points of intensity in which the work is introduced and which it must question, denying or affirming it, and in any case manage to transform. The Cretto does not seek to withstand forgetting by accumulating memories, by a nostalgic operation that challenges the passing of time, that evokes and perpetuates irretrievable images; it aims to build another town, unlike the new Gibellina, which will condense its identity and give its inhabitants 66 an untraumatic link with their past; one which will manipulate time to give memory and place an abstract, unallusive image, thereby creating an artificial landscape of maximum intensity in this desolate spot in inland Sicily. Municipio (Rathaus) (1971-87) Gibellina Architekten: Giuseppe Samona, Alberto Samona, Venedig/Rom 1970, nach dem Erdbeben, wurden Giuseppe Samona, Vittorio Gregotti, Gianni Pirrone und AIberto Samona beauftragt, das neue Centro Civico für Gibellina zu entwerfen. Das Projekt folgt als offene Linie der vorhandenen Topographie. Während das Gesamtprojekt auf eine gemeinsame Planung zurückgeht, wurde das Rathaus von Giuseppe und Alberto Samona entworfen, der Markt von Vittorio Gregotti, das Centro Sociale von Gianni Pirrone, die Bibliothek von Gregotti und Alberto Samona sowie auch die Gebäude, die diverse öffentliche Einrichtungen zusammenfassen. Wieviel Rücksicht das Rathaus auch nahm, es wurde nur teilweise ausgeführt, z.B. fehlt der Büroflügel, der den Rathausplatz abschliessen sollte. Das architektonische Konzept basiert auf dem Kontrast der Struktur des grossen Versammlungsraumes aus Sichtbeton mit der Linearität des Bürogebäudes, verkleidet mit örtlichen, gelben Tuffsteinen 30 x 30 cm. Sie vereinheitlichen die Volumen, die eine einfache Aufreihung von verschienen Büro-Einheiten sind. Der Ratssaal im Erdgeschoss ist von vorgelagerten Arkaden umgeben. 67 Case di Lorenzo (1981-87) Architekt: Francesco Venezia, Neapel «Bedda»: Das sizilianische Wort für wundervoll. Architettura metafisica, in der Faszination höchstens vergleichbar mit Aldo Rossis Friedhof San Cataldo, sonntags. Das Fragment einer Palazzo-Fassade aus dem alten Ort wird Teil eines elementaren Museums, am Stadtrand wie früher, aber vollkommen verhüllt und geschützt vor der Leere des neuen Gibellina, wie beiläufig steht es an der Strasse. Ein abgesenkter Weg führt durch die Erde, die den Palazzo hervorbrachte und zerstörte, in eine Welt aus Stein: Den Innenhof mit der Fassade, eingefasst von Tuffsteinstreifen aus Enna, wieder symmetrisch. Getrennt durch Fugen. Die übrigen Wände ausgefacht mit Steinen aus Mazara und Alcamo. Den Weg weiter, die mit Lavastein belegte Rampe hinauf, hinaus aus dem Hof in eine schwebende Stirnhöhle ohne Ausblick, ein harter Schatten an der Südwand, ein Schlitz im Boden. Wieder hinein in den Gang zwischen Hof und Strasse, Blicke durch leere Fenster, das Piano Nobile. Eine einzige Öffnung durch den Hof zur Stadt. Am Ende ein abgelöstes Refugium, Steinbank, Wasserbecken von einer Schlange bewacht, die «verdoppelte» Nordwand. Durch den Schatten wandert der Lichtstreifen der Fuge, das Gegenteil der Südseite. Die Rampe soll in einen terrassierten Limonenhain münden. Das offene «Grab» der Case di Lorenzo stellt die Beziehung zwischen innen und aussen nicht nur in einen räumlichen Zusammenhang. 68 Gibellina Farmacia Girardi (Apotheke) (1981-84) Gibellina Architekten: Franco Purini, Laura Thermes, Rom Die Apotheke ist das erste realisierte Haus des virtuos zeichnenden Paares Purini/Thermes nach Purinis Trennung von Gregotti, ein Auftrag in der Folge des «Belice 80». Sie sehen es als Summe «kontrollierbarer» Elemente (Fassade, Kolonnade, Treppe, Studio, Kurve), als bewusste Antwort auf die Dauer des Bauens im Süden, die Beschreibung dieses Zeitraumes als Fragment selbst und der Fragmente darumherum. Der Entwurf wird geordnet von einer autonomen Achse, beginnend mit dem Bild einer «Urhütte» über dem Eingang, ein mit Glas und Blech gedeckter Patio für das private Obergeschoss. Quer dazu eine sekundäre Achse mit Treppe und aufgeständertem Studio, eine exhibitionistische Antwort auf den Platz, an dessen Stirnseite die Apotheke liegt. Die Fassade stellt mit ihrem Bild den Massstab in Frage, sie «verweigert» sich hin zur Nebenstrasse, ebenso wie die Kolonnade ohne Abschluss entlang eines engen Fussweges: gebrochene Elemente des Bauens. 69 Giardino (Garten) (1985-87) Architekt: Francesco Venezia, Neapel Lange Zeit lag eine Sammlung alter Steine auf einem Bürgersteig Gibellinas, das waren die Vorboten des gerade realisierten «Giardino» von Francesco Venezia als existenzielle Variation eines Steingartens, die Definition einer Ecke. Ein Haus unter Häusern, aber ohne Dach als Bild des Unvollendeten und Zerstörten, das sich nun in einen Garten verwandelt hat. Eine Mauer folgt der Strasse und berührt dabei die Kante des angehobenen «Gartens», der sich in eine der Fussgängerstrassen schiebt, von einer Rampe erschlossen. 1m Zentrum einer quadrierten Spirale ist ein Brunnen vorgesehen, ein etwas abgesenkter Travertin-Zylinder, der durch das Wasser erodiert wird. Die inneren Mauern werden mit den alten Tuffsteinen aus Caltanissetta errichtet, die äusseren betoniert. Die horizontale Streifengliederung entsteht durch Zuschläge von Marmorpulver oder Flusskieseln und Auswaschen der Oberfläche. Lavaplatten vom Etna sollen den Boden bedecken. Durch leere Fenster blickt man über die Resträume zur Kurve - nicht begehbare Distanzgärten - auf Ausschnitte von Strasse und Häusern, hier soll ein Eukalyptusbaum gepflanzt werden. 70 Gibellina Case di Stefano (1985-88) Gibellina Architektinnen: Marcella Aprile, Teresa la Rocca, Palermo, 1985-1988 Das alte Feudalgut der entschädigten Barone di Stefano, denen früher der Salinella-Distrikt gehörte, wird momentan zu einem Museum umgebaut, oberhalb der neuen Stadt. Vorgesehen sind zwei parallele Höfe, der hangseitige wird von den alten Gebäuden gebildet. Der ehemalige Kornspeicher mit seinen charakteristischen Spitzbögen soll das Museum der Scuola Media aufnehmen, das Wohngebäude gegenüber ist als Sommerakademie der Universität Palermo vorgesehen. Der Hof ist traditionell mit Kieseln gepflastert, er wird für Aufführungen der Orestiade genutzt. Neubauflügel für Wohn- und Verwaltungsräume schliessen die Anlage gegen Tal und Stadt ab, eine jahrhundertealte Palmenallee führt in die ehemaligen, inzwischen verkarsteten Jagdgründe. 71 Torre Civica (1986) Architekt: Alessandro Mendini, Mailand Je eine Turmhälfte hat Mendini dem Nord- und Südteil Gibellinas zugeordnet, verbunden durch eine Pop-Wolke, der Turm als Zeichen der Stadtmitte und des Rathausplatzes in der Achse des zukünftigen Gartens. Fünfmal täglich sendet sein Lautsprecher Geräusche aus, der Mailänder Musiker Mosconi hat den Computer für 99 Jahre programmiert, jeweils zwischen zwei Sekunden und zehn Minuten, Während der Woche wechselt das Programm ständig, u. a. mit elektronisch verfremdeten Volksliedteilen, sonntäglichem Vogelgezwitscher und Todesklagen sizilianischer Frauen, Festtage wie Weihnachten werden durch rituelle Wiederholungen gekennzeichnet. In Ohrhöhe soll ein weiterer Lautsprecher die Uhrzeit flüstern. 72 Gibellina Cimitero Nuovo (Friedhof ) (1977) Gibellina Ein Mysterium sizilianischer Verwaltungslogik ist der neue Friedhof Gibellinas, nördlich der Stadt. Er wurde 1977 angelegt, trotzdem muss noch 40 Jahre der alte rekonstruierte Friedhof benutzt werden, Vorschriften ... Wer es sich leisten kann, kauft aber schon einen Platz auf Vorrat. Erdgräber setzen sich nur langsam durch, sie gelten als armselig, einige Tomben stecken deshalb schon im Rohbau. Ihr Entwurf stammt von Nanda Vigo, die Kuppeln geben dem Friedhof den Charakter eines arabischen Dorfes, allein in den Hügeln. Im einzigen Grab ist die sechsjährige «Cudduredda» bestattet, benannt nach einem traditionellen Weihnachtsgebäck mit Feigenmarmelade. Sie wurde 1968 nach 60 Stunden aus den Trümmern geborgen, sah ihre Mutter, lächelte und starb, vermutlich durch Schock und Unterkühlung. Seither wird sie als Symbol der Hoffnung verehrt. Pietro Consagra entwarf die bei den Tore des Friedhofs, Mirko einen Bronzesarkophag, der die Kapelle bewacht (Architekt Giovanni Militello). 73 Stadtzentrum (1982) Architekten: Oswald Mathias Ungers, Simon Mathias Ungers «Der Vorschlag für das neue Stadtzentrum basiert auf drei städtischen Bildern: dem Stadtgarten, dem städtischen Platz, der städtischen Arkade, den wichtigsten Bereich bildet der öffentliche Garten im Westen. Der Garten, der aus Hecken und einem Baumraster besteht, ist von einer «Wand» aus zweigeschossigen Reihenhäusern umgeben. Den westlichen Abschluss der Insel und des neuen Stadtzentrums insgesamt bildet ein Eckblock, bei dem drei verschiedenartige Plätze von Wohnhäusern umschlossen werden. Der Garten öffnet sich zu einem weiteren öffentlichen Platz in Form eines Viertelkreises. Dieser Platz ist als der repräsentative Mittelpunkt der Stadt gedacht; er wird vom Rathaus begrenzt, das zusammen mit dem Hotel ein Eingangstor zum Stadtgarten bildet. Jedes Gebäude prägt einen deutlich erkennbaren «Ort», sei es eine Ecke, sei es ein Tor, an Platz, eine Mauer, eine Passage, ein Sockel oder ein Block. Alle städtischen Elemente fügen sich wie Objekte zu einem öffentlichen Bereich zusammen, der die Vorstellung eines artifiziellen städtischen Gartens zum Ausdruck bringen könnte.» Oswald Mathias Ungers Die Morphologie der Baumassen wurde inzwischen regional «thematisiert», die südlichen Höfe sollen zu traditionellen Handwerkerhöfen transformiert, der Garten von einem Museum umschlossen werden. In der Fortsetzung der «Spina» 74 Gibellina des Rathauses, des Rückgrats, werden «Treppenhäuser» den Kirchgarten erschliessen. Le Piazzze di Gibellina (1987) Gibellina Architekten: Franco Purini, Laura Thermes, Vittorio Bitto, Mario Trimarchi, Rom, 1987 Ein neuer Entwurf von Laura Thermes (zusammen mit Franco Purini) für die Platzfolge, die sie schon 1980 bearbeitet hatte, wird gerade gebaut. Parallele zweigeschossige Arkaden fassen die linearen Räume, eine grosse Voute definiert das Innen, der Obergaden ist begehbar. Querstrassen werden überspannt oder von Torbauten begrenzt, ebenso Anfang und Ende der gesamten Anlage. Der Raum als Angebot wird seine Nutzung finden, vorhandene Skulpturen werden integriert. 75 Paolo Schiavocampo «Spirale Doppia», 1973 Stahl gestrichen Pietro Consagra «Testi», 1983 Stahl Nanda Vigo «Tracce Antropomorfé» (Spuren), 1981 Treppenaufgang, Spolie des alten Ortes Ettore Colla «Ellittica» (links) und «Meridiana», 1987, Stahl Pietro Consagra «Stella - Ingresso al Belice», 1981 INOX_Stahl 76 Arnaldo Pomodoro Bühnenbild aus der Aischylos-Trilogie Carlo Ciussi «Frequenza di Onde», 1982 Edelstahl Paolo Schiavocampo «Piazza per Gibellina», 1980 Travertin Giuseppe Spagnuolo «Bezugspunkt», 1983 Stahl Igino Legnaghi «Tavolo dell`Alleanza», 1980 Igino Legnaghi «Ritmi Spezzati», 1982 Stahl Giuseppe Uncini «Sacrario ai Caduti», 1986 Tuff, Lava, Beton 77 Catania Dom (nach 1693, Fassade 1733-61) Domplatz und Dom Der barocke Wiederaufbau Catanias erfolgte im grossen und ganzen nach der mittelalterlichen Stadtanlage, nur wurden die Hauptstrassen breiter, die Nebenstrassen geradlinig angelegt, die freien Plätze erweitert und zu repräsentativen Zentren des städtischen Lebens gemacht. Zwei breite Strassenzüge, die sich auf dem Domplatz rechtwinklig schnitten, durchzogen die Stadt (heute Via Etnea und Via Vittorio Emanuele). Das Ziel, schnell wieder eine Stadt mit all ihren Funktionen erstehen zu lassen, gleichzeitig aber durch genügend freien Raum der Bevölkerung einen Fluchtweg bei einem neuen Erdbeben zu garantieren, wurde im wesentlichen in einem halben Jahrhundert erreicht. Ausgeschlossen von der Konzeption der Neustadt und in krassem Gegensatz zu ihr entstanden ausserhalb des einstigen Mauerrings die engen, planlos wuchernden Viertel für die Ärmeren. Im Zentrum dagegen reihten sich die zwei-, höchstens dreistöckigen Wohnhäuser der Begüterten, im harmonischen Höhenverhältnis zur Breite der Strassen (19 m). Sie lagen weit genug auseinander, um viel Sonnenlicht einfallen zu lassen, wodurch der Kontrast zwischen dem schwarzen Lavagestein und dem weissen Kalkstein besonders zur Geltung kommt. Auf der Mitte des Domplatzes, des traditionellen Zentrums Catanias, errichtete Giovanni Battista Vaccarini (1702-1768) nach römischem Vorbild einen Brunnen mit dem Wahrzeichen der Stadt, dem Elefanten. (Vaccarini, der Hauptvertreter des römischen Stils, war 1730 vom Senat zum Stadtbaumeister ernannt worden). Die Catania Skulptur aus schwarzem Lavagestein, wo ehemals Zielstein des römischen Amphitheaters, hatte das Erdbeben freigelegt - nur seine Hinterbeine waren gebrochen. Auf seinen Rücken plazierte Vaccarini den antiken ägyptischen Obelisken, der wohl in römischer Zeit nach Catania gelangt war (s. Abb. 1). Er trägt der Göttin Isis gewidmete Hieroglyphen. Den Abschluss des Platzes nach Norden bildet das Rathaus, nach Westen zu führt die auf der Domachse liegende Via Garibaldi (früher Via S. Filippo) zu einer Art Triumphbogen, der Porta Ferdinandea von 1768 (heute Porta Garibaldi), die einst die Innenstadt begrenzte. Auf der Südseite des Domplatzes liegen das Erzbischöfliche Palais, das Seminar sowie ein Adelspalast. Sie spiegeln die erste, vorvaccarinische Phase des Wiederaufbaus wieder, für die die Rustizierung der durchgehenden Fassadenpilaster als typisch gelten darf. Der von der Formensprache des römischen Barock deutlich beeinflussten Fassade des „Doms (1768 beendet) sind die Säulen in dezenter Schwingung vorgelagert . An der leichten Unausgeglichenheit der Konzeption, die nicht gerade eines der gelungensten Projekte Vaccarinis darstellt, mögen die Säulen schuld sein, die z. T. aus dem antiken Theater stammen und sich hier nicht völlig harmonisch einfügen. Der Dom wurde um 1097 als erster Normannendom Siziliens errichtet, eine Ecclesia munita, eine Wehrkirche also, die in ihrer langgestreckten Form mit den vier Türmen an den Ecken einer arabischen Festung glich. Nachdem Erdbeben in den Jahren 1140 und 1169 die Stadt und auch den Dom schwer beschädigt hatten, wurde ein teilweiser Wiederauf- 79 Dom (nach 1693, Fassade 1733-61) bau erforderlich. Nach dem grossen Erdbeben von 1693 erhielt der Dom durch den Architekten Girolamo Palazzotto (ca. 1686-1754) seine heutige barocke Gestalt, wobei jedoch die Baustrukturen und der Grundriss einer dreischiffigen Basilika mit Querschiff sowie - unter den barocken Dekorationen - die gesamte Ostpartie des Doms mit Querschiff und den drei halbrunden Apsiden erhalten blieben. Die Apsiden, einst wie das Dach mit Zinnen und Verteidigungsgängen versehen, wurden durch Restaurationsarbeiten in den fünfziger Jahren von ihrem barocken Stuckschmuck befreit. Dieser einzige vollkommen intakt erhaltene Teil des ersten Baus stellt eines der interessantesten Objekte der arabisch beeinflussten Baukunst des sizilianischen Mittelalters dar - am beeindruckendsten ist der Blick auf den Aussenbau. Die mittlere Apsis erhielt ein modernes Glasfenster, die Fresken jedoch stammen noch aus dem 16. Jh. An den Wänden des Querschiffs öffnen sich schmale Fenster, durch die das Licht einst auf die im Mauerwerk angebrachten mittelalterlichen Treppenrampen fiel, einen Bestandteil des Verteidigungssystems. An den Mauerkanten sind die für arabische Bauwerke typischen eingestellten Säulen zu sehen. In der Muttergotteskapelle, der südlichen Verlängerung des Querschiffs (ursprünglich der untere Raum eines der vier Verteidungstürme), enthält ein römischer Sarkophag des 3. Jh. aus Kleinasien die sterblichen Überreste einiger Angehöriger des aragonesischen Königshauses, u. a. Friedrichs II. (gestorben 1337) und Friedrichs III. (gestorben 1377). In der Kreuzkapelle auf der gegenüberliegenden Seite, ur80 sprünglich dem unteren Raum eines weiteren Turms, blieb noch das originale normannische Gewölbe erhalten. Nebenan in der Sakristei zeigt ein von einem Augenzeugen des Ätnaausbruchs von 1669 gemaltes Fresko die Stadt vor dem grossen Erdbeben sowie die ehemalige Lage des Castello Ursino, das, von Laven umflossen, nun im Stadtinnern liegt. Von der ersten Bauphase hat man im Mittelschiff, neben den ersten beiden Pfeilern links und dem zweiten Pfeiler rechts, die Basen der Säulen freigelegt, die ehemals die drei Schiffe trennten. In den Seitenschiffen stehen, vor den leeren Wänden etwas verloren wirkend, schöne Intarsienaltäre. Die Gemälde darüber stammen vorwiegend aus dem 17. Jh. Am ersten Pfeiler rechts befindet sich das einfache Grab des Komponisten Vincenzo Bellini (1801-1835; sein als Museum eingerichtetes Geburtshaus steht an der Piazza S. Francesco in der Nähe des römischen Theaters). Von der Nordseite des Doms, an der sich noch ein beim barocken Wiederaufbau übernommenes Renaissanceportal befindet, liegt ein weit gelungeneres Werk des Architekten Vaccarini: die 1735 begonnene, erst 1767 vollendete Badia di S. Agata Die unteren, konvex geschwungenen Formen des Bauwerks verkehren sich im oberen Teil in ihr Gegenteil, um die Baumassen auszugleichen. Die Kuppel harmonisiert optisch die umliegenden Gebäude; sie selbst ist mittels starker Rippen, die von der Laterne bis zur Trommel verlaufen, in die Architektur der Kirche eingebunden. In dem schneeweissen Innenraum, ein Zentralbau mit vier Kreuzarmen, bilden der schöne zweifarbige Fussboden und die etwas plumpen gelblichen Marmoraltäre die einzigen farblichen Nuancen. Wenige Meter weiter die Via Vittorio Emanuele in Richtung Meer hinunter treffen wir auf die Kirche S. Placido, ein Werk Stefano Ittars (1769)mit ihrer schmalen, tief einwärts schwingenden Fassade. Castello Ursino (1239-50) Die Herkunft des Namens Castello Ursino für das letzte Kastell, das Friedrich II. in Sizilien bauen liess, ist nicht sicher bekannt. Man vermutet, dass es sich um eine volkstümliche Verballhornung von castrum sinus handelt, „Kastell am Golf “; dies macht den besonderen Impuls für die Besiedelung deutlich, den die Burg vom Moment ihrer Gründung an ausübte, vor allem dank der höchst geschickte Wahl des Standorts durch den parepositus aedificiorum Riccardo da Lentini (der genau dafür vom Stauferkaiser in einem am 17. Novemher 1239 in Lodi verfassten Brief gelobt wurde). Diese Anziehungskraft ging allerdings 1669 durch den Ätnaausbruch verloren, der die Küstenlinie, über der das Kastell erst stand, weiter hinausschob und die Höhenunterschiede an der Landseite nivellierte. Zusammen mit den älteren Wehrbauten von Syrakus (Castello Maniace) und Augusta bildete das castrum am Ätna den am weitesten vorgeschobenen und am besten organisierten Teil einer mächtigen Kette von Beobachtungsposten und Festungen, zu denen auch die weiter im Landesinneren gelegenen normannischen Burgen von Motta Sant‘ Anastasia, Paterno und Adrano gehörten. Der umfangreiche Schriftwechsel zwischen dem Stupor mundi und Ricardo da Lentini belegt zum einen die relativ schnelle Fertigstellung des Bauwerks zwischen 1239 und 1250, zum anderen aber auch die finanziellen Schwie.rigkeiten in der letzten Bauphase des Castello Maniace, in der man dazu überging, das Mauerwerk als opus incertum mit viel Mörtel lmd Lavaschotter anzulegen. Die Anlage des Castello Ursino bestätigt die offensichtli- Catania che Vorliebe der staufischen Architektur für geschlossene, nüchterne Bauwerke, strenge Symmetrien und schlichte Proportionsverhältnisse zwischen den Bauteilen. Die Burg weist einen quadratischen Grundriss von 50 m Kantenlänge auf. Vier grosse Flügel mit je drei kreuzgewölbten Jochen verlaufen rings um den ebenfalls quadratischen zentralen Innenhof und sind durch kleinere Eckräume verbunden, die Zugang zu den vier Rundtürmen in den äusseren Winkeln des Grundquadrats gewährten. Im Inneren der Türme liegen achteckige Räume mit Zellengewölben, deren Rippen von einem mittigen Fleuron ausstrahlen und in exquisiten Hängeknäufen enden. Weitere vier Türme, diesmal halbrund und kleiner im Format, waren in der Mitte jeder Seite angebracht. Die Grundrissform lässt sich vor allem angesichts der Rundtürme auf einen ursprünglich persischen Festungstypus zurückführen (es bestehen beispielsweise erstaunliche Analogien zum Kastell im Tal von Faraschband in Iran). Nach Sizilien gelangte dieses Modell mit den Arabern was die Mitarbeit von Handwerkern und ,Technikern arabischer Herkunft in den Bauhütten bestätigt. Mit den übrigen staufischen Bauwerken, insbesondere dem Castel del Monte, verband das Castello Ursino die umsichtige Konzeption der Be- und Entwässerungsanlagen, die auf (für die damalige Zeit) fortschrittlichen hygienischen Vorgahen beruhte. Seit 1934 enthält das inzwischen restaurierte Castello Ursino das Museo Civico. 81 Badia di Sant`Agata (1735-67) Die Kirche für das Nonnenkloster Sant‘Agata (Patronin der Stadt), gegenüber der Nordseite des Domes, ist ein Hauptwerk des Architekten Giovanni Battista Vaccarini; begonnen 1735, vollendet erst 1767, ein Zentralbau mit grosser achtseitiger Kuppel und vier ungleich grossen Kreuzarmen, von welchen der des Eingangs, dem Altarraum gegenüber befindliche der grösste ist und zugleich die Nonnenempore enthält. Die dreiteilige Fassade ist fein kurviert, das Ganze jedoch einbezogen in den rechteckigen Baublock der Kloster-Anlage. 82 Catania Univervsitätskirche La Collegiata (1700/20, Fassade 1758) Catania Die Kirche hat eine stolze Tradition: ‹cappella regia› schon im 15. Jh. gewesen zu sein. Der Neubau, wohl noch von Angelo Italia entworfen, ist eine dreischiffige gewölbte Basilika. Die Fassade jedoch wurde erst später errichtet; sie ist das Werk des Stefano Ittar, für die das Datum 1768 überliefert ist. Das Neue und zugleich Originelle innerhalb der reichen Fülle architektonischer Lösungen im Sizilien dieser Epoche besteht in der vergleichsweisen Strenge der Säulenordnung zumal des Erdgeschosses, zusammen mit der römischen Tradition borromineker Kurvatur, kombiniert mit dem spezifisch sizilianischen Motiv der turmartigen Überhöhung der Mitte zur Aufnahme der Glocken. 83 Noto Dom Ss. Nicola i Mira E Corrado (ca. 1700-70) Chiesa del Crocifisso (1715) Der Rang der Stadt Noto als einer der drei Namen gebenden Provinzen („Valli“) Siziliens und deren Hauptstadt (Val di Noto) bestand seit der arabischen Periode Siziliens im 9. .Jh. und bis ins 19. .Jh. Von dem Erdbeben des Jahres 1693 war die Stadt so schwer getroffen, dass ein Wiederaufbau an neuer Stätte beschlossen wurde, mehr in Küstennähe und etwa 15 km vom alten Ort entfernt. Noto ist die schönste der sizilisehen Barockstädte durch die Fülle bedeutender kirchlicher und profaner Bauten, die im Rahmen eines regelmässigen Stadtplanes bei überschaubarer Hanglage zu ausserordentlicher Wirkung gelangen. Der Dom, erst seit 1844 Bischofskirche, erweist sich als Hauptkirche der Stadt durch seine zentrale Lage und die (in Sizilien seltene) in voller Breite dominierende doppeltürmige Prachtfassade über hoher Freitreppe. Die Chiesa del Crocifisso gilt als das erste architektonische Werk Rosario Gagliardis (1715) und zeigt sich noch sehr traditionsgebunden. Die Fassade, in zwei Ordnungen, wurde am oberen Abschluss nie ganz fertiggestellt. Die zwei Löwen, die das grosse Portal flankieren, stammen noch aus dem alten Noto. Im Aussenbau finden sich nur ganz schüchterne Hinweise auf ein Verhältnis des Äusseren zum Innenraum ein Problem, das sich als Leitmotiv in allen Werken dieses Architekten findet. Den basilikalen Innenraum teilen wuchtige Pfeiler in drei Schiffe. Die Schwere der Pfeiler könnte auf ein Gesetz zurückgehen, das für den Aufbau des neuen Noto starke, erdbebensichere Baustrukturen bestimmte. Die mit Stuckarbeiten und Malereien geschmückte Cappella Landolina links im Querschiff stammt erst von 1787 . Die Kirche beherbergt das einzige signierte Werk des Francesco Laurana in Sizilien, die sog. Schneemadonna (z.Zt. wegen Einsturzgefahr geschlossen). Noto 85 Chiesa San Chiara (1717-30) Chiesa San Carlo al Corso (1736-46) Die weibliche Ordenskirche S. Chiara mit ihrem Konvent und seiner charakteristisch abweisend verschlossenen Fassade an der gleichen, leider um 2 m abgesenkten Hauptstrasse gelegen, ist ein ovaler Zentralraum. Die blockhafte Fassade überbaut die Vorhalle und die darüber befindliche Empore mit dem Nonnenchor und seinen Fenstern auf die Strasse. Das längsovale ·Innere erhält durch die vollplastisch vor die Wand vortretenden Säulen mit ihren verkropften Gebälken einen stark bewegten Ausdruck; paarweise in einem Rhythmus kleinerer und grösserer Wandabschnitte zusammentretend, verstärkt sich die Bewegung nach oben in den Aufsätzen der Attika und den Statuen der 12 Apostel über den 12 Pfeilern; in deren Mitte über dem Chorbogen die Gestalt Gottvaters zwischen Engeln. Das Ganze, von R. Gagliardi entworfen, war jedenfalls 1748 schon im Bau. Wieder an der Hauptstrasse liegt die Kirche des ehemaligen Jesuitenkollegs, S. Carlo al Corso, vielleicht von Rosario Gagliardi entworfen (1736-1746). Die konkave Fassade mit drei Säulenordnungen ist elegant in den Baukomplex des Klosters, der sich bis zur Piazza XXIV Maggio erstreckt, eingefügt. Die kontinuierlichen horizontalen Linien sind Kirche und Klostergebäuden gemeinsam, die leicht unterschiedlichen Vertikalen heben die Konventsfassade diskret hervor. Im dreischiffigen Innenraum mit dem rechteckigen Querschiff wurden einige eigenwillige architektonische Lösungen angewandt, um das Aufsetzen der unregelmässig oktogonalen Kuppel zu ermöglichen. Fresken schmücken, typisch für die Jesuitenkirchen, die Decke des Mittelschiffs. 86 Noto Chiesa del Carmine (vor 1770) Noto Die Chiesa del Carmine ( und auch der Komplex des Karmeliterklosters wurden nach dem Entwurf Rosario Gagliardis errichtet - ausgenommen allerdings die Kirchenfassade, die Fra Alberto Maria di San Giovanni Battista zugeschrieben wird (Erbauer der Chiesa del Carmine in Scicli) und nicht mit den Ideen des Gagliardi übereinstimmt. Sie ist nicht konvex - was dem Innenraum entsprechen würde - sondern konkav und zeigt gewisse Schwächen im Aufbau; so dringt z. B. das runde Tympanon der ersten Ordnung in das Fenster der zweiten Ordnung ein. Der Innenraum dagegen ist das Resultat der schöpferischen Reife des Architekten (einzige Dokumente der Bauzeit: die Bezahlung des Daches 1770). Das längliche Achteck des Grundrisses erinnert noch an den Longitudinalbau, doch werden diesem erstmals seitlich tiefe, zylindrische Baukörper zugefügt, die in den Raum eindringen und die vorher üblichen Nischen ersetzen. In dem Deckenfresko wird eine damals sehr aktuelle theologische Streitfrage ausgetragen: Der Triumphwagen der Muttergottes mit Kind zerquetscht einen Mann, der eine Fahne mit der Aufschrift „Mater non Virgo« (»Mutter, nicht Jungfrau<) trägt. Vier »rechtgläubige< Ordensbrüder, die u.a. Tafeln mit der Aufschrift „Mater et Virgo« (»Mutter und Jungfrau<) tragen, bringen andere, nur mit einem Lendenschurz Bekleidete zu Fall, die ihre unterschiedliche Meinung zur Schau tragen. 87 Chiesa di San Domenico (1703-1727, Fassade 1732-36) Palazzo Ducezio (1746) Etwas zurückgelegen und erhöht über der Piazza XXIV Maggio erhebt sich imposant die Kirche S. Domenico und das ehemalige Kloster der Dominikaner (12; 1703-1727, heute Handelsinstitut; Portal von Vincenzo Sinatra). Bei der Kirche gelang es dem Architekten Rosario Gagliardi vorzüglich, den ihm zur Verfügung stehenden engen Raum zu nutzen und von aussen die Form des Innenraums deutlich zu machen. Mit der stark vorgewölbten Fassade und der halbkreisförmig angelegten Treppenrampe davor erzielt er eine starke optische Erweiterung, zu der ausserdem an den Inversionspunkten der Kurven die frei in zwei Ordnungen übereinanderstehenden Doppelsäulen beitragen. Der Innenraum stellt eine sehr eigenartige Verschmelzung eines Longitudinal- und eines Zentralbaus dar. Durch die Abkantungen der zentralen Stützen (Pfeiler) ergibt sich das unregelmässige Achteck, auf dem die Kuppel ruht. Der Zentralzone sind auf den Achsen und auf den Diagonalen rechteckige Räume hinzugefügt, so dass das Schema eines verlängerten griechischen Kreuzes entsteht. Dabei bedient sich der Architekt der für den Barock sehr ungewöhnlichen Art des Aufsetzens von Bogen auf Säulenstellungen. Etwas weiter folgt der zentrale Platz mit dem Rathaus, dem Palazzo Ducezio (6), das 1746 nach einen Entwurf von Vincenzo Sinatra errichtet wurde. Der obere Stock, ein moderner Aufbau von 1951, stört die ursprünglichen Proportionen erheblich. Es handelte sich vormals um ein harmonisches, einstöckiges Gebäude ohne Innenhof, auf drei Seiten von einem durchgehenden Portikus umgeben, der auch den vorderen, konvexen Teil umschliesst und an den Ecken den konkaven Linien des Palastes folgt. Das Innere enthält eine Reihe funktional angelegter Räume mit unterschiedlichen Grundrissen (rund, oval etc.; Besichtigung während der Bürozeiten). 88 Noto 89 Karten 91 Palermo 92 Catania 93 Touristisches Essen 95 Palermo 96 Palermo 97 Catania 98 Catania 99 Notizen 100 101 Bibliografie Sizilien: Insel zwischen Orient und Okzident / Birgit Carnabuci. Mit Beiträgen von Christoph Höcker und Helga Lehmkuhl. – Köln: DuMont Buchverlag, 1992 Kunstdenkmäler in Italien: e. Bildhandbuch / hrsg. von Reinhardt Hootz. Text und Bildauswahl von Wolfgang Krönig. – Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1985 Sizilien / Helmut Scharf. – Zürich; München : ArtemisVerlag, 1986 Sicilia: Antike- Mittelalter- Barock, Band II Objekte / Professur für Kunst- und Architekturgeschichte Dr. Werner Oechslin. – Zürich : Institut für Geschichte und Theorie der Architektur, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich, 2007 Romanisches Sizilien / Giovanella Cassata, Gabriella Costantino, Rodo Santoro. – Würzburg: Echter Verlag, 1988 Architettura in Sicilia nelle età islamica e normanna (8271194) / Giuseppe Bellafiore. – Milano : Lombardi, 1990 Sicilia Barocca: Architettura e Citta› 1610-1760 / Salvatore Boscarino. – Roma: Officina Edizioni, 1981 Le ville a Palermo / Eliana Mauro; fotografie di Vincenzo La Rosa. – Palermo [etc.] : La Rosa, 1992 Architettura contemporanea a Palermo / Andrea Sciascia. – Palermo : L’EPOS Società Editrice, 1998 I Samonà: Fusioni fra architettura e urbanistica / Francesco Tentori. Con la collab. di Antonio Cortese. – Torino: Testo & Immagine, 1996 Architekturführer Carlo Scarpa / Sergio Los. – Stuttgart : Hatje, 1995 Dopo il terremoto : Belice 1980 : Laboratorio di progettazione = After the earthquake / testo: Pierluigi Nicolin e.a. ; commenti: Vittorio Gregotti e.a. – Milano : Electa, 1983 Ein Fragment der Hoffnung: Gibellina / Rainer Franke; in: Bauwelt Heft 13. – Gütersloh : Bertelsmann Fachzeitschriften GmbH, 1988 Alberto Burris Cretto in Gibellina / Efren Garcia Grinda und Christina Diaz Moreno; in Quaderns Heft 223. – Lleida : Punctum & Trilcat, 1999 Noto : Idealstadt und Stadtraum im sizilianischen 18. Jahrhundert / Paul Hofer; Einf. von Werner Oechslin. – Zürich : Institut für Geschichte und Theorie der Architektur, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich, 1996 Seminarwoche Frühlingssemester 2008 Professur Wolfgang Schett Departement Architektur, ETH Zürich Organisation: Gianluca De Pedrini und Isabel Gutzwiller Produktion Broschüre: Ralf Figi Druck: Druckzentrale ETH Hönggerberg © bei den Autoren Zürich, April 2008