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Lesezeit L i t e rat u r aus der Buchhandlung Schwarz B u c h h a n d l u n g S c h wa r z Von Bettina Schulte Der fiktive Name befremdet. Man meint, eine andere Stimme durch ihn hindurch zu hören. Leopold Auberg, der Ich-Erzähler, ein 17jähriger Rumäniendeutscher, der im Januar 1945 in ein Lager in der Ukraine deportiert wird, ist gleich Oskar Pastior, dem genau das widerfuhr. D er Lyriker war einer der 80.000 Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben, die nach der Kapitulation und der Kriegserklärung Rumäniens an das vorher mit ihm verbündete Nazideutschland fünf Jahre lang Zwangsarbeit für den „Wiederaufbau“ der Sowjetunion leisten mussten. Die Gleichung ist jedoch prekär. Herta Müller, die 1953 in der Ceauşescu-Diktatur geboren wurde und der die offiziell tabuisierten Lager nur im bedrückenden (kollektiven) Schweigen ihrer ebenfalls deportierten Mutter präsent waren, hat mit Atemschaukel einen Roman geschrieben – und hätte ihn doch niemals schreiben können ohne die Gespräche mit dem Dichter. Es sollte ein gemeinsames Buch werden. Die Schriftstellerin, deren Texte mit unerbittlichem, zugleich poetisch verdichtetem Ton die ungreifbar bedrohliche, gewalttätige Atmosphäre allgegenwärtiger Überwachung im Mangelreich des rumänischen Nachkriegspotentaten sinnlich erfahrbar gemacht haben, hatte in Pastior – bei einem Gespräch in Lana über Tannen – zufällig den Zeitzeugen gefunden, der im Gegensatz zu allen, die sie zuvor befragt hatte, in der Lage war zu erzählen, wie es gewesen war. Vier Notizhefte hatte sie mit seinen Erinnerungen vollgeschrieben, als er im Oktober 2006 kurz vor der Verleihung des Büchner-Preises in Frankfurt plötzlich starb. Man muss dieses Buch auch als Gedenkbuch für den Freund lesen; als sein Vermächtnis von fremder Hand – so paradox es klingen mag. Es ist Herta Müller hoch anzurechnen, dass sie nach langem Zögern das Wagnis auf sich genommen hat, die zu zweit begonnene Arbeit allein zu vollenden. Welchen Anteil daran der Dichter hat, ist naturgemäß nicht auszumachen – letztlich hat allein Herta Müller den Stoff in Literatur verwandelt. Sicher aber ist: Die den Roman prägende, ihn auszeichnende eigentümliche Metaphorik, seine für sogenannte Lagerliteratur höchst ungewöhnliche, gewagte Bildsprache, die Iris Radisch in der „Zeit“ als gestrig und kitschig gegeißelt hat, ist keineswegs allein der Autorin zuzuschreiben. Der „Hungerengel“ – das zentrale Motiv des aus 64 zum Teil sehr kurzen Abschnitten gebauten Romans – ist die Erfindung Oskar Pastiors. Das entnimmt man auch dem aufschlussreichen Hörfunkfeature Hungerengel von Ulrike Jansen und Norbert Buchhandlung Schwarz © Annette Po hnert / Carl Immer in der Hautundknochenzeit Buchhandlung Schwarz Hanser Verla g Lesezeit 16 | Herbst 2009 | gratis Wehr. Es kann als von den Stimmen Müllers und Pastiors getragene Begleitmusik des Romans gelten. Im Hungerengel verdichtet sich die alles übertönende, die alles überwältigende Erfahrung des Lagers: „Immer ist der Hunger da. Weil er da ist, kommt er, wann er will und wie er will. Das kausale Prinzip ist das Machwerk des Hungerengels. Wenn er kommt, dann kommt er stark. Die Klarheit ist groß: 1 Schaufelhub = 1 Gramm Brot.“ Der Hungerengel weicht den Zwangsarbeitern in der Ewigkeit der „Hautundknochenzeit“ nicht von der Seite. Er ist kein tröstlicher Begleiter. Er ist, mit Rilke zu sprechen, schrecklich. Eine Gewalt. Man wird ihn nie mehr los. Wie man das Lager nie mehr loswird. „Seit dem Hungerengel“, heißt es am Ende, „erlaube ich niemandem mehr mich zu besitzen.“ Der Hungerengel macht aus Menschen keine Menschen mehr. Er bringt den Advokaten Paul Gast dazu, seiner Frau aus dem Essgeschirr die Suppe zu steh- rz wa h c r lle gS m Mü dlun hr i a U t n r er He chha r, 20 Dilg e u s ob ea rB de . Okt Andr . 3 st 0 a t str G m 2 ngu ach i ist a r e U W lesen Sie weiter auf der nächsten Seite | Lesezeit 16 | Herbst 2009 Fortsetzung: Immer in der Hautundknochenzeit len, „bis sie nicht mehr aufstand und starb“. Er bringt Karli Halmen dazu, Albert Gion, dem Schicht-Kollegen des Ich-Erzählers, die gesparte Brotration unter dem Kopfkissen zu stehlen, und die anderen dazu, ihm für diesen Brotdiebstahl die Zähne auszuschlagen und ins Gesicht zu pissen. Man nennt es mit dem Hungerengel: die Brotgerechtigkeit. Noch heute ist für den Ich-Erzähler Essen „eine große Erregung“. Er isst – das bezeugen auch die, die Oskar Pastior gekannt haben, und das sagt Herta Müller von ihrer dem Kind unheimlichen, gierig schlingenden Mutter – „mit allen Poren“: „Ich esse seit meiner Heimkehr aus dem Lager, seit sechzig Jahren, gegen das Verhungern.“ Es sind die einem (späteren) Lyriker zugemessenen bildhaften Wörter, in denen sich der Alltag in der Lagerhölle offenbart, eher beiläufig als spektakulär: „Meldekraut“, „Herzschaufel“, „Tageslichtvergiftung“, „Blechkuss“, „Hasoweh“, „Kartoffelmensch“, „Eigenbrot und Wangenbrot“, „Eintropfenzuvielglück“, „Atemschaukel“, „Mundglück“. Es ist der Versuch der Autorin, dem herkömmlichen Sprechen durch Sprachschöpfung zu entrinnen: eine kühne Gratwanderung, die den Schrecken des Zivilisationsverlusts, die Demütigung, die Entwürdigung und die Scham darüber in der Momentaufnahme, im sprechenden Detail festzuhalten sucht – wie Pastior sich verblüffend gut an lauter Einzelheiten erinnerte, die ein Gesamtbild kaum ergeben konnten. Deshalb ist der Roman, der einem in Herta Müller der Wiederholung der bildhaften Wendungen fast wie eine Sammlung von Prosagedichten entgegenkommt, nichts weniger als eine Chronik des Lagers Nowo-Gorlowka. Es gibt keinen Standpunkt, von dem aus sich das System der Entmenschung überschauen ließe. Nur Episoden, bestürzende und groteske, widerwärtige und widersinnige, ja sogar glückliche, aus einer Welt, die dem, der nie dort war, unvorstellbar bleibt. Und Begegnungen: mit dem Zement und der Schlacke im Keller, wo jede Schicht aus Trotz zum Kunstwerk wird, dem brettharten Boden im Winter und der steinigen Hitze im Sommer, den Schlackoblocksteinen, dem versteinerten Pech im Kokswerk. Begegnungen mit dem Bösen – wenn ein so pathetischer Begriff zulässig ist – in Gestalt des Lagerkapos Tur Prikulitsch und seiner Geliebten Bea Zakel. Begegnungen mit dem Tod, der den Insassen ins Totenäffchengesicht geschrieben steht. „Wenn der Tote kein persönlicher Bekannter ist, sieht man nur den Gewinn. Abräumen ist nichts Böses, im umgekehrten Fall würde der Leichnam mit einem dasselbe tun, und man würde es ihm gönnen. Das Lager ist eine praktische Welt. Die Scham und das Gruseln kann man sich nicht leisten. Man handelt in stabiler Gleichgültigkeit, vielleicht in mutloser Zufriedenheit.“ So abgründig können sich die Maßstäbe verkehren, dass das Lager zur Heimat und die Heimat zur Fremde wird. „Wieso zwinge ich das Lager, mir zu gehören“, fragt sich der Ich-Erzähler 60 Jahre später. „Heimweh. Als ob ich es bräuchte.“ Als Herta Müller mit Pastior den Ort seiner Deportation besuchte, wurde er nicht depressiv, sondern euphorisch. Es war für ihn wie Heimkommen. Das letzte Kapitel heißt „Von den Schätzen“. Gemeint sind die mentalen Hinterlassenschaften des Lagers. Die schwerste ist der Arbeitszwang, die Umkehr der Zwangsarbeit: ein „Rettungstausch“. Auch wenn davon mit keinem Wort die Rede ist: Von daher allein erklärt sich Pastiors Schreiben. Dass der, der dort war, das Lager für immer in sich trägt: Auch diese Erkenntnis verdankt sich Herta Müllers verstörendem, großem Roman, der über das individuelle Schicksal hinaus die rumäniendeutschen Zwangsarbeiter aus dem Schatten der Geschichte rückt. Der Bann, der aus den Rückkehrern „Nichtrührer“ machte, ist endlich gebrochen. Herta Müller: Atemschaukel. Roman. Hanser Verlag. 19,90 € | Lesezeit 16 | Herbst 2009 Claus Stephani Von Werwölfen und anderen Menschen Von Diethelm Blecking Ein altmodisches Buch ist anzuzeigen und zur Lektüre zu empfehlen: Ein Roman, dessen Schauplatz der längst verschwundene „Gürtel der vermischten Völker“ (Hannah Arendt) weit im Osten ist, wo die Flüsse Tscheremosch und Pruth heißen und bis heute Wölfe und Braunbären in großer Zahl leben. I n dieser abgelegenen „Wildnis“ zwischen Timişoara (Temeschwar) und Iaşi (Jassy) lebte eine deutsche Minderheit, deren aufrechte und dissidente Vertreter schrecklich unter der rumänischen Spielart des Stalinismus, unter dem Despoten Nicolae Ceauşescu und seiner brutalen Prätorianergarde, der Securitate, zu leiden hatten. Viele wohnen heute in Deutschland und erzählen sprachmächtig und zäh vom Trauma des Ausgeliefertseins an die Knechte der Macht, das schon in der Zeit des Faschismus seine Wurzeln hat. Einer von ihnen, ein Stiller, den Märchen, den kleinen Leuten und ihrer Geschichte zugewandt, ist Claus Stephani aus Braşov (Kronstadt) in Siebenbürgen. Der heute in München lebende Autor erzählt in seinem ersten Roman von einem Völkergewirr aus Rumänen, Juden, Ruthenen, Polen, Ungarn, Deutschen und Zigeunern in der Zeit zwischen den großen Kriegen bis zur Vernichtung der Juden im Osten. Im Mittelpunkt steht die Geschichte der rumänischen Jüdin Beila, deren Mann von rumänischen Judenhassern erschlagen wird. Sie bringt nach dieser Katastrophe von einem anderen Mann ein uneheliches Kind zur Welt, ein „Blumenkind“ eben, und wird Opfer von Vergewaltigungen, die in der patriarchalischen, bäuerlichen Welt für allein lebende Frauen zum Schicksal gehören: „Eine junge Frau ohne Mann gehört niemandem oder manchmal auch allen.“ Am Ende einer langen Odyssee mit ihrem Kind durch die Wirren des Krieges und am Ende eines langen einsamen Leidensweges wird Beila durch einen schrecklichen Zufall von ungarischen Faschisten ermordet. Ihr Kind Maria, das dem Horror der ethnischen „Säuberungen“ nach Westen ins Nachkriegsdeutschland und in die USA entkommt, wird durch einen weiteren schrecklichen Zufall bei einem späteren Besuch in Rumänien Akteurin und Opfer zugleich in einer ödipalen Tragödie, die tödlich endet. Diese Geschichte soll hier nicht erzählt werden. Sie wirkt konstruiert, so wie die uralte griechische Tragödie des Königsohns, der mit seiner Mutter schläft, konstruiert wirkt, und das kann man diesem Roman sicher vorwerfen. Kritisieren kann man auch, dass Stephani sehr freigiebig mit den Kenntnissen des gelernten Ethnologen umgeht und viele Märchenfiguren, Geister und Dämonen aus der Volkskunde einführt. Aber man ist froh, den „Prikulitsch“, den Werwolf, und die Pădureanca, die Waldmutter, kennengelernt zu haben. Dieses Buch enthält eine der traurigsten und trostlosesten Erzählungen der letzten Zeit und doch gibt es Passagen des Glücks im Erfahren der körperlichen Liebe, der Zuneigung und des Geborgenseins. Sie erzählen von jener Zeit als Beila, auf ihrer Flucht zur Ruhe gekommen, in zeitweiliger Sicherheit bei den Zipser Deutschen in Nordsiebenbürgen lebt. Ohne Angst, anders sein zu können, das erfährt die Gehetzte und Ausgestoßene nur bei den Angehörigen dieser Minderheit. Nach der Lektüre dieses Romans schaut man, das mögen Tierfreunde beklagen, Wölfe anders an, es könnten getarnte Menschen, also sehr gefährliche Tiere sein, und wer will ausschließen, dass der Rabbi Mendel noch ein andermal Recht behält und seine Prophezeiung nicht nur für diese schreckliche Epoche gilt: „dass das Gesicht des Zeitalters bald dem Gesicht eines Wolfes gleichen wird, und die Wahrheit wird vermisst werden.“ Claus Stephani: Blumenkind. Roman. SchirmerGraf. 19,80 € | Lesezeit 16 | Herbst 2009 | Peter Das Bröckeln Henning Andreas Maier der Fassaden Von Markus Bundi Johanna Jansen ist 78 Jahre alt, und sie hat sich entschieden, das Haus zu verlassen und in ein Altersheim überzusiedeln. Noch einmal soll die Familie bei ihr in Hanau zusammenfinden, denn sie will die Neuigkeit nicht jedem einzeln am Telefon mitteilen. D as scheinen nicht gerade spektakuläre Aussichten zu sein für einen Roman, der beinahe fünfhundert Seiten umfasst. Doch Schriftsteller Peter Henning hat die Zeichen in seinem Roman Die Ängstlichen von Anfang an auf Sturm gesetzt. Zum einen gehen sintflutartige Regenfälle über Taunus und Rhön nieder, zum andern ist Janek, Johannas Lebenspartner, verschwunden. Janek hat sich verzockt, hat Spielschulden in Höhe von 90.000 Euro, wovon allerdings wiederum nur Benjamin, Johannas Enkel weiß. Zu den Hauptfiguren gehören auch die Kinder Johannas: Helmut, Benjamins Vater, der aber nie in der Lage war, sich um seinen Sohn zu kümmern; Ulrike, die mit Rainer verheiratet ist und von diesem bei jeder sich bietenden Gelegenheit betrogen wird; und der psychisch kranke Konrad, dessen Leben sich hauptsächlich in Kliniken abspielt. Es sind die Archetypen des 21. Jahrhunderts, die Henning nicht nur skizziert, sondern präzise beschreibt, in ihren oft zwanghaften Handlungen schildert, wie sie sich alle – zumindest in der eigenen Wahrnehoder üben sich im Verdrängen – und sie mung – mehr oder minder vom Leben flüchten sich in die je eigene Sucht: Sei es betrogen fühlen, einem Ideal nachjagen, das Spiel, sei es der Alkohol oder seien es das doch nie einzuholen sein wird. Tabletten. Wahlweise betrügen sie sich Keiner, und das dürfte der Kern von selbst oder instrumentalisieren andere, Hennings berührendem Familienroman denn eines gilt es immer aufrecht zu ersein, hat sich je seiner Angst gestellt, halten: die eigene Fassade. Hennings Rogeschweige denn diese zu überwinden man ist so inszeniert, dass die jeweilige versucht. Den Weg, wie ihn schon Sören Hauptfigur mit jedem Kapitel wechselt: Kierkegaard, der erste große Experte in Wir sind bei Helmut, als dieser Blut im Sachen Angst, Mitte des 19. JahrhunUrin entdeckt und über sich selbst das derts vorzeichnete, will von der Familie Todesurteil verhängt; wir erfahren von Jansen niemand auf sich nehmen: „Man Benjamins Panikattacken und auch, wie findet den Begriff Angst kaum jemals er seine neue Freundin darum bittet, die in der Psychologie behandelt, ich muss 90.000 Euro für Janek zu beschaffen; deshalb darauf aufmerksam machen, wir erleben Rainers Flucht vor Ulrike, dass er gänzlich verals sein Lügengebäude Es sind die schieden ist von Furcht endgültig einzustürzen und ähnlichen Begrifdroht; und wir sind bei Archetypen des fen, die sich auf etwas Konrad, als dieser seine Bestimmtes beziehen, Medikamente absetzt 21. Jahrhunderts, während Angst die und eine weitere Flucht die Henning nicht Wirklichkeit der Freiaus der Klinik plant. heit als Möglichkeit für Die Raffinesse bei dienur skizziert, die Möglichkeit ist“, so ser Konstruktion wird sondern präzise einst Kirkegaard. Das immer dann deutlich, klingt zwar nicht nur wenn Henning Eigenbeschreibt. philosophisch, sondern und Fremdwahrnehauch einigermaßen mung aufeinanderabstrakt, sagt aber doch nichts anderes prallen lässt, zum Beispiel in einem aus, als dass nur im ernsthaften UmRainer-Kapitel zur Sprache kommt, was gang mit der eigenen Angst so etwas wie der Schwiegersohn über Johanna denkt, Freiheit überhaupt zu erlangen ist, und dass diese nämlich eine „unersättliche das wiederum heißt: Es eröffnen sich in Tyrannin“ sei, „die es blendend verder Auseinandersetzung mit sich selbst stand, ihre Selbstsucht als Altruismus echte Möglichkeiten als Alternativen (für Rainer die gefräßigste Form von zum ansonsten zwanghaften Verhalten. Egoismus) zu tarnen und andere für sich Die Jansens aber haben andere Strateeinzuspannen, indem sie geschickt mit gien entwickelt, sie pflegen die Ignoranz deren Schuldgefühlen operierte und sie Lesezeit 16 | Herbst 2009 ben, das als solches eben kein Spezialfall ist, sondern sich so oder so ähnlich in unserer Gesellschaft in jedem zweiten Haus findet. Das Bröckeln der Fassaden ist allgegenwärtig, und dass jenes Familientreffen in Hanau, auf das der Roman wie auch seine von Angst zerfressenen Figuren zusteuern, nicht ein Happy End sein wird, ahnt der Leser schon früh. Kein Stoff für Hollywood also, dafür ein großer Roman. Peter Henning: Die Ängstlichen. Roman. Aufbau Verlag. 22,95 € somit geschickt an sich band“. Wechselweise erweist sich der eine als brillanter Analytiker des andern, und bleibt doch, was den eigenen Seelenhaushalt betrifft, ein verblendeter Klotz, der sich nicht traut, Schwäche zu zeigen – ein Gefangener seiner selbst mit all den inwendig brodelnden Ängsten. Geht es um die Familie als Ganzes, so bringt Helmut ihre Wesensart auf den Punkt: „Im Fall der Jansens hatte einer dem andern bloß mehr oder weniger tatenlos beim Untergang zugesehen.“ Obwohl es sich bei den Protagonisten in Peter Hennings Roman nicht gerade um Sympathieträger handelt, die einzelnen Figuren vielmehr zwischen Selbstmitleid und Größenwahn hin und her pendeln, in ihrer Egozentrik vereinsamen oder zum Amoklauf ansetzen, so „verrät“ der 50-jährige Schriftsteller dennoch keine, zeichnet vielmehr jeden Charakter mit großer Empathie und erweckt so ein Familiengefüge zum Le- Bekenntnis Von Michael Schwarz Ich bin ein Andreas-Maier-Leser! Sie wissen nicht, wen ich meine? Sie erin-nern sich nicht an Wäldchestag, seinen ersten Roman, der nur im Konjunktiv geschrieben ist? Sind Sie denn überhaupt Kunde der Buchhandlung Schwarz? Ich nerve Sie doch schon seit Eröffnung mit diesem Autor. Vier Mal war Andreas Maier bereits Gast der Buchhandlung. Zuletzt im Januar. Da hat er aus seinem Roman Sanssouci gelesen. Nein? Sie waren nicht bei der Lesung und kennen das Buch auch nicht? Ich soll Ihnen kurz erzählen, um was es da geht? Mmh! Stellen Sie sich Sanssouci als eine literarische Folge der Lindenstraße vor, und die Folge selbst ist wieder eine Folge ... Der Roman könnte also endlos weitergehen. Schauplatz ist natürlich nicht München, sondern Potsdam und alle Stadtbewohner – ein Michael Schwarz tritt auch auf – dürfen mitspielen und vor allem mitreden. Das führt zu einem unendlichen Stimmengewirr und keiner versteht das, was der andere sagt. „Dort schrien die einen dies, die anderen das; denn in der Versammlung herrschte ein großes Durcheinander, und die meisten wußten gar nicht, weshalb man überhaupt zusammen gekommen war.“ P.S.: Ich kann Sie trösten. Andreas Maier wird, wie er selbst angekündigt hat, nur noch ein letztes Buch schreiben. Er wird dieses Buch beginnen und einfach nie mehr aufhören damit, bis an sein Lebensende. Daraus wird er dann auch wieder in der Buchhandlung Schwarz lesen. Andreas Maier: Sanssouci. Roman. Suhrkamp Verlag. 19,80 € | Lesezeit 16 | Herbst 2009 UrsWidmer Ungebrochene Fabulierund Lebenslust Von Markus Bundi Er ist ein Meister des Surrealen, keine Groteske ist ihm fremd, und er hat sich eine Leichtigkeit im Erzählen bewahrt, die immer wieder zu faszinieren vermag. Kurz: Der Schweizer Schriftsteller Urs Widmer, mittlerweile 71-jährig, ist längst mit allen Wassern gewaschen und weiß doch stets, neue Quellen zu erschließen. I n seinem neuen Roman Herr Adamson stößt Widmer kurzerhand das Tor zur Totenwelt auf, bewegt sich sowohl im Jahr 1946 wie auch 2032, spricht zuweilen griechisch oder unterhält sich mit einem toten Häuptling der Navajos in dessen Sprache. Er? – Also sein Ich-Erzähler, Widmers nächster Verwandter. Er ist „Rasender Hirsch“ oder „Never Mind“, einmal stellt er sich auch als Horst vor – und er feiert gerade in Basel, inzwischen stolzer Urgroßvater der Zwillinge Bimbo und Bembo, seinen 94. Geburtstag. Ein guter Zeitpunkt, das eigene Leben in einem guten Anzug mit Feder im spärlichen Haar und Mammutknochen in der Hand Revue passieren zu lassen. Genau das tut dieser Ich-Erzähler am Folgetag, und zwar in jenem fremden Garten, wo er zum ersten Mal Herrn Adamson begegnet ist. Knut Adamson ist nämlich sein Vorgänger. Das heißt: Der Mann ist exakt in jenem Augenblick gestorben, als der Ich-Erzähler (und Widmer selbst) am 21. Mai 1938 geboren wurde. Nur deswegen konnte der achtjährige Junge damals den alten Mann im Garten sehen. Und, so lautet die nächste Regel, Adamson wird der Begleiter des Ich-Erzählers sein, wenn dessen letzte Stunde schlägt. Nicht ganz zufällig kommt der Ich-Erzähler auch einmal auf Scheherazade zu sprechen, die über Tausendundeine Nacht erzählend ihr Leben zu retten versucht. Doch was im Märchen gelingt, schließt der Ich-Erzähler im Jahr 2032 aus, denn seine Geschichte „ist keine Erzählung aus dem Morgenland und kann mich also nicht retten“. Gleichwohl schafft Widmer einen neuen Mythos, erklärt sich und den Lesern Werden und Vergehen, stemmt sich so mit aller Fabuliermacht jener menschlichen Urangst entgegen, dass nach dem Tod womöglich nichts sein könnte. Wer sich damit abgefunden hat, dass unsere Welt den physikalischen Gesetzen gehorcht und also kausal geschlossen ist, der ist bei Widmer an der falschen Adresse, denn dieser Schriftsteller schreibt mit aller Wucht aller Wahrscheinlichkeit entgegen. WidmerKennern hingegen sei versichert: Herr Adamson erweist sich als mindestens so verrückt wie beispielsweise Der Kongreß der Paläolepidopterologen (1989) und als genauso poetisch wie Der blaue Siphon (1992). – Das ist mitnichten nur immer lustig. Was Widmer verhandelt, ist die menschliche Tragödie schlechthin, meint den Tod, der alle früher oder später ereilt, und mit ihm das schlechte Gewissen, das schon die Söhne Adams plagte, sprich Versäumtes nicht mehr ausbessern zu können. So pendelt auch der Ich-Erzähler zwischen Fremdbestimmung und Verwirklichung des eigenen Willens hin und her und erlebt die spektakulärsten Abenteuer aufgrund von Unerledigtem seines Vorgängers. Obschon das in die Sphären des Kitsches abgedriftet scheint: Der Ich-Erzähler erfährt, welche Kraft die Liebe in sich birgt, einerseits gegen den Tod, für die Seinen andererseits. Nietzsche sprach einst von „amor fati“, von der Schicksalsliebe, als der einzigen sinnvollen Lebensform, und dieser spricht auch Widmers Herr Adamson das Wort. Ein Roman, der sich auch nur als unterhaltsames Abenteuer lesen lässt, der aber zugleich philosophische Tiefen auslotet für all jene, die nach jenem Text suchen, der nicht geschrieben steht. – Und wäre es tatsächlich nur ein Spiel, so müsste auf der Verpackung stehen: Für wache Mitspielerinnen und Mitspieler zwischen 8 und 94 Jahren. Urs Widmer: Herr Adamson. Roman. Diogenes Verlag. 18,90 € | Lesezeit 16 | Herbst 2009 Jochen Schimmang Der Schuppen der Utopie ihn nicht voran, Entscheidungen fallen ihm eher zu, wie das meiste in seinem Leben. Das Provisorium der Bonner Ein Wochenendhaus am SilvesterRepublik entspricht seiner zaudernden abend 1989. Die Mauer ist gefalNatur, die sich nicht festlegen mag, sich len, die deutsche Einheit noch nicht auch nicht mit politischen Verhältnissen vollzogen. Gregor Korff, Berater identifizieren kann. „Wir sind Ironiker. eines hochrangigen Politikers, verWir begnügen uns damit, alles zu durchfolgt misstrauisch die Neujahrsanschauen und spöttisch den Mund zu sprache des Kanzlers im Fernsehen, verziehen.“ Dieses ironische Verhältnis im Wissen, dass die Bonner Repuzum Leben wird im Roman in den Jublik, seine Republik, Vergangenheit genderinnerungen Gregors aufgehoben, ist. stellvertretend im Bild des abgelegenen Schuppens am Waldrand, den die heries ist die Ausgangssituation umstreunenden Jungen eines Tages entdes neuen, bemerkenswerten decken und in Besitz nehmen. Hier wird Romans von Jochen SchimBeckett rezitiert, heimlich die eine oder mang. Das Beste, was wir hatten hat er andere Zigarette geraucht und so manihn betitelt, und er erweist sich denn ches Mädchen überredet. „Das war doch auch als eine Erinnerungsschrift. Gregor das Beste, was wir je gehabt haben!“, so Korff ist ein Protagonist der 68er-Bewelautet das Resümee dieser von Rückzug gung, er flieht die norddeutsche Provinz, und Isolation geprägten Zeit. Gregors um im Berlin der Weg vom Privaten „Wir sind Ironiker. Studentenbewegung über den Umweg ein Politikstudium Wir begnügen uns damit, der Opposition mitzu absolvieren, liebten ins Zentrum der äugelt mit dem Mao- alles zu durchschauen politischen Macht ismus und schließt findet da ein Ende, und spöttisch den Mund sich verschiedenen wo die neue Berliner zu verziehen . “ K-Gruppen an. Nach Republik sich zum zwei Jahren ist der Ziel der Geschichte Spuk linker Politisierung vorbei. Gregor erklärt. Dieses Pathos ist ihm, der histosagt sich los und nimmt nach einigen rische Prozesse als Übergänge begreift, Jahren der Lehrtätigkeit an verschiefremd, und als Sonja, seine große Liebe, denen Universitäten das Angebot einer als Stasi-Spitzel enttarnt wird, ist er in Referententätigkeit eines einflussreichen seiner beruflichen Position nicht mehr CDU-Politikers an. So idealtypisch zu halten. Zudem wird ein ehemaliger dieser Marsch durch die Institutionen Gesinnungsgenosse in Vorbereitung auch konstruiert sein mag, Gregor treibt eines Anschlags auf ein deutsch-patrio- Von Felix Gollinger D tisches Denkmal festgenommen und verurteilt. Gregor und seine gleichgesinnten Freunde, inzwischen Staatsschützer und Juristen, sind sich einig: Es muss gehandelt werden. Was nun beginnt, ist ein politisches Possenspiel, eine Rebellion, die zu spät kommt. Schimmangs Roman lässt sich als Studie der 68er-Generation lesen, er spürt ihren Beweggründen nach und begleitet sie auf ihrem bisweilen auch grotesken Weg in die deutsche Gesellschaft. Melancholisch, humorvoll und in einer wohltuend sachlichen Sprache. Der Schluss des Romans bleibt offen und hält doch an einem utopischen Gedanken fest: Jede geschichtliche Epoche birgt ihr kritisches Potential schon in sich. Jochen Schimmang: Das Beste, was wir hatten. Roman. Edition Nautilus. 19,90 € • l esun g • Jochen Schimmang ist Gast der Buchhandlung jos fritz am 25. November, 20 Uhr. | Lesezeit 16 | Herbst 2009 In der Wunderkammer Von Heiko Fischer Als sich David Foster Wallace im September letzten Jahres das Leben nahm, um der Qual seiner schweren Depressionen ein Ende zu machen, war ich persönlich getroffen. DFW war für mich ein Autor gewesen, den man nicht nur liest, sondern entdeckt. I ch wurde nicht müde, die schillernden, aber durchaus sperrigen Texte weiterzuempfehlen. Doch der einzige Freund, bei dem ich den Eindruck hatte, dass er (selber Autor) die Texte mit der gebotenen Aufmerksamkeit gelesen hatte, reagierte mit prompter und unverhohlener Ablehnung. Als ich zur Verteidigung DFWs Talent ins Feld führte, das man ja wohl nicht leugnen könne, erwiderte Jason: „Yes, but it’s nothing BUT a display of talent.“ Ein interessanter Einwand, an den ich noch öfter bei der Lektüre denken musste. Das Werk, das DFW hinterlässt, ist mit zwei Romanen, drei Kurzgeschichtensammlungen und ein paar Dutzend Essays und Reportagen durchaus überschaubar. Trotzdem ist es gehaltvoll genug, um ihm einen Platz unter den wichtigsten amerikanischen Schriftstellern seiner Generation zu sichern. Wenn man ihn hierzulande dem literarischen Underground zurechnet, wie es immer wieder getan wird, mag das daran liegen, dass die Stimme des Autors hinter der Bandbreite verwendeter Stilmittel unter anderem auch Jonathan Franzen, und literarischer Haltungen zu verden eine enge Freundschaft mit Wallace schwinden scheint. Doch in DFWs postverband. moderner Wunderkammer werden jene Nun ist es also da, das Buch, auf das menschlichen Grunderfahrungen verwahrscheinlich auch jene Nicht-Muthandelt, denen sich die Literatur schon tersprachler gewartet haben, die es immer gewidmet hat – Einsamkeit, Spigewohnt sind, amerikanische Romane ritualität, Liebe, Tod. Sein Werk hat daim Original zu lesen. Denn die Fülle an mit vielleicht mehr mit den klassischen Fachsprachen, Expeditionen in sprachAutoren gemein als mit der Avantgarde, liche Hinterländer, Subkulturen und Erdie sich die Erforschung formaler Grenzählhaltungen, dürfte auch die Sprachzen zur Aufgabe gemacht hatte. DFWs kenntnisse versierter Amerikanisten auf Stilmittel entsprechen lediglich der zeitdie Probe stellen. (Ulrich Blumenbach genössischen Wirklichkeitserfahrung dankt in einem Nachwort einem ganzen und sind am ehesten geeignet, diese Stab von Übersetabzubilden. zerkollegen, die einNach sechs Jahren Betritt man den zelne Fachbereiche Übersetzungsar Roman, bearbeitet haben.) beit erscheint nun Doch um mit der DFWs Opus Mastösst man Beschreibung dieses gnum auf Deutsch, auf einen monströsen Gestaltwas seiner Rezepwandlers eines Rotion im deutschÜBERWÄLTIGENDEN mans irgendwo anzusprachigen Raum sprachlichen setzen, hier ein paar neue Impulse geben Worte zur Handlung. dürfte. Unendlicher Reichtum und eine Die HandlungsstränSpaß bringt es auf glasklare, ge des Romans ver1.547 Seiten und laufen in einer nahen der Auftritt der schneidende Zukunft durch ein weißen, ziegelsteinIntelligenz. nordamerikanisches ähnlichen Ausgabe Staatengefüge nawurde schon im mens O.N.A.N. Zwei weitere wichtige Vorfeld von Verlag und Feuilleton enttopographische Pole sind einerseits sprechend vorbereitet. So erschien eine Elite-Akademie für zukünftige schon vor Monaten ein (übrigens sehr Tennisprofis, andererseits eine Drogenlesenswerter) Band mit „Bonusmateentzugsklinik in unmittelbarer Nachrial“, in dem nicht nur der Übersetzer barschaft (autobiografische Elemente Ulrich Blumenbach zu Wort kommt DFWs, der eine Erfolg verheißende Karund exemplarisch übersetzerische Proriere als Profi-Tennisspieler zu Gunsten bleme und Lösungen schildert, sondern | Lesezeit 16 | Herbst 2009 David Foster Wallace des Schreibens aufgab). Titelgebend dankenwelten ein, stößt man auf einen für den Roman ist jedoch ein gleichnaüberwältigenden sprachlichen Reichmiger Film, den Quebecer Separatisten tum und eine glasklare, schneidende Inin ihren Besitz bekommen wollen. telligenz. Außerdem gibt es diese großUnendlicher Spaß stellt die ultimative artigen satirischen Passagen, die DFWs Form der Unterhaltung dar und jeder, Ruf als einen der wichtigsten zeitgeder den Film anfängt anzusehen, stellt nössischen Satiriker begründet haben. das WiedergabegeVor dem Horizont rät unweigerlich einzelner Kapitel Das atemberaubende auf Wiederholung ist der Roman auch und vergisst über durchaus leicht und Werk von David Foster dem seligen Konunterhaltend zu leWallace sei jedem ans sum des glücklich sen. Es empfiehlt machenden Clips sich also, sich bei Herz gelegt, der sich alle körperlichen der Lektüre mit für die Möglichkeiten Bedürfnisse, was dem jeweiligen schließlich und unBerg zu beschäfzeitgenössischer weigerlich zum Tod tigen und das GeLiteratur interessiert. führt. Die Quebecer birge erstmal zu Terrorzelle plant vergessen. den Film ins natiDFW liebt es zweionale Fernsehnetz einzuspeisen, um fellos, sein Können vorzuführen. Der so der verhassten Staatsmacht den ToRoman erscheint in dieser Hinsicht desstoß zu versetzen. Darüber hinaus tatsächlich wie eine Bühne, auf der algibt es noch ein Heer von Nebenfiguren lerhand atemberaubende Kunststücke und Handlungsverläufen, die zum Teil aufgeführt werden. Doch die kühle Iroschnell wieder verschwinden, nachdem nie, mit der DFW seine Fähigkeiten präsie eingeführt wurden, beziehungsweisentiert, sollte nie darüber hinwegtäuse abrupt abbrechen. schen, wie ernst und zutiefst moralisch Diese Mischung aus Tennis, Terror, Droseine eigentlichen Anliegen sind. Es gen und Unterhaltung mag etwas krude geht in Unendlicher Spaß vor allem um erscheinen und die Frage aufwerfen, die Besessenheit von Erfolg und darum, warum man sich dieses monströse Buch jedes erdenkliche „Potenzial“ aufzuspüantun sollte. Doch sind die oben aufgeren und „zu verwirklichen“. Die großen führten Koordinaten nicht mehr als Sedative, die diesen Verwundungen geEckdaten und man sollte die Landkarte genübergestellt sind, sind einerseits nicht mit der Landschaft verwechseln. pharmakologischer, andererseits kultuBetritt man nämlich den Roman und reller Natur, aber eine geradezu zwinlässt sich auf DFWs Sprach- und Gegende Konsequenz in der Welt, die DFW zeichnet. Das atemberaubende Werk von David Foster Wallace sei jedem ans Herz gelegt, der sich für die Möglichkeiten zeitgenössischer Literatur interessiert. Denn Neuentdeckungen, wie Schreiben (auch) verstanden und ausgeführt werden kann, gibt es gerade in Unendlicher Spaß jede Menge zu machen. Und auch wenn man der unterkühlten Präsentation des Autors der eigenen Fertigkeiten eher reserviert gegenüberstehen mag, so lohnt es sich, das eine oder andere Kunststück aufmerksam zu verfolgen. Es könnte nämlich sein, dass es sich als grandioser Witz entpuppt. David Foster Wallace: Unendlicher Spaß. Roman. Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Kiepenheuer & Witsch. 39,95€ • l esun g • Ulrich Blumenbach stellt seine Übersetzung am 23. Oktober um 20 Uhr im Alten Wiehrebahnhof, Urachstr. 40, vor. | 10 Lesezeit 16 | Herbst 2009 Antonio Fian Das perfekte Nachttischbuch Von Markus Bundi Ein Torhüter verliert bei einer mirakulösen Parade die Unterhose (nicht aber die Trikothose), Schriftsteller Robert Menasse ist Bundespräsident von Österreich geworden und ein Kind tötet mit einem großen Amethyst einen jungen Delphin im Aquarium. W er das Tor zur Traumwelt aufstößt, betritt ein Spielfeld, auf dem so ziemlich alles möglich ist, ein Terrain also, das jedem Schriftsteller liegen müsste, auf dem er sich endlich einmal nach Lust und Laune austoben und der Fantasie freien Lauf lassen kann. Dennoch ist das Nacherzählen von Träumen bis heute nicht das vorzügliche Metier der Schriftsteller. Wohl weniger, weil sich deswegen der Autor gleich in der Psychoanalyse wähnte, sondern vielmehr, weil ein grenzenloser Raum das Schreiben von Geschichten nachgerade erschwert im sich gegenseitigen Überbieten des Surrealen. Gleichförmigkeit, gar Langeweile droht – denn wo alles verrückt ist, ist alles auch schon wieder normal. Was das Erzählen von Geschichten im Kern ausmacht, nämlich das Anschreiben gegen Grenzen jedweder Art, wird in der Traumwelt auf eine harte Probe gestellt. Antonio Fian ist sich dieser Schwierigkeiten fraglos bewusst, ist diesen nun aber nicht ausgewichen, sondern legt mit seinem Band Im Schlaf über sechzig Traumgeschichten vor, kurze und kürzeste Erzählungen, die nie nur lustig sind, die vielmehr durch ihre Doppelbödigkeit überzeugen. Das Groteske ist dem 53-jährigen Schriftsteller nie Mittel zum Zweck, die Überzeichnungen oder Verzerrungen sind mit Bedacht und zuweilen unmerklich angesetzt. Und ist das Absurde schlagartig gegeben, so erzählt Fian mit einer lakonischen Nüchternheit, einer Selbstverständlichkeit, dass dem Leser der Atem stockt. Insbesondere wenn es um Leben und Tod geht, was in diesen Traumgeschichten keine Seltenheit ist. Da leistet eine Frau nach einem Verkehrsunfall erste Hilfe, versucht einen Teil des Kotflügels, der sich durch den Leib des Fahrers gebohrt hat, wieder herauszuziehen, und obwohl die Widerhakeln – ja, die Widerhaken – bei jedem Versuch tiefer in die Genitalien des Opfers getrieben werden, wird die Frau in ihrem Tun vom Gepeinigten noch angefeuert. Weniger schmerzhaft, doch ebenso grotesk das Auftreten von Elfriede Jelinek in einem anderen Traum. Sie gewährt dem Ich-Erzähler großzügig einen Wunsch. Dieser wünscht sich sodann die Nobelpreisträgerin nackt, worauf die Jelinek ohne Zögern zum Striptease ansetzt. Freilich verfügt Fian über genügend Raffinesse, auch dieser Geschichte noch einen ganz andern Dreh zu geben. Und wenn es nicht mehr auszuhalten ist, dann drückt der Ich-Erzähler im Aufzug aufs E, fürs Erdgeschoss oder 11 | Lesezeit 16 | Herbst 2009 Wolf Haas Höher hinauf geht's nicht mehr Von Markus Orths eben: fürs Erwachen. Und auch wenn das nun widersprüchlich klingen mag: Fians neuer Band Im Schlaf ist auch das perfekte Nachttischbuch, für angeregte Träume nach der Lektüre – auch wenn Schriftsteller und Verlag dafür wohl jede Haftung ablehnen. Antonio Fian: Im Schlaf. Erzählungen nach Träumen. Droschl Verlag. 16,00 € Leseprobe: Neugier Wie es dazu gekommen war, weiß ich nicht, aber ich war mit Peter Handke in einem Doppelzimmer einquartiert. Ich wagte nicht, ihn anzusprechen, und er beachtete mich nicht, sondern schrieb immerzu in ein Notizheft. Ich wollte gern sehen, was, vor allem wie er notierte, und umschlich ihn, immer näher kommend, so auffällig, dass ich selbst verwundert war, dass er nichts bemerkte oder, falls er etwas bemerkte, nicht reagierte. Einmal gelang es mir, Einblick zu nehmen: Zwischen wenige, in unleserlicher Schrift geschriebene Sätze zeichnete er Schiffe. Jetzt war er also angekommen. Beim lieben Gott. Nicht der Brenner, sondern der sonder- und wunderbare Erzähler, der sämtliche Brenner-Kriminalromane mit seiner Lakonie und seinem Witz „rein vom ding her“ so schelmisch und pointiert und ganz nebenbei hinschnoddert. W ar also gestorben am Schluss des letzten Brenner-Romans mit dem Titel Das ewige Leben. Man hat also gedacht: Stille. Aber „pass auf“: Er ist wieder da. Konnte nur schlecht den StandardErsten-Satz, also den in jedem der fünf Brenner-Fortsetzungen identischen ersten Satz „Jetzt ist schon wieder was passiert“ anbringen, sondern muss sein Wiederauftauchen aus dem Reich der Toten erst mal erklären: „Meine Großmutter hat immer zu mir gesagt, wenn du einmal stirbst, muss man das Maul extra erschlagen.“ Der Brenner, anfangs heißt er noch Herr Simon, nach seinem Vornamen, hat einen neuen Job als Chauffeur des Baulöwen Kressdorf. Der hat gerade einen Mordsauftrag: Das Riesenland. Seine Frau ist Chefin einer Abtreibungsklinik. Und Brenners Aufgabe als Chauffeur besteht hauptsächlich darin, deren zweijährige Tochter Helena herumzukutschieren: „Die junge Gattin in Wien, der KREBA-Firmensitz in München, dann ein zweijähriges Kind, treffen sie sich am einfachsten in der Mitte, sprich Kitzbühel. Weil in Kitzbühel natürlich die Geschäfte, die Kontakte, ja was glaubst du.“ Der Brenner kann sich nun beim Tanken nicht für eine Tafel Schokolade entscheiden, die er der kleinen Helena mitbringen will, er kommt zurück zum abgeschlossen geglaubten Wagen, Helena ist verschwunden, sprich entführt. Verdächtige gibt es genug. Die ProlebenGegner der Abtreibungsklinik, Banker, der Obersenatsrat, alle, die irgendwas mit dem Riesenbauauftrag zu tun haben. Und am Schluss, also nach ein paar Tagen, zählt man sage und schreibe sieben Tote. Sicher, wie jeder Krimi ist das gnadenlos konstruiert. Aber warum es nicht konstruiert wirkt, liegt einzig und allein an der Erzählerstimme. Wolf Haas gelingt das große Kunststück, die Krimihandlung nebenbei erzählen zu lassen. Man hat das Gefühl, in einer Kneipe zu sitzen und dem Erzähler, der einen ständig anspricht, zuzuhören. Imaginierte Mündlichkeit des Erzählens: ein alter Trick, beispielsweise in The Web of Earth von Thomas Wolfe, wo eine alte Frau während einer Zugfahrt ihrem Enkel eine Geschichte erzählt bzw. erzählen will und immer wieder vom Hundertsten aufs Tausendste kommt. Bei Haas ist es ein wenig anders. Hier deutet der Erzähler oft die Dinge nur an, umkreist sie, beginnt mit dem Ergebnis dessen, was geschehen ist, ehe das, was zu diesem Ergebnis geführt hat, Scheibchen für Scheibchen nachgereicht wird. Es ist dieser Gestus des Nebenbei, dieses Lakonische, was aus den Brenner-Krimis Literatur macht; es ist der Humor, der den gesamten Text trägt („Im alkoholfreien Bier ist ja auch ein kleines bisschen Alkohol, und es heißt, wenn man sechsunddreißig trinkt, Vollrausch.“); es sind die scheinbaren, im Grunde irre komischen Weisheiten, die der Erzähler von sich gibt („Aber wenn du als Chauffeur ohne Auto im Regen stehst, ist das natürlich subjektiv der Moment, wo du begreifst, dass du eine Krise hast.“); es ist der Duktus der Mündlichkeit und dieses geschickte Ineinanderverweben von Handlung und Handlungsfetzen, von Betrachtungen und Kommentaren und Leseransprachen. Und die Szene, in welcher der Brenner endlich dem lieben Gott begegnet, ist grandios, so viel sei verraten. Wolf Haas: Der Brenner und der liebe Gott. Roman. Hoffmann und Campe. 18,99 € Lesezeit 16 | Herbst 2009 | 12 Rainer Malkowski In Schwindel erregender Kürze fachen Versen sprechen sie von komplexen Zusammenhängen“. Für Rainer Malkowski selbst waren Rainer Malkowski, 1939 in BerGedichte unter anderem „jene Art von lin geboren, wäre in diesem Jahr Genauigkeit, die die Ungenauigkeit, mit siebzig geworden. Er arbeitete anund in der wir leben, bewußt macht“. fangs etliche Jahre für WerbeagenDie Poesie fing für ihn dort an, wo turen und war von 1968 bis 1971 sich das Substanzielle vom bloß InterGeschäftsführer und Teilhaber essanten unterscheidet, die Wahrnehder damals größten der BRD. Seit mung als Ereignis stattfindet. Wenn Ge1972 lebte er als freier Autor und dichte glücken, erzählen sie, laut ihm, schrieb seit seinem Debüt 1975, in Schwindel erregender Kürze eine Was für ein Morgen, fast ausunendliche Geschichte. schließlich Gedichte. Die schönste Definition des Einfachen, die ich kenne, stammt von ihm: Das eitweilig vom Erblinden beEinfache, sagt er, sei nur der unverstelldroht, ist er 2003 nach längete Zugang zum Komplexen. rer Krankheit in Brannenburg Und mit diesem Anspruch, aus diesem am Inn gestorben. Postum erschienen Blickwinkel, aus dieser Haltung heraus, 2004 im Hanser Verschrieb er seine Ge„Das Einfache lag unter dem Titel Die dichte, die sich am Stoff Herkunft der Uhr seine entzünden, in denen ist nur letzten Gedichte, die er kein Wort zu viel gesagt der unverstellte noch zum großen Teil wird, nichts ÜberflüsZugang selbst zusammenstellen siges, nichts Banales zum Komplexen.“ konnte, oder die, in gesteht, in denen die Verse sprochener Form, als immer durch das eigene Texte „vom letzten Band“ festgehalten Leben gedeckt sind. Gedichte, deren wurden. „Dinghaftigkeit“ äußerste Verdichtung In seinem Nachruf formulierte der voraussetzt, und in denen für ihn kaum Karlsruher Dichterfreund Walter Helzu unterscheiden ist, „ob genaues Semut Fritz: „Die zurückhaltenden, hen noch bloßes Sehen ist oder schon alles Plakative meidenden Gedichte ein Gedanke“. Rainer Malkowskis überzeugen durch Und da über ein Gedicht zu reden imihre Skepsis, ihre Illusionslosigkeit, mer schwächer ist als das Gedicht selbst, ihr Formbewusstsein. Sie zielen auf soll der Dichter, soll das Gedicht zu Erkenntnis durch Vergegenwärtigung Wort kommen mit diesen wunderbaren von Augenblicken intensiver WahrnehZeilen – die in sich, wie nebenbei, auch mung. Rhetorik ist ihnen fremd. In eineine Art von Poetik mitformulieren: Von Walle Sayer Z All die nichtssagenden Fotos, in die wir unsere Liebe hineinlesen, unsere Erinnerungen an Augenblicke, die nicht auf dem Bild sind. Ihr Armen, was tut ihr, wenn wir sterben, unter Menschen, dir nur sehen, was ihr zeigt? Reduziert auf das Sichtbare: wer könnte so leben. Rainer Malkowski: Die Herkunft der Uhr. Gedichte. Mit einem Nachwort von Albert von Schirnding. Hanser Verlag. 14,90 € 13 | Lesezeit 16 | Herbst 2009 Angelika Overath Messias der Meere Von Gabriele Michel Flughafenfische ist der neue Roman von Angelika Overath überschrieben – er könnte ebenso gut Zärtliche Seepferdchen heißen. Der sachliche, auch ein wenig rätselhafte Titel verweist auf den passageren Raum, in dem die Protagonisten über Flugziele und Fluchtorte, Aufbrüche und Abschiede entscheiden. A nmutig und fragil wie die „zärtlichen Seepferdchen“, die bei dieser Entscheidung keine geringe Rolle spielen, ist auch der sprachliche Gestus, mit dem die Autorin ihren Figuren Leben einhaucht. Vor allen den Dreien, deren Wege sich an einem langen Nachmittag in den fensterlosen Fluchten des Flight Connection Centers kreuzen: Tobias Winter, dem „stillen Messias der Meere“, der Fotografin Ellis und einem anonymen Geschäftsmann. Tobias Winter lebt nahezu ausschließlich für das riesige Aquarium, das er selbst in diesem Flughafen aufgebaut hat. Er ist ein Sammler von Menschen, Szenen, und „instabilen Metamorphosen“, ein Schlafloser und Beobachter, der alles über seine Fische weiß und auch, dass es „sehr oft die nebensächlichen Dinge (sind), die die großen bestimmen.“ Tobias Winters kundiger Blick führt den Leser in die komplex organisierte Gemeinschaft der Fische ein, die sich mit ihren Eigentümlichkeiten und Raffinessen als Spiegel des menschlichen Zusammenle- bens erweist. „Der Krebs war blind, die Grundel hingegen sah gut und konnte drohende Gefahr erkennen. In fragiler Transparenz, ein Hauch von Tier, war sie doch sein Sicherheitssystem, mit ihren langen Fühlern blieb sie in Körperkontakt mit seinem Krustenpanzer, seinen festen Zangen. Unter ihrer Aufmerksamkeit überlebte er und arbeitete für sie, grub Futter aus, bereitete die Höhle neu. Sie haben sich über ihre Schwächen gefunden, dachte Tobias. ... Kaum einer von den Reisenden beachtete dieses winzige, glückliche Drama im körnigen Korallensand.“ Tobias Winter ist ein introvertiert und fantasiebegabt Sehender. Er sieht nicht einfach etwas oder jemanden, er sieht immer Geschichten. Damit bestimmt er den Grundton des Romans. Sein behutsam nachdenklicher Blick verleiht den Figuren Kontur und den Begegnungen in den verzweigten Gängen des Flughafengebäudes jene vitale Bedeutung, die sie „im wahren Leben“ hätten. In schwerelosen, mal assoziativ versponnenen, mal hellsichtig analysierenden Sätzen verdichtet die Autorin die inneren Dramen und Sehnsüchte der Figuren zu eigenwilligen Schicksalen, die einen unmerklich in ihren Bann ziehen. Selbst Tobias, der Einzelgänger, bleibt nicht ewig allein. Auf dem Weg von einem Einsatz zum nächsten strandet Ellis, Fotografin für Hochglanzmagazine, neben seinem Aquarium. Sie bringt die Pracht und Rätselhaftigkeit exotisch fremder Räume mit ins Spiel. Zwischen dem sesshaften Beobachter und der weitgereisten Beob- achterin entspinnt sich ein Kontakt, dem Overath fern von Klischees eine feine, traumwandlerische Dynamik verleiht. Verglichen mit Tobias und Ellis, die neugierig und intuitiv sind und für Überraschungen sorgen, ist der Dritte im Bunde – ein namenloser Businessclass-Man, der sich im einsamen Whiskeyrausch das Scheitern seiner Ehe in Erinnerung ruft – vorherseh- und verzichtbar. Statt seiner mäandernden Wehklage hätte man lieber noch mehr jener feinsinnigen Reflexionen gelesen, in denen Overath sich als inspirierte Essayistin erweist: Exkurse über unterschiedliche Formen von Müdigkeit, den Verzehr von Austern oder das Sterben einer Elefantenkuh. Sie bilden das zweite Zentrum dieses in seiner Ereignislosigkeit verblüffend fesselnden Romans und bewirken durch ihre poetische und sinnliche Schönheit, dass man beim Lesen nicht selten einfach glücklich ist. Angelika Overath: Flughafenfische. Roman. Luchterhand Verlag. 17,95 € Lesezeit 16 | Herbst 2009 | 14 15 | Lesezeit 16 | Herbst 2009 China – ein Streifzug Von Mathias Heybrock Bei einer Veranstaltung im Vorfeld der Buchmesse protestierte die chinesische Delegation scharf dagegen, dass entgegen der Absprache auch zwei Dissidenten teilnehmen durften, die Missstände und Menschenrechtsverletzungen ansprechen wollten. D eutsche Medien reagierten einhellig empört: Einmal mehr stellte China also unter Beweis, dass es kritische Stimmen konsequent unterdrückt! Ganz so einfach ist es aber wohl nicht. Als offizielles Mitglied der Delegation war etwa auch der 1955 geborene, international renommierte Schriftsteller Mo Yan angereist, dessen Buch Rotes Kornfeld 1987 von Zhang Yimou verfilmt wurde. Mo Yan ist ein Pseudonym, das ungefähr mit „sagt nichts“ übersetzt werden kann. Von selbst verordneter Sprachlosigkeit freilich ist der Autor weit entfernt, wie auch sein jüngstes Werk Der Überdruss wieder belegt – ein 800 Seiten starkes Epos, das die letzten fünfzig Jahre der chinesischen Geschichte anhand der Geschehnisse in einem kleinen ostchinesischen Dorf erzählt (eine Gegend, aus der Mo Yan selbst stammt). 1950 sperrt sich dort ein rechtschaffener Bauer gegen die von den Kommunisten angeordnete Kollektivierung des Landes – und wird daraufhin vom lokalen Rädelsführer der KP, die ihre Macht gerade erst zu sichern beginnt, Das großartige Buch schildert große, kaltblütig erschossen. In den Augen der manchmal komplett verrückte Dramen; Partei ist es eine gerechte Tat – soll der angerichtet durch menschliche Not, Reaktionär doch in der Hölle schmoren! Dummheit oder Gier: den mörderiTatsächlich beginnt Mo Yan seinen Beschen Hunger zur Zeit des „Großen richt mit der detailreichen Schilderung, Sprungs nach Vorn“, die systematische wie der arme Mann vom Höllenfürsten Entmenschlichung der Gesellschaft zwei Jahre gefoltert und zum krönenden während der Kulturrevolution. Es ist Abschluss „knusprig frittiert“ wird. ein „magischer“ und gleichzeitig vollDas setzt den Ton für ein ungezügeltes kommen ungeschönter Realismus, der und durchaus auch etwas ungehobeltes sich auch in einer weiteren NeuerscheiWerk, das der Autor nung zur Buchmesse Eine in nur 52 Tagen finden lässt: Dem vergleichbare heruntergeschrieRoman Brüder des ben hat. Eine ver1960 geborenen You Sprache gleichbare Sprache Hub, von dem Zhang ist in der ist in der deutschen Yimou (Leben) ebendeutschen Gegenwartsliterafalls ein frühes Werk Gegenwartsliteratur verfilmte. Wie Der tur kaum zu finkaum den. Eher schon in Überdruss ist auch Grimmelshausens Brüder eine groß anzu finden. barockem Simplicisgelegte Gesellschaftssimus, der in China interessanterweise chronik, verfasst in einem fantastischen, ein Bestseller ist. Der Überdruss ist ein verrückten Stil. drastisch gestalteter Schelmenroman, In einem etwas bescheideneren Rahmen in dem der Bauer nun vom Höllenversuchen sich auch jüngere Autoren fürst überraschend das Recht auf eine an solchen Gesellschaftspanoramen. Wiedergeburt gewährt bekommt – alEtwa die 1972 geborene Yiyun Li (ihr A lerdings als Esel, wie er bestürzt festThousand Years of Good Prayers wurde stellen muss. Später wird er als Stier, von Wayne Wang verfilmt), die mit Die als Zuchteber und schließlich als Affe Sterblichen eine Geschichte erzählt, die wiederkehren – und die gewaltigen kurz nach der Kulturrevolution ihren gesellschaftlichen Umwälzungen seiAnfang nimmt. Eine junge Frau, einst ner Heimat aus diesen Perspektiven fanatische Rotgardistin, wird wegen der erleben. Erst ganz zum Schluss darf er von ihr begangenen Verbrechen hingeerneut menschliche Gestalt annehmen. richtet. Doch mit dieser weiteren GeZu diesem Zeitpunkt freilich hat auch walttat lässt sich die Vergangenheit nicht das kommunistische China seine Gesühnen und schon gar nicht bewältigen. stalt längst gründlich gewandelt. Es ist ein eindringliches Buch, doch im men einbettet, so künden die nervösen Stil grundverschieden von den Werken Reflexionen Zhu Wens vom modernen der in Peking lebenden Autoren Mo Yan China: Korruption, Umweltverschmutund Yu Hua. Yiyun Li, die seit 1996 in zung, die verheerenden Folgen einer im den USA lebt und ihr Buch auf Englisch Schnelldurchlauf vollzogenen Moderniverfasste, ist durch die amerikanische sierung. Creative-Writing-Schule gegangen. Sie „Die Aufgabe der chinesischen Literatur schreibt klarer, strukturierter, weniger ist es, Missstände und Tabuthemen auf„verrückt“ und damit vielleicht für uns zugreifen“, sagte Mo Yan in Frankfurt. auch etwas zugänglicher. Gleichzeitig Und nicht immer reagiert das offizielle jedoch geht so der „typisch“ chinesische China darauf mit Druck und Zensur. So Sound irgendwie verloren. wurde Yu Hua zwar zunächst dringend Der findet sich wieder bei I Love Dollars, nahe gelegt, sein Manuskript Brüder zu einer Sammlung von Kurzgeschichten, entschärfen. Doch als er sich weigerte, des 1967 geborenen Zhu Wen. Seine konnte das Buch auch so erscheinen Stories fallen mit der Tür ins Haus, di– und wurde ein rekt ins Geschehen, Bestseller. Auf der das dann in einem laWie »Der anderen Seite steht konischen, manchmal Überdruss« ist der rigide Umgang sarkastischen, immer auch »Brüder« eine mit der in Frankfurt frappierend präzisen anwesenden DissiStil vor sich hin mäangross angelegte dert, bis es an ein ab- Gesellschaftschronik, dentin Dai Quing, die den Drei-Schluchtenruptes Ende kommt: verfasst in einem Staudamm scharf Ein Reisender auf dem fantastischen, kritisierte. Die VerYangtse, der am liebsverrückten Stil. hältnisse sind komten allein wäre – aber pliziert und widervon einem obskuren sprüchlich – bis ins Machtzentrum der Objekt nach dem anderen um Ruhe und KP hinein, die keineswegs nur mit einer Schlaf gebracht wird. Ein Fabrikarbeiter, Stimme spricht. Die reflexartige Empöder die kafkaesken Zustände in einem rung westlicher Medien über das diktachinesischen Kernkraftwerk schildert. torische China wird der Wahrnehmung Es sind kurze, gut verdichtete Szenen, solcher Wirklichkeiten freilich kaum denen man anmerkt, dass Zhu Wen auch gerecht. als Regisseur arbeitet. Wenn die ältere Autoren-Generation die Verfehlungen der Vergangenheit in gewaltige Panora- Mo Yan: Der Überdruss. Aus dem Chinesischen von Martina Hasse. Horlemann Verlag. 29,90 € Von Mo Yan erschien außerdem soeben: Die Sandelholzstrafe. Aus dem Chinesischen von Karin Betz. Insel Verlag. 29,80 € Yu Hua: Brüder. Aus dem Chinesischen von Ulrich Kautz. Fischer Verlag. 24,95 € Yiyun Li: Die Sterblichen. Aus dem Englischen von Anette Grube. Hanser Verlag. 21,50 € Zhu Wen: I Love Dollars und andere Geschichten aus China. Aus dem Chinesischen von Frank Meinshausen. A1 Verlag. 19,80 € | 16 Lesezeit 16 | Herbst 2009 17 | Lesezeit 16 | Herbst 2009 Thomas Glavinic Das Leben, das Sterben, der Tod Von Martin Gülich Am Anfang steht eine Begegnung. Jonas, 35 Jahre, verheiratet mit Helen, zwei Söhne, verstrickt in eine Affäre mit Marie, trifft im Park auf einen sonderbaren Mann, der nicht nur über sein Liebesleben, sondern auch über alles andere in seinem Leben Bescheid zu wissen scheint. A ber nicht nur das: Der Mann, weiß gekleidet, mit Goldkettchen und Bierfahne, gibt vor, Jonas drei Wünsche erfüllen zu können, und leichte Zweifel machen sich im Leser breit, ob derlei erzählerisch wohl gutgehen mag. Immerhin schließt sich an diese Feen-Sequenz ein gut 300 Seiten starker Roman an, und mit einer solchen Eröffnung kann ein Autor, man glaubt es zu wissen, prächtig auf die Nase fallen. Dieser hier tut es nicht, denn dieser heißt Thomas Glavinic. Ein Autor, dem es schon in der Vergangenheit immer wieder gelungen ist, aus einer ungewöhnlichen, ja gewagten Erzählkonstruktion literarischen Gewinn zu ziehen. So geschehen in seinem Roman Die Arbeit der Nacht, in dem er seinen Protagonisten als letzten Überlebenden durch die Straßen einer materiell unversehrten Welt laufen lässt, so geschehen auch in Der Kameramörder, wo das Glavinicsche Konstrukt in der Sprache selbst liegt, und auch seine selbstironische Vorführung der eigenen Autorenexistenz Das bin doch ich, die es im letzten Jahr auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat, scheut das Wagnis nicht. Das Leben der Wünsche heißt der nun vorliegende neue Roman von Thomas Glavinic, und was es mit dem sonderbaren Mann im Park auf sich hat, mit dem er ihn eröffnet, wird Jonas (und mit ihm der Leser) nie erfahren. Doch obwohl der Mann im gesamten Buch kein zweites Mal auftaucht, ist er im Kopf des Lesers jederzeit anwesend. Alles was fortan geschieht versucht man unweigerlich mit dem abzugleichen, was Jonas, nach anfänglichem Zögern, auf seine Wunschliste diktiert hat. So will er zum Beispiel wissen, ob das Leben einen Sinn hat, das Sterben, der Tod. Er möchte wissen, wie es sich anfühlt, um Haaresbreite einer Katastrophe zu entgehen, will in die Zukunft und in die Vergangenheit schauen können, und überhaupt wäre er gerne ein wenig aktiver, neugieriger, lebendiger. Es bleibt also nicht bei drei Wünschen, aber erst, als es Jonas mit dem alten Trick versucht, sich mehr Wünsche zu wünschen, beendet der Mann das Gespräch. Hier nun beginnt sich die eigentliche Geschichte des Romans zu entwickeln, die Geschichte eines mäßig erfolgreichen Werbetexters zwischen Familienalltag und Geliebter, einer Frau, die sich wie er vor den Konsequenzen ihrer Liebe fürchtet. Dann, völlig unerwartet, stirbt Helen, Jonas‘ Frau, und sämtliche Koordinaten in seinem Leben müssen neu justiert werden. Weitere Ereignisse folgen: Tatsächlich entgeht Kurz und bündig Jonas knapp einer Katastrophe, sein von Kleinwuchs bedrohter Sohn erfährt einen rätselhaften Wachstumsschub, die Schemen zweier Männer verfolgen eine Frau und erschlagen sie, ohne dass Jonas eingreifen kann. Überhaupt mischen sich Jonas‘ reale Erlebnisse zunehmend mit solchen, die nicht mehr von den ihm bekannten Gesetzen der Wahrnehmung gedeckt sind. Eine der großen Stärken von Thomas Glavinics Romans ist, dass sich diese Verunsicherung der Jonasschen Welt komplett auf den Leser überträgt. Nichts kann der sich noch sicher sein, und – konsequent wie Glavinic nun einmal ist – wird man vom Autor mit genau dieser Unsicherheit irgendwann auch aus dem Roman entlassen. „Erzähler erzählen Geschichten“, schrieb Ulrich Weinzierl einmal, „Erzähler von Rang wie Thomas Glavinic erschaffen Welten, in denen wir uns verlieren.“ Wie wahr. Thomas Glavinic: Das Leben der Wünsche. Roman. Hanser Verlag. 21,50 € Paradies von Michael Schwarz Geheimnis-Schwestern. Schiffbrüchige Schwestern. Vietkong-Schwestern. So nennen sich die ungleichen Frankie und Kate selbst. Sie leben zusammen mit ihrer Mutter und Ah Bing, einer auf Mao und die Kulturrevolution schimpfenden chinesischen Haushälterin, in Hongkong. Der Vater ist Kriegsfotograf und meist in Vietnam unterwegs. Die Mutter, Künstlerin, blendet den Krieg und die aufkommenden politischen Unruhen in Hongkong aus, versteckt die Zeitungen vor Frankie und Kate und glaubt sie so beschützen zu können. Besonders für Frankie ist die explosive politische Situation vor einer exotischen Kulisse Aufforderung zu gefährlichen Exkursionen. Während eines Ausflugs mit ihrer Haushälterin zu Ah Bings Tempel büxen sie aus und geraten in die Fänge von zwei chinesischen Revolutionären. Was als abenteuerliches Spiel beginnt, wird zu einem traumatischen Erlebnis. Es bedeutet das Ende ihrer Kindheit. Aus der Erinnerungsperspektive erzählt, spürt der Leser von Anfang an das sich anbahnende Unheil. Die sinnliche, subtropisch-fruchtbare Umgebung wird immer mehr durchdrungen vom Geruch nach Fäulnis und Tod. Einer Schlingpflanze gleich umschließt der Text den Leser. Es gibt kein Entrinnen und der Leser ist den erzählten Ereignissen genauso schutzlos ausgeliefert wie Frankie und Kate. Alice Greenway: Weiße Geister. Roman. Aus dem Englischen von UweMichael Gutzschhahn. Marebuchverlag. 19,90 € Rache Von Michael Schwarz Im Norden von Maine kündigt sich der lange Winter mit einem kalten Wind aus Kanada an. Dort, in dieser abgeschiedenen, erbarmungslosen Landschaft, lebt Julius Winsome zusammen mit seinem Hund Hobbes in einer Blockhütte, die sein Großvater gebaut hat. „Es ist einsam hier oben, nicht nur im Herbst und im Winter, sondern immer.“ Julius Winsome sitzt neben seinem Ofen und liest Tschechow, als er einen Schuss hört. Nichts Ungewöhnliches, wird doch in den Wäldern rund um die Hütte viel gejagt. Was ihn irritiert ist die Lautstärke des Schusses und dass Hobbes nach mehrmaligem Rufen nicht auftaucht. Er beschließt, ihn zu suchen und findet ihn blutüberströmt, kaum noch atmend auf einer Lichtung. Der Tod von Hobbes setzt die Handlung von Gerard Donovans' Roman Winter in Maine in Gang. Julius Winsome ist ein besonnener Mann, aber sein verletztes Herz lässt ihn unberechenbar werden. Die Grenzen zwischen Kummer und Rache verschwimmen. Er überlegt, wer seinen Hund getötet haben könnte und fängt an, mit dem Gewehr seines Großvaters die vermeintlichen Täter zu erschießen. Auch die Erinnerung an seine kurze Liebesgeschichte mit Claire vor vier Jahren bringt ihn nicht von seinem Rachefeldzug ab. Im Gegenteil: Er verdächtig sogar sie, mit dem Mord an Hobbes etwas zu tun zu haben. Immer enger werden die Kreise, die er um den tatsächlichen Täter zieht, während gleichzeitig die Polizei beginnt, ihn einzukreisen. Erzählt ist der Roman in einem ruhigen Ton, der der Stille der Wälder entspricht. Die Sprache dämpft die geschilderte Gewalt, als würde Julius Winsome uns seine Geschichte zuflüstern – mit der verstörenden Wirkung, dass wir zu Winsomes Komplizen werden. Gerard Donovan: Winter in Maine. Aus dem Englischen von Thomas Gunkel. Luchterhand Verlag. 17,95 € | 18 Lesezeit 16 | Herbst 2009 19 | Roberto Bolaño Unser Fluch und unser Spiegel Naziliteratur in Amerika und auch der verschwundene Autor von 2666, Benno von Archimboldo, hat in Die wilden Wenn Autoren in Roberto Bolaños Detektive bereits einen Namensvetter. Romanen einmal nicht über VersIn diesem Roman erzählt Auxilio Lamaße aus dem 6. vorchristlichen couture, wie sie 1968 auf der Toilette Jahrhundert diskutieren, gehen der UNAM von der Besetzung des Misie gerne der Welt verloren. Dann litärs überrascht wurde und dort auswerden sie von anderen Autoren harrte, bis der Spuk nach Tagen vorbei gesucht, manchmal auch von Litewar. Ihre Geschichte wurde zu einer Art raturwissenschaftlern. urbanen Legende, die sie selbst in immer anderen Varianten hörte. Ein wenig as war in Bolaños 1998 ververhält es sich so mit dem Autor selbst; öffentlichten Roman Die wilmag die Ruhelosigkeit vieler seiner Roden Detektive so und so ist es manfiguren mit Bolaños eigener Jugend auch in seinem jetzt auf Deutsch vorliezu tun haben. Nachzulesen in seinem genden Werk 2666. Der knapp 1100 Roman Die wilden Detektive, für den Seiten starke Roman er mit dem Premio ist ein eigentümRómulo Gallegos „UND WO ZUM TEUFEL liches Werk, das nach ausgezeichnet wursteckt Apollo, Absolutheit strebt, oft de. Geboren wurde die alte Schwuchtel? eine Zumutung. Erer 1953 in Chile, Apollo ist krank, schienen ist es 2004, wuchs jedoch in kurz nach Bolaños Mexiko auf. Für kurschwerkrank.“ Tod. Er selbst wollte ze Zeit soll er nach aus: Der unerträgliche Gaucho es in fünf Teilen verChile zurückgekehrt öffentlicht sehen, der sein, er entkam den Verlag hat sich anders entschieden. Aus Gefängnissen Pinochets nur mit Glück. guten Gründen, denn 2666 verträgt die Es folgte eine unstete Zeit, in der er Zersplitterung nicht. Und vieles deutet unter anderem als Campingwächter darauf hin, dass der Roman, der Bolajobbte. Seit 1977 lebte er in Europa, ños letzter geworden ist, auch der ist, seit 1993 in der Nähe von Barcelona. auf den sein Gesamtwerk zusteuerte. Zu seinem Exilleben hatte er ein eher Bolaño gehört zu jenen großen Romanunsentimentales Verhältnis, die Spraautoren, die eine ausufernde Fiktion che und die Literatur war ihm Heimat entworfen haben und nicht so schnell genug. mit ihren Protagonisten fertig waren. Arturo Belano, sein Alter Ego in Die Nebenfiguren wie etwa der General Euwilden Detektive, führt wie sein bester genio Entrescu, finden sich schon in Die Freund Ulises Lima das Leben eines Von Annette Hoffmann D Bohemiens: Sex, Drugs und viszeraler Realismus. Als sie gezwungen sind aus Mexiko-Stadt zu fliehen, machen sie sich zu viert auf die Suche nach der Dichterin Cesárea Tinajero, die sich vor Jahrzehnten in die Wüste von Sonara zurückzog. Es gehört zur burlesken Komik, aber auch zu der inneren Tragik des Romans, dass sie die Begründerin der Realviszeralisten gleichzeitig finden und töten. Der Rest: eine Odyssee. Sein letzter Roman 2666 wird in großen Teilen in dieser Landschaft spielen, von der es in Die wilden Detektive heißt: „einer imaginären oder wirklichen Region, jedenfalls von der Sonne versengt und in einer längst vergangenen Zeit, vergessen und zumindest hier, im Paris der siebziger Jahre, ohne jede Bedeutung. Eine Geschichte von den Randbereichen der Zivilisation.“ Damals wusste Bolaño schon von der Mordserie an Frauen und Mädchen, die hier an der Grenze zu den USA in Juárez seit Mitte der 1990er Jahre geschah. Viele der Opfer arbeiteten in den riesigen Fabriken der Freihandelszone. In einem Interview mit dem mexikanischen Playboy nur wenige Tage vor seinem Tod antwortet er auf die Frage, wie er sich die Hölle vorstelle. „Wie Ciudad Juárez, unser Fluch und unser Spiegel, der beunruhigende Spiegel unserer Frustrationen, unserer infamen Interpretation der Freiheit und unserer Sehnsüchte.“ Tatsächlich sind die Morde, mehrere Hundert an der Zahl, das eigentliche Kernstück des Romans. Sie sind der Stein, der im Wasser Kreise zieht. Die Lesezeit 16 | Herbst 2009 anderen Teile, die unter anderem von der Suche von vier Literaturwissenschaftlern nach Benno von Archimboldi erzählen, der im letzten Teil wirklich nach Santa Teresa reist, gruppieren sich um ihn. 108 Opfern gibt der Erzähler einen Namen, er beschreibt, wo und wie sie aufgefunden wurden. Immer wieder vermerkt der Erzähler, wie die Frauen umkamen: vaginal und anal vergewaltigt, dann erwürgt, als ließe sich mit diesem hässlichen Vers ein Reim auf die Welt machen. War in Die wilden Detektive noch die (lateinamerikanische) Diktatur die Folie, geht Bolaño in 2666 weiter. Er führt nicht nur in die „Randbereiche der Zivilisation“, sondern geht durch sie hindurch. Der Roman erzählt von Rassentrennung, dem Russlandfeldzug, an dem Benno von Archimboldi als Soldat teilnimmt, Massenerschießungen von Juden im Generalgouvernement und einem enthemmten Kapitalismus, der Frauen in einer von Drogenkartellen und Korruption in Politik und Polizei beherrschten Stadt zur Ware macht. 2666 porträtiert das 20. und 21. Jahrhundert als das außer Rand und Band geratene Dionysische. Insofern diese Zeit monströs ist, ist 2666 ein monströser Roman – ein Jahrhundertroman im doppelten Sinne. Der Erzähler jedoch klaubt die geschundenen Körper auf und gibt ihnen eine Geschichte. So gesehen ist Roberto Bolaños Roman ein zutiefst moralisches Buch. Er ist aber auch ein Roman über den Roman, der danach strebt, eine Totalität von Welt abzubilden und schrei- bend die Möglichkeiten von Literatur auszuloten. Derart wurden die Grenzen der Gattung lange nicht mehr erweitert. Eigentliches Thema in 2666 ist der Tod und die Einsamkeit. Oft träumen seine Protagonisten von leeren Räumen und Spiegeln, in denen sie sich nicht erkennen (und auch Bolaños Leser werden nicht gut schlafen). Wiederum ist es Auxilio Lacouture, die einen Hinweis auf die mögliche Bedeutung des Romannamens gibt, der in 2666 selbst an keiner Stelle aufgegriffen wird. In dem Roman Amuleto heißt es: „Die Avenida ähnelte um diese Stunde vor allem einem Friedhof, aber weder einem Friedhof von 1974 noch einem von 1968 oder 1975, sondern einem Friedhof im Jahre 2666, einem Friedhof, vergessen hinter einem toten oder ungeborenen Augenlid, dem wässrigen Rest eines Auges, das, weil es vergessen möchte, am Ende alles vergessen hat.“ Santa Teresa ist dieser Friedhof, dessen Ausdünstungen sich auf den Zähnen ablagern, so hartnäckig, dass auch mehrfaches Putzen nicht hilft. In 2666 ist er Mittelpunkt der Welt. Roberto Bolaño: Der unerträgliche Gaucho. Aus dem Spanischen von Hanna Grzimek. Antje Kunstmann Verlag, 2006. 16,90 € Roberto Bolaño: Die wilden Detektive. Roman. Aus dem Spanischen von Heinrich von Berenberg. Hanser Verlag, 2002. 29,90 € (dtv Taschenbuch, 2004. 12,90 €) Roberto Bolaño: 2666. Roman. Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Hanser Verlag, 2009. 29,90 € • l esun g • Roberto Bolaño: Exil im Niemandsland. Aus dem Spanischen von Kirsten Brandt und Heinrich von Berenberg. Berenberg Verlag, 2008. 19,00 € Bolaño-Abend mit Heinrich von Berenberg am 20. November um 20 Uhr in der Buchhandlung Schwarz.