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dtv Am William-Morris-Institut für Automationsforschung hat man eine bahnbrechende Idee: Warum nicht Computer darauf programmieren, all die lästigen Aufgaben zu erledigen, die den Menschen wie Mühlsteine um den Hals hängen? Gesagt, getan. Die neuen Maschinen verfassen Romane, schreiben Zeitungsmeldungen und texten vollautomatisch Gebete. Auch die »Ethik-Abteilung« ist kräftig involviert: Kann man eine Maschine bauen, die ein ethisches Verhaltensmuster entwikkelt? Und natürlich dient alles einem höheren Zweck: Die Menschheit soll endlich in die Lage versetzt werden, sich mit ganzer Kraft den wahren Herausforderungen des Lebens zu widmen ... wie zum Beispiel dem bevorstehenden Besuch der Königin im Institut. Michael Frayn, geboren 1933 in London, studierte Philoso- phie in Cambridge und arbeitete für den >Guardian< und den >Observer<. Er hat mehrere Romane geschrieben, ist außerdem Übersetzer u. a. von Tschechow und auch als Dramatiker erfolgreich. Michael Frayn Blechkumpel Roman Deutsch von Hilde Linnert Deutscher Taschenbuch Verlag Von Michael Frayn sind im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienen: Das verschollene Bild (13047) Celias Geheimnis ( 1 33 0 5) Wie macht sie's bloß? (13331) Das Spionagespiel (13435) Ungekürzte Ausgabe August zoo6 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München www.dtv.de © 1965 Michael Frayn Titel der englischen Originalausgabe: >The Tin Men< © zoo6 der deutschsprachigen Ausgabe: Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München Deutsche Erstveröffentlichung 198z (Wilhelm Heyne Verlag, München, Verlagsgruppe Random House GmbH) Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen Umschlagbild: Gabriel Nemeth Satz: Fotosatz Amann, Aichstetten Gesetzt aus der Sabon io/Iz . Druck und Bindung: Druckerei C. H. Beck, Nördlingen Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN-13: 97 8- 3 - 4 2 3 -1 34$ 2-8 ISBN-IO: 3-423-13482-8 z. Kapitel »Weitblick« war eine Eigenschaft, die man bei Amalgamated Television sehr schätzte, und im Amalgatel House konnte man von der Penthouse Suite des Vorsitzenden aus weit in alle Richtungen blicken, so weit, wie es die Dunstglocke zuließ. An den Fenstern der Suite bauschten sich grobe Leinengardinen — die Tag und Nacht von eingebauten Scheinwerfern in Sonnenlicht getaucht wurden — im warmen Sommerwind, der aus eingebauten Ventilatoren kam, von eingebauten Heizkörpern erwärmt und von eingebauten Klimaanlagen mit Landluft gespeist wurde. Entwaffnend schlicht flatterten sie über niedrigen Hydrokulturbehältern mit tropischen Pflanzen, die ein eingebautes Bewässerungssystem mit Nährflüssigkeit versorgte. An den Wänden hingen Bilder von Pollock, Riopelle, de Sta l, Rothko und dem Neffen des Präsidenten; und im ^ Vorzimmer saßen zwei Programmkontrolleure, ein Koordinations-Produzent, zwei Bildüberwachungsregisseure und drei Programm-Koordinations-Regisseure, die vor zweieinhalb Stunden dringend zum Präsidenten gerufen worden waren. Seither warteten sie und verursachten dem Präsidenten und seinen Aktionären Unkosten von insgesamt vierundzwanzig Pfund pro Stunde. Der Präsident befand sich in einer Besprechung. Diese Tatsache wurde von kleinen Bildschirmen im gesamten Amalgatel House verbreitet. »R.V. bei Besprechung«, verkündeten sie, wo immer Männer aufblicken mochten, um die Neuigkeit zu würdigen, im Foyer, in der Garage und in der Kantine. Einer der Schirme leuchtete im Vorzimmer des Präsidenten zum Nutzen der dort versammelten Einkommensteuerzahler. Die Sekretärin des Präsidenten tauchte aus ihrem Büro auf 5 und betrachtete die Anwesenden zum sechsten Mal mit unterdrückter Befriedigung. »Ich gehe noch einmal hinein und erinnere R.V. daran, daß Sie hier sind«, sagte sie freundlich. Sie klopfte leise an die Tür des Präsidenten und trat ein. Rothermere Vulgurian umkreiste mit auf dem Rücken verschränkten Händen langsam den Raum; sein vornehmes Silberhaar schimmerte sanft in dem durch die Fenster fallenden Sonnenlicht. » R.V. «, sagte sie. Ohne sie anzusehen, löste Mr. Vulgurian eine Hand vom Rücken und scheuchte sie mit einer Handbewegung aus dem Zimmer. Er befand sich in einer Besprechung mit Sir Prestwick Wining, einem Mitglied des Amalgamated Televisions-Aufsichtsrats, der für Fragen der Public Relations, der menschlichen und der kulturellen Beziehungen zuständig war. Sir Prestwick, ein kleiner, trauriger, träger Mann, saß in einem weichgepolsterten Drehstuhl in der Mitte des Raums und drehte sich langsam wie eine Sonnenblume im Kreis, um dem Präsidenten immer das Gesicht zuzuwenden. Mr. Vulgurian blieb stehen und zupfte geistesabwesend am Im. pasto eines Pollock. »Noch etwas«, sagte er. »Wer produziert jetzt >Lachen macht froh<? »Corbishley«, antwortete Sir Prestwick. »Aha. Bitte teilen Sie unserem Freund Corbishley mit, daß Lord Watswater gestern abend mit schief sitzender Krawatte vor den Kameras stand.« »Ich werde es ihm sagen, R.V.« »Erklären Sie ihm, daß ich damit weder die technische noch die künstlerische Seite der Show kritisiere.« »Weder die technische noch die künstlerische.« »Ich behaupte nicht, daß ich dazu berufen bin, unsere Show in dieser Hinsicht zu beurteilen. Das habe ich nie getan und werde es vermutlich auch nie tun. Ich kenne meine Grenzen, Prestwick. Ich beschäftigte Sachverständige, die mich dar6 über informieren, ob unsere Shows vom technischen, künstlerischen und moralischen Standpunkt aus konkurrenzfähig sind. Ich habe volles Vertrauen zu ihnen. Erzählen Sie das Corbishley! « »Ja, R.V.« »Aber ich sehe es, wenn die Krawatte eines Mannes schief sitzt oder wenn der Achselträger eines Mädchens über die Schulter rutscht. Und so etwas dulde ich in unseren Shows nicht.« »Ich bin ganz Ihrer Meinung, R.V.« »Ich habe einen Blick für Details, Prestwick, einen Blick für Details.« »Sicherlich, R.V. »Ich behaupte nicht, daß ich ein Sachverständiger für Fernsehshows bin. Ich behaupte nicht, daß ich sehr viel vom Geschäft oder vom Geld verstehe. Aber ich nehme für mich in Anspruch, einen Blick für Details zu haben.» »Einen Blick für Details.« »Das ist das Geheimnis einer erfolgreichen Unternehmensführung, Prestwick. Kümmere dich um das Nebensächliche, und das Wichtige wird sich von selbst erledigen.» »Sich von selbst erledigen. Genau.« »Ich hoffe, die Angestellten befolgen diesen Grundsatz ebenfalls, oder? « »Natürlich tun sie das, R.V.« »Ich hoffe es. Ich hoffe es.« Mr. Vulgurian blieb stehen und strich sich über das vornehme Silberhaar. Das regte sein Denkvermögen an, und er war ein Denk-Fanatiker. Einmal hatte er zu Sir Prestwick gesagt: »Wenn man mich aufforderte, meine Ratschläge an einen jungen Mann in zwei Worte zusammenzufassen, wissen Sie, was ich dann sagen würde, Prestwick? « »Nein? « hatte Prestwick geantwortet. »>Denken Sie<, Prestwick, >Denken Sie<.« 7 »Ich weiß es nicht, R.V. >Details<?« »Nein, Prestwick, >Denken Sie<.« »Hm. >Mut<?« »Nein. >Denken Sie<.« »Ich gebe auf, R.V. >Kühnheit<?« »Um Himmels willen, Prestwick, was ist mit Ihnen los? >Denken Sie!<« »>Integrität<? >Loyalität<? >Autorität<?« »»Denken Sie<, Prestwick! >Denken Sie<, >Denken Sie<, Denken Sie<!« Wann war das gewesen? Sir Prestwicks vorletztes Zwölffingerdarmgeschwür? »Wer produziert derzeit >Lachen macht froh<?« fragte Mr. Vulgurian gespannt. »Corbishley, V. R.« »Ach ja, Corbisley. Nun, sagen Sie es ihm, ja, Prestwick?« Sir Prestwick notierte auf seinem Block »Corbisley sagen«, so daß seine vollständigen Notizen zu dem zur Debatte stehenden Thema jetzt lauteten: »Corbishley sagen. Corbisley sagen. Corbisley sagen.« Sir Prestwick war so frei, einen leisen, durch seinen Schnurrbart gedämpften Seufzer auszustoßen. Er war kein glücklicher Mensch. Er war für seine Verdienste um die britischen Public Relations geadelt und daraufhin in den Aufsichtsrat der Amalgamated Television berufen worden. Die Verdienste hatten darin bestanden, daß die zuständige Behörde keinen anderen Public-Relations-Mann ausfindig machen konnte, der sich zu dieser Zeit keiner moralisch anstößigen Tätigkeit widmete. Prestwick befand sich damals unter Narkose in einer Klinik. Zunächst war er für die Public Relations zuständig gewesen. Aber die Public Relations hatten ganz selbstverständlich zu den kulturellen Beziehungen geführt, das heißt, zu der Beziehung zwischen Mr. Vulgunan und der Kultur, und die kulturellen Beziehungen waren unmerklich in die menschlichen Beziehungen übergegangen, die die Beziehung 8 zwischen Mr. Vulgurian und allen menschlichen Wesen auf der Welt umfaßten — abgesehen vom Publikum, das unter die Public Relations fiel. Sir Prestwick verfiel zusehends unter der Last seiner Arbeit. »Noch etwas«, meinte Mr. Vulgurian. »Ich habe heute morgen auf dem Fußboden des Lifts fünf Zigarettenstummel und vier gebrauchte Streichhölzer gezählt. Was halten Sie davon?« »Jemand muß ein Feuerzeug benützt haben, R.V.«, stellte Sir Prestwick fest. Mr. Vulgurian blieb abrupt stehen und musterte mit seinem Blick für Details Sir Prestwick. »Haben Sie heute morgen vielleicht Magenbeschwerden, Prestwick? « »Ach Gott, Sie wissen ja, R.V.... « »Sagen Sie es nur, wenn Sie keine Lust haben zu arbeiten. Ich kann es immer noch allein schaffen.« »Ich bin vollkommen in Ordnung, R.V.« »Schenken Sie sich ein Glas Malven Wasser ein. Nehmen Sie sich einen trockenen Keks. Tun Sie, als wäre ich nicht vorhanden.« Sir Prestwick sprang auf und trabte zur Anrichte, neben der Mr. Vulgurian stand. »Schenken Sie mir auch ein Glas ein«, befahl Mr. Vulgurian. »Wo war ich noch? Ach ja — fünf Zigarettenstummmel und vier benützte Streichhölzer im Lift. Ich möchte, daß Sie allen Abteilungen mit einem Memorandum bekanntgeben, was ich gefunden habe, und alle daran erinnern, daß die Lifts von Besuchern des Gebäudes benützt werden, die sehr wohl aufgrund dessen, was sie auf dem Fußboden sehen, einen Eindruck von der Amalgamated Television bekommen könnten.« »Was sie auf dem Fußboden sehen. Ich habe es notiert, R.V.«, sagte Sir Prestwick, der versuchte, gleichzeitig MalvenWasser einzuschenken und sich Notizen zu machen. »Appellieren Sie an das Gute in ihnen! « 9 »Ich werde es mir aufschreiben, R.V.« »Wann und wo immer es möglich ist, Prestwick, müssen wir an das Gute in unseren Angestellten appellieren. Es ist da, wenn wir ihnen nur vertrauen. Das ist eines der grundlegenden Prinzipien einer guten Geschäftsführung.« »Das Gute — genau.« »Behandeln Sie einen Mann immer so, wie Sie selbst behandelt werden wollen, sei er auch der letzte Portier in der Firma.« »Wenn du nicht willst, das man dir tu ...« »So stelle ich mir gute menschliche Beziehungen vor. So stelle ich mir eine gute Geschäftsführung vor. So stelle ich mir gute Ethik vor.« »Sie haben vollkommen recht, R.V.« Mr. Vulgurian unterbrach sich und strich sich über das Haar — er behandelte es so, wie er behandelt werden wollte. »Weil wir gerade über Ethik sprechen«, sagte er, »bauen wir nicht irgendwo eine neue Ethik-Abteilung für ein theologisches College?« »Für ein Automations-Forschungsinstitut«, erklärte Sir Prestwick, der sofort etwas heiterer aussah. »Ja, so etwas Ähnliches.« »Ich hoffte, daß wir Zeit haben würden, darüber zu sprechen, R.V., denn ich habe ein paar gute Neuigkeiten. Sie ha ben die Königin gekriegt, sie wird es persönlich eröffnen.« »Wirklich? « »Man hat es mir gesagt, R.V.« »Gut, Prestwick, gut. Sehr gut! Schenken Sie sich noch ein Glas Wasser ein!« Mr. Vulgurian überlegte mit nachdenklichem Weitblick. »Wie haben sie es geschafft? « fragte er. »Das weiß ich nicht, R.V.« »Ich frage mich, wie sie es geschafft haben. Wenn ich mich richtig erinnere, haben Sie die Königin nicht einmal für die Eröffnung dieses Gebäudes gekriegt.« TO »Das stimmt, R.V.« »Und Sie haben auch nicht die Königin-Mutter gekriegt.« »Nein.« »Auch nicht Prinzessin Alexandra.« »Nein.« »Auch nicht den Herzog von Kent.« »Nein.« »Auch nicht den Herzog von Gloucester.« »Ich habe den Herzog von Bedford gekriegt, R.V.« »Sie haben den Herzog von Bedford gekriegt.« Mr. Vulgurian zog sein Taschenmesser heraus und kratzte geistesabwesend an einem besonders erhabenen rosa Farbbrocken auf dem Riopelle. »Wie haben sie es geschafft, Prestwick? Ziehen sie an den richtigen Drähten? Ist das die Erklärung, Prestwick?« »Es ist das Establishment, R.V. Alle diese Akademien stekken mit dem Establishment unter einer Decke.« »Das Establishment! Es erhebt wieder sein häßliches Haupt, wie? Wie Sie wissen, Prestwick, behaupte ich nicht, daß ich eine politische Meinung habe — ich verfüge über Sachverständige, die sich für mich um solche Sachen kümmern. Aber ich halte es für symptomatisch, daß eine Fernsehgesellschaft, die der Nation das wichtigste soziologisch-kulturelle Kommunikationssystem zur Verfügung stellt, nicht einmal den Herzog von Gloucester kriegen kann, während irgendein kleines theologisches College, das für eine winzige Minderheit zuständig ist, die Königin kriegen kann.« »Sehr richtig, R.V.« Mr. Vulgurian steckte das Taschenmesser ein und begann wieder, den Raum zu umkreisen. »Andererseits«, meinte er, »ist es unser Flügel, den die Königin eröffnen wird.« »Auch das ist richtig, R.V.« »Wissen Sie, Prestwick, wenn ich in die Zukunft sehe, bin II ich davon überzeugt, daß eine Ära beginnt, in der Religion und Massenmedien Mißtrauen und Konkurrenzdenken vergessen und lernen werden, zum gegenseitigen Vorteil zusammenzuarbeiten.« »Der Gedanke hat sicherlich etwas für sich, R.V.« »Notieren Sie ihn, Prestwick, für meine Rede vor der Gesellschaft zur Förderung des verantwortungsbewußten Fernsehens! « »Das habe ich schon getan, R.V. Er ist in dem Text der Rede enthalten, den ich Ihnen gestern gab.« »Gut, Prestwick, gut. Er bestätigt natürlich meine Ansicht über den Wert der Ethik. Dieses kleine theologische College ... Sagten Sie, daß es sich um ein theologisches College handelt, Prestwick? « »Ein Forschungsinstitut, R.V.« »Dieses kleine Forschungsinstitut bat uns um Hilfe. Wir fragten nicht, ob es protestantisch, katholisch oder jüdisch ist. Fragten wir, Prestwick? « »Na ja, wir fragten nicht, R.V., weil es ...« »Weil es nicht unsere Art ist. Ohne Ansehen von Hautfarbe, Rasse oder Religionszugehörigkeit halfen wir, soweit wir konnten.« »Fünfzigtausend Pfund, R.V.« »Fünfzigtausend Pfund.« Mr. Vulgurian umkreiste den Raum dreimal in nachdenklichem Schweigen. Sir Prestwick wurde durch die ständige Drehbewegung des Stuhls allmählich seekrank. »Fünfzigtausend Pfund«, sagte Mr. Vulgurian. »Fünfzigtausend Pfund ... Dieser Betrag wurde vom Aufsichtsrat genehmigt, nicht wahr, Prestwick? Ja? Aber wir haben Arbeit zu leisten. Welche Arbeit, Prestwick? « »Sie wollten untersuchen, ob man das Motto >Denkt großzügig< aus den Büros aller leitenden Angestellten entfernen soll.« I2 »Ach ja. In einer Organisation wie der unseren schien es uns etwas naiv, nicht wahr? « »Allerdings, R.V. »Einer Ihrer weniger glücklichen Einfälle, Prestwick, obwohl ich mich, wie Sie wissen, nie in die Art und Weise einmische, wie Sie kulturelle Probleme handhaben. Was haben Sie sich statt dessen einfallen lassen? « »Wie würde Ihnen >assoziiert< gefallen? « Mr. Vulgurians Sekretärin schlich auf Zehenspitzen in den Raum. Er scheuchte sie wieder hinaus, blieb gebannt vor dem Rothko stehen, leckte einen Finger ab und rieb mit ihm über einen Fleck auf der Leinwand, um herauszufinden, ob es sich um Farbe oder Schmutz handelte. »Jetzt weiß ich, was ich Sie fragen wollte«, sagte er. »Wer produziert derzeit >Lachen macht froh<?« 2. Kapitel Das Klirren und Dröhnen der stählernen Gerüststangen, die aus großer Höhe hinuntergeworfen wurden, konnte man in allen Räumen des William-Morris-Instituts für Automationsforschung hören. Der neue Ethik-Flügel war beinahe fertig. Gerade rechtzeitig. In den letzten zwei Jahren hatten der Baulärm und die übrigen Unannehmlichkeiten das Quantum an Automation, das das Institut erforschte, beträchtlich vermindert. Wie Sachverständige errechnet hatten, hätten die revolutionären neuen Computerprogramme, die im Institut entwickelt wurden, innerhalb der nächsten zehn Jahre etwa zwei Millionen Fachleute arbeitslos gemacht — falls diese Entwicklung ohne Unterbrechung angehalten hätte. Nun bestand die Gefahr, daß einige von diesen zwei Millionen noch immer beschäftigt oder jedenfalls nur teilweise beschäftigungslos wa13 ren. Aber, meinten die Optimisten, wenn man Fortschritte erzielen will, muß immer jemand darunter leiden. Der Leiter der Zeitungsabteilung, Dr. Goldwasser, litt bereits. Jedesmal, wenn es klirrte oder dröhnte, zuckte er zusammen, und jedesmal, wenn er zusammenzuckte, wurde er noch gereizter. Er wollte seine Angestellten nicht merken lassen, daß er zusammenzuckte, um nicht den Eindruck zu erwecken, er hätte schwache Nerven. Er wollte sie aber auch nicht merken lassen, daß er innerhalb von drei Stunden zum vierten Mal in den relativ ruhigen Waschraum ging, um nicht den Eindruck zu erwecken, er hätte eine schwache Blase. Er blickte nervös aus dem Fenster, um zu sehen, wie die anderen damit fertig wurden. Der einzige Mensch, den er sehen konnte, war Rowe, der Leiter der Sportabteilung, der in seinem Laboratorium auf der anderen Seite des Hofes saß. Rowe wirkte vertieft, was wahrscheinlich bedeutete, daß er nicht an der Automation des Sports arbeitete, sondern an dem Roman, den er angeblich schrieb. Er beugte sich über seinen Schreibtisch, so daß ihm die Haare in die Augen fielen, dann richtete er sich wieder auf und starrte ausdruckslos zum Fenster hinaus, wobei er mit dem kleinen Finger im rechten Ohr bohrte. Von Zeit zu Zeit zog er den Finger heraus und betrachtete ihn geistesabwesend, als hoffte er, auf Spuren von Erdöl oder Uranerz zu stoßen. Goldwasser war von dem Schauspiel der vor seinen Augen stattfindenden Schöpfung tief beeindruckt, und nach einiger Zeit stellte er fest, daß er selbst gefühlvoll mit dem kleinen Finger im rechten Ohr bohrte. Goldwasser fragte sich, ob er auf einen Sprung zu Rowe hinübergehen sollte. Das konnte sich sehr positiv auswirken. Rowe war sicherlich nicht so klug wie er selbst, und Goldwasser mußte sich eingestehen, daß er an einem Punkt angelangt war, an dem es seinem Selbstbewußtsein gut tat, wenn er mit Leuten sprach, die bestimmt nicht so klug waren wie er selbst. Nicht mit dummen Leuten, bei denen ihm nichts einfiel, son14 dern mit klugen Leuten, die aber nicht klug genug waren, um eine Bedrohung darzustellen. Dadurch ergab sich ein großer Kreis von potentiellen Tröstern — beinahe jeder im Institut gehörte dazu, ausgenommen Macintosh, der Leiter der Ethikabteilung. O Gott! Macintosh! Er war Goldwassers bester Freund, und der Gedanke an ihn erfüllte Goldwasser mit herzlicher, vertrauter Gereiztheit. Macintosh reizte Goldwasser in zweierlei Beziehung: Manchmal wirkte er so dumm, daß man nicht mit ihm sprechen konnte, und manchmal wirkte er beinahe klüger als Goldwasser. Das unentschlossene Schwanken zwischen diesen beiden Möglichkeiten war noch irritierender als jede von ihnen für sich allein. War Macintosh klüger als Goldwasser oder nicht? Es mußte eine objektive Methode geben, das herauszufinden. Früher, davon war Goldwasser überzeugt, war er zweifellos klüger gewesen als Macintosh. Aber er ließ nach. Er hatte jedenfalls Angst, daß er nachließ. Er war ziemlich sicher, daß sein Gehirn zu der Gattung Cerebrum Dialectici gehörte — das Gehirn eines Logikers oder eines Wunderkinds, eine früh blühende Pflanze, die im Alter von dreißig Jahren ihren Höhepunkt bereits überschritten hat. Seine diesbezügliche Besorgnis hatte sich zu einer Art Zerebral-Hypochondrie gesteigert. Er untersuchte pausenlos seine geistige Leistung auf Anzeichen von Verfall. Er lieh sich von seinen Kollegen IQ Tests, stoppte seine Zeit und hielt die Ergebnisse graphisch fest. Wenn die graphische Darstellung eine absinkende Kurve ergab, redete er sich ein, daß die Methode irreführend war; und wenn die Kurve anstieg, sagte er sich skeptisch, daß es sich wahrscheinlich um einen Trugschluß handelte. Manchmal dachte er, daß das Abhandenkommen seiner Meinungen ein Zeichen für seinen Verfall war. Manche Menschen verfügen über den Glauben, andere über Meinungen. Goldwasser hatte zu allem, wovon er jemals gehört hatte, eine I 5 Meinung, und seit seinem vierzehnten Lebensjahr hatte er von beinahe allem, was es im Universum gab, gehört. Während des Leistungsgipfels seines Gehirns hatte er die gesamte Schöpfung in zwei Kategorien eingeteilt: Dinge, für die, und Dinge, gegen die er war. Jetzt verlor er seine Meinungen wie schlechte Zähne. Der unmittelbare Umkreis seiner Interessen hatte sich vom Schicksal des Pi-Meson und der Theokratie der Götter F und M zu der intensiven Überlegung verengt, ob er klüger war als Macintosh oder nicht. Wenn Goldwasser aus dem Fenster blickte, konnte er Macintosh nicht sehen, da dieser sich in der gotischen Festung der alten Ethikabteilung versteckt hielt, aber der Lärm, den das Abreißen des Gerüsts an Macintoshs neuem Flügel verursachte, erinnerte Goldwasser ständig an ihn. War Macintosh der Klügere? War Macintoshs Gehirn, wie das Goldwassers, Cerebrum Dialectici? Wenn dem so war, dann befand es sich jetzt auf dem Höhepunkt seiner Leistungsfähigkeit und würde anschließend genauso schnell verfallen wie das Goldwassers — vorausgesetzt, daß letzteres tatsächlich verfiel. Oder war es Cerebrum Senatoris das Gehirn eines weisen alten Mannes, das im Lauf der Jahre langsam reift? Wenn dem so war, dann hatte es vielleicht jetzt Goldwassers Gehirn eingeholt, ohne daß Goldwassers Leistungen nachgelassen hatten. Falls es jedoch mehr zum Cerebrum Senatoris neigte als zum Cerebrum Dialectici, würde es im Lauf der Zeit Goldwassers Gehirn überflügeln — eine nicht sehr erfreuliche Aussicht. Goldwasser bewegte schwermütig den Finger in seinem rechten Ohr. Das Ohr hatte jetzt begonnen zu jucken, und zwar auf ganz besondere Art. Goldwasser wurde plötzlich klar, daß man ihn beobachtete, er entdeckte hinter einem nahen Korridorfenster Augen, die ihn eingehend musterten. Sie gehörten Nunn, dem stellvertretenden Direktor des Instituts. Der fröhlich lächelnde Nunn winkte Goldwasser lässig zu. Goldwasser trat nervös — 16 ins Zimmer zurück, zog den Finger hastig aus dem Ohr, steckte ihn dann wieder hinein, als hätte er vorgehabt, ihn aus wichtigen wissenschaftlichen Gründen längere Zeit dort zu belassen, und begann, sich mit den Papieren auf seinem Schreibtisch zu beschäftigen. Vielleicht sollte er doch noch einmal pinkeln. Im Waschraum der Abteilungsleiter befand sich nur Jellicoe, der Chefportier. Jellicoe beugte sich über eine Waschmuschel, hatte sein Gesicht sehr nahe an den Spiegel gebracht und stutzte sich mit einer winzigen, zusammenklappbaren Schere den Schnurrbart. Er blickte kurz zu Goldwasser auf. »Hallo, Mr. Goldwasser«, sagte er und beschäftigte sich dann wieder mit seinem Schnurrbart. »Hallo«, antwortete Goldwasser, der nie wußte, ob er den Portier Jellicoe oder Mr. Jellicoe nennen sollte. Er pinkelte, ließ verschwenderisch warmes Wasser in ein Waschbecken laufen und wusch sich die Hände. Im Waschraum war es sehr ruhig, das sanfte Rauschen der Wasserbehälter und das leise Klick-klick von Jellicoes Schnurrbartschere verstärkten die tiefe Stille. »Dr. Riddle hat also wieder eine Arbeit über randomisierte Verteilung veröffentlicht«, meinte Jellicoe. Sein Mund war leicht verzerrt, weil er während des Sprechens seine Oberlippe weiter bearbeitete. »Ach«, sagte Goldwasser, der sich im Spiegel betrachtete. Im Grunde genommen konnte er nicht daran zweifeln, daß er klug war; sogar zu klug — halb, vielleicht sogar dreiviertel zu klug. »Haben Sie sie gelesen, Sir?« fragte Jellicoe. »Nein«, antwortete Goldwasser. Die einzige Art, wie er eine Zeitung, geschweige denn einen Fachartikel, lesen konnte, war von hinten nach vorn, vom unteren zum oberen Rand der Seite, vom Schlußsatz zur Überschrift, was sein Verständnis bei jedem Abschnitt vor unerhörte Probleme stellte, die er na17 türlich löste. An besonders düsteren Tagen vergrößerte er bewußt das masochistische Vergnügen dieser Perversion, indem er auch jeden Satz von hinten nach vorn las. »Eine glänzende Abhandlung«, stellte Jellicoe fest. »Finde ich jedenfalls.« Goldwasser betrachtete auch Comic strips von hinten nach vorn und erriet mit deprimierender Regelmäßigkeit, noch bevor er das erste Kästchen erreichte, was ihn dort erwartete; allerdings langweilte er sich dabei infolge der logischen Unmöglichkeit, jede einzelne Zeichnung rückwärts zu betrachten. »Ich habe aus zuverlässiger Quelle erfahren, daß die Königin hierherkommt «, verkündete Jellicoe. »Oh?« sagte Goldwasser. Er las auch Romane von hinten nach vorne. Wenn er nach einem Buch griff, konnte er es nicht ertragen, daß der Autor in den ersten Kapiteln weitschweifig annahm, Goldwasser wisse nichts über die Personen der Handlung und müsse sie erst kennenlernen. »Um dem Institut einen offiziellen Besuch abzustatten und den neuen Flügel zu eröffnen. Was halten Sie davon, Sir?« »Hm«, sagte Goldwasser. Möglicherweise hätte er es ertragen, die Gestalten eines Romanautors kennenzulernen, sobald er wußte, ob sie am Ende tot oder verheiratet waren oder sich in ihr Schicksal ergeben hatten. Allerdings war es nicht sehr interessant zu erfahren, daß jemend, den man nicht kannte, tot, verheiratet oder in sein Schicksal ergeben war. »Ich glaube«, äußerte sich Jellicoe wieder, »daß es in gewissem Sinn die Volljährigkeitserklärung der Automationsforschung bedeutet. Wir werden in den Kreis der Universitäten aufgenommen.« Im großen und ganzen, dachte Goldwasser, zog er ja das Fernsehen vor, wo der Zuschauer infolge einer forte majeure alles in der richtigen Reihenfolge zu sehen bekommt und es keine Konzessionen an den ausgefallenen Geschmack von I8 Leuten wie seinesgleichen gibt, die zu klug sind, um zu wissen, was für sie gut ist. Er trocknete sich nachdenklich die Hände. Vor dem Waschraum stand der stellvertretende Direktor Nunn; er hatte ein Squash-Racket unter den Arm geklemmt und legte das Ohr an das Schlüsselloch. Er war dagegen, daß Abteilungsleiter Untergebene in ihren Waschraum baten. Es untergrub die Disziplin und wies auf die Möglichkeit viel schwererer Vergehen hin. Natürlich wieder Goldwasser. Nunn warf einen Blick in sein Rugby-Merkbuch. Es war an diesem Vormittag das vierte Mal, daß Goldwasser in den Waschraum ging. Jellicoe war zwar zum erstenmal dort, hielt sich aber seit beinahe zwanzig Minuten darin auf. Nunn war mit den Ergebnissen der kurzen Einlage am Schlüsselloch des Waschraums sehr zufrieden. Sie bekräftigten seine Behauptung, daß routinemäßige Spionagetätigkeit oft unerwartete Erfolge bringt. Hätte er nicht gelauscht, um herauszufinden, warum sich Goldwasser an untergeordnete Angestellte anbiederte, so hätte er nicht erfahren, daß die Königin das Institut besuchen würde. Diese Information war für die Leitung des Instituts sehr wertvoll. Er nahm im Merkbuch im Abschnitt »Handschuhgröße« eine Eintragung vor. »Königin« schrieb er und schlug dann wieder den Abschnitt »Letzter Zug« auf, in dem er über Goldwassers Aktivitäten Buch führte. »Goldwasser« schrieb er. Goldwasser verließ den Waschraum. Nunn richtete sich schnell auf. »Fein, fein«, sagte er, kicherte und drückte Goldwassers Arm. Dann ging er in seinen gummibesohlten Badmintonschuhen geräuschlos den Korridor entlang. 19 3. Kapitel »Hugh Rowe«, schrieb Hugh Rowe, »ist ein glänzender neuer Stern auf dem literarischen Himmel. R ist sein erster Roman, und Kritiker, die ihn vor dem Erscheinen gelesen haben, haben den Autor als >die erregendste neue Stimme seit dem Krieg< und als >blendende Neuentdeckung< begrüßt, >die die erstaunliche Leistung vollbracht hat, die sachliche Dichte von Robbe-Grillet mit dem weitverspannten, traditionsverbundenen Humor von P. G. Wodehouse zu vereinen< (weitere Kritiken siehe zweite Umschlagseite).« Rowe unterbrach sich und bohrte mit dem Finger im Ohr. Einen Roman schreiben war eine erstaunlich anstrengende Arbeit. Er hatte diesen Punkt schon ein dutzendmal erreicht — Schreibtisch und Fußboden waren mit verworfenen Entwürfen übersät — und mußte feststellen, daß es sehr schwierig war, über ihn hinauszugelangen. Er versuchte es noch einmal. »R ist die Geschichte eines Schnaps-Priesters, den das Bewußtsein quält, daß er jede Sünde von der Gotteslästerung bis zum Mord begangen hat, und der darüber entsetzt ist, wie leicht er immer wieder — wie er aus tiefer innerer Überzeugung weiß — in den Zustand der Gnade zurückkehrt.« Rowe verzog gequält das Gesicht und riß das Blatt aus der Schreibmaschine. Er begann von neuem. »R ist die Geschichte von vier Männern — einem geflüchteten Diktator, einem Reklametexter, einem dem Alkohol verfallenen Kriegshelden und einem klassebewußten Gewerkschaftler — die in der feuchten Hitze der Torres-Meerenge auf einer winzigen Insel von der Umwelt abgeschnitten sind. Bei ihnen befindet sich eine schöne, junge Dame der High Society, die im Begriff war, in ein Kloster einzutreten ...« Rowe wechselte das Papier. »R ist die Odyssee eines enttäuschten Schriftstellers, der eine Reihe von phantastischen Abenteuern erlebt — jedes von ZO