Rules of engagement | ein Tag zu viel

Transcription

Rules of engagement | ein Tag zu viel
Sarah Mühlhause
RULES OF ENGAGEMENT
Ein Tag zu viel
EIN TAG ZU VIEL
K ONSTANZE S EIFERT
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RULES OF ENGAGEMENT
J OERG R EICHARDT
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Willst du mit mir gehen?
Nicole Pietsch
EIN TAG ZU VIEL
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RULES OF ENGAGEMENT
Willst du mit mir gehen?
Damian.
S
ein Gang ist aufrecht, seine Schultern breit,
der Schritt bestimmt. Er versteckt sich vor der
Welt nicht. Damian geht auf das Leben zu und
fordert es heraus. Darüber „was Leben heißt“ denkt er
nicht nach: Damian lebt. Ist ein Macher, ein Draufgänger in Lebensdingen. Er packt an, greift zu, hält
fest, versucht sein zu machen, was er für sich haben
will. Damian erfindet keine Ausreden und wägt auch
nicht ab. Häuft keine Entschuldigungen an, damit
sie etwa den Berg an unterlassenem Handeln vor
ihm verborgen halten mögen. Stattdessen handelt er,
ist bewegt ununterbrochen und eigentlich die ganze
Zeit. Ausruhen ist seine Sache nicht. Er findet Ruhe
und zu sich in der Beschäftigung. Über solche Fülle
meint er, die Zeit strecken zu können, meint so mehr
von ihr haben zu können. Mehr Zeit, mehr Lebenszeit, tiefer, intensiver drin sein in allem und am besten
kopfüber. Damian sieht auch aus wie kopfüber. Sein
Haar, dunkel und viel, steht ihm wild ab vom Kopf.
Oft verirrt sich seine Hand in diesem Haar und rückt
es scheinbar nachlässig und zufällig zurecht – um sich
dieses Antlitz zu geben. Damian ist auf seine ganz
schluderige Art eitel. Er kleidet sich, als wäre ihm
egal was er trüge, aber das stimmt nicht. Hauptsache
irgendein Hemd, denkt man. Hauptsache irgendeine Hose, so sieht es aus. Aber das stimmt nicht. Sein
Hemd steckt Damian nicht in die Hose. Und bügeln
lehnt er ab. Trägt er Farbe, dann dunkle; Kleidung
hat ihm dienlich zu sein. Trotz seiner Schnelligkeit ist
Damian nicht grob. Damian ist Ästhet. Damian ist
genau. Damian weiß zu genießen, er legt auch alles an
auf den Genuss. Sein Auge erträgt keine Plastikverpackung bei Tisch. Sein Ohr ist empfindlich gegenüber
Kaugeräuschen. Er mag nicht im Stehen essen und
noch weniger erträgt er es, anderen dabei zusehen zu
müssen. Damian hat manchmal etwas Pedantisches
an sich. Er ist kein Geistesmensch, aber Kultur ist ihm
unentbehrlich. Er atmet sie ein wie Luft, macht dabei
auch keinen Unterschied zwischen trivial und hoch.
„Mal was Kulturelles machen“, so ein Satz käme ihm
nicht in den Sinn. Damian ist kein Grübler. Auch
ist er kein Spieler. Ein Unbeschwertes geht von ihm
aus. In ihm verbergen sich keine versteckten Tiefen,
es riecht da nicht nach Abgrund oder verdrängtem
Selbst. Damian ist offen. Er lässt sich lesen, unmit-
telbar und fast ganz ohne zu raten. Jedoch, Damian
spricht nicht über sich. Wird er wider seines Erwartens zum Thema des Gesprächs, weicht er sofort aus,
zieht sich aus der Arena zurück, markiert seine Grenze
und zwar unmissverständlich. Bis hier und nicht weiter. Damit stößt er seinem Gegenüber vor den Kopf,
aber das ist ihm egal, er nimmt das in Kauf. Damian
spricht nicht über sich. Der Teint blass, hell die Haut,
lebendig, so lebendig sein Gesicht. Seine Augen sind
witzig, sie greifen nach allem, was sie kriegen können.
Damian liebt das Sehen. Sein Blick ist klar. Sein Blick
ist das Bestechende an ihm, immer schon. Damian ist
dominant. Die Wirklichkeit manipuliert, modelliert
er sich so zurecht, wie er sie will. Aber er tut das nicht
aus Berechnung, weniger noch aus Egoismus. Er bezieht seine Umwelt ein, beziehen tut er sich auf sie, ihr
Bestes will er immer nur – und seines. In allem sucht
er sein Bestes, Damian. Damian zielt auf das Extrem.
Damian ist ganz oder gar nicht. Es ist schwer mit ihm
zu sein. Seine Hände sind meist warm, Hände sind
das, die greifen.
Stehen voreinander.
S
ie muss raus und zwar unbedingt, denn ihr
fällt sonst wirklich die Decke auf den Kopf.
Sie hält es zuhause nicht mehr aus, weil ihre
Gedanken stehen Stau und sie braucht jetzt Luft, Leben, Menschen um sich. Sonst wird sie seltsam, sie
weiß das, kennt das von sich. Nicht einmal eine Jacke
nimmt sie mit, so eilig muss sie aus der Wohnung fort,
bloß weg hier, von diesem Tisch, von diesen Gedanken und sie überlegt nicht, sondern zieht einfach die
Schuhe an, die sie in letzter Zeit immer trägt, die mit
dem Absatz. Auch die Tasche lässt sie in ihrer Ecke
stehen. Sie will jetzt nichts um sich, vor allem nichts
bei sich, keinen Ballast haben, sondern einfach nur
gehen. Sie zieht die Tür hinter sich ins Schloss und
ist weg. Unten auf der Straße weiß sie nicht wohin.
Rechts? Links? Sie geht einfach. Sie kann jetzt keine
Entscheidung treffen, ihr Körper muss das alleine tun,
muss übernehmen für sie. Sie läuft einfach. Es ist noch
wärmer als sie dachte, und es scheint die Sonne. Das
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Licht tut ihr gut. Auch die Luft. Sie biegt in die Straße ein, die sie mag. Dort kann sie zur Ruhe kommen.
Zwischen den konsequent fünfstöckigen Häusern,
dort wo kein Baum steht und Kopfsteinpflaster ist.
Außerdem fahren hier fast nie Autos. Sie läuft auf der
Straße, nie auf dem Bürgersteig. Es käme ihr gar nicht
in den Sinn, hier auf dem Bürgersteig zu laufen, hier
nicht. Stattdessen Kopfsteinpflaster, das unter ihrem
Absatz hallt. Sie hat diesen runden, warmen und auch
gleichmäßigen Ton, den ihre Schuhe, auf der Straße
spielen und der ihr irgendwie versichert, dass sie ist,
gern. Sie denkt beim Laufen nicht. Es geht nichts Besonderes in ihr vor und das ist auch Sinn dieser Sache,
denn der Stau in ihrem Kopf soll sich lösen, Luft soll
in die Gedanken kommen, Gedankenluft. Wenn sie
so läuft und sich reinigt, ist sie still in sich. Und abwesend, sonst wo ist sie dann. Spräche man sie jetzt
an, wüsste sie nicht, wüsste sie auf gar keinen Fall, was
zu sagen wäre. Überfordert und erschrocken wäre sie.
Reagieren, auch noch antworten, das wäre eindeutig
zu viel. Sie hätte auch überhaupt keine Lust darauf,
das gehörte jetzt alles überhaupt nicht hierher.
Und die Häuserfronten sind mit Stuck besetzt. Sind
sogar reich verziert mit Stuck. An manchen sind Figuren außen dran. Türsimse werden in dieser Straße
von kräftigen Männern getragen, die nackt sind. Sie
sieht sowas gern. Die Fenster dekoriert von geometrischem Muster, das bringt in den Überschwall der
Muskelmänner Ruhe hinein. Die Fenstergeometrie
gleicht das Türenfleisch aus. All das nimmt sie nurvon
Weitem wahr und es ist ihr eigentlich auch egal. Sie
konzentriert sich auf das Kopfsteinpflaster, passt auf,
nicht in die Rillen zu treten, mit ihren Absätzen dort
bloß nicht stecken zu bleiben – das ist ihr Spiel. Ihre
Hände in den Taschen, man könnte sagen sie schlendert. Jedenfalls läuft sie nicht zielstrebig. Manche
Fenster stehen offen und sie guckt in die Wohnungen,
das Leben dahinter, weil sie muss sich ja irgendwie ablenken von sich. In einem dieser Zimmer spiel Musik,
ansonsten ist sie allein. Ansonsten ist sie allein in der
Straße, ihrer Straße, mitten auf der Straße. Ihr schlagender Schritt auf dem Kopfsteinpflaster, kein anderer läuft dort.
Wer ist die Frau? Er sieht sie von Weitem, wie sie sich
nähert. Sie macht ihn gleich neugierig, er hat einen
Blick für sowas. Irgendwas hat sie. Irgendwas geht von
ihr aus. Wer ist die Frau? So wie sie, läuft auch er in der
Mitte der Straße, auf dem Kopfsteinpflaster läuft er.
Willst du mit mir gehen?
EIN TAG ZU VIEL
Was um ihn herum geschieht, nimmt er schon nicht
mehr wahr, nur zu ihr geht sein Blick. Fokussiert sie,
ihren Körper. Versucht ihren Körper hinter diesem
weiten Hemd auszumachen. Ein Männerhemd? Trägt
sie etwa Männerhemden? Jedenfalls ist es weiß und
locker in ihre Hose gesteckt. Es versteckt auch ihren
Oberkörper nicht, sondern umspielt ihn eher. Er mag
jetzt schon, was er darunter vermutet. Seine Hände
mögen jetzt schon, was sie unter diesem Hemd erraten. Was macht sie hier? Wo geht sie hin? Ich hab‘ sie
hier noch nie gesehen.
Er hat es eilig, ist verabredet und fast schon zu spät.
Sein Schritt ist schnell. Die Tasche trägt er über der
Schulter. Voll sieht sie aus, aber nicht schwer. Wahrscheinlich ist Wäsche drin, Kleidung, Klamotten,
Zeugs. Geht er zum Sport? Wo geht er hin? Sie sieht
ihn, ihr Blick findet ihn. Jetzt sieht sie mich. Sie guckt
mich an. Ihr Blick auf mir mustert mich, oh Gott, sie
mustert mich. Ihre Hose ist schwarz und eng. Ihre
Hände sind in den Taschen. Sie kann seinen Blick
spüren. Jetzt schon, aus der Entfernung schon. Ihr ist,
als ob sein Blick sie festnagelte. Er ist groß. Sie erkennt
jetzt, dass er größer ist als sie, auf jeden Fall ist er größer. Er kommt ihr entgegen. Er geht auf sie zu. Sie gehen in dieser Straße ohne Bäume aufeinander zu.
Sein Hemd steckt nicht in der Hose. Turnschuh hat
er an. Das Hemd sieht ungebügelt aus. Ist es ungebügelt? Sie mag das. Auch, dass er die Ärmel hochkrempelt. Auch das Durcheinander seiner Haare. Sie mag
das alles jetzt schon. Wer ist der Mann? Beide sind sie
neugierig, angespannt, wie ein Bogen gespannt. Alles
andere ist unwichtig. Sie hören nur ihre Schritte auf
dem Pflaster, hallen sich gegenseitig in den Ohren wieder, sehen nur noch sich. Ihr Klang ist bei ihm schon
angekommen, jetzt schon, aus der Entfernung schon
ist er da. Er sieht unrasiert aus, überhaupt nicht vorbereitet auf sie, hier, so mitten auf der Straße. Sie auch
nicht. Fühlt sich abwesend, denkend, redefeindlich.
Wie seh‘ ich überhaupt aus? Was soll das Ganze jetzt?
Warum hat sie das Gefühl, dass irgendwas gleich passieren wird? Es bahnt sich etwas an zwischen ihnen.
Sie bemerkt seinen Gang. Aufrecht, er federt nicht,
wackelt nicht, klebt auch nicht am Boden fest oder ist
schwer. Sie mag seinen Gang. In ihren Augen schreitet er. Wer ist die Frau? Sie sieht abwesend aus, oder?
Wissen, wer sie ist! Sie ansprechen? An ihr vorüber
gehen? Vor ihr stehen bleiben? Nach ihr pfeifen? Sie
einfach fragen? Am besten einfach fragen. Weil lieber
verlieren, als es nicht versuchen. In seinem Kopf ist
Kino und es läuft dort kein Liebesfilm. Szenarien laufen ab, alle möglichen und alle auf einmal. Übereinander und untereinander überlagern sie sich. Er weiß:
Ich bin es, der handeln muss. Wenn etwas passieren
soll, dann nur durch mich, so ist es doch immer. Er ist
es, der handeln muss und die Zeit zum Nachdenken
fehlt, denn sie steht schon fast vor ihm. Wer ist die
Frau? Sie ist angespannt. Bemüht sich, dass ihr Gang
jetzt bitte sicher ist. Am besten entspannt aussehen,
und unbeteiligt, vor allem unbeteiligt. Souverän!
Stattdessen kann sie den Blick nicht von ihm wenden.
Er lächelt, oder? Lächelt er? Sie nicht. Ihr Gesicht
bleibt ernst, denkt sie. Dabei sieht sie auffordernd
aus. Wenn ich jetzt nicht reagiere, dann ist es zu spät
und zwar für immer. Sie steht vor ihm, auf einer Höhe
stehen sie jetzt und haben das Kopfsteinpflaster unter
sich. Ihre Augen sind groß und grau, und ihr Körper
– ich will sie anfassen. Sie sehen sich in die Augen und
keiner lächelt, keiner. Sie wendet ihn zuerst ab, ihren
Blick von seinem Gesicht. Läuft wortlos an ihm vor-
bei. Geht einfach an ihm vorbei ohne Lächeln, ohne
Gruß. Sie kann nicht, sie kann sowas nicht. Sie geht
an ihm vorbei, er geht an ihr vorbei.
Vorbei! schreit‘s in seinem Kopf. Dann nichts mehr.
Dann denkt er nicht mehr, agiert kopflos und blind
wie in einem Raum von schwarz. Er dreht sich um,
dreht sich einfach um, stürzt sich kopfüber in die
Situation hinein. Er greift nach ihrem Arm und erwischt ihn gerade noch.
Wer bist du? Er fragt das kühl und rundheraus. Er
denkt überhaupt nicht nach und versteht auch die
Situation nicht. Er hält sie am Arm fest, er macht einfach, blind und kopfüber.
Delia, hört sie sich sagen. Ihre Stimme, wie von fern
wirft sie ihm ihren Namen ins Gesicht. Ganz selbstverständlich und so wie sie das immer tut. Nicht zart,
nicht freundlich, sie nennt einfach ihren Namen,
denkt sie.
Wer bist du?
Delia.
Delia.
D
elia hat langes Haar und trägt es im Mittelscheitel. Das Haar rahmt ihr Gesicht
und verdeckt es manchmal. Ihr fallen lange
Strähnen übers Gesicht und wärmen es, wenn sie sich
bewegt. Wärmen es solange, bis sie das Haar mit der
Hand von der Wange streicht und hinterm Ohr versteckt. Ihr Haar wehrt sich dann nicht, ist nicht widerspenstig und auch nicht eigenwillig. Es fällt meist
ordentlich von ihr herab und breitet sich aus über
Schulter und Rücken; seine Farbe irgendwo zwischen
dunkelblond und braun. Ihr Gesicht ist wach, ihre
Augen sind wach, blicken groß und grau in die Welt.
Es ist auch etwas blau unter das grau ihrer Augen gemischt, die mehr rund sind als mandelförmig. Delia
schminkt sich kaum. Haut und Züge sind ebenmäßig
und glatt, gehorchen der Symmetrie. Ihre Haut ist
auch nicht weiß, sondern unterwandert von einem
gelben, warmen Ton. Sie sieht „gesund“ aus, sagt man.
Die Lippen schmal, gehen über in leicht nach oben
gerichtete Mundwinkel. Das legt in ihren Ausdruck
etwas Schelmiges hinein. Ihr Gesicht ist „fröhlich“,
sagt man. Ihre Mimik vielfältig, sie begleitet und
unterstreicht jedes von ihr gesprochene Wort und es
ist, als jagten Mimik und Mund bei ihrem Sprechen
manchmal einander hinterher. Delia spricht viel und
schnell. Sie spricht mit Begeisterung, ihre Augen
leuchten dann, auch sind ihre Hände nie still oder
unbeteiligt. Lang und schmal sind sie, schmal und filigran auch der Körper, aber nicht zerbrechlich. Auch
nicht klein. Delias Körper ist stolz. Ihre Bewegungen
sind, als wären sie zwei: Unvorhergesehen wechseln
sie vom Langsamen zum Abrupten, wandeln zwischen zärtlich und hektisch hin und her, gehen über
– und zwar unverhofft – vom Streichelnden ins Ungenaue. Ihrem Gegenüber bleibt sie eine Überraschung.
Delia ist charmant. Delia liebt das Spiel. Delia zieht
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die Blicke auf sich und gefällt sich darin. Ihre Garderobe ist kompromisslos. Schwarz oder weiß, selten
nur Farbe. Mit solcher Strenge gleicht sie, was verspielt ist an sich, aus. Mit solcher Strenge gibt sie sich
Halt. Delia ist elegant. Und sie kann lachen. Wenn sie
lacht vergisst sie sich, lacht mit ihrem Körper, legt in
ihr Lachen ihre Kraft hinein und verblüfft auch ihr
Gegenüber mit ihrem Lachen immer wieder. Delia
kann sich mit den Dingen vermischen und eins werden mit ihnen. Gewissenhaft einen Apfel schälen, mit
gleichmäßigem Druck über ein Tischtuch streichen,
aufmerksam den Ring an ihrer Hand gerade drehen;
in unbewachten, verlorenen Momenten kann man
ihr dabei zusehen, wie sie sich mit den Dingen vermischt. Etwas von ihr fließt dann in die Welt über.
Zärtlichkeit geht von ihr aus und in einem bestimmten Sinne verlangsamt es sich dann. Das hat mit ihrer Sinnlichkeit zu tun. Delia legt sich in die Dinge
hinein, ist mit ihnen verbunden, wird angegangen
von ihnen. Manchmal auch zu viel. Manchmal ist ihr,
als käme die Welt zu nah. Es gibt dann keinen Filter
oder Schutz mehr und ausgeliefert sind ihre Sinne
an ein Übermaß an Eindrücken. Es gibt Gespräche,
die erschöpfen sie. Sie fühlt sich danach leer, weil die
Worte so tief hinein gegangen sind in sie. Delia lebt
von ihren Sinnen und sie lebt von ihren Gedanken,
davon ernährt sie sich. Ihr Futter ist Geistesnahrung.
Davon stopft sie ungeniert in sich hinein und manchmal kommt ihr das realer vor, als das Essen draußen,
als die Menschen draußen, realer als die Geschäfte,
Straßen, Bäume, Hausnummern draußen. Delia hat
Phantasie. Ihr Denken trennt nicht strikt zwischen einem Außen und Innen. Ihre Übergänge sind fließend,
das verleiht ihr Mut. Sie lebt in Gedankenräumen und
ihr ist das bewusst. Sie wehrt sich, wenn man Träumer zu ihr sagt. Delia kann, wenn sie will, unerbittlich
sein. Zu ihr gehört die Einsamkeit. Die braucht sie,
um sich aus ihrer Vermischung mit der Welt zu lösen.
Delia kennt die Mitte nicht. Sie tanzt an der Klippe
zwischen Selbstverlust und Ichbesitz, immer. Ist oft
fahrig und unruhig, kann sich dann überhaupt nicht
leiden. In diesen Momenten durchsuchen ihre Augen
rastlos die Welt. Delia ist angetrieben vom Graben in
sich. Getrieben von der Lücke zwischen dem schwarz
und dem weiß ihrer Kleidung. Getrieben von dem
Sprung zwischen achtsam und nachlässig ihrer Bewegung. Getrieben vom Spalt zwischen nur ausgedacht
und wirklich da ihrer Gedanken. Sie kennt die Mitte
nicht. Delia kann sich mit den Dingen vermischen
und eins werden mit ihnen.
Liegen ineinander.
D
anach haben sie sich getroffen, öfter schon.
Es kam ganz wie von selbst dazu. Sie mag
ihn. Er denkt oft an sie. Um ehrlich zu sein:
Er denkt ständig an sie. Und zwar als hätte sie Besitz
von seinem Kopf ergriffen, genau so fühlt er sich.
Denn ihr Bild ist pausenlos da. Damian malt sich vor
allem aus, wie es sein wird mit ihr. Delia weiß schon.
Sie weiß, dass es gut wird, hat ein Gespür dafür und
sich darin auch noch nie getäuscht. Sie kann sowas
fühlen, Körper. Wenn sie ihre Augen schließt, dann
ist seiner, dann ist sein Körper sofort da vor ihr. Damian drängelt und schubst sich in ihre Gedanken rein.
Ungeniert und mit solcher Präsenz nistet sich dieser
Mann in ihrem Kopf ein, dass sie sich ertappt dabei,
wie sie aufschreit innerlich. — Was soll das! Damit
hat sie nicht gerechnet. Mit so etwas überhaupt nicht.
Nicht mit ihm, und dann auch noch jetzt! Jetzt ist er
da und sie muss sehen.
Gleich treffen sie sich im Restaurant. Damian sitzt
schon dort wenn sie kommt, wenn Delia endlich zur
Tür reinkommt. Denn sie kommt zu spät. Sie hat es
kommen sehen. Wie sie rumgerannt ist, vom Kleiderschrank zum Spiegel, ins Bad und wieder zurück, dabei
laut die Musik und nicht wissen, was sie anziehen soll,
da war ihr Zuspätkommen schon beschlossene Sache.
Aber Delia nimmt sich das heraus. Warum denn auch
nicht? Damian rechnet damit schon bevor es passiert,
noch vor ihr rechnet er damit und ist trotzdem da,
beizeiten. Er wartet und lässt die Zeitung liegen.
Er will keine Ablenkung, er will warten.
Das Warten begehen.
Die Nichtbeschäftigung aushalten.
Das Wiestehengelassensein ertragen.
Damian lehnt sich auf der gepolsterten Bank
zurück und exerziert im Kopf durch, was gleich
passieren wird – aber vor allem wie und ob. Auf
seinem Gesicht ein Lächeln und man sieht ihm
den inneren Vorgenuss förmlich an. Einmal beißt
er sich sogar auf die Unterlippe.
Er sieht zufrieden aus, so von außen. Damian ist
sich seiner sicher. Er zweifelt nicht, er wartet nur
ab, aber er weiß schon. Nicht, was es wird. Auch
nicht, was er will. Noch weniger, was sie für ihn
ist. Und das spielt auch überhaupt keine Rolle.
Das sind nur Kompliziertheiten, von denen „die
Leute“ immer reden. Er macht sich daraus nichts.
Damian will jetzt spielen. Sie riechen, schmecken,
erleben endlich, endlich sie kennen und wissen.
Endlich sitzt sie bei ihm am Tisch. Delias Frische
springt auf ihn über, Damian springt sofort auf
sie an. Ihre gemeinsame Wucht erfüllt den Raum,
erhebt sich, und zwar ganz von allein, zur Hauptattraktion. Zwischen ihnen knistert es. Dabei
reist er sie wieder mit seiner Schnelligkeit mit.
Wieder lässt sie sich mitziehen, ist ganz verliebt
in seine Schnelligkeit, darin, wie seine Gedanken
ihn treiben von einem Punkt zum anderen. Delia ist
jetzt schon verliebt in das alles. Merkt auch deutlich,
wie sie langsam in ihn hinüber gleitet, wie es sie zu
ihm zieht, sie mehr und mehr hineinfließt in ihn und
rutscht.
Denn sein Wesen entführt sie.
Noch sind sie beim Essen. Auch wenn sie mehr sich
und ihre Blicke fressen, als was auf ihren Tellern liegt.
Der Bauch nimmt nichts auf, auf den achtet jetzt auch
keiner. Was weiß schon der Bauch! Ihre Lippen will er,
seinen Hals will sie! Aber sie müssen in die Bar. Diese
Hürde liegt noch zwischen ihnen, sie beide wissen das
und folgen trittsicher der Regel, die nirgendwo steht.
Kommst du jetzt mit zu mir? Er fragt das, Damian
fragt das: Kommst du mit zu mir?
Ja ich gehe mit zu dir. Sie sagt das, Delia sagt das: Ja
ich gehe mit zu dir.
Und sie gehen. Sie folgt ihm auf seinem Nachhauseweg. Die Treppen hinauf läuft sie hinter ihm und zwar
dicht, genauer: sie hält sich an seiner Hosentasche
fest. Unten im Hausflur war ein Spiegel. Delia warf
sich darin ein Lächeln zu und es lag etwas Siegessicheres in ihrem Blick.
Warum Sieg?
Was gibt es denn zu gewinnen?
Ich dachte, wir pokern immer nur um die Höhe unseres Verlusts.
Sie läuft hinter ihm und studiert wie er sich bewegt.
Delia beobachtet seinen Nacken. Wird er mir schmecken? Wie wird er schmecken? Ich werde seinen Hals
gleich schmecken, gleich, jetzt, am besten sofort. Sie
ist unruhig, ist voller Erwartung und gespannt auf
ihn. Delia hat sich nichts vorgenommen und verfolgt
auch kein Ziel mit diesem Abend – zumindest hat sie
sich das bis jetzt immer wieder selbst vorgesagt – sie
will sehen, denkt sie. Wenn ich will, kann ich auch
einfach wieder gehen, denkt sie.
Hinter ihm auf dem Treppenabsatz, Delia ist neugierig, und die Treppe mit braunem Kokos ausgelegt, der
den Klang ihres Absatzes verschluckt, ihn in sich aufnimmt, bis nichts mehr von ihm übrig ist – mit Haut
und Haaren. Stünde sie jetzt vor ihm, dann könnte sie
auf Damians Gesicht dieses Grinsen sehen. Eines, das
mehr für ihn allein bestimmt ist, als dass es ihr gälte,
oder gar „der Situation“. In diesem Treppenflur ist jeder für sich: Sie rechnen sich noch einmal kurz durch,
rücken sich innerlich zurecht und stellen sich auf, bevor sie gleich in- und voreinander Position beziehen.
Durchatmen!
Damian dreht den Schlüssel im Schloss und bittet sie
herein. Damit steht sie ganz plötzlich und auf einmal
in seinem Leben drin. Hier ist das also, so sieht das
aus, denkt sie – weiß Damian, dass Delia denkt. Sie
behält ihre Schuhe an. Sie ausziehen wäre zu viel, sie
will sich nicht niederlassen. Sie mag auch nicht sitzen.
Stattdessen lehnt sie im Türrahmen und Damian bietet ihr Wein an. Das ist gut. Sie will jetzt auch rauchen, etwas in der Hand haben, und Zeit. Er weiß das,
beobachtet sie – Sie hier, tatsächlich! – lässt ihr den
Raum, zögert hinaus, aber lässt sie nicht zappeln.
Bis er sein Glas abstellt und zu ihr hinüber geht. Sich
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hinter sie stellt, ganz nah hinter sie stellt, an sie heran. Damian hinter mir, und es ist sein Finger, der sich
über meinen Nacken zieht, langsam meine Wirbelsäule hinab und sich auf meiner Hüfte verliert, weil er
dort zur Hand wird – Hand, die warm ist – Hand, die
den Stoff beiseiteschiebt und sich vorwagt zur Haut,
zum Bauch, meine Haut, mein Bauch, ich bin die,
auf der seine Finger gehen. Und Haut. Jetzt endlich
Haut, ihre Haut, meine Haut – so! Seine Hände greifen nach ihren Schultern, fahren hoch, fahren ihren
Nacken hinauf, gehen in ihr Haar, umschließen ihren
Kopf. Die Wärme seiner Hände geht über in sie – seine warmen Hände hier auf mir, auf meiner Brust, und
das da ist sein Atem an meinem Ohr.
Er infiziert sie mit sich.
Delia schließt die Augen, senkt den Kopf, bietet
Damians Zähnen ihren Nacken an – die zubeißen!
sich festbeißen in ihrer Haut. Er riecht sie, versenkt
seinen Kopf in ihr, diesem sandigen Geruch.
Ihre Arme greifen nach ihm. Ein Körper drückt
sich an einen anderen Körper feste ran. Ein
Kopf fällt nach hinten und legt sich auf einer
Schulter ab, dort dreht er sich zur Seite, dort
gräbt er sich in einen Hals hinein, wendet sich
zu einem Halse hin, der jetzt gegessen wird,
gebissen wird, kennengelernt wird und zwar
so richtig – das ist Damian. Er dreht sie um, er
muss sie jetzt sehen, ihr Gesicht, auch ihre Lippen, denen muss er was sagen.
Ihre Münder treffen sich, sagen sich, erkunden
sich – ob sie etwas übrig lassen voneinander?
Darum geht es doch gar nicht! Jetzt wird gegessen, ganz vorzüglich gespeist, sich genossen bis
zum letzten Tropfen und wieder zurück. Ausgetrunken, es wird solange getrunken, bis sie
betrunken sind von sich. Mit Schmatzen und
Stöhnen und Lachen und Schreien; das Bett
passt jetzt nicht. Auch die Couch geht nicht, an
die ist gar nicht zu denken, die steht entschieden außer Frage. Zum alleräußersten Ende ihres
Oberschenkels tastet sich seine Hand gerade
vor, greift wo es rund wird, packt dort zu. Seine Hand tastet auch nach der schwarzen Wolldecke, die auf dem Sofa immer liegt und die
jetzt eilig von ihm dort heruntergerissen wird.
Damian zerrt, zuppelt die Decke ungeduldigst
auf dem Holzboden zurecht, irgendwie und mit
Hast. Die Störung passt ihm nicht. Er will sich jetzt
nicht ablenken lassen von diesem lebendigen Körper
unter seinen Händen, kann Blick und Mund nicht
lassen von ihrer endlich für ihn nackten Brust.
Aber er will auch, dass sie es schön haben.
Damian lädt Delia zu sich auf die schwarze Decke hin
ein. Sie folgt ihm. Blickt, während sie sich hernieder
kniet zu ihm, sich vornüber beugt zu ihm, auf Knien und Händen ist vor ihm, ihm in die Augen. Nicht
einen Zentimeter erlauben sich seine Augen von ihr
zu verpassen. Damian saugt sie förmlich in sich auf
und dann wieder Küsse. Ihre Zungen begaffen gierig
diesen immer noch neuen Besuch – sie können sich
gut leiden. Damian. Er will unter ihr liegen, ganz von
ihr zugedeckt sein, auf mir soll sie sitzen, ich zieh dich
zu mir ran, auf mich rauf, in mich rein zieh ich dich,
komm! Delia spürt ihn hart und warm unter sich und
wie er sich gegen ihre Lippen drückt, diesen Mund,
sie weiß jetzt auch wie er schmeckt, wie er riecht, wie
er sich anfühlt in ihrer Hand, ihrem Mund, zwischen
ihren Lippen, auf ihrer Zunge, die sich an ihm auf und
nieder reibt und nur ihre Zähne wollen nichts von
Alexander Simon
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Willst du mit mir gehen?
EIN TAG ZU VIEL
ihm wissen, die halten sich vorerst lieber versteckt,
obwohl. Seine Lippen kennen ihre Zähne schon. Dort
festgebissen haben sie sich nämlich, haben gesaugt
und alles rot gemacht. Spuren, Zeichen, Beweise hinterlässt Delia auf seinem Körper, aber das ist nur fair,
weil auch ihrer bleibt von seiner Begierde nicht verschont. Sie schenken sich auf dieser schwarzen Decke
nichts. Damian greift nach ihr, es verlangt ihm nach
ihr, zieht sie immer wieder zu sich ran, so! zieht sie
zu sich ran und seine Finger können nicht lassen von
diesem warmen Mund, dann Schenkel, dann Hüfte
Rücken Busen Arm Hals Gesicht Haar aber vor allem
krallen sich seine Finger hinten fest, Hinten.
Dort, wo seine Zunge vorher war.
Damian zieht Delia auf seinen harten Schoß.
Sie beide glühen.
Halten es nicht mehr aus, sterben wenn sie sich jetzt
nicht versenken ineinander. Seine Finger und Zähne
vergraben sich in ihrem Fleisch, tief stößt er sich dabei
in sie hinein. Delia bäumt sich auf, Delia sitzt auf ihm,
Delia drückt zieht stößt zwingt ihn tief und tiefer in
sich hinein, bis sie ganz ausgefüllt ist von ihm. Ihn
spürt, fühlt, hat – endlich – und das überall denn bis
an ihr hinterstes Ende dringt er vor, ist in ihr dort, wo
sie selbst nie hinkommen würde, nie. Mit ihren Händen stützt sie sich auf seinen Schultern ab, nah am
Hals, drückt ihn zu Boden, drückt ihn in die Decke,
weiß gar nicht mehr wohin mit ihrer Kraft, führt darum ihre Finger zu seinem Mund aber – der Schmerz
seiner Zähne erhöht nur ihre Lust.
Damian ist
könnte er einen klaren Gedanken fassen, dann
Das hätte ich nicht gedacht!
Er findet sie
Sie ist von ihm
Gegenseitig bringen sie sich um den Verstand. Überwältigen, reduzieren sich auf dieser schwarzen Decke,
die hier in der Mitte des Zimmers auf goldbraunem
Holzboden liegt, geradewegs und rundheraus und
ohne schlechtes Gewissen oder Scham auf – Körper.
Nichts anderes zählt. Nichts ist von Bedeutung außer
ihr Rhythmus und wie heiß, wie weich, wie eng, wie
tief, wie rot es in dir ist. Delia. Nichts, nur dieses Stechen, nur wie du dich hineinstößt in mich und mich
anfüllst von innen mit diesem heißgeliebten Schmerz.
Damian. Sein Stoßen hallt auf dem Boden wieder,
knallt, aber ihr Stöhnen ist lauter als der Lärm auf
dem Holz und die Striemen auf seinem Bauch sind
rot – ihre Hand, Finger, Nägel ziehen sich dort gerade
entlang, ganz verzückt.
Sie sind nur Gier.
Sind nichts anderes als Lust.
Bis er sie an den Punkt bringt, da sie zusammenbricht
auf seiner Brust. Bewegungslos, ein einziges Atembündel, wie in eine andere Welt geworfen liegt sie auf
ihm. Hört, wie laut und schnell sein Herz ihr entgegenschlägt. Spürt, wie warm und langsam es herausläuft aus ihr, leise an ihrem Bein entlang.
Damian leckt sie von seinen Lippen ab,
riecht sie von seiner Hand herunter,
vergräbt sich in ihrem Haar,
betrinkt sich mit ihrem Duft.
Kleider liegen auf dem Boden.
Komm rüber, nimmt er ihre Hand, dort ist mein
Bett.
Und sie läuft hinter ihm her, ganz nah an ihn gedrückt. In dieser Nacht schläft Delia wenig. Sie findet keine Ruh. Wälzt sich stattdessen neben ihm, der
schon schläft. Sie versucht müde zu sein, sie versucht
es wirklich, doch mehr als eine halbe Stunde Schlaf
hier und da schafft sie heute Nacht nicht. Sie beobachtet, in dem bisschen Licht, das ihr die Nacht nur lässt,
seine Schulter. Schulter, nach der sie gerade noch gegriffen hat. Sie waren wie Körper, die sich kennen, die
keine Überraschung für sich sind, irgendwie. Obwohl
das nicht sein kann. Delia träumt wirr. Sie berühren
sich im Dunklen nicht.
Nicht jetzt.
Nicht, bis sie wach wird und sich zu ihm dreht. Nicht,
bis sie sich an ihn drückt, sich auf ihn legt und küsst.
Er soll jetzt wach werden. Er soll jetzt mit ihr sein und
noch viel mehr soll er in ihr sein. In ihr will sie ihn
jetzt spüren, jetzt. Damian. In mich sollst du gehen,
da sein sollst du dort für mich, und durch mich.
Er ist es.
Er dreht sie um auf den Bauch.
Und sein Gewicht legt er auf ihr ab, sein ganzes Gewicht legt er auf ihr ab, er ist jetzt in ihr – in mir – und
sie sind fast bewegungslos, denn mehr brauchen sie
nicht, mehr bloß nicht, sie schlafen ja beide fast noch.
Und ihre Arme greifen nach seinem Bett, an dem sie
sich festhält jetzt. Er sieht ihren Rücken, ihr Kopf fällt
vornüber, gibt ihm ihren Nacken preis und Damian
beißt dort hinein, aber ohne Gewalt, tut das jetzt wo
er sich hineinstößt in sie, eingeht in sie, eindringt.
Wieder eindringt in sie und wie tief er das tut.
Um sie herum kaltblaues Morgenlicht,
darin liegen sie ineinander,
ihre Körper in Schweiß.
Delia bleibt nicht zum Frühstück
und seine Tür fällt erst ins Schloss,
als sie auf dem Treppenabsatz schon nicht mehr zu
sehen ist.
Ich ruf dich an, küsst sie ihn zum Abschied und lacht
und sie freut sich darauf.
Ich ruf dich an.
Gehen miteinander.
D
a stehen sie also. Und was sollen sie jetzt mit
sich machen? Wie umgehen miteinander?
Sollen sie überhaupt zusammen gehen? Finden sie das gut? Möglichkeiten gibt es! Die fächern
sich auf zwischen Weiter und Schluss: Ist es aus zwischen ihnen, hier und sofort und am ersten Morgen
schon? Geben sie sich nur eine Nacht? Oder denken
sie vielleicht an lebenslänglich?
Dabei weiß es Delia doch schon. Dabei ist sie doch
längst verführt, ist längst hingerissen von der Lebensmöglichkeit, die sich da vor ihr auftut mit ihm. „Ich
will mehr“, weiß Delia und meint damit:
Ich will dich mehr sehen und immerzu nur bei dir
sein.
Gib mir mehr von deiner Zeit.
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Ich will mehr als deinen Körper allein.
Ich will auch mehr von dir wissen.
Gib mir ganz viel von deinen Gefühlen ab.
Ich will nämlich mehr von deinem Leben als nur ein
Treffen hier und da. Ich will nämlich mehr mit dir teilen als mich nur manchmal in der Nacht.
In deine Tage, deinen Alltag will ich rein, weil mehr
Platz soll darin für mich sein. Ab jetzt!
An mich denken sollst du mehr und mehr.
Genau das wünsch ich mir von dir, dass du mich einbeziehst in dich.
Ich will in dich einziehen.
Einen Platz sollst du mir frei machen und zwar am
besten dort, ganz nah an deinem Herzen dran.
Delia weiß, „Ich will mehr.“
Und, will er mehr von ihr?
Und, willst du mehr von ihr?
Aber wie wollt ihr das denn machen? Durch welche
Hintertür wollt ihr das Mehr denn herein lassen? Wie
wollt ihr ihm Anstellung geben zwischen euch Zweien, die ihr doch eben noch so gut ohne den Anderen
wart?
Wie geht ihr denn vom Ich zum Wir?
Kommunikation.
Transparenz.
Kompromiss.
Wahrhaftigkeit.
Ja.
Aber!
Wie geht man denn vom Ich zum Wir?
Damian hat bei ihr heute Nacht geschlafen. Er tut
das jetzt öfter, mehrmals die Woche sogar. Nein ich
bin ehrlich: Damian schläft fasst jede Nacht bei mir.
Manchmal schlafe ich auch bei ihm, aber eher selten.
Wir sind mehr bei mir, als bei ihm. Das hat sich so
eingependelt, irgendwie. Damian muss aufstehen.
Aber Delia darf heute früh noch liegen bleiben, ausnahmsweise. Damian geht in die Küche und nimmt
sich was er braucht aus ihren Schränken heraus. In
seinen Handgriffen die Sicherheit und Selbstverständlichkeit, die nur Wiederholung und Routine dir
gibt – er findet sich bei ihr zurecht wie blind. Der
Kühlschrank, Kaffee mit Milch und ohne Zucker, das
muss sein, da macht er auch wenn er bei ihr ist keine
Ausnahme. Vor der Wohnungstür liegt die abonnierte Zeitung. Damian verlässt sich darauf. Er holt die
Zeitung herein und liest sie am Küchentisch. Er liest
nicht lange, nur die Überschriften und manchen Artikel quer, weil er muss gleich los. Keine Frage, Delias
Wohnung gehört jetzt auch ihm. Sie wollen das so.
Obwohl, eigentlich ist es uns einfach so passiert.
Wir sind da irgendwie so reingerutscht.
Delia war halt immer da.
Damian war halt immer da.
Nachdem er gefrühstückt und sich von seinen Sachen, denen ein fester Platz in ihrem Schrank gehört,
genommen hat, tritt er zu Delia ans Bett, beugt sich
herab und gibt ihr einen schnellen Kuss – sie schaut
auch kaum auf.
Bis später, ich ruf dich nachher an. Und hab einen
schönen Tag.
Dann nimmt er seinen Schlüssel, an dem auch ihr
Schlüssel hängt, und geht. Bis zum Abend wo sie sich
wiedersehen, diesmal bei ihm, hat sie ihn bestimmt
schon dreimal angerufen. Ohne genau zu wissen warum.
RULES OF ENGAGEMENT
Das sind Gespräche zwischendurch: Delia sitzt dabei
am Computer. Ihren Kopf hat sie auf die Hand und
den Ellenbogen gestützt. Ihre Augen starren auf den
Bildschirm und nehmen nichts richtig wahr. Mit der
rechten Maustaste öffnet und schließt Delia Computerfenster oder sieht schnell bei ihren Emails nach,
immer wieder. Und ohne es zu merken.
Ja bis später, ich dich auch.
Bei diesen Gesprächen zwischendurch ist sie nie
ganz bei der Sache, Damian auch nicht. Sie sind
bei sich zugegen, sagen wir, nur mit einem Ohr.
Am Abend klingelt sie bei ihm. Die Tür aufschließen, dazu hat Delia keine Lust und auch findet sie
in ihrer Tasche, in die sie schnell geworfen was sie
braucht wenn sie bei ihm schläft heut Nacht, ihren Schlüssel nicht.
Wer ist da?
Dann geht für Delia unten die Haustüre auf. Seine Wohnungstür lässt Damian, solange sie noch
im Treppenflur, offen und unbewacht stehen. Er
geht sodann wieder seiner Beschäftigung, aber
nicht Delia auf der Treppe entgegen. Es fällt die
Türe ins Schloss und zwar mit Knall. Delia hat
mit dem Fuß nach ihr getreten.
Hi.
Einen schnellen Kuss schenken sie sich. Sie steht
vor ihm, ist ein wenig ratlos. Fühlt sich unwohl
ob der Frage, was sie denn jetzt hier bei ihm machen soll. Später wenn sie kochen, erzählen sie
sich ihren Tag.
Fallen ineinander.
Aber Damian ist abwesend am Abendbrottisch.
Er ist auch gereizt. Harsch reagiert er auf Fragen,
Kommentare, überhaupt auf alles was von ihr
kommt. Ihr Wesen reizt ihn heute, stachelt ihn an
und er hat das Gefühl, es nicht ertragen zu können,
heute nicht! Damian isst. Mit jedem Bissen wird Delia, die ihm gegenüber sitzt, mehr zur Angriffsfläche,
ja sie wird für ihn freies Feld, auf dem man losfeuern
kann – muss. Damian muss aufpassen heut. Muss
sich zurück halten, sonst. Dabei kann sie ja gar nichts
für seine Wut, sie hat ja gar nichts gemacht. Trotzdem ist Wut da – Aggression – weißer, unbestimmter
Druck, den er in seiner Mitte spürt, der immer mehr
aufsteigt und sich an seiner Kehle zu schaffen macht,
Druck, der seine Stimme weiß einfärbt. Seine Worte, insofern Damian an diesem Abendbrottisch heute
überhaupt etwas zu sagen hat, kommen so trocken
gefeuert wie Gewehrschüsse raus. Damian muss aufpassen, dass nicht. Er weiß das. Die Stimmung ist also
angespannt.
Das ist in letzter Zeit immer wieder so. Sie gönnen einander kaum noch Ruhephasen, die zwei. Sind stattdessen immer zum Sprung und Angriff bereit, sitzen,
wie man sagt, auf einem Pulverfass. Delia erzählt von
ihrem Tag. Sie hat eigentlich keine Lust das zu tun,
tut es aber trotzdem. Um die Stille zu brechen, um
das Essen erträglich zu machen, um das Bild zu wah-
ren, um Unterhaltung zu sein, um sich selbst nicht so
sehr weh zu tun erzählt Delia von ihrem Tag. Damians Antworten sind kurz, seine Rede einsilbig – wenn
überhaupt. Und wenn er es sich wirklich eingesteht,
dann weiß er: Mich interessiert was sie da sagt nicht,
ihren Tag zu hören interessiert mich nicht. Muss ich
wissen, wann sie zu Mittag gegessen, wie anstrengend
ihre Arbeit, wer sie angerufen, mit wem sie vorhin auf
der Straße so nett geredet hat — ? Muss mich das interessieren, etwa? Also zugeschüttet, überhäuft, eingeengt fühlt er sich an diesem Tisch und durch sie. Unwillkürlich fasst er sich an die Kehle wie zum Zeichen
seiner Atemnot. Dann lehnt sich Damian auf seinem
Stuhl zurück. Streckt seinen Körper so weit, bis die
Beine fast ganz gerade sind – er nimmt Distanz. Der
Stuhl hebt ein wenig vom Boden ab, er kippelt – oder
nimmt er Anlauf ? Die Arme hat er nicht verschränkt,
weder hinterm Kopf noch vor der Brust, aber seine
Hände hat Damian in den Hosentaschen. Provoziert
er, oder nimmt er sich nur zusammen?
Ist sie das noch für mich? Damian fragt sich das jetzt.
Fragt sich das jetzt, wo er ihr beim Reden zusieht, aber
nichts hört von dem, was Delia sagt. Geht es mich
an, was sie sagt? Überhaupt: Was geht mich das an?
Wo bin ich in dem, was sie da sagt? Überhaupt: Wo
bin ich? Und warum ist sie überall? In jedem Winkel von mir hast du dich breit gemacht. Er denkt das,
während er ihr gegenüber am Abendbrottisch sitzt.
In mich eingedrungen bist du, unmerklich mir unter
die Haut gekrabbelt und jetzt kriechst du dort umher,
unter meiner Haut, in meinen Gedanken kriechst du
rum. Alles dreht sich nur noch um dich; und ich mich
nur noch nach deinem Takt, dem ich nur noch ganz
antriebslos folge. Delia, und wir zwei waren mal Sinfonie! Ich erinnere mich doch noch ganz genau. Jetzt
sind wir Schlaflieder. Schlaflieder! —
Und es ist, als ob Damian seine Brille putzte, wenn
er nur eine hätte. Plötzlich sieht er, traut sich, vor allem: traut sich zu sehen. Ihm wird darüber regelrecht
schlecht. Regelrecht schlecht wird es ihm. Zuschnüren tut sich ihm alles und er kann unter Schmerz nun-
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mehr nur das eine Wort noch denken, Wort, das sich
laut reinhammert in seinen Kopf:
Verrat.
Verrat an der Liebe, die wir einst mal waren.
Weil aller Liebe Ende ist Verrat.
Verrat an der Begeisterung, vor der wir einst mal
überschäumten.
Weil aller Liebe Ende ist Verrat.
Verrat an dem Interesse, das wir einst mal füreinander
hatten.
Verrat an den Plänen, die wir einst mal gemeinsam
schmiedeten.
Verrat an
Weil aller Liebe Ende ist Verrat.
Seine Gedanken überholen sich, nichts wird ausformuliert, mehr als Gefühlsbrei und Emotionspampe
ist er jetzt nicht. Damian fühlt sich braun und
wie Elend – ja genau. Das Weiß seiner Wut ist
jetzt elendig braun und dabei ist es noch lange
nicht vorbei! Ohne an ihr Anteil zu nehmen
und besessen von dem, was sich in ihm verdichtet, beobachtet er Delia wie sie mit ihm an
diesem Abendbrottisch isst und spricht. Was
ihre Hände dabei machen, wie sie immer wieder in die Haare fahren, sie dann hinterm Kopf
zusammendrehen, damit sie nicht in Richtung
Essen fallen. Oder wie die Gabel in dem Zeug
auf ihrem Teller rumstochert. Er sieht sie an
und etwas bereitet sich in ihm vor. Dass sie ihm
einmal klarer war, denkt Damian jetzt. Dass ihre
Furchen und Risse ihm früher deutlicher in die
Augen stachen. Ich fand‘ sie doch mal so eigen.
Und was ist jetzt?
Es fühlt sich abgefedert an, fühlt sich ausgetreten an wie eine Treppe oder Schuh. Wann hat
sie mich das letzte Mal getroffen und zwar so
richtig wie ein kalter Schlag? Wann mich zuletzt umgehauen, weil sie einfach meine Delia
ist? Delia, wann war das doch gleich? Damians
Augen ziehen sich zusammen, seine Stirn faltet,
seine Hände krallen sich im Hosentaschenfutter fest, sind fast Faust. Feste aufeinander hat er
auch seine Zähne gepresst – wohl um sich mit
Worten zurückzuhalten, noch. Wo ist mein
Begehren hin, wenn ich sie seh‘ und wo mein Zittern
abgeblieben? Wo unsere Unvernunft? Sehnsucht? Ja
Delia, wann habe ich dich eigentlich das letzte Mal
vermisst? Aber so richtig, so wirklich und bis zum
nicht mehr Aushalten vermisst. Delia, deinen Blick
auf mir, deine Stimme, oder wenn du über mich
lachst.
Sie, natürlich merkt sie, dass etwas nicht stimmt und
dass hier gerade etwas sehr anders ist. Die zusammengebissenen Lippen hat sie längst ausgemacht in seinem
Gesicht. Auch das Stocken beim Atmen gemerkt und
wie blass er ist, Damian. Aber sie will noch nichts sagen. Sie will ihn kommen lassen. Denn so wie Damian
innerlich zum Sprung ansetzt, geht auch Delia in Deckung. Macht sich klein, um dann hochzuschnellen,
ihm ran an den Hals und zum Verteidigungsschlag!
– wenn‘s denn sein muss. Sie sind wie zwei Panther,
die hungrig Beute wittern. Aber eigentlich sind sie das
auch nicht. Eigentlich sind sie wie zwei kleine Kinder,
die, wie zwei kleine Kinder die sich nicht mit Worten
zu helfen wissen und sich deswegen auf den Boden
werfen und schreien.
Ivonne Dippmann
Nee, alles gut. Wollte nur mal kurz hören.
Wo bist du?
Zuhause.
Und was machst du?
Sitz wieder am Computer, muss doch die Sache heut
noch fertig kriegen. Und unbedingt was essen, hab
tierisch Hunger. Hast du schon was gegessen?
Nee noch nich, keine Zeit.
Kochen wir heut Abend bei dir?
Julia Bräuer
EIN TAG ZU VIEL
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Fruzsina Jesse
RULES OF ENGAGEMENT
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Gero Gries
EIN TAG ZU VIEL
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Jorinde Voigt
RULES OF ENGAGEMENT
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Willst du mit mir gehen?
Was hast du denn Damian, du guckst so komisch?
Nichts. Es ist nichts.
Nun sag doch mal.
Es ist nichts.
Ach komm ich seh‘ dir doch an, dass was ist.
Delia!
Ja was denn, ich frag‘ doch nur.
Hör auf !
Was soll das denn jetzt auf einmal? Dann sag doch
einfach, was du hast! Und mach nicht immer alles mit
dir aus. Du weißt wie mich das nervt.
Es ist nichts.
Nichts.
Nur, dass der Radius unseres Pendels immer kleiner
geworden ist.
Radius unseres Pendels immer kleiner geworden
ist – Delia schluckt. Jetzt schnürt sich bei ihr alles
zusammen. Jetzt ist sie dran. Er war also der mit
dem ersten Stich. Du hast angefangen! Du bist
schuld! Radius unseres Pendels immer kleiner geworden ist – Delia schluckt. Es zieht sich in ihr
zu, als würden ihr die Eingeweide zerschnitten,
als furchte jemand mit dem Messer in ihr rum,
und in ihrem Kopf. Als furchte jemand mit dem
Messer in ihr rum, wie sie selbst eben noch in ihrem Essen gefurcht hat, so geht es ihr auf diesem
Stuhl am Abendbrottisch bei Damian zuhause,
Stuhl, an dem sie sich festkrallt, Stuhl, dem sie
ihre Nägel ins Holz rammt, weil sie ihm weh tun
will, weil es ihr so weh tut was Damian da jetzt
sagt über sie. Sie kriegt auch gar nicht alles mit.
Bei ihr setzt es wie aus. Mit einem Mal ist Delia
auf ihrem Stuhl fast nur noch dieses Reißen im
Bauch, das ihr die Kontrolle nimmt und auch die
Luft.
Dann passiert es also jetzt. Gut, dann ist es eben so
und es passiert einfach. Was soll ich da jetzt auch
noch machen? Sie war zwar vorbereitet, wusste,
wusste auch dass es irgendwann passieren muss,
weil alle Zeichen standen doch schon auf Sturm
zwischen ihnen – und das seit langem. Aber nun
ist sie trotzdem überrascht. Weil auf sowas kann
man sich doch nicht vorbereiten, weil sowas trifft
dich immer wie der Schlag. Radius unseres Pendels immer kleiner geworden ist – was Damian da
sagt haut sie förmlich um. Sie hat große Angst vor
dem, was gleich noch niedergehen wird auf sie.
Damian steht auf. Delias Blick geht ihm hinterher. Er
steht vom Abendbrottisch auf und tritt seinen Stuhl
mit dem Fuß hinter sich weg. Delia bleibt sitzen. Sie
blickt zu ihm rüber, beobachtet seinen Rücken, beobachtet jede seiner Bewegungen ganz genau. Delia ist
auf der Hut. Damian legt seine Hände auf den Hüften ab – er muss jetzt irgendwas anfassen, muss ewas
greifen, und wenn er nach sich selber greift. Leicht
auseinander seine Beine und durchgedrückt, fast steif,
die Knie wirft er den Kopf in den Nacken und blickt
mit geschlossenen Augen zur Decke hinauf. Damians
Brust hebt sich, so tieft holt er Luft. Er versucht sich
zu sammeln, sich eine Auszeit zu gönnen. — Ja, zumindest versucht er es. Sein Ausatmen ist nur noch
ein Stoßen, es zischt ihm durch die Kehle. Der Kopf
fällt kraftlos nach vornüber auf die Brust und noch
immer sind die Augen zu. Bevor er ansetzt zu seinem
ersten Schritt. Damian läuft jetzt in der Küche umher.
Damian läuft wirr und ziellos in dem dafür viel zu
engem Raum umher – Küchenkäfig! – und ist sehr
aufgebracht. Ist angezündet wie Feuer, wird gepackt,
geschüttelt von Verzweiflung und Rage, die. Wie böse
Feindinnen schnüren sie seine Kehle immer enger zu.
Sachte Damian! Sei ganz sachte! Delia sieht was passiert. Sie sitzt aufrecht wie nur irgend an ihre Lehne
gedrückt. In den hintersten, den allerletzten Winkel
ihres Küchenstuhls hier bei Damian zuhause drückt
sie sich rein, als ob sie sich dort etwa verstecken könnte. Aber das kann sie nicht! Sie kann sich nicht verstecken. Nein Delia, das geht nicht! Er sieht dich.
Das viel zu helle Licht der Küchenlampe, hier direkt
überm Tisch, liefert sie aus und sie kann jetzt hier
auf gar keinen Fall weg. Verdammt du musst da jetzt
durch! Delia kämpft mit sich, und wie. Auch Damian
kämpft. Sie sieht das so genau wie ein Adler im Flug.
Sieht wie es ihn beutelt, ihn innerlich zerstört was da
raus muss aus ihm. Damian spricht.
Und Delia ist jetzt nicht Adler sondern Beute.
Ich kann das nicht mehr. Ich kann das nicht mehr
Delia, und es macht mich ganz krank. Ich finde dich
nicht mehr schön. Delia, verstehst du? Ich finde dich
nicht mehr schön, dich Delia, dich! Dabei warst du
mir das Schönste einst. Das weißt du doch Delia, das
hab‘ ich dir doch immer wieder gesagt, oder? Aber
jetzt nicht mehr Delia, jetzt sage ich es dir nicht mehr.
Ist es dir überhaupt schon aufgefallen? Hast du’s überhaupt schon gemerkt? (Seine Augen sind weit aufgerissen bei diesem Satz.) Oder wann hab‘ ich’s dir das
letzte Mal gesagt? Ich weiß ja nicht mal, wann ich es
das letzte Mal gedacht habe! Das letzte Mal, Delia,
dass ich dich schön gefunden habe, wann war das
denn? Jetzt aber finde ich dich nicht mehr schön.
Delia, jetzt finde ich in dir nur, nein: Jetzt finde ich
in uns nur noch Dinge, die besprochen, Sachen, die
geregelt, Besorgungen und Besuche, die gemacht wer-
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den müssen und Essen, Delia, vor allem Essen, das gekocht werden will. Und es widert mich an. Ich kann
dir gar nicht sagen, wie sehr es mich anwidert und wie
ich langsam verrückt werde dabei. Verrückt werde ich,
hörst du? Und weißt du was? Es kommt noch schlimmer. Es stößt mich auch ab. Es stößt mich ab, wenn
ich sehe wie wir gefallen sind. Delia siehst du nicht
wie wir gefallen sind? (Er wendet sich ihr zu, guckt
nicht mehr zur Wand. Er spricht Delia jetzt direkt an
und fordert sie zur Antwort auf. Siehst du denn nicht
wie wir gefallen sind?)
Wir sind gefallen? Was soll das denn jetzt auf einmal
Damian, was meinst du denn damit überhaupt? Gefallen. Wo hast du uns denn gesehen? Auf welchen
Sockel hast du uns gesetzt? (Delia dreht ihren Stuhl
hinein in den Raum und damit weg vom Tisch. Sie
wendet sich ihm zu und zwar mit voller Fläche. Sie
wartet. Delia könnte jetzt die Arme vor der Brust
verschränken, aber tut es nicht. Sie könnte sich
auch nach vorn lehnen und ihre Hände auf die
Knie stützen, aber sie tut es nicht. Stattdessen
wartet sie in die nach ihrer Frage entstandene
Stille hinein. Da ist sie jetzt aber mal gespannt.
Damian, da bin ich jetzt aber mal gespannt.)
Wir waren doch mal größer als das und auch
stärker Delia, erinnerst du dich nicht? Weißt
du denn gar nicht mehr, wie viel Kraft wir mal
hatten? Wie viel Verve und Energie mal in uns
war? Sieh‘ was jetzt ist! Guck was wir jetzt geworden sind! Du weißt nicht, wie wir jetzt sind
Delia? Soll ich es dir sagen? Pass auf, ich sag’s
dir: Jetzt ist „das Leben“ in uns eingebrochen.
In uns eingedrungen ist es, „das Leben“, und hat
uns gnadenlos und ohne mit der Wimper zu
zucken ausgehöhlt. Und zwar von innen hat es
uns ausgehöhlt, Delia, hohl sind wir! Siehst du‘s
denn nicht? Hörst du nicht wie hohl wir sind?
Hohl ist das! Hohl der ganze Dreck! (Damian
ist jetzt ausgesprochen wütend. Salve um Salve
kommt es aus ihm geschossen, trifft auf Delia
und das volle Kanone.) Glattgeschliffen hat uns
„das Leben“, uns artig und gefügig gemacht in
seiner ganzen Übermacht. Übermacht gegen
die doch eh keiner ankommt, ist doch wahr!
Lebensübermacht an Banalität, Besorgung, Befindlichkeit. Lebensübermacht an Bröckelmist.
Kleinkarierter Bröckelmist! Unsere Kraft füreinander haben sie uns genommen, „das Leben“ und „die
Zeit“ – was auch immer das heißen soll. Und wir haben es zugelassen. Delia das Schlimmste ist, dass wir
es einfach zugelassen haben. (Damian lässt die Arme
sinken. Lose und kraftlos hängen die Arme nun an
ihm herab.) Bereitwillig, schlaftrunken, faul haben
wir uns die Zügel für Leidenschaft und Intensität aus
der Hand nehmen lassen von den Herrschaften, ach
quatsch: von den Dummköpfen! „Alltag“ und „Realität“ – Dummköpfe sind das doch! Delia weggenommen haben sie uns einander. Und wir haben auch
noch zugesehen. Nicht mal gekämpft haben wir. Sehen wir der Sache doch ins Gesicht: Wir haben nicht
gekämpft.
Stattessen haben wir brav die Köpfe geneigt, haben
bereitwillig die Augen geschlossen und uns einlullen
lassen von der Bequemlichkeit, vom Komfort, den
uns die Sicherheit unseres Beisammenseins zum Fraße
vorgeworfen hat. Unterwürfig wurden wir gegenüber
der Eintracht, die wir hatten. Und das jeden einzelnen Tag. Und das in jedem einzelnen, unnützen, gedankenverlorenem Telefonat, Delia, wo es doch um
Constanze Tonn
EIN TAG ZU VIEL
RULES OF ENGAGEMENT
nichts anderes ging, als uns darüber zu versichern,
dass wir nicht alleine sind in der Welt. Existenzversicherung über den anderen am Telefon. Und wir haben gegessen Delia. Bissen für Bissen haben wir uns
konsumiert wie man ein fünf Gänge Menü konsumiert, wenn’s dir ausgegeben wird und also gratis ist.
Hinein gespachtelt haben wir in uns, was man überall „Beziehung“ nennt. Oder „Partnerschaft“. Aber
Partnerschaft sieht doch anders aus, oder Delia? (Er
hat sich schon lange zu ihr umgedreht. Seine Arme
unterstreichen was er sagt, geben ihm recht, schlagen
in die Leere des Raumes rein – sie fuchteln eigentlich
nur in der Luft rum. Der Kopf knickt nach rechts ab,
bekräftigt, was der ausgestreckte Arm sagt und die offene Handfläche und das Wort: Oder Delia? Sag mir,
dass richtige Partnerschaft anders aussieht. Und dass
Zusammensein auch anders gehen kann.)
Ach, Damian.
Und du wolltest also lieber picknicken, ist es das? Im
Gras wolltest du dich sitzen sehen, ewig jung, ewig
frisch, ewig auf Exzess getrimmt. Dabei die Sonne im
Gesicht haben wie ein Königskind. Dabei immer bereit sein zum Sprung hinweg übers Meer oder in den
Abgrund hinein. Ist es das Damian? Ist es das was du
wolltest? Wolltest du, dass wir Königskinder sind,
Auserwählte? Wolltest du dich auf dem Drahtseil
tanzen sehen mit mir?
Damian antwortet nicht. Das ist ihm jetzt zu viel.
Fassungslos steht er ihr gegenüber. Knickt ein, als ob
es einen Faustschlag mitten in den Bauch gegeben
hätte. Delia lachst du etwa über mich? Es fährt ihm
nur so durch den Kopf, blitzschnell. Zu ungeheuerlich der Gedanke, als dass er bei ihm verweilen könnte. Gezielt hat sie. Ins Schwarze hat Delia getroffen.
Hundert Punkte. Gewonnen. Hauptgewinn. Super!
Er kommt sich ja selbst lächerlich vor. — Und? Sie
schweigen.
Damian hat nichts zu erwidern. Was soll er denn auch
sagen? Königskinder! – der hat gesessen. Er fühlt sich
verraten von ihr. Entblößt an einem Punkt ganz tief in
sich drin. Königskinder! — Und? Was ist so schlimm
daran? Hassen tut er sie dafür, dass sie immer genau
weiß, wo sie ihre Schläge platzieren muss, um ihm so
richtig eins auszuwischen. Er kommt sich ja selber lächerlich vor. — Und? Er meint das aber ernst! Ja er
will etwas Besonderes sein, natürlich will er das, warum denn auch nicht? Er wollte auch, dass sie gemeinsam etwas Besonderes sind – von mir aus Königskinder. Das hatte er sich vorgenommen damals, als sie
anfingen Damian und Delia zu werden. Nie im Leben
wollte er eine Schablone sein. Wollte nicht so sein wie
die, die er tagtäglich draußen sieht. Paarschablonen.
Das sind Häufchen, die träge, lasch, sich das Händchen haltend in ihren U-Bahnsitzen hängen. Immer
gemeinsam, immer sind sie Wir: Schatz und ich. Schablonen sind das und wenn er sie sieht, dann denkt er
bei sich unter Zittern und Anspannung, denkt unter
allergrößter Angst ob des Wissens um seine Verantwortung, seine Verantwortung, die einhergeht mit
dem lauten Gedanken, der auf ihm lastet und zwar
zentnerschwer: Mach! Damian mach! Tu alles dir nur
Mögliche und noch darüber hinaus, damit du nicht
einer von ihnen wirst. Kein Abklatschbild sein! Kein
Wiederkäuer werden! Er denkt das, wenn er die Schablonen sieht und verachtet sich manchmal selbst dabei: Bloß nicht aus Mangel an Phantasie so werden.
Nicht Schablone werden und niemals Nachschwätzer
der Langeweile sein, die dir aus müden Gesichtern
manchmal so gähnend entgegen trieft.
Und jetzt steht er hier.
Ist erschrocken über das Ungeheuerliche: Womit er
sich so lange nur alleine herumgeschlagen hat, und
das in jeder Sekunde, die sein Tag ihm dazu ließ, und
das in jeder langen Nacht, wo der Schlaf ihn nicht
finden konnte, das steht jetzt, seine innerste und allerheimlichste Gedankenmühle, die steht jetzt mit
einem mal zwischen ihnen. Er hat es also tatsächlich
ausgespuckt.
Damian ist darüber erleichtert. Noch viel mehr aber
ist er entsetzt. Er fährt sich durch die Haare. Mit
den Händen bedeckt er sein Gesicht. Er hält sich die
Augen zu. In Gedanken spielt er durch, was passiert
ist gerade. Hört sich reden, sieht sich in der Küche
laufen, sieht sich dort mit Delia, sieht sich wie im
Schraubstock eingespannt im Krieg, der sich so lange angebahnt hat zwischen ihnen. Der in ihrer Mitte
gewachsen ist wie eine viel zu reife Frucht – überfällig
war das längst. Sie schweigen.
Delia, machst du dich etwa lustig über mich?
Er wird dieses Gefühl einfach nicht los. Trotzdem,
war ich zu hart? Hab‘ ich übertrieben? Nein, das hast
du nicht, Damian. Das musste sein, glaub mir. Und
ihr seid ja auch noch nicht fertig. Du krabbelst doch
schon schon wieder zur Front. Er muss weiter machen,
er weiß das ganz genau, ob er will oder nicht. Denn es
geht um viel zu viel. Worte steigen auf. Er setzt an,
nimmt ins Visier – und spricht. Aber er spricht nicht
mehr scharf, er kann ja selbst kaum noch. So etwas
wie ein letztes Aufbäumen bekommt er gerade noch
hin, aber die übrig gebliebenen Salven tropfen aus seinem Mund nur noch raus, und Delia vor die Füße.
Delia, die ganzen Diskussionen immer. Wenn du
wüsstest, wie ich ihrer müde bin. Müde unseres verletzten Stolzes, der sich immer wieder in Szene setzen
muss, eifersüchtig, und der nicht einfach mal an sich
halten kann – seine Klappe soll er halten! Er ist es
doch, der uns zum Streit anstachelt, oder? Und dann
dein trauriger Blick auf mir. Immer dieser Blick, der
deine Enttäuschung über von mir nicht zurückerstattete Liebesmüh nicht bei sich halten kann. Wie
schwer du dann aussiehst, Delia. Wie dich dieser
Blick dunkel macht und klein. Als ob du dich selbst
ausradieren würdest, so siehst du mich manchmal an.
Wo ist denn dann dein Rückgrad hin? Du hängst dich
an mir auf. Du lässt dich an mir baumeln. Als wäre ich
dein Balken, Delia. Als wäre ich der Balken, der den
Strick, den du aus deinen nicht erfüllten Erwartungen stetig immer weiter knüpfst, halten muss – und in
der Schlinge steckt dein Kopf.
(Delia wird schwarz vor Augen. Sie muss jetzt auf
der Stelle im Erdboden versinken. Kann mich hier
bitte jemand rausholen? Sie weiß, dass sie manchmal,
dass sie Damian manchmal so anguckt. Aber er soll
das doch nicht wissen! Alles Schwache soll doch ihr
Geheimnis sein, eigentlich. Warum redet er darüber?
Was fällt ihm eigentlich ein? Damians Stimme ist
nicht mehr laut. Es kommt aus ihm ohne Hass heraus.
Nur Verzweiflung, die schwingt überall mit, von der
ist diese Küche übervoll.
Dass man so nackt voreinander stehen kann. — )
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Delia, das Schwere zwischen uns und was du manchmal auf mich legst. Wie kannst du denn glauben, dass
ich dich tragen kann? Wie kannst du das denn glauben? Ich bin mir doch selbst schon zu viel. Du weißt
wie meine eigenen Schritte mich ins Stolpern bringen.
Wie es mich aus der Bahn werfen kann, wie ich hadern
kann mit allem. Wie soll ich dir da Stütze sein? Dein
eigener Kleiderhacken musst du sein, verdammt! Weil
sonst erstickt es mich, es erstickt mich dann einfach.
Ich weiß auch nicht, wie ich es anders sagen soll. (Geschweige denn, wie man es anders macht. Wie geht
man denn vom Ich zum Wir?)
Delia, es sitzt mir im Nacken und drückt mir mit
kleinen, kalten Händen die Kehle zu. Jeden Tag erwürgt es mich ein bisschen mehr. Und es bist nicht
einmal du Delia, es geht gar nicht um dich! Es sind
wir. (Damian blickt zum Fenster raus, in die Nacht,
ins Haus gegenüber, in Wohnzimmer, die vom Fernseher belebt werden. Sein Blick verliert sich.) Dabei
will ich doch einfach nur leben, einfach nur leben will
ich doch.
(Was er zuletzt gesagt, das hat er nicht geschrien.
Ganz leise hat er es gesagt. Ich will doch einfach nur
leben. Was er damit meint, weiß Damian selbst nicht
so genau. Nein, er kann es nicht definieren. Weiß nur,
dass es sich anders anfühlen muss als so. Ich will doch
einfach nur leben. Und wieder riskiert Damian in
dieser Küche vor Delia unsagbar lächerlich zu sein.
Albern, kindisch, ein Traumtänzer eben.)
Delia, du weißt doch wie sehr Angst das Grau mir
macht.
Er kann sich ja selbst kaum mehr reden hören!
Es ist doch zum Lachen!
Er meint es aber ernst.
Damian ist erschöpft. Er kann nicht mehr. Er hat sich
an den Rand gebracht. Und jetzt steht er hier. Was
er zu Beginn dieses Abendessens an Boden unter sich
hatte, ist weg. Um ihn nur noch kaltes Wasser. Damian ist ganz kalt. So ist’s einem wenn man springt. Er
steht in der Mitte des Raumes und er steht allein.
Seine Kraft hat er verpulvert. Zu beiden Seiten seines gebrochenen Körpers hängen die Arme herab.
Wie Fahnen ohne Wind hängen sie herab. Seine Beine sind auch schwach. Damian starrt ins Leere. Sein
Blick sieht nichts mehr, ist bewusstlos, bewegungslos,
in sich begraben. Damian versteckt sich. Er tut das in
der Mitte des Raumes, wo ein hölzerner Dielenboden
ist. Und Delia lässt ihn stehen.
Natürlich lässt sie ihn stehen. Sie ist doch genau so
alleine wie er. Sie ist doch auch gestrandet. Und außerdem hat er sie an die Wand geredet, Damian, in die
Ecke hast du sie getrieben. Du bist schuld! Sie muss
sich jetzt erst mal wieder abkratzen von dort. Delias
Augen sind zu. Sie kann ihn jetzt nicht sehen, nicht
jetzt. Leise, mit geschlossenen Augen, auf sich bedacht und tief in sich drin spürt sie den Messerstichen
nach, mit denen Damian sie durchlöchert hat. Jede
einzelne Wunde läuft sie bis tief zu ihrem Ende hin
ab. Alles ist noch so frisch. Sie ist dabei ganz still, auch
wenn das seltsam ist. Delia ist nicht nach weinen zumute. Dafür ist hier gar kein Platz, auch keine Kraft.
Nein, weinen geht nicht Delia, bitte mach das nicht!
So verlierst du dich nur. Schotte dich lieber ab gegen
ihn, mach deine Türen zu, und die Fensterläden auch!
Delia sitzt auf dem Küchenstuhl. Die Beine angewinkelt, herangezogen ganz nah zu sich. Sie sitzt auf
Willst du mit mir gehen?
EIN TAG ZU VIEL
diesem Stuhl wie eine kleine Kugel. Aber sie ist keine
Festung, die Pfeile haben sie trotzdem getroffen. Delia legt den Kopf auf ihren Knien ab, hält ihre Beine
umgriffen, nein ihre Schienbeine sind das ja. Sie versteckt sich so gut es eben geht. Klaubt sich zusammen,
und die Einzelteile, in die er sie zerlegt hat. Was bleibt
ihr denn auch übrig? Soll sie weinen, nun doch? Sich
ihm an den Hals werfen? Schreien, Wüten, hysterisch
sein? Damian, du bist so gemein zu mir!
Nein.
Denn Delia weiß ja, wie sehr recht er hat. Sie weiß das
alles. Wusste es vielleicht schon vor ihm. Nur noch die
Logik des verletzten Stolzes brächte sie auf die Barrikaden gegen ihn. Aber davon will sie nichts mehr
wissen. Lieber nackt sein vor ihm, als sich aus Eitelkeit verteidigen! Sie weiß ja wie sehr recht Damian
hat, sie ist doch auf seiner Seite. Das alles hätte auch
aus ihrem Mund kommen können, denkt sie. Natürlich hätte sie das gekonnt, sie steht ihm da in nichts
nach, denkt sie. Unter Krämpfen unterzeichnete sie
jedes einzelne Wort, das er zu ihr gesprochen hat. Ihr
hätte es dabei fast die Hand verbrannt, aber das macht
nichts. Unter Krämpfen. Jedes einzelne Wort. Denn
Delia kennt den Kampf in- und auswendig, machen
wir uns doch nichts vor.
Den Kampf irgendwie man selbst zu sein.
Und dann auch noch zu zweit.
Und dann auch noch zu zweit.
Wir haben uns vermischt und sind dabei ertrunken
ineinander, das ist uns passiert, denkt Delia und rollt
dabei, kleine Kugel die sie ist, auf ihrem Stuhl ein
klein wenig vor und zurück. Wer soll denn jetzt das
erste Wort wieder sprechen?
Nach einer Weile verlässt Delia ihren Küchenstuhl
und betritt Land. Sie ist die mit dem ersten Schritt.
Sie stellt sich zu Damian, aber berührt ihn nicht. Ihre
Hände und Arme hat sie fest um sich selbst und ihren
Körper geschlungen. Nur ihre Stirn legt sie auf seiner Schulter ab. Mehr muss auch nicht sein. Sie will
ihm nur zeigen, dass sie, ja, dass sie versteht und auch
schätzt, dass, zumindest irgendwie. Ich kann das aber
alles noch gar nicht einordnen, Damian.
Nun stehen sie beide, die Hände um den eigenen Körper gelegt, miteinander schweigend in dieser Küche.
Neben ihnen der immer noch gedeckte Tisch. Essensreste.
Überreste.
Stumme Zeugenschaft.
Und wie Kriegsverletzte, die sich gegenseitig stützen
müssen, schleppen sie sich durch ihren Trümmerhaufen. Das auf einmal gebrochene Schweigen hallt
noch nach. Erzittern tun sie auch vor ihrem geplatzten Glück – in die Luft hat es sich gesprengt. Zaghaft,
schüchtern und unendlich vorsichtig stochern sie in
den Scherben rum, begutachten die Überreste ihres
Weltuntergangs, suchen.
Ob da vielleicht doch noch etwas ist zwischen ihnen?
Ob nicht doch noch irgendwas von ihnen übrig ist?
Ein bisschen Hoffnung.
Ein kleiner Weg.
Ein wenig Zukunft.
Aber das können sie doch jetzt noch nicht sagen! Die
Wunden bluten ja noch. Gemeinsam räumen sie den
Tisch ab. Sie sprechen dabei kein Wort, sondern hängen ihren Eindrücken nach, jeder für sich. Sie sind
ganz schüchtern miteinander. Wo vorher Vertrauen
und Selbstverständlichkeit war, regiert plötzlich eine
ganz eigentümliche Höflichkeit zwischen ihnen. Versehentlich, auf dem Weg zur Spüle, stoßen sie gegeneinander.
— Entschuldige, sagt Delia.
Dabei huscht ein Blick über ihn hinweg, der ängstlich
ist, der sich von links unten nach oben in den rechten
Augenwinkel stielt, der aber vor allem stirbt noch bevor er richtig angekommen ist. Auf ihren Lippen gibt
ein zittriges Lächeln sein Bestes, wirklich. Normalerweise gehen sie robuster miteinander um. Delia ist
verunsichert. In ihrem Kopf nistet sich die Gedankenschleife ein. Er hat gesagt, er kommt sich vor wie der
Balken, der meinen Kopf in der Schlinge tragen muss.
Dass er meinen Blick nicht ertragen kann. Dass kalte
Kinderhände ihn erwürgen. Dass alles hohl ist. Aber
was will er denn? Wie stellt er sich das denn vor?
Delia wirft Essensreste weg. Keiner hat heute aufgegessen. Wie in Zeitlupe kratzt sie mit dem Messer das
Essen vom Teller runter. Eigentlich ist sie ganz wo
anders. Und Damian wäre lieber gern allein. Ihm ist
nach lauter Musik, trinken, rauchen, was auch immer.
Hauptsache er spürt sich wieder. Er muss aus dieser
Küche raus, er erträgt den Raum nicht mehr. Ich kann
ihr doch nicht sagen, dass sie jetzt bitte gehen soll,
oder? Damian sitzt an seinem Computer. Delia sitzt
auf der Couch. Sie tut nichts. Das Buch liegt ungeöffnet neben ihr – als ob sie jetzt lesen könnte! Er fühlt
sich von uns erstickt. Sie starrt ins Leere. Ihre Füße
hat sie auf der Couchtischplatte und wieder sind ihre
Beine angewinkelt. Sie hat sich vorhin noch einen Tee
gemacht, an dem nippt sie jetzt. Obwohl sie keinen
Durst hat und auch nur, weil sie die Wärme braucht.
Außerdem hat er keinen Wein mehr, sie hat gefragt.
Er findet mich nicht mehr schön. Sie hält die Teetasse mit beiden Händen umgriffen, stellt sie auf ihrem
Bauch ab. Bei ihm ist es immer so kalt. Sie sprechen
nicht. Jeder hat in seiner eigenen Welt genug mit sich
zu tun. Wie zwei Magnete, die irrtümlich aufeinandergeprallt sind und sich jetzt umso gründlicher voneinander abstoßen. Irgendwann ist auch mal Schluss.
Vielleicht sollte ich einfach gehen? Klar ist, dass sie
unbedingt aus dieser Wohnung muss. Sie stellt die
warme Tasse auf den Tisch und nimmt die Füße
von dort weg. Ganz gerade sitzt Delia – der Rücken
durchgedrückt, die Beine im rechten Winkel – auf
dem Couchrand und blickt zu Damian rüber. Der
ist beschäftigt. Der hat sie ausgeblendet aus seinem
Geschehen, wie schon gesagt: Er wäre jetzt lieber
gern allein. Ich kann sie doch nicht ernsthaft bitten
zu gehen, oder? Bitte Delia, ich will alleine sein, ich
brauch‘ meine Ruhe, nur heute mal. Delia spürt, was
er sich nicht zu sagen traut. Sie ist hier jetzt zu viel, ist
hier unerwünscht, punkt.
Damian, ich glaube ich gehe jetzt besser.
Oder?
Das hat sie ganz leise gesagt. Langsam sieht er zu ihr
rüber. Delia steht auf und packt ihre Sachen, viel ist es
ja nicht. Sie lässt sich Zeit, zieht jeden Handgriff unnütz in die Länge. Vielleicht kommt er ja doch noch
und nimmt sie in den Arm. Sicher, dass du gehen
willst? Ganz egal was Damian, sie braucht doch nur
irgendeine Reaktion von dir! Aber Damian reagiert
nicht. Aber Damian hält sie nicht auf. Sieht ihr stattdessen stumm dabei zu, wie sie sich und ihre Sachen
zusammensucht. Schuhe, Jacke, Tasche – und Delia
ist bereit zum Gehen. Seit der Küche haben sie nicht
miteinander gesprochen. Jetzt stehen sie im Flur und
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Damian nimmt sie in den Arm. Fährt ihr mit beiden
Händen durchs Haar und über den Kopf, so wie er
das manchmal tut. Endlich, denkt sie. Fühlt das Warme seiner Lippen auf ihrer Stirn – aber keinen Kuss.
Er riecht nur in ihr
Haar. Zug um Zug saugt Delia
seine Nähe in sich ein.
Nichts verschütten!
Ihre Hände halten sich an seinem Pullover fest. Die
beiden sind ganz leise, hier im Flur. In ihrer Umarmung liegt weder Abschied noch Endgültigkeit – erst
mal sind sie nämlich noch ganz benommen. Können
kaum glauben, was sie eigentlich getan haben. Es ist
nun kein Geheimnis mehr – und im Angesicht dieser Ungeheuerlichkeit fehlen ihnen die Worte. Auch
Damian fühlt sich unsicher an. Delia merkt das, weil
sein Körper krampfig ist, jedenfalls steifer als sonst.
Und unter ihrer Haut sitzt die Angst. Sie schimmert
durch ihre Augen, blitzt Damian entgegen. Der sieht
das natürlich. Sie hat bestimmt genau so Angst wie
ich.
Mach’s gut. Und schlaf schön.
Du auch. Komm gut nach Hause. Und pass auf dich
auf.
Rufst du mich an?
Na klar.
Und dann ist Delia weg. Er macht die Tür hinter
sich zu und bleibt im Flur kurz stehen, unschlüssig.
Was soll ich denn jetzt machen? Er setzt sich auf die
Couch, hält inne. An irgendeinem Punkt hat Damian
wahrscheinlich auch den Kopf geschüttelt, oder mit
den Achseln gezuckt.
Und jetzt? —
Noch im Treppenhaus entscheidet sich Delia, diesmal
zu Fuß nach Hause zu gehen. Sie braucht das jetzt.
Frische Luft, Kälte, das Gefühl von Wirklichkeit,
Bäume sehen, den schwarzen Himmel sehen, Schritte
hören, in die Nacht hineinlaufen, in erleuchtete Fenster blicken, den Wind im Gesicht haben, den Schal
über die Nase ziehen weil’s so kalt ist draußen.
Ich muss aus meinem Kopf raus! —
Sie läuft und läuft, es ist doch weiter als sie dachte.
SMaria Meerwein
RULES OF ENGAGEMENT
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Jenny Schily
EIN TAG ZU VIEL
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Fruzsina Jesse
RULES OF ENGAGEMENT
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Endlich Wochenende.
EIN TAG ZU VIEL
Endlich Wochenende.
D
ie rechte Hand umgreift das Messer, es ist
silbern. Sie könnte mit dem Messer auch
einfach eine feine Scheibe abschneiden.
Stattdessen stochert die rechte Hand mit dem Messer in der Butter rum. Regelrechte Krater furcht die
rechte Hand mit ihrem Messer in die Butter rein.
Setzt mit dem Messer von Neuem an und immer
wieder von Neuem, weil das Butterstück, das es jetzt
endlich abgetrennt, aufgespießt hat, fällt vom Messer ab, immer wieder, fällt in seinen Schoß zurück,
klatscht also auf das große Butterstück rauf, in dem
seit seinem Fehlen ein Krater klafft. Die linke Hand
hält kein Messer. Sie greift das auf die zerkraterte
Butter gefallene Butterstück mit Zeigefinger und
Daumen und hält das Butterstück, das schon dreimal vom Messer in der rechten Hand Gefallene, mit
Zeigefinger und Daumen umgriffen. Es fühlt sich
kalt an. Es beginnt zu schmelzen. Es hinterlässt zwischen den Fingern seine schlierige Spur.
Den Fingern wird das Feuchtkalte zwischen sich unangenehm, zur Zumutung fast. Sie schütteln es von
sich, angewidert von dem Gefühl, das es ihnen gibt,
und drücken es in den weichen Brötchenteig rein.
Der Teig ist weiß. Er sieht trocken aus, als müss-
te man viel trinken, um ihn runter zu bekommen.
Oder als bräuchte er viel von der Butter auf sich, um
im Mund erträglich zu sein, machbar. Das Brötchen
ist aufgeschnitten, halbiert in zwei Hälften, es liegt
nur eine Hälfte auf dem Teller. Der Teller ist auch
weiß. Die Brötchenhälfte liegt dem weißen Teller
auf, auf dem auch Krümel liegen. Kleine, gelbbraune Krustensplitter liegen, die vom Brötchen, als
es festgehalten von der linken und zerteilt von der
rechten Hand mit dem silbernen Messer in ihr, abgesprungen sind. Als die andere Brötchenhälfte, jetzt
nicht mehr zu sehen, in den Mund gegangen und
von Zähnen durchteilt, sind auch seine Krümel, das
heißt gelbbraune Krustensplitter von ihm, auf den
Teller gefallen. Darum liegt die Brötchenhälfte auf
dem weißen Teller inmitten lauter Krümel.
Der Zeigefinger drückt das Butterstück, das unter seiner Berührung schmilzt, in den weißen und
löchrigen Brötchenteig rein. Es hinterlässt auf seiner
Haut eine kalte Spur, oder einen Film. Der Zeigefinger ist jetzt feucht von der kalten Butterstückspur
auf ihm. Das Butterstück klebt jetzt auf dem weißen, löchrigen Brötchenteig, sieht wie hingekliert
aus, da fährt die rechte Hand mit dem Messer in es
rein, zerteilt es mit seiner Spitze, der Messerspitze,
spreizt es auseinander, macht es breit und flach und
das nur, um seine Fläche zu vergrößern.
Das Messer bügelt das Butterstück platt, also verteilt es auf dem weichen, löchrigen Brötchenteig.
Das Messer drückt das Butterstück in den weichen,
löchrigen Brötchenteig und zerfurcht, wie zuvor das
große Butterstück, auch diesen. Auf dem Teller hat
die Brötchenhälfte jetzt in der Mitte einen Krater,
einen Krater wie auch die Butter von der Wucht des
Messers einen Krater hatte, der von einer dünnen,
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ungleichmäßigen Butterschicht bedeckt ist. Kann
ich das Salz haben, bitte? Es steht direkt vor dir.
Ich habe nicht gesehen, dass das Salz direkt vor mir
steht.
Die rechte Hand greift nach dem durchsichtigen,
kegelförmigen Salzstreuer und zwar mit Schwung.
Er ist bis knapp unter die Hälfte mit weißem Zeugs
hgefüllt, das unter der Bewegung der rechten Hand
zur Seite kippt und am Innenrand des duchsichtigen, kegelförmigen Salzstreuers einen aufgeschütteten Haufen bildet. Hier, dein Salz. Danke. Sie beobachtet wie er hastig das Salz auf die Brötchenhälfte
unter ihm schüttet. Die Hälfte fällt daneben auf den
weißen Teller und mischt sich unter die gelbbraunen Krümel auf ihm. Es fällt auch Salz neben den
Teller, auf die weiße Tischdecke. Die hatte sie vorher
noch gebügelt. Sie kann diese brüsken Bewegungen
von ihm nicht ertragen, fühlt sich von ihnen angegriffen, auch wenn sie ihr nicht gelten.
Ihr Körper verkrampft sich, wenn sie seine Hände
so beim Zupacken sieht. Findet ihn, wie er vor ihr
das Salz auf seine Brötchenhälfte schüttet, grob und
unansehnlich. Seine Hände agieren in allem wie ein
Schlachter, der die vor ihm aufgereihten Kadaver
zerteilt, findet sie und kann sich nicht helfen. Sie
findet ihn roh. Ihr vergeht der Appetit. Keine Falten
in der Tischdecke, doch man sieht, dass sie schon oft
gewaschen wurde, weil sie hat einen Graustich.
Jetzt liegen Salzkörner auf der Tischdecke und sie
fragt ihn, ob er ihr den Kaffee reichen kann, bitte.
Kannst du mir den Kaffee reichen, bitte? Die linke
Hand schiebt die Glaskanne, in der der Kaffee und
auf deren Boden sich braune Kaffeepampe, in der
sich also der Kaffeesatz sammelt, zur Mitte des Tisches hin. Hier. Die linke Hand zieht sich zurück,
SPaul Langmead
RULES OF ENGAGEMENT
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Endlich Wochenende.
EIN TAG ZU VIEL
hebt die Glaskanne, in der der Kaffee, nicht an und
schenkt auch keinen in ihre Tasse ein. Kannst du mir
einschenken, bitte? Sie will, dass er ihr einschenkt.
Sie will, dass er sich die Mühe macht und den Kaffee in ihre Tasse schüttet. Sie besteht darauf, weil sie
will, dass er sich bemüht um sie. Die rechte Hand
greift also zum Henkel der gläsernen Kaffeekanne,
in der sich unten der Kaffeesatz, hebt sie an und
neigt sich, den Henkel fest umgriffen, soweit nach
vorn über, bis die braune Flüssigkeit aus der Kanne
läuft und in ihre Tasse klatscht. Bis der Kaffee in ihre
Tasse klatscht. Stellt dann die Kanne zurück auf die
weiße Tischdecke, die nicht eine Falte hat, zwischen
sie beide.
Die gläserne Kaffeekanne, in der sich unten der Kaffeesatz und die einen schwarzen Henkel hat, steht
jetzt zwischen ihnen beiden auf dem weißen Tischtuch. Sie soll verdammt solchen Gesten keinen Wert
beimessen. Es ist ihm völlig egal, ob er ihr den Kaffe
in die Tasse klatschen lässt, oder ob sie das selbst tut.
Es kümmert ihn nicht. Es bedeutet ihm nichts. Es
ist kein Liebesbeweis, er beweist ihr seine Liebe so
nicht, so doch nicht. Sie macht darin Zeichen seiner
Anerkennung ihrer aus, seiner Aufmerksamkeit. Sie
fühlt sich von ihm umsorgt, wenn er ihr den Kaffee
einschenkt, wenigstens wahrgenommen, wenn er
solche Dinge für sie tut. Sie verlangt, dass er ihr Aufmerksamkeit schenkt und mit ihr spricht. Sie will
sprechen und es ist ihr auch egal worüber, Hauptsache es hört die belastende Stille auf. Hauptsache
nicht mehr ihre Wut, wenn sie ihn nicht ertragen
und sich nicht beherrschen kann. Wie sie ihn dann
hasst. Sie müssen doch irgendetwas teilen. Die rechte Hand greift nach der Brötchenhälfte, die ein Krater ist, in dem eine ungleichmäßige Butterschicht
klebt und auch Salz, und führt sie zum Mund, der
sich öffnet und Zähne zeigt. Zahnreihen, die sich
voneinander trennen und nach der Brötchenhälfte
packen, sich auf die Brötchenhälfte stürzen, die ein
Krater mit unregelmäßiger Butterschicht und auch
Salz ist, erstechen einen Teil der Brötchenhälfte, die
Zähne beißen zu, beißen etwas von ihr ab, was dann
im Mund verschwindet und hinter den Zähnen ist
das Abgebissene jetzt weg. Die rechte Hand legt
nach dem Biss die lädierte Brötchenhälfte zurück
auf den Teller unter ihr.
Sie soll verdammt aufhören in ihn hineinzulesen,
was dort nicht ist. Er will nicht sprechen. Er hat
nichts zu sagen, ihr hat er nichts zu sagen, schon
lange nicht mehr, weil sie ödet ihn an und manchmal schnürt sich ihm alles zu bei ihrem Anblick, das
heißt ihrem leidenden, anklagenden Blick auf ihm.
Er findet sie schwer und erstickend, sie zu sehen
heißt Tonnen auf den Schultern zu haben und ihre
Vorwürfe scheppern in seinen Ohren, selbst wenn
sie nichts sagt scheppert es. Was machst du heute?
Ich weiß es nicht. Gar nichts. Lesen vielleicht. Ich
weiß nicht, was ich heute mache. Gar nichts. Mich
ausruhen. Die linke Hand greift nach der Tasse, in
der ist eine braune Flüssigkeit. Sie hebt die Tasse an
den Mund, dessen Lippen sich öffnen und dann
die Tasse umschließen. Der Tassenrand ist kalt, er
hinterlässt einen Moment kalt auf der Innenseite
der Lippen, im Mund. Die Flüssigkeit ist heiß und
braun und sie berührt die Zunge, fließt auf ihr lang
bis zu ihrem Ende hin und stürzt dann die Kehle
hinab. Sie nimmt einen Schluck Kaffee.
Was machst du heute? Sie weiß nicht, was sie heute macht. Sie hat keine Pläne. Sie würde etwas mit
ihm machen, vielleicht. Müssen sie doch mal wie-
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der Zeit miteinander verbringen, als Paar. Sie weiß
nicht, was sie heute tut. Sie weiß nicht, wie sie den
Tag heute füllt, hat absolut keine Ahnung und er
kommt ihr unendlich lang vor, der Tag macht ihr
Angst. Sie weiß nicht, was sie alleine machen soll.
Ich habe zu tun, so viele Sachen, um die ich mich
kümmern muss. Die Brötchenhälften gegessen, der
Kaffee getrunken stehen sie auf und räumen wortlos
den Tisch ab. Jeder geht seiner Wege dann, in der
gemeinsamen Wohnung. Auf der weißen Tischdecke ohne Falte liegen Brötchenkrümel, auch Salz.
Sonst nichts.
Jana Arnhold
RULES OF ENGAGEMENT
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Simona Wieserska
EIN TAG ZU VIEL
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Ivonne Dippmann
RULES OF ENGAGEMENT
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Komm! wir erobern jetzt die Welt.
EIN TAG ZU VIEL
Komm! wir erobern jetzt die Welt.
*
Weißt du noch unseren Anfang?
Da habe ich mich dir mit meiner ganzen
Kraft in die Arme geschmissen.
Aufrecht,
Ungestüm,
Unbedingt und mit voller Wucht sind wir
ineinander gestürzt.
Nichts zurück behalten, alles war Angebot,
was zählte war unser Spiel.
Ich habe alles gesetzt und verloren.
Dich.
Und mich dazu.
*
heute verstehen bitte :
Endgültig. Endgültig. Endgültig.
Endgültig !
Für immer.
Niemals wieder!
*
Verletzlichkeiten verdrängen die Kraft.
Vorsichtigkeiten zügeln den Mut.
Empfindlichkeiten deckeln die Lust.
Es kommt der Punkt,
*
Da verdient die Liebe ihren Namen nicht
Du brichst ein,
mehr.
brichst immer wieder in mein Leben Was bleibt sind Vernünftigkeiten.
ein.
Ruhig alles langsam angehen!
Einbrecher!
Bloß nicht zu viel investieren!
Lässt meine Ruhe mitgehen,
Pass auf dich auf!
mich im Chaos zurück.
Was bleibt sind Rationalitäten,
Sie sind die Rüstung der Verletzten.
Irgendwann wird selbst die Liebe fahl.
*
Dann genieß mich doch einfach.
*
T’as oublié mon anniversaire, tu sais?
Non, je n’ai pas oublié.
Je ne savais pas trop quoi faire.
J’espère que c’était une bonne
journée.
Laufe neben dir und spreche nicht, denke
nicht, atme nicht, meine Vorsätze bleiben
irgendwo hinter mir zurück.
Nach etlichen Tränenschüben
Und einem Gespräch, das nicht geführt
wurde, verlassen wir uns unter Küssen und
zum letzten Mal.
*
Parfois, je me confonds avec le monde.
*
Nehmt was ihr braucht,
ein Gesicht ist immer ein Angebot.
Offerte.
Pickt euch heraus was ihr wollt,
Rosinenpicker! es geht doch eh nur um
euch.
Sucht im Andren euer Ich, damit es bloß
zum Du nicht kommt.
Ich ist immer die sichere Seite, bestimmt!
*
Hast du jemals versucht mich wirklich zu
Du hast mich zwischen den Fertigen warten sehen?
lassen.
Ist dir nicht langweilig vor lauter Ich?
Ich dachte du würdest nicht kommen, zu
unserem Abschied.
Da dein Gesicht inmitten der Anderen.
Ich sehe dich und kann nicht mehr atmen. *
Ich kann nicht mehr atmen, verstehst du?
Ich.
Alles zieht sich zusammen so sehr muss ich Ich. Ich. Ich.
dich.
Du Ichblinder.
25
RULES OF ENGAGEMENT
*
Wunschzettel ans Ich :
- Kein Wunschzettel.
- Ich will niemanden brauchen.
- Mich an keinen abgeben.
- Meine Egoismen nicht an dir austoben,
du sollst nicht Spielball meiner Ängste
sein.
- Mein Ich-leben verteidigen, gegen mich.
- Fröhlich sein.
Machst du mit?
*
Einmal Vergessen bitte.
Sonst noch einen Wunsch ?
Nein danke, das war‘s.
*
Und wovor hast du Angst?
Vor den Schritten nach vorn, vor den
Schritten auf dich zu.
Weil sie könnten dir ja zeigen, du bedeutest mir was.
Jeder Schritt auf dich zu lässt mich
meine Kleider verlieren,
meinen Schutz.
Jeder Schritt auf dich zu, einer weg von
mir, denke ich,
fühlt es sich.
Angst dir zu zeigen du bedeutest mir was,
und warum?
Weil ich dann schwach aussehe.
Weil du dann siehst, ich brauche wen.
Weil du dann siehst, ich bin nicht stark.
Weil ich dann in deinen Händen
liege, mich nicht mehr verteidigen kann,
sondern offen und blank nicht mehr zurück
kann von dir, nicht mehr weg kann von dir,
sondern dir und deinen Launen, deiner
Gunst jetzt ausgeliefert bin.
Will nicht mehr als bei dir bleiben.
Nicht mehr mit meinem Schweigen sein.
Aber es geht nicht, er kommt nicht über
die Lippen. Der simple, so banale Satz wird
konsequent und eiskalt von meiner Stille
verschluckt, weil ich bringe es nicht über
mich dir zu gestehen:
verlangt es so.
Ich gehe, weil ich denke mein Bild von mir
verlangt es so.
Also gehe ich.
Gehe gegen mich an.
Laufe meinem Verlangen zuwider.
Renne mich in mir irre, wund und roh.
Dabei bohrt sich die Maske, die ich meine
dir vorhalten zu müssen, blutig und mit
Stacheln in mein Gesichtsfleisch hinein.
Du weißt nichts davon.
Weil ich bin still, obwohl ich dir ins Gesicht
schreien müsste,
mit dir teilen!
Stattdessen gehe ich.
Meinen Tag, meinen strengen Ich-Tag, den Lasse dich.
will ich heut am Liebsten an den Nagel hängen. Will aus dem Ich-Tag heut einen Du- Du bist verwirrt aber gefasst, denn du musst
Tag mit Dir machen, eben bei dir sein.
mich ja ziehen lassen,
kannst auch nicht einfach sagen,
Kann dir dieses Einfache nicht sagen.
Du weißt nichts davon.
Nein Bitte Warte Und Bleib
Ich Will Dass Du Bei Mir Bleibst
Stattdessen gehe ich,
Du sagst, Gut.
überlasse dir von mir nicht mehr, denn mein Ich ruf dich an.
Schweigen.
Nehme meine Sachen,
Und rufst nicht an.
mein Gesicht,
meine Haltung,
mein Bild
und gehe.
Ich gehe, weil ich denke ich muss gehen.
Ich gehe, weil ich denke dein Bild von mir
verlangt es so.
Ich gehe, weil ich denke mein Bild von dir
26
Wir.
EIN TAG ZU VIEL
Wir.
W
ie geht’s dir mit ihm?
Ach, uns geht’s gut, danke.
Wirklich?
Jaja, wirklich, echt. Es ist manchmal schon
fast unheimlich, wie gut wir uns verstehen, ich
wundere mich ja selbst. Wir streiten fast nie.
Also ich meine, klar haben wir schon ab und
zu kleine Auseinandersetzungen. Sowas bleibt
ja in der besten Beziehung nicht aus, sowas
ist ja ganz normal in einer Partnerschaft. Und
wenn man dann auch noch zusammen wohnt
und sich jeden Tag sieht, dann sind so kleine
Reibereien ja normal. Aber meist sind das wirklich nur Kleinigkeiten, nicht der Rede wert. Im
Großen und Ganzen streiten wir eigentlich nie.
Und er ist auch wirklich immer so süß zu mir,
liest mir quasi jeden Wunsch von den Augen
ab. Er will einfach, dass es mir gut geht und ich
glücklich bin, und es geht ihm auch nur gut,
wenn es mir gut geht. Er ist so zuvorkommend,
liebevoll zu mir. Langsam haben wir auch unsere kleinen Routinen gefunden, unseren Rhythmus, sind mittlerweile ein richtig eingespieltes
Team geworden. Wir ergänzen uns so gut. Er
setzt mich jetzt morgens immer auf der Arbeit
ab, ist ja auch wirklich viel praktischer so. Den
Zweitwagen, also mein altes Auto, das haben
wir jetzt nämlich verkauft, lohnt sich ja auch
gar nicht in der Stadt. Außerdem haben wir fast
den gleichen Arbeitsweg, da können wir ruhig
auch zusammen fahren, haben wir uns gedacht,
ist eh viel schöner. Denn da haben wir immer
noch einen kleinen Moment nur für uns, bevor
die Arbeit, also bevor der Tag so richtig anfängt.
Auf dem Rückweg holt er mich dann auch immer vom Büro wieder ab.
Echt?
Jaja, klar! Manchmal muss ich dann zwar ein
bisschen länger machen und auf ihn warten,
wenn es sich bei ihm im Büro nach hinten
verschiebt, wenn noch was Dringendes auf
den Tisch kommt und so, aber das mache ich
gern, das stört mich wirklich überhaupt nicht.
Und außerdem mag er es nicht, wenn ich die
U-Bahn nehme, denn man weiß ja nie, was da
für Gestalten unterwegs sind, sagt er, und er
könnte es sich auch nie verzeihen, wenn mir etwas zustoßen würde, denn er kann sich nicht
mehr vorstellen, ohne mich zu leben, sagt er.
Er sagt, ich sei sein Ein und Alles. Ist es nicht
rührend wir er sich um mich sorgt? Und nach
der Arbeit, da gehen wir manchmal noch was
essen. Oder ich koche was für uns, aber meist
nur eine Kleinigkeit, einen Salat oder so, nichts
Besonderes, abends soll man ja eh nicht mehr so
schwer essen, wegen der Verdauung und so, und
außerdem träumt man dann schlecht. Doch,
wir verstehen uns wirklich gut, alles Bestens.
Ach ja, und letzten Samstag waren wir auch mal
wieder aus, mit unseren Freunden. Erst waren
wir im Theater und haben dort dieses Stück von
diesem neuen jungen Regisseur gesehen, und
dann sind wir alle noch schön essen gegangen,
zu viert. Ein richtiger Pärchenabend, sozusagen.
Die beiden sind auch wirklich so nett, wir verstehen uns so gut und haben so viel Spaß zusammen. Am Sonntag sind wir dann rausgefahren,
einfach mal raus aus der Stadt, spazieren gehen,
Natur sehen, mal so richtig die Seele baumeln
lassen und sich entspannen. Unser Urlaub ist ja
jetzt auch schon wieder so lange her. Wie die
Zeit vergeht! Unterwegs haben wir dann dieses
kleine Café gefunden, stell dir vor, die hatten
sogar selbstgebackenen Apfelkuchen, meinen
Lieblingskuchen, weißt du doch. Und auf dem
Rückweg sind wir dann noch schnell bei seinen
Eltern vorbei gefahren, nur kurz Hallo sagen.
Die freuen sich doch immer so wenn sie uns
sehen, die beiden. Ich sag dir, die sind wirklich allerliebst zusammen, noch so fit für ihr
Alter, so voller Tatendrang. Und jetzt, wo die
Kinder aus dem Haus sind und sie auch nicht
mehr arbeiten müssen, genießen die beiden ihr
Leben noch mal in vollen Zügen. Wir haben
dann alle noch zusammen Abendbrot gegessen
und sind dann aber nach Hause gefahren, weil
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es war schon spät und stadteinwärts ist sonntags abends ja auch immer Stau, und außerdem
muss man am nächsten Morgen ja auch wieder
früh raus, ins Büro.
Schön! Mensch, das hört sich ja alles wirklich
richtig gut an, rundherum zufrieden siehst du
aus. Beneidenswert!
Ja! Ist es auch! Es ist wirklich gut mit uns. Wir
sind glücklich zusammen. Wir verstehen uns
gut, kommen gut miteinander aus, wir lachen
viel, kümmern uns umeinander, machen eigentlich alles zusammen, können über alles offen reden, er versteht mich, wir vertrauen uns,
sind uns treu, wir lieben uns. Wir sind glücklich
miteinander, wir lieben uns.
Und der Sex?
Ach, na der ist natürlich auch gut. Aber du
weißt ja wie das ist, irgendwann ist das mit dem
Sex gar nicht mehr so wichtig, dann rücken andere Sachen in den Vordergrund, Wichtigeres.
Und außerdem haben wir beide auch gerade so
viel zu tun im Büro. Da ist man froh, wenn man
abends dann seine Ruhe hat und einfach zusammen einschlafen kann. Du kennst das doch, du
weißt doch wie das ist.
Ich weiß wie das ist, verstehe. Irgendwann ist
man froh, wenn man seine Ruhe hat.
Sarah Mühlhause
RULES OF ENGAGEMENT
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Ichbruchstück.
EIN TAG ZU VIEL
Ichbruchstück.
I
ch habe keine Lieblingsfarbe. Mit zwölf wurde
ich am Knie operiert. Seitdem renne ich nicht
gern. Wenn ich das Rennen vermeiden kann,
renne ich nicht. Hohe Schuhe machen mir Angst.
Ich rauche. Aber nicht viel. Ich kann Leute nicht
verstehen, die viel rauchen. In der U-Bahn sitze ich
in der Mitte oder am Gang. Wenn ich am Fenster
sitze, fühle ich mich eingesperrt von der Person neben mir. Ich mag es nicht, wenn ich aufstehe und
mich an Beinen vorbeidrängeln muss. Ich weiß, wie
ein Blick aussieht, der bricht. Das ist ein Moment,
in dem die Augen des Gegenübers ihren Ausdruck
ändern, weil sie nach innen blicken auf die Verletzung, aber den Stich nicht zeigen wollen. Ich kann
mit Menschen brechen. Ich habe oft mit Menschen
gebrochen. Ich bin aus ihrem Leben verschwunden, oder sie aus meinem. Es passiert mir, dass ich
Kleidung kaufe und sie nicht anziehe. Mein Kleiderschrank ist voll. In der Stadt mich zu orientieren
fällt mir schwer. Wenn ich an einen neuen Ort muss,
bin ich nervös. Ich versuche mir das nicht anmerken
zu lassen. An meine Kindheit erinnere ich mich jeden Tag. Wie mein Kuscheltier roch, weiß ich noch
genau. Der Spielplatz, auf den ich immer gegangen
bin, war gleich bei uns um die Ecke. Als Kind bin
ich einmal umgezogen. Ich bin nicht verheiratet. Ich
will auch nicht heiraten. Das Wort Heirat bringe ich
mit Nachttischlampe in Verbindung. Ich habe keine
Kinder. Ich habe lange keinen interessanten Menschen kennengelernt. Es wird immer schwieriger,
jemanden zu finden, mit dem ich richtig sprechen
kann. Die meisten Gespräche enden im Kompromiss. Ich lebe mit meiner Freundin zusammen. Sie
ist meine erste richtige Beziehung. Ich frage mich,
ob ich andere Frauen haben werde. Ich weiß, wie
Liebe sich anfühlt. Es passiert mir, dass ich vergesse, wo ich am Vorabend das Auto geparkt habe. Ich
gehe allein in Bars. Es stört mich nicht, das allein
zu tun. Ich bin gern allein. Ich habe das Gefühl
mich zu verlieren, wenn ich mit vielen Menschen
gleichzeitig zusammen bin. Ich trinke allein. Es
stört mich, wenn Paare zeigen, dass sie ein Paar sind.
Zärtlichkeit gehört für mich nicht in die Öffentlichkeit. Kaffee trinke ich schwarz und mit Zucker. Ich
trinke zum Frühstück einen Kaffee und einen nach
der Arbeit. Der Kaffee ist das erste, was ich mache,
wenn ich nach Hause komme. Weihnachten ist mir
die schlimmste Zeit. Ich weiß nie, was ich verschenken soll. Die Geschenke, die ich bekomme, gefallen
mir selten. Ich sehe darin Dinge, die meine Wohnung zustellen. Es fällt mir schwer, mich dafür höflich zu bedanken. Beim Sex habe ich es lieber, wenn
das Licht aus ist. Ich mag meinen Körper nicht
sehr. Meinem Freund sage ich, dass es für mich im
Dunklen intensiver ist. Ich bin verheiratet. Ich habe
eine Tochter. Sie ist neun Jahre alt. Sie spielt viel
mit Playmobil und nicht gern mit Puppen. Ich habe
Angst, abends nicht einschlafen zu können. Ich setze mich unter Druck aus Angst, am nächsten Morgen müde zu sein und den Tag nicht zu schaffen.
Ich koche gern. Essen ist mir wichtig und ich gebe
Geld dafür aus. Ich esse jeden Tag einmal warm. Ich
mag kein helles Licht. Ich verstehe Menschen nicht,
die sagen, ohne Musik nicht leben zu können. Ich
finde das übertrieben. Ich erinnere mich genau an
meinen Schulweg. Wenn ich auf meinem Schulweg
allein durch die Straßen gelaufen bin, habe ich mich
groß gefühlt, wie die Erwachsenen. Ich bin gern zur
Schule gegangen. Die meisten Menschen langweilen
mich. Ich buche keinen Pauschalurlaub. Unsere erste Wohnung war winzig. Für Möbel hatten wir kein
Geld. Die erste Zeit schliefen wir mit der Matratze
auf dem Boden. Wir rauchten die ganze Zeit. Wenn
ich an mein Leben denke, ist sie immer da. Sie ist Teil
all meiner Erinnerungen. Ich esse nur rote Marmelade. Bei gelber Marmelade denke ich, sie schmeckt
sauer, obwohl das nicht stimmt. Pflanzen gehen bei
mir ein. Ich vergesse ihnen Wasser zu geben. Ich
habe kein Glück mit Pflanzen. Ich weiß noch nicht,
was ich nach der Schule machen werde. Ich kann
mir noch kein Leben vorstellen. Ich will Kinder haben, das weiß ich. Ich lese jeden Tag Zeitung. Die
Meinungsseite und den Feuilleton lese ich nicht. Ich
kaufe mir die Zeitung für den Politikteil. Seit meiner
Führerscheinprüfung bin ich nicht einmal Auto gefahren. Es ist mir peinlich. Ich schäme mich deswegen vor anderen und vor mir selbst. Ich mag Frauen
mit langen Haaren. Kultur ist mir nicht wichtig. Ich
finde sie entbehrlich. Ich glaube nicht an Gott. Ich
trage meist Turnschuhe. Ich achte auf mein Äußeres.
Ich will dabei nicht übertrieben wirken. Ich möchte
mich nicht für meine Entscheidungen rechtfertigen.
Im Café bestelle ich Milchkaffee oder Cappuccino.
Ich entscheide mich spontan. Hinterher weiß ich
oft nicht, was ich gesagt habe. Ich schaue jeden Tag
fern. Ich brauche das, um mich entspannen zu können. Ich weiß nicht, was ich abends sonst machen
soll. Meine Frau geht einkaufen und ich regle das
Finanzielle. Wir haben zwei Kinder. Wäre es nach
mir gegangen, hätten wir nur ein Kind. Ich verreise
nicht gern. Ich bin nicht gern von zuhause weg. Ich
brauche meine Routinen. Ohne meine Routinen
habe ich das Gefühl, alles bricht über mir zusammen. Meine Arbeit hat mir immer Spaß gemacht.
Ich hätte gern Sex mit einer Schwarzen. Mein erstes
Tagebuch war rosa und hatte eine Katze auf dem
Einband. Ich schwimme gern. Es fällt mir schwer,
mich durchzusetzen. Jedes Jahr will ich mindestens
einmal verreisen. Ich habe Angst vor dem Alter. Neben meiner Wohnung ist ein Park. Ich telefoniere
nicht gern. Wenn mein Mann geschäftlich unterwegs ist, habe ich Angst, dass er mich betrügt. Ich
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könnte ihm das nicht verzeihen. Ich würde mich
dann trennen.
Eindringling. bohren. Langsam sich tiefer graben,
vorwärts. Immer dort, wo’s weh tut. Störenfried.
durcheinandergewürfelt. Alles anfassen und jede
Figur an einen anderen Platz stellen, bis das Spiel
nicht mehr das selbe ist und keiner sich mehr zurechtfindet in ihm. Fremdling. anders. Vorher waren
die Gedanken so nicht, Richtungswechsel jetzt, weil
eine neue Idee hat sich unter ihnen breit gemacht.
Schleicher. stückchenweise. Was klein war erst und
nur als Ahnung da, wächst langsam und stetig.
Die Ruhe geht mit dem Zweifel, sie ist dann dahin.
An ihrer statt: Unruhe. Ist das Unvermögen still zu
stehen, an einen Punkt zu kommen, Halt zu machen.
Zweifel verbietet den Gedanken ihren Frieden.
Zweifel peitscht die Gedanken übers Feld.
Zweifel treibt die Gedanken von einem Ort zum
andren hin.
Zweifel frisst Sicherheit auf.
Zweifel nimmt Gewissheit fort.
„im Dunklen tappen“
„in der Luft hängen“
„hin und her gerissen sein“
Es hat etwas von Schwanken oder schwindelig sein,
wenn Zweifel das Feste schwinden macht.
Überzeugungen werden porös.
Meinungen werden aufgeraucht.
Am Wissen wird feste genagt.
Man spricht dann im Allgemeinen vom Scherbenhaufen, Trümmerfeld, du kennst dich nicht mehr
aus in dir.
Erkenntnis:
Grundfeste sind nicht fest.
Verlieren der Orientierung bei Wegbrechen der
Wegmarken.
Infizierung hinterlässt dauerhafte Schäden. Was einmal zerschlagen wird nie mehr wieder ganz gesund.
Vom Zweifel angesprungen,
Wie im freien Fall,
Nur noch nach unten,
Wo soll das enden?
1. Was, wenn ich mich selbst belüge? und den Beruf,
den ich ausübe, nicht leiden kann, die Frau, mit der
ich verheiratet bin, nicht liebe, die Kinder, die meine sind, mich nichts angehen, die Freunde, die ich
so nenne, mir fremd sind, das Glück, welches ich
doch habe, mein Unglück ist.
Nicole Pietsch
RULES OF ENGAGEMENT
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Volha Aliseichyk
EIN TAG ZU VIEL
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Sarah Schönfeld
RULES OF ENGAGEMENT
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Hejer Denguir
EIN TAG ZU VIEL
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Anu Koski
RULES OF ENGAGEMENT
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LOVE LETTER
La Notte - Michelangelo Antonioni
„La notte“ from Michelangelo Antonioni ends with Lidia
reading out a love letter that Giovanni wrote to her just
before they got married.
Lidia reading out :
„When I awake this morning, you were still asleep. As I awoke I heard you gentle
breathing. I saw you closed eyes beneath wisps of stray hair and I was deeply
moved. I wanted to cry out, to wake you, but you slept so deeply, so soundly. In the
half light your skin glowed with life so warm and sweet I wanted to kiss it, but I
was afraid to wake you. I was afraid of you awake in my arms again.
Instead, I wanted something no one could take from me, mine alone...this eternal
image of you. Beyond your face I saw a pure, beautiful vision showing us in the
perspective of my whole life...all the year to come, even all the years past.
That was the most miraculous thing: to feel for the first time, that you had allways
been mine. That this night would go on for ever united with your warms, your
thought, your will. At that moment I realized how much I loved you, Lidia.
I wept with the intensity of my emotions. For I felt that must never end, we would
remain like this all our lives not only close, but belonging to each other in a way
that nothing could ever destroy, exept the apathy of habit, the only threat.
Then you awakend and, smiling, put the arms around me, kissed me and I felt
there was nothing to fear. We would always be as we were at that moment bount
by stronger ties than time and habit.“
Giovanni: „Who wrote this letter?“
Lidia: „You did.“
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Franziska Petri
RULES OF ENGAGEMENT
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RULES OF ENGAGEMENT
Joerg Reichardt
Atelier Anklamer Str. 7
D-10115 BERLIN
www.joergreichardt.de
Photographie © Joerg Reichardt
Berlin, 2011
PERSONEN
Volha Aliseichyk
Alexander Simon
Anu Koski
Constanze Tonn
Franziska Petri
Fruzsina Jesse
Fruzsina Jesse
Gero Gries
Heger Denguir
Ivonne Dippmann
Ivonne Dippmann
Jana Arnhold
Jenny Schily
Jorinde Voigt
Julia Bräuer
Maria Meerwald
Nicole Pietsch
Nicole Pietsch
Pau Langmead
Sarah Mühlhause
Sarah Mühlhause
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Sophie Ratschow
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Sarah Schönfeld
RULES OF ENGAGEMENT
J OERG R EICHARDT
Photographie
K ONSTANZE S EIFERT
Texte
Personen
Volha Aliseichyk Jana Arnhold
Julia Bräuer Ivonne Dippmann Gero Gries Hejer Denguir
Fruzsina Jesse Anu Koski Paul Langmead Maria Meerwein
Sarah Mühlhause Franziska Petri Nicole Pietsch Sophie Ratschow
Jenny Schily Alexander Simon Constanze Tonn Jorinde Voigt
Simona Wieserska Yasmin Yazdani
Ein Tag zu viel