Mit statt trotz Behinderung
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Mit statt trotz Behinderung
Grimme Online. Leidmedien.de „Die Sensibilität hängt von einzelnen Journalisten ab – und das können wir ändern.“ Raul Krauthausen, Sozialhelden e. V. / Leidmedien.de Text: Eva Keller | Foto: Melanie Wehnert/SOZIALHELDEN e.V. Mit statt trotz Behinderung Das Projekt „leidmedien.de“ gibt Journalisten Tipps für eine klischeefreie und sensible Berichterstattung über Menschen mit Behinderung. „Ein Rollstuhl ist keine Einschränkung, sondern ein Fortbewegungsmittel. Sollten Sie tatsächlich jemanden treffen, der an den Rollstuhl gefesselt ist, binden Sie ihn los!“ Michael Z. Raul Krauthausen ist kein Haarspalter. Ob die Leute ihn „Mensch mit Behinderung“ oder „behindert“ nennen, ist ihm ziemlich einerlei. Was er aber nicht über sich lesen möchte ist, dass er „an seinen Rollstuhl gefesselt“ sei oder dass er „an der Glasknochenkrankheit leiden“ würde. „Denn solche Formulierungen lassen negative Bilder im Kopf entstehen und prägen so die Wahrnehmung behinderter Menschen in der Öffentlichkeit“, stellt Krauthausen klar, der deshalb mit seinem Verein „Sozialhelden“ das Projekt leidmedien.de initiiert hat. Leidmedien.de will Journalisten für die Berichterstattung über Behinderung sensibilisieren, also erreichen, dass Journalisten Klischees infrage stellen und Worte sorgsam wählen. Dafür haben die „Leidmedien“Macher auf ihrer Homepage jede Menge Tipps zusammengestellt und positive wie negative Beispiele kommentiert. Dabei wird das Lieblingsklischee der Medien deutlich: der behinderte Mensch als Opfer einer Behinderung. Die nämlich wird von Journalisten oft als großes Unglück dargestellt und das Leben des Behinderten auf Leid und Abhängigkeit reduziert. Was nicht nur die Angst vor Behinderung verstärkt, sondern auch die Realität verzerrt. Nicht ohne Grund sagt deshalb Michael Z., stellvertretend für viele andere Rollstuhlfahrer, auf einem „Leidmedien“-Plakatmotiv: „Ein Rollstuhl ist keine Einschränkung, sondern ein Fortbewegungsmittel. Sollten Sie tatsächlich jemanden treffen, der an den Rollstuhl gefesselt ist, binden Sie ihn los!“ Wo es Opfer gibt, gibt es aber auch Helden – bei den Paralympics zum Beispiel waren jede Menge Sportler erfolgreich, die ihre Behinderung „meistern“ oder „bewundernswerte Leistungen“ bringen. Oder die SPD-Politikerin Malu Dreyer, für „Bild“ ist sie „Deutschlands tapferste Politikerin“. Im Herbst 2012 wurde sie zur Nachfolgerin des rheinland-pfälzischen Ministerpräsidentin Kurt Beck bestimmt – „trotz ihrer MS-Erkrankung“, wie landauf, landab zu lesen war. Info leidmedien.de Leidmedien.de ist ein Projekt von „Sozialhelden“ – einem gemeinnützigen Verein, der gemeinsam mit vielen Freiwilligen Projekte anstößt, die auf soziale Probleme aufmerksam machten – und sie im besten Fall beseitigen. Die „Sozialhelden“ erhielten eine Gründungsförderung von der Robert-Bosch-Stiftung und kooperieren mit der Aktion Mensch e. V. Die Grimme-Online-Jury hat nun Leidmedien e. V. in die Nominiertenliste für den Publikumspreis 2013 aufgenommen, weil: „Die Inhalte ... sowie die stets aktuelle Kommunikation über Twitter und Facebook ... dazu beitragen, eine breite Öffentlichkeit zu sensibilisieren ...“ Die Preise werden am 21.6. in Köln verliehen. www.leidmedien.de http://sozialhelden.de www.grimme-institut.de/html 56 Grund zur Freude: Leidmedien e. V. (in der Mitte des Teams: Initiator Raul Krauthausen) ist für den GrimmeOnline-Publikumspreis 2013 nominiert. Medium Magazin #06/2013 Das kleine Wörtchen „trotz“ macht also einen großen Unterschied. Und es verrät zweierlei: Dass im Bewusstsein des Autors noch nicht angekommen ist, dass die Teilhabe von Menschen mit Behinderung in Politik, Medien, Sport etc. selbstverständlich ist. Oder dass er skeptisch ist, ob der Mensch mit Behinderung seinem Job oder dem Alltag tatsächlich gewachsen ist. „Für behinderte Menschen ist das, was sie alltäglich tun, aber völlig normal“, sagt Krauthausen: „Dafür erwarten sie weder Bewunderung noch Lob.“ Es geht leidmedien.de also auch um eine ganz und gar journalistische Frage: „Hat diese Geschichte überhaupt einen Nachrichtenwert?“ Krauthausen erinnert an eine Sat1-Serie mit dem Titel „Die große Welt der kleinen Menschen“, die kleinwüchsige Menschen im Alltag begleitete – und damit vor allem die Neugier der Zuschauer befriedigt habe. Da sei der oft diskriminierende Umgang von nichtbehinderten mit den kleinwüchsigen Menschen nicht problematisiert worden. Zum Beispiel, als Passanten in vollen Einkaufszonen gegen die Rollstühle der Protagonisten rannten, aus Unachtsamkeit oder mit Absicht, weil sie sich vom Anblick Behinderter gestört fühlten. Andererseits beobachten Krauthausen und seine „Leidmedien“-Kollegen, dass die tatsächlich unangenehmen Themen aus dem Leben von behinderten Menschen – wie die häufig prekären finanziellen Lebensumstände – in den Medien kaum stattfinden. Die Berichterstattung bleibt oft im Privaten, und dabei gilt: „Je privater, desto Opfer“, wie Krauthausen zuspitzt. Einen großen Unterschied zwischen kleineren und renommierten Zeitungen, zwischen öffentlich-rechtlichen und privaten Sendern kann „Leidmedien“ übrigens nicht erkennen, was die Sensibilität der Berichterstattung angeht. „Das hängt eher von einzelnen Journalisten ab – aber das können wir ändern“, sagt Krauthausen. Mit leidmedien.de ist der Anfang gemacht, langfristig will „Leidmedien“ in Redaktionen und Journalistenschulen aber auch Workshops anbieten. Da können Journalisten dann auch Fragen stellen wie diese: Macht es denn wirklich keinen Unterschied, „Mensch mit Behinderung“ oder „behindert“ zu sagen? „In der Bedeutung schon, aber nicht in der Wertung“, sagt Krauthausen: Denn während die erste Formulierung den „Menschen“ betone, lässt das Wort „behindert“ ja offen, ob jemand behindert ist oder durch sein Umfeld behindert wird ... Eva Keller ist freie Journalistin in Frankfurt. [email protected] P ra x is b e r ü h r u n g s ä n g s t e „Viel zu verkopft“ Andere Menschen verstehen zu wollen und sich ihre Perspektive für einen Moment zur eigenen zu machen, gehört für Journalisten zum Alltag. Trotzdem scheint es manchmal unmöglich. So ging es mir kürzlich, als ich mich für eine Reportage über die Jobchancen behinderter Menschen mit dem 20-jährigen Azubi Finn-Janne Smidt traf. FinnJanne macht gerade in Berlin eine Ausbildung zum Sport- und Fitnesskaufmann und er hat nur eine Sehkraft von zwei Prozent. Sein Arbeitsplatz sieht dementsprechend anders aus als der eines Büroangestellten ohne Sehbehinderung. Er braucht eine spezielle Leselupe, Texte lässt er sich von einer speziellen Sprachsoftware vorlesen. Viel Technik, die man gut beschreiben kann. Als ich aber den Arbeitsalltag von FinnJanne darstellen und eigentlich zeigen wollte, wie einfach und unkompliziert das alles bei ihm abläuft, wurde es plötzlich kompliziert – für mich: Ich begann jeden einzelnen Satz mehrmals zu drehen und zu wenden. Darf man erzählen, dass die Büroeinrichtung nicht mehr ohne das Einverständnis des Lehrlings umgeräumt werden darf, weil sich Finn-Janne ansonsten nicht zurechtfindet? Wirft es ein falsches Licht auf die Leistungen des jungen Mannes, wenn ich schildere, dass er beim Protokollschreiben in Besprechungen immer eine riesige Menge Papier verbraucht, weil er so groß schreibt, dass er es selbst auch erkennen kann? Als Finn-Janne mir all das erzählte, war ich froh, dass er dabei auch herzlich lachte. Beim Schreiben habe ich mich schließlich genau daran festgehalten. Denn das, was man als vermeintliche Schwächen ansehen könnte, ist damit zu etwas ganz Selbstverständlichem geworden. Aber wie fühlt es sich an, denjenigen, mit dem man spricht, nur in Umrissen zu sehen? Und wie surft man in Internet, wenn man nicht lesen kann, worauf man klickt, sondern es von einer Computerstimme gesagt bekommt? Vorstellen konnte ich mir das nicht, bevor ich den 20-Jährigen an seinem Schreibtisch besucht habe. Ich war mir erst sehr unsicher, wie detaillreich ich beschreiben sollte, wie FinnJanne arbeitet und welche Tricks er benutzt, um sich zurechtzufinden. Dass er beispielsweise mit dem Gesicht ganz nah an den Monitor geht, um etwas darauf zu erkennen. Zuerst bin ich sehr verkopft an mein Thema gegangen. Ich hatte Glück, mein Gesprächspartner hat mir gezeigt, wie normal das Unnormale sein kann, dass er zwar manches anders macht, aber darüber auch mal lachen kann. Mein Thema waren die Jobchancen behinderter Menschen. Dabei wollte ich auch zeigen, wo es Schwierigkeiten gibt – ohne dem Protagonisten damit eine Opferrolle zuzuschreiben. Denn für ihn ist vieles ganz selbstverständlich, was mir erst einmal komisch erschien. Diese Begegnung hat mir die Augen geöffnet – für die notwendige Unvoreingenommenheit für das Thema. Das wollte ich dann auch in meinem Text rüberbringen. Jana Tashina Wörrle ist freie Journalistin in Berlin. [email protected] Medium magazin 57