1. Einleitung

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1. Einleitung
1. Einleitung
Videoclips sind ein zentraler Bestandteil der zeitgenössischen Bildproduktion und
zugleich ein Spiegel unserer Zeit. Als Teil einer umfassenden visuellen Kultur bestimmen Videoclips zunehmend unsere Wahrnehmung und üben durch ihre spezifische Ästhetik einen großen Einfluss – auch auf andere Medien – aus.
Seit Ende der 70er Jahre haben sich Videoclips sowohl in technischer als auch in
ästhetischer Hinsicht kontinuierlich weiterentwickelt, wobei das Spektrum von reinen
Performance-Videos bis hin zu komplexen Konzept-Clips reicht. Von Beginn an
wurden Videoclips dazu benutzt, technische und ästhetische Experimente durchzuführen, wurden Elemente anderer Künste aufgenommen und miteinander kombiniert, wodurch sich zugleich eine ganz eigene, wieder erkennbare Ästhetik entwickelte.
Einen Kristallisationspunkt dieser Entwicklung markieren die 90er Jahre. Denn
hier entsteht ein großes Feld ambitionierter Videoclips, die immer stärker als eigenständige künstlerische Ausdrucksform angesehen und in den Kontext von Kurzfilmen
und Medienkunst gestellt werden. Immer wieder sind es einzelne Videoclipregisseure,
die sich durch ihre spezifische Bildsprache hervortun und dadurch kontinuierlich die
Bildsprache des Videoclips weiterentwickeln – zu nennen wären hier neben Jonathan
Glazer, Chris Cunningham, Mark Romanek und Michel Gondry etwa Spike Jonze,
Floria Sigismondi, Stéphane Sednaoui, Anton Corbijn und Hype Williams. In diesen
so genannten Autoren-Videoclips werden beständig neue Bilder entworfen und zu
bildlichen Topoi verdichtet, die einen großen Einfluss auf das Feld des Videoclips
und andere Medien ausüben.
In dieser Arbeit wird eben dieser besonderen Entwicklung, die der Videoclip in
den 90er Jahren vollzieht, nachgegangen. In vier zentralen Kapiteln soll untersucht
werden, auf welche Weise die vier ausgewählten Regisseure Jonathan Glazer, Chris
Cunningham, Mark Romanek und Michel Gondry ihre spezifische Bildsprache herausbilden und welche Verfahren sie entwickeln, um die musikalische Grundlage
immer wieder auf neue Weise visuell auszugestalten. Den Ausgangspunkt und die inhaltliche Klammer bildet jeweils die Frage nach der Konstruktion des Raums. Diese
Perspektive lässt sich in zwei zentrale Fragestellungen aufschlüsseln, die grundlegend
für die Analyse sind: Einerseits soll untersucht werden, auf welche Weise sich diese
Regisseure mit bestimmen Räumen – seien dies nun großstädtische Räume, Welträume oder virtuelle Räume – und deren Veränderungen auseinandersetzen. Welche
Position nehmen sie also gegenüber dem Raum ein, d. h. werden die großstädtischen
Räume, die Welträume und virtuellen Räume positiv oder negativ kodiert und welche
Thesen lassen sich daraus ableiten?
Die zweite Fragestellung ist grundlegender und betrifft das Medium Videoclip
selbst, indem sie danach fragt, auf welche Weise Raum im Videoclip überhaupt
produziert wird. Ausgangspunkt hierfür ist die These, dass die Musik nicht allein als
Grundlage, sondern auch als Zielpunkt der visuellen Ausgestaltung zu begreifen ist.
Wie werden also die Sukzessivität und die Dynamik der Musik – auf einer abstrakten
Ebene betrachtet – in eine visuelle räumliche Form überführt? Wie gestaltet sich
jeweils das Verhältnis von Raum und Bewegung? An welchen Punkten werden genuin
bewegte Räume erschaffen und wann wird wiederum auf konventionelle Raumkonzepte zurückgegriffen?
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Um den Korpus der zu betrachtenden Videoclips einzugrenzen, werden von
jedem Regisseur drei Videoclips eingehend analysiert. Eingebettet werden diese Analysen in den Kontext der weiteren Videoclipproduktion des jeweiligen Regisseurs, um
dadurch Aussagen über die jeweils spezifische Umgangsweise mit dem Raum abzuleiten.
Die Auswahl der Regisseure begründet sich zunächst darin, dass sie sich in ihren
Videoclips mit einem sehr breiten Spektrum unterschiedlicher Räume auseinander
setzen. Darüber hinaus zeichnen sie sich dadurch aus, dass sie Videoclips als ein weites Experimentierfeld begreifen, in dem sowohl veränderte Bedingungen von Räumlichkeit und Körperlichkeit reflektiert (wie etwa in Konfigurationen postmoderner
Großstädte) als auch neue Raum-Körper-Verhältnisse erprobt werden können (wie
etwa in Konfigurationen virtueller und utopischer Räume).
Für diese Fragestellung ist es sinnvoll, Videoclips in einem ersten Schritt in das
Feld der visuellen Kultur einzuordnen. In welchem Verhältnis stehen also Videoclips
zu anderen ästhetischen Formen wie beispielsweise Medienkunst, Kurzfilmen oder
auch der Werbung? Und wie verändern sich die Einschätzungen des Videoclips als
Schnittstelle zwischen Medienkunst, Kurzfilm und Werbung im Verlauf der
20jährigen Forschungsgeschichte? Welche Entwicklungslinien einer Videoclipästhetik
lassen sich ausmachen, worauf greifen sie zurück und welchen Einfluss üben sie wiederum auf andere Medien wie beispielsweise den Film aus? Wo sind Videoclips zwischen Avantgarde und Populärkultur situiert?
Ausgehend von dieser ersten Einordnung der Videoclips in ihren medialen,
künstlerischen und populärkulturellen Kontext werden im zweiten Teil sowohl ein
Überblick über aktuelle Raumdiskurse gegeben als auch zentrale Begrifflichkeiten
raumtheoretischer Positionen dargelegt. Betrachtet man die Fülle aktueller Raumdiskurse, so wird sehr schnell deutlich, dass dem Raum in der gegenwärtigen Forschungslandschaft eine sehr große Relevanz zugesprochen wird. Dies hat zur Folge,
dass räumliche Kategorien in den unterschiedlichsten Bereichen eine regelrechte
Renaissance erleben. Insbesondere im Bereich der Kulturwissenschaften lässt sich –
unter dem programmatischen Begriff des ‚topographical turn‘ gefasst – eine deutliche
Wende hin zu raumtheoretischen Konzeptionen kultureller Phänomene beobachten.
Diese Vielfalt der Positionen und Ansätze führt jedoch auch zu zunehmenden begrifflichen Verwirrungen und Unsicherheiten darüber, was die jeweiligen Raumbegriffe
überhaupt aussagen und worin ihre Grenzen liegen.
So ist es gerade vor dem Hintergrund aktueller raumbegrifflicher Konjunkturen
notwendig, die eigenen Raumbegriffe hinsichtlich des Analysegegenstands zu reflektieren und zu modifizieren. Aus diesem Grund sollen in diesem zweiten Teil nicht
allein einzelne zentrale Raumtheorien aus dem breiten raumtheoretischen Feld herausgegriffen, sondern zunächst die grundsätzliche Frage danach gestellt werden, wie
Räume im Videoclip überhaupt erzeugt werden. Welchen Voraussetzungen muss also
ein Raumbegriff für die Analyse genuin bewegter Räume, wie sie in Videoclips zu finden sind, genügen? Eine solche Fragestellung hat sich insbesondere mit Raumkonzepten zu beschäftigen, die den Raum in enger Verknüpfung mit dem Körper sehen, ja
den Raum überhaupt erst aus den Lagebeziehungen einzelner Körper ableiten, wozu
im Bereich der Soziologie in den letzten Jahren zahlreiche Arbeiten vorgelegt wurden.
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Insbesondere im Bereich des Videoclips ist davon auszugehen, dass der Raum in
radikaler Weise über die Bewegung zu denken ist, dass der Raum also erst durch die
permanente Bewegung der Figuren erschlossen wird. Die Räume in Videoclips – so
könnte eine erste Hypothese lauten – sind bewegte Räume, die durch ihre permanenten
Fragmentierungen, Überblendungen und Techniken des Morphing bisherige Raumkonzepte grundlegend in Frage stellen. Hier werden Räume entworfen, die zu keinem
Zeitpunkt stabil, sondern in einer permanenten Bewegung, in einem kontinuierlichen
Fluss begriffen sind und immer wieder neue Formen herausbilden.
Um diese Hypothesen zu überprüfen, ist jedoch ein präzises Vokabular notwendig. Dieses Vokabular soll anhand einzelner zentraler Raumtheorien herausgearbeitet
werden, die sich insbesondere auf drei Themenbereiche konzentrieren: erstens die
grundlegende begriffliche Differenzierung von Ort und Raum bei Michel de Certeau
in seiner Arbeit Praktiken im Raum, zweitens die Veränderung des (großstädtischen)
Raums durch Nicht-Orte und Transiträume in Marc Augés Arbeit Orte und Nicht-Orte.
Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit und drittens die Diskussion sozial konstituierter, gegenkultureller Räume in Michel Foucaults einflussreichem Essay Andere
Räume. Diese drei Ansätze werden jeweils in ihren raumtheoretischen Kontext gestellt
und durch ergänzende Positionen weiter entfaltet, wie etwa durch die Fragen nach der
Relation von Raum und Horizont, nach Raumverhältnissen in der postmodernen
Großstadt oder nach den Bedingungen und Beschreibungsmöglichkeiten virtueller
Räume.
Auf dieser Grundlage sollen anschließend die spezifischen Raumkonstruktionen
einzelner Videoclipregisseure analysiert werden. Die Videoclips lassen sich hinsichtlich der Arten der Räume in zwei zentrale Gruppen aufteilen: erstens in Konfigurationen postmoderner Großstädte, die im Zentrum der Videoclips von Jonathan Glazer
und Chris Cunningham stehen, und zweitens in Konfigurationen neu erschlossener,
technischer Räume, wie beispielsweise die Raumschiffe und virtuellen Räume, die in
den Videoclips von Mark Romanek und Michel Gondry gezeigt werden.
Neben dieser Einteilung in unterschiedliche Raumgruppen wird in den einzelnen
Kapiteln insbesondere danach gefragt, inwiefern diese vier Regisseure das komplexe
Verhältnis von Bild, Musik und Text ausgestalten, wie sie also das Verhältnis von
räumlicher und musikalischer Struktur, von Raum und Bewegung jeweils konfigurieren. Dabei zeigen sich bei den einzelnen Regisseuren ganz unterschiedliche und doch
wieder erkennbare Verfahren, den jeweiligen Raum zu gestalten – sei es nun durch ein
bestimmtes Figurenarsenal, das immer wieder aufgerufen wird, oder auch durch den
Einsatz bestimmter visueller Elemente, die zu regelrechten visuellen Topoi verdichtet
werden. Ziel der Analysen ist es nicht zuletzt, bestimmte Entwicklungslinien und
Konstanten der jeweiligen Bildsprache herauszuarbeiten.
Jonathan Glazers narrative Videoclips – in diesem Fall Rabbit in Your Headlights
von U.N.K.L.E., Karma Police von Radiohead und Karmacoma von Massive Attack –
thematisieren Individuen, die sich am Rande der Gesellschaft befinden (als Obdachlose, Verfolgte oder Kriminelle) und somit in eine Position der Ausgrenzung geraten.
Die Räume in den drei Videoclips sind jeweils Wege bzw. Wegstrecken, die im Verlauf des Videoclips von den Figuren durchschritten werden. Paradox an diesen Wegstrecken ist jedoch, dass sie nicht mehr erfahrbar oder gar beherrschbar sind, sondern
sich Schritt für Schritt als Endlosschleifen entpuppen.
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In den narrativen Videoclips von Chris Cunningham – Africa Shox von Leftfield,
Come to Daddy von Aphex Twin und Come on My Selector von Squarepusher – wird eine
Welt inszeniert, in der sich Horrorszenarien in die Räume der großstädtischen Zentren und Peripherien einschreiben. In Cunninghams dunklen, bedrohlichen Settings
werden unterschiedliche Transformationsmöglichkeiten von Raum und Körper bis
hin zur letztendlichen Destruktion durchgespielt, wodurch sie zugleich die Frage nach
der potenziellen Unbeherrschbarkeit der Technik auf den Plan rufen.
Die Videoclips von Mark Romanek und Michel Gondry sind diesen beiden
Beispielgruppen sowohl in filmästhetischer als auch in thematischer Hinsicht grundlegend entgegengesetzt. So zeichnen sich die Videoclips Mark Romaneks – in diesem
Fall Scream von Janet & Michael Jackson, Bedtime Story von Madonna und Perfect Drug
von den Nine Inch Nails – durch ihre besondere, an der Fotografie orientierte Bildsprache mit einer starken ästhetischen Wirkung aus. Als Grundkonstante werden in
Romaneks Videoclips immer wieder ‚andere Räume‘ aufgerufen, die den jeweiligen
Künstler in einen vollkommen neuen Kontext setzen. Die Räume in den Videoclips
Romaneks werden zu Bildern, zu in sich geschlossenen Bildeinheiten verdichtet, die
jedoch in einem permanenten Austausch mit den Werken der Bildenden Kunst, insbesondere mit den Werken des Surrealismus und des Barock stehen.
Michel Gondry experimentiert in seinen Videoclips – Hyperballad von Björk,
Lucas with the Lid Off von Lucas und Around the World von Daft Punk – mit immer
unterschiedlichen Verfahren, seine Räume klar nach musikalischen Strukturen zu
organisieren, also einzelne visuelle Versatzstücke bestimmten Instrumenten oder auch
musikalischen Passagen zuzuordnen. Auf diese Weise gestaltet er das Verhältnis von
Bild, Musik und Ton als eine komplexe Struktur musikalischer Räume in der Tradition
visueller Musik aus.