Gott im Horizont der Existenz des Menschen Das Gottesverständnis

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Gott im Horizont der Existenz des Menschen Das Gottesverständnis
Gott im Horizont der Existenz des Menschen
Das Gottesverständnis der Neuzeit
Karl Barth
Zu Beginn des 19. Jh.s verkündete Schleiermacher in
5 seinen Reden über die Religion, dass die Religion ihre
Zukunft noch vor sich habe: In vielen wird sie sich entwickeln aus einer von unzähligen Veranlassungen und
in neuem Boden zu einer neuen Gestalt sich bilden.
Beim Anbruch des 20. Jh.s, im Winter 1899/ 1900, hält
10 der damals bekannteste evangelische Theologe, Adolf
von Harnack, eine große Vorlesungsreihe Das Wesen
des Christentums. Auch hier begegnet die feste Überzeugung: Die Religion, die Jesus in seiner Predigt vom
Reich Gottes gebracht hat, ist das Wichtigste, ja das
15 Entscheidende, was der Mensch erleben kann, dass es
die ganze Sphäre seines Daseins durchdringt und beherrscht, weil die Sünde vergeben und das Elend gebrochen ist. Es ist ein hohes, herrliches Ideal, welches
wir hier von der Grundlegung unserer Religion her
20 erhalten haben, ein Ideal, welches unserer geschichtlichen Entwicklung als Ziel und Leitstern vorschweben
soll. 14 Jahre später bricht der Erste Weltkrieg aus. Das
Wunschbild, dass diese Welt sich dank der Religion im
Sinn humaner und religiöser Ideale immer weiter ent25 wickeln würde, zerbricht im Einsatz von Giftgas und in
dem sinnlosen Stellungskrieg von Verdun, der Tausende
junger Menschen das Leben kostet. Für viele, die mit
diesen Idealen in das Feld gezogen waren, bedeutete es
einen tiefen kulturellen und religiösen Schock.
30 Wie kann man nach solchen mörderischen Schlachten
noch von Gott reden? Schärfer noch gefragt: Wie war es
möglich, dass Adolf Harnack – und mit ihm auch andere Theologen – 1914 ein Manifest unterschrieben, in
dem dieser Krieg als nationale Pflicht begründet und
35 gerechtfertigt wurde?
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Der Sinn der Religion ist der Tod [...] Religion ist alles
andre als Harmonie mit sich selbst oder gar noch mit
dem Unendlichen. Hier ist kein Raum für noble Gefühle
und edle Menschlichkeit. Das mögen arglose Mitteleuropäer und Westler meinen, solange sie es können.
Hier ist der Abgrund, hier ist das Grauen. Hier werden
Dämonen gesehen, so formulierte damals ein junger
Schweizer Pfarrer unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs in einer Auslegung zum Römerbrief. Gnade ist
Krisis vom Tode zum Leben. [...] Darum ist die Heilsbotschaft von Christus die Beunruhigung, die Erschütterung, der alles in Frage stellende Angriff schlechthin.
Darum gibt es nichts Sinnloseres als den Versuch, eine
Religion aus ihr zu machen, d.h. eine menschliche Möglichkeit oder Notwendigkeit, neben der es andere gibt.
Dieser Versuch, bewusster als je zuvor unternommen
von der protestantischen Theologie seit Schleiermacher, ist der Verrat an Christus. Diese Auslegung des
Römerbriefes von dem damals noch kaum bekannten
Karl Barth versucht, in neuer Weise, auch in einer neuen
expressiven Weise, von Gott zu reden: Gott ist die
Krisis aller Kräfte, das ganz andere; man kann deshalb
eigentlich gar nicht von ihm reden, weil er sich nicht in
die Sprache und Denkweise des Menschen fassen lässt.
Es sind höchstens Aussagen möglich, die sich gegenseitig aufheben, die Gottes Wesen und Wirken nur antithetisch in Ja und Nein, nur dialektisch ausdrücken. Der
Römerbrief ist der erste Versuch einer solchen dialektischen Rede von Gott, der Dialektischen Theologie, wie
man diese neue theologische Denkweise bald nennt.
Karl Barth, 1886 in Basel geboren, von 1909 bis 1921
Pfarrer in Genf und Safenwil, wird zum entscheidenden
Theologen dieser Dialektischen Theologie. Er übernimmt Professuren in Göttingen, Münster und Bonn,
70 wird 1935 als eine der führenden Gestalten des Kirchenkampfes aus Deutschland ausgewiesen, war daraufhin
von 1935 bis 1962 Professor für systematische Theologie in Basel und starb dort 1968. Sein wichtigstes
Werk ist die Kirchliche Dogmatik, zwischen 1932 und
75 1968 erschienen.
Der ganz andere Gott
Wie aber lässt sich überhaupt von Gott reden? Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wie
80 sollen Beides [...] wissen und eben damit Gott die Ehre
geben. Das ist unsere Bedrängnis. Alles Andere ist daneben ein Kinderspiel. Die Möglichkeit, von Gott zu
reden, erschließt sich allein dadurch, dass Gott den
Menschen mit seinem Wort trifft, dass er ihm begegnet.
85 Es geht nicht wie bei Kant um einen Akt der Erkenntnis
oder wie bei Schleiermacher um eine religiöse Erweckung, sondern um einen Akt der Begegnung. Diese
Begegnung ermöglicht Glauben im Sinne von Vertrauen: Vertrauen ist der Akt, in dem ein Mensch sich ver90 lassen darf auf die Treue eines anderen, dass dessen
Zusage gilt, und dass das, was er fordert, notwendig
gefordert wird.
So ist der Mensch existentiell am Akt des Glaubens beteiligt. Dies aber lässt sich für Karl Barth wieder nur
95 dialektisch formulieren: Der Glaube ist die Entscheidung des Menschen – jedoch eine Entscheidung, die erst
in der Begegnung mit Gott möglich wird, bei der also
nicht der Mensch, sondern Gott selbst das ermöglichende und handelnde Subjekt ist. Nur so kann für Barth
100 abgesichert werden, dass der Mensch Gott nicht im Sinn
einer Idee oder eines Schicksals missversteht und missbraucht.
Entsprechendes gilt auch für das Verstehen des Glaubens. In der Begegnung mit Gott erschließt sich Gott in
105 seiner transzendenten Wirklichkeit. Und doch ist dem
Menschen von sich aus ein Zugang zu dieser Transzendenz, zur jenseitigen Wirklichkeit Gottes, verschlossen.
Gott darf nicht zum Gegenstand, zum Objekt menschlicher Spekulation werden. Er ist der ganz andere. Ein
110 Anknüpfen an menschliche Erfahrungen, eine Gotteserkenntnis, die sich z.B. auf das Walten Gottes in der
Natur oder auf die Ehrfurcht vor dem Leben bezieht,
gibt es für Karl Barth nicht.
Theologische Eindeutigkeit
115 Diese theologische Zuspitzung auf die Unverfügbarkeit
Gottes sollte ihre Bedeutung sehr schnell in den kirchlichen und politischen Auseinandersetzungen im Dritten
Reich erweisen. Damals hatten viele Christen die Hoffnung, dass es in Deutschland nicht nur zu einer nationa120 len Erstarkung, sondern auch zu einer religiösen Erweckung kommen würde. Hitler wurde von vielen als
Werkzeug Gottes gesehen, als der Retter, den Gott den
Deutschen in der Stunde der Not geschenkt habe, und
eine Gruppierung von Christen, die eine Verbindung
125 von Glaube und deutschem Volkstum suchte – sie nannte sich deshalb – Deutsche Christen –, trat 1933 mit
einer Erklärung an die Öffentlichkeit, in der es heißt:
Wir sehen in Rasse, Volkstum und Nation uns von Gott
geschenkte und anvertraute Lebensordnungen, für
130 deren Erhaltung zu sorgen uns Gottes Gesetz ist. Daher
ist der Rassenvermischung entgegenzutreten.
Beziehung, die Gott selbst lebt und dem Menschen
195 offenbart.
Demgegenüber formierte sich ebenfalls 1933 eine Gruppe von Pastoren und Laien, die stark durch die TheoloKritische Würdigung
gie Karl Barths beeinflusst war. Sie nannte sich Die BeKarl Barth hat in seinem theologischen Werk zwei
135 kennende Kirche und führte 1934 in Wuppertal-Barmen
Grundgedanken des christlichen Glaubens durchgehaleine Bekenntnissynode durch, auf der die Barmer Theoten: Gott ist und bleibt im Gegenüber zu allen menschlogische Erklärung als gemeinsame Bekenntnisgrund200 lichen Vorstellungen und Begriffen der ganz andere, und
lage einstimmig verabschiedet wurde. Diese Erklärung
der Glaube verdankt sich nicht sich selbst, sondern der
trägt in starkem Maße Karl Barths Handschrift. In ihr
Begegnung mit diesem Gott und seiner Wirklichkeit, die
140 heißt es:
die eigene Lebenswirklichkeit transzendiert.
1. Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift
Dies war für die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen
bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu
205 entscheidend und wirkte sich auch auf das theologische
hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen
Denken nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aus. Die
und zu gehorchen haben. Wir verwerfen die falsche
evangelischen Theologen, die Karl Barth folgten, konn145 Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer
ten so die Unverwechselbarkeit des Gottes der Bibel
Verkündigung außer und neben diesem einen Worte
gegenüber aller Vermischung von Glaube und Religion,
Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Ge210 Kultur und Politik durchhalten. Allerdings hat Karl
stalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerBarth dafür einen hohen Preis gezahlt: Er hat die gekennen.
schichtlichen Bedingungen des theologischen Verste150 Die Eindeutigkeit, in der Karl Barth sein Gottesverhens vernachlässigt. Die Quelle der Offenbarung – das
ständnis gegenüber jeglicher nationaler, politischer und
Wort Gottes – ist selbst ein geschichtliches Dokument
religiöser Ideologie formuliert hatte, erwies sich in den
215 und will mit den Kategorien historisch-kritischen VerJahren des Kirchenkampfes für die Bekennende Kirche
stehens erschlossen sein. Zugleich geht es um die Frage
als großer Rückhalt.
nach dem Lebensbezug des Glaubens. Welche Beziehung besteht zwischen den eigenen täglichen Erfah155 Die Menschlichkeit Gottes
rungen des Menschen und der Frage nach Gott? Wie
220 wird der Glaube verstehbar, nachvollziehbar für den
Gott ist für Karl Barth der ganz andere. Er offenbart
Menschen der Gegenwart, der nicht mehr die metasich selbst nicht durch einen anderen. Er offenbart sich
physischen Denkvoraussetzungen teilt, von denen Karl
selbst durch sich selbst. [...] Gott ist darin Gott, dass
Barth ausgeht?
wir ihn nur auf Grund seiner Offenbarung, nicht von
160 uns aus, sondern nur gegen uns erkennen, nur indem
wir uns selbst zum Wunder werden, glauben können. So
formulierte er es 1935, mitten in der Zeit des KirchenQuelle: H. Freudenberg / K. Goßmann, Sachwissen
kampfes, ebenso eindeutig wie einseitig. Wie aber macht 225 Religion, Göttingen 1995, 162-164
sich Gott dem Menschen begreiflich?
165 Karl Barth ist nicht bei den dialektischen Aussagen seiner Gotteslehre stehengeblieben, sondern er hat sie in
seiner Kirchlichen Dogmatik ergänzt um den Gedanken
der Menschlichkeit Gottes. In Jesus Christus ist Gott
dem Menschen als Mensch, als ein menschliches Du
170 begegnet. Dies bedeutet, dass Gott sich nun selbst, sein
Wesen und Denken, in dem Menschen Jesus erschließt
und zu erkennen gibt. Damit wird es uns möglich, Aussagen über Gott zu machen.
● Er ist der Handelnde, nicht eine Idee, das Univer-
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sum, das höchste Weltprinzip, sondern derjenige, der
in Jesus Christus sich dem Menschen zuwendet und
zu seinem Heil handelt.
● Er ist nicht der Gott einsamen Seins, sondern er
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selbst ist Beziehung. Denn Jesus Christus ist auch für
ihn das Du, das in dieser Beziehung zu Gott lebt und
sie dem Menschen erschließt.
● Er ist der Gott, der dem Menschen seine Liebe in
freier Wahl gewährt. Darin gibt er dem Menschen
seine Bestimmung vor: erwählt zur Liebe.
185 Doch bei all diesen Aussagen gilt der Vorbehalt, der
dem dialektischen Denken entspricht: Gott begreifen
heißt nicht, ihn mit Hilfe menschlicher Begriffe zu erfassen. Vielmehr geht es darum, dass sich aus der Offenbarung und der Selbsterschließung erst ergibt, wie die
190 menschlichen Begriffe neu zu sehen und zu verstehen
sind, z.B. das Verständnis vom Vater, das das wahre
Vatersein am Vatersein Gottes abliest, das Bild der
menschlichen Ehe, das sich in Analogie versteht zu der
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Metaphysik [griechisch], die Wissenschaft von den ersten Prinzipien des
Seienden. Die Bezeichnung Metaphysik rührt daher, dass in der seit dem 1.
Jahrhundert v. Chr. üblichen Anordnung der Werke des Aristoteles die abstraktphilosophischen Schriften nach den naturwissenschaftlichen Schriften kamen
(meta ta physika, „nach der Physik“). Gegenstand der Metaphysik ist ursprünglich das Allgemeinste des Wissens: das Sein und dessen Bestimmungen, die
Ursachen allgemein sowie auch die erste Ursache, das göttliche Sein. Der
geläufigere Sinn von Metaphysik als Erkenntnis des Übernatürlichen, Überweltlichen, Übervernünftigen ist neuplatonischen Ursprungs: die Metaphysik hat
danach nicht so sehr das Seiende und dessen Prinzipien zum Gegenstand, sondern
das Erste in der Rangfolge des Seienden, die intelligiblen Ideen. Im Mittelalter
wurde die Metaphysik als philosophische Theologie gefasst, die das Fundament
der dogmatischen Theologie bildete; insofern in ihr die Lehre von Gott als Lehre
von den Prinzipien des Seins ausgeführt wurde. Mit der Entstehung des neuzeitlichen Methodenbewusstseins (R. Descartes) trat eine immer schärfere Trennung
zwischen der aristotelischen und der neuplatonischen Auffassung von der Metaphysik ein: Die Metaphysik als Ontologie wurde zur Kategorien-, Erkenntnis- und
Wissenschaftslehre; die Metaphysik als Wissen vom Übersinnlichen wurde zur
Glaubens- und Weltanschauungslehre; ihr immer wieder erhobener Anspruch, den
Sinn des Transzendenten durch Intuition zu erkennen, verfiel der Kritik der
Kantischen Erkenntnistheorie. Kant wollte jedoch nicht die Metaphysik als solche
bestreiten, sondern sie von falschen Ansprüchen reinigen und sie so als Wissenschaft möglich machen. Der deutsche Idealismus begründete nach Kants Kritik
noch einmal eine Metaphysik als Wissenschaft des Denkens, die darum auch
„Wissenschaftslehre“ (J. G. Fichte), „Logik“ (Hegel) oder „Identitätsphilosophie“ (Schelling) hieß.
Im 19. Jahrhundert war eher die Metaphysikkritik durch L. Feuerbach, S.
Kierkegaard, K. Marx, F. Nietzsche und die „historische Schule“ (W. Dilthey)
wirksam. Um einen heute möglichen Metaphysikbegriff bemühten sich, unter
255 verschiedenen Voraussetzungen, M. Heidegger und K. Jaspers. In der heutigen
Situation ist die Beschäftigung mit der Metaphysik in den Hintergrund getreten,
da insbesondere Sprachphilosophie und Wissenschaftstheorie ihren Platz
einnehmen.
(dtv-Lexikon 2006)