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Zuhören Trinken Mobbing in der Arbeitswelt Die Banalisierung des Leidens Stress, psychischer Druck, Mobbing: In der heutigen Arbeitswelt Realität, oft schwer zu erkennen und zu definieren. Und nie ist das Mobbing subtiler, als wenn es sich gegen schwangere oder stillende Frauen richtet. Solches Leiden ist bisher statistisch nicht erfasst, aber es gilt unter Fachleuten als erwiesen. Die Gesetzeslage in der Schweiz hat sich gebessert, bleibt jedoch kompliziert und ist den meisten betroffenen Frauen nicht bekannt. Ein Überblick. A n i t a Te s t a - M a d e r, Marilena Fontaine ( A T M ) Gibt es ein für die Zeit der Schwangerschaft charakteristisches Mobbing? Definiert wird Mobbing als «eine Abfolge von feindseligen und wiederholten Vorhaben und/oder Aktionen von Kollegen/ Kolleginnen oder Vorgesetzten über längere Zeit hinweg, die sich gegen eine Person richten, welche solchen Angriffen machtlos und ohne Verteidigungsmöglichkeiten ausgesetzt ist. Das Ziel oder die Konsequenz solcher Aktionen ist es oft, die Person von ihrer Arbeitsstelle zu vertreiben.»1 Passieren also Handlungen und Druckversuche, damit beispielsweise eine Schwangere ihre Stelle kündet und so das Recht auf bestimmte Leistungen verliert? Existieren Verhaltensweisen von Seiten der Arbeitgeber oder von Kollegen, die sich gegen eine Frau richten, nur weil sie schwanger ist? Weil eine Schwangerschaft in der Arbeitswelt noch immer als Hindernis gilt? Erwerbstätige Familienfrauen Anita Testa-Mader, Marilena Fontaine, Psychologin, arbeitet in Lehre und Forschung im psychosozialen und arbeitspsychologischen Gebiet sowie in der Gleichstellungsthematik. Juristin, Leiterin der Beratungsstelle für die Gleichstellung der Frau des Kantons Tessin. Das Thema erhält im Kontext der aktuellen Situation besondere Bedeutung: Immer mehr Frauen bleiben auch nach der Geburt der Kinder erwerbstätig. Interessante Feststellung an diesem Kongress hier im Tessin: Der Anteil erwerbstätiger Mütter ist im Tessin kleiner als in den übrigen Sprachgebieten der Schweiz, insbesondere als in der Deutschschweiz. Wie die italieni- sche Soziologin Marina Piazza ausführt, besteht heute die Gefahr, dass Arbeitgeber stark zwischen möglichen Arbeitnehmerinnen unterscheiden: Einerseits wünschen sich Arbeitgeber junge, qualifizierte, engagierte, flexible und kompetitive Frauen. Andererseits fürchten sie, Frauen mit Familienverantwortung einzustellen, deren Vorstellung von Flexibilität sich selten mit ihrer eigenen trifft. Ein weiteres Element ist das notwendige Bewusstsein vom Einfluss der Arbeit auf die Gesundheit: Er kann positiv, Ressource und Bereicherung sein, aber auch äusserst negativ, mit Auswirkungen auf das körperliche und seelische Wohlbefinden, etwa bei sehr schwerer, schädlicher oder unbefriedigender Arbeit oder wenn die Arbeitssituation von verschiedenen Seiten Druck ausgesetzt ist. Die Konsequenzen werden umso gravierender, je schwieriger die sozioökonomische Situation der Angestellten ist (z. B. geringe Qualifikation, allein erziehende Mutter, Migrantin). Wenn dies generell besonders auf Frauen mit Doppelbelastung zutrifft, dann erst recht auf Frauen während der Schwangerschaft, einer Zeit der besonderen Verwundbarkeit und Veränderungen. «Perinatales Mobbing» kommt vor Eine Studie des Bundesamts für Gesundheit2 über den Zusammenhang zwischen Mutterschaft, Berufstätigkeit und Gesund1 2 Seco. Mobbing. Decrizione e aspetti legali, Berna. BAG. Schwangerschaft, Mutterschaft, Erwerbstätigkeit und Gesundheit. Bern 2004. Hebamme.ch S a g e - f e m m e . c h 7- 8 / 2 0 0 5 7 KONGRESS 2005 VIP’s und OK Was wäre ein Hebammenkongress ohne Ehren-, Ex- und aktuelle Präsidentin, ohne Zentralsekretärin und Geschäftsführerin! Und ohne das OK gäbe es ihn gar nicht. heit unterstreicht, dass der Schutz der Mutterschaft nicht nur von juristischen und Versicherungsaspekten abhängt, sondern auch von der sozialen Akzeptanz der Mutterschaft und der erwerbstätigen Mütter, bzw. deren Schutz vor Stress und Mobbing durch die Arbeitswelt. Die Studie hat weder in der schweizerischen noch internationalen Forschungsliteratur Hinweise auf Mobbing in der Schwangerschaft und nach der Geburt gefunden. Experten, die im Rahmen der Studie interviewt wurden, sagten jedoch aus, dass nach ihrer Erfahrung solches Mobbing zwar nicht häufig sei, aber vorkomme. Sie erwähnten Frauen, die dem Druck ihrer Arbeitgeber nachgaben, aus dem Team ausgeschlossen wurden, die ihre Stelle kündeten, weil das Klima bei der Arbeit Kolleginnen aus der Südschweiz Kordula Dattrino ist nicht Hebamme, aber Mutter der Hebamme Jenny Barelli und ausserdem Fachfrau für Buchhaltung. Kordula ist ein Beispiel für das Improvisationstalent und die Vernetzung der Kongressorganisatorinnen. Keine der Hebammen wollte oder konnte das Kassieramt für den Kongress übernehmen, also wurde Kordula angefragt und sie sagte zu. Das Amt war zeitaufwendig, vielfältig und hat Spass gemacht, sagt sie. Und als ein Chauffeur für den Taxidienst zwischen Lugano und Cadro gesucht wurde, kam Kordulas Mann zu Hilfe. Nun war das Organisationskomitee fest in Familienhand: Auch Tochter Jenny gehörte dazu. 8 Hebamme.ch 7- 8 / 2 0 0 5 S a g e - f e m m e . c h unerträglich geworden war. Einige dieser Fälle stehen im Zusammenhang mit dem Widerstand des Arbeitgebers gegen gesetzliche Vorgaben wie das Recht, während der Arbeit zu Stillen. Es wurde auch darauf hingewiesen, dass es Kräfte raubend sei, gegen solche Diskriminierungen juristisch vorzugehen. Aus diesem Grunde reagierten viele Frauen nicht. Wie schon eingangs erwähnt, ist das Konzept des Mobbing zwar komplex zu definieren, aber dennoch relativ restriktiv in seiner Anwendung. Der Ausdruck «perinatales Mobbing» wird jedoch in einem breiteren Sinn auf die Gesamtheit an sozialem Druck und Arbeitsplatzstress im Zusammenhang mit Mutterschaft angewendet, die das Wohlbefinden einer Frau beeinträchtigen. Werden Frauen ungeplant schwanger, sind sie von diesem Druck in noch höherem Masse betroffen als Frauen, die ihr Kind geplant haben. Aber für alle gilt, was der geburtshilfliche Chefarzt einer Mailänder Klinik schreibt: «Die Ängste der Mütter aus den genannten Gründen übertragen sich auf den Fötus oder auf das bereits geborene Kind. Zu jeder gestressten Mutter gehört deshalb auch ein gestresstes und angsterfülltes Kind.» Was sagt das Gesetz? (MF) Die Gesetzeslage zum Mutterschaftsschutz in der Schweiz ist noch immer lückenhaft, nicht koordiniert und schwer zu verstehen. Trotz neu erworbener Erwerbsausfallversicherung für erwerbstätige Mütter bleibt die Tatsache, dass der Schutz der schwangeren und jungen Mutter in verschiedenen Gesetzestexten geregelt wird. Zum Beispiel im Arbeitsgesetz: Schwangere Frauen dürfen nicht mehr als neun Stunden täglich arbeiten; sie haben An- recht auf 80 Prozent des Lohns, wenn sie bestimmte gefährliche oder schädliche Arbeiten nicht mehr ausführen können und man ihnen keinen anderen Arbeitsplatz anbieten kann; sie dürfen in den acht Wochen vor und nach der Geburt keine Nachtarbeit verrichten, ausserdem ist der Zeitaufwand für das Stillen während der Arbeitszeit reglementiert. Das Obligationenrecht verbietet, dass einer Frau während der Schwangerschaft und bis 16 Wochen nach der Geburt gekündigt wird. Das Gleichstellungsgesetz untersagt Diskriminierungen, die im Zusammenhang mit einer Schwangerschaft stehen. Konkrete Situation Teilt eine Arbeitnehmerin mit, dass sie schwanger ist, so bedeutet dies für den Arbeitgeber, dass die Frau einen Schwangerschaftsurlaub beziehen wird, dass sie frühzeitig die Arbeit verlässt, um ihr Kind aus der Krippe zu holen, dass sie bei Kinderkrankheiten Freitage bezieht – kurz, die Frau steht als Arbeitskraft nicht mehr uneingeschränkt zur Verfügung. Die Möglichkeit, dass der Arbeitgeber jetzt Druck aufbaut, um sie zur Kündigung zu bewegen, scheint daher nicht so abwegig. Solche «Manöver» sind jedoch ungesetzlich. Leichtere Belästigungen Dabei gibt es eine Art von Druckversuchen, die ich als «weniger schlimm» bezeichnen würde, beispielsweise «einen Lätsch machen», wütend werden, statt einem Gruss zu fragen: «Und, was gedenken Sie jetzt zu tun?» oder «Kündigen Sie jetzt oder nicht?» Viele der Frauen, die einem solchem Klimawechsel ausgesetzt werden, haben über Jahre hinweg ohne jegliche Probleme ihre Arbeit verrichtet und fühlen sich entsprechend beunruhigt. Was können sie in dieser Situation tun? Solange die Belästigungen nicht schwerer wiegen, sollte die Frau betonen, dass sie den Arbeitsplatz behalten will, auch wenn sie eine Kündigung erwägt. Diese kann sie immer noch nach der Geburt einreichen. In keinem Fall darf die Schwangere zu einer Kündigung gezwungen werden. Schwerwiegende Druckversuche In manchen Fällen werden die Druckversuche schwerwiegend. Etwa, wenn der Arbeitgeber die Frau an einen Arbeitsplatz versetzt ohne ihr Arbeit zuzuweisen, und ihr dabei verbietet, den Ort zu verlassen oder sich sonstwie zu beschäftigen. In solchen Fällen kann die Angestellte mit sofortiger Wirkung vom Arbeitsvertrag zurücktreten und verlangen, dass ihr der Lohn während der ganzen Zeitspanne des Mutterschutzes ausbezahlt wird. Ein solcher Fall ereignete sich 1993 im Kanton Genf, dabei bekam die Frau vor Gericht Recht, ebenso in einem weiteren Fall von 1994, in dem eine Frau von Seiten der Arbeitgeberin ungerechtfertigten Forderungen ausgesetzt war. Es kann auch vorkommen, dass ein Arbeitgeber einer schwangeren Frau körperlich sehr anstrengende Arbeit zuweist, um sie zu einer Kündigung zu bewegen. Dieses Vorgehen wiegt ausserordentlich schwer, weil es die Gesundheit von Mutter und ungeborenem Kind aufs Spiel setzt und zudem gegen Arbeitsgesetz und Obligationenrecht verstösst. In einem solchen Fall kann die schwangere Frau die Arbeit verweigern und mit Hilfe einer Gewerkschaft oder Beratungsstelle das kantonale Arbeitsinspektorat einschalten. Dieses kann den Arbeitgeber dazu verpflichten, der Frau eine andere Arbeit zuzuweisen, oder, wenn dies nicht möglich ist, ihr den ihr zustehenden Lohn auszuzahlen. Ausbleibende Beförderung Weitere direkte oder indirekte Diskriminierungen wie Karrierebehinderungen, zurückgestellte Beförderungen oder ausbleibende Neuaufträge können ebenfalls gegen eine schwangere Mitarbeiterin gerichtet sein. Solche Handlungen verletzen das Gleichstellungsgesetz. Ein Beispiel soll dies illustrieren: Einer stellvertretenden Gerichtsschreiberin am Kantonsgericht Waadt war die Stelle der ersten stellvertretenden Gerichtsschreiberin angeboten worden. Das Angebot wurde wieder zurückgezogen, als die Frau schwanger war. Eine Frauenorganisation reichte daraufhin wegen Verletzung des Gleichstellungsgesetzes Klage ein, und die betroffene Juristin bekam 2003 teilweise Recht. Solche diskriminierenden Situationen sind in öffentlichen Verwaltungen und insbesondere im Gerichtswesen relativ häufig. Verschweigen ist meist ok Eine diskriminierende Behandlung im Zusammenhang mit einer Schwangerschaft ist schon bei der Anstellung möglich. Im Allgemeinen muss eine Arbeitnehmerin nicht aufdecken, dass sie schwanger ist, es sei denn, ihr Zustand hätte Auswirkungen auf die erwarteten Arbeitsleistungen (Beispiel: Tänzerin oder Mannequin), oder die Schwangerschaft würde bei der Arbeit bestimmten Gefahren ausgesetzt (radioaktive Strahlung, toxische Stoffe, körperliche Schwerarbeit). Fragen des Arbeitgebers wie «Sind Sie schwanger?» oder «Planen Sie Kinder?» sind daher meist ungesetzlich und müssen nicht wahrheitsgetreu beantwortet werden. Generell lässt sich sagen, dass das Gesetz heutzutage schwangeren, stillenden und Familien betreuenden Frauen einen besseren Schutz bietet. Problematisch ist, dass viele betroffene Frauen und auch viele Arbeitgeber die Rechtslage nicht kennen. Leiden ist nicht banal (ATM) Was können Hebammen in dieser Situation tun? Der Titel dieses Vortrags – «Die Banalisierung des Leidens» – kann die Suche nach Antworten erleichtern. Wir haben gesehen, dass unterschiedliche Belästigungsformen vorkommen: Gegen einige lässt sich gerichtlich vorgehen, andere sind subtiler, schwieriger zu identifizieren und zu benennen und richten sich oft nicht nur gegen schwangere Frauen. Jede Frau reagiert anders auf solche Situationen. Wie, hängt von ihrem Charak- Kolleginnen aus der Südschweiz Rachele Snidro arbeitet seit ihrer Diplomierung an der Hebammenschule Chur 2003 am Regionalspital Bellinzona. An ihrem Arbeitsort gehören Schwangerschaftskontrollen, Geburtsbetreuung und Wochenbettbetreuung zum Arbeitsgebiet der Hebammen, und Rachele gefällt diese ganzheitlich organisierte Begleitung der Mütter. Im Juni 2005 hat Rachele mit der Ausbildung zur Still- und Laktationsberaterin IBCLC begonnen. Sie wird eine scheidende IBCLC Kollegin ersetzen und sicherstellen, dass das Spital Bellinzona auch in Zukunft die UnicefKriterien als stillfreundliches Spital erfüllt. Hebamme.ch S a g e - f e m m e . c h 7- 8 / 2 0 0 5 9 KONGRESS 2005 Zwischen den Referaten Gitarrenklänge, Schmökern bei den Ausstellern, Brüten über der guten Formulierung und zuletzt der Stempel in den Bildungspass. ter, ihren eigenen und den Ressourcen ihres familiären und sozialen Umfelds ab. Genau hier liegt der Unterstützungsansatz von Berufsleuten, welche die Frau während ihrer Schwangerschaft begleiten: Sie müssen in erster Linie das Leiden der Frau Ent-Banalisieren, den Vorkommnissen einen Namen und einen Inhalt geben, die Reaktionen darauf benennen. Es geht darum, zu verstehen und zu erklären, weshalb der Frau dies alles geschieht, und dass sie nicht allein betroffen ist. Es geht darum, der Frau Informationen zu geben, über ihre Rechte, wie und wann sie intervenieren kann, an wen sie sich wenden kann, und darum, die Frau bei den nächsten Schritten zu unterstützen. Hebammen geben Halt Heisst dies nun, dass die Hebammen zusätzlich Psychologinnen, Soziologinnen, Juristinnen und Sozialarbeiterinnen sein müssen? Dies ist selbstverständlich weder möglich noch wünschbar – die Mobbingsituationen in der Arbeitswelt sind viel zu komplex, schwer greifbar und unsicher. Aber es bedeutet, dass Hebammen zur Antenne und zur Verankerung werden können, inmitten eines Netzes von Dienstleistungen und Dienstleistenden, das wahrscheinlich noch zu einem grossen Teil aufgebaut werden muss. 䉴 Referat von Anita Testa-Mader und Marilena Fontaine, «Banalizzazione della sofferenza nel mondo del lavoro – mobbing», gehalten am Hebammenkongress in Cadro, Lugano, 20. Mai 2005. Übersetzung und redaktionelle Bearbeitung: Gerlinde Michel 10 Hebamme.ch 7- 8 / 2 0 0 5 S a g e - f e m m e . c h Frauenhaus in Lugano Aus dem Teufelskreis aus Geschlagene Frauen geraten in einen Teufelskreis von Gewalt und zunehmender Abhängigkeit, aus dem sie nur schwer entrinnen können Oft rettet sie nur die Flucht aus ihrem Zuhause vor dem gewalttätigen Partner. Frauenhäuser wie die «Casa delle Donne» in Lugano bieten Frauen vorübergehend Schutz und professionelle Unterstützung für das Leben nachher. Sonny Buletti Aufenthalt bleibt geheim Die Frauen suchen die «Casa delle ALLES begann 1985 mit einer Beratungsstelle für Frauen bzw. Paare in Paar- und Donne» entweder aus eigener Initiative auf Familienkrisen oder mit finanziellen Pro- oder Anraten von Freunden oder Berablemen. Die Trägerschaft übernahm ein pri- tungsstellen auf. In jedem Fall muss sich die vater Verein, der zu 75% vom Kanton sub- Frau selbst entscheiden, ob sie ins Frauenventioniert wird. Die Beratungsstelle ist haus eintreten will oder nicht. In einem kein Therapiezentrum, weil die Mitarbeite- ersten Beratungsgespräch erklären wir ihr rinnen nicht über entsprechende die Strukturen der Casa und Ausbildungen verfügen. Deshalb sorgen für ihre unmittelbaren Bewerden externe Fachleute beigedürfnisse wie Schutz, Sicherheit, zogen. Essen und ein Bett. Wenn nötig, Weil sich die Fälle von häusliwird sie zuerst medizinisch vercher Gewalt zu häufen begansorgt. Ausser die Frau wünscht nen, wurde 1989 ein Frauenhaus es anders, wird ihr Aufenthalt eröffnet. Dabei handelt es sich geheim gehalten. um eine geschützte Wohnung mit In den folgenden Tagen Sonny Buletti, Pritotal sieben Betten in drei Schlaf- marlehrerin und Päda- machen uns ein Bild von ihrer zimmern und mit einem gemein- gogin, Präsidentin und Situation und ihren Bedürfnissamen Aufenthaltsraum. Hier Beraterin beim Verein sen. Wir versuchen herauszufindelle Donne», finden von Gewalt bedrohte «Consultorio den, welche Interventionen Prioseit 1989 VerantwortliFrauen und ihre Kinder während che der «Casa delle Don- rität haben, wie sich die Frau in maximal drei Monaten Aufnah- ne» in Lugano. die Strukturen der Casa einfügt me. Die Frauen kümmern sich und wie sie mit ihren Kindern gemeinsam um den Haushalt und die Mahl- und den übrigen Bewohnerinnen umgeht. zeiten. Sie bezahlen eine Tagesgebühr, die In Gesprächen bekommt sie Gelegenheit, teilweise über das Opferhilfegesetz vergütet ihre Gefühle von Angst und Wut zu äuswird. Die Betreuerinnen sind nicht rund um sern. Wir evaluieren, ob es wegen ihrem die Uhr anwesend, aber haben einen 24- gewalttätigen Partner für sie zu gefährlich Stunden-Pikettdienst organisiert. ist, arbeiten zu gehen, und ob die Kinder Und immer gibt es etwas zu organisieren... brechen weiterhin ihre bisherige Schule besuchen können oder in der Nähe eingeschult werden müssen. Ein Netz von Fachpersonen wie Ärzte, Polizei, Sozialarbeiter, Anwälte, Psychologen etc. wird je nach Situation und Bedürfnissen der Frau aktiviert. Dabei kann es um Fragen gehen wie Trennung und Scheidung oder das Sorgerecht für die Kinder. Auch kümmern wir uns um die Bedürfnisse der Kinder, die bei uns wohnen. Am Anfang war die Liebe Betroffen von häuslicher Gewalt sind Frauen aus allen sozialen Schichten, Schweizerinnen wie Ausländerinnen. Eine unserer schwierigsten Aufgaben ist es, sowohl den geschlagenen Frauen selbst wie den Leuten aus ihrem Arbeitsumfeld klar zu machen, dass kein Verhalten der Frau und keine Art von «Provokation» ihrem Partner das Recht auf Gewalt gibt. Gerade Frauen haben die Tendenz, die gewalttätigen Reaktionen ihres Partners zu rechtfertigen. Denn meistens gründen solche Eskalationen in der Geschichte einer grossen Liebe. Früh destruktive Zeichen Hört man solchen Leidensgeschichten zu, zeigt sich, dass trotz der grossen Liebe frühe destruktive Zeichen zu erkennen waren: Er erniedrigte seine Frau oder Freundin vor ihren Freunden, er warf ihr Unfähigkeit vor und nannte sie eine Schlampe oder Schlimmeres. Und immer schlossen die Frauen davor die Augen, übersahen diese ersten Zeichen und fanden Entschuldigungen für sein Benehmen. Im Nachhinein geben die meisten Frauen zu, dass sie erste Zweifel über ihren Partner beschlichen, noch bevor sie mit ihm zusammenzogen. Aber sie alle glaubten an die Macht der Liebe, die Dinge noch zum Guten zu wenden. und die zunehmende Isolation der ganzen Familie. Die Schläge beginnen Oft wird eine Nichtigkeit zum Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Sie führt der Frau überdeutlich vor Augen, dass sie die Gewalt ihres Mannes nicht verdient. Frauen haben erzählt, dass ein Telefon- Das gemeinsame Leben verschlimmert die Situation. Die Frau wird immer tiefer davon überzeugt, dass die wachsenden Spannungen ihre Schuld sind. Sie verliert mehr und mehr ihre Selbstachtung, und sie kann immer weniger auf die unvorhersehbaren Reaktionen ihres Partners reagieren. Sie unterdrückt die Wut, die sie angesichts seiner ungerechtfertigten Anwürfe empfindet. Wenn dann die ersten Schläge fallen, erschrecken beide. Der Mann befürchtet, seine Frau jetzt zu verlieren, er weint und bittet sie um Verzeihung, bringt Geschenke nach Hause, schwört, es werde nie mehr passieren. Sie verzeiht ihm und glaubt an seine Beteuerungen. Das Paar wird zu Komplizen, beide negieren, dass etwas in ihrer Beziehung völlig falsch läuft. Beide sind überzeugt: wenn sie diesen Tiefpunkt überwinden, dann wird sich alles zum Besseren wenden. Oft entscheidet sich ein Paar genau in einer solchen Situation zu einem ersten oder weiteren Kind. Das Kind soll die Beziehung wieder festigen. Die Gewaltspirale hat sich zu drehen begonnen. Die Frau erkennt mit der Zeit die Anzeichen von ansteigender Spannung und drohender Gewalt und setzt ihre Abwehrmechanismen in Gang. Er spürt, dass sich die Partnerin vor ihm zurückzieht und intensiviert Kontrolle und Aggression. Er will vollständige Kontrolle über seine Frau und seine Kinder und um alles verhindern, dass sie ihn verlässt. Deshalb verunmöglicht er Kontakte mit Familie und Freunden und verbietet ihr nicht selten, einer Erwerbsarbeit nachzugehen. Folge sind der Verlust ihrer finanziellen Unabhängigkeit Das Fass läuft über Kolleginnen aus der Südschweiz Iris D’Angiolillo-Jucker stammt aus der Deutschweiz und lebt seit 1989 in Mendrisio. Die Hebammenausbildung schloss sie 1983 in Bern ab. Im Tessin arbeitet sie freiberuflich und ist eine der wenigen Hausgeburtshebammen im Kanton. Pro Jahr betreut sie, immer zusammen mit einer zweiten Hebamme, rund 15 Hausgeburten, auch von Erstgebärenden und im ganzen Kantonsgebiet. Iris ist daher viel zwischen Airolo und Chiasso unterwegs und macht ihre «Arbeit von Herzen gern». Sicherheit ist ihr sehr wichtig. Eine Hausgeburt zuhinterst im Onsernonetal, wo das nächste Spital weit weg liegt, würde sie nur mit einer Mehrgebärenden machen, die sie gut kennt. Mit anderen freischaffenden Hebammen teilt sich Iris in ein gemeinsames Mobiltelefon, das von Hand zu Hand wandert und eine Anlaufsstelle für Hebammendienstleistungen im Kanton sicherstellt. Die häufigen Treffen mit ihren Kolleginnen sind für Iris ein wichtiger und positiver Teil ihrer Arbeit. Hebamme.ch S a g e - f e m m e . c h 7- 8 / 2 0 0 5 11 KONGRESS 2005 Heiterkeit ist Leben! (Marie von Ebner-Eschenbach) Das Kongressthema war bedrückend und rüttelte auf. Die Begegnungen in den Pausen holten Lachen und Lächeln zurück auf die Gesichter anruf einer Freundin zur unpassenden Zeit zu diesem Tropfen wurde, oder die eine Minute, die sie einmal zu spät nach Hause kam, oder das Kind, das auf seine Höschen erbrach und sie verschmutzte. Endlich realisiert sie, dass sie nicht an allem schuld ist, was der Partner ihr vorwirft. Wenn die Frauen zu uns kommen, sind sie keinesfalls überzeugt, richtig zu handeln. Sie haben jedes Selbstvertrauen verloren, können der Zukunft nicht entgegenblicken und zweifeln daran, allein mit ihren Kolleginnen aus der Südschweiz Cinzia Biella-Zanelli hat ihre Ausbildung zur Hebamme 1991 in Genf abgeschlossen. Bis 2004 arbeitete sie zu je 50 Prozent am Regionalspital und in der Hebammenpraxis «Studio-levatrice» in Bellinzona. In dieser Zeit nahm sie während vier Jahren das Ressort Spitalhebammen im Zentralvorstand wahr und beteiligte sich an der Ausarbeitung der Qualitätsstandards. Kein Ausruhen für Cinzia: Kaum übergab sie im Jahr 2000 das ZV-Mandat an eine Tessiner Kollegin, wurde sie Präsidentin der Sektion Ticino und war später massgeblich an der Vorbereitung und Durchführung des Kongresses 05 in Cadro beteiligt. Cinzia begleitet als Hebamme besonders gerne Mütter und Familien in schwierigen Situationen wie postpartalen Depressionen, sozialen Problemen oder nach Migration. Nach langen arbeitsreichen Jahren freut sie sich darauf, in nächster Zeit beruflich zurück zu stecken und sich vor allem ihrer (anwachsenden) Familie zu widmen. 12 Hebamme.ch 7- 8 / 2 0 0 5 S a g e - f e m m e . c h Kindern zurecht zu kommen. Sie geraten von allen Seiten unter Druck. Eltern, Freunde, der Pfarrer – alle versuchen sie davon zu überzeugen, dem Ehemann doch noch eine Chance zu geben. Oft vermag nur eine der anderen Frauen in der Casa sie davon abzuhalten, gleich wieder nach Hause zurückzukehren. Strategien des Verlassenen Das Zeitalter der Mobiltelefone macht alles noch viel schwieriger. Pausenlos rufen Partner oder seine Freunde an. Nach einer Weile können wir die Frau meistens davon überzeugen, das Klingelzeichen abzustellen. Man darf nicht vergessen, dass sich der Partner bis zu diesem Moment nie eingestanden hat, gewalttätig zu sein. Im Gegenteil, er ist davon überzeugt, dass er das Opfer ist. Schliesslich wurde er ja von der Frau verlassen. Daher ist ihm jedes Mittel recht, von Tränen bis zu Drohungen, sie zur Rückkehr zu bewegen. Gibt die Frau nach, dann beginnt die Gewalt von vorne, nur noch grausamer und mit noch härterer Kontrolle, denn er weiss jetzt, dass sie fliehen kann. Die grosse Wut Bleibt die Frau in der «Casa», wird sie nach wenigen Tagen die Wut einholen, die Wut darüber, wie dumm sie war und wie viel sie eingesteckt hat. In dieser Zeit ist eine enge Begleitung sehr wichtig. Denn die Frauen insistieren auf einer Scheidung, und zwar subito. Später bereuen sie ihre Schritte, ziehen ihre Anklagen zurück, was sie später wiederum bereuen. Das Risiko, unglaubwürdig zu werden, ist deshalb hoch. Die Hälfte schafft es nicht Ungefähr die Hälfte der Frauen schafft es, ihre Partnerschaft zu beenden und zusammen mit den Kindern einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Für die übrigen wird es schwieriger. Oft sind es äussere Gründe, die sie dazu bringen, zu ihrem Partner zurück zu gehen: eine gefährdete Aufenthaltsbewilligung, eine religiöse Überzeugung, die keine Scheidung erlaubt, die wirtschaftliche Situation, die allein erziehende Frauen mit Kindern benachteiligt. Einige hoffen, der Partner habe die Lektion gelernt und werde seine Hände nicht mehr gegen sie erheben. Wieder andere ertragen den Gedanken an ein Leben ohne Partner nicht und stürzen sich in eine neue, oft noch destruktivere Beziehung. Ausbruch aus dem Teufelskreis In meiner Erfahrung äussert sich das Leiden geschlagener Frauen zuerst oft in indirekten körperlichen Symptomen: ständige Müdigkeit, Migräne, Magenschmerzen, Schlafstörungen, Kopfschmerzen und Konzentrationsmangel. Später treten psychische Symptome wie Angst, tiefe Unsicherheit, Selbstentfremdung und Depressionen dazu. Mit der Zeit steigert sich ihr Leiden zu panischer Angst vor ihrem Partner, ein Zustand, aus dem sie keinen Ausweg sieht. Erst wenn die Frau ihr Zuhause verlässt und Hilfe aufsucht, wenn sie die Gefühle von Scham, Angst und Wut hochkommen lassen kann, wenn sie sich beschützt und endlich wieder respektiert fühlt, erst dann gelingt es ihr, aus dem Teufelskreis ausbrechen. Jetzt sieht sie den Partner in seiner tatsächlichen Dimension und lernt die Reaktionsmechanismen verstehen. Sie erfährt, dass sie nicht die einzige ist, der so etwas passiert und versucht allmählich, ihr Leben wieder in die eigenen Hände zu nehmen. 䉴 Referat von Sonny Buletti, «Quando si può parlare di violenza e di sofferenza?», gehalten am Hebammenkongress in Cadro, Lugano, 20. Mai 2005. Übersetzung und redaktionelle Bearbeitung: Gerlinde Michel