1881-Einige Briefe aus der Fremde

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1881-Einige Briefe aus der Fremde
Untervazer Burgenverein Untervaz
Texte zur Dorfgeschichte
von Untervaz
1881 - 1891
Einige Briefe aus der Fremde
Email: [email protected]. Weitere Texte zur Dorfgeschichte sind im Internet unter
http://www.burgenverein-untervaz.ch/dorfgeschichte erhältlich. Beilagen der Jahresberichte „Anno Domini“ unter
http://www.burgenverein-untervaz.ch/annodomini.
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Privatbesitz
1881 Einige Briefe aus der Fremde 1881 - 1891
Originale in Privatbesitz
Samaden, den 3. Juli 1881
Werthe Schwestern!
Nun will ich diesen Abend der Zeit nehmen und Euch nur einfach beschreiben wie es
mir in der Erste geht und wie wir in Samaden angekommen sind. Jetzt will ich zuerst
ganz kurz unsere Reise beschreiben. Also, wir sind etwa um ½ 4 Uhr aus unserem
Dorfe fort und sind um 6 Uhr in Chur angekommen. Dort haben wir in einer
Wirthschaft Kaffee getrunken. Dann sind wir vorwärts bis weit ob Chur, dort sind wir in
eine Wirthschaft und haben Bier getrunken. Von dort sind wir bei Malix, Parpan und
Churwalden vorbei. Dann sind wir über die Lenzer Heide wo es nicht gerade warm
gewesen ist. Dann sind wir bis nach Lenz wo wir etwa um 5 Uhr angekommen sind und
haben dort auch Kaffee getrunken. Von dort sind wir bis nach Brienz, nachher bis zu
dem Badhaus Alvaneu. Dort sind wir in einer kleinern Wirthschaft in guten Bettern
übernachtet. Am andern Morgen um 7 Uhr sind wir von dort bis nach Filisur, von dort
nach dem schönen Dorfe Bergün, wo wir selber Kaffee gemacht haben. Dann sind wir
über den grossen Albula Berg, wo noch neben der Strasse so hoch Schnee gewesen ist
wie unsere Stube. Dann bergabwärts bis in das Dorf Preta,1 von dort nach Bewers und
dann erst in Samaden wo wir etwa um ½ 9 Uhr angekommen sind. Die Frau, die Ursina
und Zeda2 haben uns freundlich aufgenommen, sie haben uns gute Suppe, Fleisch und
anderes zu essen gegeben. Nachher sind gen schlafen.
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Preda,
Zeda = weibl. Vorname: Sidonia
-3Am Morgen sind wir in das sogenannte Mangezimmer.3 Dort sind wir jetzt 10 Mädchen
und jetzt heissen wir alle Mangarna.4 In diesem Zimmer sind wir 4 Vatzerna,5
Oberländer, Thieroler6 und 1 Italiäner Mädchen. Jetzt haben wir es gar nicht streng, wir
müssen jetzt meistens nähen, aber später weiss ich jetzt noch nicht was kommt. Ihr
glaubt wohl, ich verdriesse,7 aber dasselbe kommt mir nicht in den Sinn. Zu essen haben
wir gut, Fleisch und Wein wollte ich für mein Theil nicht mehr wünschen und darum
kann ich zufrieden sein. Nun will ich Euch noch berichten was ihr mir schicken sollt:
Rock und ein Unterrock, einige Hemden und Strümpfe, zwei Schlütt8 und eine Schürze.
Die Kirschen will ich auch nicht vergessen, aber ich hätte denn gerne eine kleine Koffer
wenn ihr eine bekommen würdet, ihr könntet dann alles einschliessen und der Schlüssel
auf die Post tun, aber ihr müsst ihn gut verpacken. Auch der Ursina sollen sie Kirschen
schicken, ihr sollt es dann zueinander thun, sie lasse sie grüssen. Paulina lasse
Schättlers9 grüssen und des Harzis,10 dieselben sollest Du fragen ob sie die Frucht
gearbeitet haben und wenn etwas nicht recht sei, sollen sie ihr schreiben, sie möchte
auch wissen was für eine Magd der Päder11 habe. Jetzt möchte ich auch wissen wie es
da Heim12 ist. Ich grüsse Elsbeth und Margaretha vielmal, sie sollen mir auch schreiben.
Nun schliesse ich mit vielen Grüssen an Euch alle, so schickt mir so bald als möglich.
Ich habe nicht mehr der Zeit länger zu schreiben: Ich Anna Bernhard.13
Zahlen will ich es dann wen die Waare das ist.
------Gib diesen den Schwestern.
Samaden den 21. Juli 1881
Geliebte Schwestern!
Ich habe nun die Koffer und den Schlüssel mit den Kleidern erhalten und zwar am
ersten Samstag nach dem Kapitelsonntag14 und habe nun 4 Fr. 20 Rp. bezahlen müssen
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Mange = Glättemaschine, Mangebrett = Bügelbrett (unterschieden in Waschmange oder Rolle, und
Färbermange, eine Walze oder Rolle, womit das Gewirke und die Wäsche geplättet und geglättet
wird.
Büglerinnen
Untervazerinnen
Tiroler
verdriessen = Heimweh haben
Schlutt= leichte Weste für Frauen, Mehrz. Schlütt, (im 16. Jahrh. schlute = weites Frauenkleid für
den Oberkörper, auch schlütlin)
Untervazer Familienname: Schädler
Harzi's = Zweig der Untervazer Familie Krättli
Bäder, auch Päder = Untervazer Bürgergeschlecht, erstmals in Untervaz erwähnt 1549
daheim, zuhause
Bernhard, auch Bernet = Bürgergeschlecht, erstmals in Untervaz erwähnt 1448
Kapitel = Versammlung der Evang. Geistlichkeit (Synode)
-4Sie ist aber mit dem Fuhrgunn15 gekommen welcher jeder ander Tag16 in Chur fährt um
allerlei Waare, wenn sie mit der Post gekommen wäre, so hätte sie nicht so fiel17
gekostet. Jetzt nimmt es mich wunder, ob Du sie auf die Post getan hast, oder einem
solchen aufgeladen. Die Kirschen welche darin waren hatten mit sehr erfreut, aber auch
so viel den Brief, zuerst habe ich geglaubt, es sei kein Stück Brief und hat mich schon
ein wenig verdrossen,18 aber als ich zu unterst schaute, fand ich dieses. Ihr könnt Euch
nicht vorstellen wie gerne man die Briefe hat. Nun ist jetzt fiel zu schaffen, aber ich
mag es gleich gut machen, ich schaffe was ich mag und mehr verlangen sie auch nicht.
Im ganzen bin ich gerne hier es ist schön.
Am Morgen müssen wir um fünf Uhr aufstehen, dann muss ich und noch 4 andere
Mädchen den Saal wischen, welcher wahrscheinlich19 gross ist. Dann gehen wir gen
Morgenessen. Nachher geht man in das Mangazimmer, welches so weit von dem Hotel
fort ist, als unser und etwa des Antonis Haus. Dort nähen wir bis die Wäscherinnen
einiges gewaschen haben, dann geht man 5 gen aufhängen, dann isst man Znüni. Um 11
Uhr essen wir Mittag, alle Tage Fleisch, Suppe, Gemüse und ein Glas Wein. Nachher
gehen wir wieder in unser Zimmer, dort legen wir zusammen, wenn grosses20 ist, so tun
wir miteinander, aber meistens ist nur kleines, das muss aber alles gemanget21 werden,
ich muss auch alle Tage helfen, aber dieses ist nicht so streng wie ich geglaubt habe.
Vom Mittag haben wir dann nichts mehr bis um 5 Uhr, dann Fr. Kaffee, Fleisch und
Gemüse. Um 8 Uhr essen wir dann das letzte Mal. Wein, Brod und Käs. Diese ist mir
zuerst unbekannt vorgekommen, jetzt ist es mir gleich. Dann gehen wir alle gen nähen
bis um 10 Uhr und haben es vielmal sehr lustig. Es ist ein Obermangerin und zwar kann
sie Deutsch, Italiänisch und ihre Chrügl-Sprache,22 die Romanische. Diese hat dann die
Oberländerna lieber als uns, weil sie auch romanische sind, solche sind 4. Wir sind dann
5 Deutsche, wir 4 Vazerna und eine gute schöne Thierolerin welche 22 Jahre alt ist.
Aber dieses ist uns gleich ob sie uns mögen oder nicht, wir mögen sie auch nicht. Wenn
wir alle die gute Laune haben, so haben wir es sehr lustig. Denn ein 30jähriges Weib
aus dem Oberland ist so eine lustige. Aber etwas fehlt mir gleich, denn wir haben es
Sonntag und Werktag ganz gleich, ich darf am Sonntag nicht nachdenken, ich kann fast
nicht arbeiten. Am Sonntag wäre ich lieber Daheim und sonst bin ich lieber da.
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Fourgon = Gepäckwagen, auch Militärfahrzeug (frz: fourrage = Futter)
jeder ander Tag = einmal in zwei Tagen
viel
verdriessen = Heimweh haben
sollte wohl heissen: unwahrscheinlich
grosse Wäschestücke
gebügelt
Chrügl = Krüppel, auch Lausbub, kleiner unsympathischer Mensch oder Gegenstand
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Die Elsbeth hat mir geschrieben, dass Maria in den Augen weh habe und nimmts mich
wunder was dieses ist und ob sie Star23 noch habe. Seitdem wir da sind, hat es noch nie
geregnet und macht auch sehr heiss. Jetzt werden die Leute bald an den Bergen fertig
sein24 oder nicht? Die Briefe muss ich schreiben anstatt schlafen und nun mag ich jetzt
fast nicht mehr, sonst könnte ich noch vieles erzählen. Geht ihr auch etwa in Friewis,
oder schafft ihr sonst für andere Leute?
Ich lasse die Base grüssen, meine Schneiderin und des Öhi Stefas Leut.
Sonst grüsse ich wer mir nachfrägt und dann wird es nicht so wichtig sein. Ich hoffe ich
werde auch wieder eine Antwort erhalten.
Es schliesst mit herzlichen Grüssen an Euch:
Anna Bernhard.
Der Ursina Leut sollst Du sagen, dass es sie verdriesse dass sie ihr auf 2 Briefe nicht
antworten, sie weiss nicht ob sie alle gestorben seien, oder was dieses ist. Sie lasse sie
grüssen.
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Lesung unsicher, Star = eine Augenerkrankung, Glaucom, Grüner Star, nicht schmerzhafte,
schleichende Zerstörung der Sehnerven und damit des Sehvermögens.
mit dem Bergheuet fertig sein
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Samaden 31. Juni 1882
Werthe Schwestern,
Gottlob sind wir glücklich und zufrieden hier in diesem Hotel angekommen. Ich will
Euch nun ganz kurz unsere Reise beschreiben. Wir gingen nun lustig von unserer
Heimat fort, von verdriessen kam uns gar nichts in den Sinn. Denn wir machten immer
narrheiten und lachten so immer auf unser Reise. Erstens kamen wir ungefähr um 7 Uhr
in Chur an, dort kauften wir noch etwas Brod und noch etwas anderes. Von dort gingen
wir bis nach Malix. Dort sah uns das Mädchen mit den rothen Haaren wo im Frühling
bei der Anna in der Sala gewesen ist. Diese nahm uns in ihre Stube, machte uns einen
guten Kafee, welchen wir nicht zu zahlen brauchten. Dann kamen wir bis nach
Churwalden zu Anna. Diese gab uns auch wieder Kaffee, Fleisch und Butter. Von dort
kamen wir in Parpan und nachher über die Lenzer Heid nach Lenz. Dort machten wir
einen Kafee und gingen bis nach Fillisur ohne einkehren, um 8 Uhr kamen wir dort an
und blieben dort in einem Kuhrhaus übernacht wo es uns mit dem Abend und
Morgenessen nur 80 Rp. kostete. Am andern Morgen gingen wir wieder bis nach
Bergün. Dort machten wir zum letzten Mal den Kafee, assen und tranken, dass wir dann
über den Berg mochten. Wir hatten dort auch ganz gut Wetter, kalt war es nicht. Wir
gingen bis nach Preta,25 es war schon 7 Uhr und hatten dann nicht mehr der Zeit einen
Kafee zu machen und kauften dann Milch. Auch trafen wir dort Vazerläut, des
Baldihansa26 und der Allawisi.27
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Preda
Baldihansa = Zweig der Untervazer Familie Hug
Alois
-7Diese Leute erschreckten uns sehr, denn sie sagten uns dass in Samaden eine böse
Krankheit sei, nämlich der Tieftirittis,28 es seien 3 Personen aus einem Hause schnell
nacheinander gestorben. Nachher fragten wir eine Frau, diese wusste aber von diesem
nicht viel, als diese nichts wusste kam es uns ein wenig leichter. Wir gingen dann
vorwärts bis an unser Ort wo wir schon viele bekannte Tirolermädchen antrafen. Wir
fragten wegen dieser Krankheit, welchen es auch diese gesagt hatten, welche es uns
sagten. Wir fragten weiter nach, kam dann dazu dass es gar nicht bös sei, es seien drei
Kinder aus einem Haus gestorben, aber jetzt hatte man schon einige Zeit nichts mehr
gehört davon. Jetzt wegen diesem braucht Ihr dann gar keinen Kummer zu haben und
brauchts auch nicht weiter zu haben. Jetzt habens wir gar nicht streng, ein wenig putzen,
nähen und noch etwas anderes, aber immer beieinander, mit dem essen ist es ganz gut.
Wir singen und pfeifen den ganzen Tag und so habens wir ganz lustig. Mir gefällt es im
ganzen viel besser als letztes Jahr, nun ich bin gerne hier. Die Koffer haben wir am
Freitag richtig erhalten und mussten jede 2 Fr. 25. Rp. bezahlen.
Nun will ich für diesmal schliessen, denn ich gehe jetzt auch gerne schlafen.
Ich möchte nun bald wissen wie es Euch geht, ob Maria noch in den Augen weh hat,
oder nicht mehr. Ich grüsse dann meine Schneiderin vielmal.
Heute Abend habe ich schon einen schönen Brief bekommen von dem wo ihr wohl
wisst, mit einem schönen Bild darin und oben auf dem Brief sind Blümchen, ein
Vögelchen und auch seidene Bändchen sind an diesen Sachen.
Zeige diesen Brief dann Niemand, denn ich habe Fehlerhaft und alles nur im
Schnellschutz geschrieben. Schreibe mir doch bald wie es geht, denn ich habe nur in
diesen Tagen einen grossen Wunder.
Elsbeth lässt Euch grüssen und sie ist auch gerne hier.
Ich hoffe dieser Brief wird Euch gesund und wohl antreffen. Es schliesst mit herzlichem
Gruss an Euch, Eure Schwester
Anna Bernhard.
Sonst weiss ich jetzt noch keine Grüsse heimzuschicken.
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Diphtherie = Halskrankheit, (mundartl. Difteritis, Brüüni)
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Genève le 14. Aout 1884
Liebe Elsbeth!
Obwohl ich Dich liebe Freundin wieder lange einer Antwort verzichten lasse, hat mich
Dein Brief sehr erfreut. Wie erfreulich ist's doch von einer lieben Freundin aus der l.
Heimath einen Brief aufzuheben, zum voraus wenn man so weit von derselben entfernt
ist, wie ich. Wünschte nun sehr, ein Brief von mir würde Dich erfreuen, wie mich Einer
erfreut von Dir, was ich gerne hoffe indem ich sicher glaube eine treue Freundin an Dir
zu haben - Nicht wahr - liebe Elsbeth?
Wundert mich nun sehr um Dich wie Du Dich befindest, ob gesund und wohl, was ich
gottlob von mir sagen kann. Was gibt’s auch für Neuigkeiten in der Ledigkeit in Vatz?
gibt’s immer noch Adel und Kernen?29 - - …
Und die Schwester Dorothea ist scheints der Ledigkeit untreu geworden, sie wird wohl
gemeint haben das Heirathen werde verboten. Weiss Dir keine wichtigen Neuigkeiten
zu berichten. Es hat hier alle Sonntage etwas wie Fest da sieht man nichts als
prachtvolle Bekränzungen, hört Musik aller Arten, es flattern stolz die Fahnen. Es gibt
hier allerlei Komödien, da kann man zuschauen ohne bezahlen denn solches wird alle
auf einer grossen Wiese dargestellt. Da sieht man aller Art Affen, Löwen, Tiger,
Schlangen, furchtbar grosse, Kamele, Büffel und Wildschweine mit furchtbaren
Zähnen, überhaupt alles mögliche.
Auch werden öffentliche Konzert gegeben, da kann zuhören wer will, wo sich bei der
Musik mehr als dreissig Musikanten befinden, gönnte Dir auch solches mit anzuhören,
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Der Sinn dieser Redewendung dürften wohl nur diese beide Freundinnen verstanden haben.
-9das find ich noch am schönsten, um das andere ist's einem hier gleichgültig. Muss nun
bald aufhören mit meinen Dummheiten weil das Papier mir nicht mehr viel erlaubt.
Gefällt mir immer wie es ist in Genf: schön und gut. Wünschte Dich oft in meiner Nähe,
könnte Dir viel schönes zeigen, weil solches aber nicht möglich ist, müssen ……..30
unserer Freundschaft treu zu bleiben, mit Briefwechsel uns begnügen. Nun einer
solchen Sudelei nachzugeben empfange die herzlichsten Grüsse und Glückswünsche
von Deiner Dir stets treuen Freundin
Ursula Philipp.
Grüss mir auch Deine Schwester Maria und Bäsi Mengi auch Schwester Mengi.
Vergiss mein nicht
Soll stets's in meinem Herzen
Für Dich im stillen blühn
Und mit der Sehnsucht reinsten Schmerzen
Dir meine Lieb entgegen glühn,
Sei glücklich und geniess der Freuden
Die Deine Tugend dir verspricht,
Nichts möge unsere Liebe scheiden
Sei glücklich und Vergiss-mein-nicht.
Leb wohl auf Wider - Sehn !
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unleserlich, Loch im Papier
- 10 Pontresina, 4. August [1891]31
Meine Lieben!
Obschon es auf 11 Uhr geht, so will ich mich doch noch nieder setzen und Euch
mitteilen wie ich's hier habe. Es gibt wie überall Angenehmes und Unangenehmes, doch
wegen der Arbeit könnte ich gewiss nicht klagen, wenn man sie nur zum Dank machen
könnte, was aber eine Kunst wäre bei der Fräulein Ursula des Doktors Schwester, wenn
man ihr Gehör gäbe. Die Frau Doktor ist eine gute Frau, wohl aber werde ich wegen
Kleinigkeiten schon auch hie und da einmal angeschnauzt, doch aber wird sie bald
wieder gut. Der Appetitt hat sich bei mir herrlich eingestellt, ja ich meine oft nur zu
sehr, ich möchte bereits fort und fort am Tisch schaffen. Morgens wird’s etwa 7 Uhr bis
wir zum Frühstück kommen, welches aus einem guten Kaffee, Brod und Käs besteht.
Dann muss man sich mit dem begnügen bis 12 Uhr, auch aber ist es schon bereits 1 Uhr
geworden bis der ersehnte wohlschmeckende Zmittag erschien, ja ein solches
Mittagessen wünschte ich Euch auch alle Tage. Um 4 Uhr gibt es bei schönem Wetter
Bier und sonst Thee. Das Nachtessen wird etwa auf 7 Uhr zubereitet welches mir
ebenfalls gut schmeckt. Nachher machen wir in der Küche fertig, es gibt im ganzen
ziemlich viel abzuwaschen. Dann müssen wir warten bis die Herrschaften heim
kommen und ihnen die Schuhe putzen, denn am Morgen wartet uns wieder andere
Arbeit. Fast bis am Mittag habe ich in der Küche zu tun und nachher gibt es jetzt fast
alle Tage zu waschen und viel muss ich auch jääten im Garten. Letzten Sonntag feierte
man hier sowie in der ganzen Schweiz die Bundesfeier, jedes Haus ward herrlich
bekränzt und geziert, Fahnen flatterten und Feuer brannten überall. Am 1. August
schneite es hier wie im höchsten Winter und gefroren ists bereits alle Morgen. Es nimmt
mich Wunder ob man in Untervaz auch etwas zu diesem Fest beigetragen hat, ich denke
schwerlich. Letzter Tage ist hier ein grosses Unglück geschehen. Schnizler32 und noch
ein anderer Bergführer machten eine Bergtour mit einem 40 jährigen Herrn,33 weil es
aber schlechtes Wetter war und sie Nachts zurück kehrten, so stolperte dieser Herr über
einen Stein und fiel irgendwo hinunter und zerschmetterte den Schädel und starb also
31
Briefdatum ohne Jahr
In den Annalen (Jahrbuch) der Schweizerischen Meteorologischen Centralanstalt (heute MeteoSchweiz) sind seit 1864 bis 1995 Tageswitterungsangaben zu finden. In den frühen Jahrgängen
sind dabei die Aufzeichnungen der Messtation Segl-Maria enthalten. Daraus geht hervor, dass im
Jahre 1891 am 1. August am Abend Schnee bis zur Talsohle fiel. Die Temperaturen bewegten sich
zwischen 1.9 und 2.6 Grad. Eher tiefe Temperaturen herrschten in der Schweiz am 1. August auch
in den Jahren 1878, 1880, 1882, 1883, 1886, 1888, 1892, 1893, 1896, 1898, 1901, 1902, 1903. In
all diesen Jahren gibt es jedoch in den Aufzeichnungen der Messtation Segl-Maria für den 1.
August keinen Hinweis auf Schnee bis zur Talsohle. Mit freundlichen Grüssen Stephan Bader
Klimadienste, Bundesamt für Meteorologie und Klimatologie Meteo-Schweiz.
32
Schnitzler Christian, Bergführer, Pontresina, (1866-1944)
33
Gemäss freundlicher Mitteilung von Hr. Dr. Herold, Küssnacht, hiess der Verunglückte: Joh. Jakob
Weber, Fabrikant aus Winterthur. Dr. Oscar Bernhard heiratete 1893 Frau Elisabeth Weber-Imhof,
die Witwe des Verunglückten. Weiteres zum Unglück siehe im Anhang.
- 11 bald. Die ersten 14 Tage hatte ich sehr mit dem Zahnweh zu tun, man sagte mir es gäbe
es öfters bei Luftveränderungen, jedoch jetzt geht es besser. Obschon noch nicht alle
Zimmer hier besetzt sind, so haben wir doch immer genug zu arbeiten, ich muss das
Schreiben nur erstehlen, alle Abende ein wenig, doch an den Sonntagen haben wir mehr
frei, so dass ich zum Anni kann, wo ich immer sehr gerne bin. Die Saison ist hier im
Ganzen nicht wichtig,34 aber wie sollte es bei solchem Sudelwetter. Das Heuen ist
dieses Jahr gewiss wieder eine Kunst, ihr werdet wohl noch nicht weit geschritten sein,
hier verfault viel Heu. Wie geht es dem Messmer, wird es wohl noch zum Schaffen,
oder wie stehts? Ich weiss Euch jetzt nichts mehr zu schreiben, ein wenig verdriessen tu
ich schon, doch aber geht mir die Zeit recht schnell. Anna Schnizler lässt Euch grüssen
und grüsst meine Freundinnen, das Linalis, des Öhichristas, die auf dem Stotz und
überhaupt ihr wisst schon welchen ich Grüsse zusenden möchte, allen gut bekannten.
Wie hast Du es mit dem Magen, ist es hoffentlich nicht so schlimm. Schreibet mir so
schnell als möglich, ihr habt gewiss jetzt Zeit dazu bei so viel leiden35 Tagen. Ich glaube
es ist gescheidter wenn ich jetzt ins Bett gehe, ich muss um 5 Uhr wieder auf, was
gewiss schwer geht wenn man am Abend lang auf bleibt.
Viele herzliche Grüsse von mir auch ans Mammi.
Maria Bernhard.
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Original: 1 Bogen, 22 cm hoch, 14 cm breit, kariertes, rosarotes Papier.
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Zu dem im letzten Brief erwähnten Unglück erhielt ich in verdankenswerter Weise von
Herrn Dr. med. André Herold aus Küsnacht/ZH folgende weitere Angaben.
Zum Tod von J. J. Weber Präsident SAC Winterthur
" ... in schmerzlichem Kontraste zum buntbeflaggten Orte bewegte sich (am 1.8.1891,
dem 600. Geburtstag der Eidgenossenschaft!) in Pontresina der kleine, traurig-ernste
Leichenzug, der die sterblichen Überreste des Verunglückten der Heimat zugeleitete."
hiess es nach dem Tod von J.J. Weber am 5.8.1891 im "Der Freie Rätier".
34
35
nicht wichtig = hier im Sinne von gering, eher schlecht
leid = hier im Sinne von schlechtes Wetter
- 12 "Er hatte sich in der sternklaren Nacht vom Donnerstag auf den Freitag mit den
ausgezeichneten Führern Schocher36 und Schnitzler von Pontresina aus auf den Weg
nach Piz Bernina begeben. Es war nicht der gewöhnliche Weg, den er einschlug.
Schnitzler Christian, Bergführer,
Schocher Martin, Bergführer, Pontresina
Pontresina,
(1866-1944)
(1850-1916)
Quelle: Philipp Hans/Matossi René: Bündner Bergführer. 1996. Seite 40 u. 95
J.J. Weber, Winterthur
Gedenktafel an der Unglücksstätte
Fotos von Herrn Dr. med. André Herold aus Küsnacht/ZH
Zum würdigen Abschluss seiner Hochtouren - so hatte er es seiner Gattin ausdrücklich
versprochen - lag ihm im Sinn, über Pizzo Bianco und die äusserst gefährliche
Berninascharte auf die höchste Spitze der schweizerischen Ostalpen zu gelangen. Kaum
etwas in die Höhe gelangt, wurden die drei Männer vom Schnee überrascht.
36
Schocher Martin, Bergführer, Pontresina (1850-1916)
- 13 Dr. Oscar Bernhard, (1861-1939)
Das hinderte die kühnen Bergsteiger nicht, vorwärts zu
dringen. Zum ersten Mal in diesem Jahre und bei den
denkbar schwierigsten Verhältnissen, indem der
Schnee unaufhörlich niederwirbelte, führten sie
glücklich die Tour aus, die unbestritten zu den
schwierigsten nicht nur unseres Gebietes gehört, und gelangten Abends um 9 Uhr
verspätet in der Bovalhütte an. Um Gattin und Bruder nicht unnöthige Angst zu
bereiten, verzichtete Herr Weber-Imhoof darauf, hier zu übernachten und begab sich
vorwärts nach dem Morteratsch-Hotel zu. Die in der Dunkelheit einzig etwas kritische
Stelle auf diesem Weg, das Kamin, wurde glücklich passirt. Unweit davon aber, bei
dem sog. Gemsbrünnlein, an ganz ungefährlicher Stelle, stolperte Herr Weber über
einen überschneiten Stein, glitschte aus und fuhr zwischen den beiden Führern, die hart
neben ihm gingen, blitzschnell, ohne dass Hülfe möglich gewesen wäre, eine steile,
überschneite Gemshalde hinunter und wurde da über einen mässig hohen Felsen auf die
Moräne (falsch!) geschleudert. Die sofort zur Stelle geeilten Führer fanden ihn
bewusstlos. Schnitzler eilte so schnell als möglich nach Morteratsch um Hülfe, während
Schocher bei dem Verunglückten blieb. Von Morteratsch aus wurde Dr. Bernhard37 von
Pontresina (es sollte Samedan heissen!) telegraphisch benachrichtigt, der augenblicklich
sich auf den Weg begab und mit fünf Mann und einer Tragbahre versehen die
Unglücksstätte aufsuchte. Der Transport des Verwundeten von hier nach Morteratsch
bei stockdunkler Nacht, beständigem Niederschlag und überschneitem Bergpfad war
äusserst mühsam und zum Theil gefährlich, indem die niederrauschenden Wasser die
Steine der Abhänge in Bewegung brachten, die man bald vorn, bald hinten am langsam
sich vorwärtsbewegenden Zuge nieder donnern hörte.
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Bernhard, Oscar (1861-1939), Sohn des Samuel, Apothekers, und der Christine geb. Bühler. verh. 1893
Elisabeth Imhof, von Winterthur. Kantonsschule Chur, Medizinstud. in Zürich, Heidelberg und Bern, Dr.
med. 1886, Assistent bei Theodor Kocher. Ab 1886 prakt. Arzt und Geburtshelfer in Samedan.
Mitbegründer des Kreisspitals Samedan, 1895-1907 dessen erster Leiter. 1911 eigene Klinik in St.
Moritz. Zusammen mit Auguste Rollier in Leysin verhalf B. der Heliotherapie der Gelenks- und
Knochentuberkulose (Sonnenbestrahlung in alpinen Heilstätten), anfänglich gegen Widerstand Kochers,
zum Durchbruch. Förderer des alpinen Rettungswesens, der Sportmedizin, der rätorom. Kultur und des
Landschaftsschutzes (Silsersee). Freund und Mäzen Giovanni Segantinis (1908 Mitbegründer des
Segantini-Museums, St. Moritz). Verfasser einer Vielzahl wiss. Publikationen zu Medizin und antiker
Numismatik. Zahlreiche Ehrungen, 1921 Ehrenbürger von St. Moritz. (mehr siehe SHL Schweiz. Hist.
Lexikon)
- 14 Gegen Morgen war man in Morteratsch. Herr Weber hatte einen schweren Schädelbruch
(wahrscheinlich eine Hirnblutung) erlitten und starb, ohne je das Bewusstsein wieder
erlangt zu haben, in den Armen seiner beklagenswerten Gattin und seines Bruders, die
inzwischen von Pontresina herbeigeeilt waren.
Welch Fatum! Am Ende einer langen Reihe glorreicher Bergfahrten gekrönt mit einer
Tour, wie sie wenig berichtet werden in den Annalen alpenklubistischer Leistungen,
unmittelbar vor dem definitiven Abschluss so mancher Hochtouren, die seinen Ruhm
begründeten, an ganz ungefährlicher Stelle, ereilte der Tod den im schönsten
Mannesalter stehenden, wackeren Klubist.38
Laut einem Bericht von "Gasthofbesitzer Enderlin, telegraphiert der NZZ", gingen die
drei Bergführer " ... von Pontresina nach Rosetsch (heute: Roseg) . Um 6 Uhr waren sie
auf der Fuorkla angelangt. Da fing es an zu schneien und schneite den ganzen Tag.
Trotzdem kamen die Wanderer glücklich über den Pizzo Bianco und die Scharte auf Piz
Bernina. Der Abstieg von dort ging trotz dem tiefen Neuschnee ganz gut von statten,
ebenso passirten sie noch bei einiger Tageshelle das gefürchtete Labyrinth glücklich
und gelangten um 9 Uhr (21 Uhr) in Boval an ...
Um 3 Uhr morgens langten die Leute mit dem Verunglückten in Morteratsch an, wo
derselbe am Samstag Vormittag seinen Verletzungen erlag". Der Weg von Pontresina
zur Fuorcla war lang, bevor die Tschierva Hütte gebaut worden war.
Die drei Bergsteiger sind wohl um Mitternacht von Pontresina aus losgezogen. Und sie
kamen am nächsten Tag um 3 Uhr morgens im Hotel Morteratsch an, nach 27 Stunden,
zum Teil bei Schneesturm und in der Nacht, mit einer Ausrüstung die alles andere als
praktisch war, mit zwei Petrollampen etc. Wir staunen!
Zu Ehren des verstorbenen Kameraden liess die SAC Sektion Winterthur an der Stelle,
wo J.J. Weber verunfallt war, eine Bronzetafel an eine Felswand anbringen. Da der Weg
seit längerer Zeit auf halber Höhe der Moräne und nicht mehr dem Berghang entlang
geht, läuft man nicht mehr daran vorbei und niemand sieht sie. Sogar dem Hüttenwart
der Bovalhütte, Herrn Hans Philipp, war sie unbekannt. Sie transit gloria mundi ...
38
Mitglied des SAC (Schweiz. Alpenclub)
Wir danken Herrn Dr. med. André Herold aus Küsnacht/ZH bestens für die freundlichen
Ergänzungen und Fotos.
Internet-Bearbeitung: K. J.
Version 02/2009
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