EINE MORALISCHE ANSTALT? - UK
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EINE MORALISCHE ANSTALT? - UK
[Erschienen in: Zs. f. Ästhetik u. allg. Kunstwiss., Bd. 29 (1984), S. 162-181] <162> DAS THEATER – EINE MORALISCHE ANSTALT? Von Bernward Grünewald Friedrich Schiller hielt am 26. Juni 1784 anläßlich seiner Aufnahme in die „Kurfürstlich -Deutsche Gesellschaft“ in Mannheim eine Antrittsrede, der er später in der Ausgabe seiner Schriften den Titel „Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet“1 gab. Schiller, schon erfolgreicher Autor der „Räuber“, des „Fiesco“ und des gerade erst uraufgeführten Stücks „Kabale und Liebe“, stellt in dieser Rede drei Hauptthesen auf : 1. das Theater sei eine Schule der Sitten und insofern eine „Verstärkung für Religion und Gesetze“ gerade dort, wo die Macht dieser Institutionen nicht hinreiche (vgl. V. 822-826); 2. sei es eine „Schule der praktischen Weisheit“ und habe durch Aufklärung des Verstandes insbesondere die Irrtümer der Erziehung zu bekämpfen (vgl. V. 826830); 3. schließlich sei das Theater die vorzüglichste der Anstalten zur gesellschaftlichen Ergötzlichkeit ; und was sie in dieser Hinsicht leiste, sei wichtiger, als man gewohnt sei zu glauben. Denn: „Bacchantische Freuden, verderbliches Spiel, tausend Rasereien, die der Müßiggang ausheckt, sind unvermeidlich, wenn der Gesetzgeber diesen Hang des Volks nicht zu lenken weiß“ (vgl. V. 830 f.). Nicht die gesamte Begründung dieser dritten These – das sei der Ehrlichkeit halber angemerkt – zeigt dieselbe Tendenz; so etwa, wenn es gegen Schluß der Rede heißt: „Der Unglückliche weint hier mit fremdem Kummer seinen eigenen aus, der Glückliche wird nüchtern und der Sichere besorgt“ (vgl. V. 831 ). Aber nicht einmal ein Zehntel des gesamten Redetextes beschäftigt sich überhaupt mit der These von der gesellschaftlichen Ergötzlichkeit; und es ist insgesamt schon ein arger Moralismus, der uns in dieser Rede gegenübertritt. Die Aufgabe des Theaters scheint es zu sein, Hilfsdienste für andere Institutionen der Gesellschaft zu leisten– ein Gedanke, der vielleicht nützlich ist, um kurfürstliche Gönner und großbürgerliche Mäzene am Theater zu interessieren, aber kaum, <163> um uns eine Auskunft über das Wesen des Theaters selbst zu geben. – Wir könnten seelenruhig auch den Titel und die Frage, ob das Theater eine moralische Anstalt sei, für erledigt halten, wenn nicht Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. Hrsg. von G. Fricke und H. Göpfert. Bd. V. München 4 1967, S. 818-831 und 1200. Die eingeklammerten Ziffern in obigem Text verweisen auf Bandund Seitenzahlen dieser Ausgabe. – Aus der neueren Literatur zu Schillers Dramentheorie sei erwähnt: K. L. Berghahn: Das Pathetisch=Erhabene. Schillers Dramentheorie. In: Schiller. Zur Theorie und Praxis der Dramen. Hrsg. von K. L. Berghahn und R. Grimm, Darmstadt 1972. Der Aufsatz setzt die Schillersche Theorie auch in aufschlußreicher Weise zu Schillers eigenem dramatischen Werk in Beziehung. 1 1 erstens Schiller diesen Titel erst gewählt hätte, als er selbst eine ganz andere, genauer: eine wirkliche Theorie des Theaters und insbesondere der Tragödie besaß (der ursprüngliche Titel der Rede lautete: „Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?“); und wenn nicht zweitens der Begriff der Moralität auch in dieser späteren Theorie, genauer, in jeder ihrer Entwicklungsstadien, eine ausgezeichnete Funktion besäße. Da die späteren Schillerschen Überlegungen sich beinahe ausschließlich auf die Tragödie beziehen, möchte ich auch mein Thema an dieser Stelle auf die Theorie der Tragödie beschränken. Ich werde den Leser durch einen ganz kurzen Hinweis auf die Komödie am Schluß, wenn auch unvollkommen, für diese Einschränkung zu entsch ädigen versuchen. Der zentrale Begriff der Schillerschen Theorie der Tragödie ist der Begriff des Erhabenen bzw. der Erhebung. Schiller knüpft damit an eine Tradition an, die von dem antiken Autor, den wir Pseudo-Longin2 nennen, über Burke3 und den vorkritizistischen Kant4 zu Kants „Kritik der Urteilskraft“ 5 führt; eine Tradition, in der aber, bis zu Schiller, viel vom Erhabenen in der Natur, vom Tragischen dagegen allenfalls einmal am Rande die Rede war. Schillers Theorie des Erhabenen nun bezieht zwar, aus didaktischen Gründen, auch das Naturerhabene noch in die Betrachtung mit ein, zielt aber deutlich auf eine Theorie der Tragödie. Wenn wir von dem Aufsatz „Über die tragische Kunst“ absehen, der für Schillers weitere theoretische Entwicklung folgenlos geblieben ist, vernachlässigt Schiller d agegen beinahe ganz die andere, eigentlich tragödientheoretische Tradition, die unter dem umstrittenen Stichwort „Katharsis“ (Reinigung) steht und von Aristoteles – insbesondere über die französischen Tragiker Corneille und Racine – zu Lessing führt. Ich möchte nun drei Thesen aufstellen und im folgenden begründen: – Die erste lautet: Die Entwicklungsstadien der Schillerschen Tragödientheorie lassen sich entscheidend durch die jeweilige Funktion des Begriffs der Moralität in der Theorie des Erhabenen charakterisieren. <164> 2 Pseudo-Longinos: Vom Erhabenen (griech. u. dt.). Hrsg. und übers. von R. Brandt. Darmstadt , 1966. 3 Edmund Burke: A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful. Ed. by G. T. Boulton, London/New York 1958. Immanuel Kant: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen. Akad.-Ausg. Bd. II. S. 205-256. 5 I. Kant: a. a. O. (Anm. 4). Bd. V. S. 165-485. 4 2 – Die zweite These: Schiller verbessert auf diese Weise in jedem neuen Entwicklungsstadium seine Theorie der Tragödie; aber auch die letzte Fassung dieser Theorie ist noch korrekturbedürftig. – Drittens schließlich: Die verbleibenden Mängel der Schillerschen Theorie einerseits sind nur zu beheben durch einen Rückgriff auf die aristotelische Tradition; die Vorzüge des Schillerschen Ansatzes andererseits ermöglichen eine Ergänzung der Aristotelischen Theorie und insbesondere eine Präzisierung des umstrittenen Begriffs, der mit dem Terminus „Katharsis“ gemeint sein muß. In einem ersten Schritt möchte ich Schillers von der „Kritik der Urteilskraft“ ausgehenden Grundgedanken vom Erhabenen skizzieren, soweit er allen Entwicklungsstadien der Schillerschen Theorie im Prinzip zugrunde liegt, wenn er auch nicht von Anfang an schon in allen Differenzierungen ausgearbeitet ist. Der zweite Schritt wird dann in einer kritischen Darstellung der einzelnen Entwicklungsstadien bestehen, der dritte in dem Versuch einer Korrektur an Schiller unter Rückgriff auf Aristoteles, der vierte schließlich im Versuch einer Verknüpfung des Gedankens vom Erhabenen mit dem von der Katharsis. I. Das Gefühl des Erhabenen bestimmt Schiller im Anschluß an Kant als eine Art des „freien“, d. h. interesselosen Wohlgefallens, dessen andere Art das Gefühl des Schönen ist. Beruht das Gefühl des Schönen auf dem Erlebnis einer Harmonie zwischen Sinnlichem und Geistigem, so ist das Gefühl des Erhabenen dagegen ein Mischgefühl aus „Wehsein“ und „Frohsein“, genauer ein Frohsein, welches ein Wehsein, ein Leiden voraussetzt. Das Leiden beruht darauf, daß wir in unserer sinnlichen Existenz durch etwas Zweckwidriges betroffen sind, während der Grund des Frohseins in der Vernunftbestimmtheit des Menschen liegt (vgl. etwa V. 360 ff.). Im Angesicht etwa gewaltiger Naturgegenstände wird unsere Sinnlichkeit überwältigt, unsere Einbildungskraft zuschanden, unser Vernunftvermögen dagegen ist frei, selbst das Unendliche zu denken; ja, gerade, wenn unsere Sinnlichkeit den Schmerz des Überwältigtseins hinnehmen muß, fühlen wir unsere Freiheit als Vernunftwesen: „Das Gefühl des Erhabenen besteht einerseits aus dem Gefühl unserer Ohnmacht und Begrenzung, einen Gegenstand zu umfassen“ (nämlich mit unserer Sinnlichkeit), „andererseits aber aus dem Gefühl unserer Übermacht, welche vor keinen Grenzen erschrickt und dasjenige sich geistig unterwirft, dem unsere sinnlichen Kräfte unterliegen. <165> Der Gegenstand des Erhabenen widerstreitet also unserem sinnlichen Vermögen, und diese Unzweckmäßigkeit muss uns notwendig Unlust erwecken. Aber sie wird zugleich eine Veranlassung, ein anderes Vermögen in uns zu unserem Bewußtsein zu bringen, welches demjenigen, woran die Einbildungskraft erliegt, über3 legen ist. Ein erhabener Gegenstand ist also eben dadurch, dass er der Sinnlichkeit widerstreitet, zweckmäßig für die Vernunft und ergötzt durch das höhere Vermögen, indem er durch das niedrige schmerzt“ (V. 362). In diesem und in vielen anderen Schillerschen Texten scheint es nicht nur so zu sein, daß unsere Vernunftbestimmtheit die B e d i n g u n g unseres Frohseins, der Erhebung ist, sondern daß das Frohsein geradezu selbst in einem aktuellen Bewusstsein (in der Bewußtheit) unseres Vernunftvermögens, also im Frohsein ü b e r unsere Vernunftbestimmtheit, besteht. – Wir werden auf diesen Punkt später zurückkommen. Schiller unterscheidet nun im Bereich der erhabenen Gegenstände zwischen dem Erhabenen der Fassungskraft, das sind solche Gegenstände etwa der Natur, welche für unsere Einbildungskraft unfaßbar groß sind, und dem Erhabenen der Lebenskraft, das sind solche Gegenstände, die unserer Sinnlichkeit als bedrohlich erscheinen. Das erstere nennt er andernorts auch „Theoretisch Erhabenes“ (Kants Mathematisch -Erhabenes), das letztere heißt auch „Praktisch Erhabenes“ (Kants Dynamisch -Erhabenes; vgl. etwa V. 489 ff., sowie V. 797 ff.). 6 – Bis hierher bleibt Schiller durchaus noch im Rahmen der kantischen Überlegungen, die sich in erster Linie auf die ästhetische Qualität und unsere ästhetische Beurteilung von Naturgegenständen beziehen und nur am Rande einmal unser Verhältnis zur Kunst und insbesondere zum Tragischen erwägen. Mit einer weiteren Differenzierung des Erhabenen der Lebenskraft jedoch verschiebt Schiller die Gewichte und grenzt d e n Bereich des Erhabenen aus, der in der Tragödie die entscheidende Rolle spielt. Es handelt sich um die Differenzierung zwischen Kontemplativ-Erhabenem und Pathetisch-Erhabenem. Das KontemplativErhabene unter dem Erhabenen der Lebenskraft ist dasjenige, bei welchem die Vorstellung von der Bedrohung des Menschen allererst durch die Einbildungskraft des ästhetisch urteilenden Subjekts erzeugt wird (etwa bei der tosenden Brandung des Meeres, wenn sich kein Menschenleben in akuter Gefahr befindet), während im Pathetisch -Erhabenen die Bedrohung und das Leiden des Menschen objektiv erlebt und insbesondere durch die Kunst dargestellt wird (vgl. V. 503 ff.). Dies letztere ist nun o ffenbar der Fall der Tragödie. <166> Im Pathetisch -Erhabenen ist ein „künstliches Unglück“, ein durch die Kunst dargestelltes Unglück, der Grund eines Schmerzes im zuschauenden ästhetischen Subjekt – eines Schmerzes, der doch die Bedingung einer Lust ist, die Bedingung der spezifisch tragischen Erhebung (vgl. V. 509 ff. und V. 805 ff.).'7 6 Vgl. dazu Kants „Kritik der Urteilskraft“, Akad.-Ausg. Bd. V. S. 247 ff. Da die umgangssprachliche Bedeutung von „Pathos“ bzw. „pathetisch“ hier irreführend ist, sei ausdrücklich darauf hingewiesen, daß „Pathos“ hier soviel wie „Leid“, „Unglück“ heißt. – Die umgangssprachliche Bedeutung „Le idenschaft“ schließt sich an einen anderen Gebrauch des griechischen Wortes an, der (ganz wie die Etymologie des Wortes „Leidenschaft“) nur aufgrund der antiken Affektenlehre verständlich ist: Leidenschaft ist etwas, das wir erleiden; vgl. auch das in der aristotelischen Poetik gebrauchte „pathema“. Zu E. Staigers diesbezüglichem Mißverständ7 4 Im Begriff des Pathetisch -Erhabenen, des Erhabenen der Tragödie also, liegt nun eine besondere Komplikation und ein besonderes Problem, das in einer ästhetischen Theorie des Naturerhabenen, wie sie in Kants ;,Kritik der Urteilskraft“ vorliegt, noch gar keine Rolle spielen kann. Wir haben es nämlich nicht mehr mit einem bloßen Verhältnis zwischen einem ästhetischen Objekt auf der einen und einem (rezipierenden) ästhetischen Subjekt auf der anderen Seite zu tun; vielmehr treten nun auf beiden Seiten, auf der des ästhetischen Subjekts und auf der des ästhetischen Objekts, menschliche Subjekte auf – mit denselben Vermögen (der Sinnlichkeit und der Vernunft). Und da es sich beim tragischen Unglück nicht nur um ein passiv erlittenes Naturereignis handelt, sondern um ein Geschehen, in das Menschen mit ihren Handlungen verw ickelt sind, spielt hier, wiederum auf beiden Seiten, praktische Vernunft im engeren (kantischen) Sinne eine entscheidende Rolle, im Sinne eines Vermögens zur freien Selbstbestimmung, des Vermögens der Moralität. Die Funktion nun des Begriffs der Moralität in der näheren Bestimmung insbesondere des ästhetischen Objekts – des tragischen Geschehens und des tragischen Helden also – beurteilt Schiller in den verschiedenen Stadien seiner theoretischen Entwicklung höchst unterschiedlich. Hiermit komme ich zum zweiten Schritt meiner Darlegung. II Ich beginne mit der Abhandlung „Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen“, deren Endfassung Schiller im Herbst 1791, nach einem ersten Studium der kurz zuvor erschienenen „Kritik der Urteilskraft“, fertigstellte. Der Titel markiert in doppelter Hinsicht den theoretischen Fortschritt Schillers gegenüber der Mannheimer Antrittsrede: Er formuliert zum einen in klassisch er Weise die Problemstellung einer Theorie der Tragödie, die sich mit dem merkwürdigen Faktum auseinander zusetzen hat, daß wir an tragischen Gegenständen <167> (und also Darstellungen von ganz unerfreulichem Geschehen) Gefallen finden; zum anderen deutet der Titel die These an, die Schiller in den einleitenden Absätzen der Abhandlung ausführlich darlegt: daß der Z w e c k des Theaters (wie der der Kunst überhaupt) und also auch der der Tragödie es ist, dem ästhetischen Subjekt, dem Zuschauer, ein ästhetisches Vergnügen zu bereiten – und daß dieser Zweck mitnichten die moralische Besserung des Zuschauers ist (vgl. V. 358 f.). Dies schließe nicht aus, sagt Schiller, daß die Kunst auch einmal eine moralische Wirkung, einen „wohltätigen Einfluß auf die Sittlich keit haben“ könne, ohne sich diese Wirkung doch zum Zweck zu setzen, ja, am ehesten sogar, wenn sie sich diesen Einfluß nicht zum Zweck setze (vgl. V. 360). Des weiteren aber heißt die These vom Vergnügen als dem Zweck der Kunst keineswegs, daß die Kunst und daß die Tragödie im besonderen ihrem Wesen nach nis (Grundbegriffe der Poetik. Zürich 31956, S. 144 ff.) vgl. K. L. Berghahn: a. a. O. (Anm. 1), S. 494, Anm. 10 5 nichts mit Moralität zu tun hätten. Wir wissen schon, welches das spezifische Vergnügen ist, das die tragischen Gegenstände gewähren: Es ist das Gefühl des Erh abenen, dem in dieser Abhandlung noch, in einer nicht ganz deutlich abgegrenzten Weise, das Gefühl des Rührenden an die Seite gestellt wird (vgl. V. 361 ff.), dessen Gegenstand wir aber wohl mit dem Pathetisch -Erhabenen der späteren Abhandlungen identifizieren dürfen. Moralität nun gehört nach dieser Abhandlung in doppelter Weise zum Wesen der Erhebung (wie des freien Vergnügens überhaupt): zum einen als Bedingung, zum anderen als Mittel (vgl. V. 359 f.) – wobei (das muß hier angemerkt werden) Schiller nicht immer zwischen zwei Bedeutungen des Terminus „Moralität“ scharf unterscheidet, nämlich zwischen einer sozusagen harmlosen, deskriptiv-ontologischen Bedeutung, die sich einfach auf die geistige Existenz des Menschen bezieht, 8 und der eigentlich normativ-praktischen Bedeutung von Moralität, welche das Vermögen der sittlichen Selbstbestimmung nach praktischen Gesetzen meint. Mit dem Bewußtsein dieser terminologischen Unschärfe der Schillerschen Redeweise im Hintergrund können wir nun daran gehen, zu klären, was Moralität als Bedingung des tragischen Vergnügens und was Moralität als Mittel des tragischen Vergnügens meint. Daß Moralität die Bedingung des tragischen Vergnügens sei, darunter versteht Schiller offenbar, daß unsere Moralität (als Vermögen der praktischen Vernunft) der Grund dafür sei, daß wir neben und im Kontrast zur sinnlich -natürlichen Unzweckmäßigkeit des tragischen Unglücks eine geistige oder moralische Zweckm äßigkeit empfinden können. Worin diese „moralische Lust“ (vgl. V. 364 f.), wie Schiller auch sagt, genau besteht, wird in dieser Abhandlung nicht ganz klar. Zum einen ist die Rede vom „höchsten Bewußtsein unserer morali-<168>schen Natur“, welche uns das „höchste moralische Vergnügen“ bereite (vgl. V. 364), so daß wir es – wie oben angedeutet – geradezu mit einem Frohsinn über unsere V ernunftbestimmtheit zu tun haben. An anderer Stelle nimmt Schiller einen Gedanken von Burke auf, wonach die Zweckmäßigkeit eines miterlebten Leidens darin liegt, daß uns das Leiden zur Tätigkeit auffordere und daher zweckmäßig für die menschliche Gesellschaft“ sei (vgl. V. 363).9 Darüber hinaus aber verknüpft Schiller das Gefühl der Zweckmäßigkeit im ästhet ischen Subjekt unmittelbar mit der objektiven moralischen Zweckmäßigkeit im tragischen Gegenstand selbst; insofern wohl dient Moralität als Mittel des tragischen Vergnügens, nämlich als auf der Bühne dargestellte Moralität. So zeigt uns Schiller in einer Reihe von Beispielen, welch „himmlisches Vergnügen“ uns „die Erfahrung von der siegenden Macht des sittlichen Gesetzes“ bereitet, wenn uns 8 Ich erinnere hier an die englische Redeweise von den „moral sciences“, die im Deutschen mit „Geisteswissenschaften“ übersetzt wurde. Vgl. Edmund Burke: a. a. O. (Anm. 3). S. 45 (part I, sect. XIV), sowie die erwähnte frühe Abhandlung Kants, in der es heißt: „. . . das Unglück anderer bewegt in dem Busen des Zuschauers teilnehmende Empfindungen und läßt sein großmütiges Herz für fremde Not klopfen. Er wird sanft gerührt und fühlt die Würde seiner eigenen Natur“ (I. Kant: a. a. O. Anm. 4. S. 212). 9 6 das moralische Heldentum dessen vorgeführt wird, der in seiner natürlichen, sinnlichen Existenz ein Unglück erleidet oder vernichtet wird, in seiner moralischen Rechtschaffenheit aber keinen Schaden nimmt oder gar durch seine moralische Rechtschaffenheit das Unglück für seine natürliche Existenz herbeigeführt hat (vgl. V. 365 f.). Freilich ist die Darstellung der Moralität auf der Bühne nicht auf die moralische Rechtschaffenheit des Helden eingeschränkt: „Reue, Selbstverdammung, selbst in ihrem höchsten Grad, in der Verzweiflung, sind moralisch erhaben, weil sie nimmermehr empfunden werden könnten, wenn nicht tief in der Brust des Verbrechers ein unbestechliches Gefühl für Recht und Unrecht wachte und seine Ansprüche selbst gegen das feurigste Interesse der Selbstliebe geltend machte“ (vgl. 366 f.). Die Darstellung moralischen Heldentums also und, allgemeiner, die Darstellung des Sieges der Moralität ist nicht nur ein legitimes, sondern ausgezeichnetes Mittel zur Hervorbringung des tragischen Vergnügens, des Gefühls des Erhabenen, wenn auch dieses Mittel nicht das einzige und unabdingbare Mittel der Darstellung ist; ich erinnere an den Burkeschen Gedanken von der sozialen Zweckmäßigkeit des Leids, der zwar wiederum ein moralistisches Moment in sich enthält, aber doch nicht die Darstellung eines Sieges der Moralität verlangt. Schließlich räumt Schiller, mit dem Hinweis auf Richard III. etwa, ein, daß uns auch die Zweckmäßigkeit eines raffinierten Verbrechens (welche er eine bloße „Natur“- oder „Verstandeszweckmäßigkeit“ nennt) auf Kosten der moralischen Zweckm äßigkeit ergötzen kann, wenn wir nur davon abgelenkt werden, daß es sich um „die Handlung eines moralischen Wesens“ handelt, insofern uns nämlich Zweckmäßigkeit unter allen Umständen Ver-<169>gnügen bereitet (vgl. V. 370). – Wir könnten hinzusetzen: Dieses Vergnügen an der Zweckmäßigkeit hat nicht mehr unsere „Moralität“ in einem normativ-praktischen Sinne, sondern im Sinne unserer geistigen Existenz überhaupt zur Voraussetzung. Ich übergehe zunächst die Abhandlung „Über die tragische Kunst“, die Schiller ebenfalls noch 1791 verfaßte, weil in ihr der Begriff des Erhabenen nur eine untergeordnete Rolle spielt und Schiller hier eher an die aristotelische Tradition an knüpft, und wende mich sogleich der Funktion des Begriffs der Moralität in der Schrift „Vom E rhabenen“ zu, die Schiller 1793 in seiner Zeitschrift „Neue Thalia“ veröffentlichte und deren 2. Teil in den „Kleineren prosaischen Schriften“ von 1801 unter dem Titel „Über das Pathetische“ abgedruckt wurde. Auch nach dies er Abhandlung ist der Grund des Erhabenheitsgefühls (in seinen positiven Momenten) das Bewusstsein unseres moralischen Vermögens, unserer Freiheit; und das Leiden erhebt unser Gemüt, weil unser moralisches Selbst, unsere Willensbestimmung, der Naturkausalität des Leidens entzogen ist und wir uns dessen bewußt werden. Durch dieses Bewußtsein des ästhet ischen Subjekts wird das dargestellte Leiden pathetisch erhabenen (vgl. V. 509 ff.). Schiller präzisiert dies: Das Gefühl des Erhabenen sei durchaus vereinbar mit dem Bewußtsein, daß man den Verlust natürlicher Güter keineswegs gelassen ertragen werde – „wenn man nur fühlt, daß man sich darüber hinwegsetzen sollte“. Das Gefühl der Pflicht also, nicht das Bewußtsein der eigenen moralischen Vollkommenheit, ist hier für Schiller Bedingung des Erhabenheitsgefühls (vgl. V. 511). 7 Im zweiten Teil der Abhandlung geht Schiller wiederum zu den Konsequenzen dieses Ansatzes für das tragisch -ästhetische Objekt über. Das „erste Gesetz der Tragischen Kunst“ sei „die Darstellung der leidenden Natur“ (mit „Natur“ ist die sinnliche Existenz des Menschen gemeint), das „zweite Gesetz“ „die Darstellung des moralischen Widerstandes gegen das Leiden“ (vgl. V. 515). Die Waffen aber dieses Widerstandes seien nicht physische, sondern die Ideen der Vernunft, worunter wir die Freiheit und das moralische Gesetz zu verstehen haben. Diese Ideen der Vernunft nun müssen, sagt Schiller, „in der Darstellung vorkommen“ – etwa dergestalt, daß der Held als moralische Person bei uns in Achtung gesetzt wird; insoweit bleibt Schiller noch auf der Linie des früher Gesagten; aber er setzt hinzu: „oder sie müssen durch die Darstellung geweckt werden“ (vgl. V. 518). Das aber heißt lediglich: In uns, dem Zuschauer, dem ästhetischen Subjekt, müssen die Ideen gew eckt werden. Schiller fo rdert zwar noch immer „moralisch“ zu nennende Qualitäten für das Dargestellte, aber dies nicht mehr in dem engen Sinne des moralisch Positiven. Das genannte zweite Gesetz der Tragischen Kunst, das die Darstellung des moralischen Widerstands gegen das Leiden fordert, wandelt Schiller nämlich so ab, daß es um die Darstellung der ethischen Anlage des <170> Menschen und um die Darstellung der Selbständigkeit des Geistes gehe, nicht jedoch notwendig um die Darstellung des moralisch richtigen Gebrauchs dieser Anlage (vgl. V. 526 f. u. 528). Er unterscheidet deshalb nun genau zwischen einer moralisch großen Person und einem bloß ästhetisch großen Gegenstand, sowie zwischen dem Erhabenen in moralischer Schätzung und dem Erhabenen in bloß ästhetischer Schätzung (vgl. V. 528 ff.). Erhaben in bloß ästhetischer Schätzung ist z. B. ein Mensch, der uns die Würde der menschlichen Bestimmung durch seinen Zustand vorstellig macht, auch, wenn er diese Bestimmung nicht in seinen Handlungen realisiert und uns deshalb durchaus moralisch mißfällt. Wir können wiederum an Richard III. oder an die Rache der Medea denken. Dagegen wäre erhaben in moralischer Schätzung eine Person, die sich zugleich jener Bestimmung gemäß verhält (vgl. V. 528 u. 535 f.). Ein erhab enes Objekt in moralischer Schätzung aber, so sagt Schiller nun, sei nicht notwendig ästhetisch brauchbar, da nämlich die sittliche Verbindlichkeit (das Sollen) der Freiheit der Phantasie Fesseln anlege und also dem Bedürfnis der Einbildungskraft (unseres eigentlich ästhetischen Vermögens) nicht günstig sei (vgl. V. 528 ff. u. 536 f.). Das Interesse der Einbildungskraft sei es, daß Rechthandeln möglich sei; dies aber sei nicht dasselbe wie das Interesse der Vernunft, daß nämlich recht gehandelt werde. Die Möglichkeit des Rechthandelns zeige sich in jeder starken Äußerung von Freiheit und Willenskraft, in jeder großen Handlung, sei sie auch moralisch falsch. Für das Interesse des Tragischen Dichters sei es daher „eins, aus welcher Klasse von Charakteren, der schlimmen oder guten, er seine Helden hernehmen will, da das nämliche Maß von Kraft, welches zum Guten nötig ist, sehr oft zur Konsequenz im Bösen erfordert werden kann“ (vgl. V. 535). Hieraus erkläre sich unser Interesse an einem lasterhaften Helden, „sobald er Glück und Leben wagen muß, um seinen schlimmen Willen durchzusetzen“ (vgl. V. 536). Mit der Darstellung der Kraft im Bösen wie im Guten verfolge der Dichter keinen anderen Zweck, als uns durch die Betrachtung derselben zu ergötzen, insofern unsere Phantasie dadurch auf unser Vermögen des Willens hingewiesen 8 werde (vgl. V. 533). Im gleichen Atemzug nun wird der gemischte Charakter der aristotelischen Tradition verworfen: „Woher sonst kann es kommen, daß wir den halbguten Charakter mit Widerwillen von uns stoßen und dem ganz schlimmen oft mit schaudernder Bewunderung folgen?“ (vgl. V. 536). Hier scheint uns nun ein merklicher theoretischer Fortschritt mit einer etwas zweifelhaften Konsequenz verknüpft zu sein. Der theoretische Fortschritt dieser Abhandlung liegt offensichtlich in der deutlichen Unterscheidung zwischen moralischer und ästhetischer Schätzung, zwischen moralisch Erhabenem und bloß ästhetisch Erhabenem und in der deutlichen Abtrennung der moralischen Zweckmäßigkeit vom Begriff des tragischen Gegenstandes, also des tragischen Gesche<171>hens und des tragischen Helden. Schiller geht nur den in seiner ersten theoretischen Abhandlung eingeschlagenen Weg konsequent zu Ende, indem er es als eine „offenbare Verwirrung der Grenzen“ erkennt, „wenn man moralische Zweckmäßigkeit in ästhetischen Dingen fordert“ (vgl. V. 536), und das heißt nun genauer, wenn man moralische Zweckmäßigkeit als notwendiges Moment am ästhetischen Gegenstand fordert. Der – wenn ich so sagen darf – „heroische Immoralismus“ jedoch, mit dem Schiller hier das große Verbrechen als Gegenstand unseres Vergnügens hinstellt, insofern es unser Freiheitsvermögen und die Möglichkeit des Rechthandelns beweise, scheint uns ein wenig unglaubwürdig: Gewiß, wir kennen jenes Vergnügen am raffiniert geplanten und (vielleicht auch) mit Willensstärke durchgeführten Verbrechen. Der Kriminalroman lebt davon; in der Komödie ist es denkbar; warum nicht auch in der Tragödie?– Aber ist es dann ein spez ifisch tragisches Vergnügen? – Und weiter: ist es denn überhaupt notwendig, das spezifisch tragische Vergnügen so zu denken, daß es eine Freude über das dargestellte Geschehen, die dargestellten (großen) Charaktere sei? – Ist nicht schon dies ein schiefer Ansatz? Von diesem Ansatz nun ist in der letzten tragödientheoretischen Abhandlung Schillers – mit dem Titel „Über das Erhabene“ – nichts mehr zu finden; sie wurde wohl um 1795 konzipiert und vor der Veröffentlichung 1801 noch einmal gründlich überarbeitet. Die Vorzüge dieser Abhandlung gegenüber den bisheri gen fallen sogleich in die Augen: l. Schiller verzichtet gänzlich auf jene befremdliche Qualifikation des ästhet ischen Objekts, insbesondere des tragischen Helden, nach der dieser durch die Kraft seiner tugendhaften oder verbrecherischen Handlungen die Erh abenheit seines und unseres Freiheitsvermögens zur Darstellung brächte und uns dadurch ergötzte. Das tragisch -erhabene Objekt ist nun nichts anderes mehr als „pathetisch“ im ursprünglichen Wortsinn: Es geht um „. . . die pathetischen Gemälde der mit dem Schicksal [ringenden] Menschheit, der unaufhaltsamen Flucht des Glücks, der betrogenen Sicherheit, der triumphierenden Ungerechtigkeit und der unterliegenden Unschuld, welche die Geschichte in reichem Maß aufstellt und die tragische Kunst nachahmend vor unsere Augen bringt“ (vgl. V. 806). 2. Dem tragischen Geschehen wird eine gewisse Allgemeingültigkeit, genauer: eine exemplarische Gültigkeit für die menschliche Existenz zugedacht: Der „Lüge 9 von der Harmonie zwischen Wohlsein und Wohlverhalten, wovon sich in der wirklichen Welt keine Spuren zeigen“ (vgl. V. 806), setzt Schiller die Wahrheit des Tragischen entgegen. <172> 3. Der Zuschauer wird demgemäß in der Tragödie mit dem wahren Schicksal der Menschheit konfrontiert; denn „nur in der Bekanntschaft mit den Gefahren ist Heil für uns“ (vgl. V. 806). 4. Schließlich bedeutet all dies: Die Erhabenheit des Tragischen liegt allein in der Macht, mit der es den Zuschauer erhebt, d. h. ihn an das Erhabene in ihm selbst, an seine eigene Würde, erinnert (vgl. V. 807). Das eigentlich Erhabene liegt im ästhetischen Subjekt, im Zuschauer, nicht im ästhetischen Objekt. – Damit gleicht Schiller die Struktur auch der tragischen Erh ebung an diejenige durch die Naturgegenstände an, wie sie schon Kant in der „Kritik der Urteilskra ft“ charakterisiert hatte. Mit alledem hat Schiller seine Theorie des Tragischen deutlich verbessert; allerdings stehen diesen Fortschritten immer noch einige empfindliche Mängel gegenüber. – Ein erster Mangel gerade dieser Abhandlung entsteht sogar erst durch den Verzicht auf jederlei „moralische“ Qualifikation der tragischen Helden: Das besondere Dram atische am tragischen Geschehen und am tragischen Unglück, daß es nämlich durch menschliche Handlungen, insbesondere die der Helden selbst, herbeigeführt wird, ist hier, in der letzten Fassung der Schillerschen Theorie, so gut wie gar nicht mehr berücksichtigt. Schiller arbeitet lediglich die Differenz des künstlichen, tragischen Unglücks zum „natürlichen“ Unglück im wirklichen Leben heraus : Sie besteht darin, daß das künstliche oder pathetische Unglück uns nicht wehrlos, sondern „in voller Rüstung“ antrifft, und daß es dem ästhetischen Zweck gemäß gestaltet werden kann (vgl. V. 805). Diese Differenz aber besteht ebenso zwischen einer wirklichen und einer künstlerisch dargestellten Naturkatastrophe. Wenn wir von dieser Abhandlung eine ähnlich vollständige Bestimmung des Tragischen erwarten wie von den früheren, so ist das tragische Geschehen also in einer gewissen Hinsicht unterbestimmt, und zwar in einer durchaus moralisch zu nennenden Hinsicht: Es fehlt nämlich jede Bezugnahme auf die Möglichkeit eines tragischen Fehlers oder einer tragischen Schuld des Helden. Freilich ließe sich dieser Mangel durch eine bloße Ergänzung der Schillerschen Theorie (in ihrem letzten Stadium) beheben. Dagegen verlangen die folgenden Mängel eine deutliche Korrektur der Schillerschen Auffassung: Schauen wir genauer hin, wie Schiller die tragische Erhebung in dieser letzten Abhandlung charakterisiert, so lesen wir etwa, das Gefühl der Erhebung beweise „unsere moralische Selbständigkeit“, insofern „wir erfahren . . ., daß wir ein selb ständiges Principium in uns haben“, nämlich das der Moralität. Vom Gefühl des Erhabenen gilt daher: „Der physische und der moralische Mensch werden hier aufs schärfste voneinander geschieden“ (vgl. V. 798). Nachdem Schiller „die pathetischen Gemälde der mit dem Schicksal [ringenden] Menschheit“ <173> beschworen hat, sagt er über die Wirkung solchen tragischen Geschehens : „Denn wo wäre 10 derjenige, der, bei einer nicht ganz verwahrlosten moralischen Anlage, . . . bei solchen Szenen verweilen kann, ohne dem ernsten Gesetz der Notwendigkeit mit einem Schauer zu huldigen, seinen Begierden augenblicklich den Zügel anzuhalten und, ergriffen von dieser ewigen Untreue alles Sinnlichen, nach dem Beharrlichen in seinem Busen zu greifen“ (vgl. V. 806). Das Erhabene erinnert uns also an das moralische Gesetz oder, wie es später heißt, an „unser wahres Vaterland“, d. i. an das Reich der moralischen Zwecke. – Dreierlei Fragen, so scheint mir, drängen sich hier dem kritischen Leser auf : Ist diese Erhebung erstens nicht allzu ununterscheidbar von dem, was Schiller noch in der Abhandlung „Über das Pathetische“ als moralische Zweckmäßigkeit von der ästhetischen Zweckmäßigkeit geschieden wissen wollte? Gewiß ging es dort noch um die Moralität des ästhetischen Gegenstandes selbst. Sollte aber die Unterscheidung zwischen Ästhetischem und Moralischem nicht auch auf der Seite des ästhetischen Subjekts gelten? Die zweite Frage betrifft den Schillerschen Dualismus, der in solchen Äußerungen liegt und der die Konzeption von der Wirkung des Tragischen mit einem Paradoxon belastet, das an einem glaubhaft konzipierten „Mischgefühl“ vorbeiführt. Verdeutlichen wir uns diesen Mangel, der nicht erst in dieser Abhandlung spürbar wird, noch durch einige Schillersche Sätze: „Das Erhabene“, so heißt es, „verschafft uns . . . einen Ausgang aus der sinnlichen Welt, worin uns das Schöne gern immer gefangen halten möchte“ (vgl. V. 799). Die „erhabenen Rührungen“ stärken uns zur „freien Aufhebung alles sinnlichen Interesses“; denn: „Fälle können eintreten“, wo dem Menschen „nichts weiter übrig bleibt, als sich in die heilige Freiheit der Geister zu flüchten“ (vgl. V. 805). Zwar erwähnt Schiller auch die Notwendigkeit, in unserer Bildung (unserer „ästhetischen Erziehung“) das Erhabene mit dem Schönen zu verbinden, und spricht von der Aufgabe des Schönen, unsere Naturbestimmung und unsere Vernunftbestimmung miteinander zu versöhnen; aber die Aufgabe des Erhabenen ist es allein, uns an „unser wahres Vaterland“, die „intelligible Welt“ zu erinnern (vgl. V. 807). – Schon in dem Aufsatz „Vom Erhabenen“ hieß es, die Vorstellung des Erhabenen lehre „uns, den sinnlichen Teil unseres W esens, der allein der Gefahr unterworfen ist, als ein auswärtiges Naturding betrachten . . ., das unsere wahre Person, unser moralisches Selbst, gar nichts angeht“ (vgl. V. 502). – Suchen wir hier nicht, so müssen wir fragen, allzu schnell einen Ausgang aus der sinnlichen Welt, als daß wir uns noch lange mit der Erschütterung durch das tragische Geschehen abgeben könnten? Ist das „Wehsein“ – falls es bei einem so recht gebildeten Menschen überhaupt noch stattfinden kann – nicht allzu schnell vergessen, als daß wir es mit einem tragischen „Mischgefühl“ zu tun haben könnten? <174> Drittens nun scheint mir diese Scheidung des physischen und des moralischen Menschen mit der schon bei der ersten theoretischen Abhandlung offenen Frage zusammenzuhängen, welche Funktion genau das „Bewußtsein unseres moralischen Vermögens“ im Gefühl des Erhabenen habe. Gewiß meint Schiller mit diesem Bewußtsein kein theoretisches Wissen. Impliziert aber die Tatsache, so müssen wir nun fragen, daß unser moralisches Vermögen eine Bedingung unserer Erhebung 11 ist, schon, daß diese Erhebung selbst in dem gefühlsmäßigen Bewusstsein dieses Vermögens, deutlicher noch: in dem Frohsein über unser moralisches Vermögen, besteht? Freilich, wenn die Erhebung darin nicht besteht, so muß die Frage bean twortet werden, worin sie denn eigentlich besteht, und dann erhalten wir in dieser wie in den früheren A bhandlungen Schillers keine rechte Auskunft. III. Ich komme damit zum dritten Schritt meiner Darlegung, zum Versuch einer Ko rrektur der Schillerschen Theorie des Tragischen, soweit sie durch einen Rückgriff auf die aristotelische Tradition möglich ist. Zunächst eine knappe Erinnerung an die aristotelische Definition der Tragödie. – Ich übergehe alle Bestimmungsstücke, die schon zum Begriff des Dramas überhaupt gehören, und beschränke mich auf die für die Tragödie im besonderen en tscheidenden Momente. – Die Tragödie ist nach Aristoteles die Darstellung einer ernsthaften Handlung, welche durch die Erregung von Mitleid und Furcht die Reinigung (Katharsis) derartiger Affekte bewirkt. 10 – Statt „Mitleid und Furcht“ könnten wir in der Übersetzung durchaus stärkere Ausdrücke benutzen („ mitleidender Jammer und erschrockene Furcht“ z. B.). Worauf es jedoch eigentlich ankommt, das sind die Konsequenzen, die sich aus diesen Definitionsmomenten für die Anlage der dramatischen Handlung und der Charaktere ergeben. – Unklar bleibt in der aristotelischen Poetik, was wir uns eigentlich unter der Katharsis (Reinigung) vorzustellen haben. Es gibt seit Lessing hier recht überzeugende Rekonstruktionsversuche aus anderen aristotelischen Schriften, die ich bei meinen eigenen Überl egungen mitbenutzen werde. 11 Schiller selbst hat in der Abhandlung „Über die tragische Kunst“, die etwa zur gleichen Zeit wie der Aufsatz „Über den Grund des Vergnügens an tragischen <175> Gegenständen“ entstanden ist, den Versuch gemacht, die aristotelische Tradition in seine Überlegungen miteinzubeziehen. Die Abhandlung zeigt, daß er Lessings „Hamburgische Dramaturgie“ studiert hat, aber sie zeigt einen mindestens ebenso großen Einfluß der Corneille'schen Aristoteles-Interpretation. Auffällig ist, daß Schiller zwar den Begriff des Mitleids ausführlich erläutert, nicht aber den der Furcht, und daß merkwürdigerweise von einer Katharsis (Reinigung) nirgendwo die Rede ist. – Ich werde au f einige Details dieser Schillerschen Aristoteles-Rezeption, die in den oben referierten späteren Schillerschen Schriften kaum Spuren hinterlassen hat, noch z urückkommen. Der erste Mangel der Schillerschen Theorie des Tragischen (in ihrer letzten Fassung) war das Übergehen des spezifisch Dramatischen am tragischen Geschehen. – 10 Vgl. Aristoteles: Poetik. 1449 b 24-28. Vgl. etwa: Hans Wagner: Einiges zur Lehre des Aristoteles über die Tragödie. In: Kulturwissenschaften. Festgabe für Wilhelm Perpeet. Hrsg. von H. Lützeler. Bonn 1980. S. 445-465. – Wiederabgedruckt in: H. Wagner: Kritische Philosophie. Systematische und historische Abhandlungen. Hrsg. von K. Bärthlein und W. Flach. Würzburg 1980. S. 261-271. 11 12 Das dargestellte Unglück wird durch menschliche Handlungen herbeigeführt. Das heißt zunächst, es gibt Verursacher, es gibt Verantwortliche; des weiteren: die Verantwortlichen, zumindest die Mitverantwortlichen, sind gerade die Protagonisten, die Helden selbst. Aristoteles gibt den Grund an, warum dies so sein muß: Wären die tragischen Helden in jeder Hinsicht schuldlos, so wäre das Geschehen für uns einfach ärgerlich und empörend. Es würde nicht unser Mitleid und unsere Furcht erregen, sondern eher unseren Zorn.12 In seinem Aufsatz „Über die tragische Kunst“ tendiert Schiller dazu, diese aristotelische Bedingung abzuschwächen oder gar zu leugnen: Es schwäche jederzeit unser Mitleid, „wenn sich der Unglückliche . . . aus eigner unverzeihlicher Schuld in sein Verderben gestürzt“ habe (vgl. V. 379). Wenn das Unglück dagegen „durch den Zwang der Umstände“ und „von äußerlichen Dingen, die weder Willen haben, noch einem Willen unterworfen sind“, herbeigeführt werde, werde das Mitleid „durch keine Vorstellung moralischer Zweckwidrigkeit geschwächt“ (vgl. V. 379). – Andererseits tadelt Schiller gerade die griechische Tragödie, weil sie die Ursache des Verhängnisses in eine blinde Notwendigkeit des Schicksals gelegt habe; unsere Unzufriedenheit mit dem Schicksal müsse sich auf der höchsten Stufe der tragischen Kunst „in die Ahndung oder lieber in ein deutliches Bewusstsein einer teleologischen Verknüpfung der Dinge, einer erhabenen Ordnung, eines gütigen Willens“ verlieren (vgl. V. 381). – Hieße dies nicht wiederum, so müssen wir fragen, daß das tragische Unglück letztlich, unter einem höheren (intelligiblen) Gesichtspunkt, gar kein echtes Unglück wäre? – Jedenfalls ist unter diesem Blickwinkel verständlich, warum für Schiller jede Schuld des tragischen Helden von vornherein eine „unverzeihliche Schuld“ ist. Dies aber, unverzeihlich, soll die tragische Schuld nach Aristoteles gerade nicht sein. <176> Damit hängt ein Zweites zusammen: Das Unglück wird durch Fehler des tragischen Helden herbeigeführt; aber es geht weit über das hinaus, was wir uns etwa als eine heilsam belehrende Strafe für den Fehler vorstellen könnten. Aristoteles gibt auch dafür wieder den Grund an: Das tragische Geschehen soll unseren Mitleidsjammer, unsere Furcht erregen. Mitleid aber können wir nur mit unseresgleichen haben, mit jemandem, der mindestens so vortrefflich wie wir ist (und möglichst noch ein Stück vortrefflicher, damit wir gern an seinem Schicksal Anteil nehmen), aber der doch, ebenso wie wir, mit Fehlern behaftet ist. 13 Stürzt ein ausgemachter Schurke ins Unglück, so sagen wir nur: recht so! Denn ein ausgemachter Schurke ist nicht unseresgleichen; und die gerechte Strafe für einen Schurken kann uns keine Furcht einjagen. Denn natürlich: ausgemachte Schurken gehen nicht ins Theater. – Alles in allem: der Zweck, Mitleid und Furcht zu erregen, ist der Grund, warum die Schwarz-Weiß-Charaktere, die Schiller in seinem Aufsatz „Über das Pathetische“ als tragische Helden ins Auge faßt, in keiner 12 13 Aristoteles: a. a. O: (Anm: 10):1453 a 7 – 17 und 1452 b 32-36 Aristoteles: a. a. O. (Anm. 10). 1453 a 1-7; 1454a 16 -19 und b 8-15 13 guten Tragödie, und natürlich auch in keiner Schillerschen, einen Platz haben. Mit gutem Grund also hat Schiller dieses theoretische Element aus den Überlegungen seiner letzten Abhandlung gestrichen. In dem Aufsatz „Über die tragische Kunst“ hatte Schiller (obwohl er eine tragische Schuld des Helden verworfen hatte) noch am „gemischten Charakter“ der aristotelischen Tradition festgehalten: „Der tragische Dichter gibt also mit Recht den gemischten Charakteren den Vorzug, und das Ideal seines Helden liegt in gleicher Entfernung zwischen dem ganz Verwerflichen und dem Vollkommenen“ (vgl. V. 391 f.). Wenn er daher dem „Zwang der Umstände“ als Quelle des tragischen Unglücks den Vorzug gibt, so kritisiert er doch zugleich auch die Gestalt des „Bösewichts“ selbst dort, wo dieser nur als Gegenspieler des Haupthelden fungiert: „Es wird jederzeit der höchsten Vollkommenheit seines Werkes Abbruch tun, wenn der tragische Dichter nicht ohne einen Bösewicht auskommen kann . . . Shakespeares Jago und Lady Macbeth, Kleopatra in der Rodogune, Franz Moor in den Räubern zeugen für diese Behauptung“ (vgl. V. 379). Wie steht es nun in dieser Hinsicht mit der Moralität im Theater? Moralität als Freiheitsvermögen muss sich tatsächlich im Dargestellten, in den handelnden Personen erweisen, und zwar deshalb, weil sonst nicht tragische Fehler und tragische Schuld denkbar wären, weil sonst das dargestellte Unglück ein bloß ärgerliches wäre. Aber weder dieses dargestellte Vermögen noch unser eigenes Vermögen, an das es uns erinnern mag, ist etwas, worüber wir in der Tragödie Anlaß hätten, froh zu sein, es ist kein unmittelbarer Grund der Erhebung, eher der <177> erschrockenen Furcht, wie sie im 1. Stasimon der Sophokleischen „Antigone“ zum Ausdruck kommt: „Vieles ist gewaltig und nichts gewaltiger als der Mensch ...“14 Ein weiterer Mangel der Schillerschen Tragödientheorie war die Unterschätzung, um nicht zu sagen: Verdrängung der tragischen Erschütterung. Die exemplarische Gültigkeit, die ästhetische Wahrheit des tragis chen Unglücks, deren Konsequenzen unser Mitleid und unsere Furcht sind, läßt es nicht zu, daß wir, wie Schiller in dem letzten Aufsatz nahelegt, geschwind in andere Sphären, in die intelligible Welt flüchten, als gehe uns das Unglück eigentlich gar nichts an insofern wir nämlich eigentlich Vernunftswesen seien und unser Vaterland anderswo hätten. Die exemplarische Gültigkeit des Dargestellten (dasjenige, was die dichterische Darstellung überhaupt „philosophischer und bedeutsamer“ als die historische macht15) hat im Falle der Tragödie gerade unsere erschrockene Furcht zur Folge (die in Schillers Aufsatz „Über die tragische Kunst“ bezeichnenderweise unerwähnt Vgl. Sophokles: Antigone, Vers 332-375. – Karl Reinhardt etwa übersetzt den ambivalenten Ausdruck „deinon“ gar mit „unheimlich“. – Vgl. insbes. Vers 364-367 (in Reinhardts Überse tzung: „Im erfindenden Geiste/Nimmer verhoffter Dinge Meister/Geht er die Bahn, so des Guten/Wie des Bösen . . .“ (Sophokles: Antigone. Übers. und eingel. von K. Reinhardt. Göttingen 3 1961, S. 41 f.). 15 Aristoteles: a. a. O. (Anm. 10). 1451 a 36-b 32 14 14 bleibt) – die Furcht, daß wir vor Ähnlichem nicht gefeit sind, weil der Held unseresgleichen ist. 16 Gewiß, wir sind Vernunftwesen; aber wir sind ebenso Lebewesen, vernunftbestimmte Lebewesen; und wir sind nicht „so gebaut“, daß sich ein Teil von uns, ein Teil des vernunftbestimmten Lebewesens, davonmachen könnte. Vernunft und Leben sind keine Teile. Die tragische Erschütterung muß deshalb eine echte Erschütterung des Gefühls sein. – Freilich, bei der bloßen Erschütterung, beim bloßen Bejammern und beim bloßen Erschrecken darf es nicht bleiben. Durch die Erregung von Mitleid und Furcht, durch die Erschütterung, aber auch wirklich durch sie soll unser Gefühl gereinigt, soll es erhoben werden. IV. Was denn nun, wird der Leser fragen: gereinigt oder erhoben? – Hiermit komme ich zum letzten Schritt meiner Überlegungen, dem systematisch (nicht historisch) zu verstehenden Vorschlag, Reinigung (Katharsis) und Erhebung als dasselbe zu denken. – Sind das nicht zwei verschiedene Begriffe? – Nein, es sind zwei Met aphern, die erst noch auf den Begriff gebracht werden wollen; und warum nicht <178> auf denselben Begriff oder, um mich exakter auszudrücken, auf zwei äqu ivalente Begriffe für dieselbe Sache?– Ich möchte zunächst auf eine günstige Bedingung für die Verknüpfung der beiden Metaphern hinweisen: Es ist die in beiden Metaphern vorausgesetzte Dreigliedrigkeit eines Verhältnisses von Gefühlszuständen im ästhetischen Subjekt, im Zuschauer der Tragödie. Zwei Glieder dieses Verhältnisses kommen in den Aristotelischen und Schillerschen Texten unmittelbar zur Sprache. Das eine dieser Glieder bilden die durch das tragische Geschehen erzeugten Affekte, Mitleid und Furcht bei Aristoteles, das Wehsein, das Gefühl der Unzweckmäßigkeit bei Schiller. Das zweite Glied des Verhältnisses ist der durch die Tragödie letztlich bezweckte Gefühlszustand, der Zustand der gereinigten Affe kte bei Aristoteles, der des Erhobenseins bei Schiller. Das dritte Glied schließlich des Verhältnisses ist ein trivialerweise vorauszusetzender Alltagszustand des Gefühls, von dem wir annehmen müssen, daß er ein nicht in jeder Hinsicht befriedigender Zustan d ist, ein Zustand, in dem wir es nötig haben, hin und wieder ins Theater zu gehen, um solch traurige Dinge wie Tragödien zu sehen. Gehen wir zunächst auf das erstgenannte Glied des Verhältnisses ein: Hier scheint uns die Verknüpfung der beiden theoretisch en Traditionen relativ unproblematisch zu sein. Das „Wehsein“, von dem Schiller spricht, beruht durchaus auf einer Sympathie mit dem leidenden Helden und ist kaum in irgendeinem entscheidenden Momente vom aristotelischen „Mitleid“ zu unterscheiden. Und die von Schiller in seiner letzten Abhandlung so deutlich herausgearbeitete exemplarische Gültigkeit des tragischen Geschehens für unsere menschliche Existenz kann keine andere Konsequenz haben als die erschrockene Furcht (den Phobos) des Aristoteles, dass uns Ähnliches widerfahren könnte. „Mitleid“ und „Furcht“ bezeichnen 16 Aristoteles: a. a. O. (Anm. 10). 1453 a 4-6. 15 den Fremd- und den Selbstbezug unseres Schmerzes im Angesicht des dargestellten Unglücks. – Allerdings, wenn Schiller den Schmerz lediglich auf die Sinnlichkeit des Menschen beschränken will, so müssen wir Bedenken haben; nicht nur, weil darin ein uns heute fremder Dualismus am Werk ist, sondern weil dabei völlig unberücksichtigt bleibt, daß dem Unglück, welches wir miterleben (und zwar durchaus auch in Schillerschen Tragödien von den Räubern bis zum Wallenstein), und deshalb auch dem Unglück, welches w i r zu fürchten haben, auch tragische Fehler zugrundeliegen. Wir können aber unsere Fehler nicht in unsere Sinnlichkeit verdrängen, so, als habe unser wahres Selbst damit nichts zu tun. Nich t bloß unser Glücksgefühl, sondern auch unser moralisches Selbstbewusstsein ist betroffen, ist ein leidendes. Unsere erschrockene Furcht beruht gerade darauf, daß wir selbst nur allzu gut wissen, wie häufig wir uns dumm anstellen, und wie häufig wir uns moralisch unkorrekt verhalten. Hier ist Schiller in einem entscheidenden Punkte zu korrigieren, und zwar, wenn wir auch nur seiner eigenen dramatischen Praxis gerecht werden wollen. <179> Ein wenig schwieriger liegen die Verhältnisse im Hinblick auf das zwei te Glied der genannten emotionalen Struktur, im Hinblick auf den durch die Tragödie bezweckten Endzustand des Gefühls. Hier ist die Korrektur des Schillerschen Gedankens am schwerwiegendsten, die Präzisierung des aristotelischen am gewagtesten. Meine Frage lautet: Wie läßt sich, auf der Grundlage des bisher Gesagten, E rhebung so verstehen, daß sie einer Katharsis gleichkommt, – und die Katharsis so verstehen, daß sie einer Erhebung gleichkommt? Um diese Frage zu beantworten, können wir einen Schillerschen Gedanken der Struktur nach aufgreifen und uns fragen: Wie können wir zu demselben Objekt, dem tragischen Geschehen, in ein zweites, ein anderes Verhältnis treten, ihm gegenüber zu einem anderen Gefühl gelangen? – Das entscheidende Charakteristikum des tragischen Geschehens, damit es unser Gefühl treffen kann, ist seine exemplarische Gü ltigkeit auch für uns. Sie ermöglicht Mitleiden und schaudernde Furcht: Dergleichen könnte auch uns treffen! – Dies ist das eine. Zugleich wissen wir aber, daß uns schon manches Unglück getroffen hat (und zwar ebenfalls au fgrund so mancher Fehler, die wir begangen haben). Insofern zeigt uns das tragische Geschehen auch, daß wir mit unserem Leiden und unseren Fehlern keine Ausnahme sind; daß dies, was wir täglich erfahren, d i e menschliche Situation ist. – Dies ist das andere. Es ist der Grund eines Gefühls, das nicht mehr nur Jammer und Schrecken ist, sondern darüber hinaus das Bewußtsein, daß wir diese allgemein menschliche Situation nicht nur aushalten müssen, sondern auch aushalten können, zumal das dargestellte Leid in aller Regel ein noch viel gewaltigeres ist, als wir es selbst je erlebt haben. – Die exemplarische Gültigkeit des tragischen Gesch ehens hat also eine doppelte Funktion: die Funktion, uns Jammer und Schrecken einzuflößen, u n d die Funktion, uns aus der Einzigartigkeit und Einsamkeit unseres eigenen Leidens und Schuldigseins herauszuheben. Wir können also in ein doppeltes Verhältnis zum tragischen Geschehen treten. In der Perspektive vom tragischen Geschehen auf unsere Existenz, insbesondere unsere Zukunft, erleben 16 wir unser Bedrohtsein; in der Perspektive von unserer eigenen (durch die Tragödie aufgewühlten) Erfahrung auf das tragische Geschehen selbst dagegen erleben wir die Fähigkeit, unsere wahre Situation anzuschauen, zu verkraften, ohne sie zu verdrängen, ohne davonzulaufen. Erlebten wir eben noch unsere Kleinheit und Schwäche, unser Ausgeliefertsein und Schuldigsein, so erleben wir uns nun plötzlich – durch eine Umkehrung der Perspektive – als stark. Wir s ind nicht nur betroffen, sondern wir stehen sozusagen über unserer Betroffenheit. Was also heißt nun Katharsis, was heißt Erhebung? – Um den letzten Schritt zu tun, müssen wir noch kurz jenes (zeitlich) erste Glied des vorausgesetzten Verhältnisses im ästhetischen Subjekt bedenken: unser alltägliches Gefühl, den All-<180> tagszustand unseres Gefühls. Schon Lessing hat herausgestellt, daß dieser es sein muss, welcher der Behandlung, welcher der Reinigung bedarf. Denn natürlich wäre es schlecht denkbar, daß wir ins Theater gingen, um uns dort eine Krankheit all ererst zuzuziehen, die dann anschließend der Heilung bedürfte. Wie ist nun der Alltagszustand unseres Gefühls im Bereich von Mitleid und Furcht, und also mit Bezug auf unser Leiden und mit Bezug auf unsere Fehler, durch die wir uns dieses Leiden zum Teil selbst zuziehen? Es ist ein schwankender und unausgeglich ener Zustand, eine schwankende und unausgeglichene Mischung aus Optimismus und Pessimismus, aus Verdrängung und Sich -Festkrallen im Leid und in der Schuld. Anderen schieben wir allzu gern die Schuld zu. Vor dem Unglück der anderen verschließen wir allzu gern die Augen, weil wir nicht wissen wollen, daß uns dergleichen selbst treffen kann. Oder auch: wir verlieren uns in dem Bejammern unserer Situation und in peinigenden Selbstvorwürfen. Unser alltägliches Gefühl ist nicht in Ordnung, es bedarf der Reinigung, der Läuterung. Diese Katharsis zu erzeugen, unternimmt die Tragödie durch die Erregung von Mitleidsjammer und erschrockener Furcht angesichts eines exemplarisch gültigen tragischen Geschehens, dessen Anschauen uns unser Leid und unsere Fehlerhaftigkeit ebenfalls anzuschauen, auszuhalten und anzuerkennen ermöglicht. Was heißt dies nun anderes, als daß wir angesichts des gewaltigen Leids und der Feh ler auf der Bühne schließlich über unser bloßes Mitleiden und über unsere bloße Furcht erhoben werden, erst recht aber über unser alltägliches unangemessenes Verhältnis zu Leid und Fehlerhaftigkeit erhoben werden? die bloße Betroffenheit. Schon deshalb ist unsere Vernunft nicht Gegenstand unseres Frohseins. – Nennen wir, ein wenig losgelöst von der Umgangssprache, jeden Zustand des Gefühls, den wir gern beibehalten, ein Vergnügen, so ist das Erlebnis j ener Freiheit, das wir auch <181> „Gefühl der Katharsis“ oder „Erhebung“ nennen, das spezifisch tragische Vergnügen. Eine kurze Bemerkung – wie versprochen – zur Komödie: Daß wir über unser , mehr oder minder großes Leid und über unsere mehr oder minder großen Fehler auch lachen können – die alten Griechen meinten übrigens gerade unmittelbar nach dem Erlebnis des Tragischen -, dies ermöglicht die Komödie. Ich komme zum Titel meines Aufsatzes zurück: Das Theater – eine moralische Anstalt? Gewiß! – Denn erstens setzt das Theater unsere moralische Urteilsfähigkeit und damit praktische Vernunft (als Bewußtsein praktischer Prinzipien) voraus – insofern ist Schiller im Recht. Zweitens – dies hat Schiller nicht gesehen – es reinigt unser Gefühl auch und gerade in seiner Haltung zu unserer moralischen Fehlerhaftigkeit, zu der prinzipiellen Kluft zwischen den Forderungen der praktischen Vernunft und der mangelhaften Erfüllung dieser Forderungen. – In diesem genau umgrenzten zweifachen Sinne ist das Theater eine moralische Anstalt. Jetzt erst können wir verstehen, in welchem Sinne tragische Erhebung etwas mit unserem Freiheitsvermögen zu tun haben kann. Erhebung ist tatsächlich ein Erlebnis von Freiheit, wenn man so formulieren will: ein (gefühlsmäßiges) Bewusstsein von Freiheit. Aber sie ist nicht das Bewußtsein unserer Freiheit überhaupt als Vernunftwesen (als welche uns gar das Leid gar nichts anhaben könnte), sondern das Erlebnis einer ganz bestimmten Freiheit, zu der uns das tragische Mitleid und die tragische Furcht verhelfen: zu einem spezifischen Vermögen des Gefühls angesichts des menschlichen Leids und der menschlichen Fehlerhaftigkeit, dem Vermögen, die Wahrheit über uns auszuhalten. – Gewiß ist zu alledem Vernunft vorau sgesetzt: Nur Vernunftwesen sind in der Lage, die exemplarische Allgemeinheit eines Geschehens zu erfassen; dies aber gilt für beide Stadien und Perspektiven des Gefühls, für die Betroffenheit durch das Tragische wie für unsere Erhebung über Dieser Text, der auch meiner Bonner Antritt svorlesung von 1983 zugrunde lag, ist aus der Zusammenarbeit mit meinem Lehrer Hans Wagner entstanden, dessen Seminare zur Tragödientheorie ich mehrfach als Assistent betreut habe. Hans Wag ner hatte, wie in Fußnote 11 angemerkt, vorher seinen Aufsatz zur Tragödientheorie des Aristoteles veröffentlicht, erst später hat er seine umfassende Darste llung „Aesthetik der Tragödie von Aristoteles bis Schiller“ (Würzburg 1987 – Königshausen und Neumann) folgen lassen. Ohne meinen Lehrer für alle Überlegungen (insbe sondere im letzten Teil meines Aufsatzes) verantwortlich machen zu wollen, möchte ich doch betonen, dass ich Hans Wagner hier wie auch sonst entscheidende theoretische Anregungen verdanke. Seinem Andenken widme ich diese Web-Fassung und freue mich, auf diesem Wege auf Hans Wagners schönes und lehrreiches Buch aufmerksam machen zu können.1 7] 17 Drittens aber – dies muß zur Vermeidung von Mißverständnissen gesagt werden: Erhebung und Reinigung verhelfen unserem Gefühl zur Angemessenheit, zur „tugendhaften Fertigkeit“, um mit Aristoteles und Lessing zu reden; aber diese „tugendhafte Fertigkeit“ ist keine moralische Tugend, sondern eine Tugend des Gefühls, eine ästhetische Tugend, die wir vielleicht treffend als „ästhetische Tapferkeit“ bezeichnen könnten: jene Dauerhaltung, die wir auch, nachdem das Hochgefühl der Erhebung abgeklungen ist, beizubehalten uns bemühen können. Auch insofern können wir Schiller zustimmen: Das Theater, wie die Kunst überhaupt, setzt sich nicht unsere moralische Besserung zum Zweck. Kunst zielt auf ein je spezifisches Vergnügen und dadurch auf die Verwandlung unseres Gefühls. Das spezifische Vergnügen des tragischen Theaters nennen wir „Katharsis“ und „Erhebung“, die daraus resultierende Haltung „Tapferkeit des Gefühls“. [Zusatz zur Web-Fassung dieses Aufsatzes 2002 Vgl. auch den Text meiner Gedenkrede „ Hans Wagner – Prinzipientheorie und Menschenwürde“ – als Download in meinem Informationsportal 17 18