4. Impulsgesteuertes Lernen
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4. Impulsgesteuertes Lernen
4. Impulsgesteuertes Lernen B - 11 Da steht ein Haus. Wollen wir hineingehen? Ja, aber wie kommen wir hinein? Durch die Tür, aber wir haben keine. Dann müssen wir eben eine einbauen. Gut, wohnt schon jemand in dem Haus? Mal schaun, wo ist denn hier die Klingel? Die kommt rechts neben die Tür. So, jetzt können wir klingeln. Es macht keiner auf, gehen wir einfach rein. Wie dunkel es hier ist! Wir brauchen ein Fenster oder auch zwei. Mach doch mal die Fenster auf. Was siehst du? Da stehen ja noch andere Häuser. Ja, wir sind in einem Dorf. Oder ist das etwa eine Stadt? Schau, da hinten die Hochhäuser! B - 12 Impulsgesteuertes Lernen verbindet Lehrende und Lernende auf besondere Weise. Einerseits gibt der Lehrende etwa durch die Reichhaltigkeit des Materials Impulse, die den Fortschritt des Lehrgangs maßgeblich beeinflussen; andererseits achtet er selbst auf die Impulse, die sich aus der Arbeit der Lernenden ergeben. In diesem Zusammenhang ist hier die Einführung in das impulsgesteuerte Lernen bewusst induktiv geschehen. Impuls i Der Begriff Impuls (lat. impellere/impulsus = antreiben) in der Bedeutung von Antrieb, Anstoß ist gemeinhin aus den Bereichen Physik, Physiologie und Psychologie als Fachterminus bekannt. In der Didaktik versteht man unter Impuls »eine geplante oder spontan geäußerte Einwirkung auf den Schüler, die dessen Eigenaktivität bei der Bewältigung von Problemen und Aufgabenstellungen sowie bei Störungen im Lernprozess stimulieren, strukturieren und steuern soll« (vgl. Keck/Sandfuchs 1994). In der Geschichte der Didaktik taucht das Wort Impuls bzw. Impulsunterricht erstmals bei Hugo Gaudig zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf. Gaudig wandte sich gegen den damals vorherrschenden sogenannten Frageunterricht und plädierte für einen »Fragelosen Unterricht«. Er wollte Fragen durch Impulse ersetzt sehen, die das selbstständige Denken der Schüler fördern und ihr Selbstbewusstsein steigern sollten. In den neueren Fachdidaktiken jedoch ist das Wort Impuls für das Fach Deutsch als Fremd- bzw. Zweitsprache nicht oft zu finden. In dem 1999 erschienenen Band Fertigkeit Schreiben des Goethe-Instituts z. B. taucht dieser Begriff in allgemeiner Bedeutung im Kontext Kreatives Schreiben auf (vgl. Kast 1999), bei Huneke (1997), Storch (1999) und bei Bimmel/Rampillon (2000) im Sinne einer Äußerung bzw. eines Stimulus, die eine Reaktion beim Schüler auslösen soll. Im Register des Handbuchs der Fremdsprachendidaktik von Bausch/Christ/Krumm (Hrsg.) sucht man vergeblich danach. 4.1 Der Impuls im hermeneutisch orientierten Lernprozess In der hermeneutisch orientierten Fremdsprachendidaktik erhält der Impuls einen zentralen Stellenwert, da er Lernprozesse auslöst. Er wird der Zielgruppe unter anderem vom Lehrer gegeben und bewirkt, das ➡ Vor- und Weltwissen der Lernenden dadurch zu aktivieren, dass er Fragen aufwirft, die in Bezug stehen sowohl zum Impuls selbst als auch zur Persönlichkeit der Lernenden. Dadurch werden die Lernenden zu mündlichen oder schriftlichen Assoziationen, Äußerungen und Reaktionen verschiedenster Art angeregt, die gesammelt, aber nicht gewertet werden. Es ist selbstverständlich, dass der Impuls von unterschiedlichen Lernenden unterschiedlich aufgenommen und dadurch entsprechend verändert wird. Je verschiedener die Impulse aufgenommen werden, desto stärker wird der Lernprozess in Gang gesetzt: das unterschiedliche Vorwissen, das in den Reaktionen zum Ausdruck kommt, wird addiert, überprüft und somit ergänzt und erweitert. Die dadurch entstehende ➡ Addition der unterschiedlichen Kompetenzen bereichert das Lernen des Einzelnen und den Lernprozess insgesamt. Impulse können also nicht nur vom Lehrer ausgehen, sondern im weiteren Lernprozess von Musik, Bildern/Fotos, Texten/Textausschnitten, Gedichten, Reizwörtern, Gegenständen usw., die die Lerner selbst dazu beitragen. Der hier beschriebene Unterrichtsprozess stellt allerdings eine Idealform der hermeneutischen Lernkultur dar. Der Übergang vom etablierten linearen Unterricht zum hermeneutisch orientierten Ansatz muss also in jedem Falle behutsam geschehen. Ist die Lerngruppe langsam an die ➡ spi- B - 13 ralförmige Progression des Lehrgangs gewöhnt worden, führt die weitere Entwicklung im hermeneutischen Unterrichtsgeschehen dazu, dass Impulse wirken, ohne dass die Lernenden die Steuerung durch den Lehrenden in jedem Fall benötigen. Im Schulalltag können verschiedene Faktoren ein solches Vorgehen erschweren oder sogar verhindern, weil z. B. die jeweilige Erwartungshaltung der Lernenden meistens durch ihre langjährigen Erfahrungen mit linearer Progression, mit einseitiger Steuerung oder sogar mit einsträngigem Frontalunterricht geprägt wurde. Von daher ist klar, dass die Lernenden ein gestuftes Gewöhnungstraining brauchen, Impulse auf sich wirken zu lassen, ohne Hilfestellungen von Seiten des Lehrers in Anspruch zu nehmen, da ja impulsgesteuerter Unterricht bislang nicht der Normalfall ist. Die Übergangsphasen müssen deshalb sorgfältig geplant und gestuft sein, um den Lernenden eine Hilfe anzubieten, vom einseitig gesteuerten zum hermeneutisch orientierten Lernprozess zu gelangen. Impulse können im hermeneutisch orientierten Unterricht verschieden eingesetzt werden. Grundsätzlich unterscheidet man den einzelnen zielgerichteten bzw. gelenkten Impuls von mehreren offenen Impulsen. Sobald der Lehrende z. B. einen gelenkten Impuls gibt, etwa durch einen zusätzlichen Denkund Handlungsanstoß (als Orientierungshilfe oder aus Zeitgründen), handelt es sich um eine ➡ Aufgabe. Solche Aufgaben können entweder von den Lernenden selbst entwickelt oder vom Lehrenden angeboten werden. 4.2 Impulsgesteuerter Unterricht: Erläuterungen 4.2.1 Der einzelne zielgerichtete Impuls Der einzelne zielgerichtete Impuls ist eine noch stark gesteuerte Form. Beim gelenkten Impuls lenkt der Lehrer im Hinblick auf ein konkretes Ziel, z. B. den Erwerb des Konjunktivs II. Dieser Impuls ist der traditionellen Aufgabe sehr nahe und stellt eine moderne Variation des hergebrachten Unterrichts dar: Die Aufgabenstellung ist aber freier und gibt dem Lernenden mehr Spielraum, seine individuelle Persönlichkeit in den Arbeitsprozess einzubringen. Der Lehrende orientiert sich dabei an vorher festgelegten Zielen, die sich aus seinem Jahresplan bzw. aus dem Schulprogramm ergeben. Beispiel 1 aus der Praxis: ♦ Deutlich zielgerichteter Impuls (Hinführung zum Konjunktiv II) Wären die Menschen aus Papier, gäbe es viele Schwierigkeiten. Sie könnten zum Beispiel bei windigem Wetter nicht auf die Straße gehen, da sie weggeweht werden könnten. So kämen sie nie dort an, wo sie hinwollten. (ZITIER T NACH POMMERIN 1996: 3 6) Dieser Text wird mit dem Overhead-Projektor an die Wand projiziert. Die Schüler reagieren auf diesen Impuls. Beispiele für Schülerreaktionen: • • • • • • B - 14 Und bei Regenwetter und Schnee? Wir sind nicht aus Papier, sondern aus Knochen. Aus Fleisch und Blut! Endlich mal ein Text, der nicht traurig ist! Aber komisch! Wäre kommt von war? • Umlaut? • Gedicht oder Prosatext? • Se gli uomini fossero di carta ci sarebbero tante difficoltà (Übersetzung) Eine Schülerin lässt ganz spontan ein aus Papier ausgeschnittenes Männchen fliegen, das in der Mitte der Klasse landet. Es wird anschließend an die Pinnwand geheftet. Wie geht der Lehrende mit so heterogenen Reaktionen der Lernenden um? Er kann in der oben angesprochenen Übergangsphase z. B. eine der vielen Reaktionen herausgreifen. So kann man z. B. aus der Übersetzung ersehen, dass dieser Lernende den Konjunktiv II in seiner Funktion erkannt hat. Das kann der Lehrende nutzen, um die Aufmerksamkeit der Schüler erneut auf den Konjunktiv II zu lenken. Der Lehrende lässt die im Text enthaltenen Konjunktiv-II-Formen von den Schülern unterstreichen. Die Schüler leiten von diesen Formen eine vorläufige Regel zur Bildung des Konjunktivs II ab. Nach diesen Reaktionen werden die Schüler aufgefordert, sich mit dem Text auseinanderzusetzen und in Eigeninitiative dazu etwas zu gestalten. Die Schüler überlegen zunächst einzeln, was sie machen können, suchen das Gespräch mit anderen und kommen nach einer Reflexionsphase zur Entwicklung und Gestaltung ihrer Ideen. Dabei ergeben sich verschiedene Sozialformen. Zwei Gruppen entscheiden sich z. B. für Paralleltexte, eine Gruppe äußert den Wunsch, etwas zu basteln, eine andere Gruppe entwirft ein Bild. Das könnte etwa so aussehen: Paralleltexte: Wären die Menschen aus Metall, hätten sie viele Sorgen. Bei Regen liefen sie Gefahr rostig zu werden, deswegen könnten sie in diesem Fall nicht aus dem Haus gehen. Wenn sie nass wären, hätten sie keine Möglichkeit, sich zu bewegen. Wären die Menschen aus Feuer … • könnten sie nicht in dem Wald gehen. • könnten sie keine Ferien am Meer haben; sie könnten nicht ins Wasser baden. • hätten sie Angst nur von Hydranten und von Wasserpistolen. • wären Hütten aus Zement. • könnten sie nicht hinausgehen wenn es Wind oder Regen gäbe. Bastelarbeit: Nach dieser Arbeitsphase folgt die Präsentation im Plenum, wobei die Schüler ihre Produkte vorlesen bzw. zeigen und kommentieren. (➡ Addition der unterschiedlichen Kompetenzen, ➡ Interimsprache) B - 15 Durch diese gemeinsame Arbeit werden bestimmte Lernziele erreicht, Fertigkeiten geübt und Schlüsselqualifikationen im Ansatz erworben: • • • • • • • • Intensives Lesen eines literarischen Textes (Leseverstehen) Individuelle Reaktion auf diesen Text, ansatzweise Begründung dieser Reaktion Kreatives Arbeiten/Schreiben Kommentieren der eigenen Produkte (sprachliches Handeln) Entwickeln der Verstehensfähigkeiten (Hörverständnis) Üben und Anwenden von Gesprächstechniken Addition der unterschiedlichen Kompetenzen: Respekt vor der jeweils anderen Meinung Einsicht in Sprache (Entdecken der Funktion und Bildung des Konjunktivs II) Für die Weiterarbeit am Lernziel Konjunktiv II werden nun die Schülerprodukte und -äußerungen als neue Impulse genutzt bzw. andere Impulse (z. B. aus Elemente 2, S. 84) vorgeschlagen, die den bisherigen Lernprozess vertiefen (➡ Grammatik). Zusammengefasst: Die Übergangsphase ist also dadurch bestimmt, dass die Selektion und Akzentuierung einzelner Schüleräußerungen zunächst sehr stark vom Lehrenden geleistet wird – im weiteren Verlauf aber immer mehr auf die Schüler selbst übertragen werden kann. In der langsamen Entwicklung von der einseitig steuernden Aufgabe zum Impuls bildet sich also der Prozess eines vom stark gelenkten zum impulsgesteuerten Lehrgangs ab. Beispiel 2 aus der Praxis: ♦ Vom deutlich zielgerichteten Impuls zum offeneren Impuls Die Sonne scheint auf Gerechte und Ungerechte. Matth.5,45 Die Lehrende wählt das Bild »Der Sämann« (Elemente 2, S. 4) aus und formuliert dazu Arbeitsaufgaben: • Finden Sie einen Titel für das Bild. • Schreiben Sie zu dem Bild einen kurzen Text Ihrer Wahl. Die Sozialform wird von den Schülern bestimmt. Die Arbeitsergebnisse werden anschließend der Lerngruppe vorgestellt, sie werden gesammelt, nach Möglichkeit geordnet, kommentiert, und es wird darüber diskutiert. Durch die Addition der unterschiedlichen Kompetenzen ergibt sich ein breit gefächertes Spektrum von Assoziationen, Ideen, Interpretationen, Meinungen, die die ursprünglich eng geführte Aufgabe zu einer Reihe von möglichen Impulsen erweitert. Dabei erfährt der Lernende, dass die ursprüngliche Aufgabe, wenn man die jeweils andere Rezeptionsperspektive respektiert, sich unversehens zu Denk-, Frage-, Arbeitsimpulsen verändert und erweitert. B - 16 Beispiele von Schülerarbeiten: Die Sonne auf der Welt Dieses Bild gefällt mir weil es so viel Licht hat! Das Gelb oben ist ganz schön und macht mich froh. Meiner Meinung nach dieses Bild meint, dass die Sonne »passt auf die Welt auf«, die Sonne hilft uns zu wachsen; sie hilft den Menschen und den Pflanzen, sie hilft dem Leben. Die Aussage dieser Bild gefällt mir auch viel! Sonne und Gold Es war einmal ein Bauer. Wie jeden Morgen ging er ins Acker zu sähen. Die Sonne ging langsam auf und scheinte wie Gold. Alles war jetzt, wie das Getreide, golden: der Himmel, die Blätter der Bäume der Weg und das Haus. Der faszinierte Mann ging von einem Ort zum anderen und schaute diese wunderbare Natur. Als aber seine Frau aus dem Haus kam und ihn für den Frühstück rufte, verschwand sein Traum. Die Sonne scheint oder Morgenstund hat Gold im Mund wir denken so, weil die Sonne die Farben des Goldes hat. Ich glaube dass dieses Bild representiert die Tagesanbrucht und der Mann arbeitet weil es Morgen ist. So wir denken dass produziert mehr mit seiner Arbeit wenn es Morgen ist. Also: »Morgenstund hat Gold im Mund«. Schon beim Vergleich der einzelnen Überschriften wird deutlich, dass für einige Lernende die Person des Sämanns, für andere hingegen die Sonne im Vordergrund der Betrachtung steht. So haben sie sich auch beim Schreiben auf eines dieser Motive konzentriert, das andere aber nicht außer Acht gelassen. Den Lernenden fällt auch auf, dass sie ihre Texte bestimmten Textsorten zuordnen können. Sie bestimmen etwa fünf Textsorten: Beschreibung, Märchen, Kommentar, Stellungnahme, Gedicht; anschließend werden die Schüler aufgefordert, ihre Texte auszutauschen und gegenseitig zu korrigieren. Evtl. Fehler werden nur unterstrichen, damit sich jeder selbst korrigieren kann. Dabei werden als Hilfsmittel – so wie schon beim Schreiben zuvor – das Wörterbuch und die Grammatik benutzt, mit deren Umgang die Schüler schon vertraut sind. Bei Wortschatzproblemen wird die ganze Klasse, in Zweifelsfällen die Lehrende, um Rat gefragt. Sie geht in der Zwischenzeit von Gruppe zu Gruppe, um die Korrekturarbeiten zu begutachten und evtl. zu ergänzen. Als Hausaufgabe ergibt sich von selbst, dass als Konsequenz der gemachten Erfahrung der Text von jedem einzelnen Lernenden nochmals überarbeitet wird. Die Stunde wird abgeschlossen durch eine Überprüfung der Lernschritte und Ergebnisse. Dabei sagt eine Schülerin spontan: Wir haben Grammatik wiederholt, neue Wörter gelernt und die Namen der Textsorten. Auch das Beispiel dieser Unterrichtsstunde zeigt, dass man in einer Stunde unterschiedliche Lernziele erreichen kann: • Sehverstehen: Das genaue Betrachten wurde geschult. Die Lernenden erkennen, dass bereits das bloße Aufnehmen eines Bildes durch den betrachtenden Blick unterschiedlich ausfallen kann, dass also andere in ein und demselben Bild anderes sehen, dass ich also vom Sehen des jeweils anderen lernen kann, dass mein Sehen durch die Erfahrung anderer Perspektiven immer weiter geschult wird. • Hörverstehen: insbesondere im Plenum bei der Präsentation der Textproduktionen (Ich muss mich auf das andere Sprechen hin konzentrieren, ich muss mich ruhig verhalten, ich muss Geduld haben, ich darf nicht unterbrechen, ich muss die andere Meinung auf mich wirken lassen, d. h. ich lerne also, dass Hörverstehen durch viele objektive und subjektive Bedingungen geprägt ist.) • Lesen und Leseverstehen: Lesen der eigenen Arbeiten und der der Mitschüler • Ausspracheschulung beim Lesen (Das geschieht z. B. schon dadurch, dass ich einzelne Wörter etwas anders ausgesprochen höre, als ich es bisher gewohnt bin; ich lerne z. B. auch zwischen Norm und individuellem Akzent zu unterscheiden.) • Schreiben: selbstständiges Formulieren der eigenen Gedanken B - 17 • Reflexion über Sprache: Bei der Korrektur und Überarbeitung der Arbeiten werden bestimmte grammatische Probleme wiederholt und gefestigt, ich lerne auch hier den Unterschied zwischen Norm und individuellem Ausdruck. • Wortschatzarbeit Die Ergebnisse dieser Auswertung sind der Ausgangspunkt für den weiteren Lernprozess. Die Arbeit mit Bildern wird fortgesetzt durch den Einsatz anderer Impulse, die aber von den Schülern selbst gewählt werden. 4.2.2 Mehrere zielgerichtete Impulse: Zum Thema Werther werden mehrere Impulse gegeben: • Textausschnitt aus Goethes Die Leiden des jungen Werther (z. B. 1. Buch, Brief vom 12. August)1 • Textausschnitt aus Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. (»Ich war vielleicht ein Idiot …« Ende ) • Foto des Werther-Kostüms • Sequenz einer Werther-Verfilmung • Ausschnitt aus Goethes Dichtung und Wahrheit (13. Buch) • Zeitungsnotiz über den Selbstmord eines Jugendlichen (z. B.: F. Torberg, Der Schüler Gerber, Schluss) Jeder dieser Impulse umkreist auf seine eigene Art ein oder mehrere zentrale Themen. Die bloße Rezeption der Textausschnitte konzentriert die Lernenden auf die hier zentralen Themen. Aus diesen Themen ergeben sich von selbst die entsprechenden Aufgabenstellungen. Die Erweiterung gegenüber der Arbeit mit einem zielgerichteten Impuls besteht also darin, dass mehrere Texte zu Impulsen werden, weil sie ein Thema aus verschiedenen Perspektiven beleuchten und dadurch sowohl dem Lehrer als auch dem Lernenden entsprechende Aufgaben abnehmen, weil sie diese Aufgaben schon von sich aus formulieren. Für dieses Beispiel bedeutet das, dass sich aus der Reihung der Texte 1. mindestens drei zentrale Themen ableiten lassen (Selbstmord eines Jugendlichen, Gestaltung dieses Themas in der Fiktion, zeitliche Bedingtheit dieser Fiktion); 2. sich daraus entsprechende Aufgaben von selbst ergeben, wie z. B. Vergleich der einzelnen Ausschnitte, Herausarbeiten der Unterschiede, chronologische Ordnung, Veränderung im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung, Formulierung des Grundthemas in zeitgeschichtlicher Variation. Grundsätzliches methodisches Fazit: Ein solches Verfahren entlastet Lehrende und Lernende, weil die Vielfältigkeit der Perspektiven eines Grundthemas das Thema selbst wiederholt herausstellt und dabei zu neuen Impulsen führt, welche einseitige Aufgabenstellung in vielfältige Aufgaben, die von der Textreihe und von der Reaktion auf die Reihe ausgelöst werden, erweitern: 1. Textreihe akzentuiert Thema selbstständig durch variationsreiche Wiederholung 2. Textreihe ist gleichzeitig offen und gibt einzelnen Interessen und verschiedenen Interpretationen Raum (einseitige Vorinterpretation und Aufgabenstellung des Lehrers entfällt, weil sie diese Entwicklung nur stören würde) 3. Arbeitsweise und Aufgabenstellung sind einerseits für alle gleich (der durch die Textreihe vorgegebene Rahmen), andererseits offen für individuelle Reaktionen 1 Im Folgenden werden zu Texten, die den Lehrenden ohnehin bekannt und in den gängigen Anthologien zu finden sind, keine weiteren bibliographischen Angaben gegeben. B - 18 4.2.3 Offenere Impulse Die Progression vom einzelnen zielgerichteten Impuls über mehrere zielgerichtete Impulse führt, wenn die entsprechende Lernkultur erreicht ist, allmählich zur Gewöhnung an offenere Impulse. Die Schüler wählen einen Impuls aus, bestimmen die Sozialform und die Art, in der sie arbeiten wollen. Durch die verschiedenen Sozialformen (Einzel-, Partner-, Kleingruppenarbeit oder Plenum) kommt es zum Austausch der Reaktionen, Gedanken, Überlegungen, Fragen, bei dem durch die Addition der unterschiedlichen Kompetenzen die eigenen Urteile im Vergleich mit den anderen in Frage gestellt, verändert, erweitert oder gefestigt werden. Bei dieser Aktivität kommen bereits verschiedenste Schlüsselqualifikationen zum Tragen (vgl. auch oben) wie z. B. Zuhören, Lernen lernen, Selbsteinschätzung, Einsicht in die Kompetenz des Nachbarn, Argumentieren, Fragen stellen; auch die vier ➡ Fertigkeiten (Hören, Lesen, Sprechen, Schreiben) werden geübt und gefestigt. Beispiel 1 aus der Praxis: Thema: Lyrik Vorbemerkung: Den Anfangsimpuls gab hier der Besuch der Buchvorstellung »Luci, lune, luoghi« – Anthologie von Luigi Reitani. Die Schüler hörten die Lesung einiger Gedichte daraus von und mit Peter Waterhouse auf Deutsch, Italienisch und Englisch. Die Lernenden hatten anschließend die Möglichkeit, mit dem Herausgeber und dem Autor über Lyrik zu diskutieren. Sie wurden dann angeleitet, einen Zeitungsbericht über die Veranstaltung zu schreiben. In der Klasse wurde die Diskussion über Lyrik wieder aufgenommen und von den Schülern der Wunsch geäußert, sich näher damit zu beschäftigen. Arbeit mit offeneren Impulsen: Den Schülern werden 15 Gedichte zu unterschiedlichsten Themen und aus verschiedenen Epochen angeboten, aus denen sie sich eines aussuchen und ihre Auswahl nach vorherigen Notizen mündlich begründen: • das Volkslied: Frau Nachtigall • M. Opitz: Ach Liebste lass uns eilen • J. W. v. Goethe: Prometheus • F. Hölderlin: Abendphantasie • C. Brentano: Der Spinnerin Lied • H. Heine: Die schlesischen Weber • F. Hebbel: Nachtlied • A. Holz: Rote Dächer • F. Nietzsche: Ecce Homo • R. M. Rilke: Der Panther • H. G. Trakl: Abendland • B. Brecht: Gegen Verführung • M. Enzensberger: ins lesebuch für die oberstufe • E. Jandl: perfektion • N. Kaser: die laerche Ernst Jandl perfektion e ee eei eeio p pr prf prfk prfkt prfktn ep eepr eeiprf eeioprfk eeioprfkt eeioprfktn pe pree prfeei prfkeeio prfkteeio prfktneeio prfkteneio prfketneio prfektneio prefktneio perfktneio perfktenio perfketnio perfektnio perfektino perfektion B - 19 Aus der Vielfalt und Reichhaltigkeit der angebotenen Texte ergibt sich für den Lernenden die Möglichkeit, durch sein Vorwissen und seine persönlichen Neigungen den weiteren Unterrichtsverlauf zu steuern. So zeigte sich z. B. in der Unterrichtsstunde, dass sich insofern Gemeinsamkeiten herauskristallisierten, als Gedichte aus der Moderne bevorzugt wurden. Schüleräußerungen: • Das Thema Abend interessiert mich, am Abend habe ich dieselben Gefühle wie der Autor. • Die Form ist interessant, erinnert mich an eine Sanduhr (Rote Dächer). • »perfektion« sagt mir, dass es die Perfektion nicht gibt. • Den »Panther« habe ich schon in der Mittelschule gelesen, gefällt mir immer noch. Durch das Gespräch über das Jandlgedicht äußern die Schüler den Wunsch, Näheres über Lyrik nach ‘45 und experimentelle Dichtung zu erfahren. Die Lehrende verteilt daraufhin als weitere Impulse Ausschnitte mit Äußerungen von Autoren über moderne Lyrik (Ludwig Völker 1999: 265 ff.). Jeder Schüler bekommt einen anderen Text. Beim anschließenden Gespräch im Plenum äußern sich die Schüler zu ihrem Text in unterschiedlichster Weise: in Form von Zusammenfassungen des Inhalts, Stellungnahmen zum Inhalt, Fragen an den Text usw. In unserem Beispiel konzentrierten die Lernenden ihre Diskussion auf folgende Aspekte: • Was ist Dichtung eigentlich? • Gibt es kein Gedicht ohne Gefühle? • Was ist Gefühl eigentlich? • Lyrik ist Form. • Was ist der Sinn eines Gedichts? • Gedichte werden nicht mit Ideen gemacht, sondern mit Wörtern. • Lyrik ist geschichtsbedingt. • Was sind freie Rhythmen? Wann sind sie entstanden? • Welche Formen von Lyrik gibt es? Die Schüler übernehmen selbst abwechselnd die Moderation. Aus den Ergebnissen der Diskussion ergeben sich wieder neue offene oder zielgerichtete B - 20 Übrigens … Die Arbeit mit Impulsen ist für Schüler ungewohnt und – wie schon gesagt – sehr langsam anzugehen. In welchem Maße und wie schnell sich die hermeneutische Lernkultur entwickelt, hängt auch von der Aufgeschlossenheit der Klasse ab, denn es ist durchaus möglich, dass schon nach kurzer Zeit z. B. selbstständig Hausaufgaben vorgeschlagen werden, wie es unter den Schlüsselbegriffen Aufgabe/Übung beschrieben ist. Hilfreich kann auch sein, den Lernenden an geeigneten Stellen des Lernprozesses didaktische Prinzipien des hermeneutischen Unterrichts zu erklären, mit ihnen zusammen z. B. zu klären, welche Funktion ein Impuls hat oder warum ganzheitlich gearbeitet werden soll. Lernende bringen erstaunlicherweise ein großes Interesse für die Erklärungen solcher Lernverfahren mit und sind hinterher oftmals ernsthafter bei der Arbeit, als wenn sie das Gefühl haben, auf unverbindliche Art einem didaktischen Experiment folgen zu müssen. Apropos Unverbindlichkeit: Keine noch so einfache Tätigkeit hat den Charakter der Unverbindlichkeit. Reagieren Schüler z. B. mit einer einfachen Bastelarbeit oder einem spontanen Tanz auf einen Impuls, so nimmt der Lehrende jede für ihn auf den ersten Blick auch noch so banal und abwegig erscheinende Arbeit ernst und vermittelt dem Lernenden das Vertrauen, dass seine Arbeitsergebnisse wichtig sind und den Lernprozess vorantreiben. Will der Lehrer im Sinne der skepischen Hermeneutik einen offenen, sich auf gegenseitigem Respekt und auf Vertrauen gründenden Unterricht initiieren, kann er nicht davon ausgehen, den Lernenden von vornherein in allen Einzelheiten auf Grund seiner Lehrerüberlegenheit zu verstehen, sondern er muss ihm die Möglichkeit geben, sich in seiner Andersartigkeit auszudrücken, auch wenn das, was er sagt, dem Unterricht aus der Lehrerperspektive nicht angemessen und dienlich erscheint. Impulse, die den hermeneutischen Lernprozess vorantreiben und zeigen, wie sich die hermeneutische Spirale entwickelt. Nach diesem Beispiel könnte einerseits durch eine stärkere Steuerung von Seiten des Lehrenden der weitere Lernprozess auf das kreative Schreiben von Gedichten gelenkt werden, andererseits könnten die Schüler selber Zielsetzungen und die dahin führenden Aufgabenstellungen bestimmen. Wichtig ist auch hier festzuhalten: der Anstoß dieser unterschiedlichen Lyrik wirkt als vielfache Sprachlehre, etwa: • Lyrik verändert konventionelle Sprache; • das Gespräch über Lyrik setzt eigene Sprache frei; • ich lerne meinen Standpunkt verständlicher und begründet zu vertreten; • ich höre andere sprechen; • etc. Beispiel 2 aus der Praxis: Offene Impulse, deren Wirkungen und Lernziele sich erst im Verlauf des Unterrichts ergeben Im Sinne der Reichhaltigkeit der Materialien bietet die Lehrende der Lerngruppe mehrere Impulse an, auf die jeder Einzelne individuell reagiert. In jeder einzelnen Reaktion kommen die Kompetenz, die Sozialisation und das persönliche Lernfeld zum Ausdruck und bestimmen den Lernprozess (Vorwissen). Folgende Materialien wurden angeboten: • • • • • Brecht-Text: Wenn die Haifische Menschen wären Böll-Text: Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral Volkslied: Wenn ich ein Vöglein wär (Flug der Liebe) Heine-Text: Ich steh auf des Berges Spitze Märchenanfänge Die oben aufgeführten Texte legt die Lehrende auf einen Tisch in der Klasse (jeweils 5 Kopien). Die Schüler schauen sich die Texte an. Einige ziehen sich mit einem oder mehreren Texten zurück, lesen konzentriert, andere fragen, was sie damit machen sollen. Es ist ruhig in der Klasse. Viele holen sich das Wörterbuch, ein Schüler erklärt einem anderen einige Wörter, ein Schüler nimmt gleich zwei Texte, ein Schüler liest die beiden längsten, ein Schüler übersetzt Flug der Liebe, ein Schüler liest alle Texte, ein Schüler fragt »Was bedeutet das?« B - 21 Zwei Schüler singen halblaut im Duett das Volkslied, nachdem sie die Lehrende gebeten hatten, es ihnen vorzusingen. Ein Schüler erkennt bei der Übersetzung den Konjunktiv II nicht. Nach 25 Minuten werden die Schüler unruhig. Die Klasse wird gebeten, sich für einen Text zu entscheiden. Anschließend begründen sie, warum sie sich für einen Text entschieden haben. Beispiele von Schüleräußerungen: • Volkslied: Weil es ein Lied ist, einfach, nett, schön, weil ich in derselben Situation bin. • Ich steh auf des Berges Spitze: Weil es romantisch ist, weil es über Natur spricht. – Die Ironie wird nicht erkannt. • Wenn die Haifische Menschen wären: Es ist eine Parodie; die Zeichnung hat mir gefallen; es ist wahr aber auch komisch. • Märchenanfänge: Weil ich eines dieser Märchen noch nicht kannte, weil ich Märchen liebe und sie mich an meine Kindheit erinnern. – Rumpelstilzchen = nano tremotino und das gefällt mir. • Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral: Weil ich nachdenken muss, wenn ich diesen Text lese. 2. Stunde Die Schüler wählen selbst, was sie mit dem Text machen wollen, ebenso die Sozialform. Einige haben den Text zu Hause vergessen, andere wollen noch einen Text dazu. Die Schüler arbeiten eine halbe Stunde und berichten dann, was sie gemacht haben. Drei Schüler arbeiten zusammen an einer »verrückten Geschichte«, d.h. jeder schreibt einen Teil des Textes »Anekdote …« (drei Sätze) und deckt ihn zu und gibt das Blatt weiter. Der Nächste schreibt weiter, ohne den anderen Teil des Textes zu sehen. Am Ende entsteht dann eine »verrückte Geschichte«. Ein Schüler faltet ein Papierflugzeug und setzt Köpfe aus Papier hinein (vgl. Foto). Ein Schüler zerschneidet das Volkslied, um einen neuen Text daraus zu machen. Zwei Schüler übersetzen das Volkslied ins Italienische und wollen Musik dazu machen. Übrigens … »Wer einen Text verstehen will, ist … bereit, sich von ihm etwas sagen zu lassen.« Dieses Zitat H.-G. Gadamers (1999: 273) fasst das wesentliche Prinzip eines Unterrichts, der sich an der skeptischen Hermeneutik orientiert, zusammen. Fallbeispiele aus der Klasse: Eine Gruppe von Schülern hatte als Reaktion auf den Impuls Wären die Menschen aus Papier Papiermännchen gebastelt, die sie an einer Leine befestigt hatten, welche wiederum an zwei Stäbe gebunden war und von zwei Schülern gehalten wurde (vgl. Foto S. B -15). Zwei Schüler stellten sich mit einem Plakat, auf das zwei Masken geklebt waren, hinter die am Band baumelnden Männchen, spreizten die Lippen und pusteten mit aller Kraft dagegen, so dass diese in Bewegung gerieten. »Originell als Idee, doch ohne Zusammenhang mit dem Text, reine Spielerei, was die Eltern und Kollegen wohl sagen?«, waren die ersten Gedanken der Lehrerin, die noch dazu herzlich lachen musste bei der Demonstration dieses in Gruppenarbeit entstandenen Produkts, das nach der Vorführung und Kommentierung im Klassenschrank landete. Bezeichnenderweise äußerte ein Kollege die gleichen Bedenken. Schade, denn so haben sich die Schüler nicht in den hermeneutischen Lernprozess einbringen können! Hat man eine Chance vertan oder gibt es noch eine Möglichkeit, dieses Produkt aufzugreifen? Zum Beispiel durch die Frage an die Schüler: »Was ist mit diesen Männchen eigentlich? Sind sie stumm oder können sie sprechen? Was haben sie uns zu sagen? Was erzählen sie sich gegenseitig?« Dadurch könnten verschiedene Aktivitäten in Gang gesetzt werden (szenische Darstellungen, Monologe, Dialoge usw.), die als weitere Impulse genutzt werden können. Die Hausaufgabe ergibt sich von selbst: die Arbeit fertig stellen, um sie in der nächsten Stunde zu präsentieren. Dazu bringen die Schüler gegebenenfalls Material mit. B - 22 3. Stunde Die Arbeiten werden im Plenum vorgestellt; dabei sitzen die Schüler im Halbkreis. Ein Schüler präsentiert eine sehr schöne Zeichnung zum Volkslied, auf der Elemente des Textes graphisch dargestellt sind (Schlaf = Maske – vgl. Abb.) und erklärt sie. Ein Schüler hat ein naives Bild zu den Märchenanfängen gemalt und möchte noch ein Rahmenbild mit den Wörtern der Märchenanfänge machen. Ein Schüler hat neue Märchenanfänge geschrieben: »Die drei Schweinchen«, »Das tapfere Schneiderlein«. Er möchte dann ein italienisches Lied von Prévert übersetzen mit der Begründung, es sei ein Text, wie ein Gedicht, das Thema gefiele ihm, er möchte wissen, wie es auf Deutsch klingt. Ein Schüler macht mit Bongos Musik zum Volkslied auf Italienisch, ein Schüler spielt dazu mit der Flöte, ein Schüler singt; sie erkennen dann aber, dass der Rhythmus des italienischen Textes nicht gut ist und es auf Deutsch besser klingt. 4. Stunde Weiterführung der Präsentation Drei Schüler lesen die »verrückte Geschichte« vor. Ein Schüler hat seinen Text nicht fertig, möchte aber eine Geschichte ohne Titel schreiben. Ein Schüler findet seinen Text nicht mehr. Ein Schüler hat zu seinem Papierflugzeug einen kurzen Text über das Schicksal der Menschen geschrieben. Ein Schüler liest seine Übersetzung des Volksliedes ins Italienische vor: Se fossi stato un uccellino. Einige Schüler erkennen den Übersetzungsfehler; sie erklären den Konjunktiv II (Bedeutung); die Lehrende schreibt die Regel zur Bildung des Konjunktivs II an die Tafel. Ein Schüler hat ein Parallelgedicht als Negation zum Volkslied geschrieben und eine Collage mit Zeitungsausschnitten dazu gemacht. Übrigens … Zweites Beispiel: Ringelreihen und Gesang zu Heines Ich steh auf des Berges Spitze. Mut haben die Schüler schon bewiesen mit ihrer Vorführung als Reaktion auf den Impuls, doch hat dieses kindlich anmutende Verhalten, das eher an einen Kindergarten als an eine Oberschule erinnert, überhaupt seine Berechtigung im Zweitsprachunterricht? Im hermeneutischen Sinn kann man sich das befremdliche Agieren der Schüler erklären lassen. Die Lehrende könnte sie z. B. fragen: »Wie merkwürdig! Warum habt ihr getanzt? Ich verstehe das nicht – vielleicht weil ich viel älter bin als ihr, auch mein Kollege versteht das nicht. Das müsst ihr mir erklären.“ Da der hermeneutisch orientierte Unterricht den Schüler in seiner individuellen Persönlichkeit und in seiner Ganzheit fördert, muss er auch alle Formen des ganzheitlichen Arbeitens ernst nehmen, mögen sie den Lehrenden zunächst auch noch so banal und lächerlich erscheinen. Schüler erwarten für ihre Produkte legitimerweise Anerkennung, oft kommt der Wunsch nach Benotung solcher Gruppenarbeiten auf. In dieser Situation kann der Lehrende dem Schüler aber erklären, dass er insbesondere sprachliche Leistungen bewerten muss, dass die Schüler aber die Chance haben, eine anerkennende Note zu bekommen, wenn sie z. B. etwas Zusätzliches dazu schreiben. Warum nicht in Form einer Klassenarbeit? Nach der Arbeit mit den offenen Impulsen aus Beispiel 2 kam von den Schülern der Vorschlag, über ihre gewählten Texte und die damit verbundene Arbeit eine Klassenarbeit zu schreiben. Hierbei konnten sie sowohl ihre persönlichen Gedanken zum Text formulieren als auch über ihren Arbeitsprozess berichten. B - 23 Weiterführung Wir brechen hier den Bericht über die Praxis ab. Möglichkeiten für ein Kollegengespräch: • Wie könnte diese Unterrichtssequenz weitergehen? • Wie könnte man einerseits die erbrachten Ergebnisse sammeln, ordnen, bewerten etc. – andererseits die Progression durch welche möglichen Impulse zu welchen möglichen Zielen führen? Tipp: Setzen Sie sich mit Kollegen zusammen und versuchen Sie, mit dem abgedruckten Raster (»Mögliche Leistungen des impulsgesteuerten Vorgehens») eine Sammlung, Ordnung und Überprüfung der durch die Reihung erbrachten Wissenserträge, der wahrscheinlichen sprachlichen Zugewinne, der erprobten Arbeitstechniken und der erworbenen Schlüsselqualifikationen zu erstellen. Übertragung in andere Lehrkontexte Es versteht sich von selbst, dass diese Beispiele nicht in alle vorgegebenen Bedingungen passen, die durch unterschiedliche Schulformen und Fachrichtungen gegeben sind; so leistet z. B. eine Reihe ähnlich ausgesuchter Fachtexte für den fachspezifischen Unterricht auf ihre Art, aber für andere Ziele grundsätzlich das Gleiche. Die angeführten Beispiele verdeutlichen also lediglich die hier vorgeschlagene grundsätzliche Arbeitsweise, die Addition der unterschiedlichen Kompetenzen, welche durch die offenen Impulse ausgelöst wird. In unterschiedlichen Lehrkontexten bleibt die hermeneutische Grundmethode also gleich; bei streng fachgebundenen Zielen muss aber selbstverständlich der Übergang von den steuernden Aufgaben zu offeneren Impulsen anders geplant werden, weil z. B. erst auf der Grundlage einigermaßen gesicherten Fachwissens offenere Impulse möglich sind. Wie also Kollegengespräche innerhalb jeweils unterschiedlich bestimmter Fachrichtungen initiiert und entwickelt werden können, kann hier deshalb nicht im Einzelnen vorgeschlagen werden. Dafür bieten sich gerade die Werkstätten an. B - 24 Schlüsselqualifikationen Sprachlicher Zugewinn Literarisches Orientierungswissen Fachliche und allgemeine Arbeitstechniken 4.3 Mögliche Leistungen des impulsgesteuerten Vorgehens B - 25