Muse sind auf der Bühne einfach überlebensgroß

Transcription

Muse sind auf der Bühne einfach überlebensgroß
Muse sind auf der Bühne einfach überlebensgroß
Menschliche Abgründe und gefährlich moderne Zeiten: Die britische Band
Muse hat mit ihrer neuen Bühnenshow die bis in die obersten Ränge prall
gefüllte Waldbühne in Berlin zum Toben gebracht.
Von Peter E. Müller
Foto: dpa
Muse in Berlin: Frontmann Matthew Bellamy, der aus seiner Spezialgitarre auch elektronische SynthesizerBlubbersounds zaubern kann
Ein grobschlächtiger Robotergigant mit immensem CO2-Ausstoß schiebt sich in der Dämmerung
durch den Mittelgang der Waldbühne. Eine Nachrichtensprecherin auf der Videowand beklagt
währenddessen den hemmungslosen Umgang mit den Ressourcen der Erde. "Unsustainable" sei
das, brummt die gewaltige Maschine mit den rotleuchtenden Augen dazwischen. Untragbar. Oder
neudeutsch: nicht nachhaltig.
Da sind wir schon mittendrin in der lautstark bombastischen Musicalwelt des britischen ProgrockTrios Muse, das am Sonntagabend mit seiner neuen Bühnenshow die bis in die obersten Ränge
prall gefüllte Waldbühne zum Toben brachte.
Die drei Collegefreunde aus dem britischen Teignmouth in Devon wollten dem in den 90erJahren tobenden Brit-Pop eine musikalische Alternative entgegensetzen. Sie wollten nicht mit
dem Strom schwimmen. Sie entwickelten einen höchst eigenen Gruppensound, eine moderne
Version des Progrock, in der sich aufbauend auf amerikanischem Grunge Musical- und KlassikElemente, Pop und Elektronik, Soundtrackflächen, schwermetallene Gitarren und DancefloorGrooves in akribisch ausgetüftelten Arrangements zu einem homogenen Ganzen verbinden.
Gefährlich moderne Zeiten
Und darüber liegt die tenorale, bis in höchste Pathos-Höhen schwingende Stimme von Gitarrist
Matthew Bellamy, die von menschlichen Abgründen und den gefährlich modernen Zeiten predigt.
Ihr mittlerweile sechstes Album "The 2nd Law" steht im Mittepunkt dieses Bühnenspektakels, das
die Band um 20.30 Uhr mit einem gewaltigen Feuerball inmitten des Amphitheaters zündet. Das
neue Stück "Supremacy" steht am Anfang dieser zwei aufwühlenden Stunden.
Es wirkt mit seinen drohenden Gitarren und den eingestrickten, elektronischen Streichern wie
eine Variation auf Led Zeppelins "Kashmir". Dann wieder sind bei Muse Einflüsse von Freddie
Mercury und Queen unverkennbar. Hier ein bisschen Morricone, da ein bisschen
Broadwaymusical. Wie sich die populären Versatzstücke aber zu einer höchst originären
Klangwelt formen, ist imposant anzuhören.
Wobei sich Muse auch einen Namen gemacht haben als Rock-Entertainer, die ihre hymnische
Musik ganz im Geiste und in der Nachfolge von Gruppen wie Genesis oder Pink Floyd zu
aufwendigen Live-Inszenierungen aufbauschen. Nebelsäulen schießen immer wieder in die
Höhe. Flammenwerfer heizen die Atmosphäre züngelnd auf. Ein Laufsteg führt zu einem kleinen
Bühnenpodest mitten im Publikum.
Überlebensgroße Musiker
Über fünf großflächige LED-Videowände schwirren giftgrüne Zahlenkolonnen, psychedelische
Formen, ratternde Maschinen, ameisenhaft wuselnde Menschen und immer wieder die Musiker
selbst bei der Arbeit. In Überlebensgröße. Man kann hier durchaus von Reizüberflutung
sprechen.
Beim neuen "Panic Station", dem zweiten Stück des Abends, tanzen Comic-Avatare von Obama,
Merkel und Putin über die riesigen Bildwände. Mit "Supermassive Black Hole" von 2006 setzen
Muse weiter auf Druck und gehen gleich darauf mit "Bliss" vom 2001er-Album "Origin of
Symmetry" noch einen Schritt weiter in die Bandvergangenheit.
Das textsichere Publikum ist bunt gemischt: Mitte-Hipster und Computer-Nerds, Tattoo-Mädchen
und Kuschelpärchen, Metal-Heads und Alt-Rock'n'Roller. Mit den Rängen der Waldbühne steigt
auch der Altersdurchschnitt etwas an.
In ihren Songs verlassen sich Muse nicht auf klassische Rockthemen wie Boy Loves Girl,
sondern beschäftigen sich mit den großen Dingen des Lebens, mit Weltpolitik, Umweltzerstörung
und der Diktatur des Mammon. Wie im neuen Stück "Animals", in dem Bellamy Zeilen wie
"Analyse, advertise, expand, bend more rules, buy yourself an island" ins Mikrofon schmachtet,
während ein Schauspieler als Banker im feinen Zwirn im Publikum und auf dem Catwalk
aggressiv mit Geldscheinen um sich wirft.
Der Banker muss sterben
"Kill yourself", singt Bellamy, "come on and do all a favour." Und als der Banker am Boden liegt,
schickt ihm Bassist Christopher Wolstenholme auf der Mundharmonika ein "Spiel mir das Lied
vom Tod" hinterher.
Dazu passt im Anschluss natürlich bestens der Western-Kracher "Knights of Cydonia" mit seinem
knarzenden Surfgitarren-Sound. Immer wieder fauchen Nebel- und Feuerkaskaden in die Luft. Es
macht Staunen, wie diese drei Männer solch einen pompösen Sound erschaffen können. Live
allerdings sind es auch vier.
Neben Sänger Bellamy, der aus seiner Spezialgitarre auch elektronische SynthesizerBlubbersounds zaubern kann, Bassist Wolstenholme und Schlagzeuger Dominic Howard ist der
Keyboarder Morgan Nicholls seit vielen Jahren festes Live-Mitglied, um dem Trio an der Front
etwas von der Tasten- und Saitenarbeit abzunehmen.
Inzwischen sind manche Stücke auch persönlicher geworden. So reflektiert Bassmann
Wolstenholme ganz nah am Publikum seine überwundene Alkoholsucht im rau rockenden Stück
"Liquid State" und in der Ballade "Follow Me" besingt Bellamy die Gefühle eines werdenden
Vaters. Er hat einen kleinen Sohn mit seiner Lebensgefährtin, der Schauspielerin Kate Hudson,
der er im Verlauf des Abends noch das Liebeslied "Madness" widmet. Mutter samt Baby im Arm
stehen an der Bühnenseite, um Papa bei der Arbeit zuzusehen.
Auch aus ihrem Hang zum Musical machen Muse keinen Hehl. "Feeling Good" ist ein Song von
Leslie Bricusse und Anthony Newley aus dem 60er-Jahre-Vaudeville-Musical "The Roar of the
Grease Paint – The Roar of the Crowd", der zugegebenermaßen populärer wurde als das
Bühnenstück, aus dem er stammt. "It's a new dawn, it's a new day, it's a new life" heißt es da im
Refrain.
Das Lied wurde vielfach gecovert, allerdings kommen auch Muse nicht an die definitive Version
von Nina Simone heran. Aber egal. Dafür steht eine bebrillte Business-Managerin im
Scheinwerfer-Spot und schüttet sich begierig Benzin aus einem Tankstellen-Zapfhahn in den
Hals.
Exzellenter Sound
Der Sound ist exzellent, das Licht phänomenal, selbst im Waldbühnenrund sind Scheinwerfer und
Nebelmaschinen postiert. Muse schlagen einen großen Bogen durch ihre bisherigen Alben,
wobei der Schwerpunkt auf "The 2nd Law" und der Vorgängerplatte "The Resistance" liegt. Von
Album zu Album hat sich die von Pomp und Pathos getriebene Band höher in den Rock-Olymp
gespielt.
2009 konnte man sie noch im Admiralspalast erleben, kurz darauf in der O2 World. Längst
spielen sie in den größten Stadien dieser Welt. "The Resistance" wurde 2011 als bestes RockAlbum mit einem Grammy-Musikpreis geadelt. Und ihr Song "Survival" wurde zur offiziellen
Hymne der Olympischen Sommerspiele 2012 auserkoren.
Es geht langsam dem Ende zu, da gibt es mit "Unintended" und "Guiding Light", wieder mitten im
Publikum, zwei Balladen, bei denen die Waldbühne in ein gleißendes Feuerzeug-Lichtermeer
getaucht wird. Bevor eingangs erwähnter Roboter zu "The 2nd Law: Unsustainable" seine Runde
macht. Das Publikum ist längst im siebten Muse-Himmel, tanzt, singt, reißt die Arme in die Höhe.
Bei "Starlight" zum großen Finale singt die ganze Waldbühne "Our hopes and expectations, black
holes and revelations" mit. Man versteht nach diesem Abend, warum so viele Menschen von
diesem mitunter etwas sperrigen Pop so fasziniert sind. Ein glückliches Publikum zieht gut
gelaunt hinaus in die Berliner Nacht.
© Berliner Morgenpost 2013 - Alle Rechte vorbehalten
Quelle: http://www.morgenpost.de/kultur/article118042192/Muse-sind-auf-der-Buehne-einfachueberlebensgross.html