Warum muss Technik ein Gegenstand der Ethik sein

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Warum muss Technik ein Gegenstand der Ethik sein
Warum muss Technik ein Gegenstand der Ethik sein?
Ethikunterricht an Fachhochschulen. Eine Skizze
Von Fridolin Stähli*
Ein wichtiger Kronzeuge für den Dialog zwischen Technik und Ethik ist der Philosoph Hans
Jonas. In seinem Buch Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, 1979
erschienen, hat Jonas wie kein anderer vor ihm Technik und Ethik zusammen betrachtet und
diesen Zusammenhang auch zu begründen versucht. Hans Jonas gehörte auch zu den ersten, die
eine theoretische Fundierung der Umweltethik formuliert haben, indem er die moralische
Berücksichtigung auf die Natur erweitert, ihre Verletzlichkeit erwähnt, auf unser beschränktes
Vorhersagewissen aufmerksam macht und nach dem sittlichen Eigenwert der Natur fragt. Ich
nenne im ersten Teil meiner Überlegungen fünf Gründe – Jonas referierend und ergänzend –,
warum moderne Technik ein Gegenstand der Ethik sein muss und zeige im zweiten Teil auf, wie
das Ethikpostulat konkret in die Lehrpläne der sich reformierenden Fachhochschulen der
Schweiz umgesetzt werden kann.
Fünf Gründe für eine Ethik der Technik
Den ersten Grund nenne ich das Argument der Ambivalenz. Moderne Technik ist doppelgesichtig
und die Wirkungen sind ambivalent, das heisst das Grundlagenwissen oder ein Instrument kann
für gute oder schlechte Zwecke verwendet werden. Der Begriff der Ambivalenz kann sich ferner
auf den Fortschrittsgedanken selbst beziehen, wenn Gefährdungspotenziale der Anwendung von
Technik gemeint sind, die aus mangelndem Wissen über deren Folgen und Nebenfolgen
erwachsen oder die bewusst für den Fortschritt in Kauf genommen werden. Ethik reagiert auf die
Mehrdeutigkeit technischen Handelns. Sie versucht, einen Diskurs der Betroffenen zu initiieren,
so dass die moderne Technik sozial- und umweltverträglichen Kriterien standhalten kann, und
das auch mit Blick in die Zukunft.
Der zweite Grund für eine Ethik der Technik ist eng damit verknüpft, ich meine das Argument der
Anwendung. Neue Techniken und neues technisches Können sind ethisch nicht neutral. Es gibt
keine wertfreie Technik, jegliche Technik bedeutet einen Eingriff in die Natur und in die
Gesellschaft, das heisst Technik ist ein soziales Ereignis, eine Form sozialen Handelns, und
jegliches Handeln muss der Mensch rechtfertigen können, deshalb ist die Technik ethischen
Anfragen ständig unterworfen. Ein aktuelles und folgenträchtiges Beispiel ist die Gentechnik.
Diese führt zwangsläufig zur Anwendung, was neue ethische Fragestellungen aufwirft. Zum
Beispiel: Dürfen wir Tiere genetisch verändern? Sollen Tiere patentiert werden dürfen? Wollen
wir gentechnisch veränderte Nahrungsmittel? Was bringt uns die Genomanalyse? Welche Folgen
haben Screening-Verfahren? Wie weit sollen wir das Klonen zulassen? Ein in der Schweiz noch
junges Instrument ist die Technikfolgenabschätzung (TA); TA-Verfahren sind einerseits ein
wichtiges Instrument für die Politikberatung, andererseits fördern sie den Risikodialog mit der
Gesellschaft. Zudem erhöht TA die Rationalität und Legitimität technikpolitischer Entscheide
und sensibilisiert die Bevölkerung frühzeitig in strittigen Fragen moderner Technologien.
Ein dritter Grund ist das Argument der Grösse. Moderne Technik und Technologien sind auf
Grossgebrauch angelegt und nehmen globale Ausmasse in Raum und Zeit an. Auch hier könnte
die Gentechnik mit ihren weitreichenden Folgen, die nicht vorhersagbar sind, erwähnt werden.
Unsere Hypotheken gegenüber zukünftigen Generationen wachsen. Das Vorsorgeprinzip ist
nicht nur auf dem Papier zu fordern, sondern auch in die Tat umzusetzen, ein erweitertes
Verantwortungsbewusstsein muss wachsen. Die Umkehr der Beweislast – auch wenn das schwer
fallen mag und letztlich nie ganz aufgehen wird – muss durchgesetzt werden, also nicht die
Formel: Weil es nicht beweisbar ist, dass x schädlich ist, darf x weiter produziert und auf dem
Markt verkauft werden, sondern: der Beweis der Risikolosigkeit und Nichtschädlichkeit durch
den Hersteller muss zuerst erbracht werden. Langzeitfolgen müssen ernsthaft mitberücksichtigt
und in die ökonomischen Überlegungen miteinbezogen werden.
Den vierten Grund nenne ich das Argument der Solidarität. Zum ersten Mal wird das
anthropozentrische Machtmonopol durchbrochen; die menschliche Verantwortung wird
planetarisch, eine Folge davon ist die ökologische Ethik. Diese befasst sich mit der Frage,
inwieweit wir die Moral auf die Natur erweitern sollen: leidensfähige Tiere, Pflanzen, die
abiotische Natur, ganze Ökosysteme, die Biosphäre als Ganzes. Einige Naturphilosophen
brauchen in diesem Zusammenhang den Begriff Mitwelt, sprechen der Natur Eigenwerte und
Eigenrechte zu und reden von einer globalen Erdethik, die es zu entwickeln gälte. Die radikalsten
unter ihnen fordern von uns Menschen ein ganz neues Verhältnis zur Natur, ausgehend vom
Ganzen; denn was nützt uns eine fitte Menschheit, wenn darüber der Planet Erde zerstört wird.
Auf dem Umweltgipfel in Rio 1992 ist das Konzept der Nachhaltigkeit weltweit zu einem Prinzip
erklärt worden, das sich um die Zukunftsfähigkeit des Planeten Erde sorgt. Alle unsere Eingriffe
in die Natur sollten verträglich sein für Menschen, zukünftige Generationen und die Natur. Hans
Jonas hat in diesem Zusammenhang in einer Rede von der «Weiterwohnlichkeit der Welt»
angesichts der beschränkten Güter dieser Erde gesprochen und das philosophisch auch zu
begründen versucht. Während viele Politiker die Spannungsfelder des Konzepts gleichrangig
behandeln, wird hier für den Vorrang der Ökologie plädiert, weil logischerweise ohne eine
tragfähige Erde keine Gesellschaft eine Wirtschaft aufbauen kann.
Der letzte Grund ist ein metaphysisches Argument. Das apokalyptische Potenzial der Technik kann
den Fortbestand der Menschheit gefährden, die Bedingungen höheren Lebens auf der Erde
zerstören. Die Ethik wird wie nie zuvor mit der metaphysischen Frage konfrontiert, ob und
warum es eine Menschheit geben soll. Eine solche Frage zu beantworten fällt nicht leicht; der
Philosoph Jonas sagt diesbezüglich, dass es ohne Religion wahrscheinlich gar nicht möglich sei
und postuliert axiomatisch: die Menschheit solle auch in Zukunft bestehen. Jonas mahnt im
Gegensatz zur heute viel zitierten Effizienzsteigerung zum Masshalten und plädiert für einen
differenzierten Fortschritt. Er hat aber keine eindimensionale Sicht auf die Technik; denn eine
moderne Gesellschaft ist für ihn und viele Umweltethiker auch eine hoch technisierte. Jonas
wörtlich: «Eine Selbstentmachtung des Menschen, etwa durch einen Verzicht auf Technik,
kommt gar nicht in Frage. Ein solcher Plan wäre weder realistisch noch zu verantworten, auch
moralisch nicht; denn er würde die durch die Wohltaten der Technik inzwischen ungeheuerlich
angewachsene Menschheit in eine Lage der äussersten und elendsten Not versetzen.»
Wie kann nun das Anliegen Jonas’, dass die Technik ein Gegenstand der Ethik sein soll, konkret
im Schulalltag umgesetzt werden? Dazu im zweiten Teil meiner Überlegungen ein paar praktische
Vorschläge zur Diskussion.
Integraler Ethikunterricht
Carl Friedrich von Weizsäcker hat in seiner Rede zur Eröffnung des Ethik Zentrums der
Universität Zürich im Mai 1995 gesagt, dass Naturwissenschaftler und Ingenieure in ihren
disziplinären Vorlesungen 5% ihrer Vorlesungszeit für ethische Reflexion einsetzen sollten.
Dieser Aussage ist an sich nicht zu widersprechen, denn solcherart wäre die Ethik im
Fachunterricht integriert; doch sind m. E. zwei Gefahren nicht von der Hand zu weisen. Erstens
werden nicht alle Dozierenden ethische Probleme zur Diskussion stellen wollen, weil oft für den
Fachunterricht bei dichter Stofffülle Zeitmangel herrscht, so dass dann gerade diese Themen
wegfallen. Zweitens gibt es Dozierende, die innerhalb einer empirischen, deskriptiven
Wissenschaft (Natur- oder Ingenieurwissenschaft) nicht evaluative und normative Fragen
diskutieren wollen; sie bleiben bei der Vermittlung von sicheren, harten Fakten und meiden die
weiche geisteswissenschaftliche Perspektive. Um diesen zwei beschriebenen Gefahren
auszuweichen und die Ethik trotzdem integral in den Fachunterricht einzubinden, braucht es eine
gemischte oder überlagerte Unterrichtsform: Die Fachdozenten und Fachdozentinnen
unterrichten disziplinär ihr Gebiet und definieren im Voraus – abgestimmt auf ihren
Semesterstoffplan – zu welchem Zeitpunkt und zu welchen Themen ethische Fragen diskutiert
werden sollen. In dieser Phase allerdings sollten der Fachdozent, die Fachdozentin und der
Ethiker, die Ethikerin zusammenarbeiten, Voraussetzung ist eine transdisziplinäre Haltung. Diese
Kooperation erfordert zudem ein gewisses Mass an Koordination und kann von einer
sequenziellen oder partiellen Zusammenarbeit bis zur interdisziplinären Semesterveranstaltung
reichen.
Brückenfächer
Eine andere Möglichkeit für den Ethikunterricht an Fachhochschulen ist das Konzept der
Brückenfächer wie Technikethik, Techniksoziologie, Technikgeschichte oder Umweltethik. Dabei
kann von den fachlichen Interessen der Studierenden ausgegangen werden – was didaktisch sehr
nützlich ist –; das Gespräch wird im Verlaufe einer vertieften Auseinandersetzung dann immer
mehr die historische und gesellschaftliche Bedingtheit von Technik bewusst machen, so dass die
Studierenden letztlich für grundlegende ethische und ökologische Aspekte sensibilisiert werden
können. In ihrem späteren Handeln und Arbeiten erkennen sie kritische Probleme, verstehen
insbesondere die komplexen Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft, Technik, Umwelt und
Natur und sind in der Lage, ethische Reflexionen in ihre Entscheidungen mit einzubeziehen.
In einem solchen Fach soll den Studierenden ein Minimum an Grundbegriffen und
Fragestellungen der philosophischen Ethik beigebracht werden. Der Schwerpunkt liegt aber in
der induktiven Methode, das heisst bei der Erarbeitung von Fallbeispielen. Der grosse Vorteil der
Fallbeispiele oder Fallstudien ist der Umstand, dass die Studierenden die wichtigsten ethischen
Konfliktpotenziale, die in ihrem Berufsfeld auftreten, kennen lernen und diskutieren können. In
einer sorgfältigen Fallbesprechung werden die Studierenden differenzierte Urteile abgeben, die
dem Lehrenden wiederum theoretisches Wissen abfordern, das er so praxisbezogen einbringen
kann; oder er lässt sich in grundsatzreflexive Debatten ein, zum Beispiel: Was heisst
Gerechtigkeit? So durchdringen sich – ausgehend von einem konkreten Fall – Praxisbezug und
theoretisches Wissen auf ideale Weise. Selbstverständlich muss der Diskurs ernsthaft geführt
werden, die Lernenden schöpfen aus ihren Berufserfahrungen, begründen ihre Meinungen und
akzeptieren das Gewicht des stärkeren Arguments. Der Umstand, dass die Studierenden im
Klassenraum bei der Analyse eines Falls eine relativ grosse Handlungsfreiheit geniessen, aber
keine Verantwortung übernehmen müssen, im Gegensatz zur Praxis, in der der
Handlungsspielraum oft sehr eingeschränkt wird, die Verantwortung unter Umständen aber gross
ist, kann nur problematisiert, nicht aber behoben werden. Zusätzlich zu den moralischen
Problemen im Berufsfeld sollen die Studierenden auf die komplexen politischen Fragestellungen
aufmerksam gemacht werden, die nur in einem öffentlichen Diskurs zu lösen sind.
Projektorientierter Unterricht
Vielversprechend ist das Konzept des projektorientierten Unterrichts, auch bekannt unter dem
Begriff Project based Learning (PBL). Hier wird ein bestimmtes Problem fokussiert oder ein
konkretes Projekt angegangen, bei dem möglichst viele Aspekte eine Rolle spielen:
mathematische, physikalische, technische, ökonomische, juristische, soziologische, ethische,
soziale und andere. Hier ist wie bei der ersten beschriebenen Variante die Ethik mit
verschiedenen Disziplinen verknüpft und kann problemorientiert angewandt werden. Weil nicht in
einer Person diese Aspekte thematisiert werden können, braucht es mehrere Dozierende, die in
PBL-Modulen mitwirken. Die Hauptschwierigkeit liegt zur Zeit noch in den traditionellen
Stundenplänen und im segregierten Fächerkanon. Dieser muss teilweise zugunsten von solchen
neuen Unterrichtsmodulen aufgegeben werden, so dass die angestrebte Inter- und
Multidisziplinarität auch konkret umgesetzt werden kann. Eine Variante ist dabei ein
Studiobetrieb mit einem Verantwortlichen, der in bestimmten Momenten die verschiedenen
Fachpersonen zusammenzieht, oder die konsequente Verfolgung eines Themas, eines strittigen
Problems, einer offenen Fragestellung in einem PBL-Modul, das prominent im Curriculum
erscheint, von mehreren Dozierenden vorbereitet, begleitet und bewertet wird, und obligatorisch
für alle Studierenden ist.
Ethiktagungen, Blockseminare, Gastvorlesungen
Eine weitere Möglichkeit, ethische Aspekte zu thematisieren oder Postulate einzubringen an
Fachhochschulen, ist die Durchführung von Ethiktagungen. Angesprochen sollen sowohl die
Studierenden als auch die Dozierenden sein, vorgegeben ist ein allgemeines oder aktuelles
Thema. Input-Referate, aktive Gruppenarbeit und Plenumsdiskussionen ergänzen sich, die
Veranstaltung dauert einen Tag.
Beispiel: Thema Verantwortung. In allen amerikanischen Publikationen zur Technikethik wird als
Schlüsselkonzept die professional responsibility betont, darunter wird ein Typus von moralischer
Verantwortung verstanden, die sich einerseits aus der Fachkompetenz ergibt, andererseits aus
dem Individuum. Wichtig dabei ist das principle of care. Weil eben die Ingenieure
handlungsmächtiger sind als viele andere Menschen, haben sie auch grössere Verantwortung zu
tragen. Mit dem Begriff Verantwortung sind aber zentrale Fragen der Technikethik verknüpft:
-
Was heisst Verantwortung überhaupt?
In welchem Spannungsfeld steht die Verantwortung des Ingenieurs: Berufsstand Unternehmung - Gesellschaft - Kunden?
Welche moralische Qualität hat das Handeln eines Ingenieurs?
Wie weit reicht die Verantwortung des Ingenieurs?
Welche Dimensionen der Verantwortung sind voneinander zu unterscheiden?
Welche Probleme ergeben sich in unserer hoch komplexen, vielteiligen und heute zunehmend
globalisierten Arbeitswelt?
Wie steht es mit der individuellen Verantwortung?
Können Unternehmungen ethische Verantwortungssubjekte sein? Etc.
Eine solche Thematik kann selbstverständlich auch in einer Blockveranstaltung behandelt werden.
Günstig dabei ist die Vorbereitung durch mehrere Dozierende, die aus verschiedenen Disziplinen
kommen. Neben solchen internen Veranstaltungen sollen aber auch regelmässig öffentliche
Gastvorlesungen durchgeführt werden, so dass eine breite Öffentlichkeit vom Bemühen der Schulen
um Wertfragen erfährt und selber sich ins Gespräch einmischen kann. In der Schweiz gibt es
heute einige Leute, die sich mit Fragen der angewandten Ethik intensiv beschäftigen.
Was kann der Ethikunterricht leisten
Vom Erfolg des Ethikunterrichts an einer Fachhochschule kann man dann sprechen, wenn das
Thema Ethik zu einem Thema an der Schule geworden ist und die Studierenden an den
Veranstaltungen aktiv teilnehmen. Das gelingt am besten, wenn die verschiedensten Wege
eingeschlagen werden und verschiedene transdisziplinär eingestellte Fachleute zusammenarbeiten.
Der Gewinn dabei ist gross, denn Ethik
- reflektiert kritisch die moralischen Kategorien des Guten und Richtigen
- stellt Orientierungswissen zur Verfügung
- ermöglicht eine Wertediskussion
- regt ein Nachdenken über das Berufsethos an
- schärft die gesellschaftliche Verantwortung und
- sensibilisiert die Studierenden für globale ökologische Zusammenhänge.
* Der Autor ist Dozent an der Fachhochschule Aargau in Brugg-Windisch und hat seit 1992 den
Ethikunterricht an der Schule massgeblich aufgebaut. Von ihm sind auch zwei Bücher zur Thematik
erschienen: Fridolin Stähli, Ingenieurethik an Fachhochschulen. Ein Leitfaden mit Fallbeispielen und
Übungen, Sauerländer, Aarau, Frankfurt/M., Salzburg 1998 und Fridolin Stähli; Fritz Gassmann,
Umweltethik. Die Wissenschaft führt zurück zur Natur, Sauerländer, Aarau, Frankfurt/M., Salzburg 2000.