Artikel als pdf - Universität Hildesheim
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Indien zwischen Tradition und Moderne Wo die Welt weder wirklich noch unwirklich ist Von Silvio Vietta ■ Ein Land mit 1,2 Milliarden Einwohnern und über hundert Sprachen erlebt die Globalisierung. m Januar 2013 hatte ich eine Einladung von der Nehru Universität in New Delhi erhalten und dort im Oktober eine Gastprofessur dort absolviert. Mein Lehrprogramm lautete: Literarische Moderne, und das erwies sich für die 30 Studierenden, die ich unterrichtete, als erstaunlich aktuell. Denn Aufklärung und Romantik, mit der die Moderne in Europa beginnt, hatten ähnliche Probleme zu bewältigen wie das heutige Indien immer noch: die Überwindung der Klassen(in Indien Kasten)-Hierarchie, die Gleichstellung von Mann und Frau und deren Eigenrechte in der Wahl des Ehepartners. Die Studenten höheren Se- Zur Person Silvio Vietta, geb. 1941, ist Literaturwissenschafter und Professor em. an der Universität Hildesheim. Er lehrte 2013 als Gastprofessor in Neu Delhi. Foto: Urban mesters sprachen gut Deutsch und beteiligten sich lebhaft an den Debatten. Der inmitten von Delhi in einem urwaldähnlichen Gelände liegende Campus hatte eine ähnliche Funktion wie der romantische Salon der Rahel Varnhagen vor 200 Jahren in Berlin: relativ herrschaftsfreie Kommunikation bei Gleichstellung der Geschlechter, damals wie heute Utopie einer zukünftigen Gesellschaft. Ich lernte aber bald, dass der Campus eine Insel ist. Die meisten Studenten kamen aus Provinzen wie Bihar, Rajasthan – und dort ticken die Uhren anders. Meine beste Deutschstudentin, Dipti, stammt aus einer unteren Kaste, gehörte nun also zwei Systemen an: beste Leistungsklasse Deutsch bei niederer indischer Kaste. „Und wie werden Sie heiraten?“, frage ich sie zusammen mit ihrer Freundin bei Tee nach dem Seminar. Die Inder haben eine wunderbar vielseitige Bewegung des Kopfes, um Ja oder Nein zu sagen. Der Kopf dreht sich dabei wie in einer Unendlichkeitsschleife um seine Aufhängung auf der Halswirbelsäule. Und beide Mädchen schaukeln bei meiner Frage nun ihren Kopf schwingend in solchen Nachdenklichkeitsschleifen hin und her. Offene Antwort. Vielfach heiraten dieselben Studierenden, die an der Universität den aufklärerischen Imperativ des Philosophen Kant lernen, ihren eigenen Kopf zu gebrauchen und die die eigenwilligen romantischen Liebesabenteuer einer Caroline Schlegel-Schelling studieren, in den konservativen Kreisen ihrer Heimat durchaus wieder im Rahmen der Tradition und ihrer Kaste. Inder sind Meister der Integration von Gegensätzen. Ihre Lehre der Identität lautet anders als in Europa. Dort gilt A ist gleich A und ist ungleich Non-A. Indien hat eine andere Logik. Nehmen wir die Autobahn. Ich fahre mit dem Taxi auf der Autobahn nach Agra, wo der zauberhafte Taj Mahal steht, den der Mogulherrscher Shah Jahan seiner verstorbenen Lieblingsfrau 1631 als Grabpalast erbauen ließ. Und ich fahre mit dem Taxi – in Indien ist das bezahlbar – die 270 Kilometer von Delhi in die für den Thronfolger von England einmal so bemalte „rote Stadt“ Jaipur. Das dauert sieben Stunden. ie Autobahn ist eben nicht nur Autobahn, sondern auch Fußgänger-, Fahrrad- und Rikscha-Weg. Und: Auf dem Mittelstreifen grasen Kühe, Ziegen, Esel. Die Autobahn also auch: eine Viehweide. Dann liegen da auch schlafende Hunde am Straßenrand: die Autobahn als Hundeschlafplatz. Bei der Durchfahrt durch Städte ragen die Verkaufsstände auf die Straße. Autobahn in Indien auch streckenweise: ein Basar. Der Verkehr läuft auf je zwei Spuren in die eine wie andere Richtung, aber in jede zugleich auch gegenläufig. „Geisterfahrer“ würden wir das nennen. In Indien normal. Etwas ist etwas und zugleich auch sein Gegenteil. Ich war froh, gefahren zu werden und mich nicht selbst durchschlängeln zu müssen. Die Logik der Ambivalenzen greift noch tiefer. In der Philosophiegeschichte Indiens von Radhakrishnan lese ich über das Samkhya-System: „The world is neither real nor unreal.“ Europäische Philosophie dagegen beginnt mit dem Satz des Parmenides, dass man nur das Sein denken kann und nicht das Nicht-Sein. Dass Sein und Nicht-Sein gleich sein könnten in ihrer unbestimmten Realität, ist für europäische Philosophie denkunmöglich. Aber es waren die Inder, die auf ihre Weise eine wichtige „Nichtigkeit“ erfunden haben, die Zahl 0. Ich habe auf dem Campus und meinen Reisen viele Inder getroffen, die sich einen Modernisierungsschub für ihr Land wünschen, rationale Infrastruktur, politische Transparenz und weniger Korruption. Eine Rechtsprofessorin frage ich in Goa: „Brauchen Sie mehr Gesetze gegen Korruption oder geht es primär um die Durchsetzung?“ – „Eindeutig Letzteres“, antwortet sie. „Rechtsbrüche werden oft nicht oder viel zu spät verfolgt, und meistens spielt dabei auch Geld eine entscheidende Rolle.“ – „Bestechung auch der Polizei und der Justiz?“ – „Leider ja.“ 2014 stehen Parlamentswahlen in Indien an. Der Herausforderer der regierenden Kongresspartei und ihres einfallslosen Repräsentanten Rahul Ghandi heißt Narendra Modi von der konservativen BJP. Er versteht es hervorragend, die Medien für sich zu nutzen, und profitiert von der Müdigkeit vieler Inder mit der jahrzehntelang regierenden Kongresspartei und ihrem Familienclan Nehru-Gandhi; dieser trägt nur noch den Namen, nicht die Aura der großen Führer in Indiens Unabhängigkeit. Andere fürchten bei der Wahl Modis einen Rechtsruck und erneute Religionskonflikte in einem Riesenstaat, der viele verschiedene Ethnien, Religionen und über 1500 Dialekte unter einen Hut bringen muss und dabei immer wieder vor allem durch Religionskonflikte zwischen Hindus und Moslems gebeutelt wird. Es gibt – nach dem islamistischen Terroranschlag vom November 2008 in Mumbai – heute keine Bahnhof- oder Metrostation, die nicht durch Schwerbewaffnete gesichert und kontrolliert wird. Aber die religiöse und kulturelle Vielfalt des Landes ist auch sein Reichtum. Die Frauen in ihren Saris stehen wie leuch- Karikatur: Daniel Jokesch tende Farbflecken auf den Feldern bei der Reisernte oder dem Schneiden von Gras für das Vieh. Die bunte hinduistische Götterwelt – der Indologe Glasenapp hat sie einmal mit einem „Urwald“ verglichen – mit den Hauptgöttern Brahma dem Weltschöpfer, Vishnu dem Erhalter und Shiva dem Zerstörer und Erneuerer lebt in der indischen Gesellschaft wie auch der Buddhismus, Jainismus und andere Religionen. „Indien hatte lange und hat immer noch eine orale Kultur“, sagt mir ein Student, „das ist ein Grund, warum der Mythos hier immer noch lebt.“ Als ich demselben Studenten Bilder der erotischen Tempeldarstellungen von Khajuraho zeige, meint er: „Das sind nur Darstellungen von Menschen, nicht von Göttern.“ Aber es waren auch die Götter, die vor tausend Jahren in Indien in der Erotik die kosmischen Kräfte der Zeugung am Tempelbau demonstrierten. Das heutige Indien aber ist prüde geworden. Erotik und Sex sind weitgehend aus dem öffentlichen Leben verbannt. Es ist ein Problem für Jugendliche, vor der Ehe sich zu treffen. Das mag die Aggression junger Männer schüren. Selbst in den Bollywood-Filmen sieht man viel tränenfeuchte Augen, Küsse aber wenig, bis vor kurzem: gar nicht. A n einem besonderen Tag im Oktober, dem Durga-Puja, einem Fest für die Göttin Durga, fahre ich mit dem Nachtzug in die heilige Stadt Varanasi. Zugfahren ist nicht einfach in Indien, man muss das Ticket Tage vorher im Internet bestellen und dann bei einem solchen Fest noch Glück haben, dass man eins kriegt. Mein Nachtzug braucht für die 600 Kilometer von Delhi nach Varanasi zwölf Stunden. Die Durchschnittsgeschwindigkeit des rumpelnden Gefährts kann man sich leicht ausrechnen. Varanasi ist das Rom des Hinduismus. Scharen von Pilgern strömen an diesem Wochenende in dieses religiöse Zentrum, das seit mindestens dreitausend Jahren an der Mündung der Flüsse Varuna und Assi in den Ganges besiedelt ist. Der aus dem Himalaya herunter strömende Ganges biegt hier aus west-östlicher Richtung nach Norden ab und erlaubt so die rituelle Reinigung gen Osten im Morgenlicht. Heilig ist dieser Ort, weil sich Shiva mit seinem verfilzten Haar, Dreizack und Schlange hier niedergelassen habe, der große Yogi und Vorbild aller asketischen Wandermönche. Diese Sadhus in ihren safranfarbigen Gewändern, mit Asche eingeriebenen Körpern und bunten Zeichen auf ihren Stirnen, bevölkern zum Durga-Puja zuhauf die Stadt. Eine Gruppe solcher „Entsagender“, die wie frühmittelalterliche Mönche in absoluter Bedürfnislosigkeit leben, sehe ich später auf einer der Ghats, den Treppen zum Fluss, sitzen. Ihr Blick fällt milde, aber auch distanziert auf den vorbeigehenden Europäer. Dort am Fluss finden die rituellen Waschungen statt. Als in einem Boot entlang des Ufers treibe, sehe ich einzelne Männer, aber auch ganze Familien im heiligen Fluss zur Reinigung untertauchen. Die Ganga – im Hinduismus sind Flüsse weiblich – ist der heiligste aller Flüsse, dem eine göttliche Reinigungs- und Heilungskraft nachgesagt wird. Und wer daran glaubt, dem scheinen auch die heute hohen Belastungen des Wassers mit Industrieresten und Abfallstoffen aller Art nichts anzutun. V or allem aber ist Varanasi am Ganges der Ort, wo ein Mensch seine letzte Fahrt antreten kann ins Totenreich, und Shiva selbst wird ihn dabei leiten. Denn wer in Varanasi am Flusslauf des Ganges verbrannt wird, dem wird das Glück zuteil, für ewig aus dem leidvollen Kreislauf des Lebens zu verschwinden, sein Etwas als letzte Erlösung in ein Nichts verwandelt zu haben: Nirvana Verbrannt wird in Varanasi noch an zwei Ghats. Der Hauptbrennplatz sind die Manikarnika-Ghats, wo der Fluss die Stadt verlässt. Eine Kaste von schwarzen Gesellen, die Doms, schichten dort die Scheiterhaufen auf, deren Holz die Angehörigen eines Toten für viel Geld kaufen müssen, 200 bis 300 Kilogramm pro Leichnam. Ist der Tote durch einen Beamten eindeutig identifiziert, tragen die männlichen Angehörigen ihn bunt geschmückt auf einer Bambusbahre zum Brennplatz und betten ihn auf dem vorbereiteten Scheiterhaufen. Das Feuer entzündet der älteste Sohn oder Schwiegersohn des oder der Verstorbenen. Als ich dort am Rande der Feuerbestattung stand, wurde ein Mann meines Alters verbrannt. Sein weißer Bart griff als Erstes gierig das Feuer auf und illuminierte einen Moment lang das wachsgelbe Gesicht den gefährlichen Büffeldämon besiegt und getötet. Mit Feuern am Fluss wird ihr Fest gefeiert. Spät am Abend gehe ich noch einmal zum Fluss entlang der Feuer, die ausglimmen oder gerade frisch entzündet sind. Ein Bootsmann fragt mich aus dem Dunkel, ob er mich noch auf den Fluss hinausfahren soll. Ich stimme zu und steige ein. Die helle Stadt – im Mittelalter hieß sie Kashi, die Leuchtende – glänzt mit ihren Feuern und Überbleibsel der Vergangenheit in der Gegenwart. Foto: epa/Shrestha des Toten mit einem hellen Feuerkranz. Bis er verbannt sein wird, werden drei Stunden vergangen sein. Das ganze Ritual verläuft im Schweigen. Niemand spricht. Die Angehörigen – nur Männer – stehen stumm bei der Zeremonie, bis ihr Verwandter von den Flammen aufgezehrt ist. Das Sprengen des Schädels symbolisiert am Ende die Freigabe der Seele. Einen der Doms sah ich dann zum Fluss eilen. Er beugte sich über ein Schiff, das Holz geladen und angelegt hatte, und schaufelte mit seiner rechten Hand Gangeswasser in seinen Mund. Um das schadlos zu überstehen, muss er schon ein Bote aus dem Jenseits gewesen sein. Am Abend findet dann das Ritual zu Ehren der Göttin Durga am Fluss statt. Sie ist eine Inkarnation der Göttin Parvati und somit Frau Shivas. Als Durga ist sie eine gefährliche Göttin. Sie reitet den Tiger und hat Lichtern hinaus auf die rasch vorantreibenden Wellen der Ganga. Ich halte die Hände ins Wasser, lasse es durch die Finger strömen. Da schwimmen im Dunkeln zwei Pakete vorbei. Mir fährt der Schreck in die Glieder und schnürt mir die Kehle zu. Es sind Leichen. Auch das ist ja eine Form der Bestattung, die Toten dem Fluss zu überlassen. Ich bitte den Fährmann mit erstickter Stimme, rasch zurückzurudern. Es ist ein seltsames Gefühl, aus einem solchen Gangesboot noch einmal an Land zu steigen. A m letzten Tag meines Universitätsaufenthaltes in Delhi war ich zu einer Hochzeit auf dem Campus eingeladen worden. Ein bekannter Professor verheiratet seine Tochter. Es ist die Vorabendfeier, an der die Braut ihre Hände mit Henna rot einfärbt, die Gäste festlich bewirtet werden in dem mit bunten Bändern geschmückten warmen Garten. Eine fünfköpfige Band spielt auf alten Instrumenten traditionelle Musik. Hochzeiten in Indien sind ein großes Thema. Auf dem Lande herrschen teils noch Mitgiftzwänge, die Familien mit Töchtern an den Rand des Ruins treiben, jedenfalls auf Jahre verschulden. Geschichten machen die Runde von jungen Männern, die von der Brautfamilie entführt und zwangsverheiratet werden, um die Mitgift zu sparen, oder auch von Mitgiftjägern, die sich nach der Hochzeit ihrer reichen Bräute per Unfall entledigen, um die Mitgift einzustreichen. Hier geht sicher alles mit rechten Dingen zu, und als die Braut in einem schönen Kleid im Garten erscheint, wird sie wie ein Filmstar im Scheinwerferlicht illuminiert und beklatscht. Morgen wird sie von ihrem Bräutigam abgeholt und mit ihm verehelicht werden, indem ein Brahmane alte Texte aus den Veden verliest, deren Sprache nur noch die Eingeweihten kennen, deren Magie und Zauber aber immer noch wirken. Indien ist ein schwieriges, ein immer noch vom Mythos durchdrungenes tiefes und auch ein freundliches Land. Wer sich nicht gleich abschrecken lässt von Elendsquartieren und Armut, die es im Lande der ungerechten Einkommensverteilung und großen Korruption zuhauf gibt, wird belohnt durch die Vielfalt, den Farbreichtum der indischen Kulturen, auch die Heiterkeit und Herzlichkeit der meisten Inder gegenüber Fremden. Die wunderbare Wärme im Süden Indiens auch in jenen Monaten, da in Mitteleuropa Kälte und Dunkelheit vorherrschen, kann zu einer Reise verlocken in ein Land, in dem bei heißen Mittagstemperaturen immer noch der Gott Krishna aus den Büschen springen kann und auf seiner Flöte spielen. ■