Abschlussbericht - Universität Erfurt

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Abschlussbericht - Universität Erfurt
Prof. Dr. Arno Scherzberg, Erfurt
DIE POLITISCHEN GRUNDRECHTE IN DER TÜRKISCHEN REPUBLIK
– EIN VERGLEICH MIT DEN EU-GRUNDRECHTSSTANDARDS
Abschlussbericht
I. Grundlagen des Projekts und seiner Durchführung
a) Zielsetzung
Das Projekt sollte den Stand der Verwirklichung der politischen Grundrechte (Meinungs-,
Rundfunk- und Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Freiheit der
Gründung und Betätigung politischer Parteien) in der Türkei erheben und den EUGrundrechtsstandards gegenüberstellen. Damit sollte es den ggf. verbleibenden Reformbedarf
verdeutlichen, der bis zur vollen Erfüllung der EU-Beitrittskriterien besteht.
b) Vorgehensweise
Zur Ermittlung des Standes der Entwicklung der politischen Grundrechte in der Türkei wurden die türkische Literatur und Rechtsprechung zur Dogmatik und Praxis der untersuchten
Grundrechte bis Dezember 2007 ausgewertet. Ferner führten der Verfasser und die Projektmitarbeiter in verschiedenen Reisen durch türkische Provinzen in Ankara, Diyarbakir, Erzurum, Izmir, Istanbul, Kayseri, Konya, Malatya und Trabzon mehr als 100 Interviews zur Praxis der Grundrechtsverwirklichung durch. Ansprechpartner waren der jeweilige, für den Menschenrechtsbeirat zuständige Vizegouverneur, Vertreter der Staatsanwaltschaften, Mitglieder
eines erstinstanzlichen Gerichts für Strafsachen und des Kassationsgerichtshofs, die Leiter der
mit der Ausübung grundrechtlich geschützter Rechte befassten Behörden wie Polizei, Stiftungsamt und Vereinsamt sowie Vertreter von Journalistenverbänden, Rechtsanwaltskammern, des türkischen Unternehmerverbandes und der türkischen Menschenrechtsorganisationen. Hinzu kamen Mitglieder der rechtswissenschaftlichen Fakultäten einiger Universitäten
und ausländische Beobachter.
Zum Erfolg des Projekts haben vor allem die Projektmitarbeiter, Frau Sennur Agirbasli, Frau
Annett Biernath und Herr Mesut Mutlu beigetragen. Ferner haben sich die türkischen Mit-
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glieder des deutsch-türkischen Staatsrechtskolloquiums, Vertreter der Deutschen Botschaft
und der EU-Kommission in Ankara sowie der Friedrich-Ebert-Stiftung in Istanbul mit Informationen, Empfehlungen und durch Vermittlung von Kontakten für das Anliegen des Projekts
engagiert.
II. Zusammenfassung der Ergebnisse
Die politischen Grundrechte werden in der TVerf heute überwiegend europarechtskonform
gewährleistet. Ihre rechtliche Konkretisierung und deren Anwendung sind indes in vielfacher
Hinsicht defizitär. Probleme bereiten insbesondere die faktische Wächterrolle des Militärs
und seine mangelhafte demokratische Kontrolle, das Fehlen einer vollen Unabhängigkeit der
Justiz, unverhältnismäßige Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit und Rechtsunsicherheit aufgrund von vagen Strafrechtsnormen und ihrer teilweise extensiven Anwendung,
die hohe Pressekonzentration, das Fehlen einer inneren Pressefreiheit, die Einschränkung der
Rundfunkfreiheit für Sendungen in anderen als der türkischen Sprache, die Beschränkung der
Ausübung der Versammlungsfreiheit auf bestimmte, vorgegebene Plätze und Strecken, übermäßige Gewaltanwendungen bei der Auflösung von Versammlungen, Beschränkungen der
Koalitionsfreiheit für bestimmte Berufsgruppen sowie verschiedene Defizite im Recht der
politischen Parteien. Aufgrund derartiger Probleme fehlt es den jenseits des „mainstream“ der
türkischen Politik angesiedelten Akteuren wie den Menschenrechtsorganisationen an einem
grundlegenden Vertrauen in die staatlichen Institutionen und ihre Rechtsstaatlichkeit. Auch
deshalb kann derzeit trotz der erheblichen und anerkennungswürdigen Reformanstrengungen
der politischen Führung seit dem Jahre 2000 noch nicht davon gesprochen werden, dass die
politischen Grundrechte in einer den Vorgaben der EMRK und der europäischen Grundrechtecharta entsprechenden Weise gesetzlich ausgestaltet und faktisch nutzbar gemacht worden
sind.
III. Ergebnisse im Einzelnen
a) Demokratische und rechtsstaatliche Rahmenbedingungen
In vielen Interviews mit Pressevertretern, Menschenrechtsorganisationen und anderen Grundrechtsträgern wurde deutlich, dass die Wirkkraft der politischen Grundrechte in der Türkei
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und ihre tatsächliche Nutzung heute nicht nur vom Umfang ihrer verfassungsrechtlichen Gewährleistung und der Qualität ihrer rechtlichen Konkretisierung in den einschlägigen Gesetzeswerken abhängt, sondern zumindest in gleichem Maße auch von der Verlässlichkeit der
rechtsstaatlichen und demokratischen Rahmenbedingungen und dem Vertrauen der Grundrechtsträger in diese.
Derzeit werden die Grundrechte von vielen nicht zum „mainstream“ gehörenden Akteuren
mangels Vertrauen in die staatlichen Institutionen nicht in vollem Umfange wahrgenommen.
Dies wird etwa in dem Umstand erkennbar, dass sich die türkischen Menschenrechtsorganisationen nur in wenigen der besuchten Provinzen an dem beim Gouverneur gebildeten Menschenrechtsbeirat aktiv beteiligen und den Beirat bei Menschenrechtsfragen in Anspruch
nehmen – eine Distanz, die teilweise durchaus auf Gegenseitigkeit beruht. Besonders gering
ist die behördliche Akzeptanz derjenigen Organisationen, die sich – in friedlicher Weise – um
die Belange des kurdischen Teils der Bevölkerung bemühen.
Im Berichtszeitraum war die – derzeit zur Ablösung gestellte – Verfassung von 1982 in Kraft,
die nach mehrfachen Reformen mittlerweile wichtige Grundlagen einer modernen Demokratie
wie die Volkssouveränität, freie Wahlen, Gewaltenteilung, das Mehrparteiensystem und auch
die politischen Grundrechte gewährleistet. Freilich kommt in ihr auch die kemalistische
Grundprägung des türkischen Staates zum Ausdruck, die vielfach zum Anlass einer restriktiven, staatszentrierten Auslegung und Handhabung der Grundrechtsnormen genommen wurde.
Grundlegend ist dabei ein Staatsverständnis, das den Staat der Gesellschaft und den demokratisch strukturierten politischen Institutionen vor- und überordnet. Der Staat wird danach nicht
als politisches Instrument der Gesellschaft verstanden, sondern als deren dominante Ordnungsmacht, die Recht und Politik in ihren Dienst nimmt. Auf dieser Basis ist insbesondere
der Bereich des Militärs und mancher Staatsunternehmen noch heute einer politischen Kontrolle praktisch entzogen. Eine volle Zivilisierung des Staatsapparates, d.h. die Unterstellung
aller Politikfelder unter die Kontrolle der demokratisch legitimierten Organe, steht derzeit
noch aus. Eine Reihe von Ereignissen der letzten Jahre lässt erkennen, dass die Auseinandersetzung demokratischer Kräfte mit den aus Teilen der Bürokratie, der Richterschaft und des
Militärs bestehenden „alten“ gesellschaftlichen Eliten um eine politische Erneuerung des türkischen Gemeinwesens noch andauert. Derzeit kann trotz erheblicher Reformanstrengungen –
gemessen an den Vorgaben der EMRK und der europäischen Grundrechtecharta – von einer
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uneingeschränkten Verwirklichung der politischen Grundrechte weder in rechtlicher noch in
tatsächlicher Hinsicht gesprochen werden.
Ansätze für eine moderne, diskursive Demokratie sind in der Türkei etwa in einer teilweise
sehr lebhaften und kritischen Presseberichterstattung durchaus vorhanden, allerdings im Recht
wie auch in der Gesellschaft noch nicht abschließend etabliert. Die mangelnde Einübung demokratischer Praxis äußert sich insbesondere in einer unangemessenen, teilweise nur ideologisch zu begründenden strafrechtlichen Verfolgung von Medienvertretern und Individuen bei
Äußerungen zu bestimmten Tabuthemen der türkischen Politik. Als Tabuthemen sind vor
allem zu nennen: die Person und heutige Bedeutung des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk, die Rolle des Militärs als „Hüter“ des kemalistischen Erbes, die Kurdenfrage, der Laizismus, die Deportation der Armenier in den Jahren 1915 – 1917 und die Rechte der religiösen und ethnischen Minderheiten.
Positiv sind die mittlerweile 9 Reformpakete des türkischen Verfassungs- und Gesetzgebers
hervorzuheben, die darauf gerichtet sind, die Voraussetzungen für den Erfolg des EUBeitrittsprozesses schrittweise zu erfüllen. Ferner ist spürbar, dass vielen Beteiligten, vor allem aus dem Umfeld der jüngeren Beamten- und Richterschaft sowie großen Teilen der Regierungspartei AKP, die Förderung der demokratischen Entwicklung erkennbar am Herzen
liegt. Hierzu haben nicht zuletzt internationale Kontakte und Ausbildungsprogramme beigetragen, die in den letzten Jahren mit Unterstützung der EU und einiger Mitgliedstaaten, namentlich Dänemark und Großbritannien, durchgeführt worden sind. In Rundschreiben der
Ministerien der Justiz und des Inneren an die ihnen zugeordneten Gerichte und Behörden zu
grundrechtlichen Themen wird vielfach auf die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR
sowie die Notwendigkeit zur Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips bei behördlichen
Eingriffen hingewiesen. Hier ist eine allmähliche, wenn auch nicht in allen Landesteilen in
gleicher Weise fortschreitende Ablösung der über Jahrzehnte eingeschliffenen obrigkeitlichen
Denk- und Verhaltensmuster zu beobachten. Allerdings erscheint der Umgang mit den Errungenschaften der Reformperiode seit 2001 noch teilweise ungeübt und führte das bis ins Jahr
2005 hohe Tempo der Gesetzesänderungen auch zu Überforderung und Widerstand. Nach
allgemeiner Beobachtung hat dies den Reformprozess im Jahre 2006 nahezu zum Stillstand
gebracht. Den Ankündigungen des wiedergewählten Ministerpräsidenten Erdogan zufolge
wird er nunmehr wieder aufgenommen. Der Ausgang der Parlamentswahl vom Juli 2007 hat
gezeigt, dass die von der derzeitigen politischen Führung ausgehende Bewegung der Moder-
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nisierung von der Bevölkerung angenommen wird und die Veränderung der politischen Strukturen gesellschaftlichen Rückhalt findet. Regierungs- und Oppositionsparteien haben für die
seit Sommer 2007 laufende Legislaturperiode die Vorbereitung einer „zivilen“ Verfassung
angekündigt.
b) Konkrete Problemfelder
Als konkrete Problemfelder, auf denen die Fortführung und Vertiefung der begonnenen
staatsrechtlichen Reformen notwendig erscheint, haben sich in unseren Untersuchungen insbesondere gezeigt: die Rolle des Militärs, die Unabhängigkeit der Justiz, die Freiheit zur
Gründung und Betätigung politischer Parteien und das Fehlen einer innerparteilichen Demokratie. Ferner ist auf die unverhältnismäßige Begrenzung der Meinungs- und Pressefreiheit
durch eine Reihe von Strafrechtsnormen hinzuweisen sowie auf die faktischen Grenzen der
Meinungsfreiheit im Kontext der skizzierten, teilweise sozial tief verwurzelten gesellschaftlichen Tabus. Auch ist eine „innere Pressefreiheit“ in der Türkei unbekannt
Die Einflussnahme des Militärs auf Politik und Justiz
Traditionell betrachtet sich das türkische Militär sowohl als Garant der äußeren Sicherheit als
auch als Hüter der kemalistischen Grundsätze der Republik. Seine umfangreichen politischen
Zuständigkeiten wurden in den jüngsten Reformen weitgehend beschränkt. Insbesondere
wurde mit der Verfassungsreform im Jahre 2004 die Aufgabe der Militärführung im Nationalen Sicherheitsrat von einer Wächterfunktion mit exekutiven Befugnissen auf eine beratende
Rolle reduziert. Zugleich blieb jedoch Art. 35 des Gesetzes über den inneren Dienst der
Streitkräfte in Kraft, der der Militärführung die Aufgabe der Erhaltung des Staatsgebietes sowie der Einheit der türkischen Nation und der laizistische Ordnung zuweist. Diese Vorschrift
ist in der Vergangenheit mehrmals als Grundlage für eine Intervention des Militärs in die Politik geltend gemacht worden. Art. 43 des gleichen Gesetzes, der ein politisches Engagement
des Generalstabs verbietet, blieb hingegen bisher ohne praktische Relevanz. Hinzuweisen ist
auch darauf, dass die Ausgaben für die Streitkräfte faktisch keiner Kontrolle durch Parlament
oder Rechnungshof unterliegen.
Als hervorragendes Beispiel für die Intensität der Einflussnahme des Generalstabs auf die
demokratisch legitimierten Kräfte kann dessen im April 2007 veröffentlichte Erklärung zu der
seinerzeit beabsichtigten Wahl des AKP-Kandidaten Gül zum Staatspräsidenten gelten. Während der Entscheidungsphase des Parlaments wurde auf der Webseite des Generalstabs ein
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Memorandum eingestellt, das die Regierungspartei AKP einer islamistisch orientierten Haltung beschuldigte und damit vor der Wahl ihres Kandidaten warnte. Die zeitliche Nähe zu
einer wenige Tage später zu treffenden Entscheidung des Verfassungsgerichts über die Gültigkeit zweier bereits unternommener Wahlgänge legt die Annahme nahe, dass damit nicht
nur auf das Parlament, sondern auch auf die Entscheidung des Gerichts Einfluss genommen
werden sollte. Neben der Militärführung versuchte im Übrigen auch der seinerzeit amtierende
Staatspräsident Sezer durch eine öffentliche Erklärung auf die Entscheidung des Verfassungsgerichts einzuwirken und forderte das Gericht auf, gegenüber der Regierung eine „ausgleichende Rolle“ wahrzunehmen. Kurz darauf kam es dann zu einer mit den Regeln der juristischen Logik nicht vereinbaren Auslegung der türkischen Verfassung durch das Verfassungsgericht, mit der dieses die Wahl Güls (zunächst) verhinderte.
Die Unabhängigkeit der Justiz
Zweifel an der Unabhängigkeit der Justiz gegenüber dem Militär und Teilen der Bürokratie
weckt insbesondere die zögerliche Verfolgung der von Soldaten, Gendarmen und Polizeibeamten begangenen Menschenrechtsverletzungen. Nicht effektiv verfolgt wurde etwa die offensichtliche Heroisierung des Mörders von Hrant Dink durch die Gendarmerie. Dagegen
wurde der zur Strafverfolgung im Fall des Bombenattentats von Semdinli zuständige Staatsanwalt entlassen, weil er versucht hatte, die Hintergründe dieses Attentats aufzuklären. Er
hatte dem Heereskommandeur und anderen leitenden Offizieren in seinem Untersuchungsbericht eine Mitverantwortung für das Attentat vorgeworfen, das nachgewiesenermaßen von
Militärangehörigen verübt worden war. Der Vorfall wurde in der Öffentlichkeit als Zeichen
dafür gewertet, dass es in der Türkei noch immer eine „derin devlet“ (tiefer Staat) genannte
Verknüpfung von Militärangehörigen, Geheimdienstmitgliedern, Vertretern der Bürokratie
und rechtsnationalistisch gesinnten Zivilisten gibt, die vor kriminellen Handlungen nicht zurückschrecken, um damit politische Ziele zu erreichen. In einer Presseerklärung forderte der
Generalstab ein Einschreiten gegen den im Fall Semdinli ermittelnden Staatsanwalt. Dieser
wurde durch den zuständigen Richterrat im Wege eines Disziplinarverfahrens aus dem Dienst
entfernt, ohne dass seine Untersuchungsergebnisse widerlegt worden wären.
Der Grundsatz der Unabhängigkeit der Gerichte findet rechtlich in Art. 9 und 138 TVerf. einen durchaus angemessenen Ausdruck. Danach sind die Richter bei der Ausübung ihrer Aufgaben unabhängig und haben nach Maßgabe der Verfassung, nach Gesetz und Recht, nach
ihrem Gewissen und ihrer Überzeugung zu entscheiden. Dem Parlament und der Regierung
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sind also Einflussnahmen auf die richterliche Tätigkeit verwehrt. Selbst die Entscheidungsmacht über die Ernennung, Versetzung, Beförderung und disziplinarrechtliche Verfolgung der
Richter ist der Regierung entzogen. Derartige Entscheidungen sind einem verfassungsrechtlich eingerichteten Hohen Richterrat übertragen, dessen Struktur und Zusammensetzung allerdings ihrerseits rechtsstaatliche Probleme aufwerfen. Etwa fehlen dem Richterrat die finanziellen und personellen Mittel sowie ein Selbstverwaltungsrecht, das eine tatsächlich unabhängige Entscheidungsfindung ermöglichte. Problematisch erscheint auch, dass die vorbereitende Auswahl der Vorschläge zur Besetzung des Richterrates durch den Staatspräsidenten in
den Händen nur zweier Gerichte, die Staatsrates und des Kassationshofes liegt, so dass viele
Gerichtszweige nicht über eine Vertretung im Rat verfügen. Derartige Defizite könnten auch
eine Erklärung für die oben skizzierte Entscheidung des Richterrates im Fall Semdinli bieten.
Probleme der Meinungs- und Pressefreiheit
Die Meinungsfreiheit wird in Art. 25 und 26 TVerf, die Pressefreiheit in Art. 28 ff. TVerf
gewährleistet. Zu wesentlichen Reformen dieser Regelungen kam es im Zuge der Verfassungsänderungen von 2001 und 2004, durch die vor allem das kumulative Schrankensystem des Art. 13 Abs. 1 TVerf a.F. zugunsten einer Verweisungsvorschrift abgeschafft wurde, nach der die Grundrechte nunmehr nur noch speziellen, in der jeweiligen Grundrechtsnorm vorgesehenen Schranken unterworfen werden dürfen. Gem. Art. 13 TVerf. unterliegen die grundrechtsbeschränkenden Gesetze überdies dem Übermaßverbot sowie einer
Wesensgehaltsgarantie. Ferner dürfen Beschränkungen „nicht gegen Wortlaut und Geist
der Verfassung sowie die Notwendigkeiten einer demokratischen Gesellschaftsordnung
und der laizistischen Republik“ verstoßen. Damit soll Art. 10 Abs. 2 EMRK umgesetzt
werden, der allerdings die Rechtmäßigkeit eines Eingriffs positiv daran bindet, in einer
demokratischen Gesellschaft zu den aufgezählten Zwecken notwendig zu sein.
Die bezeichneten Grundrechtsnormen enthalten einen umfangreichen Schrankenkatalog,
der u. a. die öffentliche Ordnung, die nationale Sicherheit, die Grundlagen der Republik,
die Vertraulichkeit von Staatsgeheimnissen sowie private Vertraulichkeitsinteressen, überdies aber auch den Schutz der Aufrechterhaltung einer ordnungsgemäßen Rechtsprechung
sowie die Vorbeugung und Verhinderung von Straftaten umfasst. Von diesen Vorbehalten
wird vor allem im Pressegesetz, im Strafgesetzbuch, im Gesetz zum Andenken an Atatürk,
im Anti-Terrorgesetz und im Gesetz Nr. 5651 zur Regelung von Internetpublikationen und
Verbrechensprävention im Internet Gebrauch gemacht.
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Das am 26. Juni 2004 in Kraft getretene Pressegesetz Nr. 5187 begründet unter anderem
das Recht auf journalistischen Quellenschutz, führt einen Gegendarstellungsanspruch bei
unwahren Tatsachenbehauptungen oder Beleidigungen ein und berechtigt Ausländer dazu,
türkische Veröffentlichungen zu verlegen. Zudem wurde die Beschlagnahme von Zeitschriften und Büchern erschwert und das Verbot abgeschafft, in einer anderen als der türkischen Sprache zu veröffentlichen. Schließlich wurden die im Pressegesetz enthaltenen
Strafandrohungen deutlich zurückgenommen. Allerdings sind Regelungen, die am Inhalt
einer Publikation anknüpfen, durchweg im Strafgesetzbuch enthalten.
Dazu zählt auch nach der Strafrechtsreform des Jahres 2005 noch immer Art. 301 TStGB, der
u. a. die Beleidigung des Türkentums, der Regierung, der Justizorgane, des Militärs und des
Polizeiapparats unter Strafe stellt. Zwar schließt Art. 301 ausdrücklich politische Kritik von
der Strafbarkeit aus, die Norm wurde aber dennoch wiederholt zur Sanktion unliebsamer Äußerungen von Menschenrechtsaktivisten und Journalisten genutzt. Wie das unabhängige
Kommunikationsnetzwerk BIA in seinem Jahresbericht 2006 darlegt, ist die Zahl der angeklagten Journalisten, Verleger und Menschenrechtsaktivisten seit 2005 dramatisch gestiegen.
Gem. Art. 301 TStGB angeklagt wurde etwa der (spätere) Nobelpreisträger Orhan Pamuk für
seine Behauptung, im Rahmen der Deportation der Armenier in den Jahren um 1916 seien in
der Türkei eine Million Armenier und 30 000 Kurden ermordet worden. Wegen einer missverständlichen, von mehreren Gutachtern aber als gesetzeskonform eingestuften Äußerung
zum Verhältnis von Türken und Armeniern wurde der später ermordete Herausgeber einer
armenischsprachigen Zeitschrift, Hrant Dink zu sechs Monaten Gefängnis auf Bewährung
verurteilt. Eine Vielzahl von Verlegern, Autoren und Übersetzern von Veröffentlichungen
wurden wegen Beleidigung des Türkentums, Verunglimpfung von Staatsorganen, Separatismus, Fundamentalismus und Volksverhetzung strafrechtlich verfolgt.
Auch wenn derartige Anklagen in vielen Fällen nicht zu einer Verurteilung führten bzw. erstinstanzliche Verurteilungen durch den Kassationshof aufgehoben worden sind, erzeugen sie
doch, wie auch die EU-Kommission in ihrem Fortschrittsbericht feststellt, ein Klima der Einschüchterung und der Selbstzensur. Zudem zeigt sich durch die überproportional hohe Zahl
der erfolgreichen Berufungen, dass die Vorschriften des TStGB, namentlich Art. 301, selbst
professionellen Anwendern, wie den Gerichten erster Instanz, erhebliche Anwendungsprobleme bereiten. Das indiziert einen Verstoß gegen den im Rechtsstaatsprinzip des Art. 2 TVerf
verankerten Bestimmtheitsgrundsatz, nach dem ein die Grundrechte beschränkendes Gesetz
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einen klar abgrenzbaren oder interpretierbaren Gehalt besitzen muss. Derzeit ist es für den
Bürger nicht voraussehbar, welches Verhalten strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen
könnte, vielmehr entsteht der Eindruck, dass Gerichte nach Gutdünken sanktionieren. Wegen
der Unsicherheit über die rechtlichen Grenzen der grundrechtlichen Betätigung und der teils
auch regional unterschiedlichen Gerichtspraxis bezeichnet die Menschenrechtsstiftung den
Bereich der Meinungs- und Pressefreiheit noch immer als „Minenfeld“.
Problematisch ist insoweit auch Art. 288 TStGB, Richter, Staatsanwälte, Zeugen und Sachverständige vor Einflussnahmen in einem laufenden Verfahren schützt. Die Vorschrift wurde
wiederholt dazu genutzt, kritische öffentliche Stellungnahmen zu einem Gerichtsverfahren als
Versuch der Beeinflussung der Gerichte zu unterbinden, selbst wenn es sich nur um öffentliche Unschuldsbekundungen des Angeklagten selbst handelte. Auch die Verbreitung einer
wertenden Stellungnahme zur Frage der Schuld eines Angeklagten in der Öffentlichkeit durch
die Medien zog strafrechtliche Ermittlungen nach sich. Dass sich ein Gericht durch eine öffentliche Unschuldsbekundung anders beeinflusst sehen kann als durch eine gleichartige Aussage im Rahmen des Verfahrens, scheint aber zweifelhaft. Die vorherrschende Auslegung, die
zur Verurteilung keine konkrete Gefahr einer Beeinflussung der Gerichte erfordert, ist deshalb
vor dem Hintergrund des Übermaßverbotes fragwürdig.
Entschärft wurde hingegen Art. 216 TStGB, die Regelung der Volksverhetzung. Gem. Art.
312 Abs. 2 TStGB a.F. hatte schon die Hervorhebung nationaler, regionaler oder religiöser
Gegensätze zur Strafbarkeit geführt. Nunmehr muss dadurch eine konkrete und unmittelbar
bevorstehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit geschaffen worden sein.
Einige der die Meinungs- und Pressefreiheit beschränkenden Straftatbestände weisen eine
Strafschärfung für den Fall auf, dass die Straftat „mittels Presse und Veröffentlichungen“
begangen wurde. Ein Beispiel hierfür bietet Art. 318 TStGB, der die Entfremdung vom
Militärdienst unter Strafe stellt. Aus Sicht des türkischen Gesetzgebers kann eine Gefahr
für die nationale Sicherheit gegeben sein, wenn öffentlich zur Militärdienstverweigerung
aufgefordert wird. Wurde die Tat mittels einer Publikation i.S.d. Art. 6 g StGB begangen,
erhöht sich die Strafdrohnung von sechs Monaten bis zu zwei Jahren Haft um die Hälfte.
Zwar werden die Haftstrafen regelmäßig in Geldstrafen umgewandelt, jedoch bleibt auch
diese Drohung vor allem für unabhängige Journalisten prohibitiv, deren Strafen nicht vom
Verleger übernommen werden.
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Weitere Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit finden sich im Anti-TerrorG,
welches zuletzt durch das Gesetz Nr. 5532 vom 18. Juli 2006 wesentlich reformiert worden ist. Art. 6 TATG stellt die Veröffentlichung von Erklärungen und Flugblätter von terroristischen Organisationen unter Strafe, genauso wie die öffentliche Enttarnung von Informanten, die mit dem Kampf gegen den Terror befasst sind. Art. 7 Abs. 2 TATG verbietet die Werbung für eine terroristische Organisation. Bei der bisherigen Anwendung des
TATG standen Eingriffsziel und Eingriffsmittel nicht immer in angemessener Relation.
Insbesondere werden die Begriffe „terroristische Organisation“ und „Werbung“ von den
Gerichten teilweise äußerst weit interpretiert. So wurde es nicht als erforderlich betrachtet, dass eine Organisation ihre Ziele mit Gewalt oder Waffen durchzusetzen beabsichtigt.
Auch wurden im Jahr 2007 mehrfach Zeitungen wegen der Propaganda für eine terroristische Organisation vorübergehend geschlossen, obwohl sich ihre Berichterstattung gerade
kritisch mit derartigen Organisationen befasste. Sanktionen können in solchen Fällen nur
darauf gerichtet sein, die Berichterstattung über Terrorfragen generell zu beschränken.
Eine solche Zielsetzung verstößt gegen das Übermaßverbot.
Ähnliches gilt für die Anwendung des neu geschaffenen Gesetzes Nr. 5651 zur Verantwortlichkeit für im Internet veröffentlichte Inhalte. Hier kam es zu Zugangssperren von Internetseiten, ohne dass deren Betreibern die Möglichkeit einer vorherigen Aussonderung der strafbaren Inhalte gegeben worden wäre. Auch wurde der Zugang generell, d.h. auch zu denjenigen Inhalten verwehrt, die Rechte Dritter nicht berührten. Eine die Grenzen der Erforderlichkeit wahrende Praxis hat sich insoweit noch nicht etabliert.
Faktisch problematisch ist schließlich die hohe Konzentration im Mediensystem, das im Wesentlichen durch zwei große Gesellschaften mit einem gemeinsamen Marktanteil von (nach
unterschiedlichen Schätzungen) mehr als 70 % getragen wird. Verstärkt wird dieses Problem
durch den Umstand, dass auch der Vertrieb durch diese Unternehmen monopolisiert ist. Die
Pressekonzentration ist umso bedenklicher als es keine Regelungen zur Gewährleistung eines
Minimums an „innerer Pressefreiheit“ gibt.
Einschränkungen der Rundfunkfreiheit
In der Türkei besteht - ähnlich wie in Deutschland - ein duales System öffentlich-rechtlicher
und privatwirtschaftlicher Rundfunkveranstalter. Die bei einem solchen System zu gewährleistende Unabhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks von der Politik ist allerdings
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nicht in vollem Umfang sichergestellt. Das gilt auch für den für die Überwachung des Rundfunkbetriebes zuständigen Rundfunkrat. Zwar gehören diesem seit dem Jahre 2001 keine Vertreter des Generalsekretariats des Nationalen Sicherheitsrates mehr an, alle Mitglieder werden
aber auf Vorschlag der Parlamentsfraktionen vom Parlament aus dem Kreis der Politik gewählt. Damit fehlt eine institutionelle Gewährleistung für Pluralität, mithin dafür, dass die
wesentlichen, auch nicht parteipolitisch gebundenen und im Parlament vertretenen Meinungen im Rundfunkbereich zur Gehör gebracht werden können. Angesichts der hohen 10%Hürde für den Zugang politischer Parteien zum Parlament erscheint dies besonders defizitär.
Bis zum Jahre 2002 war es nach türkischem Recht nicht erlaubt, Sendungen in anderen Sprachen oder Dialekten als dem Türkischen auszustrahlen. Im Rahmen der Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union wurden die betreffenden Regelungen mittlerweile reformiert und
Sendungen in Sprachen und Dialekten zugelassen, „die traditionell von türkischen Staatsbürgern in ihrem täglichen Alltag“ gesprochen werden. Seit Juni 2004 werden Programme in
kurdischer Sprache durch den öffentlich-rechtlichen Sender TRT ausgestrahlt. Zudem haben
drei kommerzielle TV- und Radiosender, Gün TV, Söz TV und der Radiosender Medya FM,
eine Genehmigung für die Ausstrahlungen von Sendungen in nicht-türkischen Sprachen erhalten Jedoch gelten erhebliche zeitliche Einschränkungen: Radiosendungen sind im Umfang
von fünf Stunden pro Woche und nicht mehr als 60 Minuten pro Tag, Fernsehsendungen im
Umfang von vier Stunden pro Woche und nicht mehr als 45 Minuten pro Tag erlaubt. Ferner
besteht die Verpflichtung, die Sendung mit türkischen Untertiteln zu versehen und die Sendung in türkischer Sprache zu wiederholen. Sendungen mit dem Ziel der Unterrichtung der
kurdischen Sprache sind noch immer verboten. Der Inhalt der nicht-türkischsprachigen Sendungen wird vom Rundfunk- und Fernsehrat besonders überwacht. Die Schärfe der Sanktion
für Verletzungen der rundfunkrechtlichen Vorgaben ist allerdings gemildert. Statt Abschaltung des Senders für einige Tage wird heute nach Verwarnungen zunächst eine Geldstrafe
verhängt. Dennoch wird die Rundfunkfreiheit für Sendungen in nichttürkischer Sprache noch
nicht uneingeschränkt gewährt.
Beeinträchtigungen der Versammlungsfreiheit
Art. 34 Abs. 1 TVerf garantiert jedermann das Recht, unbewaffnete und gewaltfreie Versammlungen und Demonstrationen ohne vorherige Erlaubnis zu organisieren. In der ursprünglichen Fassung der TVerf von 1982 unterlag das Grundrecht weitgehenden Schranken. Durch die Verfassungsreform von 2001 wurden diese teilweise aufgehoben, so etwa
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die Vorschrift, wonach die Vereine, Stiftungen, Gewerkschaften und öffentliche Berufsverbände außerhalb ihres Gründungszwecks keine Versammlungen oder Demonstrationen
organisieren durften.
Gem. Art. 9 Abs. 1 TVersG, bedarf es für die Ausübung der Versammlungsfreiheit der
Gründung eines mindestens sieben Personen umfassenden Organisationskomitees. Dieses
muss der zuständigen Behörde mindestens 48 Stunden vor der Versammlung den Ort, Zeit
und Dauer sowie den Zweck der Versammlung bzw. der Demonstration mitteilen. Spontandemonstrationen ohne Anmeldung sind gesetzlich nicht vorgesehen, können aber geduldet werden. Problematisch erscheint Art. 3 TVersVO, wonach die Versammlungsplätze
unter freiem Himmel sowie die Strecken für Demonstrationen vom Provinzgouverneur
oder Landrat bestimmt und der Öffentlichkeit bekannt gemacht werden und eine Versammlung außerhalb der bezeichneten Strecken generell unzulässig ist. Bedenken erweckt
vor allem die Handhabung des Bestimmungsrechts in einigen Provinzen. Zu heftigen Auseinandersetzungen kam es etwa im Jahre 2006 um die Nutzung des Istanbuler TaksimPlatzes, der vom Provinzgouverneur nicht für die Ausübung des Demonstrationsrechts
geöffnet worden war, obwohl er für die veranstaltenden Menschenrechtsorganisationen
aus historischen Gründen erkennbar hohe symbolische Bedeutung hatte. Als Instrument
der Verhinderung von Publizität wurde das Bestimmungsrecht in Urfa missbraucht, wo ein
außerhalb der Stadt zwischen hohen Friedhofsmauern verlaufender Weg als Demonstrationsstrecke benannt wurde.
Nicht eindeutig ist die Rechtslage derzeit für Presseerklärungen, die nicht unter das
TVersG fallen und deshalb auch außerhalb der für Versammlungen offenstehenden Gebiete durchgeführt werden dürfen. Während in Städten wie Istanbul, Izmir und Ankara Presseerklärungen unter freiem Himmel ohne Einschränkung der Teilnehmerzahl geduldet
werden, solange sie gewaltfrei und ohne Waffen stattfinden, werden in Konya nur Teilnehmerzahlen bis zu ca. 100-150 Personen erlaubt. Über eine Ergänzung des TVersG, die
eine eindeutige Regelung einführt, wird derzeit im Parlament entschieden.
Probleme verursachen auch Art. 12 b TVersVO i.V.m. Art. 13 b TVersG, wonach die Sicherheitsbehörden Versammlungen und Demonstrationen filmen oder photographieren
dürfen. Jedenfalls dann, wenn nicht die sofortige Vernichtung der Aufnahmen nach Ende
der Veranstaltung sichergestellt ist, wird damit die Bereitschaft zur Meinungsäußerung in
Gruppen erheblich reduziert. Die Regelung ist ein Beispiel dafür, dass eine an sich unbe-
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denkliche, zum Schutz friedlicher Teilnehmer u.U. sogar notwendige Vorkehrung ihren
grundrechtsförderlichen Zweck verliert, wenn es an einem grundsätzlichen Vertrauen der
Bürger in die Rechtsstaatlichkeit der Institutionen fehlt. Noch immer wird auch von übermäßiger Gewaltanwendung bei der Auflösung von Versammlungen und vom Missbrauch
der behördlichen Befugnis zum Schutz der Versammlung gegenüber Störungen berichtet.
Beeinträchtigungen der Vereinigungsfreiheit
Gemäß Art. 33 TVerf hat jedermann das Recht, ohne vorherige Erlaubnis einen Verein zu
gründen. Die Vereine erlangen mit der Abgabe der von ihren Gründern unterzeichneten
Vereinssatzung beim Vereinsamt Rechtspersönlichkeit. Die Gründungsmitteilung und die
abgegebenen Unterlagen sowie die Satzung müssen vom Generalvereinsamt innerhalb von
60 Tagen geprüft werden. Im Fall der Feststellung eines Fehlers oder einer Gesetzwidrigkeit wird von den Gründern eine Frist von 30 Tagen zur Abhilfe eingeräumt. Ggf. wird ein
Verbotsverfahren bei dem Amtsgericht beantragt. Vereine können nach Art. 89 TBGB nur
durch richterliche Entscheidung und nur in den im Gesetz vorgesehenen Fällen verboten
werden. Die zuständige Behörde darf allerdings die Betätigung eines Vereins vorläufig
unterbinden, wenn im Hinblick auf die nationale Sicherheit, die öffentliche Ordnung, die
Verhinderung von Straftaten oder ihre Fortsetzung oder eine Festnahme Gefahr im Verzuge ist. In diesem Fall ist die Entscheidung der Behörde innerhalb von 24 Stunden dem
zuständigen Richter vorzulegen.
Probleme bereitet das Vereinsrecht derzeit nur in politisch als besonders brisant erachteten
Fällen. So wurde bei Gründung von Vereinen der Homosexuellen, Lesben und Transsexuellen mehrfach ein Verbotsverfahren eingeleitet. Hierzu berief sich die zuständige Behörde
auf Art. 56 Abs. 2 des TBGB, wonach Vereine der Moral nicht widersprechen dürfen. Ein
solches Verfahren gegen die Vereinigung KAOS-GL war im Jahre 2005 in Ankara erfolglos. Ein gegen die Vereinigung LAMBDA in Istanbul im Jahre 2007 eingeleitetes Verbotsverfahren ist derzeit noch anhängig.
Beeinträchtigungen der Koalitionsfreiheit
Gemäß Art. 51 Abs. 1 TVerf können die Arbeiter und Arbeitgeber zur Verbesserung und
Wahrung der sozialen und finanziellen Interesse ihrer Mitglieder ohne Genehmigung Gewerkschaften und Arbeitsgeberverbände gründen. Die Verfassung erkennt auch das Streikrecht und das Recht auf Aussperrung an. Zur Gründung einer Gewerkschaft sind gem. Art.
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5 des Gesetzes Nr. 2821 nur türkische Staatsangehörigen berechtigt. Die Mitgliedschaft
einer Gewerkschaft setzt die Abgabe einer vom Notar bestätigten Antragserklärung voraus. Auch für die Austrittserklärung bedarf es der Mitwirkung eines Notars.
Problematische Regelungen betreffen insoweit vor allem den Ausschluss des Streikrechts
nicht nur für die Beamten, sondern für alle Angestellte im öffentlichen Dienst sowie auch
die privaten Bankangestellten. Ferner ist es bestimmten Berufsgruppen wie Richtern und
Staatsanwälten generell untersagt, überhaupt eine Gewerkschaft zu gründen. Prohibitiv
wirkt das Erfordernis einer notariellen Beurkundung der Eintritt- und Austrittserklärungen, für die jeweils Kosten von etwa 1/10 des monatlichen Netto-Mindestlohns aufzuwenden sind.
Probleme des Parteienrechts
Gemäß Art. 68 TVerf dürfen türkische Staatsbürger ohne vorherige Erlaubnis Parteien
gründen. Mit Abgabe der in Art. 8 Abs. 3 TPartG aufgezählten Unterlagen, zu denen u.a.
die persönlichen Daten der Parteigründer und das von den Gründern unterzeichnete Parteiprogramm gehört, erhalten Parteien Rechtspersönlichkeit. Richter und Staatsanwälte,
Angehörige der Organe der hohen Gerichtsbarkeit einschließlich des Rechnungshofs, Angehörige der Körperschaften und Einrichtungen des öffentlichen Rechts im Beamtenstatus
und die übrigen Angehörigen des öffentlichen Dienstes, welche ihrer ausgeübten Funktion
nach keine Arbeiter sind, Schüler in voruniversitären Einrichtungen sowie die Angehörigen der Streitkräfte dürfen politischen Parteien nicht beitreten. Der Beitritt zu Parteien
von Personen, die in der Hochschullehre tätig sind, wird durch Gesetz geregelt, das diesen
Personen die Übernahme von Parteiämtern außerhalb der Zentralorgane nicht erlauben
darf. Auch die Grundsätze, wonach Studenten Mitglieder in politischen Parteien werden
können, werden durch Gesetz bestimmt. Sämtliche Regelungen sind mit dem europarechtlichen Demokratieverständnis unvereinbar.
Gemäß Art. 68 Abs. 4 TVerf dürfen die Programme der Parteien der Unabhängigkeit des
Staates, der unteilbaren Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk, den Menschenrechten,
den Prinzipien der Gleichheit und des Rechtsstaats, der nationalen Souveränität und den
Prinzipien der demokratischen und laizistischen Republik nicht zuwiderlaufen. Die Parteien dürfen auch nicht die Diktatur einer Klasse oder Gruppe oder irgendeine andere Form
der Diktatur verteidigen oder als Ziel verfolgen. Wird ein Verstoß der Satzung und des
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Programms einer Partei gegen diese Bestimmungen festgestellt, kann das Verfassungsgericht auf Antrag des Generalstaatsanwalts ein Verbot der betreffenden Partei aussprechen.
In der 44-jährigen Geschichte des TVerfG hat es 24 Parteiverbote gegeben. Seit 1980
wurden insgesamt 35 Verfahren vor dem Verfassungsgericht geführt, von denen 18 mit der
Parteischließung endeten. Momentan sind beim TVerfG einschließlich des vor kurzem
erhobenen Auflösungsantrags gegen die DTP insgesamt 6 Parteiverbotsverfahren anhängig. Die relativ hohe Zahl der Verfahren belegt, dass die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für die Betätigung von politischen Parteien dem gesellschaftlichen Bedürfnis
nach politischem Engagement nicht mehr in vollem Umfange Rechnung tragen. Vielmehr
wird das Parteiverbotsverfahren als Instrument zur Durchsetzung tradierter Ordnungsvorstellungen der türkischen Politik missbraucht.
Demgegenüber kommt ein Verstoß gegen die Grundsätze der innerparteilichen Demokratie
nicht als Grund für ein Parteiverbot in Betracht. Zwar enthält Art. 93 des TPartG hierzu
eine dem Demokratieprinzip genügende Regelung, in der Praxis werden die Parteien jedoch zentralistisch geführt und etwa die Kandidaten für die Parlamentswahl überwiegend
von der Parteiführung alleine bestimmt. Art. 37 TPartG, der den Parteien die Wahl des
Modus ihrer Entscheidungsfindung überlässt, ist insoweit reformbedürftig.