Vortrag Hans-Joachim Plewig - Niedersächsisches Landesamt für

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Vortrag Hans-Joachim Plewig - Niedersächsisches Landesamt für
Hans-Joachim Plewig
Im Spannungsfeld zwischen Erziehung und Strafe:
Pädagogischer Umgang mit hochdelinquenten Minderjährigen
Vorbemerkung
Ende der 1990er Jahre wurde ein langjähriges Tabu gebrochen.
Verhalten von strafunmündigen Kindern, das gegen das
Strafgesetzbuch verstieß, wurde Kinderkriminalität genannt
(MÜLLER/PETER 1998). Die im Deutschen Jugendinstitut (dji) neu
gegründete ’Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalprävention’ veröffentlichte ihre erste Dokumentation (Der Mythos der Monsterkinds.
Strafunmündige “Mehrfach- und Intensivtäter“, 1999). Beides stellt
einen Reflex dar auf die Situation, daß Delinquenz von Kindern als
zunehmend bedrohlich eingeschätzt wurde. Mehr noch, es wuchs die
Überzeugung, daß Kinder und vor allem Jugendliche immer brutaler
würden. Deshalb sollten Konzepte im ’Kampf’ gegen diese
Bedrohungen zum Einsatz kommen. Dabei war das Grundmuster nicht
neu. In den 1970ern zum Beispiel versuchte die Polizei, mit
Sondereinheiten gegen so genannte Rocker vorzugehen. Seit den
1990ern folgten in einzelnen Bundesländern immer mehr Programme
gegen ’Mehrfach, Intensiv- oder Vielfachtäter’. Inzwischen haben sich
bundesweit die repressiven Maßnahmen intensiviert und zunehmend
vereinheitlicht. Zugleich gibt es – das zeigen vor allem auch
Tagungen – einen wachsenden Klärungsbedarf in der Praxis.
All dies wirft verschiedene Fragen auf. Werden wir von immer mehr
gefährlichen Kindern und Jugendlichen bedroht? Oder hat sich nur
unsere Wahrnehmung, unsere Toleranz verändert? Falls die Straffälligkeit von Minderjährigen zunimmt – was sind dann die
angemessenen Reaktionen? Im weiteren Verlauf wird nicht den
empirischen Grundlagen und deren Verwendung bzw. Instrumen-
talisierung nachgegangen. Der Beitrag unterstellt einen bestimmten
Handlungsbedarf mit der erkenntnisleitenden Fragestellung:
Welches Bezugswissen müssen Konzepte berücksichtigen, wenn sie
den ‚pädagogischen Umgang’ mit hochdelinquenten Kindern und
Jugendlichen realitätsbezogen begründen wollen?
Zur theoretischen Perspektive wird die These vertreten, daß nur in der
Zusammenschau von Erziehungswissenschaften, Sozialisationsforschung, Entwicklungspsychologie, Sozialmanagement, Kriminalsoziologie, ‚Sozialraum’, Recht und Gesellschaftstheorie der
komplexen Fragestellung angemessen Rechnung getragen wird.(s.
dazu Punkt .). Die Aufgabe ist komplex. Sie bedarf eines umfassenden Gedankengangs. Die genannten Ebenen werden in
unterschiedlicher Gewichtung erörtert.
1. Zur Präzisierung des Themas:
a) Bei Kindern handelt es sich um Strafunmündige. Für sie
scheidet das Strafrecht aus.
b) Bei Jugendlichen geht es darum, die
vorrangige Zuständigkeit der Jugendhilfe zu betonen und den
Einfluß strafrechtlichen Denkens zurückzuweisen.
c) ’Erziehung’ und ’Strafe’ sind keine Gegensätze
Insgesamt geht es mithin um Zuständigkeiten, Kompetenzen und
Abgrenzungen.
2. Diese lassen sich exemplarisch an einer Gegenüberstellung von
Devianzpädagogik und Kriminalpädagogik demonstrieren.
(PLEWIG 2005). Die Kriminalpädagogik geht von Vorgaben
aus. Strafrecht, Polizeiarbeit, Justizhandeln und Strafvollzug
werden als gegeben vorausgesetzt. Aufgabe ist es dann nur,
innerhalb deren Logik Antworten zu finden, zum Beispiel,
welche Sanktion ein Gericht gegen einen wiederholt straffälligen
gewalttätigen Jugendlichen verhängen soll. Zur Entscheidung
benötigt es Annahmen über den Zusammenhang von Tat und
Person. Ist dieser erhellt, sollen die vermuteten ’Mängel’ mittels
erzieherisch gestalteter Sanktion beseitigt werden (Defizit-These).
SACK hat dieser Denk- und Handlungslogik vorgeworfen, sie wür-
de sich der strafrechtlichen Praxis unterwerfen und sei theorielos
(1969. S. 205).
Dem Vorwurf versucht die Devianzpädagogik zu entgehen. Sie
greift die Tatsache auf, daß einem kleinen Hellfeld registrierter
Rechtsverstöße ein mehrfach größeres Dunkelfeld gegenübersteht. Deshalb stellt sie die Praxis der selektiven Kontrolle in den
Mittelpunkt. Dadurch wird die Mitverantwortung der Instanzen
sozialer Kontrolle (z.B. Schule, Jugendamt, Polizei, Gericht)
offenkundig. Außerdem berücksichtigt sie die Tatsache, daß
abweichendes Verhalten im Jugendalter normal ist (NormalitätsThese). Prävention und Intervention richten sich darum nicht mehr
bloß auf den isolierten ’Störer’; sondern verpflichten zugleich die
offiziell Verantwortlichen.
Kriminal- bzw. devianzpädagogische Herangehensweisen unterscheiden sich somit danach, unter welchen Vorzeichen, mit welchem Vorverständnis sie Lösungen suchen. Delinquentes Verhalten von Minderjährigen kann als bloßes Kontrollproblem abgetan
oder als Herausforderung im Rahmen gesellschaftlichen
Konsenses begriffen werden. Um eine eigene Position begründen
zu können, sind eine Reihe von Gesichtspunkten unter dem Leitgedanken der Professionalisierung zu berücksichtigen.
3. Erste Erkenntnisse
a) Prognostisch ist die ’Zielgruppe’ nicht präzise identifizierbar.
Es fehlen eindeutige Definitionen. ’Hochdelinquente Kinder’ sind ebenso ein Konstrukt wie ’Jugendliche Intensivtäter’. Das hochdelinquente
Kind ist das Kind, das von den Instanzen sozialer Kontrolle als
solches bezeichnet wird. Polizei und Staatsanwaltschaft versuchen, für
dies Thema die Deutungshoheit zu verteidigen. Die von subjektiven
Einschätzungen geprägte Praxis ist wesentlich davon abhängig, welche
Kapazitäten bei der Polizei zur Verfügung stehen.
b) Die Wirkungsforschung hält begrenzte Informationen bereit.
Immerhin lehrt der SHERMAN Report (1997, s. ZJJ 2/2003), dass empirisch nachweisbare Wirkungen in der Jugendhilfe bzw. im Jugendstrafrecht überhaupt nur dann belegbar sind, wenn Kriterien wie Kontinuität,
Vertrauen usw. erfüllt sind. Alle punktuellen Interventionen sind
lediglich Ausdruck von zusammenhanglosem Eingreifen, nicht selten
populistisch begründet und darum unter Sicherheitsgesichtspunkten
kontraproduktiv.
Eine realitätsbezogene Konzeption muß die politischen
Interessen analysieren, die in diesem Machtspiel maßmaßgeblich mit beteiligt sind (aktuelle Beispiele: geschlossene
Heim-Unterbringung in Hamburg; ’Schülergerichte’). In Politik,
Administration und Medien hat sich eine Mentalität herausgebildet, die Auffälligkeiten mit Ungeduld betrachtet. Es werden
Pseudo-Sicherheiten in objektiv unsicheren Zeiten gefordert:
schnell eingreifen, hart durchgreifen, Disziplin fordern, Personen isolieren und wegsperren. Die Verantwortung wird dem
Störer zugeschrieben.
Er kann Hilfe erhalten. Nutzt er sie nicht, hat er seine Chance
vertan. Dies Muster gilt heutzutage für die Sozialhilfe. Ähnlich
versteht sich neuerdings der Jugendstrafvollzug. Deshalb gibt es
dort das Modewort vom ’Chancenvollzug’.
Der 27. Deutsche JGT im September 2007 wird sich deshalb
unter dem Tagungsmotto ’Fördern – fordern – fallenlassen’
mit dieser populären Logik auseinandersetzen.
c) Eine begründete Vorgehensweise im Einzelfall, die progno-
stisch vertretbar wäre, bedarf einer differenzierten Hilfeplanung. Dazu gehört eine Diagnose. Deren Qualität ist derzeit
noch umstritten (vgl. u.a. DVJJ, Hg., 2006; BOCK 2006;
GRAEBSCH/BURKHARDT, 2006)
4. Prävention
Landläufig werden Präventionsformen nach Ziel und Zeitverlauf
klassifiziert. Die primäre Prävention verfolgt allgemeine Ziele
wie Jugendschutz, Gesundheits-Aufklärung und Normvermittlung.
Maßnahmen der sekundären Prävention richten sich an konkrete
Zielgruppen, zum Beispiel im Rahmen der Straßensozialarbeit,
der Mediation an Schulen usw.
Tertiäre Prävention betrifft diejenigen, die registriert und sanktioniert worden sind. Die Resozialisierung erwachsener Straftäter
bzw. die Erziehung Jugendlicher gehören ebenso dazu wie die
Disziplinierung von Jugendlichen in geschlossenen Heimen.
Tertiäre Prävention meint das Gleiche wie Intervention.
In aller Regel sind Präventionsmaßnahmen auf das Individuum
ausgerichtet. Das engt die Wirkung sehr ein. Strukturbezogene
Prävention ist schwieriger durchzusetzen und in ihren Wirkungen
kaum empirisch nachweisbar (grundlegend dazu HERRIGER
1986).
Über die Inhalte der Präventionsformen, insbesondere die ihnen
zugrunde liegenden Annahmen, ist damit noch nichts gesagt.
Im Hinblick auf hochdelinquente Kinder und Jugendliche wird
kaum von Vorbeugung gesprochen. Wenn dies ’Urteil’ fällt,
erscheint das entschiedene Vorgehen selbstverständlich. Dabei
kommt es zu diesem attestierten Status in der Regel erst durch
einen längeren Aufschaukelungs-Prozeß, der keineswegs unumkehrbar ist (QUENSEL 1970). Der Stigmatisierungsansatz lehrt,
wie entscheidend die Mitverantwortung der beteiligten Institutionen ist.
Die deutsche Schule als eine hochgradig auf Auslese angelegte
Einrichtung spielt dabei eine besondere Rolle (vgl. dazu aktuell
den UN-Menschenrechtsrats-Bericht zur sozialen Benachteiligung).
Der Umgang mit hochdelinquenten Minderjährigen – wie eben
dargelegt – zum klassischen Feld der Eingriffe. Thematisierungen
und Sprache belegen dies.
5. Intervention
Beispiele aus der Hamburger und Berliner Praxis sollen zeigen,
wie sich der aktuelle Trend der ’Bekämpfung von Jugendkriminalität’ darstellt.
a) Die Erfindung des Familien-Interventionsteam (FIT) wird in
Hamburg damit begründet, dass der ASD nicht energisch genug
vorgegangen sei. Die Eltern werden nun mit der klaren Alternative konfrontiert: Maßnahme des FIT akzeptieren oder Antrag
beim Familiengericht auf Entzug des Sorgerechts.
a) Die neu geschaffene geschlossene Heimunterbringung ist prinzipiell auf ein Jahr Vollstreckung angelegt. In dieser Zeit sollen
die Betroffenen diszipliniert werden, auch mit Hilfe von Psychopharmaka und Mitarbeitern eines Sicherheitsdienstes.
b) Die Hamburger Polizei und Staatsanwaltschaft verfolgen unter
anderem zwei Arbeitsprogramme: die Registrierung, Verfolgung und gezielte Sachbearbeitung von Mehrfachtätern (einige
hundert) und Intensivtätern. Letztere, etwa 40 bis 50, fallen in
das Projekt !STOPP!. Ihnen wird ausdrücklich der Kampf angesagt. Vorrangiges Ziel ist die schnelle Bearbeitung und Anklage.
c) Eine gewisse Berühmtheit hat inzwischen die Abteilung 47 der
Berliner Staatsanwaltschaft erlangt. Seit 2003 werden dort in
Zusammenarbeit mit der Polizei täterorientiert ’Intensivtäter’
verfolgt. Jugendämter, Ausländerbehörde, Jugendbewährungshilfe und Strafanstalten erhalten tagesaktuell per e-mail die
gültige Intensivtäter-Liste. Zentral ist die Erarbeitung eines
individuellen Lebenslaufs der Registrierten durch den zuständigen Staatsanwalt. Auch diesem Konzept liegt die Annahme
zugrunde, daß möglichst frühzeitiges intensives Eingreifen
(U-Haft und Jugendstrafe) die kriminelle Karriere
begrenze. In Berlin wird die Masse der Intensivtäter den
’Orientalen’ zugeordnet (REUSCH, 2007). Im Hinblick auf
die Rückfalldaten weisen demgegenüber türkischstämmige
Täter eine überdurchschnittlich hohe Quote auf. Der behauptete
Erfolg basiert nach Auffassung von REUSCH auf dem hohen
Personalaufwand und dem durch Inhaftierung erzeugten
Leidensdruck.
Die Frage, wie mit hochdelinquenten Minderjährigen fachlich umzugehen sei, scheint damit beantwortet: Empfohlen wird die schlichte
Verknüpfung von Selektion, Verfolgungsszenario und Freiheitsentzug. Doch daran bestehen erhebliche wissenschaftliche und
logische Zweifel. Darum muß der Ansatz der Intervention allgemein
näher betrachtet werden, unter welchen Voraussetzungen er überhaupt
in der Lage ist, differenzierte nachhaltige Ziele zu erreichen.
6. Intervention – näher betrachtet
Interventionen bei hochdelinquenten Minderjährigen beziehen
mindestens drei Bereiche mit ein: Erziehungswissenschaften,
Jugendhilfe und Jugendstrafrecht. Jeder von ihnen folgt einer
eigenständigen Denk- und Handlungslogik.
a) Die Allgemeine Pädagogik hat ein differenziertes Bild von
Erziehung entwickelt. Vornehmlich lässt sich Erziehung unterscheiden in Ziehen, Führung, Regierung und Zucht,
Wachsenlassen, Anpassung oder Lebenshelfen.
Welches Verständnis konkret praktiziert wird, hängt vom
Menschenbild (gilt das Kind als von Natur aus gut oder asozial ?)
und dem Bild von Gesellschaft (Anpassung versus Freiheit) ab.
Ausgangspunkt für die Bestimmung von Freiraum und Kontrolle
sind SCHLEIERMACHERs Erörterungen zum Gegenwirken.
Später hat LITT die Unterscheidung von führen oder wachsenlassen eingeführt (1965).
In den 1960ern endet die selbstverständliche pädagogische Diskussion um Eingriffe. Insbesondere Strafe (GEISSLER; REBLE;
WEBER) wird seither nicht mehr systematisch thematisiert.
Mit der Propagierung der antiautoritären Erziehung bzw. der
Antipädagogik begann das Zeitalter, in der Erziehung zunehmend
weniger mit Eingriffen verbunden wurde. Hintergrund dieser Entwicklung war die Annahme, dass z. B. die Erziehung zum
autoritären Charakter Voraussetzung für die Macht des Dritten
Reiches gewesen sei. Zugleich verstärkte das Selbstverständnis
unserer Verfassung den Ruf nach ‚Erziehung zur Demokratie’.
Dazu zählten dann Grundrechte für Minderjährige, Selbstverwaltung von Jugendzentren, Mitsprache, wenn nicht gar Mitentscheidung in Schulen.
Mit einer Verzögerung von rund zwanzig Jahren schlugen sich
Teile dieser Gedanken in der Neukonzeption der Jugendhilfe
nieder.
b) Konzept der Jugendhilfe
Das Jugendwohlfahrtsgesetz von 1922 bis 1990 war polizei-und
ordnungsrechtlich gestaltet. Es baute auf der Macht des Staates auf,
der seine Kontrollaufgaben insbesondere mit der gefürchteten
Fürsorgeerziehung durchzusetzen versuchte. In großer Zahl wurden
Jungen und Mädchen entsprechend den herrschenden Normen und
Moralvorstellungen diszipliniert. Eingreifen und durchgreifen war
eine selbstverständliche Philosophie – bis die Studentenbewegung
sich gegen derartige Machtpraktiken wandte.
1990 ist – als stark abgemilderte Spätwirkung jener Kämpfe –ein
Kinder- und Jugendhilfegesetz in Kraft getreten, das vermutlich
weltweit relativ einmalig in seiner Liberalität und staatlichen
Selbstverpflichtung ist. Denn es versteht sich als angebots- und
leistungsorientiert. Die Inanspruchnahme erfolgt auf freiwilliger
Basis. Die Erziehungsberechtigten können Hilfen zur Erziehung
beantragen. Sie können ihnen aber nicht abverlangt werden.
Das Freiwilligkeitsprinzip wird begrenzt durch das staatliche
Wächteramt (Art. 6 GG). Der Staat hat über das Kindeswohl zu
wachen. Dies kommt in den so genannten Anderen Aufgaben im
KJHG (§§ 42 ff.) zum Ausdruck.
Im Art. 6 GG liegt der Grund für Sozialarbeit, Sozialpädagogik
und Jugendhilfe. In Ergänzung und Erweiterung der Erziehung im
Elternhaus und der kontrollierten Bildung in der Schule soll die
Jugendhilfe gegebenenfalls eine Lücke in der Sozialisation
schließen. Leitformel dafür ist das Kindeswohl (§ 1666 BGB).
Diese Aufgabe wird je nach Gesellschafts- und Menschenbild
unterschiedlich interpretiert.
Derzeit stellt sich der Staat relativ zurückhaltend dar. Das gilt für
die Familienerziehung, die Jugendhilfe, das Jugendstrafrecht,
ebenso wie etwa für das Betreuungsrecht. Die Eingriffsschwellen
sind überall hoch. Das Subsidiaritätsprinzip kommt aktuell
besonders ausgeprägt zum Ausdruck. Dies ist eine fachliche
Tatsache, die zunehmend in Widerspruch gerät zu populistischen
Forderungen nach schnellem, konsequenten Eingreifen und medial
skandalisier-ten Einzelfällen.
Im Ergebnis besitzt das KJHG weitgehend vorbeugenden und
angebotsorientierten Charakter. Eingriffe sind äußerst begrenzt
geregelt. Dem Jugendamt stehen lediglich zwei Instrumente zur
Verfügung: die kurzfristige Inobhutnahme gemäß § 42 KJHG oder
der Antrag auf Freiheitsentziehung gemäß § 1631b BGB.
Nur auf diesem Wege ist die Unterbringung Minderjähriger in
einem geschlossenen Heim rechtlich möglich. Darüber entscheidet
das Familiengericht. Streng genommen müsste es anschließend in
kurzen Fristen überprüfen, ob der Anlaß für die besondere
Gefährdung noch vorliegt.
Aus alledem ergibt sich, dass die Jugendhilfe mit all ihr zur
Verfügung stehenden Kompetenz gezwungen ist, mit delinquenten
Kindern auf der Basis von Angebot und Überzeugung zu arbeiten.
Das Hamburger Kombinat von ASD und FIT stellt dagegen eine
Variante von ’Und bist Du nicht willig, so brauche ich Gewalt’ dar.
Aus rechtsstaatlichen Gründen bleibt aber alles Einsperren zeitlich
begrenzt. Die Aufgabe wird auf diese Weise in der Regel nicht
nachhaltig bewältigt.
Das Strafrecht kann mit der Jugendhilfe formal erst konkurrieren,
wenn die Strafmündigkeit erreicht ist. Sie liegt in Deutschland bei
14 Jahren. Das Jugendstrafrecht verfügt über ein umfangreicheres
Eingriffsarsenal als die Jugendhilfe.
c) Das Jugendstrafrecht
Das Jugendstrafrecht ist Strafrecht und keine Variante der
Sozialarbeit. Anlaß für Maßnahmen sind begangene Straftaten. § 5
JGG enthält den Sanktionskatalog:
Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel, Jugendstrafe. Sie stehen gleichfalls im Verhältnis der Nachrangigkeit zueinander. Erziehungsmaßregeln (in der Regel Weisungen wie Betreuung, Sozialer Trainingskurs) sind ambulante Sanktionen. Die Zuchtmittel bestehen im
wesentlichen aus dem Arrest. Diese stationäre Maßnahme dauert
höchstens vier Wochen. Die Jugendstrafe wiederum beträgt mindestens sechs Monate. Sie kann von vornherein zur Bewährung
ausgesetzt werden. Das Gericht kann ferner die Vollsteckung nach
einiger Zeit zur Bewährung aussetzen.
Schließlich spielt im Vorfeld der Hauptverhandlung die Untersuchungshaft eine hier bedeutsame Rolle. Wenn Haftgründe beim
Jugendlichen bejaht werden, bietet das Gesetz an, zur Abwendung
der U-Haft eine alternative Unterbringung in einem Heim der
Jugendhilfe anzuordnen. Das muß nicht geschlossen sein. Für 14und 15-jährige empfiehlt es, U-Haft so weit wie möglich zu
vermeiden (§§ 72, 71 JGG).
Zusammengefaßt verfügt das deutsche Jugendrecht nur über
eingeschränkte Interventionsmöglichkeiten, zumal die des
Einsperrens. Der Gesetzgeber trägt damit der Überzeugung
Rechnung, dass sich die Kinder und Jugendlichen in dieser
Lebensphase in einer schutzwürdigen Entwicklung befinden.
Die Verantwortung des Staates konzentriert sich nicht auf hoheitliche Eingriffe. Vielmehr regt insbesondere das KJHG dazu
an, fachlich kompetent und in schwierigen Fällen kreativ auf
der Basis des Vertrauens und der Überzeugung mit den gefährdeten und gefährlichen Minderjährigen umzugehen.
Dies ist der Auftrag. Kein Populismus kann ihn ignorieren.
Keine öffentliche Meinung darf die fachlich Verantwortlichen
daran hintern, verfassungsgemäß und professionell zu arbeiten.
Das, was unter Professionalität im Umgang mit hochdelinquenten Kindern zu verstehen ist, wird im folgenden erörtert.
7. Professionelle Intervention
Die Begriffe Professionalisierung und Dienstleistung sind in der
Sozialen Arbeit seit längerem in Mode (DEWE/OTTO 2001).
In dieser Debatte werden die Repräsentanten der Sozialarbeit als
’Vermittlungsinstanz’ zwischen den Anforderungen der Gesellschaft
(sozial, kulturell) und den individuellen Sichtweisen der Klienten
gesehen. Als wissenschaftlich Qualifizierte sollen sie rational handeln,
d.h. subjektiv kontrolliert, demokratisch und im Wissen um
Ungewissheit. Nicht autoritäre Maßnahmen, sondern Aushandlungen
bestimmen das Wirken. Eine solche Professionalität muß sich
fortwährend überprüfen.
“Professionalität wird verstanden als Voraussetzung für das
Hervorbringen einer besonderen Handlungsstruktur, die es
ermöglicht, in der Alltagspraxis auftretende Handlungsprobleme aus der Distanz stellvertretend für den alltagspraktisch
Handelnden wissenschaftlich reflektiert zu deuten und zu
bearbeiten“ (DEWE/OTTO, S. 1419).
Auf Deutsch:
Die Qualität des professionellen Handelns liegt darin, dass der
Sozialpädagoge die verschiedenen Gesichtspunkte erfasst und
anwendet, unter denen die konfliktreiche Situation von Kindern und
Jugendlichen in besonders belasteten Lebenslagen gedeutet und
bearbeitet werden muß. Pädagogisches Handeln bleibt allerdings stets
von zweierlei Ungewissheit geprägt: der des erforderlichen Wissens
und der der nicht absehbaren Wirkung.
Professionalität umfasst ferner das Bewusstsein dafür, daß pädagogische Beziehungen asymmetrisch sind. Deshalb passt das Bild vom
Kampf um Anerkennung (Sichtweisen) durch die ’Adressaten’.
Die Anerkennung betrifft oftmals den Wunsch, mit dem eigenen
(konflikthaften) Verhalten dennoch als normal anerkannt zu werden
und integriert zu bleiben.
Hier ergibt sich eine Parallele zur Unterscheidung von Kriminal- und
Devianzpädagogik: Eine ’passive’ (Kriminal-) Pädagogik wirkt
innerhalb der Widersprüche, eine offensive setzt sich mit ihnen
auseinander. Zentraler Widerspruch ist die Lohnabhängigkeit der
Arbeitnehmer. Zugleich droht nicht hinreichend Qualifizierten
dauerhafte Arbeitslosigkeit. Ein weiterer Widerspruch besteht
zwischen den abstrakten Möglichkeiten in einem wohlhabenden Staat
und dem tatsächlich Erreichbaren. Hier ist immer wieder auf das
selektive Bildungssystem als zentralem Steuerungsinstrument
hinzuweisen.
Professionalisierung im Interventionsbereich meint zweierlei:
Einerseits verlangt sie nach differenziertem devianzpädagogischen
Wissen; andererseits muß bewußt sein, daß Professionalität im
Rahmen von Disziplinierungen an Grenzen stößt ( STOPPEL,
Pädagogik und Zwang, 2006; ROTH 2004).
Das ist leicht formuliert. Im richtigen Leben sind wir von diesen
Ansprüchen weit entfernt. Zunächst besteht zwischen Praxis und
Theorie eine anhaltende Kluft. Die Praxis kommt ohne theoriegeleitete Basis – scheinbar – gut zurecht. Zudem fehlt es – wie eingangs
festgestellt – an der notwendigen Wirkungsforschung. Schließlich
stehen Theorie und Forschung vor dem fundamentalen Problem, wie
gewollte Einwirkungen auf den Menschen erreicht, nachhaltig
stabilisiert und empirisch nachgewiesen werden können.
Die Auswirkungen des Sozialmanagements (s. auch MAELICKE,
Devianzmanagement, 2006) führen möglicherweise zu einer
Teillösung dieser Herausforderung. Im Rahmen der Diskussion um
Dienstleistungen in der Sozialwirtschaft hat die Diagnose an
Bedeutung gewonnen. Mehr oder weniger alle Fachleistungen stehen
inzwischen auf dem finanziellen Prüfstand. Das hat die Bereitschaft
zur Überprüfung erzwungen. Evaluation birgt die Chance in sich, das
berufliche Handeln transparent zu machen. Das sichert die
Grundrechte der Betroffenen. Das eröffnet die Möglichkeit,
Begründungen der Maßnahmen und deren Auswirkungen regelmäßig
zu überprüfen (KROMREY 2003 mwN.).
Diagnostik ist als Bestandteil der Aufgabe, wirksame Methoden
zur Reaktion auf Problemlagen einzusetzen, unerlässlich.
Die Sozialarbeit ist lange Zeit nicht in der Lage gewesen, zum
Beispiel der Psychologie folgend, eigenständige Bestandsaufnahmen
zu entwickeln. Erst MOLLENHAUER/UHLENDORFF (1992) haben
den Versuch unternommen, sozialpädagogische Diagnosen
theoretisch zu entwickeln und praktisch – im Rahmen ambulanter
Maßnahmen nach dem JGG – zu erproben. DieserAnsatz konkurriert
mit der sozialen Diagnostik (DVJJ 2006). Im Wettstreit geht es um
die Frage, welche Daten erhoben werden müssen, um menschliches
Verhalten zu erfassen und Wege zu finden, es überprüfbar in
gewünschter Weise zu beeinflussen.
Die Bewertung dessen, welche Form der Diagnose geeignet ist, soll an
dieser Stelle dahingestellt bleiben. Die Entscheidung darüber ist erst
möglich, wenn geklärt ist, welche Inhalte zu überprüfen sind. Das
Thema erfordert offenkundig einen interdisziplinären Zugang.
Tatsache ist, dass die dafür erforderlichen Grundlagen weder in der
Theorie noch in der Praxis hinreichend berücksichtigt werden. Wenn
also der ’Umgang mit hochdelinquenten Minderjährigen’ geklärt
werden soll, ist eine umfassende zunächst gedankliche Anstrengung
erforderlich.
8. Bezugswissen
Nur in der Zusammenschau von Erziehungswissenschaften,
Sozialisationsforschung, Entwicklungspsychologie, Sozialmanagement, Kriminalsoziologie, Sozialraum-Perspektive, Recht und
Gesellschaftstheorie kann angemessen darüber befunden werden,
welcher Umgang mit hochdelinquenten Kindern für eine angemessene
Integration sorgt (These).
Im Bild des ’pädagogischen Umgangs’ bündelt sich das dafür
erforderliche Bezugswissen. In einem skizzenhaften Durchgang soll es
im folgenden erörtert werden.
Worum es geht, steht im § 1 KJHG: „Jeder junge Mensch hat
ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung
zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“. Die Devianzpädagogik hat in besonderer Weise
eine Antwort auf diese doppelte Aufgabe zu finden. Zunächst
ist es Aufgabe der Erziehung, den jungen Menschen im Geiste
unserer Verfassung und unseres Familienrechts individuell zu
Mündigkeit zu befähigen. Auf Grund des abweichenden Verhaltens treten jedoch die Interessen der Öffentlich stark in den
Vordergrund. Die selbständige Lebensführung bzw. Persönlichkeitsentwicklung und die soziale Integration sind die zwei
Seiten dessen, was Sozialisation bewirken soll.
Sozialisationstheorie, Sozialisationsforschung und Entwicklungspsychologie sind maßgebliche Bausteine des Bezugswissens, die in der Fachdiskussion in Jugendhilfe und
Jugendstrafrecht bedenklich vernachlässigt werden.
Schon seit den 1960ern wird Sozialisation nicht mehr
als einseitige Anpassung des Individuums an die Gesellschaft
verstanden. Vielmehr gilt das Subjekt als aktiver Mitgestalter.
Dies entspricht einer demokratischen Verfassung und Gesetzen
wie dem Familienrecht und KJHG. Dies entspricht vor allem
auch den gesellschaftlichen Realitäten. Diese lassen sich nach
Lebenslagen (AWO 1993)systematisieren. Da sich traditionelle
Strukturen teilweise auflösen – verwiesen sei hier vorrangig auf
die Familie -, werden dem Individuum, zumal Kindern, zunehmend Lasten aufgebürdet. In dieser Hinsicht sind die
Zumutungen der Freisetzung von besonderer Bedeutung (AWO
1993). In modernen Gesellschaften wie Deutschland erhalten die
sekundären Sozialisationsinstanzen (Schule, Gleichaltrige
usw.) umso mehr Bedeutung, je weniger die primäre, die
Familie, dieser Aufgabe gerecht wird. Daraus erwächst die
Notwendigkeit eines Sozialisationsfeldes, das Sozialarbeit,
Sozialpädagogik, Jugendhilfe und Devianzpädagogik umfasst.
Um die realen Verhältnisse treffender zu erfassen, spricht die
moderne Soziologie von Kräftefeldern (BOURDIEU). Dies
unterstreicht, daß es sich um Auseinandersetzungen in den
jeweiligen Bereichen geht, um Macht und Interessen.
Sozialisationsforschung hat seither – in der Hinwendung zum
Subjekt - danach gefragt, wie moralische Normen verarbeitet
werden, wie Identität und die Fähigkeit, Perspektiven differenziert zu sehen, entstehen. Diese Betonung des Subjektiven war
die dialektisch zu verstehende Antwort auf die hochpolitisierte
Phase um 1970 (Emanzipation; Kapitalismuskritik; radikale
Sozialarbeit usw.). Beide Perspektiven reichen für sich nicht
aus. Denn Sozialisation erfolgt im Wechselbezug. Entscheidend
ist nun, welche Wirkung die soziale Praxis (GRUNDMANN
2006) entfaltet. Dies bedeutet mehr und anderes als die vielfach
beschworene ’Lebensweltorientierung’ (8. Jugendbericht 1990),
auch als das Konzept der Sozialraumorientierung. Denn die
Berücksichtigung und Beeinflussung der ’sozialen Praxis’ bedeutet, die Interaktionen im jeweiligen Kräftefeld (z.B. Programme zur ’Bekämpfung der Jugendkriminalität’) auf ihre
Inhalte, Begründungen, Interessen und Auswirkungen hin zu
untersuchen.
Für den Blick auf delinquente Minderjährige ist somit wesentlich, die intersubjektiven Handlungsstrukturen, die gemeinsamen
(systemischen) Lernprozesse zu erfassen. Da Delinquenz zugeschrieben wird, spielen Selektionsprozesse mindestens eine
zweifache Rolle: über den Status (Schicht o.ä.) und die strafrechtliche Kontrolle. Dies gilt identisch für die Selektion im
Bildungswesen. Soziale Selektionsprozesse werden wirksam
durch die Zuschreibung, was das Kind leisten kann, welchen
sozialen und kulturellen Status es bekommt.
Entwicklung, Sozialisation und Selektion stehen also in einem
untrennbaren Zusammenhang.
Im Hinblick auf (hoch-) delinquente Minderjährige ist nun zu
klären, wie die erwartete Gemeinschaftsfähigkeit sozialisatorisch
gesichert werden kann. Dies führt dicht an die Frage heran, wie
Jugendhilfe und Jugendstrafrecht wirksame Maßnahmen ergreifen können. Sozialisation, verstanden als wechselseitige Praxis,
verlangt, dass nicht nur den jungen Menschen etwas abzuverlangen ist; zumindest in gleichem Maße kommt es darauf an, dass
die verantwortlichen Erwachsenen spezifische Qualitätsmerkmale erfüllen.
Das heißt, die Beteiligten, die Institutionen (Strukturen) und die
sozialisatorische Praxis unterliegen zusammen spezifischen
Anforderungen
Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass sich junge Menschen in
einer Entwicklung befinden. Sie sammeln Handlungswissen und
entwickeln ihre Persönlichkeit in Wechselwirkung mit ihrem
sozialen Umfeld. Zu den wesentlichen Entwicklungsaufgaben für
Kinder zählt z. B., daß sie lernen, sich ab etwa dem achten
Lebensjahr von den Eltern abzugrenzen. Die sozialen Beziehungen werden zunehmend von ihnen selbst gestaltet. Personale
Entwicklung und soziale Integration sind vielfachen Störungen
ausgesetzt.
Schon in der Familie kann es an Stabilität, Kontinuität und Vertrauen fehlen. Auch außerhalb dieses – vermeintlichen – Schonraumes spielen Konflikte, Hierarchien und Machtkämpfe eine
Rolle. Wir sprechen von belastetem Aufwachsen. Die Vergesellschaftung bleibt instabil.
Bei näherem Betrachten lassen sich verschiedene Perspektiven
unterscheiden, die über dies Aufwachsens Auskunft geben.
Wichtige Hinweise liefern uns die Soziobiologie (VOLAND)
Hirnforschung. ROTH nennt folgende Faktoren, die
beim Lehren und Lernen eine wichtige Rolle spielen:
- Motiviertheit und Glaubhaftigkeit der Lehrenden,
- individuelle kognitive und emotionale Lernvoraussetzungen
der Jugendlichen (Schüler),
- allgemeine Motiviertheit und Lernbereitschaft der Schüler,
- spezielle Motiviertheit der Schüler für einen bestimmten
Stoff, Vorwissen und aktueller emotionaler Zustand,
- spezifischer Lehr- und Lernkontext (2004, S. 500 ff.).
HÜTHER ergänzt diese Grundlagen: Lernlust wird durch
Vertrauen gestärkt und durch Verunsicherung bzw. Druck
zerstört (2004, S. 491 ff.). Hirnforschung versucht mithin,
Rahmenbedingungen einer “hirngerechte Pädagogik“ (ROTH, S.
518) zu skizzieren.
Dem Gesetzgeber sind diese Erkenntnisse nicht ganz fremd. So
regelt das JGG in § 3:
„Ein Jugendlicher ist strafrechtlich verantwortlich,
wenn er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug ist, das Unrecht der Tat einzusehen und nach
dieser Einsicht zu handeln.“ (§ 3). Die Erkenntnisfähigkeit baut
auf biologisch fundierten Prozessen auf. PIAGET und später
KOHLBERG haben ein Konzept entwickelt, mit Hilfe dessen
wir Stufen des moralischen Lernens unterscheiden können.
Aktuell gelten die sozialkognitive Entwicklungstheorie von
SELMAN und die sozialkognitive Lerntheorie von BANDURA
als Bausteine, um Erkenntnisfähigkeit und Handlungskompetenzen zu erforschen und fördern (einen zusammenhängenden
Überblick gibt das Lehrbuch von OERTER/MONTADA, 2002,
z.B. Kapitel 16 ’Motivation, Emotion und Handlungsregulation;
Kapitel 17 V’Soziale Kognition’; Kapitel 18 ’Moralische
Entwicklung und moralische Sozialisation’)
Zur Entwicklung soziomoralischer Handlungsorientierungen
bedarf es früher erfolgreicher Bindungserfahrungen. Wir müssen
davon ausgehen, dass bei hochdelinquenten Minderjährigen diese
nicht oder nur eingeschränkt vorliegen. Dadurch ist die erforderliche produktive soziale Praxis gefährdet. In den typischen
konfliktreichen Auseinandersetzungen beim Aufwachsen fehlt
die Basis.
Damit tritt das gefährdete Kind geschwächt in die Öffentlichkeit.
Spätestens in der Schule, vielleicht schon im Kindergarten, muß
es formale Sozialbeziehungen bestehen. Schule, Jugendamt und
Justiz erreichen nur dann ihre für die Sozialisation bedeutsamen
Funktionen, wenn sie den Kindern die Möglichkeit geben, ihren
Sichtweisen legale Anerkennung zu verschaffen. Die Herausforderung für ’die schule der Zukunft’ besteht darin, kognitives,
soziales und emotionales Lernen im Unterricht und in außerunterrichtlichen Angeboten zu verbinden
(OERTER/MONTADA, Kapitel 23). Es liegt auf der
Hand, dass gefährdete, d.h. verunsicherte Kinder dazu neigen,
sich ’unsozial’ zu verhalten. Diese Differenzen sind eine
Tatsache. Schule will noch zu oft davon nichts wissen, weil sie
in vorgegebener Zeit Leistungsziele erreichen muß, um ihren
Ruf (Wettbewerb in der Region) fürchtet und ihr die devianzpädagogischen Kompetenzen fehlen. Differenzen aushandeln
und gemeinsame Werthandlungen entwickeln, ist eine
sozialpädagogische Aufgabe. Dafür sind Lehrer/innen in der
Regel nicht qualifiziert.
Fehlende Unterstützung im Elternhaus und die Gefahr, an den
hochselektiven Anforderungen der Schule zu scheitern, schwächen die individuellen Handlungspotentiale weiter. Den
Gefährdeten fehlt die erforderliche dichte, relativ dauerhafte
vertrauensvolle Beziehung (SHERMAN-Report). Die Ergebnisse dieser sekundär-analytischen Untersuchung werden unter
anderem von RAITHEL bestätigt. Er hat 2003 Erziehungserfahrungen und Lebensstile Jugendlicher untersucht. Im Hinblick
auf die Vorbeugung von Risikoverhalten und Delinquenz ergab
sich, daß eine präventive Erziehung “durch einen hohen emotionalen Rückhalt, Unterstützung und Empathie charakterisiert“
sei (2005, S. 580).
Ob die Jugendhilfe erfolgreich dieses Bedrohungspotential abbauen kann, hängt nicht nur von den Ressourcen ab.
Allein die Jugendhilfe wäre in der Lage, die Gesamtsituation
zu überschauen und professionellen Einfluß auf Sozialisations-
prozesse zu nehmen. “Die Entwicklungspotentiale von
Sozialisationspraxen hängen davon ab, wie die Akteure
füreinander sorgen und sich wechselseitig wahrnehmen, ob
die Beziehung Geborgenheit und Zuwendung vermittelt,
Sicherheit im Umgang miteinander bietet und einen verläßlichen Orientierungsrahmen für das Handeln der Akteure
bietet (GRUNDMANN 2006, 165; umfassende Informationen
finden sich in OERTER/MONTADA 2002).).
Die Jugendhilfe trifft bei den hochdelinquenten Minderjährigen
auf eine Gruppe, deren Handlungsbefähigung durch ihre Lebenswelt in problematischer Weise geprägt ist. Denn wesentliche
Bindungskraft besitzt die Einschätzung des eigenen Handelns
vor allem durch nahe stehende Bezugspersonen. Aus der Praxis
ist bekannt, daß in derartigen Konfliktfällen die Eltern oft keine
Hilfe sind. Sie können die notwendige stabilisierende Orientierung nicht bieten. Sie stellen nicht das erforderliche Vorbild
dar. Oftmals haben sie resigniert und bitten die Ordnungsmacht
um Übernahme der Verantwortung. Zugleich verschärft sich die
Situation der betroffenen Kinder als Außenseiter. Ihr sozial
positiver Handlungsspielraum wird eingeschränkter. Der Ausweg
wird häufig in der Solidarität mit anderen Gefährdeten und Stigmatisierten gesucht. Diese Spirale, diesen Aufschaukelungsprozeß zu durchbrechen, ist Aufgabe der Jugendhilfe
Zunächst einmal muß in solchen Fällen ein bestimmter
Sozialisationsprozeß nachgeholt werden.
Dies setzt voraus, dass nunmehr endlich Kontinuität, Stabilität
und Vertrauen geschaffen werden. Es bedarf dessen, was in der
Pädagogik der personale Bezug genannt wird. Dafür ist eine
Interventionsberechtigung unerlässlich (KRAUSSLACH
1981). Dies wird in der Praxis weitgehend übersehen. Interventionsberechtigung zählt zu den zentralen Merkmalen professioneller Handlungsbefähigung.
Daraus folgt ferner, dass alle punktuellen Interventionen
logisch unproduktiv sind (SHERMAN-Report). Sie können keine
innere Stabilität in den Adressatenerzeugen, weil sie zusammen-
hanglos agieren.
Damit ist das Problem von Freiwilligkeit und Zwang im pädagogischen bzw. therapeutischen Zusammenhang noch nicht geklärt. Die These, daß Erziehung oder Behandlung unter Zwang
nicht gelinge, lässt sich empirisch nicht belegen. Das ergeben
Erkenntnisse aus der (Kinder- und Jugend-) Psychiatrie ebenso
wie in der Drogentherapie. Allerdings fehlen uns Untersuchungsergebnisse, unter welchen Bedingungen geschlossene Heimunterbringung nachhaltige günstige Einflüsse auf die Persönlichkeitsentwicklung und Sozialisation haben. Weitgehend liegt die
Praxis im Dunkeln. Es gibt weder fundierten Aufschluß über die
pädagogischen Prozesse noch über die richterliche Kontrolle.
Schlimmes ist zu befürchten, d.h. es ist von fachlichen Defiziten
und verfassungsrechtlichen Verstößen auszugehen.
Alle stationären Eingriffe münden in die zentrale Frage: Einsperren – und was dann? Ein Konzept ist erst dann integrativ, wenn
es vor allem die Nachsorge, besser: den weiterführenden pädagogischen Umgang einbezieht.
Zusammenfassend ist im Hinblick auf die individuelle Ebene,
Diagnostik und Hilfeplan festzustellen:
Die Pädagogik muß Konzepte des Gegenwirkens entwickeln.
Die hochdelinquenten Minderjährigen stellen keine homogene Gruppe dar. Vielmehr ist sorgfältig zu ermitteln, in welcher
Entwicklungsphase sich das betroffene Kind befindet. Welche
Hinweise liefert die Entwicklungspsychologie über die Stufe
sozialen und moralischen Lernens? Daraus ergeben sich Schlußfolgerungen darüber, welche systemischen Lernprozesse unter
welchen Bedingungen möglich sind und abverlangt werden
können. Hirnforschung (s.o., HÜTHER; ROTH) und Soziobiologie (VOLAND) bzw. –psychologie bieten inzwischen
Erkenntnisse über die biologischen Grundlagen an, die fachlich
nicht länger ignoriert werden dürfen.
Achtjährigen, zwölfjährigen oder sechzehnjährigen jungen
Menschen sind deutlich unterschiedliche Aufgaben zu stellen
und Hilfen anzubieten (vgl. auch § 3 JGG). Lernprozesse werden
bei praktisch allen Maßnahmen der Jugendhilfe und des Jugendstrafrechts unterstellt. Bemerkenswerterweise unterlässt man es
aber, diese jeweils präzise zu begründen. Welcher Eingriff führt
in welchem Alter (Entwicklung) unter welchen Bedingungen
zum wahrscheinlichen Erfolg? Auf solcher Basis wären Forschungen unergiebig.
Zu beachten ist, daß gerade für Kinder, aber auch für viele Jugendliche die Institutionen, die Strukturen, die selektiv angewendeten Regeln und – vor allem – die Sprache schwer verständlich sind. Die verlangten Lernprozesse scheitern bereits
an solchen undurchschaubaren Hürden.
Noch mehr: Wie lassen sich Störungen in den Bindungserfahrungen so überwinden, daß konstruktive, dauerhafte und vertrauensvolle Beziehungen möglich werden. Es ist allgemein
bekannt, wie tief das Gefühl des Misstrauens bei hochdelinquenten Kindern ist (s. dazu psychoanalytische Konzepte).
Es ist also kontraproduktiv, wenn Gesellschaft und Staat
gegenüber diesen Störern auftrumpfen. Pädagogisches
Gegenwirken ist eng verbunden mit dem Fördern von
Entwicklung und Sozialisation. Die Verantwortung der
zuständigen Institutionen verlangt es, professionell fundierte
Angebote zu machen.
Neben dem individuumbezogenen Bausteinen Diagnose und
Hilfeplan ist ein weiteres Element unerlässlich: die Schaffung
geeigneter Strukturen.
9. Strukturen - Kooperation
Im organisierten Umgang mit hochdelinquenten Minderjährigen
sind Strukturen zu schaffen, in denen die soziale Praxis professionell aufeinander abgestimmt ist und das gebotene Bezugswissen
zur Anwendung kommt.
Es sind die Strukturen, es ist nicht das Individuum…..
Das bedeutet unter anderem:
> Schädlich ist, wenn die Praxis unter dem Vorzeichen des
Strafrechts stattfindet.
Erforderlich ist, dass die Jugendhilfe sozial- und devianzpädagogisches Fachwissen durchsetzt. Ihre Denk- und
Handlungslogik gilt. Die der anderen Systeme (Schule, Polizei,
Justiz, Psychiatrie) ist zu berücksichtigen.
> Schädlich ist, wenn das Meldesystem von der Polizei beherrscht
wird.
Erforderlich ist, dass Vollmeldungen an den ASD erfolgen,
dort aber fachspezifisch sozialwissenschaftliche Kriterien
angewendet werden.
> Schädlich ist jede Struktur, die das Abschieben missliebiger
Kinder ermöglicht.
Erforderlich sind auf Prävention ausgerichtete Strukturen,
die dem Leitgedanken folgen: Es gibt keine Unerziehbaren,
nicht Erreichbaren, nicht Vereinbarungsfähigen, nicht
Therapiefähigen (solange keine psychische Erkrankung vorliegt). § 1666a BGB (Subsidiaritätsprinzip) und fachliche
Standards unterstreichen die Maxime, daß gefährdete und
gefährliche Minderjährige weder zurückgewiesen noch abgeschoben werden dürfen (Beispiel für ein klassisches Sozialisierungsprojekt: FLOSDORF, 1974).
> Schädlich ist eine unkontrollierte Praxis.
Erforderlich ist ein kontrollierter Prozeß von Hilfeplanung,
VollzugsplanSteuerung der Einzelfälle und interdisziplinärer
Zusammenarbeit (zu Diagnosen, Prognosen und Evaluation s. o.
).
10. Ergebnis
Konzepte, die den ’pädagogischen Umgang mit hochdelinquenten
Minderjährigen’ realitätsbezogen und angemessen begründet gestalten
wollen, müssen den Schwerpunkt auf strukturbezogene Rahmen-
bedingungen, die Orientierung an der Jugendhilfe und nicht dem
Strafrecht und eine interdisziplinäre individuelle Begründung
legen.
Erforderlich ist ein wechselseitiger Lernprozeß. Er beginnt bei den
institutionell Verantwortlichen. Wie ist ein misstrauisches Kind erreichbar, das vor allem gelernt hat, zurückgewiesen zu werden? Wie
kann ich es verstehen? Was muß in der sozialen Praxis verändert
werden, um die Persönlichkeit zu stärken und soziales Handeln zu
vermitteln? Das Strafrecht und entsprechende zusammenhanglose
Eingriffe leisten das nicht, allenfalls in Ausnahmefällen. Gefährdeten
Kindern muß geholfen, gefährlichen müssen Grenzen gesetzt werden.
Doch dieses Gegenwirken bedarf des kundigen Wissens, in welcher
Entwicklungsphase, in welcher Situation welche Maßnahme
begründet erprobt werden soll. Dies ist die Basis, um erfolgreich
Wissen zu vermitteln und prosoziales Verhalten zu stabilisieren.
Sie ist überdies volkswirtschaftlich vernünftig.