Vortrag Hans-Joachim Plewig - Niedersächsisches Landesamt für
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Vortrag Hans-Joachim Plewig - Niedersächsisches Landesamt für
Hans-Joachim Plewig Im Spannungsfeld zwischen Erziehung und Strafe: Pädagogischer Umgang mit hochdelinquenten Minderjährigen Vorbemerkung Ende der 1990er Jahre wurde ein langjähriges Tabu gebrochen. Verhalten von strafunmündigen Kindern, das gegen das Strafgesetzbuch verstieß, wurde Kinderkriminalität genannt (MÜLLER/PETER 1998). Die im Deutschen Jugendinstitut (dji) neu gegründete ’Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalprävention’ veröffentlichte ihre erste Dokumentation (Der Mythos der Monsterkinds. Strafunmündige “Mehrfach- und Intensivtäter“, 1999). Beides stellt einen Reflex dar auf die Situation, daß Delinquenz von Kindern als zunehmend bedrohlich eingeschätzt wurde. Mehr noch, es wuchs die Überzeugung, daß Kinder und vor allem Jugendliche immer brutaler würden. Deshalb sollten Konzepte im ’Kampf’ gegen diese Bedrohungen zum Einsatz kommen. Dabei war das Grundmuster nicht neu. In den 1970ern zum Beispiel versuchte die Polizei, mit Sondereinheiten gegen so genannte Rocker vorzugehen. Seit den 1990ern folgten in einzelnen Bundesländern immer mehr Programme gegen ’Mehrfach, Intensiv- oder Vielfachtäter’. Inzwischen haben sich bundesweit die repressiven Maßnahmen intensiviert und zunehmend vereinheitlicht. Zugleich gibt es – das zeigen vor allem auch Tagungen – einen wachsenden Klärungsbedarf in der Praxis. All dies wirft verschiedene Fragen auf. Werden wir von immer mehr gefährlichen Kindern und Jugendlichen bedroht? Oder hat sich nur unsere Wahrnehmung, unsere Toleranz verändert? Falls die Straffälligkeit von Minderjährigen zunimmt – was sind dann die angemessenen Reaktionen? Im weiteren Verlauf wird nicht den empirischen Grundlagen und deren Verwendung bzw. Instrumen- talisierung nachgegangen. Der Beitrag unterstellt einen bestimmten Handlungsbedarf mit der erkenntnisleitenden Fragestellung: Welches Bezugswissen müssen Konzepte berücksichtigen, wenn sie den ‚pädagogischen Umgang’ mit hochdelinquenten Kindern und Jugendlichen realitätsbezogen begründen wollen? Zur theoretischen Perspektive wird die These vertreten, daß nur in der Zusammenschau von Erziehungswissenschaften, Sozialisationsforschung, Entwicklungspsychologie, Sozialmanagement, Kriminalsoziologie, ‚Sozialraum’, Recht und Gesellschaftstheorie der komplexen Fragestellung angemessen Rechnung getragen wird.(s. dazu Punkt .). Die Aufgabe ist komplex. Sie bedarf eines umfassenden Gedankengangs. Die genannten Ebenen werden in unterschiedlicher Gewichtung erörtert. 1. Zur Präzisierung des Themas: a) Bei Kindern handelt es sich um Strafunmündige. Für sie scheidet das Strafrecht aus. b) Bei Jugendlichen geht es darum, die vorrangige Zuständigkeit der Jugendhilfe zu betonen und den Einfluß strafrechtlichen Denkens zurückzuweisen. c) ’Erziehung’ und ’Strafe’ sind keine Gegensätze Insgesamt geht es mithin um Zuständigkeiten, Kompetenzen und Abgrenzungen. 2. Diese lassen sich exemplarisch an einer Gegenüberstellung von Devianzpädagogik und Kriminalpädagogik demonstrieren. (PLEWIG 2005). Die Kriminalpädagogik geht von Vorgaben aus. Strafrecht, Polizeiarbeit, Justizhandeln und Strafvollzug werden als gegeben vorausgesetzt. Aufgabe ist es dann nur, innerhalb deren Logik Antworten zu finden, zum Beispiel, welche Sanktion ein Gericht gegen einen wiederholt straffälligen gewalttätigen Jugendlichen verhängen soll. Zur Entscheidung benötigt es Annahmen über den Zusammenhang von Tat und Person. Ist dieser erhellt, sollen die vermuteten ’Mängel’ mittels erzieherisch gestalteter Sanktion beseitigt werden (Defizit-These). SACK hat dieser Denk- und Handlungslogik vorgeworfen, sie wür- de sich der strafrechtlichen Praxis unterwerfen und sei theorielos (1969. S. 205). Dem Vorwurf versucht die Devianzpädagogik zu entgehen. Sie greift die Tatsache auf, daß einem kleinen Hellfeld registrierter Rechtsverstöße ein mehrfach größeres Dunkelfeld gegenübersteht. Deshalb stellt sie die Praxis der selektiven Kontrolle in den Mittelpunkt. Dadurch wird die Mitverantwortung der Instanzen sozialer Kontrolle (z.B. Schule, Jugendamt, Polizei, Gericht) offenkundig. Außerdem berücksichtigt sie die Tatsache, daß abweichendes Verhalten im Jugendalter normal ist (NormalitätsThese). Prävention und Intervention richten sich darum nicht mehr bloß auf den isolierten ’Störer’; sondern verpflichten zugleich die offiziell Verantwortlichen. Kriminal- bzw. devianzpädagogische Herangehensweisen unterscheiden sich somit danach, unter welchen Vorzeichen, mit welchem Vorverständnis sie Lösungen suchen. Delinquentes Verhalten von Minderjährigen kann als bloßes Kontrollproblem abgetan oder als Herausforderung im Rahmen gesellschaftlichen Konsenses begriffen werden. Um eine eigene Position begründen zu können, sind eine Reihe von Gesichtspunkten unter dem Leitgedanken der Professionalisierung zu berücksichtigen. 3. Erste Erkenntnisse a) Prognostisch ist die ’Zielgruppe’ nicht präzise identifizierbar. Es fehlen eindeutige Definitionen. ’Hochdelinquente Kinder’ sind ebenso ein Konstrukt wie ’Jugendliche Intensivtäter’. Das hochdelinquente Kind ist das Kind, das von den Instanzen sozialer Kontrolle als solches bezeichnet wird. Polizei und Staatsanwaltschaft versuchen, für dies Thema die Deutungshoheit zu verteidigen. Die von subjektiven Einschätzungen geprägte Praxis ist wesentlich davon abhängig, welche Kapazitäten bei der Polizei zur Verfügung stehen. b) Die Wirkungsforschung hält begrenzte Informationen bereit. Immerhin lehrt der SHERMAN Report (1997, s. ZJJ 2/2003), dass empirisch nachweisbare Wirkungen in der Jugendhilfe bzw. im Jugendstrafrecht überhaupt nur dann belegbar sind, wenn Kriterien wie Kontinuität, Vertrauen usw. erfüllt sind. Alle punktuellen Interventionen sind lediglich Ausdruck von zusammenhanglosem Eingreifen, nicht selten populistisch begründet und darum unter Sicherheitsgesichtspunkten kontraproduktiv. Eine realitätsbezogene Konzeption muß die politischen Interessen analysieren, die in diesem Machtspiel maßmaßgeblich mit beteiligt sind (aktuelle Beispiele: geschlossene Heim-Unterbringung in Hamburg; ’Schülergerichte’). In Politik, Administration und Medien hat sich eine Mentalität herausgebildet, die Auffälligkeiten mit Ungeduld betrachtet. Es werden Pseudo-Sicherheiten in objektiv unsicheren Zeiten gefordert: schnell eingreifen, hart durchgreifen, Disziplin fordern, Personen isolieren und wegsperren. Die Verantwortung wird dem Störer zugeschrieben. Er kann Hilfe erhalten. Nutzt er sie nicht, hat er seine Chance vertan. Dies Muster gilt heutzutage für die Sozialhilfe. Ähnlich versteht sich neuerdings der Jugendstrafvollzug. Deshalb gibt es dort das Modewort vom ’Chancenvollzug’. Der 27. Deutsche JGT im September 2007 wird sich deshalb unter dem Tagungsmotto ’Fördern – fordern – fallenlassen’ mit dieser populären Logik auseinandersetzen. c) Eine begründete Vorgehensweise im Einzelfall, die progno- stisch vertretbar wäre, bedarf einer differenzierten Hilfeplanung. Dazu gehört eine Diagnose. Deren Qualität ist derzeit noch umstritten (vgl. u.a. DVJJ, Hg., 2006; BOCK 2006; GRAEBSCH/BURKHARDT, 2006) 4. Prävention Landläufig werden Präventionsformen nach Ziel und Zeitverlauf klassifiziert. Die primäre Prävention verfolgt allgemeine Ziele wie Jugendschutz, Gesundheits-Aufklärung und Normvermittlung. Maßnahmen der sekundären Prävention richten sich an konkrete Zielgruppen, zum Beispiel im Rahmen der Straßensozialarbeit, der Mediation an Schulen usw. Tertiäre Prävention betrifft diejenigen, die registriert und sanktioniert worden sind. Die Resozialisierung erwachsener Straftäter bzw. die Erziehung Jugendlicher gehören ebenso dazu wie die Disziplinierung von Jugendlichen in geschlossenen Heimen. Tertiäre Prävention meint das Gleiche wie Intervention. In aller Regel sind Präventionsmaßnahmen auf das Individuum ausgerichtet. Das engt die Wirkung sehr ein. Strukturbezogene Prävention ist schwieriger durchzusetzen und in ihren Wirkungen kaum empirisch nachweisbar (grundlegend dazu HERRIGER 1986). Über die Inhalte der Präventionsformen, insbesondere die ihnen zugrunde liegenden Annahmen, ist damit noch nichts gesagt. Im Hinblick auf hochdelinquente Kinder und Jugendliche wird kaum von Vorbeugung gesprochen. Wenn dies ’Urteil’ fällt, erscheint das entschiedene Vorgehen selbstverständlich. Dabei kommt es zu diesem attestierten Status in der Regel erst durch einen längeren Aufschaukelungs-Prozeß, der keineswegs unumkehrbar ist (QUENSEL 1970). Der Stigmatisierungsansatz lehrt, wie entscheidend die Mitverantwortung der beteiligten Institutionen ist. Die deutsche Schule als eine hochgradig auf Auslese angelegte Einrichtung spielt dabei eine besondere Rolle (vgl. dazu aktuell den UN-Menschenrechtsrats-Bericht zur sozialen Benachteiligung). Der Umgang mit hochdelinquenten Minderjährigen – wie eben dargelegt – zum klassischen Feld der Eingriffe. Thematisierungen und Sprache belegen dies. 5. Intervention Beispiele aus der Hamburger und Berliner Praxis sollen zeigen, wie sich der aktuelle Trend der ’Bekämpfung von Jugendkriminalität’ darstellt. a) Die Erfindung des Familien-Interventionsteam (FIT) wird in Hamburg damit begründet, dass der ASD nicht energisch genug vorgegangen sei. Die Eltern werden nun mit der klaren Alternative konfrontiert: Maßnahme des FIT akzeptieren oder Antrag beim Familiengericht auf Entzug des Sorgerechts. a) Die neu geschaffene geschlossene Heimunterbringung ist prinzipiell auf ein Jahr Vollstreckung angelegt. In dieser Zeit sollen die Betroffenen diszipliniert werden, auch mit Hilfe von Psychopharmaka und Mitarbeitern eines Sicherheitsdienstes. b) Die Hamburger Polizei und Staatsanwaltschaft verfolgen unter anderem zwei Arbeitsprogramme: die Registrierung, Verfolgung und gezielte Sachbearbeitung von Mehrfachtätern (einige hundert) und Intensivtätern. Letztere, etwa 40 bis 50, fallen in das Projekt !STOPP!. Ihnen wird ausdrücklich der Kampf angesagt. Vorrangiges Ziel ist die schnelle Bearbeitung und Anklage. c) Eine gewisse Berühmtheit hat inzwischen die Abteilung 47 der Berliner Staatsanwaltschaft erlangt. Seit 2003 werden dort in Zusammenarbeit mit der Polizei täterorientiert ’Intensivtäter’ verfolgt. Jugendämter, Ausländerbehörde, Jugendbewährungshilfe und Strafanstalten erhalten tagesaktuell per e-mail die gültige Intensivtäter-Liste. Zentral ist die Erarbeitung eines individuellen Lebenslaufs der Registrierten durch den zuständigen Staatsanwalt. Auch diesem Konzept liegt die Annahme zugrunde, daß möglichst frühzeitiges intensives Eingreifen (U-Haft und Jugendstrafe) die kriminelle Karriere begrenze. In Berlin wird die Masse der Intensivtäter den ’Orientalen’ zugeordnet (REUSCH, 2007). Im Hinblick auf die Rückfalldaten weisen demgegenüber türkischstämmige Täter eine überdurchschnittlich hohe Quote auf. Der behauptete Erfolg basiert nach Auffassung von REUSCH auf dem hohen Personalaufwand und dem durch Inhaftierung erzeugten Leidensdruck. Die Frage, wie mit hochdelinquenten Minderjährigen fachlich umzugehen sei, scheint damit beantwortet: Empfohlen wird die schlichte Verknüpfung von Selektion, Verfolgungsszenario und Freiheitsentzug. Doch daran bestehen erhebliche wissenschaftliche und logische Zweifel. Darum muß der Ansatz der Intervention allgemein näher betrachtet werden, unter welchen Voraussetzungen er überhaupt in der Lage ist, differenzierte nachhaltige Ziele zu erreichen. 6. Intervention – näher betrachtet Interventionen bei hochdelinquenten Minderjährigen beziehen mindestens drei Bereiche mit ein: Erziehungswissenschaften, Jugendhilfe und Jugendstrafrecht. Jeder von ihnen folgt einer eigenständigen Denk- und Handlungslogik. a) Die Allgemeine Pädagogik hat ein differenziertes Bild von Erziehung entwickelt. Vornehmlich lässt sich Erziehung unterscheiden in Ziehen, Führung, Regierung und Zucht, Wachsenlassen, Anpassung oder Lebenshelfen. Welches Verständnis konkret praktiziert wird, hängt vom Menschenbild (gilt das Kind als von Natur aus gut oder asozial ?) und dem Bild von Gesellschaft (Anpassung versus Freiheit) ab. Ausgangspunkt für die Bestimmung von Freiraum und Kontrolle sind SCHLEIERMACHERs Erörterungen zum Gegenwirken. Später hat LITT die Unterscheidung von führen oder wachsenlassen eingeführt (1965). In den 1960ern endet die selbstverständliche pädagogische Diskussion um Eingriffe. Insbesondere Strafe (GEISSLER; REBLE; WEBER) wird seither nicht mehr systematisch thematisiert. Mit der Propagierung der antiautoritären Erziehung bzw. der Antipädagogik begann das Zeitalter, in der Erziehung zunehmend weniger mit Eingriffen verbunden wurde. Hintergrund dieser Entwicklung war die Annahme, dass z. B. die Erziehung zum autoritären Charakter Voraussetzung für die Macht des Dritten Reiches gewesen sei. Zugleich verstärkte das Selbstverständnis unserer Verfassung den Ruf nach ‚Erziehung zur Demokratie’. Dazu zählten dann Grundrechte für Minderjährige, Selbstverwaltung von Jugendzentren, Mitsprache, wenn nicht gar Mitentscheidung in Schulen. Mit einer Verzögerung von rund zwanzig Jahren schlugen sich Teile dieser Gedanken in der Neukonzeption der Jugendhilfe nieder. b) Konzept der Jugendhilfe Das Jugendwohlfahrtsgesetz von 1922 bis 1990 war polizei-und ordnungsrechtlich gestaltet. Es baute auf der Macht des Staates auf, der seine Kontrollaufgaben insbesondere mit der gefürchteten Fürsorgeerziehung durchzusetzen versuchte. In großer Zahl wurden Jungen und Mädchen entsprechend den herrschenden Normen und Moralvorstellungen diszipliniert. Eingreifen und durchgreifen war eine selbstverständliche Philosophie – bis die Studentenbewegung sich gegen derartige Machtpraktiken wandte. 1990 ist – als stark abgemilderte Spätwirkung jener Kämpfe –ein Kinder- und Jugendhilfegesetz in Kraft getreten, das vermutlich weltweit relativ einmalig in seiner Liberalität und staatlichen Selbstverpflichtung ist. Denn es versteht sich als angebots- und leistungsorientiert. Die Inanspruchnahme erfolgt auf freiwilliger Basis. Die Erziehungsberechtigten können Hilfen zur Erziehung beantragen. Sie können ihnen aber nicht abverlangt werden. Das Freiwilligkeitsprinzip wird begrenzt durch das staatliche Wächteramt (Art. 6 GG). Der Staat hat über das Kindeswohl zu wachen. Dies kommt in den so genannten Anderen Aufgaben im KJHG (§§ 42 ff.) zum Ausdruck. Im Art. 6 GG liegt der Grund für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Jugendhilfe. In Ergänzung und Erweiterung der Erziehung im Elternhaus und der kontrollierten Bildung in der Schule soll die Jugendhilfe gegebenenfalls eine Lücke in der Sozialisation schließen. Leitformel dafür ist das Kindeswohl (§ 1666 BGB). Diese Aufgabe wird je nach Gesellschafts- und Menschenbild unterschiedlich interpretiert. Derzeit stellt sich der Staat relativ zurückhaltend dar. Das gilt für die Familienerziehung, die Jugendhilfe, das Jugendstrafrecht, ebenso wie etwa für das Betreuungsrecht. Die Eingriffsschwellen sind überall hoch. Das Subsidiaritätsprinzip kommt aktuell besonders ausgeprägt zum Ausdruck. Dies ist eine fachliche Tatsache, die zunehmend in Widerspruch gerät zu populistischen Forderungen nach schnellem, konsequenten Eingreifen und medial skandalisier-ten Einzelfällen. Im Ergebnis besitzt das KJHG weitgehend vorbeugenden und angebotsorientierten Charakter. Eingriffe sind äußerst begrenzt geregelt. Dem Jugendamt stehen lediglich zwei Instrumente zur Verfügung: die kurzfristige Inobhutnahme gemäß § 42 KJHG oder der Antrag auf Freiheitsentziehung gemäß § 1631b BGB. Nur auf diesem Wege ist die Unterbringung Minderjähriger in einem geschlossenen Heim rechtlich möglich. Darüber entscheidet das Familiengericht. Streng genommen müsste es anschließend in kurzen Fristen überprüfen, ob der Anlaß für die besondere Gefährdung noch vorliegt. Aus alledem ergibt sich, dass die Jugendhilfe mit all ihr zur Verfügung stehenden Kompetenz gezwungen ist, mit delinquenten Kindern auf der Basis von Angebot und Überzeugung zu arbeiten. Das Hamburger Kombinat von ASD und FIT stellt dagegen eine Variante von ’Und bist Du nicht willig, so brauche ich Gewalt’ dar. Aus rechtsstaatlichen Gründen bleibt aber alles Einsperren zeitlich begrenzt. Die Aufgabe wird auf diese Weise in der Regel nicht nachhaltig bewältigt. Das Strafrecht kann mit der Jugendhilfe formal erst konkurrieren, wenn die Strafmündigkeit erreicht ist. Sie liegt in Deutschland bei 14 Jahren. Das Jugendstrafrecht verfügt über ein umfangreicheres Eingriffsarsenal als die Jugendhilfe. c) Das Jugendstrafrecht Das Jugendstrafrecht ist Strafrecht und keine Variante der Sozialarbeit. Anlaß für Maßnahmen sind begangene Straftaten. § 5 JGG enthält den Sanktionskatalog: Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel, Jugendstrafe. Sie stehen gleichfalls im Verhältnis der Nachrangigkeit zueinander. Erziehungsmaßregeln (in der Regel Weisungen wie Betreuung, Sozialer Trainingskurs) sind ambulante Sanktionen. Die Zuchtmittel bestehen im wesentlichen aus dem Arrest. Diese stationäre Maßnahme dauert höchstens vier Wochen. Die Jugendstrafe wiederum beträgt mindestens sechs Monate. Sie kann von vornherein zur Bewährung ausgesetzt werden. Das Gericht kann ferner die Vollsteckung nach einiger Zeit zur Bewährung aussetzen. Schließlich spielt im Vorfeld der Hauptverhandlung die Untersuchungshaft eine hier bedeutsame Rolle. Wenn Haftgründe beim Jugendlichen bejaht werden, bietet das Gesetz an, zur Abwendung der U-Haft eine alternative Unterbringung in einem Heim der Jugendhilfe anzuordnen. Das muß nicht geschlossen sein. Für 14und 15-jährige empfiehlt es, U-Haft so weit wie möglich zu vermeiden (§§ 72, 71 JGG). Zusammengefaßt verfügt das deutsche Jugendrecht nur über eingeschränkte Interventionsmöglichkeiten, zumal die des Einsperrens. Der Gesetzgeber trägt damit der Überzeugung Rechnung, dass sich die Kinder und Jugendlichen in dieser Lebensphase in einer schutzwürdigen Entwicklung befinden. Die Verantwortung des Staates konzentriert sich nicht auf hoheitliche Eingriffe. Vielmehr regt insbesondere das KJHG dazu an, fachlich kompetent und in schwierigen Fällen kreativ auf der Basis des Vertrauens und der Überzeugung mit den gefährdeten und gefährlichen Minderjährigen umzugehen. Dies ist der Auftrag. Kein Populismus kann ihn ignorieren. Keine öffentliche Meinung darf die fachlich Verantwortlichen daran hintern, verfassungsgemäß und professionell zu arbeiten. Das, was unter Professionalität im Umgang mit hochdelinquenten Kindern zu verstehen ist, wird im folgenden erörtert. 7. Professionelle Intervention Die Begriffe Professionalisierung und Dienstleistung sind in der Sozialen Arbeit seit längerem in Mode (DEWE/OTTO 2001). In dieser Debatte werden die Repräsentanten der Sozialarbeit als ’Vermittlungsinstanz’ zwischen den Anforderungen der Gesellschaft (sozial, kulturell) und den individuellen Sichtweisen der Klienten gesehen. Als wissenschaftlich Qualifizierte sollen sie rational handeln, d.h. subjektiv kontrolliert, demokratisch und im Wissen um Ungewissheit. Nicht autoritäre Maßnahmen, sondern Aushandlungen bestimmen das Wirken. Eine solche Professionalität muß sich fortwährend überprüfen. “Professionalität wird verstanden als Voraussetzung für das Hervorbringen einer besonderen Handlungsstruktur, die es ermöglicht, in der Alltagspraxis auftretende Handlungsprobleme aus der Distanz stellvertretend für den alltagspraktisch Handelnden wissenschaftlich reflektiert zu deuten und zu bearbeiten“ (DEWE/OTTO, S. 1419). Auf Deutsch: Die Qualität des professionellen Handelns liegt darin, dass der Sozialpädagoge die verschiedenen Gesichtspunkte erfasst und anwendet, unter denen die konfliktreiche Situation von Kindern und Jugendlichen in besonders belasteten Lebenslagen gedeutet und bearbeitet werden muß. Pädagogisches Handeln bleibt allerdings stets von zweierlei Ungewissheit geprägt: der des erforderlichen Wissens und der der nicht absehbaren Wirkung. Professionalität umfasst ferner das Bewusstsein dafür, daß pädagogische Beziehungen asymmetrisch sind. Deshalb passt das Bild vom Kampf um Anerkennung (Sichtweisen) durch die ’Adressaten’. Die Anerkennung betrifft oftmals den Wunsch, mit dem eigenen (konflikthaften) Verhalten dennoch als normal anerkannt zu werden und integriert zu bleiben. Hier ergibt sich eine Parallele zur Unterscheidung von Kriminal- und Devianzpädagogik: Eine ’passive’ (Kriminal-) Pädagogik wirkt innerhalb der Widersprüche, eine offensive setzt sich mit ihnen auseinander. Zentraler Widerspruch ist die Lohnabhängigkeit der Arbeitnehmer. Zugleich droht nicht hinreichend Qualifizierten dauerhafte Arbeitslosigkeit. Ein weiterer Widerspruch besteht zwischen den abstrakten Möglichkeiten in einem wohlhabenden Staat und dem tatsächlich Erreichbaren. Hier ist immer wieder auf das selektive Bildungssystem als zentralem Steuerungsinstrument hinzuweisen. Professionalisierung im Interventionsbereich meint zweierlei: Einerseits verlangt sie nach differenziertem devianzpädagogischen Wissen; andererseits muß bewußt sein, daß Professionalität im Rahmen von Disziplinierungen an Grenzen stößt ( STOPPEL, Pädagogik und Zwang, 2006; ROTH 2004). Das ist leicht formuliert. Im richtigen Leben sind wir von diesen Ansprüchen weit entfernt. Zunächst besteht zwischen Praxis und Theorie eine anhaltende Kluft. Die Praxis kommt ohne theoriegeleitete Basis – scheinbar – gut zurecht. Zudem fehlt es – wie eingangs festgestellt – an der notwendigen Wirkungsforschung. Schließlich stehen Theorie und Forschung vor dem fundamentalen Problem, wie gewollte Einwirkungen auf den Menschen erreicht, nachhaltig stabilisiert und empirisch nachgewiesen werden können. Die Auswirkungen des Sozialmanagements (s. auch MAELICKE, Devianzmanagement, 2006) führen möglicherweise zu einer Teillösung dieser Herausforderung. Im Rahmen der Diskussion um Dienstleistungen in der Sozialwirtschaft hat die Diagnose an Bedeutung gewonnen. Mehr oder weniger alle Fachleistungen stehen inzwischen auf dem finanziellen Prüfstand. Das hat die Bereitschaft zur Überprüfung erzwungen. Evaluation birgt die Chance in sich, das berufliche Handeln transparent zu machen. Das sichert die Grundrechte der Betroffenen. Das eröffnet die Möglichkeit, Begründungen der Maßnahmen und deren Auswirkungen regelmäßig zu überprüfen (KROMREY 2003 mwN.). Diagnostik ist als Bestandteil der Aufgabe, wirksame Methoden zur Reaktion auf Problemlagen einzusetzen, unerlässlich. Die Sozialarbeit ist lange Zeit nicht in der Lage gewesen, zum Beispiel der Psychologie folgend, eigenständige Bestandsaufnahmen zu entwickeln. Erst MOLLENHAUER/UHLENDORFF (1992) haben den Versuch unternommen, sozialpädagogische Diagnosen theoretisch zu entwickeln und praktisch – im Rahmen ambulanter Maßnahmen nach dem JGG – zu erproben. DieserAnsatz konkurriert mit der sozialen Diagnostik (DVJJ 2006). Im Wettstreit geht es um die Frage, welche Daten erhoben werden müssen, um menschliches Verhalten zu erfassen und Wege zu finden, es überprüfbar in gewünschter Weise zu beeinflussen. Die Bewertung dessen, welche Form der Diagnose geeignet ist, soll an dieser Stelle dahingestellt bleiben. Die Entscheidung darüber ist erst möglich, wenn geklärt ist, welche Inhalte zu überprüfen sind. Das Thema erfordert offenkundig einen interdisziplinären Zugang. Tatsache ist, dass die dafür erforderlichen Grundlagen weder in der Theorie noch in der Praxis hinreichend berücksichtigt werden. Wenn also der ’Umgang mit hochdelinquenten Minderjährigen’ geklärt werden soll, ist eine umfassende zunächst gedankliche Anstrengung erforderlich. 8. Bezugswissen Nur in der Zusammenschau von Erziehungswissenschaften, Sozialisationsforschung, Entwicklungspsychologie, Sozialmanagement, Kriminalsoziologie, Sozialraum-Perspektive, Recht und Gesellschaftstheorie kann angemessen darüber befunden werden, welcher Umgang mit hochdelinquenten Kindern für eine angemessene Integration sorgt (These). Im Bild des ’pädagogischen Umgangs’ bündelt sich das dafür erforderliche Bezugswissen. In einem skizzenhaften Durchgang soll es im folgenden erörtert werden. Worum es geht, steht im § 1 KJHG: „Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“. Die Devianzpädagogik hat in besonderer Weise eine Antwort auf diese doppelte Aufgabe zu finden. Zunächst ist es Aufgabe der Erziehung, den jungen Menschen im Geiste unserer Verfassung und unseres Familienrechts individuell zu Mündigkeit zu befähigen. Auf Grund des abweichenden Verhaltens treten jedoch die Interessen der Öffentlich stark in den Vordergrund. Die selbständige Lebensführung bzw. Persönlichkeitsentwicklung und die soziale Integration sind die zwei Seiten dessen, was Sozialisation bewirken soll. Sozialisationstheorie, Sozialisationsforschung und Entwicklungspsychologie sind maßgebliche Bausteine des Bezugswissens, die in der Fachdiskussion in Jugendhilfe und Jugendstrafrecht bedenklich vernachlässigt werden. Schon seit den 1960ern wird Sozialisation nicht mehr als einseitige Anpassung des Individuums an die Gesellschaft verstanden. Vielmehr gilt das Subjekt als aktiver Mitgestalter. Dies entspricht einer demokratischen Verfassung und Gesetzen wie dem Familienrecht und KJHG. Dies entspricht vor allem auch den gesellschaftlichen Realitäten. Diese lassen sich nach Lebenslagen (AWO 1993)systematisieren. Da sich traditionelle Strukturen teilweise auflösen – verwiesen sei hier vorrangig auf die Familie -, werden dem Individuum, zumal Kindern, zunehmend Lasten aufgebürdet. In dieser Hinsicht sind die Zumutungen der Freisetzung von besonderer Bedeutung (AWO 1993). In modernen Gesellschaften wie Deutschland erhalten die sekundären Sozialisationsinstanzen (Schule, Gleichaltrige usw.) umso mehr Bedeutung, je weniger die primäre, die Familie, dieser Aufgabe gerecht wird. Daraus erwächst die Notwendigkeit eines Sozialisationsfeldes, das Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Jugendhilfe und Devianzpädagogik umfasst. Um die realen Verhältnisse treffender zu erfassen, spricht die moderne Soziologie von Kräftefeldern (BOURDIEU). Dies unterstreicht, daß es sich um Auseinandersetzungen in den jeweiligen Bereichen geht, um Macht und Interessen. Sozialisationsforschung hat seither – in der Hinwendung zum Subjekt - danach gefragt, wie moralische Normen verarbeitet werden, wie Identität und die Fähigkeit, Perspektiven differenziert zu sehen, entstehen. Diese Betonung des Subjektiven war die dialektisch zu verstehende Antwort auf die hochpolitisierte Phase um 1970 (Emanzipation; Kapitalismuskritik; radikale Sozialarbeit usw.). Beide Perspektiven reichen für sich nicht aus. Denn Sozialisation erfolgt im Wechselbezug. Entscheidend ist nun, welche Wirkung die soziale Praxis (GRUNDMANN 2006) entfaltet. Dies bedeutet mehr und anderes als die vielfach beschworene ’Lebensweltorientierung’ (8. Jugendbericht 1990), auch als das Konzept der Sozialraumorientierung. Denn die Berücksichtigung und Beeinflussung der ’sozialen Praxis’ bedeutet, die Interaktionen im jeweiligen Kräftefeld (z.B. Programme zur ’Bekämpfung der Jugendkriminalität’) auf ihre Inhalte, Begründungen, Interessen und Auswirkungen hin zu untersuchen. Für den Blick auf delinquente Minderjährige ist somit wesentlich, die intersubjektiven Handlungsstrukturen, die gemeinsamen (systemischen) Lernprozesse zu erfassen. Da Delinquenz zugeschrieben wird, spielen Selektionsprozesse mindestens eine zweifache Rolle: über den Status (Schicht o.ä.) und die strafrechtliche Kontrolle. Dies gilt identisch für die Selektion im Bildungswesen. Soziale Selektionsprozesse werden wirksam durch die Zuschreibung, was das Kind leisten kann, welchen sozialen und kulturellen Status es bekommt. Entwicklung, Sozialisation und Selektion stehen also in einem untrennbaren Zusammenhang. Im Hinblick auf (hoch-) delinquente Minderjährige ist nun zu klären, wie die erwartete Gemeinschaftsfähigkeit sozialisatorisch gesichert werden kann. Dies führt dicht an die Frage heran, wie Jugendhilfe und Jugendstrafrecht wirksame Maßnahmen ergreifen können. Sozialisation, verstanden als wechselseitige Praxis, verlangt, dass nicht nur den jungen Menschen etwas abzuverlangen ist; zumindest in gleichem Maße kommt es darauf an, dass die verantwortlichen Erwachsenen spezifische Qualitätsmerkmale erfüllen. Das heißt, die Beteiligten, die Institutionen (Strukturen) und die sozialisatorische Praxis unterliegen zusammen spezifischen Anforderungen Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass sich junge Menschen in einer Entwicklung befinden. Sie sammeln Handlungswissen und entwickeln ihre Persönlichkeit in Wechselwirkung mit ihrem sozialen Umfeld. Zu den wesentlichen Entwicklungsaufgaben für Kinder zählt z. B., daß sie lernen, sich ab etwa dem achten Lebensjahr von den Eltern abzugrenzen. Die sozialen Beziehungen werden zunehmend von ihnen selbst gestaltet. Personale Entwicklung und soziale Integration sind vielfachen Störungen ausgesetzt. Schon in der Familie kann es an Stabilität, Kontinuität und Vertrauen fehlen. Auch außerhalb dieses – vermeintlichen – Schonraumes spielen Konflikte, Hierarchien und Machtkämpfe eine Rolle. Wir sprechen von belastetem Aufwachsen. Die Vergesellschaftung bleibt instabil. Bei näherem Betrachten lassen sich verschiedene Perspektiven unterscheiden, die über dies Aufwachsens Auskunft geben. Wichtige Hinweise liefern uns die Soziobiologie (VOLAND) Hirnforschung. ROTH nennt folgende Faktoren, die beim Lehren und Lernen eine wichtige Rolle spielen: - Motiviertheit und Glaubhaftigkeit der Lehrenden, - individuelle kognitive und emotionale Lernvoraussetzungen der Jugendlichen (Schüler), - allgemeine Motiviertheit und Lernbereitschaft der Schüler, - spezielle Motiviertheit der Schüler für einen bestimmten Stoff, Vorwissen und aktueller emotionaler Zustand, - spezifischer Lehr- und Lernkontext (2004, S. 500 ff.). HÜTHER ergänzt diese Grundlagen: Lernlust wird durch Vertrauen gestärkt und durch Verunsicherung bzw. Druck zerstört (2004, S. 491 ff.). Hirnforschung versucht mithin, Rahmenbedingungen einer “hirngerechte Pädagogik“ (ROTH, S. 518) zu skizzieren. Dem Gesetzgeber sind diese Erkenntnisse nicht ganz fremd. So regelt das JGG in § 3: „Ein Jugendlicher ist strafrechtlich verantwortlich, wenn er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug ist, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln.“ (§ 3). Die Erkenntnisfähigkeit baut auf biologisch fundierten Prozessen auf. PIAGET und später KOHLBERG haben ein Konzept entwickelt, mit Hilfe dessen wir Stufen des moralischen Lernens unterscheiden können. Aktuell gelten die sozialkognitive Entwicklungstheorie von SELMAN und die sozialkognitive Lerntheorie von BANDURA als Bausteine, um Erkenntnisfähigkeit und Handlungskompetenzen zu erforschen und fördern (einen zusammenhängenden Überblick gibt das Lehrbuch von OERTER/MONTADA, 2002, z.B. Kapitel 16 ’Motivation, Emotion und Handlungsregulation; Kapitel 17 V’Soziale Kognition’; Kapitel 18 ’Moralische Entwicklung und moralische Sozialisation’) Zur Entwicklung soziomoralischer Handlungsorientierungen bedarf es früher erfolgreicher Bindungserfahrungen. Wir müssen davon ausgehen, dass bei hochdelinquenten Minderjährigen diese nicht oder nur eingeschränkt vorliegen. Dadurch ist die erforderliche produktive soziale Praxis gefährdet. In den typischen konfliktreichen Auseinandersetzungen beim Aufwachsen fehlt die Basis. Damit tritt das gefährdete Kind geschwächt in die Öffentlichkeit. Spätestens in der Schule, vielleicht schon im Kindergarten, muß es formale Sozialbeziehungen bestehen. Schule, Jugendamt und Justiz erreichen nur dann ihre für die Sozialisation bedeutsamen Funktionen, wenn sie den Kindern die Möglichkeit geben, ihren Sichtweisen legale Anerkennung zu verschaffen. Die Herausforderung für ’die schule der Zukunft’ besteht darin, kognitives, soziales und emotionales Lernen im Unterricht und in außerunterrichtlichen Angeboten zu verbinden (OERTER/MONTADA, Kapitel 23). Es liegt auf der Hand, dass gefährdete, d.h. verunsicherte Kinder dazu neigen, sich ’unsozial’ zu verhalten. Diese Differenzen sind eine Tatsache. Schule will noch zu oft davon nichts wissen, weil sie in vorgegebener Zeit Leistungsziele erreichen muß, um ihren Ruf (Wettbewerb in der Region) fürchtet und ihr die devianzpädagogischen Kompetenzen fehlen. Differenzen aushandeln und gemeinsame Werthandlungen entwickeln, ist eine sozialpädagogische Aufgabe. Dafür sind Lehrer/innen in der Regel nicht qualifiziert. Fehlende Unterstützung im Elternhaus und die Gefahr, an den hochselektiven Anforderungen der Schule zu scheitern, schwächen die individuellen Handlungspotentiale weiter. Den Gefährdeten fehlt die erforderliche dichte, relativ dauerhafte vertrauensvolle Beziehung (SHERMAN-Report). Die Ergebnisse dieser sekundär-analytischen Untersuchung werden unter anderem von RAITHEL bestätigt. Er hat 2003 Erziehungserfahrungen und Lebensstile Jugendlicher untersucht. Im Hinblick auf die Vorbeugung von Risikoverhalten und Delinquenz ergab sich, daß eine präventive Erziehung “durch einen hohen emotionalen Rückhalt, Unterstützung und Empathie charakterisiert“ sei (2005, S. 580). Ob die Jugendhilfe erfolgreich dieses Bedrohungspotential abbauen kann, hängt nicht nur von den Ressourcen ab. Allein die Jugendhilfe wäre in der Lage, die Gesamtsituation zu überschauen und professionellen Einfluß auf Sozialisations- prozesse zu nehmen. “Die Entwicklungspotentiale von Sozialisationspraxen hängen davon ab, wie die Akteure füreinander sorgen und sich wechselseitig wahrnehmen, ob die Beziehung Geborgenheit und Zuwendung vermittelt, Sicherheit im Umgang miteinander bietet und einen verläßlichen Orientierungsrahmen für das Handeln der Akteure bietet (GRUNDMANN 2006, 165; umfassende Informationen finden sich in OERTER/MONTADA 2002).). Die Jugendhilfe trifft bei den hochdelinquenten Minderjährigen auf eine Gruppe, deren Handlungsbefähigung durch ihre Lebenswelt in problematischer Weise geprägt ist. Denn wesentliche Bindungskraft besitzt die Einschätzung des eigenen Handelns vor allem durch nahe stehende Bezugspersonen. Aus der Praxis ist bekannt, daß in derartigen Konfliktfällen die Eltern oft keine Hilfe sind. Sie können die notwendige stabilisierende Orientierung nicht bieten. Sie stellen nicht das erforderliche Vorbild dar. Oftmals haben sie resigniert und bitten die Ordnungsmacht um Übernahme der Verantwortung. Zugleich verschärft sich die Situation der betroffenen Kinder als Außenseiter. Ihr sozial positiver Handlungsspielraum wird eingeschränkter. Der Ausweg wird häufig in der Solidarität mit anderen Gefährdeten und Stigmatisierten gesucht. Diese Spirale, diesen Aufschaukelungsprozeß zu durchbrechen, ist Aufgabe der Jugendhilfe Zunächst einmal muß in solchen Fällen ein bestimmter Sozialisationsprozeß nachgeholt werden. Dies setzt voraus, dass nunmehr endlich Kontinuität, Stabilität und Vertrauen geschaffen werden. Es bedarf dessen, was in der Pädagogik der personale Bezug genannt wird. Dafür ist eine Interventionsberechtigung unerlässlich (KRAUSSLACH 1981). Dies wird in der Praxis weitgehend übersehen. Interventionsberechtigung zählt zu den zentralen Merkmalen professioneller Handlungsbefähigung. Daraus folgt ferner, dass alle punktuellen Interventionen logisch unproduktiv sind (SHERMAN-Report). Sie können keine innere Stabilität in den Adressatenerzeugen, weil sie zusammen- hanglos agieren. Damit ist das Problem von Freiwilligkeit und Zwang im pädagogischen bzw. therapeutischen Zusammenhang noch nicht geklärt. Die These, daß Erziehung oder Behandlung unter Zwang nicht gelinge, lässt sich empirisch nicht belegen. Das ergeben Erkenntnisse aus der (Kinder- und Jugend-) Psychiatrie ebenso wie in der Drogentherapie. Allerdings fehlen uns Untersuchungsergebnisse, unter welchen Bedingungen geschlossene Heimunterbringung nachhaltige günstige Einflüsse auf die Persönlichkeitsentwicklung und Sozialisation haben. Weitgehend liegt die Praxis im Dunkeln. Es gibt weder fundierten Aufschluß über die pädagogischen Prozesse noch über die richterliche Kontrolle. Schlimmes ist zu befürchten, d.h. es ist von fachlichen Defiziten und verfassungsrechtlichen Verstößen auszugehen. Alle stationären Eingriffe münden in die zentrale Frage: Einsperren – und was dann? Ein Konzept ist erst dann integrativ, wenn es vor allem die Nachsorge, besser: den weiterführenden pädagogischen Umgang einbezieht. Zusammenfassend ist im Hinblick auf die individuelle Ebene, Diagnostik und Hilfeplan festzustellen: Die Pädagogik muß Konzepte des Gegenwirkens entwickeln. Die hochdelinquenten Minderjährigen stellen keine homogene Gruppe dar. Vielmehr ist sorgfältig zu ermitteln, in welcher Entwicklungsphase sich das betroffene Kind befindet. Welche Hinweise liefert die Entwicklungspsychologie über die Stufe sozialen und moralischen Lernens? Daraus ergeben sich Schlußfolgerungen darüber, welche systemischen Lernprozesse unter welchen Bedingungen möglich sind und abverlangt werden können. Hirnforschung (s.o., HÜTHER; ROTH) und Soziobiologie (VOLAND) bzw. –psychologie bieten inzwischen Erkenntnisse über die biologischen Grundlagen an, die fachlich nicht länger ignoriert werden dürfen. Achtjährigen, zwölfjährigen oder sechzehnjährigen jungen Menschen sind deutlich unterschiedliche Aufgaben zu stellen und Hilfen anzubieten (vgl. auch § 3 JGG). Lernprozesse werden bei praktisch allen Maßnahmen der Jugendhilfe und des Jugendstrafrechts unterstellt. Bemerkenswerterweise unterlässt man es aber, diese jeweils präzise zu begründen. Welcher Eingriff führt in welchem Alter (Entwicklung) unter welchen Bedingungen zum wahrscheinlichen Erfolg? Auf solcher Basis wären Forschungen unergiebig. Zu beachten ist, daß gerade für Kinder, aber auch für viele Jugendliche die Institutionen, die Strukturen, die selektiv angewendeten Regeln und – vor allem – die Sprache schwer verständlich sind. Die verlangten Lernprozesse scheitern bereits an solchen undurchschaubaren Hürden. Noch mehr: Wie lassen sich Störungen in den Bindungserfahrungen so überwinden, daß konstruktive, dauerhafte und vertrauensvolle Beziehungen möglich werden. Es ist allgemein bekannt, wie tief das Gefühl des Misstrauens bei hochdelinquenten Kindern ist (s. dazu psychoanalytische Konzepte). Es ist also kontraproduktiv, wenn Gesellschaft und Staat gegenüber diesen Störern auftrumpfen. Pädagogisches Gegenwirken ist eng verbunden mit dem Fördern von Entwicklung und Sozialisation. Die Verantwortung der zuständigen Institutionen verlangt es, professionell fundierte Angebote zu machen. Neben dem individuumbezogenen Bausteinen Diagnose und Hilfeplan ist ein weiteres Element unerlässlich: die Schaffung geeigneter Strukturen. 9. Strukturen - Kooperation Im organisierten Umgang mit hochdelinquenten Minderjährigen sind Strukturen zu schaffen, in denen die soziale Praxis professionell aufeinander abgestimmt ist und das gebotene Bezugswissen zur Anwendung kommt. Es sind die Strukturen, es ist nicht das Individuum….. Das bedeutet unter anderem: > Schädlich ist, wenn die Praxis unter dem Vorzeichen des Strafrechts stattfindet. Erforderlich ist, dass die Jugendhilfe sozial- und devianzpädagogisches Fachwissen durchsetzt. Ihre Denk- und Handlungslogik gilt. Die der anderen Systeme (Schule, Polizei, Justiz, Psychiatrie) ist zu berücksichtigen. > Schädlich ist, wenn das Meldesystem von der Polizei beherrscht wird. Erforderlich ist, dass Vollmeldungen an den ASD erfolgen, dort aber fachspezifisch sozialwissenschaftliche Kriterien angewendet werden. > Schädlich ist jede Struktur, die das Abschieben missliebiger Kinder ermöglicht. Erforderlich sind auf Prävention ausgerichtete Strukturen, die dem Leitgedanken folgen: Es gibt keine Unerziehbaren, nicht Erreichbaren, nicht Vereinbarungsfähigen, nicht Therapiefähigen (solange keine psychische Erkrankung vorliegt). § 1666a BGB (Subsidiaritätsprinzip) und fachliche Standards unterstreichen die Maxime, daß gefährdete und gefährliche Minderjährige weder zurückgewiesen noch abgeschoben werden dürfen (Beispiel für ein klassisches Sozialisierungsprojekt: FLOSDORF, 1974). > Schädlich ist eine unkontrollierte Praxis. Erforderlich ist ein kontrollierter Prozeß von Hilfeplanung, VollzugsplanSteuerung der Einzelfälle und interdisziplinärer Zusammenarbeit (zu Diagnosen, Prognosen und Evaluation s. o. ). 10. Ergebnis Konzepte, die den ’pädagogischen Umgang mit hochdelinquenten Minderjährigen’ realitätsbezogen und angemessen begründet gestalten wollen, müssen den Schwerpunkt auf strukturbezogene Rahmen- bedingungen, die Orientierung an der Jugendhilfe und nicht dem Strafrecht und eine interdisziplinäre individuelle Begründung legen. Erforderlich ist ein wechselseitiger Lernprozeß. Er beginnt bei den institutionell Verantwortlichen. Wie ist ein misstrauisches Kind erreichbar, das vor allem gelernt hat, zurückgewiesen zu werden? Wie kann ich es verstehen? Was muß in der sozialen Praxis verändert werden, um die Persönlichkeit zu stärken und soziales Handeln zu vermitteln? Das Strafrecht und entsprechende zusammenhanglose Eingriffe leisten das nicht, allenfalls in Ausnahmefällen. Gefährdeten Kindern muß geholfen, gefährlichen müssen Grenzen gesetzt werden. Doch dieses Gegenwirken bedarf des kundigen Wissens, in welcher Entwicklungsphase, in welcher Situation welche Maßnahme begründet erprobt werden soll. Dies ist die Basis, um erfolgreich Wissen zu vermitteln und prosoziales Verhalten zu stabilisieren. Sie ist überdies volkswirtschaftlich vernünftig.