als PDF - Flüchtlingsrat Niedersachsen

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als PDF - Flüchtlingsrat Niedersachsen
Inhaltsverzeichnis
• Matthias Lange: Vorwort
• Europa
• Hans Branscheidt: Rette sich, wer kann
• UNHCR: Asylsuchende in Westeuropa
• Komitee für Grundrechte und Demokratie Forschungsges. Flucht u. Migration:
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•
Ortsbestimmung menschenrechtlich-demokratischer Politik
• Italien 1995
• Kum'a Ndumbe III.: Afrika fordert das Recht auf Überleben
• amnesty international: Mindeststandarts für Asylverfahren
Bürgerkriegsflüchtlinge aus Jugoslawien
• Bethscheider/ Koller/ Berwig: ... zur Rückkehr kroatischer Flüchtlinge
• Michael Eberstein: Katholische Bosnier zurück ins Ungewisse
• Victor Pfaff: ... zur rechtlichen Behandlung von Kriegs- und
Bürgerkriegsflüchtlingen
• Niedersächsisches Innenministerium: Verteilung von Bürgerkriegsflüchtlingen aus
Bosnien-Herzog.
Flüchtlingsfrauen
• Abschlußber. AG 8 Basso-Tribunal: Flüchtlingsfrauen in der BRD
• Susanne Lipka: Zur Situation von Frauen in den ZASten
Asylrecht
• Statistik: Ausländische Flüchtlinge in der BRD
• Heiko Kaufmann: Das neue Asyl(un)recht
• Kai Weber: Gruppenverfolgung von Kosovo-Albanern
• EKD: ... zum Asylrecht
• Vera Gaserow: Kritik des Bundesverfassungsgerichts
• Bundesamt: Anerkennung Armenien nach § 51 AuslG
• Victor Pfaff: Anerkungen zur Drittstaatenregelung in Artikel 16 a II GG
• Kai Weber: VG Berlin: Polen kein "sicheres Drittland"
Kurdistan
• Ulrike Hennemuth: Überall ist Kurdistan
• Corinna Guttstadt: Diyabakir: Hauptstadt der Flüchtlinge
• Dokumentation: Abschiebungen aus der BRD in die Türkei
• medico international: Menschenrechtsdelegationen nach Kurdistan Newroz 1995
Schiebung und Abschiebung
• Flüchtlingsrat: Abschiebung von Kurden trotz Abschiebungsstopps
• George Hartwig: Abschiebung eines behinderten Mädchens
• Roma-Union Frankfurt: Offener Brief an den Landkreis Osnabrück
• Ellis Huber: Umgang mit Flüchtlingen von ärztlicher
• Schiebung und Abschiebung (Fortsetzung)
• Aktion Zuflucht: Verhindert Abschiebungen von Roma!
• Niedersächsisches Innenministerium: Kein Abschiebungsstopp für zairische
Flüchtlinge
• Kai Weber: Keine Abschiebungshaft bei russischem Flüchtling aus Lettland
• Kai Weber: VG Würzburg: Ausländerbehörde für Abschiebungshindernisse doch
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•
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zuständig
• Kai Weber/ Charles Keutel Abschiebungshaft nach 10-jährigem Aufenthalt
• BMI/Statistiken: Abschiebung von Flüchtlingen
• Kai Weber: Keine Abschiebungen nach Algerien?
• Jens Voitel: Ehescheidung von Staats wegen
• Heribert Prantl: Abschiebung nach Vietnam?
• Dr. Thilo Weichert: ... zurPaßbeschaffung vor Abschluß des Asylverfahrens
• Günther Haverkamp: Flughafen-Demonstration gegen Abschiebung
• Dokumentation: Roma im Bürgerasyl
Diskriminierung
• Joseph Stanlay/ Red Faye: Gedächtnisprotokoll von 2 liberianischer Flüchtlingen
• Erdem Anvari: Psychologische Auswirkungen ethnischer Diskriminierung
Kinderflüchtlinge
• IIK, Flüchtlingsrat und Koord. Flüchtl.sozialarb.: Presseerklärung: Unbegleitete
Minderjährige
• Petra Nolte-Ngom: Minderjährige Flüchtlinge in Hannover
Unterbringung und Verteilung von Flüchtlingen
• Weserkurier 03.12.94: Ein Regierungsdirektor macht Furore
• Flüchtlingsrat Niedersachsen: Aufsichtsbeschwerde über die Bez.Reg. Weser-Ems
• Nds. Innenministerium: Antwort: Mindeststandarts der Unterbringung dürfen im
Einzelfall unterschritten werden
• Werngard Binsch-Terner: ZASt Langenhagen: Flüchtlinge klagen über
unzumutbare Lebensbedingungen
• Dokumentation: Forderungen der Bewohner/-innen der ZASt Langenhagen
• Niedersächsisches Innenministerium: Kabinettsvorlage: Zentrale Anlaufstellen für
Asylbewerberinnen und Asylbewerber
Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG)
• Kai Weber: Umsetzung des AsylbLG in Niedersachsen (Tabelle)
• AK Asyl Arnum: Brief zum AsylbLG
• Georg Classen: Absichten des nds. Innenministeriums zum AsylbLG
• Eckhard Spoo: Gutscheine u. Sammellager
• Ausländerkommission
• Erdem Anvari: 3. Sitzung der Ausländerkommission
• Materialien, Broschüren und Bücher
Vorwort
von Matthias Lange
Mit diesem Heft geht unser Rundbrief in
den vierten Jahrgang.
Wegen der Fülle an aktuellen Informati onen und politischen Ent-wicklungen in der
niedersäch-sischen Flüchtlingspolitik wird
dieses Schwerpunktheft zum Thema Europa als Doppelheft e rscheinen.
Unsere Rundbriefe haben in den letzten
Jahren zunehmende Resonanz bei den
ehren- und hauptamtlich in der Flüchtlingsarbeit Engagierten gefunden; erfreulich ist auch die Rezeption in der politisch
interessierten Öffentlichkeit und die Nutzung zu Weiterbildungszwecken in der
Erwachsenenbildung. Wir hoffen, durch
eine stärkere thematische Bündelung von
Themen, - wie im vorliegenden Heft -,
noch mehr Nutzungsmöglichkeiten für unsere Rundbriefe zu eröffnen.
Schwerpunktthema E UROPA
Das offenkundige Demokratiedefizit
bei der Durchsetzung der gegenwärtigen
europäischen Flüchtlings- und Asylpolitik
scheint niemanden in Bonn zu interessieren. Was bisher an europäischer Harmonisierung der Einwanderungs- und Asylpolitik geschah, war nicht das Werk eur opäischer Institutionen, schon gar nicht
des Europäischen Parlaments, sondern
nationaler Regierungen und ihrer Bürokratien. - Dabei haben die gewählten europäischen Gremien in den letzten Jahren
immer wieder ihren häufig entgegeng esetzten politischen Standpunkt deutlich
zum Ausdruck gebracht.
So drängte z.B. das Europäische
Parlament die EG-Kommission in ve rschiedenen Entschließungen zu einer
Harmonisierung der nationalen Einwanderungs- und Asylpolitiken unter Wahrung
menschenrechtlicher
Normen,
sozialrechtlicher und humanitärer Gesichts25/26-1995 RUNDBRIEF
3
punkte - beispielsweise in seiner Entschließung vom 18.11.1992, in der das
EP u.a. forderte:
- die Erarbeitung eines Status für Armutsund Kriegsflüchtlinge, die nicht durch die Genfer
Konvention und das New Yorker Protokoll geschützt werden;
- die Einrichtung eines Europäischen Fonds
für Flüchtlinge und die Erarbeitung eines Notplans für die Aufnahme und ausgewogene
Verteilung von Flüchtlingen auf die Mitgliedsstaaten;
- die Anerkennung, daß die Roma und Sinti
in Mittel- und Osteuropa "stark diskriminiert
sind und besondere Aufmerksamkeit verdienen";
- die Durchführung von Informationskampagnen innerhalb der EU, um Verständnis für die
Beweggründe der Zuwanderer zu wecken und
ihre schwierige Lebenssituation besser zu begreifen, sowie eine entschlossene Unterbindung ausländerfeindlicher Gewalttaten;
- die Erteilung eines Visums an "alle Bürger
aus Nicht-EU-Staaten, die ein EU-Visum beantragen";
- die Gewährung "derselben sozialen Rechte" an legal in der EU ansässige Bürger aus
Drittländern wie sie zu- und abwandernde Gemeinschafts-bürger besitzen;
- die Ausarbeitung einer europäi-schen Einwanderungscharta.
Die Maßnahmen zur Abschottung der
"Festung Europa" haben sich, wie wir
täglich erleben, weit von den Forderungen
des Europäischen Parlaments entfernt.
Künftige Konzeption
Eine wichtige Aufgabe des Flüchtlingsrats in diesem Jahr muß meiner
Ansicht nach in der Erarbeitung einer
Konzeption für die künftige Flüchtlingsarbeit in Niedersachsen sein. Eines der
Standbeine der Flüchtlingsarbeit sind die
hauptamtlichen FlüchtlingssozialarbeiterInnen, die für die dezentral in Niedersachsen lebenden Flüchtlinge zuständig
sind. Die Diskussionen über massive
Kürzungen in diesem Bereich haben im
letzten Jahr zu einer spürbaren Lähmung
dieser Arbeit geführt. Heute kann von einer "flächen-deckenden Versorgung" der
Flüchtlinge nicht mehr gesprochen we rden.
Es muß unser Interesse sein, hier zu
einer Diskussion über mögliche Umstrukturierungs- und Effektivierungsmaßnahmen zu kommen. Aus diesem Grunde
haben wir mit dem letzten MitgliederRundschreiben eine Umfrageaktion gestartet: Ich hoffe, daß wir durch einen
Austausch über die Erfahrungen mit dieser Arbeit in den letzten Jahren dahin
kommen, daß wir ein fachlich qualifiziertes und politisch ausgewiesenes Konzept
zur Neustrukturierung von Flüchtlingsarbeit in Niedersachsen werden ausarbeiten können. Darum hier zunächst einmal
der Aufruf: Beteiligt Euch bitte an der
Umfrage.
ben wir dabei dem dreiköpfigen Vorstand
einen Beirat an die Seite gestellt. Insgesamt gesehen eine ziemlich große und
"reprä-sentative" Gruppe. Dies verdeutlicht in meinen Augen eine sehr positive
Entwicklung, die die Verankerung des
Flüchtlingsrats in wesentlichen der für unsere Themen zentralen gesellschaftlichen
Bereichen dokumentiert.
Diese Tragfähigkeit wird angesichts
der zu erwartenden Umstrukturierungen
im flüchtlingspolitischen Bereich und
des massiven ROLL BACK in der offiz iellen niedersächsi-schen Flüchtlingspolitik dringend b enötigt.
Um die Präsenz des Flüchtlingsrat im
Flächenland Niedersachsen zu verbessern, haben wir auf der Jahreshauptve rsammlung die Einrichtung eines neuen
Büros im Nordteil des Landes ins Auge
gefaßt; Vorschläge dazu sind sehr willkommen.
Jahreshauptversammlung 95
Auf der hannoverschen Mitgliedervollversammlung im Januar haben wir einen
neuen Vorstand gewählt; erstmals ha-
Rette sich, wer kann
von Hans Branscheidt1
Was hier sich ereignet, signalisiert uns, daß Gefahr
1Hans Branscheidt ist Geschäftsführer von
medico-international. Der folgende Text ist
eine um die Einleitungspassage gekürzte
Fassung des Eröffnungsvortrags vor dem
Basso-Tribunal.
4
im Verzuge ist. Daß elementare Rechte verletzt
werden und Menschen bedroht sind. Dafür haben wir
erklärungsstiftend
aushilfsweise einige rechtliche
und politische Kategorien
zur Verfügung, bei deren
sicher notwendigen Anwendung wir alsbald merken, daß sie begrifflich
nicht für eine umfassende
Erkenntnis der Vorgänge
ausreichen.
„Die Grenzen auf!“
Ich lese ein aktuelles
Memorandum des Auswä rtigen Amtes anläßlich der
Außenministerkonferenz zu
Südafrika in Berlin. Es ist
RUNDBRIEF
25/26-1995
überschrieben mit: „Die
Grenzen auf!“ - und fordert
in diesem Tenor ungehi nderte cross border Initiativen von Wirtschaft, Tourismus und Handelsve rkehr, beschränkungslos in
seiner Radikalität bezü glich der Forderung auf Öffnung aller Grenzen.
nicht auszog. Er hatte die
neurotische Krankheit wohl
von seinem Vater, der als
einer der Stifter der modernen
Kolonialmedizin
und Chef des französischen Hygienewesens den
Begriff vom Cordon sanitäre erfunden und brutal exekutiert hatte.
„Die Grenzen zu!“
Je ungerechter die
Verhältnisse
zwischen
den Menschen der Erde,
um so mehr muß sortiert,
klassifiziert, erfaßt, gekennzeich-net, separiert,
parzelliert und interniert
werden.
Ich lese den Jahresbericht des Bundesinnenm inisteriums aus 93, metaphorisch überschrieben mit
dem Titel: „Die Grenzen
zu!“ und dem Hinweis darauf, daß allein 230 Milli onen DM zur Sicherung der
deutschen Ostgrenzen veranschlagt werden, um diese vor unerwünschten Eindringlingen zu schließen.
Der Gesundheitsgürtel
Begrifflich taugt wohl nur
das komplexe Wort vom
Cordon sanitaire, vom Gesundheitsgürtel, als Stichwort
der
Beschreibung
dieser modernen Welt: Die
„gesunden“ und die „maladen“ Parteien der Erde
sollen immer deutlicher
markiert und identifiziert
werden, wo es um den eigenen Schutz und die Sicherung der Interessen
geht. Daher gleicht auch
das Bild der zeitgenössischen Menschen der reichen Länder immer mehr
dem der hypersensiblen
Leiden des Begründers
der modernen Romanthe orie, Marcel Proust, der aus
Furcht vor ungewollten Berührungen und Infektionen
auch bei öffentlichen Anlässen seine Handschuhe
und den dicken Pelzmantel
25/26-1995 RUNDBRIEF
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Die traditionellen Sicherheitssysteme werden
heute auf hochtechnisierte
Weise im Weltmaßstab
verwirklicht.
Das
Wirtschaften und die Politik der
Reichen haben in einem so
verheerenden Maße „gesiegt“, daß für dieses fragile System nahezu alles
anfällig und unsicher geworden ist. Dauernde Prävention ist deshalb ang esagt in Form von Siche rheits- und Identifizierungschleusen für alle Menschen. Die Aufteilung der
Welt in sicher-kompatible
und
unsichernichtkompatible
Terrains
folgt der einen einzigen
Logik der durchgreifenden
Gestaltung von
Siche rheitskordonen.
Nach Außen wie nach
Innen werden ganze Kataloge von Merkmalen aufg estellt, die das „Gute“ vom
„Bösen“ oder „Verdächtigen“
und
„Unsicheren“
scheiden halfen sollen.
Das oberste Sicherheitsprin-zip lautet: „Isolierung“
der Risiko-menschen.
Schon heute lebt die Gruppe der Führungspersönlichkeiten der west-lichen
Welt unendlich weit von
allen anderen entfernt. Sie
residieren in Hochsiche rheitsbüros, umgeben von
Identitätsschleusen
und
mehrfach sicherheitsüberpüften
Wächtern.
Aber
auch
ganz
allgemein
wächst der isolierte und
isolierbare Raum in uns eren Gesellschaften.
Überall wird die Trennung in autorisierte und
nichtautorisierte Personen
eingeführt. Die Auswahlkriterien für die Eignung
greifen dabei immer mehr
in die Intim-sphäre des
Einzelnen ein, in die soziale Verfaßtheit und in die
Befindlichkeit seines Körpers und sei-nes Geistes.
Die
„Unverdächtigen“
schließen sich in keimfreie
Bezirke ein: alles Äußere,
so es nicht positiv identifizierbar ist, wird generell
zum potentiellen Risiko.
Die Spitzelsysteme konzentrieren sich in diesem
Klima auf ganz neue Observationsgebiete: begehrt
sind die Dateien von Krankenkassen, Sozial- und
Gesundheitsämtern.
Es erläutert dies die
angstgeladene Zerbrechlichkeit der grenzenlosen
Weltwarengesellschaft, die
in ihrer aseptischen Sens ibilität gegenüber der sozialen und menschlichen
Infektion immer progressiver zum Mittel der Isoli erung und Internierung, der
Aus- und Einschließung
greift; es sei denn, etwas
geschehe zu ihrem Nutzen,
- dann haben die Grenzen
weit offen zu sein.
Klar und konkret erkennbar ist das am Vollzug der
deutschen
Entwicklung spolitik, die an die Verwirklichung
menschenrechtlicher Bedingungen in den
Vertragsländern gebunden
ist. Das sogenannte Kohärenzgebot für die Vergabe
staatlicher Mittel wird dabei um so strenger eing ehalten, je kleiner und ärmer-unbedeutend ein afrikanisches Staatswesen ist.
Gegenüber den wirtschaftlich relevanten Partnern
Türkei, Volkschina oder
dem Iran werden solche
Auflagen routiniert rücksichtslos verletzt.
Der soziale Krieg auf dem
Weg in das Jahr 2000
Der soziale Kriegszustand, auf den die auf der
Wanderschaft begriffenen
Armen reagieren, das ist
die ungeheure einseitige
Akkumulation von Reichtum, Wissen und Macht,
die uns instandgesetzt hat,
den Angriff gegen die Natur, und damit auch gegen
uns selbst, auf allen Ebenen und mit allen Kons equenten zu führen.
200 Jahre Freie Marktwirtschaft haben den Globus sturmreif geschossen.
200 Jahre haben selbst zu
relativen
Friedenszeiten
ergeben, daß der Zusammenhang von Ökonomie
und Moral, der den Individuen bis ins 18. Jahrhundert gegenwärtig ist, vollständig zerrissen wurde.
200 Jahre Wirtschaftsliberalismus haben vollbracht,
daß dem Menschen die
Natur, die äußere wie seine eigene, so gleichgültig
geworden ist, daß er sie
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als reine Sache des Verzehrs zu betrachten gelernt
hat.
Daß solche kannibalistische Biologik sich heute
gegen ihrer triumphialistischen Verursacher selber
kehrt, - das erleben diese
nun als Bedrohung ihrer
apartheitdähnlichen Privilegien, weswegen sie gegen
den
bedrohlichen
Flüchtling, wie die USA an
den Grenzen zu Mexiko,
ein System von Stahlbarrieren und Elektrozäunen
errichten, wogegen sich
die dunklen Mauern des
Erich Honecker wie unb edeutende Vorarbeiten ausnehmen.
Wieviele
Erwachsene
der Weltmarkt jährlich auf
dem „Gewissen“ hat, weiß
man nicht genau, fest steht
die Zahl von 500 Millionen
Menschen, die an Hunger
leiden. Seuchen und Bürgerkriege sind nicht allein
Sache der Ökonomie aber ohne die vom Weltmarkt produzierten Slums
von Lima gäbe es keine
Choleraepidemie,
ohne
den mörderischen Verfall
der Produktpreise kein
Gemetzel in den Monokulturen Ruandas oder Burundis, und der Aids-Genozid
in Afrika würde ohne die
Millionen Wanderarbeiter
eher seine Grenzen fi nden.
Die UNO erklärte die
80er Jahre zum „Jahrzehnt
der Entwicklung“. Am Ende
des Jahrzehnts war die
Zahl der „ärmsten Länder“
von 31 auf 41 angestiegen.
Ganz Lateinamerika ist
wirtschaftlich auf das Niveau von 1970 zurückgefallen; Afrika ist heute so
arm wie 1960 - oder noch
viel ärmer. Gleichzeitig
gibt es keinen Winkel der
Erde, in dem nicht für den
Weltmarkt produziert wü rde, in dem dieser nicht
über Lohn, Preis und Gewinn herrschte.
Der Siegeszug der Freien Marktwirtsdchaft hat
nicht nur bisherige auf
Selbstversorgung und Sozialwirtschaft gegründete
Struk-turen vernichtet, sondern auch die letzten Versuche kollektiver Selbstb ehauptung mittels Preispolitik beendet.
Diese Bestandsaufna hme spricht eindeutig für
die Betroffenen: und in der
Tat ist das „Gefährliche“
daran, daß sie als Flüchtlinge alle Beweise gegen
uns in den Händen haben,
ganz gleich zu welcher
Asylgesetzgebung
man
sich seitens der Politik
entschließt, die Mensche nrechte ohnehin immer nur
dann kennt, wenn diese
marktförmig passabel sind.
Da aber auf dem Markt,
der Menschenrechte propagiert,
Menschen
per
Prinzip nur dann Recht erhalten, wenn sie am Wirtschaftsprozeß teilnehmen
können, steht den meisten
von ihnen die konkrete
Humanität verbindlich nicht
zur Verfügung. Weil sie
hier nichts anzubieten haben und immer weniger
anbieten können, werden
sie per Definition überzä hlig und überflüssig. Um so
gefährlicher erscheint ihr
aus
Armut
geborenes
Wachstum - und der Gedanke an ihre massenhafte
Abschaffung liegt schon
wieder in aller Munde.
Wenn man nämlich nur
die Armut aus der Armut
und den Reichtum aus dem
RUNDBRIEF
25/26-1995
Reichtum erklärt - ist man
niemandem etwas schuldig. Und die Armut ist dann
am
einfachsten
abzuschaffen, wenn man die
Armen a bschafft.
weltweiten direkten wie indirekten Zwangs zur Mobilität in den künstlich neu
gezogenen Grenzen einer
zugleich grenzenlos gewordenen Welt.
Solidarische Welt oder absolute Barbarei
Die Menschenrechte verstehen sich keineswegs
von selbst
Am Ende des Jahrta usends stellt sich die Alte rnative klarer als je zuvor:
Solidarische Welt oder absolute Barbarei! Das Stä ndige Tribunal der Völker,
das nun beginnt, präsentiert Beweise für das Unrecht reicher Länder, es
untersucht,
begutachtet,
würdigt rechtlich - und wird
zu seinem Ergebnis kommen. Das ist gut so - und
muß unbedingt auch so
sein.
Doch
versäumen
wir
nicht, das Urteil begle itend, auch unsere menschenrechtliche Position zu
bestimmen hinsichtlich des
25/26-1995 RUNDBRIEF
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Die menschenrechtliche
Orientierung versteht sich
bei uns allen schon fast
von selbst, von den Vereinten Nationen bis zu den
Einzelregierungen hinunter
- nur die Menschenrechte
verstehen sich keineswegs
von selbst. Sie müssen
nicht nur ergänzt werden,
sozial und kollektiv, weil
sie Gruppen wie Individuen
zur Verfügung zu stehen
haben, sie sind nicht nur zu
erweitern für Kriegs- und
Katastrophenflüchtlinge,
sie müssen nicht nur Binnenflüchtlingen auch im
Namen des UNHCR zuste-
hen, und nicht nur unbedingt geschlechtsbedingte
Gründe der Flucht und
Wanderung
würdigen.
Menschenrechte bedürfen
vor allem ihrer sozialen
Unterkellerung. Sie sind
materielle wie historische
Aktivrechte, keine passiven Ornamente. Würdig ist
der Mensch nur dann, wenn
er sich selbst seine Würde
entsprechend bewahren, ja
schaffen kann. „Zur Würde
gehört die Ekstase des
aufrechten Gangs“ (Ernst
Bloch).
Die Aufforderung zur
radikalen
Veränderung
zielt auf das Leben, das
Wesen und das Produzieren der Menschen in
den reichen Ländern.
Diese Erkenntnis muß
zum wichtigen Teil unserer Erkenntnis und Urteilsfindung werden.
Asylsuchende
in Westeuropa
die Zahlen auf Erwachs ene, auf Hauptantragsteller
(“Fälle”) oder auf alle Personen beziehen.
In
manchen
Staaten
1. Einleitung
werden Asylsuchende nicht
zu den normalen AnerkenDieser Text gibt einen Über- nungsverfahren
zugelasblick über die Asylanträge und sen, weil sie aus einen
-ver-fahren
in
Westeuro- Land kommen, das als “sipa[S1][S2] (EU-Staaten ohne cher” eingestuft ist, oder
Irland und Luxemburg; Schweiz durch ein solches gereist
und Norwegen) von 1987 bis sind. Andere werden an
der Grenze als undocuSeptember 1994.
Die Analyse der nationalen mented migrants zurückgewiesen oder es wird Statistiken über Asylsuchende durch die Auflagen der
und Asylverfahren wirft hierbei Transportunternehmen
eine Reihe von Fragen auf.
bereits die Reise verhi nErstens gibt es keinen dert. In den meisten Fällen
allgemeine Standards für ist es unklar, ob diese
die Aufnahme, Zusammen- Asylsuchenden, denen der
stellung und Verbreitung Zugang zu den Verfahren
dieser Statistiken. Daraus aus diesen oder ähnlichen
resultiert, daß sie in Hä u- Gründen verwehrt wird, in
figkeit, Form und Band- die Statistiken einbezogen
breite sich von Staat zu werden.
Staat erheblich variieren.
Da die Länder in unte rZum Beispiel fließen in ei- schiedlichen
Abständen
nigen Ländern, darunter berichten, wurden die DaDänemark und Frankreich, ten für 1994 durch die
Wiedereingliederungen in Verwendung
monatlicher
die Asylstatistiken ein und Durchschnittszahlen
zu
beeinflussen so die Zahl 1993
vergleichbar
geder Anträge und der positi- macht. Das heißt, die Geven Entscheidungen.
samtzahl aller Asylsuche nZweitens ist es oft nicht den seit dem 01.01.1994
klar, wer gezählt wird und wurde durch die Zahl der
wer nicht. So können sich Monate geteilt, für die
Daten vorlagen. So wurde
1 Dieser Text wurde am 1. November 1994
ein Wert für 1994 extrapovom UNHCR veröffentlicht; Originalsprache:
liert. Da jedoch die Zahlen
Ein statistischer Überblick des
UNHCR1
für 1994 von einigen wenigen Ländern bei der Erstellung dieses Berichtes
noch nicht vorlagen, sind
die
Beobachtungen
für
1994 vorläufig.
Die
Statistiken
ve rschiedener Länder zu ve rgleichen wird noch schwi eriger, wenn man zu den
Zahlen für die Asylverfa hren kommt. Da das procedere eines jeden solchen
Verfahrens zur Anerkennung auf nationalem Recht
basiert, sind die Vergleichsmöglichkeiten
beschränkt. Zum Beispiel
werden in Schweden die
Anträge von Bürgern ExJugoslawiens
individuell
behandelt, während einige
andere
europäischen
Staaten ihnen als Gruppe
zeitweisen Schutz gewä hren. Also tauchen ExJugoslawen,
eine
der
größten Gruppen von Asylsuchenden in den letzten
Jahren, in den schwedischen Statistiken auf, wä hrend sie das in anderen
Länder oft nicht tun.
Im folgenden wurden die
Anerkennungsraten errechnet, indem die Zahl der
Anerkennungen durch die
Summe der Anerkennungen und Ablehnungen geteilt wurde.
Englisch, Übers.: Gunnar Lott.
8
RUNDBRIEF
25/26-1995
2. Trends bei den Asylanträgen
Von 1987 bis 1993 stieg
die Zahl der Asylsuche nden in Europa von 179.000
auf 549.000 pro Jahr, wobei die Spitze 1992 mit
684.000 Personen erreicht
wurde. Die Zahlen für 1994
liegen (soweit sie vorli egen) ca. 40% unter denen
von 1993: pro Monat kamen 26.300 Asylsuchende
gegenüber 45.700 1993.
Danach liegt die Gesamtzahl 1994 bei ca. 310.000
- 320.000.
Wie in früheren Jahren
entfällt auf Deutschland
1994
der
zahlenmäßig
größte Anteil. Dennoch ist
der
prozentuale
Anteil
Deutschlands seit 1992,
als auf die Bundesrepublik
64% aller Asylsuchenden in
Europa entfielen (438.000
von 684.000), stark gesunken. Zur Zeit liegt der Anteil Deutschlands bei 41%
und damit etwa in der Größenordnung
der
Jahre
1988-91 und signifikant
niedriger als 1993 (59%).
Auf
die
Niederlande
entfällt der zweitgrößte
Anteil:
durchschnittlich
4.400
von
monatlich
26.300, oder 17%, was
dreimal mehr ist als 1993.
Nach
Großbritannien,
Frankreich und Schweden
kamen je ca. 7-9% aller
Asylsuchenden im Jahr
1994. Die Zahlen für
Großbritannien
basieren
jedoch auf Fällen; die ta tsächliche Zahl dürfte um
den Faktor 1,5 höher li egen.
Die wesentlichsten Veränderungen bezüglich der
25/26-1995 RUNDBRIEF
9
Asylanträge 1994 zu 1993
kann man wie folgt zusammenfassen:
- Belgien, Dänemark,
Finnland,
Deutschland,
Norwegen und Schweden
erlebten einen überdurchschnittlichen Rückgang der
Zahlen (minus 42%)
- in Österreich, Frankreich und Spanien gingen
die
Zahlen
unterdurchschnittlich zurück, und
- Italien und besonders
die Niederlande und Großbritannien erfuhren eine
Steigerung der monatlichen Durchschnittsza hlen.
3. Trends in den Asylverfahren
Von 1989 bis 1993 erhielten etwa 171.000 Asylsuchende
den
Status
Flüchtling nach der Konvention der UN von 1951.
Die jährliche Zahl von Anerkennungen
stieg
von
27.500
(1989-90)
auf
47.000 (1993). Die größte
Zahl der Anerkennungen
entfiel auf Frankreich: ca.
59.000 oder 35% aller Anerkennungen in Europa;
gefolgt von Deutschland
(50.000 oder 29%) und den
Niederlanden (18.000 oder
10%)[S3]. Die Zahlen für
die
restlichen
europäischen Staaten liegen jeweils unter 10.000.
Im gleichen Zeitraum
wurden etwa 1,4 Millionen
Asylanträge in Europa abgelehnt. Von diesen wurden 59% in Deutschland
abgelehnt, 15% in Frankreich, 7% in der Schweiz
und je 5% von Österreich
und den Niederla nden.
1989 bis 1993 wurde
11% aller Asylanträge in
Europa stattgegeben. Die
Anerkennungsrate fiel dabei von etwa 15% 1989 auf
10% 1993.
Obwohl die Anerkennungsraten sich von Land
zu Land signifikant unte rscheiden, sollte man bei
deren Bewertung aus den
in der Einleitung ang eführten Gründen Vorsicht
walten lassen. Die Ane rkennungsraten 1989-93 la gen über dem Durchschnitt
in Belgien (32%), Schweden
(29%),
Frankreich
(22%),
den
Niederla nden(20%) Portugal und
Großbritannien (je 16%),
und Norwegen (12%). Unter dem Durchschnitt lagen
sie in Italien (8%), der
Schweiz (7%), Deutschland
und Griechenland (je 6%),
Spanien (2%) und Finnland
(1%). In Österreich lagen
der Anteil der positiven
Entscheidungen ungefähr
im europäischen Durchschnitt und für Dänemark
kann die Rate nicht berechnet werden, da keine
Zahlen über die Ablehnun-
ELIKYA
(Hoffnung )
Null - Nummer
frz. - dt. Zeitung von
zairischen
Flüchtlingen in und für Niedersachsen
Preis (28 Seiten): 2,50
DM
zu beziehen bei: ELYKIA, c/o Asyl e.V., Lessingstr. 1, 31134 Hi ldesheim
gen vorliegen.
ciale Spaziokamino hi nkommen, deren Zentrum
wurde ja von den Naziskins
abgebrannt. Obwohl der
Ort ja ziemlich groß ist,
reichte er bald nicht mehr
aus, um alle ankommenden
Migranten unterzubringen.
Wir wußten von diesen
Wohnblocks und haben die
dann einfach besetzt. Bevor wir reinkonnten, mußten wir allerdings die Malavita-Banden vertreiben, die
die Gebäude für ihre Geschäfte
genutzt
haben.
Diese Gegend liegt ja
ziemlich ab von anderen
Siedlungen, die Polizei
kam nie hierher, die hatte
Angst. Nicht aus Zufall waren hier die Dealer und
Glatzköpfe, die in Ostia
recht stark und gut organisiert sind. Wir hatten mit
denen auch richtige Zusammenstöße, aber zum
Schluß ist es uns gelungen,
sie zu vertreiben."
Amina, in Block "C", ist
eine ca. 50jährige Frau
aus der marokkanischen
Stadt Fes. Nach der Rä umung des Zentrums Prenestino wurde sie von der
Stadtteilverwaltung in ein
Aufnahmelager in der Gegend von San Giovanni
verlegt. Aber der "Aufenthalt" dort war für sie immens teuer. "Für ein Bett
in einem Raum, den ich mir
mit fünf anderen Personen
teilte, mußten wir jeweils
350.000 Lire (ca. 350 DM)
zahlen. Ich habe fünf Kinder, wir konnten das nicht
zahlen. Hier nach Ostia bin
ich im Sommer 93 gekommen. Eine Freundin hatte
mir von anderen Personen
erzählt, die dieselben Probleme hatten, und die habe
ich dann häufiger besucht..." Die Frau wohnt
seit 14 Jahren in Italien,
fast alle ihre Kinder sind in
Italien geboren. Alle Anträ-
ge auf eine Sozialwohnung
wurden abgelehnt.
Weitere Informationen
zur Februar- Demonstration, zu Erfahrungen der
MigrantInnenbewegung
und zur Legalisierungsdiskussion in:
- il mese, 1/95. suppl al
n. del manifesto und- il
manifesto, 5.2.95.
Lesehinweise:
caffé
(Rom),
Senzaconfine
(Rom), Mondialità (Brescia), Terzo Mondo informazioni (Torino), Confronto
(Fonte), Terra nuova Forum
(Rom), Sud/sud (Teggio
Calabria), Amanecer (Calvagese), Sial (Verona), Il
Calendario
del
Popolo
(Mailand), Partecipazione
(Lungro), La Terra vista
dalla Luna (Rom).
Afrika fordert von Europa
das Recht auf Überleben
von Kum´a Ndumbe III.
1
Von meinem chinesischen
Freund lernte ich und beherzigte dieses Sprichwort
aus seinem Land: ”Von
dreißig Möglichkeiten, ei1 Kum´a Ndumbe III. ist Professor an der
Université de Yaounde und Gastprofessor
FU-Berlin. 1981-1991 Präsident des Schriftstellerverbandes Kameruns. Der folgende
Text wurde als Vortrag am 9.12.1994 im
Rahmen des Basso Tribunals in Berlin gehalten.
22
ner Gefahr zu entkommen,
ist wegrennen die beste.”
Viele von uns rennen und
rennen weg von der He imat, und finden doch ni rgends wieder eine Heimat.
Und doch sehnt sich jeder
Mensch nach Geborgenheit
in der vertrauten Heimat.
Fluchtwellen aber überfluten fremde Staatsgrenzen
bei uns in Afrika. Lassen
Sie mich hauptsächlich von
diesem Kontinent reden,
da über 40% der Flüchtli n-
ge aus dem Süden sich
hier konze ntrieren.
Von 300.000 im Una bhängigkeitsjahr
1960
sprang die Zahl der Flüchtlinge auf 3 Millionen 1980
und 1990 waren es schon
knappe 5 Millionen Menschen, die innerhalb Afrika
von Land zu Land wegrennen, um überleben zu können.
Die katastrophale Situation in den meisten afrikanischen Staaten berechtigt
RUNDBRIEF
25/26-1995
zu einer Frage, die immer
wieder gestellt wird: Wieso
schaffen es diese Afrikaner nicht in den eigenen
Staaten Recht und Ordnung
zu schaffen und Wohlstand
für die Bevölkerung zu gewährleisten, da sie seit
über 30 Jahren doch selbständig geworden sind und
ihre Geschäfte selbst ve rwalten? Beantworten wir
diese Grundsatzfrage, so
werden die Fluchtgründe
aus diesem Kontinent des
Südens auch ersichtlich.
Afrika ist ein Konzept Europas
Seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts und
bis zur Stunde ist Afrika
hauptsächlich ein strukturelles Konzept Europas
und seiner Verbündeten.
Gebündelt
ausgedrückt
heißt es also: Afrika ist ein
Konzept Europas. Dies
bedeutet: Es ist den Afrikanern seit der massiven
Begegnung mit Europa im
19. Jahrhundert nicht gelungen, aus Afrika ein Konzept der Afrikaner zu machen.
Mit anderen Worten: Seit
der kolonialen Invasion, die
selbst eine konsequente
Folge des über dreihundertjährigen
transatlantischen Sklavenhandels war,
ist es den Afrikanern bis
zur Stunde nicht gelungen,
die Herrschaft Europas
über Afrika wesentlich abzuschütteln
und
das
Schicksal ihres Kontinents
in entscheidendem Maße
selbst in die Hand zu ne hmen. Um diese These zu
diskutieren, möchte ich
mich heute nur auf die wirt25/26-1995 RUNDBRIEF
23
schaftspolitische Dimens ion beschränken.
Ich kenne sehr gut die
Reaktion vieler Europäer,
die darauf allergisch reagieren, wenn es darum
geht, historische Hinte rgründe der katastrophalen
Situation in Afrika zu analysieren. Thesen, die sich
auf die 30 Jahre Unabhä ngigkeit afrikanischer Länder beschränken und we lche die angeblich bessere
wirtschaftliche Situation in
der Kolonialzeit, verglichen
zu heute hervortun, oder
jene
Erklärungsmuster,
welche auf die Unfähigkeit
afrikanischer Eliten pochen, genießen in Europa
die Gunst der Medien und
der breiten Öffentlichkeit.
Die
Unzulänglichkeit
dieser Thesen und Erklärungsmuster besteht darin,
daß sie sich mit Teilanalysen begnügen und sich
bewußt oder unbewußt vor
einer Auseinandersetzung
drücken. Eine Globalanalyse bedingt jedoch, daß alle
wesentlichen Aspekte in
die Untersuchung miteinbezogen werden. Warum
behaupte ich, daß Afrika
seit der massiven Begegnung mit Europa ein Konzept Europas war und geblieben ist? Fangen wir mit
dem 19. Jahrhundert an.
Die Zeit der ausgeglichenen
Beziehungen
Im Bewußtsein vieler
Menschen fangen die Beziehungen zwischen Afrika
und Europa im 19. Jahrhundert an. Es sei nur kurz
daran erinnert, daß unsere
Beziehungen schon zur Zeit
des altägyptischen Re iches besta nden.
Hier einige Beispiele:
Platon, der 348 vor Christi
Geburt starb, verbrachte
dreizehn Jahre in Heliopolis, um in Geometrie und
Theologie eingeweiht zu
werden. Pythagoras blieb
über zwanzig Jahre in den
Tempeln
Ägyptens,
um
Geometrie und Astronomie
von afrikanischen Priestern
zu studieren. Nach der
ptolemäischen Eroberung
Ägyptens im Jahre 146 v.
C. wurde der Weg für den
römischen Einfluß in Afrika
im Jahre 100 n. C. geebnet. Äthiopien wurde sogar
schon im Jahre 333 christianisiert. Erst als die
Araber im Jahre 622
Ägypten unterwarfen und
sich dort ansiedelten, wurde der europäische Einfluß
wesentlich eingedämmt.
Die Beziehungen mit Europa wurden dennoch in
den darauffolgenden Jahren ausgebaut. So wurden
nicht nur Verträge unte rzeichnet, sondern auch
Botschafter
zwischen
Staaten des Mittelmeerraums ausgetauscht. Deshalb konnten z.B. Handelsverträge zwischen Aragon
und Marokko im Jahre
1274, zwischen Pisa und
Tunis 1157, zwischen Venedig und Tripolis 1251,
zwischen Mallorca und Bidjaha 1302 unterzeichnet
werden.
Handelsrouten,
welche vor der Entdeckung
der Seewege durch Vasco
da Gama Afrika mit Europa
verbanden, führten durch
die Sahara von Tripolis
nach Gao, von Tunis nach
Timbuktu, von Tlemcen
nach Jene oder von Kairo
nach Ife und Massawa.
Der Dreieckshandel und die
Europabestimmtheit der
afrikanischen Wirtschaft
Die wesentliche Änd erung in den Beziehungen
zwischen Afrika und Eur opa kam mit der technologischen Erneuerung in Eur opa, welche eine regelmäßige Schiffahrt zwischen
Afrika und Europa seit dem
15. Jahrhundert ermöglichte. Europa gewann einen ungeheuren Vorsprung
im geographischen Wissen
über die gesamte Erdoberfläche. Die erste große Konsequenz war die Invasion des amerikanischen
Kontinents, die fast völlige
Vernichtung der einheimischen Bevölkerung und die
uneingeschränkte
Übernahme der politischen und
wirtschaftlichen Macht.
Die Wirtschaft Amerikas
wurde neu strukturiert und
nach den Bedürfnissen europäischer Nationen orientiert. Das System der Ri esenplantagen wurde eingeführt, um Zucker Baumwolle und Tabak anzubauen und Rum für den europäischen Markt zu erze ugen. Zum ersten Mal wurde
die Wirtschaft Afrikas in
ihren Beziehungen zu Europa schwer erschüttert.
Diese Plantagen wurden
über drei Jahrhunderte
lang mit Sklaven aus Afrika
beliefert. Afrika verlor an
die hundert Millionen Arbeitskräfte, die an den
diesbezüglichen Raubzügen, Krankheiten, Transportschwierigkeiten
sta rben oder bis nach Amerika
gelangten und dort als
Sklaven arbeiteten. Nicht
nur das gesellschaftliche
und politische System afri24
kanischer
Königreiche
wurde
entscheidend
destabilisiert, die Wirtschaft geriet in diesem
Dreieckshandel allmählich
in eine starke Abhängigkeit von E uropa.
Mit dem transatlantischen Sklavenhandel wurde die Wirtschaft Afrikas
vom 16. bis zum 19. Jahrhundert nicht nur europaorientiert, sondern auch europabestimmt.
Gerade
diese Europabestimmtheit
der Wirtschaft verursachte
seinerzeit
kriegerische
Auseinandersetzungen
zwischen Nationen Eur opas und den europäischen
Emigranten in Amerika, die
dann zu Bildung und Unabhängigkeit amerikanischer
Staaten führte.
Die europäischen Emigranten restrukturierten die
Wirtschaft des eroberten
Amerikas nun zu ihren eigenen Gunsten und wiesen
Europa die Tür. Die USA
wurden 1776 unabhängig,
Brasilien 1822, Uruguay
1828 usw. Aber Europa
hatte sich ungeheuer bereichert und Kapital akkumuliert. Die technischen
Entdeckungen von Watt,
Cugnot, Fulton, Stephe nson und anderen im 18.
und frühen 19. Jahrhundert
machten die Stahlverarbeitung
möglich,
sie
brachten mit den industriellen Maschinen und den
neuen
Transportmöglichkeiten per Schiff und Bahn
neue Bedürfnisse für die
Wirtschaft Europas und eine weitere wesentliche Änderung der Beziehungen
zwischen Afrika und Eur opa. Mit der industriellen
Revolution,
die
vielen
Staaten in Europa erlaub-
te, mit Maschinen zu produzieren, mußten enorme
Rohstoffe heran, die in Europa nicht oder nicht genügend vorhanden waren.
Das 19. Jahrhundert in
Europa war aber von einem extremen Nationali smus mit chauvinistischen
Zügen
geprägt.
Jeder
wollte soviel wie nur möglich produzieren, aber nicht
vom Nachbarn kaufen. Jeder Staat in Europa empfand die Notwendigkeit,
über eigene souveräne
Rohstoffquellen und Absatzgebiete außerhalb des
Kontinents zu verfügen.
Nach den Unabhängigkeitskriegen in Amerika
kam dieser Kontinent für
Europa nicht mehr in Frage. Die in Amerika gesammelte Erfahrung von
der Ausrottung und unwiderrufliche
Entmachtung
der Ureinwohner bis zur
völligen Beherrschung des
Kontinents durch Europäer
konnte woanders erprobt
werden, um die neuen Bedürfnisse der Wirtschaft
Europas zu stillen. Der
technologische Vorsprung,
den die industrielle Revolution auch in der Waffe nherstellung
festnagelte,
ermöglichte den europäischen Staaten, durch eine
zunächst einsame, dann in
eine konzertierte Aggression Afrika und Asien zu
besiegen und zu kolonisieren.
Kolonialexpansion als Alternative für die Wirschaft
Europas
Die Europaorientiertheit
und
Europabestimmtheit
der Wirtschaft Afrikas, die
mit dem Sklavenhandel
RUNDBRIEF
25/26-1995
angesetzt
hatte,
wurde
durch die Kolonialisierung
nun systematisch ausgebaut.
Da im politischen System die Afrikaner als Besiegte im eigenen Land
völlig entmündigt wurden
und keinerlei
Teilnahme
an politischen oder wirtschaftlichen Entscheidungen haben durften, konnte
die Wirtschaft nach den
Bedürfnissen Europas uneingeschränkt
umstrukturiert werden. Die Plantagen, die die Europäer früher in Amerika eingerichtet
hatten, wurden nun in den
afrikanischen
Kolonien
eingeführt. Im großen Stil
und oft in Monokultur wurden Produkte angebaut,
die von der europäischen
Industrie gefordert wurden,
die aber in Afrika überhaupt nicht gebraucht wurden.
Wir kennen ja bis heute
noch die Kolonialprodukte
Baumwolle,
Kautschuk,
Kaffee, Kakao, Bananen
usw.
Mein Land Kamerun baut
sehr viel Kaffee an und
hängt auch vom Kaffeeve rkaufspreis stark ab, und
dies seit der Kolonialzeit.
Aber wenn Sie heute nach
Kamerun fahren, werden
sie merken, daß Werbung
dafür gemacht wird, daß
die Kameruner endlich mal
Kaffee trinken! Wir trinken
nämlich eher verschiedene
Kräutertees. Dafür aber
wurden keine Plantagen
eingerichtet. Die Plantagen
waren nicht für Lebensmittel der afrikanischen
Bevölkerung gedacht.
Mit den Plantagenprodukten und den Bodenschätzen versorgte Afrika
25/26-1995 RUNDBRIEF
25
die europäische Wirtschaft
fast ein ganzes Jahrhundert und wurde zum einträglichen Absatzmarkt europäischer
Industrieerzeugnisse.
Diese
koloniale
Arbeitsteilung zwischen Europa und Afrika wurde uns
radikal von 1884 bis nach
1960 mit militärischer Gewalt aufgezwungen. Afrika
konnte zu dieser Zeit weder eine Wirtschaft zum
Nutzen der eigenen Bevö lkerung aufbauen, noch die
Spielregel der Wirtschaftsbeziehungen mit Europa
oder der von Europa damals völlig beherrschten
Außenwelt mitbestimmen.
Produktion, Märkte und
Preise afrikanischer Waren
im In- und Ausland wurden
ausschließlich von Europa
diktiert.
Europäische
Wirtschaftsexperten schrieben,
Afrika wäre der natürliche,
koloniale oder tropische
Ergänzungsraum Europas.
1960: Das Jahr der afrikanischen Unabhängigkeiten
1960
erwähnte
ich
schon. Endlich bin ich zu
dem berühmten Jahr der
afrikanischen Unabhängigkeiten gelangt! Ich habe
weit ausgeholt. Aber dadurch konnten wir die Europaorientierung und Europabestimmtheit der afrikanischen Wirtschaft seit
dem 16. Jahrhundert nachvollziehen.
Nun ließen die beiden
Weltkriege den Afrikanern
die Schwächen und die
Verwundbarkeit
europäischer Staaten erkennen.
Die
Unabhängigkeitsbewegungen
und
Kriege
zwangen die Kolonialmetropolen zum Nachgeben.
Die afrikanischen Staaten
wurden nach diesen Auseinandersetzungen in den
Sechzigern und späten
siebziger Jahren unabhä ngig. Gefahr drohte für Europa, nach den Unabhängigkeiten amerikanischer
Staaten im 18. und 19.
Jahrhundert zum zweiten
Mal die Loslösung eines
kolonialisierten Kontinents
ertragen zu müssen, zumal
auch Asien sich loszulösen
vermochte.
Nun ist aber Afrika der
unmittelbare Nachbarkontinent. Darüber hinaus wurde er nach dem zweiten
Weltkrieg von der NATO
als seine Südflanke und
natürliche
Einflußsphäre
eingestuft. Die weltweit
ausgebeuteten Rohstoffe,
die nach Europa verfrachtet werden, nehmen den
Weg des Suez-Kanals im
Norden oder des Kaps der
Guten Hoffnung im Süden,
um nach Europa zu gela ngen.
Afrika wurde nach dem
zweiten Weltkrieg, und vor
allem im Ost-West-Konflikt,
als lebenswichtige und unumgängliche strategische
Route für die Rohstoffve rsorgung Europas versta nden. Und solchen Ländern
soll das koloniale Weste uropa es gönnen, eine eigene starke, von Europa nicht
abhängige Wirtschaft aufzubauen, und dies zu einer
Zeit
der
unerbittlichen
Auseinandersetzung
mit
dem Ostblock? Dies entsprach keiner Realpolitik.
Wenn die Unabhängigkeiten in Afrika nicht aufzuhalten
waren,
dann
mußte eine politische Alternative g efunden werden.
Der NATO-Rat empfahl
deshalb den Mitgliedern
1957, afrikanische Kolonien nur unter einer Bedingung in die Unabhängigkeit
zu entlassen: strategische
Einrichtungen müssen unter Kontrolle Europas, und
ganz Afrika muß NATOEinflußgebiet bleiben.
In den meisten Ländern
wurden viele Führer der
Befreiungsbewegungen,
die eine Loslösung von Europa amstrebten, entweder
ermordet oder kaltgestellt.
Europa wohlgesinnte oder
von der Kolonialmetropole
aufgepäppelte
Politiker
wurden zu Staatspräsidenten der neuen Republiken gemacht. Sie mußten
ihre Funktion als die eines
Statthalters Europas ve rstehen, sonst wurden sie
durch einen Militärputsch
entfernt und ersetzt. Die
wenigen Poitiker, die für
eine Unabhängigkeit ohne
Bevormundung
Europas
plädierten und doch an die
Macht kommen konnten,
waren im afrikanischen
Kontext isoliert, internati onal als Extremisten ve rschrien und zu Kommunisten abgestempelt. Wie
sah nun die Wirtschaftsstruktur nach der Unabhä ngigkeit aus?
Die Europabestimmtheit in
der nachkolonialen Ära
Es genügt nicht, von einer generellen Europabestimmtheit oder Europaorientierung zu sprechen. Die
Europäer hatten die Unabhängigkeiten Afrikas so
vorbereitet, daß diesen
Ländern keine Möglichkeit
26
der Loslösung von der absoluten Abhängigkeit Europas gegeben wurde. Im
Oktober 1955 und im Oktober 1956 trafen sich
französische und deutsche
Experten in Neuenahr bei
Bonn, um über die Struktur
der wirtschaftlichen Bezi ehungen zwischen Afrika
und Europa im Falle einer
Europäischen Einigung und
einer poitischen Unabhä ngigkeit afrikanischer Länder zu beraten, und eine
konzertierte Aktion abzustimmen. Das Ergebnis
war die Assoziierung der
französischen
Kolonien
Afrikas, laut Artikel 101
und
131
des
EWGVertrags, der am 25. März
1957 in Rom unterzeichnet
wurde.
Die Anbindung Afrikas
an die europäische Wirtschaft geschah, bevor diese
Länder
unabhängig
wurden und entscheiden
konnten.
Visionäre Politiker wie
Kwame Nkrumah, Staatspräsident von Ghana ,
Sekou Toure, Staatspräsident von Guinea, Sir Abubakar Tafawa Balewa, Nigerias Premier Minister
oder Kaiser Haile Selassie
von Äthiopien werteten
diese Anbindung als Gefahr für die afrikanischen
Bestrebungen, sich nach
der Unabhängigkeit zu einigen und eine gemeins ame Wirtschaft aufzubauen.
Sie befürchteten, Europa
werde durch diese EWGAssoziierung eine indirekte, aber kollektive Koloni alisierung Afrikas vorne hmen. Die Strategie der Europäer erwies sich als
nachhaltig für die Anbindung Afrikas. Als diese
Länder unabhängig wurden
und neue Staaten bilden
konnten, wurden zusätzlich
andere bindende bilaterale
Wirtschaft- und Finazverträge mit den ehemaligen
Metropolen unterzeichnet.
Nachdem England 1973
der EWG beitrat, wurden
1975 die ehemaligen britischen Kolonien Afrikas mit
dem Lome´-I- Abkommen
auch an die EWG assoziiert. Deshalb spricht man
heute von 69 AKP-Staaten.
Das Ergebnis ist, daß ein
afrikanischer Staat, der
nicht zu dieser Gruppe gehören würde, in und außerhalb Afrikas völlig isoliert
wäre. Infolgedessen gehören sämtliche Staaten südlich der Sahara der AKPGruppe an, Südafrika wird
womöglich bald folgen.
Dieses Ergebnis will, daß
nach 34 Jahren Unabhä ngigkeit die ehemaligen
französischen
Kolonien
noch über keine eigen
Währung verfügen, und
sich bis heute noch in der
von
Paris
bestimmten
Franc-Zone bewegen.
Die Arbeitsteilung mit
Europa ist im wesentlichen
die gleiche wie zur Kolonialzeit geblieben. Die interne
Wirtschaftsstruktur
der afrikanischen Länder
ist immer noch landwirtschaftlich angelegt und so
aufgebaut, daß sie haup tsächlich
nach
europäischen Bedürfnissen gerichtet ist. Dies führt zu
Absurditäten. Agrarländer
müssen
Nahrungsmittel
importieren, weil sie Kolonialwaren für den Export
bereitstellen müssen. Die
Afrikaner liefern Rohstoffe
und Edelmetalle, die Eur opäer
produzieren
Ind uRUNDBRIEF
25/26-1995
striewaren. Die Märkte für
diese Waren werden von
den Europäern und ihren
Verbündeten geführt und
von ihnen werden die Import- und Exportpreise bestimmt.
Da
die
Wirtschaftsstruktur trotz Unabhängigkeit so geblieben
ist,
daß
afrikanische
Staaten bis Ende der Achtziger Jahre untereinander
zu kaum 7% wirtschaftlich
verkehren, mit der Eur opäischen Union aber zu
etwa 60% , kann die
disproporionale Europaorientierung und Europabestimmtheit der afrikanischen Wirtschaft nicht geleugnet werden.
Die Internationalisierung der
Europabestimmtheit Afrikas
Manche preisen diese
Abhängigkeit von Europa,
denn sie soll Entwicklung shilfe und Investitionen nach
Afrika bringen, sie soll sogar die schlechten Ha ndelsverhältnisse (Terms of
Trade) durch Sondermaßnahmen wie Stabex oder
Sysmin auffangen.
Afrika ist ein Konzept
Europas - auch, und vor
allem
wirtschaftlich,
so
lautet meine Hauptthese.
Die Anbindung an Europa
nach den Unabhängigkeiten war kein afrikanisches,
sondern ein europäisches
Konzept. Begriffe wie Entwicklung, Entwicklungshilfe
entsprangen nicht einer
afrikanischen Diskussion,
welche Wege bahnen sollte, um das eigene Schicksal wieder in den Griff zu
bekommen. Diese Begriffe
und die dazu erarbeiteten
Programme entstanden im
Westen, zur Zeit des Ost25/26-1995 RUNDBRIEF
27
West-Konfliktes, als es
darum ging, die Welt aufzuteilen
und
in
Einflußsphären zu sichern. Der
Osten reagierte und stellte
auch eigene Programme
auf.
Hatten denn die Afrikaner nach dem zweiten
Weltkrieg Europa gebeten,
Afrika zu entwickeln? So
viel ich weiß, forderten die
Afrikaner die Loslösung
der kolonialen Ketten und
der dazugehörigen wirtschaftlichen
Ausbeutung.
Stattdessen wurden aber
wirtschaftliche und fina nzielle Mechanismen erdacht, welche die den afrikanischen Völkern aufg ezwungenen Statthalter des
Westens, und dann des
Ostens noch fester im
Sattel halten sollten. Diese
überließen
den
euroamerikanischen Experten
die Wirtschaftsplanung und
sorgten hauptsächlich dafür, daß sie persönlich und
ihre Klientel zu einer unkontrollierten
maßlosen
Bereicherung
gelangen
konnten. Die wirtschaftliche Zukunft ihres Landes
war nicht ihre Hauptsorge,
zumal sie wußten, daß ihr
Verweilen an der Macht
nicht vom Willen ihres Volkes, sondern vom Wohlwollen fremder Mächte abhing.
Deshalb konnte die Investionsstruktur in Afrika
drei Jahrzehnte nach der
Unabhängigkeit sich wesentlich auf die Rohstoffsicherung Europas konze ntrieren. Diese Art der Wirtschaftsbeziehungen
zwischen Afrika und Europa
führte zu dem Paradoxon,
daß im Endeffekt mehr
Geld vom armen Afrika
zum reichen Europa und zu
anderen Industrienationen
floß als umgekehrt. Von
1979-89 erhielt Afrika insgesamt an Krediten, Entwicklungshilfe und Investitionen 128 Mrd.$. Die von
Afrika bezahlten Zinsen
und der Rohstoffpreisve rfall betrugen 183 Mrd.$.
Der minimale Nettoverlust
für Afrika in diesem Wirtschaftssystem betrug 55
Mrd.$. Berücksichtigt man
angemessene
Rohstoffpreise, so betrug der Verlust sogar 250 Mrd $, also
doppelt soviel wie der gesamte
Netto-Zufluß
an
Mittel in dieser Zeitspanne
nach Afrika. Anstatt daß
sich Afrika entwickelte,
entwickelte sich die Unte rentwicklung in Afrika. Dieses Ergebnis darf auch
nicht verwundern, denn ohne den zweifelhaften Begriff ”Entwicklung” hier diskutieren zu wollen, kann ein
Land ein fremdes nicht
”entwickeln”, vor allem,
wenn dieses fremde Land
nicht einmal in der Lage
war, ein eigenes Konzept
seines Schicksals in diesen bilateralen Beziehungen durchzusetzen.
Die afrikanischen Führer, die noch in den Sechziger Jahren für die Pri orität des Aufbaus eien afrikanischen Binnenmarktes
mit regionalen Wirtschaftszentren als Alternative zur
Anbindung an Westeuropa
plädierten, wurden zu jener
Zeit als Extremisten und
Kommunisten verschrien.
Ihr Konzept paßte nicht in
das Modell der Weltwirtschaft mit der internati onalen Arbeitsteilung. Afrikanische Staatspräsidenten wurden in Europa um
so mehr gefeiert, als sie
ihr Land Wirtschaftslobbies
aus dem Westen uneing eschränkt zur Verfügung
stellten und für dieses
Wohlwollen sich Gelder auf
Konten im Ausland überweisen ließen. In der ve rzweifelten wirtschaftlichen
Situation angelangt, die
von Afrika immer größere
Leistungen für einen immer
niedrigeren Erlös abve rlangte, geriet der Kontinent
in eine noch schlimmere
wirtschaftliche Lage als zur
Zeit der absoluten Kolonialherrscahft. Neue Konzepte wurden dann von internationalen Organisati onen, die im wesentlichen
von Europa und Amerika
kontrolliert sind, erdacht.
Man sprach dann von
Strukturanpassungsmaßnahmen. Wiederum Begriffe, Konzepte und Programme, die nicht aus einer Afrika-internen Diskussion entstanden. Die Lösung soll nun wiederum von
draußen
kommen,
von
Konzepten, die von and eren zum Heil Afrikas erfunden wurden.
Über Europa hinaus wird
Afrika nun zu einem Konzept internationaler Organisationen, die in entscheidendem Maße von
Europa und seinen Verbündeten kontrolliert we rden. Daher propagieren
europäische Experten die
Treuhandstellung afrikanischer Staaten unter inte rnationale Gremien. Wirtschaftskonzepte und Programme der Afrikaner wie
28
der ”Aktionsplan von Lagos” oder ”Die afrikanische
Wirtschaftsgemeinschaft in 6 Etappen bis
2025” sind in der europäischen Öffentlichkeit kaum
erwähnenswert.
Das Ende des Ost-WestKonfliktes, die Möglichkeit
der Rohstoffsicherung in
Osteuropa, die Überwi ndung des Nationalismus in
Europa durch den Trend
zur europäischen Einigung
mit der Bildung der stärksten Wirtschaftszone der
Welt, all diese Faktoren
lassen die Europäer zu
dem Traum verleiten, das
”europäische Haus” könnte
die wesentlichen Bedürfnisse stillen und Europa
von anderen Kontinenten
weitgehend
unabhängig
machen. Und wenn sie
wirklich noch etwas brauchen sollten, dann holen
sie es sich einfach, dank
ihrer Wirtschaftsmacht und
ihrer militärischen Stärke.
Afrika als ”tropische Ergänzung” wird irrelevant als
verpflichtender
Partner.
Afrika in seiner jetzigen
Misere kann also abgekoppelt werden. Deshalb
reden die europäischen
Medien schon von der Abkoppelung Afrikas, wie
man damals von der Entdeckung Afrikas sprach.
Diese Abkoppelung bedeutet nämlich, daß die
katastrophale wirtschaftliche Situation in diesen
Ländern für Europa, ihren
Hauptwirtschaftspartner,
unattraktiv geworden ist,
daß die Menschen dort mit
den
Folgeerscheinungen
der Beziehungen zu Eur opa selbst fertig werden
sollen, und daß Europa jederzeit dort intervenieren
wird, um seinen Vorsprung
zu sichern und seine
Übermacht zu demonstri eren.
”Von dreißig Möglichkeiten,
einer Gefahr zu entkommen,
ist wegrennen die beste.”
Die Menschen überleben
nur durch eine große
”Von dreißig Möglichkeiten,
einer Gefahr zu entkommen, ist
wegrennen die beste.” - Wenn
Sie in einem solchen Land leben
würden, würden nicht auch Sie
versuchen, wegzurennen, um in
der Metropole Europa Asyl zu
beantragen, sich hier anzusie deln und als Mensch würdig le ben zu dürfen?
Kunst. Aber viele sterben.
Begräbnisse sind zu einer
Wochenpflicht für jeden
geworden. Und diese Menschen sehen nicht, wann
sie endlich die Freiheit haben werden, ihre Konzepte
für sich zu entwickeln, ihre
Programme für sich durchzuführen, ihre Führer dafür
zu wählen, daß sie diese
Programme
durchsetzen
und Rechenschaft ablegen.
Haben Sie schon mal die
Erfahrung gemacht, daß
Sie ihr Kind tragen, und es
stirbt aus Hunger in ihren
Händen, und Sie sehen
machtlos zu. Sie schaffen
es nicht einmal mehr, einen
Schrei auszustoßen?
RUNDBRIEF
25/26-1995
erneute, kaum zu verkraf-
tende Belastung bedeuten.
Katholische Bosnier mit kroatischem Paß
werden ins Ungewisse zurückgeschickt1
Beamte befolgen den Erlaß des Landes ganz penibel
von Michael Eberstein
Bosnien droht im Bürgerkrieg vollends zerrieben
zu werden. Die Flüchtlinge
versuchen nicht nur Leib
und Leben zu retten, sondern
sich
auch
eine
Staatsbürgerschaft zu sichern. Bei der Flucht durch
Kroatien lassen sie sich
deshalb - zumindest die
Katholiken unter ihnen auch einen kroatischen
Paß ausstellen. Jedoch: In
Deutschland werden sie so
zu Kroaten und müssen
ausreisen. In Kroatien erwartet sie aber kein soziales
Netz,
manchmal
nicht einmal ein Flüchtlingslager. Viele müssen,
um nicht zu verhungern, zurück in den Bürgerkrieg in
ihrer Heimat. Fast 300
Bosnier leben im Landkreis, mindesten 20 von ihnen wurde schon mitgeteilt,
daß sie das Land verla ssen müssen. „Eine unübliche
Praxis“
kritisieren
FlüchtlingsHilfsorganisationen.
„Wir
befolgen nur einen Erlaß“,
sagen die Behörden. „Der
Landkreis Hildesheim entwickelt in dieser Frage ein
geradezu
detektivisches
Gespür“, moniert Kai Weber
vom
Niedersächs ischen Flüchtlingsrat. Ihm
sei kein anderer Landkreis
im Lande bekannt, der generell bei der kroatischen
Botschaft nachfrage, ob
ein katholischer Bosnier
eventuell auch einen kroatischen Paß habe, nur damit der Mann (oder die
Familie) so schnell wie
möglich wieder abgeschoben werden kann.
Dr. Friedrich Kappey
gibt zu, daß der Landkreis
Hildesheim
regelmäßig
nachfrage, wenn sich die
Sachbearbeiter der He rkunft der Antragsteller nicht
sicher seien. Doch, so der
Ordnungsamtdezernent,
das entspreche nur der
Erlaßlage. Das bestätigt
auch Volker Benke, Sprecher des Niedersächs ischen Innenministeriums.
Der Erlaß sei eindeutig
und müsse von allen 47
Ausländerbehörden
des
Landes befolgt werden.
Allerdings, so räumt Benke
ein, gebe es durchaus unterschiedliche
Beamte.
„Der eine ist eben penibler
als der and ere.“
Grundsätzlich aber gelte
für Kroaten, daß sie wi eder in ihre Heimat zurück
könnten und müßten. Darüber gebe es mehrere Abkommen. Sie gerieten ja
dort auch nicht in Gefahr.
Das sehen FlüchtlingsHilfs-organisationen
wie
Asyl e.V. Hildesheim oder
der Verein Mosaik durchaus anders. Sie verweisen
auf die Feststellung des
UNOFlüchtlingskommissars.
Der
hatte
festgestellt:
„Diese
Personen
(mit
kroatischen
Paß,
aber
Wohnsitz
in
BosnienHerzegowina) werden trotz
der Aussstellung
eines
kroatischen Passes in der
Regel nicht als kroatische
Staatsbürger“,
sondern
vielmehr „als Flüchtlinge
angesehen und registriert“.
Es seien Fälle bekannt, in
1HAZ 16.2. 95
25/26-1995 RUNDBRIEF
37
denen jedoch selbst eine
Registrierung als Flüchtli nge verweigert wurde.“ Die
Folge: Bosnische Kroaten
erhalten in der Regel keine
Sozialleistungen in Kroatien. Um ihr Überleben zu
sichern, gehen sie zurück
in derzeit von Kroatien
kontrollierte Gebiete der
Bosnischen
Förderation.
„Damit sind sie wieder da,
wo ihr Fluchtweg begann“,
beklagt Karin Hansum von
der
Caritas,
die
sich
ebenfalls mit den bosnischen Katholiken befaßt.
Karin Loos vom Asyl e.V.
ergänzt, daß auch Kroatien
kein sicheres Land sei. Es
zeichne sich ab, daß es
dort bald wieder Kriegshandlungen geben dürfte.
Umso unverständlicher sei,
jetzt noch auf Ausreise zu
drängen.
Die Haltung des Landkreises Hildesheim, der als
„aufnehmender Landkreis“
gilt, weil er sein Flüchtlingskontigent nur zu 60
Prozent erfüllt und damit
weit unter dem Landesdurchschnitt liegt, ist auch
schon bei der Bezirksregierung aufgefallen. Das
Zurückweisen bosnischer
Flüchtlinge mit dem Hi nweis „zweifelhafte He rkunft“ wurde dem Innenministerium gemeldet. Das
Ministerium muß sich auch
mit einer Fachaufsichtsbeschwerde befassen, weil
der Landkreis und die
Stadt Hildesheim mit einer
bosnischen Flüchtlilngsfamilie „Pingpong“ gespielt
hätten.
Für
die
FlüchtlingsHilfsorgani-sationen
sind
zwei Forderungen klar: Der
Landkreis müsse seinen
detekivischen
Spürsinn
beim Herausfinden der
Doppelstaatsbürgerschaft
eindämmen, und das Innenministerium müsse seinen Erlaß überarbeiten.
Zumindest den katholichen
Bosniern mit kroatischen
Paß müsse ein Bleiberecht
zugebilligt werden. „Mir ist
kein Fall eines Moslems
aus Bosnien bekannt, der
vom
Landkreis
ang eschrieben wurde“, sogt
Edith Raue vom Mosaik
Verein.
Die Ausklammerung
der Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge
aus dem Schutzsystem der Genfer Konvention
und des Protokolls von 1967 durch
die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes
Von Rechtsanwalt
Pfaff 1
Victor
Die Beschlüsse der IMK
vom
25./26.
November
1994 haben das Schicksal
der Kriegsflüchtlinge aus
Bosnien-Herzegowina,
Kurdistan, Afghanistan und
anderswoher
nicht
er1Leicht gekürzter Vortrag, gehalten auf der
Tagung der Evangelischen Akademie Mülheim/Ruhr am 3.Dezember 1994
38
leichtert. Nach BosnienHerze-gowina wird zwar
derzeit nicht abgeschoben,
der Status der Flüchtlinge
aus diesem Gebiet ist aber
trotz mehrjährigem Aufenthalt nicht einmal legalisiert;
die Aussetzung der Abschiebung vermittelt keinen
legalen
Aufenthalt.
Die
Kurden sind der Abschi ebung in die Hände der
Verfolger ausgesetzt. Die
rechtliche Behandlung der
Afghanen ist - insgesamt
gesehen - nicht weniger
chaotisch als die Verhältnisse im Heimatland. Das
Bundesverwaltungsgericht
hat die Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Schutzb ereich der Genfer Konve ntionen
ausgeschlossen,
sofern keine der kämpfe nden Parteien die effektive
RUNDBRIEF
25/26-1995
Wohnung bzw. des Arbeitsplatzes keinen Anspruch auf Wohngeld oder Unterbringung in einer Sozialwohnung der Wohnsitzgemeinde haben, sondern zur Vermeidung der Obdachlosigkeit in einer
Gemeinschaftsunterkunft des Landes untergebracht werden, und daß kein Anspruch darauf besteht, daß diese Unterbringung in der bisherigen Wohnsitzgemeinde erfolgt.
Im Auftrage
gez. Middelbeck
Fluchtgründe von Frauen
Situation der Flüchtlingsfrauen
in der Bundesrepublik Deutschland
1.
Fluchtgründe
Frauen1
von
Nach Schätzungen der
Hohen Flüchtlingskommi ssarin der Vereinten Nati onen (UNHCR) befinden
sich gegenwärtig ca. 20
Millionen Menschen auf der
Flucht. Waren es vor 20
Jahren erst 2,5 Millionen,
so hat sich ihre Zahl seit
Anfang der 80er Jahre
mehr als verdreifacht. Hi nzu kommen etwa 25 Milli onen
Palästinenser,
die
nicht unter das Mandat des
UNHCR fallen. Insgesamt
wird die Zahl der Flüchtli nge weltweit etwa bei einer
halben Milliarde Menschen
angesetzt. Basierend auf
einer angenommenen Zahl
der Weltbevölkerung von
5,5, Milliarden Menschen
wurde eine/r von je 130 zur
Flucht
gezwungen
(UNHCR:
Stand
12.11.
1993). Vor diesem Hinte r1Abschlußbericht der Arbeitsgruppe 8 des
Basso-Tribunals
25/26-1995 RUNDBRIEF
grund seien einige wohlb ekannte Fakten genannt, die
oft
allzusehr
verdrängt
werden:
Frauen
bilden
über 50% der Weltbevölk erung und leisten 66% der
Arbeitsstunden, bekommen
aber lediglich 10% des
Welteinkommens und ve rfügen über nur 1% des
Weltvermögens
(UNICEF
1983). In zwei weiteren Bereichen stehen sie jedoch
auf dem ersten Platz:
Frauen bilden zwei Drittel
der AnalphabetInnen sowie, zusammen mit ihren
Kindern, zwei Drittel der
weltweiten
Flüchtlinge.
Wieso gerade Frauen?
Weil sie durch ihre Zug ehörigkeit zu einer „bestimmten sozialen Gruppe“
im Sinne des Art. 1 Abs. 2
der Genfer Flüchtlingskonvention durch ihre Rechtlosigkeit ausgezeichnet sind.
Weil sie „aus der begründeten Furcht vor Verfo lgung wegen ihrer Rasse,
Religion,
Nationalität
...oder wegen ihrer politi-
schen Überzeugung“ als
Angehörige des weiblichen
Geschlechts zusätzlich zu
Menschenrechtsverletzungen einer frauenspezifischen Verfolgung ausgesetzt sind. Da Asylpolitik
und -recht immer noch in
erster Linie den männlichen, wegen seiner oppositionellen Tätigkeit ve rfolgten Flüchtling im Auge
haben, stellt sich die Frage: Was bedeutet Verfo lgung für die betroffenen
Frauen? Was treibt sie zur
Flucht? Das derzeit in Europa bekannteste Beispiel
ist gewiß der Krieg in Bosnien-Herzegowina.
Eine
der dort eingesetzten Methoden, die vom Sonderberichterstatter
der
UNMenschenrechtskommission noch im Februar 1993
spezifisch verurteilt wurde,
ist die systematische Vergewaltigung von Frauen.
Vergewaltigungen und andere
Formen
sexueller
Gewalt werden als Kriegsstrategie eingesetzt und
45
sind Mittel zum militärischen Zweck des Völkermords und der Vertreibung,
von den Kriegsparteien als
Mittel zum militärischen
Zweck des Völkermords
und der Vertreibung, von
den Kriegsparteien als
„ehtnische Säuberung“ tituliert. Betroffene Frauen berichten, wie ihr Leidensweg
von der Verschleppung aus
ihren Heimen, aus öffentlichen Verkehrsmitteln etc.,
zu
massiven
sexuellen
Übergriffen führt. Angefa ngen mit den menschenve rachtenden Umständen der
Gefangenschaft, dem demütigenden Zusammengedrängtsein in engen Rä umen ohne Einrichtungen für
die Notdurft oder die Hygiene, dem teilweise eingesetzten Zwang, ohne
Kleidung zu leben, auch
während der Menstruation,
bis hin zu den gezielten
sexuellen Foltermethoden
wie dem Einführen von
Gewehrläufen/Flaschen in
die Vagina mit gleichzeitigen Todesdrohungen, dem
Einführen von erhitzten
Metallgegenständen in die
Vagina, erzwungenen oralen und analen sexuellen
Handlungen und Vergewa ltigungen oft durch mehrere
Männer, wird der Frau das
letzte Recht über ihren eigenen Körper genommen.
Diese sexuellen Übergriffe
sind nicht als individuell
motivierte Gewalttaten anzusehen, sondern sind die
individuelle Ausführung von
oben erteilter Befehle und
Teil einer politischen Vertreibungs- und Vernichtungsstrategie. Sie sind
Kriegsverbrechen
gegen
Frauen. Diese Tatsache
wird auch durch die äußer46
lichen Umstände der Vergewaltigungen selbst belegt. Die Gewaltakte we rden häufig bewußt vor den
Augen anderer Gefangener
vollzogen: Die Kinder der
Frau, ihr Verlobter/ Ehemann sowie andere Familienangehörige
werden
gleichzeitig
mitgefoltert,
indem sie gezwungen we rden, das Verbrechen hilflos
mitanzusehen. Der Psychoterror richtet sich auch
gegen die anwesenden
Frauen, die diese `B ehandlung` noch vor sich
haben. Die Wirkung ist so
effektiv wie möglich: Frauen werden in Verknüpfung
von sexistischen und rassistischen Motiven systematisch wiederholt vergewa ltigt, um sie zu schwängern
und damit ihre eigene und
die ethnische Gruppenidentität zu zerstören. Es
muß davon ausgegangen
werden, daß viele Frauen
(dies betrifft nicht nur die
muslimischen,
sondern
auch die weiblichen Opfer
der
anderen
Gruppen)
stark patriarchalisch geprägten Regeln ihrer Gemeinschaften
unterliegen
und deren Schutz verloren
haben, sind sie doch lebende Zeugnisse der Unfähigkeit ihrer männlichen
Angehörigen, sie vor der
Inbesitznahme seitens anderer Männer zu schützen.
In kaum einem Krieg sind
Vergewaltigungen
von
Frauen so publik geworden
und durch die Zeugnisse
vieler Frauen öffentlich
gemacht worden wie in
diesem. Dennoch ist die
brutale
Gewalt
gegen
Frauen in diesem Krieg
nichts Neues. Die frauenspezifische Verfolgung in
Bosnien-Herzegowina
ist
nur ein Beispiel für die
Fluchtgründe von Frauen
weltweit. Das gleiche Unrecht geschah und geschieht Frauen in anderen
Teilen der Welt, allerdings
meist fern dem Interessenhorizont der westlichen
Medien. Um frauenspezifische Verfolgung besser
erfassen zu können, seien
im
folgenden
einige
Grundmuster stichpunkta rtig angegeben. Es ist nicht
der Versuch einer Typologisierung, denn oft verursacht ein Geflecht von
mehreren Faktoren díe
Verfolgung. Obwohl zur
Veranschaulichung
die
Nennung von konkreten
Beispielen sinnvoll wäre,
hat sich die Arbeitsgruppe
dagegen entschieden, da
nicht einige wenige der
zahlreichen Situationen, in
denen Menschenrechte von
Frauen mißachtet werden,
hervorgehoben
werden
sollten. Wir verweisen hier
auf die Berichte von amnesty international, terre
des femmes und anderen.
a) Eigene politische
Tätigkeit
als
Verfo lgungsgrund: Frauen sind
wie Männer aufgrund politischer Aktivitäten in Oppostionsgruppen und Befreiungsbewegungen
gefährdet. Im Falle der Verhaftung droht der Frau
nicht nur die Internierung
wegen ihrer politischen
Aktivität, sondern zusätzlich die Anwendung von
sexueller Gewalt, die sich
gegen sie als Frau richtet.
b) Politische Tätigkeit
von
Familienangehörigen
als
Verfolgungsgrund:Der
weltweite
Trend, Minderheiten durch
RUNDBRIEF
25/26-1995
Völkermord und Vertreibung auszulöschen, könnte
als eine Hauptursache der
Flucht von Frauen bezeichnet werden. Frauen sind
insofern besonders betroffen, als der Angriff auf
sie den männlichen Ang ehörigen der Gruppe ihre
Schutzunfähigkeit demonstriert und ein Angriff auf
ihre Gebärfähigkeit (seien
es
Zwangssterilisationen
oder erzwungene Schwa ngerschaften) die Identität
bzw. die Existenz der
Gruppe angreift.
c) Zugehörigkeit zu einer rechtlosen Gruppe
als
Verfolgungsgrund:
Diese Art der Verfolgung
betrifft besonders Frauen
in Ländern, die durch eine
sehr starke Kluft zwischen
Armen und Reichen gekennzeichnet sind. Armee
und Polizei arbeiten im Interesse der Oberschicht
und verhaften vorwiegend
Frauen aus den armen
Schichten, um sie u.a.
durch gezielte sexuelle
Folter zu Scheingeständnissen zu zwingen. Diese
Unterdrückung der Unte rprivilegierten hat eine la nge Tradition und richtet
sich gegen Frauen als Ehrobjekt der Gemeinde und
Familie.
d) Zugehörigkeit zu
einer aufgrund des Geschlechts
diskriminie rten Gruppe als Verfo lgungsgrund:
Bei der hier `diskriminierten Gruppe´handelt es
sich ausschließ-lich um
Frauen, die von der Gesellschaft mit impliziter
Genehmigung des Staates
oder direkt durch ihn ve rfolgt werden. z.B. werden
Frauen in ihrer psychi25/26-1995 RUNDBRIEF
schen Gesundheit, Bewegungs- und Existenzsicherungsmöglichkeiten ang egriffen, bis hin zur willkürlichen und oft grausamen
Bestrafungen wegen der
angeblichen
Übertretung
der nur für Frauen gelte nden Regeln (Bekleidungsund
Verhaltensvorschri ften). Ähnliches gilt für
Praktiken wie Mitgiftmorde,
Zwangsheirat,
Kinderehe, genitale Verstü mmelungen, Tötungen von
Frauen aus Familienehre.
Diese Praktiken werden
zwar häufig nicht direkt
vom Staat durchgeführt,
aber geduldet und nicht
verfolgt, so daß davon
auszugehen ist, daß der
Staat nicht willens oder in
der Lage ist, die Frauen zu
schützen. Häufig genug
werden die spezifischen
Leiden der Frauen hinter
den globalen Fluchtursachen wie Krieg, Bürgerkrieg, autoritären Regimen,
Menschenrechtsverletzungen, Umweltkatastrophen
etc. nicht mehr wahrgenommen. Umgekehrt dürfen die Bemühungen um
eine Flüchtlingspolitik, die
Frauen
berücksichtigt,
nicht dazu führen, daß die
Bekämpfung der globalen
Fluchtursachen
vernachlässigt wird. Darauf weisen
gerade Frauen, die zu
Flüchtlingen wurden, immer
wieder hin.
2.Zugang weiblicher Flüchtlinge zum Asylverfahren
2.1 Zugangsbarrieren
durch Einreiserestriktionen
Nach
Angaben
von
UNHCR betrug die Zahl der
aufgenommenen Flüchtli n-
ge pro Kontinent sechs
Millionen in Europa, 5,7
Millionen in Asien, 7,4 Mi llionen in Afrika, 1,4 Milli onen in Amerika und 2,2
Millionen in der ehemaligen Sowjetunion (Stand
31.12.93). Dabei stellen
Frauen nach Angaben des
UNHCR weltweit die Mehrheit der Flüchtlinge. Frauen und Kinder zusammen
machen ca. zwei Drittel der
Weltflüchtlingsbevölkerung
aus. In manchen Flüchtlingslagern in Erstaufna hmeländern der Dritten Welt
wird der Anteil von Frauen
und Kindern sogar mit 8090% angegeben
Ein wachsender Anteil
von Frauen wird auch im
Hinblick auf Migrationsbewegungen nach Europa
konstatiert. Galt die Arbeitsmigration der sechziger und siebziger Jahre
noch als männerdominiert,
so haben sich Anteil und
Form der Migration von
Frauen in den darauffo lgenden Jahren erheblich
verändert. Ab Mitte der
siebziger Jahre kamen im
Rahmen der Familienzusammenführung ein großer
Anteil Frauen in die Bundesrepublik. Für die zunehmende
Ost-WestMigration im Verlauf der
achtziger Jahre bis heute
gilt, daß Frauen in einigen
Herkunftsgruppen,
etwa
den
nach
Westeuropa
wandernden Polen oder
den
deutschstämmigen
Aussiedlern aus Osteur opa, die Mehrheit bilden.
Diese deutliche Zuna hme weiblicher Migration
hat jedoch nicht auch dazu
geführt, daß mehr Frauen
als Asylsuchende Schutz in
der
Bundesrepublik
47
Deutschland suchen. Ihr
Anteil an den Asylsuche nden liegt hier bei weniger
als einem Drittel: Nach Angaben aus dem Bundesministerium des Innern haben
am Stichtag 31.12.92 in
der
Bundesrepublik
122.823 Frauen (ohne Kinder) einen Asylantrag gestellt. Damit stellen sie
27,6% der erwachsenen
Asylbewerber.(1). Für die
auf das Jahr 1992 bezogenen 10 Hauptherkunftsländer von Asylsuchenden läßt
sich der Anteil der Frauen
an den erwachsenen Asylbewerbern wie folgt ang eben:
1. Jugoslawien:
37,3% (1)
2. Rumänien: 24,4%
3. Bulgarien: 30,3%
4. Türkei:
27,9%
5. Vietnam:
36,0%
6. Ex-UdSSR: 34,7%
7. Nigeria:
8,5%
8. Zaire:
18,4%
9. Algerien:
8,7%
10. Ghana:
21,3%
---------------------------------(1) Da erst seit Sommer
92 beim Bundesamt für die
Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge Asyla nträge getrennt nach Ländern des ehemaligen Jugoslawien gezählt werden,
schätzt man die Zahl der
1In der Bundesrepublik werden veröffentlichte Statistiken zu Asylbewerbern nicht
geschlechtsspezifisch aufgeschlüsselt. Die
hier angegebenen Zahlen für das Jahr 1992
wurden freundlicherweise vom BMI zur
Verfügung gestellt. Aktuellere Zahlen, die
nach Geschlecht aufgeschlüsselt sind, liegen uns bisher nicht vor.
48
bosnischen
AsylantragstellerInnen
auf
ca.:
24.000. Der Frauenanteil
betrug Ende 1992 dabei
50,1%.
Im Vergleich mit anderen
westeuropäischen Staaten
liegt die Bundesrepublik
damit durchaus im Trend.
In den Niederlanden stellten Frauen in den Jahren
1985-88 jeweils höchstens
15% der Antragsteller, in
den Jahren bis 1990 erhöhte sich ihr Anteil auf
knapp 30%. In Frankreich
waren 1990 21,4% der
Asylantragsteller
Frauen.
Zahlen aus Norwegen über
Asylsuchende, die einen
eigenen Antrag gestellt
haben (also ohne mitbeantragende Familienangehörige) sprechen im Jahr
1989 von 20,71% Frauen,
1990 von 24,47% und 1991
von 25,85%. Auf der Basis
dieser Angaben ist davon
auszugehen,
daß
der
Frauenanteil an den Asylantragstellern
in
nordwesteuropäischen Staaten
zwischen 20-30% liegt, bei
steigender Tendenz zum
Ende der achtziger Jahre.
Der
eklatante
Unte rschied
zwischen
dem
Frauenanteil
an
den
Flüchtlingen in Westeuropa
und weltweit ist erklärungsbedürftig. Neben der
Stellung von Frauen im
Herkunftsland, ihrer sozi alen und geographischen
Mobilität, beeinträchtigen
offenbar auch die in den
vergangenen Jahren von
den europäischen Aufna hmestaaten errichteten Zugangsbarrieren die Cha ncen von Frauen,den Zugang zum Territorium und
den Schutz eines westlichen Landes zu finden. Zu-
gangshindernisse wie die
Einführung
der
Visumspflicht für die Haup therkunftsländer von Flüchtlingen, verbunden mit der
Androhung von Sanktionen
gegen Transportunterne hmen, die Personen ohne
gültige Papiere transportieren, scheinen für asylsuchende Frauen ungleich
schwerer
überwindbar.
Diese Maßnahmen treiben
die Kosten einer Flucht sei es für den Transport
allein, sei es für die Bezahlung von Fluchthelfernenorm in die Höhe und
verweisen die Mehrzahl der
Asylsuchenden
darauf,
halblegale oder illegale
Mittel in Anspruch zu ne hmen.
Die generell für Weste uropa festgestellte Zunahme
weiblicher Migration ist auf
andere Kanäle als auf die
Asylantragstellung verwi esen. Der hohe Anteil von
Frauen an der Pendelmigration aus osteuropäischen Staaten sowie der
blühende Heiratsmarkt mit
Frauen aus Asien und Osteuropa legen nahe, daß
auswanderungswillige
Frauen mittels Touristenvisa und Heiratsagenturen
die Barrieren auf dem Weg
nach Westeuropa zu umgehen versuchen.
Für Frauen auf der
Flucht gilt, daß sie oftmals
nicht über die benötigten
Mittel verfügen, um ihre
Flucht zu finanzieren, wenn
sie diesbezüglich nicht von
ihren Familien unterstützt
werden. Sogar bei dem
Versuch, wenigstens ihre
Kinder in ein sicheres
Land im Westen zu bri ngen, fallen Entscheidungen
oft zugunsten der Jungen,
RUNDBRIEF
25/26-1995
da sie während der Flucht
weniger gefährdet sind als
ihre Schwestern. Erste Beobachtungen an der Grenze zwischen der Bundesrepublik und ihren östlichen
Nachbarstaaten
lassen
vermuten, daß seit Änd erung des Asylgrundrechts
und massiver Erweiterung
der Rückschiebungsmöglichkeiten der Anteil von
Frauen und Kindern unter
den Flüchtlingen zurückgegangen ist.
Seit einigen Jahren we isen UNHCR und andere
darauf hin, daß sich eine
Frau (auch in männlicher
Begleitung) auf der Flucht
in einen völlig rechtlosen
Raum begibt und vor sexuellen Übergriffen durch
Schlepper, Grenzsoldaten,
Polizei oder Mitflüchtende
keine Schutzmöglichkeiten
hat. Diese Gefahren gelten
zunehmend auch für die
Grenzen zu Industrieländern. Angesichts der Berichte von der Grenze zwischen Mexiko und den
USA, wo Beobachter Davon ausgehen, daß die
Mehrheit der Frauen, die
mit Hilfe von Fluchthelfern
die Grenze überqueren
müssen, Opfer von Vergewaltigungen haben, muß
die Lage an der deutschpolnischen und deutschtschechischen Grenze Besorgnis erregen. Bisher
sind
Übergriffe
gegen
Frauen auf der Flucht auf
diesem Weg zwar nicht
bekannt geworden. Jedoch
ist die Gefährdung von
Frauen, die sich auf illegalisierten Fluchtrouten befinden, von verschiedensten Grenzregionen weltweit d okumentiert.
25/26-1995 RUNDBRIEF
2.2. Zugangsbarrieren
durch das Konzept der
sicheren Dritt- und Herkunftsstaaten
Seit der Änderung des
Asylgrundrechts durch die
Einführung von Art. 16a GG
wird der Zugang zum Te rritorium und damit zum
Asylverfahren in der Bundesrepublik
wesentlich
durch das Konzept der sogenannten
„sicheren
Drittstaaten“,
in
eing eschränktem
Maß
auch
durch das Konzept der sogenannten „sicheren He rkunftsstaaten“
eing eschränkt.
Nach § 19 Abs. 3
AsylVfG werden Asyls uchende, die aus einem sicheren Drittstaat im Sinne
des §26a AsylVfG unerlaubt einreisen, ohne Prüfung
des
Asylantrages
dorthin zurückgeschoben.
§ 26a schließt die Ane rkennung als Asylberechtigte aus, wenn die Betroffene über einen sogennanten
sicheren
Drittstaat
(nach
dem
Grundgesetz sind dies die
EG-Staaten sowie nach
dem AsylVfG derzeit die
Staaten Finnland, Norwegen, Österreich, Polen,
Schweden, Schweiz und
die Tschechische Republik) eingereist ist. Gegen
das Konzept der sicheren
Drittstaaten sind im wesentlichen folgende Argumente vorgetragen wo rden.: Die Einhaltung von
Genfer Flüchtlingskonve ntion oder Europäischer
Menschenrechtskonvention
seien in den zu sicheren
Drittstaaten erklärten Ländern nicht immer gewährleistet; die Asylverfahren in
einigen
der
genannten
Länder erreichten die vom
internationalen Recht geforderten
Mindeststa ndards nicht; dies gelte
auch für EG-Staaten, die
keineswegs als generell
sicher
erklärt
werden
könnten; insbesondere bestünde die Gefahr von
Kettenabschi ebungen.
Dem ist hinzuzufügen:
Mag ein Drittstaat auch im
allgemeinen als sicher in
dem Sinne gelten, daß er
ein zufriedenstellendes und
faires Asylverfahren gewährleistet,so muß dies
nicht generell für alle Asylsuchenden
gelten.
Der
UNHCR hat z.B. in seinen
„Richtlinien
zum Schutz
von Flüchtlingsfrauen“ darauf
hingewiesen,
daß
weibliche Flüchtlinge in
Erstasylländern
häufig
nicht sicher sind, obwohl
das Erstasylland sie rechtlich gegen Zurückweisung
in
ihr
Herkunftsland
schützt. Ein weiteres Indiz
für diese Annahme bilden
die sog. „Women-at-Risk“Programme, die einige
Aufnahmestaaten wie z.B.
Kanada
und
Australien
speziell
Frauen
aus
Erstaufnahmestaaten vo rbehalten, die dort gefährdet sind. Die pauschale
Vergabe des Kriteriums
„Sicherheit“ in Bezug auf
die Situation in einem anderen Land erscheint daher, wird die spezifische
Lage
einzelner
Flüchtlingsgruppen oder auch Individuen
berücksichtigt,
problematisch. Dies gilt
auch im Fall der sicheren
Herkunftsstaaten. Art. 16a
Abs. 2 GG fordert für die
sicheren Herkunftsstaaten
„daß dort weder politische
Verfolgung
noch
un49
menschliche oder erniedrigende Bestrafung oder
Behandlung
stattfindet“.
Derzeit gelten folgende
Staaten dem Gesetzgeber
als
sicher:
Bulgarien,
Gambia, Ghana, Polen,
Rumänien, Senegal, Slowakische Republik, Tschechische Republik, Ungarn.
Asylsuchende aus diesen
Staaten müssen individuell
die Regelvermutung widerlegen, daß in ihrem
Herkunftsstaat keine politische Verfolgung stattfinde.
Abgesehen von den Argumenten der Kritiker, die
keinen Staat als generell
verfolgungsfrei betrachten
würden, stellt sich die Frage, ob bei einer Entsche idung über die Sicherheit
eines Herkunftslandes die
Menschenrechtssituation
von Frauen überhaupt berücksichtigt
wird.
Das
Auswärtige Amt z. B. gibt
im Lagebericht über Gambia die dort verbreitete
Klitorisbeschneidung
an,
die insbesondere an jungen Mädchen vollzogen
werde. Einer Mutter oder
einem Vater aus Gambia,
die oder der seine Tochter
dem grausamen Eingriff
entziehen will, dürfte es
schwer fallen, am Frankfurter
Flughafen
eine
Rückschiebung zu vermeiden und die Regelvermutung zu widerlegen, daß
Gambia in jedem Fall ein
sicheres Herkunftsland ist.
3. Chancen und Hindernisse der Asylgewährung an
weibliche Flüchtlinge
3.1. Das Asylverfahren
Die Neuregelung des
Art. 16a GG vom 28.6.
1993 sowie die jüngste
50
Neufassung des Asylve rfahrensgesetzes (AsylVfG)
vom 1.7. 1993 enthalten
ausschließlich
geschlechtsneutral formulierte
Bestimmungen. Wie schon
anhand früherer Asylverfahrensgesetze geschehen,
lassen sich dennoch Benachteiligungen von Frauen
im Asylverfahren festste llen: Folgende Kritikpunkte
wurden immer wieder genannt: -Frauen sehen sich
u.U. nicht in der Lage, ihr
Verfolgungsschicksal
männlichen
Entscheidern
bzw. Dolmetschern wä hrend der mündlichen Anhörung vorzutragen. Dies betrifft insbesondere Frauen,
die Opfer sexueller Gewalt
wurden. Die Bundesregierung hat zugesagt, Asyla ntragstellerinnen
auf
Wunsch und im Rahmen
des Möglichen Entscheiderinnen zur Verfügung zu
stellen. Aus der Praxis ist
jedoch bekannt, daß nicht
in jedem Fall dem entsprechenden Wunsch dieser
Frauen Rechnung getragen
wurde. Ferner ist offenbar
versäumt worden, beim
Bundesamt für die Ane rkennung
ausländischer
Flüchtlinge einschließlich
seiner 47 Außenstellen die
organisatorischen Voraussetzungen dafür zu scha ffen, daß in Zukunft diesem
Wunsch Rechnung getragen wird. Zusätzlich erschwert wird Frauen die
Darlegung ihrer Asylgründe
auch dann, wenn sie gemeinsam mit ihren Ehepartnern angehört werden.
Um ihnen zu ermöglichen,
auch sexuelle Gewalt als
Verfolgungsgrund vorzutragen, sollten Anhörungen
getrennt
erfo lgen.-
Desgleichen ist zu berücksichtigen, daß Frauen aufgrund geringerer Bildungschancen
häufiger
als
Männer
Analphabetinnen
sind und dann keinen Zugang zu schriftlichen Informationen über Asylverfa hren
bekommen.Insbesondere NROs haben
immer wieder gefordert,
weiblichen Asylsuchenden
müsse die Möglichkeit eröffnet werden, sexuelle
Gewalt als Verfolgung sgrund auch zu einem späteren Zeitpunkt ins Asylverfahren einbringen zu
können. Während diese
Forderung bisher sich fa ktisch an das Bundesamt
und die Gerichte richtete,
ein späteres Vorbringen
nicht
als
„gesteigertes
Vorbringen“ und damit als
widersprüchlich bzw. unglaubwürdig zu bewerten,
ist nun festzustellen, daß
bereits die Neufassung
des AsylVfG vom Sommer
1992
diesem
Anliegen
entgegenwirkt. In § 25,3
AsylVfG heißt es nämlich:
„Ein späteres Vorbringen
des Ausländers kann unb erücksichtigt bleiben, wenn
andernfalls die Entsche idung des Bundesamtes
verzögert würde.“ Auch das
Gericht kann diese Umstände in einem späteren
Verfahren unberücksichtigt
lassen (§36, 4). In der
Neufassung des AsylVfG
vom 1.7. 1993 heißt es
dann in §30,3: „Ein unb egründeter Asylantrag ist
als offensichtlich unb egründet abzulehnen, wenn
...das Vorbringen ...nicht
substantiiert oder in sich
widersprüchlich ist...“ oder
wenn
den
Mitwirkung spflichten nicht entsprochen
RUNDBRIEF
25/26-1995
wird (§ 25,1). Gegen eine
Ablehnung als „offensichtlich unbegründet“ hat die
Antragstellerin aber lediglich eine Klagefrist von einer Woche. Dieses Beispiel zeigt: Die Beschle unigung der Asylverfahren,
wie sie durch Regelungen
wie die oben genannte erreicht werden soll, läuft
Empfehlungen zur Berücksichtigung
frauenspezifischer Situationen im Asylverfahren entgegen, die
bereits seit Jahren gestellt
werden. Einen Teil dieser
Empfehlungen
hat
der
Bundestag in den aus der
Großen Anfrage zu Menschenrechtsverletzungen
an Frauen folgenden Entschließungsanträgen diskutiert und verabschiedet.
Sollen die einmal formulierten
Anliegen
weiter
verfolgt werden, müßte die
Ebene der bisher vorherrschenden immanenten Kritik der Asylgesetzgebung
verlassen werden. Denn
während bisher die frauenpolitischen Forderungen zu
Flüchtlingsfrauen zumeist
ohne Bezug zu den parallel
diskutierten Asylrechtsänderungen formuliert und
beschlossen wurden, zeigt
sich jetzt, daß das neue
Asylrecht diese Forderungen ad absurdum führt. Es
ist eine Situation erreicht,
in der Politik für Flüchtlingsfrauen auch und gerade in den Details der Ausgestaltung des Asylverfa hrens Kritik der in jüngster
Zeit beschlossenen Asylrechtsänderungen heißen
muß, sollen die frauenpolitischen Forderungen nicht
aufgegeben werden. Una bhängig von der gesetzlichen Ausgestaltung des
25/26-1995 RUNDBRIEF
Asylverfahrens kann jedoch
auf den Umgang der Behörden mit asylsuchenden
Frauen Einfluß genommen
werden. Dies betrifft z.B.
die Frage der Erstellung
von Länderberichten durch
das Auswärtige Amt, in
denen
die
Mensche nrechtssituation von Frauen
dargestellt wird. Erste Ansätze in dieser Richtung
sind zu begrüßen und auszubauen. Ferner regierungsunabhängige Quellen
sowie nach Schulung der
Entscheider und Entscheiderinnen hinsichtlich der
besonderen Belange von
asylsuchenden Frauen. So
ist z.B. zu prüfen, ob ein
Leitfaden zur Befragung
von Frauen entwickelt we rden kann, wie dies in den
Niederlanden in Zusammenarbeit zwischen Ho lländischen Flüchtlingswerk
und Justizministerium geschehen ist.
3.2
chung
Die
Rechtspre-
Hinsichtlich der Ane rkennung frauenspezifischer
Verfolgung im Asylrecht
wird weithin die Auffassung
vertreten, daß Geschlecht
als Verfolgungsgrund explizit in die entspreche nden Rechtsgrundlagen aufgenommen werden müsse.
Eine entsprechende Forderung fand Eingang in einen
Entschließungsantrag des
Bundestages
zu
„Menschenrechtsverletzungen
an Frauen“ vom 24.3. 1988
(Bts-Drs. 11/4150). Während der Debatten zur Änderung des bundesdeutschen Asylgrundrechts hat
das BMFJ unseren Info rmationen zufolge eine ent-
sprechende Initiative erwogen, jedoch nach Rücksprache mit dem BMI wi eder verworfen. Während
diese Strategie hinsichtlich
der Genfer Flüchtlingskonvention, die in ihrem Art. 1
Verfolgungsgründe enumerativ aufzählt, gewiß von
Bedeutung und sicher in
ihrer
politischsymbolischen
Wirkung
nicht zu unterschätzen wäre, ist die Effektivität einer
solchen Regelung im bundesdeutschen Recht jedoch umstritten. Nach einem Urteil des Bundesve rwaltungsgerichts aus dem
Jahre 1983 ist der politische Charakter von Verfo lgung danach definiert, daß
Verfolgungsmaßnahmen
sich gegen jene persönlichen Merkmale richten, deren Diskriminierung nach
Art. 3 des GG untersagt ist
und wozu Geschlecht explizit
gehört
(BVerwGE
67,184). Zumeist unabhä ngig von der Frage, ob Geschlecht als Verfolgung sgrund anerkannt werden
kann, wird Frauen die Anerkennung oft verweigert
wird mit der Begründung,
daß die Verfolgungsmaßnahmen Ausdruck der Kultur eines Landes seien und
das Ausmaß dessen, was
die Bevölkerung des Landes allgemein zu erdulden
hat, nicht überstiegen oder
daß es sich nicht um staatliche, sondern um private
Verfolgung handle. Frauen
aus dem Iran, die Verfo lgungen wegen Übertretung
von
Kleidervorschriften
geltend machen und Frauen, die Opfer von Vergewaltigungen werden, ve rhilft die Aufnahme von Geschlecht als Verfolgung s51
grund in die Rechtsgrundlagen daher nicht notwe ndigerweise zu einer Ane rkennung. Um zu einer menschenwürdigen Behandlung
dieser von frauenspezifischer Verfolgung betroffenen Frauen zu gelangen
und ihnen den notwendigen
Schutz zu gewähren, sind
weitere Maßnahmen vo nnöten. Die Problematik
darf nicht allein auf die
Rechtsprechung der Gerichte verlagert werden,die
im übrigen noch sehr heterogen ist, aber auch in den
letzten Jahren zunehmend
auf die Frage geschlechtsspezifischer
Verfolgung
reagiert und in Einzelfällen
Frauen Schutz gewährt.
Was von Politikern getan
werden
könnte,
zeigen
Beispiele
aus
anderen
Ländern. Ein Beispiel, wie
die
Anerkennung
geschlechtsspezifischer
Verfolgung im Asylrecht
gefördert werden könnte,
bietet die Schweiz. Dort
wurde 1992 im Auftrag des
Eidgenössischen Büros für
die Gleichstellung von Frau
und Mann eine Studie zu
„Frauenverfolgung
und
Flüchtlingsbegriff“ erstellt,
die wegweisende
Argumentationslinien für die
asylrechtliche Anerkennung
geschlechtsspezifischer
Verfolgung enthält. Kanada
hat im März diesen Jahres
Richtlinien bezüglich weiblicher Flüchtlinge, die geschlechtsspezifische Verfolgung zu befürchten haben, erlassen. Sie sollen
den Einzelfallentscheidern
als Leitfaden dienen. Im
bundesdeutschen Kontext
ist es kaum denkbar, den
weisungsunabhängigen
Entscheidern des Bundes52
amtes
(§5,2
AsylVfG)
selbst
unverbindliche
Richtlinien an die Hand zu
geben. Möglich wäre jedoch, dem Bundesbeauftragten, der gegen Entscheidungen des Bundesamtes klagen kann und der
an die Weisungen des BMI
gebunden ist (§6 AsylVfG),
aufzutragen, gegen negative Entscheidungen des
Bundesamtes bei Vorli egen
geschlechtsspezifischer Verfolgung vorzugehen. Im übrigen muß endlich eine Lösung für Fälle
wie die der bosnischen
Frauen geschaffen werden,
deren Asylanträge trotz erlittener Vergewaltigungen
vom Bundesamt in Einze lfällen zunächst einfach auf
Eis zu legen, wie es geschehen ist, kann keine
Lösung für diese Frauen
sein, die in der Bundesrepublik Deutschland Schutz
vor Menschenrechtsverle tzungen gesucht haben. Eine solche Lösung darf sich
nicht auf die bosnischen
Frauen allein beschränken,
sondern muß alle Frauen
umfassen,
die
hierher
kommen, um Schutz vor
Vergewaltigung oder and eren Formen geschlechtsspezifischer Verfolgung zu
suchen.
3.3 Frauen als DefactoFlüchtlinge
Wie die Beispiele der
Ablehnung
geschlechtsspezifischer Verfolgung im
Asylverfahren zeigen, we rden viele Frauen trotz
Schutzbedürfti gkeit zu Defacto-Flüchtlingen. Hier gilt
es zum einen, wenigstens
vor einer geplanten Ab-
schiebung eingehend zu
prüfen, ob Frauen Gefahr
für Leib und Leben oder
grausamen, unmenschliche
oder erniedrigende Behandlung droht - eigentlich
eine
Selbstverständlichkeit, die aber in der Praxis
nicht immer eingehalten
wird. Auch generelle Regelungen zum Abschiebeschutz ganzer Gruppen von
Flüchtlingen, wie sie z.T.
von den Bundesländern
allein, z.T. in Absprache
mit dem BMI getroffen
werden, müssen in Zukunft
stärker
berücksichtigen,
daß in einigen Ländern
bestimmte Gruppen von
Frauen bei einer Rückkehr
Gefahren drohen und ihnen
daher Abschiebungsschutz
zu gewähren ist. Hinzu
kommen die Probleme alleinstehender Frauen nach
einer Rückkehr. Frauen,
die verwitwet sind, die ohne Familieangehörige und
u.U. in einen ihnen fremden
Landesteil
abgeschoben
werden sollen, stehen hä ufig ohne den Schutz ihrer
Familie und damit ohne
Rechte da. Auch dies sind
Abschiebungshindernisse,
die in jeder Entscheidung
berücksichtigt
werden
müssen. Einen Sonder fall
bilden ferner die Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem
ehemaligen Jugoslawien.
Nach Schätzungen des
Bundesministeriums
des
Innern halten sich z.-Zt. ca.
400.000 Flüchtlinge aus
dem ehemaligen Jugoslawien mit unterschiedlichem
Status in der Bundesrepublik Deutschland auf. Hiervon sind ca. 50% Frauen
und Mädchen. Die Ane rkennungsrate ist bei bosnischen
Asylsuchenden
RUNDBRIEF
25/26-1995
derzeit
extrem
niedrig.
Viele BosnierInnen sind
aufgrund einer Verpflichtungserklärung nach §84
Ausländergesetz
aufg enommen worden und haben
eine Duldung. Sie haben
keinen Anspruch auf Familienzusammenführung. Die
meisten leben bei Verwandten und Bekannten in
Bayern
bzw.
BadenWürttemberg. Im Einve rnehmen zwischen Bund und
Ländern wurden im Sommer 1992 10.400 zumeist
bosnische Frauen und Kinder im Rahmen eines Sonderkontingents in der Bundesrepublik
Deutschland
aufgenommen. Sie sind im
Besitz einer Aufenthaltsbefugnis. Darüber hinaus
wurden
aufgrund
eines
weltweiten
Appells
der
Flüchtlingshochkommissarin der Vereinten Nationen
im Herbst 1992 seitens der
Bundesrepublik Deutschland 7.000 Quotenplätze
für ehemalige bosnische
Inhaftierte und deren Familieangehörige zur Verfügung gestellt. Hiervon sind
3.542 bis zum 30.6.1994
eingereist (laut Internati onal Organisation for Migration). In diese Quote können
auch
Vergewaltigungsopfer, Kinder sowie
einige
Schwerverletzte
einbezogen werden. Sie
erhalten eine Aufenthaltsbefugnis. Der Gesetzgeber
hat seit dem 1.7. 1993 mit
dem §32a Ausländergesetz
eine Möglichkeit gescha ffen, Bürgerkriegsflüchtli nge auch außerhalb des
Asylverfahrens vorübergehend aufzunehmen. Bisher
wurde von dieser Regelung
nicht Gebrauch gemacht,
da die Kostenübernahme
25/26-1995 RUNDBRIEF
zwischen Bund, Ländern
und
Kommunen
bisher
nicht geklärt werden konnte. Für viele Flüchtling sfrauen aus Kriegs- und
Bürgerkriegsgebieten wäre
diese Regelung jedoch eine sinnvolle Alternative
zum Asylverfahren.
4. Zur sozialen Situation
asylsuchender Frauen
4.1 Unterbringungssituation
Menschen, die in der
Bundesrepublik Asyl beantragen, sind verpflichtet, in
den von den Bundeslä ndern errichteten Erstaufnahme-einrichtungen zu le ben. Dort bleiben sie für
etwa drei Monate, manc hmal jedoch auch wesentlich
länger. Diese Erstaufna hmeeinrichtungen sind in
der Regel für ca. 500 Menschen konzipiert. Es ha ndelt sich dabei häufig um
ehemalige Kasernen oder
Baracken. In den neuen
Bundesländern
werden
meist ehemalige Gebäude
der Nationalen Volksarmee
belegt. Einige der Einrichtungen befinden sich in
abgelegenen Gebieten, die
kaum mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen
sind. Nach ihrer Unterbri ngung in diesen Erstaufnahmeeinrichtungen
we rden Asylsuchende weite rverteilt auf regionale und
kommunale
Gemeinschaftsunterkünfte.
Nicht
immer ist dies eine Verbesserung. Manche Asylsuchenden
werden
auf
ausgedienten
Schiffen
oder in Hotels untergebracht. In Frankfurt beispielsweise leben viele
Flüchtlingsfamilien in kle i-
nen Zimmern in Hotels zwischen den Bordellen im
Rotlichtviertel. Viele der
Asylsuchenden,
gerade
auch der alleingeflüchteten
Frauen, haben in der Bundesrepublik
Verwandte,
die sie gerne aufnehmen
würden. Nicht selten haben
sie mit dieser Perspektive
eine Flucht in die Bundesrepublik auf sich geno mmen . Die gesetzliche Verpflichtung, in der Erstaufnahmeeinrichtung zu leben,
die Umverteilung in oft weit
vom Wohnort der Verwandten liegende Orte trifft
sie daher hart. Hinzu
kommt, daß sie das Gebiet, in dem ihr Asylantrag
bearbeitet wird, nur in
Ausnahmefällen mit Sondergenehmigung verlassen
dürfen. Abgesehen von der
Belastung für die Betroffenen selbst werden in diesem Bereich auch unnötig
öffentliche Mittel ausgegeben. Die Unterkünfte bieten asylsuchenden, die hier
auf engem Raum zusammenleben, sind Frauen eine Minderheit gegenüber
den alleinstehenden Männern. Schlafräume und sanitäre Anlagen sind häufig
nicht abschließbar. In einigen Fällen sind keine getrennten sanitären Anlagen
für Männer und Frauen vorhanden. Nur in wenigen
Fällen werden Familien
und alleingeflüchtete Mädchen und Frauen in getrennten Häusern oder geschützten Etagen untergebracht.
Aufenthaltsräume
für Frauen sind in der Regel nicht vorgesehen. Gegenüber
Beratungseinrichtungen klagen Frauen
über sexuelle Belästigungen und über fehlenden
53
Schutz. In einigen Fällen
besteht auch zum Wachpersonal kein Vertrauen.
Es wurde in verschiedenen
Einrichtungen beobachtet,
daß sich Frauen und Mädchen unter den „Schutz eines Mannes in der Unte rkunft begeben, um die Bedrohung durch viele zu verhindern. Sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen gab es in mehreren
dieser Einrichtungen. Sie
wurden aber nur dann bekannt, wenn die Frauen
medizinisch
behandelt
werden mußten. In der Regel schweigen die Frauen
aus Scham oder Angst.
Hinzu kommt, daß sie
weiterhin in der Einrichtung
leben müssen und nicht in
einem Frauenhaus Schutz
suchen
dürfen.
Asyls uchende erhalten in den ersten drei Monaten ihres
Aufenthaltes
keine
Arbeitserlaubnis.
Danach
wird eine Arbeitsaufnahme
gestattet, wenn sie eine
Arbeitsstelle finden, die
weder ein Deutscher noch
ein bevorrechtigter Ausländer
(z.B.
EGAngehöriger) beansprucht.
Das zuständige Arbeitsamt
muß diese Bedingung in
einem mehrwöchigen Verfahren prüfen. Die Arbeitsgenehmigung wird dann für
maximal ein Jahr erteilt
und ist an die entsprechende Arbeitsstelle gebunden. In vielen Gebieten
kommt diese Regelung einem faktischen Arbeitsve rbot gleich. Der Zwang zur
Passivität steigert jedoch
wiederum die Spannung in
den Massenquartieren. Es
wurde beobachtet, daß einige Frauen der Prostitution nachgehen. Dies ist für
54
sie häufig die einzige
Möglichkeit, Geld zu ve rdienen. In der Bundesrepublik herrscht eine hohe
Nachfrage nach ausländ ischen Prostituierten. In einigen Orten wurde festg estellt, daß im Umfeld der
Einrichtungen für Asylb ewerber gezielt Frauen angeworben wurden. Waren
die für etwa 500 Menschen
konzipierten
Erstaufna hmeeinrichtungen im ve rgangenen Jahr noch mit
bis zu 1000 Personen
überbelegt, so sind durch
den Rückgang der Asylb ewerberzahlen nach der Änderung des Asylrechts im
Juli 1993 viele Einrichtungen derzeit nicht voll belegt. In verschiedenen Ländern wird geplant, die kle ineren
Einrichtungen
zu
schließen und die Unte rbringung von Asylsuche nden in großen Unterkünften
zu zentralisieren. Gerade
zwischen Asylsuchenden in
kleineren, dezentralen Einrichtungen zu schließen
und die Unterbringung von
Asylsuchenden in großen
Unterkünften zu zentralisieren.
Gerade
zwischen
Asylsuchenden in kleineren, dezentralen Einrichtungen und der lokalen Bevölkerung waren jedoch in
der Vergangenheit gute
nachbarschaftliche Bezi ehungen entstanden. Diese
werden durch die Zentralisierung wieder zerstört, in
einigen Fällen gegen den
ausdrücklichen
Wunsch
nicht nur der Asylsuche nden, sondern auch der
deutschen
Bevölkerung.
Dagegen werden durch die
zentrale
Unterbringung
Asylsuchende
von
der
Deutschen
Bevölkerung
weitgehend isoliert, obgleich angesichts der zahlreichen Angriffe auf Asylbewerberheime gute Kontakte zur deutschen Bevö lkerung von zentraler Bedeutung wären. Ängste vor
Übergriffen durch Rechtsradikale bewegen viele
Frauen dazu, die Einrichtung gar nicht oder nur in
Begleitung zu verla ssen.
4.2. Auswirkungen des
Asylbewerberleistungsgesetzes Am 1.11.1993
trat das Asylbewerberle istungsgesetz in Kraft. Danach wird zum ersten Mal
eine Gruppe von Sozialhilfebedürftigen aus dem
Bundessozialhilfegesetz
ausgeschlossen.
Dabei
gelten die Leistungen für
Sozialhilfeempfänger
in
der Bundesrepublik als das
Lebensminimum.
Dieses
Lebensminimum gilt für
Asylsuchende nicht. Sie
erhalten nur Leistungen,
die zum Leben unerläßlich
sind. Für Asylsuchende im
ersten Jahr des Verfahrens
gilt, daß die Leistungen,
als Sachleistungen zu gewähren sind. Statt Bargeld
erhalten viele Asylsuche nde inzwischen Essenspakete oder Kantinenversorgung. Für Frauen bedeutet
dies, daß sie sich und ihre
Familien im allgemeinen
gar selbst versorgen können. Auf die Minderwerti gkeit dieser Versorgung
wurde in den vergangenen
Monaten in der Presse
wiederholt
hingewiesen.
Schwangeren Frauen, die
auf Sozialhilfe angewiesen
sind, wird in der Bundesrepublik ein Mehrbedarf an
Vitaminen u. a. zugesta nden.
Sozialarbeiterinnen
berichten, daß mit der
RUNDBRIEF
25/26-1995
Einführung des Asylbewe rberleistungsgesetzes dieser
Mehrbedarf
für
schwangere Asylbewerberinnnen nicht mehr erteilt
wird, obwohl gerade diese
Frauen nicht selten mangelhaft ernährt sind und
aufgrund
ihrer
Lebensschicksale manchmal besondere Probleme in der
Schwangerschaft
haben.
Erwachsene Asylsuchende
erhalten pro Monat zusätzlich zu den Sachleistungen
ein Taschengeld von 80,DM. Davon müssen u.a.
Körperpflegeartikel bezahlt
werden. Häufig wird das
Taschengeld der Frauen
dem Ehemann als „Familienvorstand“ ausgezahlt. Es
wird
beobachtet,
daß
Frauen ihr Taschengeld
häufig dafür verwenden,
frische, vitaminreiche Na hrungsmittel und gelegentlich auch Süßigkeiten für
die Kinder zu kaufen. Auch
im Hinblick auf Sachle istungen ist, neben den negativen Auswirkungen auf
die Betroffenen, festzustellen:
Sachleistungen
sind wesentlich teurer als
Barauszahlungen. Es ve rdienen die Privatunterne hmen, die Essenspakete
ausliefern und Kantinen
betreiben. Von den öffentlichen Mitteln, die für Asylsuchende
ausgegeben
werden, kommt so nur ein
Teil bei den Betroffenen
an. Was die medizinische
Versorgung
angeht,
so
steht Asylsuchenden laut
Asylbewerberleistungsgesetz nur eine medizinische
Versorgung in akuten Fällen zu. Was darunter zu
verstehen ist, wird von den
verschiedenen Ärzten und
zahlungspflichtigen Behö r25/26-1995 RUNDBRIEF
den sehr unterschiedlich
ausgelegt und führt in vi elen fällen zu extremen
Härten.
Verhütungsmittel
für Frauen sind in der Regel nicht vorgesehen. In einigen Einrichtungen für
Asylbewerber werden Kondome zur Verfügung gestellt, in anderen Einrichtungen muß auch darum
gekämpft werden. Durch
die Einschränkung der Kostenübernahme
herrscht
auch Verunsicherung bei
Schwangerschaftsabbrüchen. Es ist eine Tendenz
zu beobachten, daß die
Kostenübernahme
für
Schwangerschaftsabbrüche eher durchzusetzen ist
als die Versorgung von
Frauen mit Verhütung smitteln. Aus den neuen
Bundesländern wird berichtet, daß asylsuchende
Frauen bei erforderlichen
Schwangerschaftsabbrüchen auch auf illegale
Strukturen
zurückgreifen,
wie sie sich unter den vietnamesischen Arbeitnehm erinnen zu DDR-Zeiten für
die Fälle entwickelt hatten,
in denen aus rechtlichen
Gründen (wegen der Unterschreitung der sechsmonatigen Wartefrist zwischen zwei Unterbrechungen nach DDR-Recht) ein
Abbruch in einer Klinik
nicht möglich war. Problematisch ist ferner die
Handhabung der nach der
Neugestaltung des §218
vorgeschriebenen
Schwangerschaftskonfliktberatung. Es besteht
gelegentlich
Unklarheit
darüber, wer die Kosten
für Dolmetscherin übernehmen soll. Offenbar sind
„Beratungen“ bereits ohne
Dolmetscherinnen bei gro-
ßen
Verständigungsproblemen durchgeführt wurden.
4.3 Beratung und Betreuung
Die meisten Wohlfahrtsverbände und kirchlichen
Werke waren nicht bereit,
die
Trägerschaft
von
Erstaufnahmeeinrichtungen
zu übernehmen, da sie die
Einrichtung
derartiger
Massenunterkünfte teilwe ise heftig kritisiert hatten. In
einigen Fällen unterhalten
sie unabhängige Beratungsstellen in den von privaten Betreibern geführten
Erstaufnahmeeinrichtungen
oder in deren näherer Umgebung. Dort leisten sie
Asylverfahrensberatung
und übernehmen soziale
Beratungsfunktionen.
Zu
vielen
Erstaufnahmeeinrichtungen haben Beschä ftigte von Beratungsstellen,
Ange-hörige von Initiati vgruppen und Besucher der
Asylsuchenden jedoch keinen Zutritt. Umgekehrt wird
der Zugang Asylsuchender
zu unabhängigen Beratungsstellen
oder
zu
Rechtsanwälten durch die
oft weitab gelegenen He ime
erheblich
eing eschränkt. Dies ist ang esichts der kurzen Fristen,
die bis zur Anhörung oder
bis zum Einlegen von
Rechtsmitteln zur Verfügung stehen, höchst problematisch. Für Frauen
verschärft sich die Situation insofern, als sie in der
Kürze der Zeit und ohne
entsprechende
Beratung
kaum in der Lage sind,
frauenspezifische
Verfo lgungsgründe vorzutragen.
Frauen, die Folter oder se55
xuelle Gewalt erfahren haben, sind nach den Erfa hrungen der Beratungsste llen und psychosozialen
Zentren erst nach einiger
Zeit in der Lage, über ihr
Schicksal zu sprechen.
Diese Zeit wird ihnen in
den verkürzten Verfahren
jedoch nicht mehr zug estanden. Besonders für die
neuen Bundesländer gilt,
daß das Beratungsangebot
für das Asylverfahren im
allgemeinen und für asylsuchende Frauen im besonderen unzureichend ist,
da das Beratungsnetz unabhängiger Gruppen noch
sehr großmaschig ist. Die
soziale Beratung in den
Erstaufnahmeeinrichtungen
ist häufig unzureichend, da
eine Betreuungsperson in
der Regel für mehr als 100
Asylsuchende
zuständig
ist. In manchen Einrichtungen stehen nur männliche
Betreuer zur Verfügung,
denen sich Frauen in der
Regel nicht anvertrauen.
Viele Betreuer und Betreuerinnen arbeiten mit
befristeten Verträgen bzw.
im Rahmen von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und
sind, da sie häufig aus anderen
Berufsgruppen
kommen, nur unzureichend
für die Arbeit mit asyls uchenden Frauen qualifiziert. Die 1990 unerwartet
einsetzende Zuwanderung
aus Osteuropa in die DDR
sowie die Aufnahmeve rpflichtung der neuen Bundesländer für Asylbewe rber nach dem Beitritt führten dazu, daß sich das Augenmerk vorrangig auf die
Schaffung von Erstunterbringungsmöglichkeiten
sowie die Entschärfung von
auftretenden
Konflikten
56
zwischen Teilen der einheimischen
Bevölkerung,
die vorher kaum mit Zuwanderung
konfrontiert
war, und den Asylsuche nden richtete. Für die Beachtung der spezifischen
Situation
weiblicher
Flüchtlinge blieb da kein
Raum.
Diese
Betrachtungsweise hat sich bis
heute nur geringfügig ve rändert. Für die gesamte
Bundesrepublik gilt: Ein
paternalistischer
Betreuungsengagement anstelle
von
Beratungsangeboten
bzw.
Angeboten
zur
Selbsthilfe dominiert. Zu
beobachten sind ferner Berührungspunkte
zwischen
Flüchtlingsfrauen und anderen Gruppen, z.B. den
als Arbeitnehmerinnen in
die
DDR
gekommenen
Frauen und Frauen aus
Osteuropa und der „Dritten
Welt“, die illegal als Arbeitskräfte
angeworben
und in die Prostitution gedrängt werden. Einige dieser Frauen halten sich anfangs in den Asylbewe rberunterkünften auf, sind
dann aber nach kurzer Zeit
unauffindbar. Für diese
Frauen gibt es kaum Beratungs- und Hilfsangebote. Die besondere Situation weiblicher Flüchtlinge
wird sowohl von den Ausländerbeauftragten
als
auch von den Gleichste llungsbeauftragten bislang
stark vernachlässigt. Es
bedarf gemeinsamer Aktivitäten dieser Institutionen,
um unter Einbeziehung der
einheimischen Bevölkerung
mittelfristig Veränderungen
herbeizuführen. Allerdings
ist es dazu nötig, die Kompetenzen der Ausländerund Gleichstellungsbeauf-
tragten zu erweitern und zu
stärken, um sie künftig in
die Diskussion um den
Umgang mit Asylsuche nden einzubeziehen.
5.Forderungen und Empfehlungen zur Unterstützung von Flüchtlingsfrauen
Abbau von Fluchtu rsachen
1. Der Handel mit Rüstungsgütern muß einer
konsequenten
Kontrolle
unterliegen. Es dürfen keine Waffen in Kriegs- und
Krisengebiete
geliefert
werden.
2. Die wirtschaftliche,
kulturelle und politische
Zusammenarbeit der Bundesrepublik
Deutschland
mit anderen Staaten darf
nicht dazu beitragen, menschenverletzende
Regierungen zu stabilisieren.
3. Es muß auf die
Schaffung von gerechteren
weltwirtschaftlichen Strukturen hingearbeitet we rden.
4. Das internationale
System des Flüchtling sschutzes darf in seinem
Wesensgehalt, wie er z.B.
in den Beschlüssen des
Executivkomitees
des
UNHCR zum Schutz von
Asylsuchenden und Flüchtlingen
zum
Ausdruck
kommt, nicht durch die restriktive Asylpolitik der
Staaten der Europäischen
Union in Frage gestellt
werden.
5. Die Sicherheit und
Versorgung der Binne nflüchtlinge muß stärker berücksichtigt und durch das
Schutzmandat einer inte rnationalen
Organisation
aufgefangen werden.
6. Innenpolitisch sind die
Rechte von Frauen zu stärRUNDBRIEF
25/26-1995
ken (z.B.Schutz bei Gewalttaten gegenüber Frauen, auch in der Ehe). Nur
so können außenpolitisch
Frauenrechte immer wi eder zum Thema gemacht
werden.
Zugang zum Asylverfahren
7.Flüchtlinge
aus
Kriegs-und Krisengebieten
dürfen nicht durch Visum sbestimmungen daran gehindert werden, in der
Bundesrepublik Deutschland oder einem anderen
europäischen Land Schutz
zu suchen.
8. Es wird empfohlen zu
prüfen, wie von seiten der
Bundesrepublik eine Situation an den Landesgrenzen vermieden werden
kann, die Flüchtlinge und
insbesondere Frauen physisch gefährden kann.
9. Solange die pauschale Anwendung des
Konzeptes sicherer Drittund Herkunftsstaaten praktiziert wird, ist zumindest
sicherzustellen, daß die
spezifische Situation von
Frauen in den als sicher
erklärten Staaten berücksichtigt und ggf. das Konzept auf sie nicht ang ewandt wird.
10. Wie im Rahmen der
Übernahme von Flüchtli ngen aus Bosnien bereits
geschehen, sollten ve rstärkt Möglichkeiten erwogen werden, besonders
bedrohte Frauen in die
Bundesrepublik zu übernehmen. Es wird empfo hlen zu prüfen, ob die Bundesrepublik sich an dem
„Women
-at-Risk“Propaganda des UNHCR
beteiligen kann.
25/26-1995 RUNDBRIEF
11. §32a AuslG sollte in
der Praxis angewandt we rden. Die Finanzierungsfragen zwischen Bund und
Ländern müssen schnellstens einvernehmlich geklärt werden.
12.
Statistiken
zu
Flüchtlingen sollten in Zukunft getrennt nach Geschlecht erhoben werden,
wie dies auch in anderen
europäischen Staaten zunehmend geschieht. Vorhandene Daten sollten zugänglich gemacht werden.
Asylverfahren
und Asylgewährung
13.Geschlechtsspezifisc
he Verfolgung ist als Asylgrund anzuerkennen.
14. Im Asylverfahren ist
sicherzustellen, daß Frauen von Entscheiderinnen
und Dolmetscherinnen angehört werden.
15. Frauen müssen auf
Wunsch getrennt von Familienangehörigen
ang ehört werden, um ihnen zu
ermöglichen, ihre Situation
(z.B. erlittene Vergewaltigungen) darzustellen.
16. Frauen müssen auch
zu einem späteren Zeitpunkt nach der Anhörung
noch die Möglichkeit haben, die Verfolgungsgründe zu benennen (in Ausnahmefällen auch über ihre
Vertrauenspersonen). Diese Möglichkeit muß vor allem in Fällen sexueller Gewalt gegeben sein.
17. In den Lageberichten
des Auswärtigen Amtes
über Herkunftsländer müssen Informationen über die
Menschenrechtssituation
von Frauen enthalten sein.
Erste Ansätze in dieser
Richtung sind auszubauen.
18.
Entscheiderinnen
und Entscheidern müssen
Informationen, auch von
unabhängigen
Organisationen, über die Mensche nrechtssituation von Frauen
zur Verfügung gestellt we rden.
19.
Entscheiderinnen
und Entscheider sollten
verstärkt auf die spezifischen Probleme asyls uchender Frauen im Verfa hren hingewiesen werden.
Es wird empfohlen, Richtlinien zu erarbeiten, die es
Befragerinnen und Befragern
ermöglichen,
das
Vorliegen geschlechtsspezifischer Verfolgung zu erkennen.
20. Es müssen politische Wege gefunden we rden, wie Frauen bei geschlechtsspezifischer
Verfolgung Asyl gewährt
werden kann. Der Bundesinnenminister ist aufgefordert, über den Bundesbeauftragten die möglichen Rechtsmittel in diesem Sinne einzusetzen.
Die Innenministerien von
Bund und Ländern sind
aufgefordert,
Abschi ebungsschutz für Gruppen
verfolgter Frauen zu gewähren, die bisher im Asylverfahren nicht anerkannt
wurden und dafür zu sorgen, daß auch in den Einzelfallprüfungen
geschlechtsspezifische
Abschiebungshindernisse geprüft werden.
21. Es wird empfohlen,
ähnlich der Initiativen der
Schweiz und Kanadas, eine Studie über rechtliche
Möglichkeiten der Ane rkennung frauenspezifischer
Verfolgung zu erstellen und
die Richtlinien der kanadischen Regierung zur Asyl57
gewährung
bei
geschlechtsspezifischer
Verfolgung in den deutschen Kontext zu übertragen.
22. Frauen, deren Asylbegehren
abgewiesen
worden ist, dürfen nicht
getrennt von ihren Familien
in die Heimatländer zurückgeschickt
werden.
Ehepartner
mit
unte rschiedlicher Staatsangehörigkeit dürfen nicht in unterschiedliche Länder abgeschoben we rden.
23. Frauen, die alleinstehend sind und ohne fa miliären Schutz nach einer
Rückkehr
Anfeindungen
und Übergriffen ausgesetzt
sind, dürfen nicht abgeschoben werden. Ein besonderer
Abschiebung sschutz muß auch für Frauen greifen, die durch Ereignisse in der Bundesrepublik Opfer sexueller Gewalt wurden und aufgrund
dessen den Schutz ihrer
Familie im Herkunftsland
verloren haben.
Die soziale Situation
weiblicher Flüchtlinge
24. Die Nachteile der
zentralen
Unterbringung
von Asylsuchenden sind
problematisch und müssen
überprüft werden. Der dezentralen Unterbringung in
kleinen Einrichtungen muß
Vorrang gegeben we rden.
25. Die Unterbringung ssituation weiblicher Flüchtlinge erfordert ein deutliches Engagement der Innen- und Sozialministerien
der Bundesländer. Bereits
für die Erstaufnahmephase
müssen Männer und Familien, geschaffen werden.
Für alleinflüchtende Frau58
en, strikt getrennt von denen alleinreisender Männer
und Familien, geschaffen
werden. Für alleinflüchte nde Frauen sollen auch für
die weitere Unterbringung
während des Asylverfa hrens gesonderte Unterbri ngungsmöglichkeiten eing erichtet und auf Wunsch der
Betroffenen bei der Umverteilung eine Unterbri ngung in diesen Einrichtungen vorgenommen werden.
Für alleinflüchtende Frauen, die in der Bundesrepublik von Familienangehörigen aufgenommen werden
können, sollte die Pflicht
zur
Wohnsitznahme
in
Sammelunterkünften außer
Kraft gesetzt werden.
26. Die Privatsphäre
weiblicher Flüchtlinge ist
zu schützen. Santärräume
müssen für Frauen und
Männer getrennt eing erichtet werden und abschließbar sein.
27.
Eine
effizientere
Kontrolle der Betreiber von
Flüchtlingsunterkünften
durch die Behörden auf der
Basis von Mindestanforderungen, wie sie z.B. für
Alten- und Pflegeheime
üblich sind, ist einzuführen.
In den Einrichtungen sollte
nur qualifiziertes Betreuungspersonal beschäftigt
sein. Der BetreuerinnenSchlüssel sollte verbessert
und berufliche Fortbildungen ang eboten werden.
28.
Ehepartner
und
Partner aus dauerhaften
Lebensgemeinschaftten
sind, auch wenn sie zeitlich
unabhängig
voneinander
eingereist sind, gemeinsam zu verteilen.
29 Wo Flüchtlinge unte rgebracht werden sollen,
müssen
Maßnahmen
durchgeführt werden, um
die Bevölkerung darauf
vorzubereiten und in Entscheidungen
einzubezi ehen.
30. Asylsuchende müssen Sozialhilfeempfängern
gleichgestellt werden. Sie
sollen die Leistungen für
Verpflegung, Kleidung etc.
in Bargeld erhalten und
nicht die minderwertige
Versorgung durch Kantinenverpflegung oder Essenspakete, die nicht ihren
Bedürfni ssen entspricht.
31.
Asylsuchenden
Frauen
sollten
Verhütungsmittel zur Verfügung
gestellt
werden.
Die
Schwangerschaftskonfliktberatung muß auch für
weibliche Flüchtlinge gewährleistet werden. Die
notwendigen Kosten für
Dolmetscherinnen sind in
die Kostenplanung einzubeziehen. Die für die Za hlung von Sozialhilfe zuständigen Ämter sind durch
die Länder darauf zu orientieren, daß die Finanzi erung
des
Schwangerschaftsabbruchs über §120
Bundessozialhilfegesetz
ermöglicht wird.
32. Frauen, die im He rkunftsland oder auf der
Flucht Vergewaltigung erlitten haben, sollte die
Möglichkeit einer therapeutischen
Behandlung
angeboten werden.
33. Der privaten Hilfsbereitschaft bei der Aufna hme von Flüchtlingen sollten
keine bürokratischen Hi ndernisse in den Weg gestellt werden.
34. In allen Bundeslä ndern müssen Initiativen,
die Flüchtlingsfrauen beraten, gefördert werden.
Insbesondere ist die EinRUNDBRIEF
25/26-1995
richtung von Beratungseinrichtungen für Frauen auf
der Flucht in den neuen
Bundesländern zu fordern.
Bereits bestehende Beratungseinrichtungen dieser
Art in den alten Bundesländern sind weiterhin zu
fördern.
35.Gemeinsame Aktivitäten der Ausländer- und
Gleichstellungsbeauftragten zu weiblichen Flüchtli ngen sind anzustreben. Die
spezifische Situation weiblicher Flüchtl-inge muß Bestandteil der Aktivitäten
diese Stellen werden.
36. Politiker und Politikerinnen werden aufgefo rdert, Flüchtlinge nicht als
Gefahr und Bedrohung darzustellen, die es im nati onalen Interesse abzuwehren gilt. In der Öffentlichkeit muß vielmehr das
Ausmaß der internationalen Flüchtlingsproblematik
verdeutlicht werden und die
Verantwortung aller Länder, zur Lösung beizutragen.
37.
die
Arbeit
von
NGOs, die sich einsetzen,
um Begegnungen zwischen
Flüchtlingen und dem sozialen Umfeld zu ermöglichen, soll unterstützt werden (finanziell, aber auch
durch öffentliche Anerkennung der Arbeit).
l
Es sollte generell darauf
geachtet
werden,
daß
Flüchtlinge nicht in entmündigender Weise ve rwaltet werden, sondern
daß sie die Chance erha lten, ihre Lebenssituation
selbst zu gestalten und bei
der
Konzeption
und
Durchführung von Maßnahmen für Flüchtlinge mi tzuwirken. Dies gilt insbesondere für Frauen, die
überwiegend die Kinder
versorgen und die Familien
zusammenhalten.
-----------Arbeitsgruppe
`Fluchtgründe
von
Frauen/Situation der Flüchtlingsfrauen in der Bundesrepublik
Deutschland`
Frau
Margit
Gottstein,
Sprecherin, Freie Unive rsität Berlin, Forschung sstelle Arbeitsmigration
- In der Arbeitsgruppe hat
eine Asylbewerberin mi tgearbeitet.
- Die weiteren Mitglieder
der Arbeitsgruppe kommen
aus folgenden Institutionen,
Verbänden, Initiativen o.ä.:
3.Frauenhaus
Hamburg
e.V., Ha mburg
Amt des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR),
Bonn
Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e.V., Bonn
Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen,
Stuttgart
Bundesministerium
für
Frauen und Jugend, Referat 118, Bonn
Büro der Beauftragten der
Bundesregierung für die
Belange der Ausländer,
Bonn
CABANA - Begegnungsund Beratungszentrum für
Aus- und Inländerinnen,
Ökumenisches
Informationszentrum Dresden e.V. ,
Dresden
Demokratischer
Fraue nbund e. V., Berlin
Demokratischer
Fraue nbund e. V., Greifswald
Deutscher Akademikeri nnenbund, Essen
Deutscher
Ärztinnenbund
e.V. Wuppertal
Evangelische Frauenarbeit
in Deutschland e.V. YWCA,
Frankfurt/M.
Initiative
Interkulturelle
Frauen- und Familienarbeit
(IIFF) e.V., Offenbach/M.
Mihraban Frauen im Asyl
e.V., Leipzig
Ministerium für Arbeit, Soziales,
Gesundheit
und
Frauen, Brandenburg, Büro
des Ausländerbeauftragten
des Landes Brandenburg,
Potsdam
Senatsverwaltung für Arbeit und Frauen, Berlin
Beitrittserklärung/Abonnement
o
Hiermit erkläre ich meinen Beitritt zum „Förderverein Niedersächsischer Flüchtlingsrate.V.“ Die
Satzung habe ich zur Kenntnis
genommen und erkenne sie an. Das Abonnement des FlüchtlingsratRundbriefs ist in dem Vereinsbeitrag enthalten (Mindestbeitrag: 10,-DM pro Monat für
Einzelpersonen und Initiativgruppen,
Organisationen usw. und 5,-DM für Erwerbslose)
25/26-1995 RUNDBRIEF
59
Das „neue Asyl(un)recht“
Bilanz und Ausblick
von Heiko Kaufmann 1
Am 01.07.1993 hat der
Bundestag mit Zweidritte lmehrheit das Grundgesetz
geändert und damit ein
neues Asylrecht gescha ffen, bzw. das bis dahin bestehende Asylrecht fast
vollkommen
abgeschafft.
Am 01.11.1993 trat das
dazugehörige
novellierte
Ausländer- und Asylverfa hrensgesetz in Kraft und das
neugeschaffene
Asylb ewerberleistungsgesetz.
Die Auswirkungen des
neuen Asylrechts werden
von der Bundesregierung
als großer Erfolg betrachtet. Statistisch hat es dazu
geführt, daß die Zahl der
Asylbewerber in 1994 gegenüber dem Vergleichszeitraum 1993 um fast zwei
Drittel zurückgegangen ist.
Schon im Vorfeld hatten
viele Organisationen und
Einzelpersonen vor dieser
Grundgesetzänderung gewarnt - und nach über einem Jahr Abschiebungsund Asylverhinderungspraxis hat die Wirklichkeit
viele Befürchtungen noch
übertroffen.
Wir haben:
• exterritoriale Lager auf
Flughafengeländen
für
1 Heiko Kaufmann ist Sprecher der Flüchtlingsorganisation Pro Asyl e.V. . Pro Asyl ist
die Bundesarbeitsgemeinschaft, in der sich
Flüchtlingsräte, Vertreter von Menschenrechtsorganisationen, Kirchen Gewerkschaften, Woohlfahrtsverbänden und Initiativen für die Verbesserung der Situation von
Flüchtlingen und des Flüchtlingsschutzes
zusammengeschlossen haben.
68
Flüchtlinge aus sog. sicheren Herkunftsländern und
für die, deren Reisedokumente fehlen oder gefälscht sind,
• sog. sichere He rkunftsländer, von denen
viele nach den Belegen von
amnesty
international,
Menschenrechtsorganisationen und der UN als solche überhaupt nicht eing estuft werden können,
• die im Schnellverfa hren arbeitenden Außenstellen des Bundesamtes
für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge mit
Anhörungen, die oftmals
mit ungeeigneten Dolmetschern durchgeführt we rden,
• immer mehr Lager und
Sammelunterkünfte
in
Deutschland,
• die Gutschein- bzw.
Gemeinschaftsverpflegungspraxis,
• eine rigorose Abschiebepraxis,
flankiert
durch neu eingerichtete
Hafthäuser und spezielle
Abschiebegefängnisse, in
denen Menschen eing esperrt werden, ohne kriminell zu sein,
•
Rückübernahmeabkommen, die täglich Menschen ins Elend transportieren; Rückübernahmeabkommen, über die der
Bundesinnenminister sagt,
„es sei ihm egal, ob dieser
Staat das Prüfungsverfa hren durchführt, oder ob er
sich seiner Pflicht entledigt“,
• von diesem Innenminister eingesetzte Spähhubschrauber gegen Flüchtli nge,
Infrarot-Technik
im
Grenzüberwachungsgebiet
-...,
• nach wie vor Entsche idungen des Bundesamtes
für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, die
Asylsuchenden immer wi eder (etwa vergewaltigten
Flüchtlingsfrauen aus Bosnien) die Anerkennung ve rsagen, ihnen darüber hi naus auch noch den Abschiebungsschutz versagen
- ebenso wird Kurden, Palästinensern und anderen
Bürgerkriegsopfern
no twendiger Schutz regelmäßig vorenthalten und Menschen aus den Kriegs- und
Bürgerkriegsgebieten
in
Afrika, wo die heftigsten
und grausamsten Kämpfe
toben, kommen laut entsprechender
Bescheide
aus Regionen, in die angeblich gefahrlos abgeschoben werden kann ...
Was wir nicht haben und das sollte ja nun auch
nach den Aussagen vieler
VerfechterInnen der Asylrechtsänderung in der SPD
ein positiver Effekt der
Grundgesetzänderung sein
- ist,
• die versprochene Ble iberechtsregelung und der
Sonderstatus für Flüchtli nge aus Bürgerkriegsgebieten, die dadurch weite rhin oftmals einer inhumane
Verfahrenspraxis
ausgesetzt sind.
RUNDBRIEF
25/26-1995
Der Zustand der Republik
Im Kern der Debatte
über die Änderung des Artikels 16 des Grundgesetzes - und in der Art sie zu
führen - ging es nicht vo rrangig um Flüchtlinge und
ZuwanderInnen,
sondern
um uns selbst , den Zustand der Republik:
• Die Demontage des
Grundrechts auf Asyl war
nur die erste Etappe in einem
Verteilungskampf,
dessen zweite Runde wir
gegenwärtig im weiteren
Abbau von Sozialleistungen, höheren Belastungen
der ArbeitnehmerInnen und
den Versuch erleben, we itere demokratische Rechte
und Errungenschaften abzubauen.
• Die Debatte um die
Änderung des Asylrechts
und die gebetmühlenartige
Wiederholung der Aussage
„die
Bundesrepublik
Deutschland sei kein Einwanderungsland“ hat mehr
zur Entstehung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in diesem Lande
beigetragen als alles and ere. Denn eine solche „Lebenslüge“ macht es kurzfristig einfacher, wegzus ehen, wegzudrängen, auszugrenzen, den anderen und
die anderen nicht wahrnehmen zu wollen, sich
über sie zu erheben und
nur sich selbst, seine eigenen Rechte und sein Wohlergehen zu sehen.
•
Dem
individuellen
Rassismus der Rechtsradikalen und Verführten wird
durch noch so viele pädagogischen
Aufklärung sprogramme nicht erfolgreich begegnet werden
25/26-1995 RUNDBRIEF
können, wenn die politischen Parteien nicht endlich bereit sind, den institutionellen Rassismus dieser
Gesellschaft
abzuschaffen, der sich in dieser
Lebenslüge und den daraus abgeleiteten Maßna hmen,
Asylbeschleunigungsgesetzen,
Verfa hrensvorschriften, minderen
Sonder-“Rechten“ und in
der Verweigerung der Einleitung
gesellschaftlicher
Reformen mit dem Ziel der
Herstellung weltweiter sozialer Gerechtigkeit ausdrückt.
Der Norden ist verantwortlich
Auch wenn sich die
Asylgesetze
und
die
Flüchtlingszahlen ändern die Fluchtursachen in den
Herkunftsländern
haben
sich nicht geändert. Für sie
tragen die Industrienati onen - an entscheidender
Stelle auch Deutschland aus politischen und ökonomischen Gründen eine
so hohe Verantwortung,
wie sie selbst fortwährend
Ursachenfaktor
für
die
Verarmung
der
Dritten
Welt, für ungerechte Wirtschaftsstrukturen, für Waffenexporte und für die Aufrechterhaltung von Terrorregimen sind. Die westliche, unsere Art zu wirtschaften, unser Lebensstil
fordern täglich mehr Opfer
und beschwören den ökologischen Kollaps herauf.
So bringt der Verfall der
Rohstoffpreise
unserer
Wirtschaft Vorteile in Milliardenhöhe.
Dabei geht es - gemäß
eines Berichtes von Pro
Asyl - mit den verschärften
rechtlichen
Bedingungen
einher eine zunehmende
Leisetreterei der Bundesregierung
gegenüber
Staaten mit schweren Menschenrechtsverletzungen
und einem innenpolitisch
nur noch „kosmetischen
Menschenrechtsschutz“ für
Flüchtlinge. Viele Lageberichte des Auswärtigen
Amtes legen die Vermutung „einer absichtsvollen
Verharmlosung der Menschenrechtssituation
in
vielen
Herkunftsländern“
nahe, die zur Nichtane rkennung vieler bedrohter
Flüchtlinge führt. Es ist politische
Heuchelei,
den
Krieg in „Ex-Jugoslawien“
zwar als „völkerrechtswi drig“ anzuprangern, aber
denjenigen Zuflucht und
Hilfe zu versagen, die ihm
entfliehen.
Auch
der
UNHCR hat wiederholt gefordert,
Abschiebung sschutz auch für Flüchtlinge
zu gewähren, die zum Zeitpunkt ihrer Flucht gezwungen waren oder bei ihrer
Rückkehr gezwungen wären, an völkerrechtswidrigen Handlungen teilzunehmen und bei denen ins ofern eine potentielle Strafe
für Desertion oder für
Nichtbefolgung von Einb erufung als Verfolgung angesehen werden muß.
Zusammengefaßt
muß
gesagt we rden:
• Die deutsche Asyl- und
Ausländerpolitik der letzten
30 Jahre, die sich vor allem in einer zunehmenden
Verschärfung von Gesetzen
ausdrückt, ist gründlich
gesche itert;
•
eine
glaubwürdige
Flüchtlings- und Migrationspolitik kann und darf
sich nicht auf administrati69
ve
Abwehrmaßnahmen
gründen;
• ein rein juristisches Instrumentarium von asylund
ausländerrechtlichen
Maßnahmen ist untauglich,
den Auswirkungen globaler
Entwicklungen
angemessen zu begegnen;
• der übliche verengte
Blick nationaler Egoismen
und eine rein reaktive
Asylpolitik, die vorrangig
nur die für die westlichen
Aufnahmeländer sich ergebenden Folgen und Kons equenzen der Flucht, nicht
aber deren Wurzeln und
Entstehungsbedingungen
untersucht, wird nicht zur
Lösung
des
weltweiten
Flüchtlingsproblems
beitragen, sondern es eher
noch verschärfen und zu
einer Zunahme von Ressentiments und Rassismus
beitragen.
Eine
umfassende
Flüchtlings- und Migrationspolitik muß vor allem
die zunehmende Komplexität von Fluchtursachen,
die Lebensrealität und die
Bedingungen von Flüchtli ngen berücksichtigen, die
sie zur Flucht treiben. Nicht
die Flüchtlinge, sondern
die Fluchtursachen sind zu
beseitigen.
Im Mittelpunkt unserer
innergesellschaftlichen
Herausforderung
steht
künftig die Aufgabe, die
Würde des Menschen , und
zwar aller Menschen in
Deutschland zu wahren. Es
geht um den Artikel 1 uns erer Verfassung und damit
um die Substanz dieses
Staates. Nicht mehr Einm ischung des Nordens, sondern Einmischung im No rden müssen die Bürgerund Menschenrechtsbewe70
gungen als zentrale Aufg abe erkennen. Ziel kann nur
eine auf mehr Partizipation
und Demokratie ausgerichtete Weltgemeinschaft
sein, die alle überleben
läßt und geeignete globale
Umverteilungsprozesse in
die Wege leitet.
Mindestanforderungen
an ein neues Asylrecht
Die Organisation Pro
Asyl hat auf der Grundlage
der Erfahrungen eine Liste
mit Mindestanforderungen
an ein neues Asylrecht vo rgelegt:
• Die Drittstattenregelung ist auszusetzen, denn
sog. „sichere Drittstaaten“
haben sich in der Praxis
als nicht sicher erwiesen.
• Die Anhörung des/der
Ausländer/in darf frühestens am 7. Tag nach der
Einreise, nach einer Gelegenheit zur Verfahrensberatung in eigener Sprache
und
Gelegenheit
zur
schriftlichen
Antragsbegründung
durchgeführt
werden.
• Für Klagen und Anträge auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes sollte
die Rechtsmittelfrist einheitlich einen Monat betragen. Die Ausreisefrist hat
auf jeden Fall mindestens
einen Monat zu betragen
und darf erst nach Ablauf
der Rechtsmittelfrist beginnen.
• Die Regelungen über
sog. „sichere Herkunftsstaaten“ und für Läger an
Flughäfen sind ersatzlos zu
streichen.
• Sämtliche Sonderregelungen bezüglich der Zustellungsvorschriften sind
ersatzlos zu streichen.
• Die Institution des
Bundesbeauftragten ist abzuschaffen.
• Der gesetzliche Zwang
zur Unterbringung in Sammellagern ist zu b eenden.
• Dem/der Asylantragsteller/in ist Gelegenheit zu
geben, in der Erstaufna hmeeinrichtung
von
der
Möglichkeit einer unabhä ngigen Rechts- und Verfa hrensberatung Gebrauch zu
machen.
• Bei der Feststellung
von Abschiebehindernissen
ist eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.
•
Die
Bundesländer
müssen das Recht erha lten, Abschiebestopps in
eigener Kompetenz zu erlassen.
• Inhaftierungen lediglich
zur Sicherung der Abschiebungen sind unzulä ssig.
• Ein eigener Rechtsstatus für Bürgerkriegsflüchtlinge muß endlich
verwirklicht werden.
• Als Altfallregelung ist
zu fordern:
- alle Flüchtlinge, die
bisher vom Bundesamt anerkannt wurden, werden
letztinstanzlich Anerkannten gleichgestellt.
- Flüchtlinge aus Ländern mit hoher Anerkennungsquote, deren Verfa hren vor dem 01.01.93 eingeleitet wurden und seitdem anhängig sind, erha lten auf Antrag und bei
Rücknahme des Asyla ntrags eine Aufenthaltsbefugnis und Arbeitserlaubnis;
Flüchtlinge,
deren
Asylverfahren zum Zeitpunkt der Verabschiedung
dieser Regelung bereits
vier Jahre und länger anRUNDBRIEF
25/26-1995
hängig sind, erhalten auf
Antrag und bei Rücknahme
des Asylantrags eine Aufenthaltsbefugnis und eine
Arbeitserlaubnis.
- Flüchtlinge, die seit
dem 01.01.91 wegen ta tsächlicher oder rechtlicher
Abschiebehindernisse im
Besitz einer Duldung sind,
erhalten eine Aufenthaltsbefugnis und Arbeitserlaubnis.
• Das Asylbewerberle istungsgesetz ist ersatzlos
zu streichen.
Darüber hinaus ist ein
europäisches
Asylrecht
erforderlich, das die Sta ndards umsetzt, wie sie in
den
Empfehlungen
des
Exekutivkomitees der Hohen Flüchtlingskommissarin der Vereinten Nationen,
den Empfehlungen des Europarates und im Handbuch
der
Hohen
Flüchtling skommissarin
enthalten
sind.
OVG Lüneburg bestätigt Urteil des VG Hannover
zur Gruppenverfolgung
von Kosovo-Albanern/innen
von Kai Weber
Mit
Entscheidung
vom
03.02.1995 (Az. 8 L 6719/94;
13 A 7303/93) hat das OVG
Lüneburg den Antrag des
Bundesbeauftragten auf Zulassung der Berufung gegen das
anerkennende Urteil des VG
Hannover im Verfahren eines
Kosovo-Albaners abgewiesen!
Die Anerkennung des KosovoAlbaners nach § 51 AuslG als
politisch Verfolgter ist damit
gem. § 80 AsylverfG rechtskräftig.
Der
Bundesbeauftragte
hatte in seinem Antrag auf Zulassung der Berufung geltend
gemacht, daß die Entscheidung
25/26-1995 RUNDBRIEF
des Verwaltungsgerichts von
der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil
vom 05.07.1994 - BVerwG 9
C 158/94 -) abweiche. In seiner Entscheidung stellt das
OVG jedoch fest, daß das VG
Hannover in seiner Entscheidung nicht von einem abstrakten Rechtssatz des BVG abgewichen sei. Mit der Feststellung, daß sich die Situation
im Kosovo seit der Entscheidung des BVG weiter verschärft hat, habe das VG Hannover nicht gegen die Rechtsprechungsgrundsätze
des
BVG verstoßen, sondern sei
„lediglich innerhalb des ihm
zustehenden Wertungsrahmens
bei der Würdigung des Tatsachenstoffes von der für die
Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen „Verfolgungsdichte“ ausgegangen, ohne einen von der zitierten
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
abweichenden abstrakten Rechtssatz
aufzustellen oder die Voraussetzungen der Gruppenverfolgung im Sinne einer allgemeingültigen
Begriffsbestimmung
neu zu entwickeln“.
71
Da der Antragsteller seine Weigerung, Wehrdienst zu leisten, mit der Gefahr des völkerrechtswidrigen-Einsatzes in Berg-Karabach begründet und nicht mit einer allgemeinen Verweigerungshaltung, erfüllt er bezüglich der ihm drohenden Sanktionen seitens des armenischen Staates die Voraussetzungen für die Feststellen der Flüchtlingseigenschaften nach Art.1 A Ziff.2 der Genfer
Flüchtlingskonvention.
Dies gilt um so mehr, da ein solcher Einsatz nach den dem Bundesamt vorliegenden Erkenntnissen dem Antragsteller auch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht (vgl. Brief der Human Rights
Watch/Helsinkin an Levon Ter-Petrossian vom 06.08.1994; UNHCR vom 14.09.1994 - Az.: 100
ARM - 94/4010-JH/dm; Ergänzungsbericht des Auswärtigen Amtes vom 30.09.1994 Az.:514516.80/3 (Stand 26.09.1994); Pressebericht „The Amenian Reporter Int`L“ vom 10.09.1994 („A
View of Amenia`s Army“); Bericht des Hilfskomitees „Bürgerlicher Beistand“ Moskau, vom
17.09.1994; sowie Bericht des MdB Udo Haschke über eine Reise im Auftrag der CDU/CSU Fraktion des Deutschen Bundestages in die Republik Armenien einschließlich Nagorny Karabach
vom 22.11.1994).
Die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG sind demnach gegeben. Auch liegt ein Abschiebungs hindernis gem. § 53 Abs. 4 vor. Der Antragsteller darf mithin zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht
nach Armenien abgeschoben werden. Abschiebungshindernisse im bezug auf andere Staaten sind
dagegen nicht ersichtlich.Die beigefügte Rechtsbehelfsbelehrung ist Bestandteil dieses Bescheides.
Knur
Die Drittstaatenregelung in Artikel 16 a II
GG und das Refoulement-Verbot im internationalen, besonders im Europarecht
von RA Victor Pfaff 1
In diesen Tagen veröffentlicht ECRE eine Dokumentation zur Problematik
des Umgangs der europäischen Staaten mit dem
Refoulementverbot. Zwa nzig Beispiele von Zurückweisungen / Zurückschi ebungen
/Ab-schiebungen
Asylsuchender sind dokumentiert. Der Vorwurf ist
begründet,
das
Non1Leicht gekürzter Vortrag, gehalten
auf der Tagung der Evangelischen
Akademie Mülheim/Ruhr am 3. Dezember
1994
80
Refoulement-Gebot
sei
mißachtet worden. Drei
Beispiele:-Im Mai 1994
wird eine 5köpfige Familie
aus Somalia ohne Prüfung
des Asylgesuchs von Belgien nach Prag deportiert.
Nach einem Transitaufenthalt wird sie nach Bratislava geschickt; die slowakischen Behörden verwe igern eine Asylantragste llung, es handle sich nicht
um Flüchtlinge. Die Slowakei schiebt in die Ukraine
durch, welche die Genfer
Konvention bisher nicht ratifiziert hat. Dann verliert
sich die Spur dieser Men-
schen.m 3.2. 1994 kommt
ein Algerier in Heathrow
an. Ein Asylantrag wird abgelehnt. Am 28.4. erfolgt
die Abschiebung nach Alicante. Am 10.5. erhält ein
Rechtsanwalt in London einen Anruf, der Algerier
befände sich in Abschi ebehaft, Asylantragstellung
sei nicht möglich. Schließlich konnte doch erreicht
werden, daß ein Asylantrag
gestellt wird. Wieder auf
freiem Fuß, taucht der Algerier aus Angst, erneut
festgenommen und nach
Algerien abgeschoben zu
werden, unter. Am 12.5.
RUNDBRIEF
25/26-1995
1994 kommen kurdische
Minderjährige aus der Tü rkei unbegleitet auf dem
Flughafen München an. Da
sie über Rom geflogen waren, wo sie nur einen Transitaufenthalt hatten, werden
sie zurückgewiesen und
nach Rom zurückgeschickt.
Italien läßt die Kinder in
die Türkei zurücktransportieren. Dort verliert sich ihre Spur. Alles Verstöße
gegen das Refoulementverbot. Lassen Sie mich
Ihnen noch einmal sagen,
was der Inhalt des Herzstücks des internationalen
Flüchtlingsschutzes
ist.
Seinen stärksten Ausdruck
hat dieses Verbot in Artikel
33 GK gefunden. Ziffer 1
der Vorschrift lautet: „Keiner der vertragschließenden Staaten wird einen
Flüchtling auf irgendeine
Weise über die Grenzen
von Gebieten ausweisen
oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine
Freiheit wegen seiner Ra sse, Religion, Staatsang ehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten
sozialen Gruppe oder wegen
seiner
politischen
Überzeugung bedroht sein
würde.“ Ein Staat darf eine
Person nicht zur Rückkehr
in ein Gebiet zwingen, in
dem sie einer Verfolgung
ausgesetzt wäre. Nicht entscheidend ist, ob die Person schon eingereist ist
oder sich zwar auf dem
Territorium aufhält, aber im
ausländerrechtlichen
oder
grenzpolizeilichen
Sinn - noch nicht eingereist
ist, also noch nicht Betretenserlaubnis erhalten hat.
Entscheidend
ist,
daß
staatliches Handeln zur
Auslieferung in die Verfo l25/26-1995 RUNDBRIEF
gung führen könnte. Untersagt ist dieses staatliche
Handeln.
Das
Refoulementverbot bezieht sich also auch auf Asylsuchende
„an der Grenze“, wie üblicherweise - juristisch nicht
ganz exakt - formuliert
wird. Die letztere Auffa ssung ist bestritten. 1 Daß
diese Auffassung neue rdings erst vertreten wird,2
stützt die hier vorgetragenen These, das Rad des
internationalen Flüchtling sschutzes werde zurückgedreht. Es ist nicht der Ort,
diese Diskussion einigermaßen vollständig zu referieren. Zwei Argumente
aber doch: Die GK von
1951 hatte in der Vorkriegszeit
Vorläufer seit
dem Völkerbund. Das Refoulementverbot war dort
schon
völkervertraglich
verankert und wurde dann
in die GK übernommen. Ich
zitiere beispielhaft aus Artikel 3 der Konvention über
den Internationalen Status
von Flüchtlingen vom 28.
10. 1933: „ ...Keinesfalls
werden sie Flüchtlingen an
der Grenze ihres He rkunftslandes die einreise
verweigern.“ Der Generalsekretär der Vereinten Nationen nahm hierauf bei
den Beratungen des Entwurfs der Konvention von
1951 ausdrücklich Bezug
und schlug die Erweiterung
vor, die neben dem He rkunftsland alle anderen
Staaten einbezieht.
An zweiter Stelle möchte
ich auf Beschlüsse des
1Frowein-Zimmermann, der Völkerrechtliche
Rahmen für die Reform des deutschen Asylrechts, Bundesanzeiger 1993, S. 28 f.
2vgl. Henkel, Kommentierung des § 26a, in:
GKAsylVfG, Rdnr. 80
Exekutivkomitees für das
Programm des UNHCR
verweisen. Diesem Komitee gehören Vertreter von,
ich meine, zur Zeit 42
Staaten an, darunter die
Bundesrepublik
Deutschland.
Die
Beschlüsse
kommen nur im Konsens
oder eben gar nicht zustande. Ihrer rechtlichen
Natur nach sind diese Beschlüsse, soweit sie „nur“
Empfehlungen
enthalten,
völkerrchtliches soft -law.
Ihnen kommt eine verhaltensteuernde Wirkung zu.
Falls Staaten, die den Beschlüssen zugestimmt haben,
davon
abweichen
wollen, müssen sie eine
genügende
Begründung
geben, wenn sie sich nicht
dem Vorwurf widersprüchlichen Verhaltens ausli efern wollen3. Daß die
Staaten diese Ex-ComBeschlüsse jedenfalls auf
dem Papier ernst nehmen,
geht daraus hervor, daß
die Resolution der EGEinwanderungsminister
betreffend
Drittaufna hmestaaten
vom
30.11./1.12. 1992 4 auf den
Beschluß Nr. 58 bezugnehmen, auf den ich noch
zurückkomme. Wiederholt
hat sich das Komitee in
Beschlüssen schwerpunktmäßig mit dem Gebot der
Einhaltung
des
NonRefoulement-Prinzips befaßt5 erstmals 1977. In
diesem ersten Beschluß
wird bekräftigt, daß der
Grundsatz
des
Non3Achermann/Gattiker, Sichere Drittstaaten,
Überlegungen aus schweizerischer und
europäischer Sicht, in: Asyl 1994, S. 27
4abgedruckt etwa in: Giesler/Wasser, Das
neue Asylrecht, Köln 1993, S. 207 ff
5Ex-Com Nr. 6 (XXVIII) 1977; Nr. 15 (XXX)
1979; Nr. 58 (XL) 1989
81
Refoulement-Prinzips „sowohl an der Grenze als
auch
innerhalb
eines
Staatsgebietes“ gilt. Wie in
Artikel 3 Abs. 1 des Dubliner Abkommens bestätigt,
hat sich das jüngere Völkervertragsrecht von diese
Auffassung nicht entfernt. In
dem Abkommen verpflichten sich die Mitgliedsstaaten, „jeden Asylantrag
zu prüfen , den ein Auslä nder an der Grenze oder im
Hoheitsgebiet eines Mi tgliedsstaates stellt“. Inhalt
des
Non-RefoulementGrundsatzes ist auch das
Verbot, den Asylsuchenden
der Gefahr einer Kettena bschiebung auszusetzen. Zu
prüfen ist also nicht nur, ob
der Staat, in den unmitte lbar rückgeschickt wird,
nicht
verfolgt,
sondern
auch, ob diese Staat nicht
in einen Verfolgerstaat der
Herkunftsstaat ist. Das ist
unbestritten. Aber was bedeutet es in der Praxis?
Die
Bundesrepublik
Deutschland glaubte, es
sich mit einem cordon sanitaire, verbunden mit biund multilateralen Rückübernahmenabkommen,
leichtmachen zu können.
Sie hat aber vergessen, in
die Verträge eine Klausel
aufnehmen zu lassen, durch
welche es dem Vertragspartner untersagt wird, seinerseits
Rücküberna hmeabkommen mit Viertstaaten
abzuschließen.
Das ist nicht geschehen
(und hätte auch sicherlich
nicht durchgesetzt werden
können). Es gibt kein Patentrecht an Rücküberna hmeabkommen. So wird die
Zurückweisung bzw. Abschiebung bald in eine offene Tunnelröhre erfolgen
82
Guckt der BGS hinein, lä chelt ihm von der anderen
Seite vielleicht Saddam
Hussein zu(...)
Henkel schreibt zu diesem Problem 1 „Angesichts
der Entwicklung, daß gegenwärtig jeder Staat bestrebt ist, die Verantwo rtung
für
Asylsuchende
weiterzureichen, kann die
Sicherheit des unmittelb aren Nachbarstaates letztlich nur attestiert werden,
wenn in der Kette der
Staaten, in die der Asyls uchende von dort aus weitergeschoben werden kann,
zumindest der letzte Staat
vor Erreichen des He rkunftsstaates den Grundsatz des Non-Refoulement
beachtet und dem Asyls uchenden das wirtschaftliche Existenzminimum ermöglicht. Hat der letzte
Staat in dieser Kette das
Herkunftsland als verfolgungsfrei eingestuft, ohne
daß der Asylsuchende diese Annahmen im Einzelfall
widerlegen könnte, so ist
der Grundsatz des NonRefoulement durch ihn nicht
gewahrt, so daß schon der
erste Staat in der Kette
nicht für sicher erklärt we rden darf.“ Ich will das Beispiel einer solchen Kette
nennen: Bundesrepublik Österreich - Ungarn; Ungarn
hat
Rücküberna hmeabkommen mit Kroatien,
Slowenien, Rumänien und
der Ukraine abschlossen.
Wer kennt im voraus in je dem Fall den Weg, den der
Flüchtling im Rahmen einer
Kettenabschiebung
geschoben wird? Kann der
Bundesinnenminister Auskunft darüber geben, was
1Henkel, a. a. O. (24) Rdnr. 81
mit den 1. 528 Menschen
geschehen ist, die in den
ersten 10 Monaten des
Jahres
1994
auf
der
Grundlage einen Rückübernahmeabkommens von
deutscher
Seite
einem
Nachbarstaat „ angeboten“
und von diesem angeno mmen wurden und daraufhin
in diesen Nachbarstaat
abgeschoben wurden, ohne
daß sie zu ihren Asylantragsgründen befragt wo rden wären2 (...)
Noch im Februar 1994,
als der Bundesinnenminister triumphierend die gesunkenen
Asylantragste llerzahlen bekanntgab und
dies auf das geänderte
Asylgrundrecht - sprich: die
Drittstaatenregelung - zurückführte, erinnerte die
Eu-Kommission den Rat
und das Europäische Parlament an die Einhaltung
des Non- Refoulement- mit
seinem
gesamten,
hier
aufgeführten Inhalt 3. Nachdem ich Sie mit Zitaten
schon
überhäuft
habe,
kommt es auf das eine
nicht mehr an: „Allerdings
ist die Einführung der Vorauswahlverfahren, mit denen bestimmte Asylanträge
von
einer
eingehenden
Prüfung
ausgeschlossen
werden, mit der Gefahr
verbunden, das die Mi tgliederstaaten, wenn sie
nicht mit großer Sorgfalt
vorgehen, ungewollt gegen
den Grundsatz des Ausweisungs- und Zurückweisungsverbots
verstoßen.
2vgl. § 24 I 3 AsylVfG. - 918 Personen wurden von den Vertragspartnern nicht akzeptiert (Auskunft des BAFi)
3Com (94) 23 endg vom 23.2. 1994: Mitteilung der Kommission an den Rat und das
Europäische Parlament zu Zuwanderungsund Asylpolitik
RUNDBRIEF
25/26-1995
Es dürfte daher schwierig
sein, ganze Kategorien von
Asylbewerbern vom wesentlichen Teil des Asylverfahrens auszuschließen;
wie in der Entschließung
über offensichtlich unb egründete
Asylanträge
(1992)
bekräftigt
wird,
sollte jeder Asylantrag auf
individueller Basis geprüft
werden, da der Asylbegehrende die Gelegenheit erhalten muß zu erklären,
warum in seinem Fall von
der allgemeinen Regel der
Nichtaufnahme abgewichen
werden soll, dies auch
dann, wenn er aus einem
verfolgungssicheren Land
kommt oder ein Drittaufnahmeland
in
Frage
kommt.“ Mit dem Begriff
Drittaufnahmeland ist der
sichere Drittstaat gemeint.
Wir können also festhalten:
Zwar ist im Artikel 16a II
GG eine Sicherung eing ebaut
insofern,
als
im
Drittstaat die Anwendung
der GK und der EMRK sichergestellt
sein
muß.
Aber: Was heißt schon
Anwendung? In Deutschland zum Beispiel wird die
GK in vielerlei Hinsicht
nicht angewandt. (s.Artikel
von V. Pfaff in diesem
Rundbrief). Vor allem aber:
Da es ein ganzes Netz von
Rückübernahmeabkommen
- besser gesagt: Weite rschiebungsabkommen
gibt, und zwar ohne Isoli erung, brennt die grundgesetzliche Sicherung durch.
Der Kurzschluß zwischen
Erstabschiebestaat
und
Verfolgerstaat ist eing ebaut. Halten wir zweitens
fest: Die Bundesrepublik
Deutschland ist Vorreiter in
der Durchsetzung des Pri nzips
der
sicheren
25/26-1995 RUNDBRIEF
Drittstaaten und damit der
Durchbrechung des Refoulementverbotes
gewesen (...)
Die Vereinten Nationen
haben im November 1994
zwei Schutzzonen verloren:
Eine in Bihac, die andere
in Genf. Bihac und Genf
sind eingekesselt und we rden beschossen. Bihac mit
Granaten, Genf mit Beschlüssen über Mindestg arantien. Man diskutiert,
deutsche Waffen und deutsche Soldaten in ExJugoslawien einzusetzen.
In
Genf
stammen
die
größten der dort gelegten
Tretminen aus deutscher
Produktion.
Auch hier die Frage, was
tun.(...) Der Blick muß auf
die Gefährdung des inte rnationalen
Flüchtling sschutzsystems durch die
deutsche und europäische
Asylpolitik
konzentriert
werden. Die Fortdauer der
Garantie
des
NonRefoulement-Grundsatzes
muß erkämpft werden. Was
inhaltlich zu fordern ist, ist
klar. Seit vielen Jahren hat
der Hochkommissar vom
deutschen
Gesetzgeber
gefordert, die Genfer Konvention
(wieder)
zur
Grundlage des Asylprüfungsverfahrens zu machen. Dazu gehören die
Ex-Com-Beschlüsse
und
die im sogenannten Handbuch festgelegten Verfa hrensregeln und Prüfung smaßstäbe. Soweit es um
die
Drittstaatenklausel
geht, fordert UNHCR, „dem
Einzelnen zumindest eine
faire Möglichkeit einzuräumen, die bei ihm vermutete
Sicherheit im Drittland in
einer Anhörung zu widerle-
gen“ 1 Nach Auffassung des
Bonner UNHCR-Amtes ist
dies mit Artikel 16 a GG
vereinbar 2.
Das
entspricht
auch
meiner Auffassung 3. Ich
erwarte, daß das Bundesverfassungsgericht so entscheiden wird. Damit wäre
aber nur ein Gefecht, nicht
eine Schlacht oder gar der
ganze Krieg gewonnen.
Einstweilen sollten wir uns
am ECRE-Pilotprojekt beteiligen, welches ein urgent-action-network für den
Rechtsschutz in Drittstaatfällen und eine Sammlung
und Rekonstruktion von
Drittlandzurückweisungen
zu Gegenstand hat.
Kirchenasyl
stemmen
in
Nord-
Im „ G ü l d e n e n W i n k e l “ w e s t l i c h
v o n H i l d e s h e i m g e h t d i e Ökum e ne neue Wege. Die evangelische
Gemeinde
in
Nordstemmener
Ortsteil G r o ß - E s c h e r d e u n d d i e
katholische Gemeinde in Hildes heim-Sorsum haben einer türkischen
Flüchtlingsfamilie
gemeinsam Kirchenasyl gewährt.
Seit 2 Monaten wohnt die Familie
jetzt in einer leerstehenden Wo h nung in einem Gemeindehaus.
Ismail und Selim Kurutluoglu
waren vor vier Jahren nach
Deutschland geflohen, weil sich
Ismail in der Türkei als Mitglied
e i n e r s o z i a l i s t i s c h e n O p p o s i ti onsgruppe vor Folter und Todes strafe fürchtete. Eine Menschen rechtsorganisation in Ankara hat
inzwischen bestätigt, daß der
Familie nach einer Abschiebung
Gefahr drohen würde.
Weitere Informationen: Pastor
Melling hoff, Tel. 05069 - 2660
1Kumin, a. a. O., (31), S. 25
2Kumin, a. a. O., (31), S. 25
3vgl. Pfaff, Die Drittstaatenregelung in Artikel
16 a IIGG, in: Jahrbuch der Deutschen Stiftung für UNO-Fl ü c h t l i n g s h i l f e 1 9 9 3 , S .
37 ff.
83
Am 9. November fanden in
ganz Europa Aktionen für die
Rechte der Roma statt. In
Deutschland beteiligten sich
etwa 100 Roma mit einigen
deutschen UnterstützerInnen
an einer Besetzung des „Europahauses“ in Bonn. Zuvor
hatten sie vor dem Innenministerium demonstriert, während
eine Delegation eine Petition
für ein Bleiberecht für die etwa 30.000 in NRW von Abschiebung bedrohten Roma
überbrachte. Da die Delegation im Innenministerium erwartungsgemäß mit Floskeln
abgekanzelt wurde, beschloß
man, bei der „Ständigen Vertretung der Europakommission
in Deutschland“ um Unterstützung nachzusuchen. Schließlich
gibt es von den verschiedenen
EU-Gremien klare Resolutionen,
Entschließungen
und
Empfehlungen zur Förderung
und zum Schutz der Roma. Die
Stellvertreterin des Chefs des
Hauses war auch durchaus eine „Europä-erin“, ihr leuchtete
ein, daß die Roma das gleiche
Anliegen haben wie auch die
EU-Kommission, nämlich daß
die Entschließungen der EUGremien auch von der BRD
ernst genommen werden. Sie
bot einen Sitzungssaal an, damit man nicht im Gang herumstünde. Die Roma wollten jedoch auf den Chef warten.
dieser entpuppte sich dann
nicht als EU-Vertreter in der
EU. Erst nach langen Verhandlungen (derweil die Polizei selbstherrlich ein Hausverbot für die Presse verfügte)
war er bereit, mit allen Roma,
nicht nur mit einer Delegation,
zu sprechen, die Presse hereinzulassen und von einer
Räumung abzusehen. Als Ergebnis erklärte er sich bereit
zu veranlassen, daß die EUKommission in Brüssel der
Bundesregierung noch einmal
offiziell die Roma betreffenden
EU-Beschlüsse mitteilt.
In Stuttgart wurden am 9.11.
bei einer Pressekonferenz von
GewerkschafterInnen,
der
VVN, Ohne Rüstung leben,
Quäkern und der Aktion Zuflucht vier illegalisiert in der
BRD lebende Roma „geoutet“.
Das heißt, sie traten aus der
Illegalität, in die sie die deutschen Behörden bei Drohung
der Abschiebung drängen,
heraus und stellten sich unter
den Schutz der Öffentlichkeit.
Personen der o. g. Organis ationen gewähren ihnen nun
analog zum Kirchenasyl „Bürgerasyl“. Die vier Roma haben
sich polizeilich gemeldet und
Anträge auf Aufenthaltsbefugnis gestellt. Sie berufen sich
dabei auf die Entschließung
des Europa-Parlamentes vom
21.4.94, die unter Bezugnahme auf die Petition von Roma,
die derzeit beim Europäischen
Menschenrechtsausschuß geprüft wird (siehe SoZ Nr. 22
S.4), die EU-Mitgliedstaaten
auffordert, nicht nach Rumänien und nach Ex-Jugoslawien
abzuschieben.
Psychologische Auswirkungen
ethnischer Diskriminierung
von Erdem Anvari
Die Tatsache der Bewuß tseins- und Verhaltensänd erung bei ethnischen Mi nderheiten infolge von Ausgrenzungs- und Stigmatisierungsprozessen ist eigentlich nicht besonders
neu. Breit angelegte Stud ien und sozioepidemiologische Untersuchungen dieses Phänomens werden
schon seit geraumer Zeit
123
durchgeführt (s. Littlewood,
Lipsedge 1982). Vornehmlich im angloamerikanischen
und
nordamerikanischen Kulturkreis
sind hier Anstrengungen
unternommen worden in
diesen BereichKlarheit zu
bringen. Es stellt sich die
Frage wo und auf welche
Weise
Diskriminierung
sich manifestiert. Gibt es
schon
institutionalisierte
Diskriminierungs-und Ra ssismustendenzen oder fi ndet Ausgrenzung vornehmlich auf einer unterschwe lligen, kaum faßbaren Ebene statt?
Beobachtungen haben gezeigt, daß Vertreter ethnischer Gruppen nicht nur im
alltäglichen Leben auf der
Straße benachteiligt we rRUNDBRIEF
25/26-1995
den, sondern Diskrimini erung auch am Arbeitsplatz
und beispielsweise bei der
Wohnungssuche zu finden
ist (und dies trotz expliziter
rechtlicher Gleichstellung sverordnungen).
Konkret
heißt das, daß Ausländer
eher die schlechter bezahlten, sozial als niedrig
angesehenen, belastung sreichen Arbeitsstellen ve rmittelt bekommen. Weite rhin findet eine geographische
Ausgrenzung
und
Isolation bei der Unterbri ngung statt
("Ghettoisierung"). Eine weitere Möglichkeit wie sich Diskriminierung zeigen kann ist die
der physischen Gewalt. Interessant hierbei zu erwähnen wäre eine englische Studie die besagt,
daß das Auftreten von rassistisch motivierter Gewalt
in einer bestimmten Art
abhängig von vermittelten
politischen Ideologien und
populistischen Darstellungen der Begriffe Migration
und Flüchtling ist.
Diskriminierung und Ausgrenzung ist aber auch
schon längst Bestandteil
des alltäglichen und privaten Lebens geworden: Es
werden Witze über auslä ndische Namen und mangelnde Sprachkenntnisse
gemacht. Berufliche Erfa hrung und Intellektualisierungsgrad werden unte rschätzt. Es gibt keine gle iche und adäquate Behandlung in Geschäften,
Diskotheken,etc...
124
Diese einzelnen sozialen
und
gesellschaftlichen
Phänomene scheinen einzeln betrachtet als trivial; in
ihrer Gesamtsumme alle rdings machen sie das Leben eines Ausländers oder
Migranten
unerträglich.
Wie sind nun aber psychologische Auswirkungen
und Veränderungen bei
den Opfern zu beschreiben? Der Schwarzafrikaner
der nur erfolgreich sein
kann wenn er Musiker oder
Boxer wird. Der nette Tü rke oder Italiener von nebenan der ein Delikate ssen- laden oder ein Restaurant führt. Sie nehmen
nunmehr Vorurteile nicht
nur als Erfahrung eines
äußeren Zwanges wahr,
sondern als einen Bestandteil
des
eigenen
Selbstbildnisses und als
das "kollektive Ausländersein". Es werden stereotype
Übertragungsumd
Identifikationsmuster übernommen. Durch die Introjektion von fremden Bezugssystemen
und
Anschaungsweisen entwickelt
sich
bei
Ausländern
schließlich eine konditi onierte
Realitätswahrne hmung , welche in nicht zu
wenigen Fällen zu enormen
emotionalen Spannungen
führt. Durch die Tatsache,
daß nur bestimmte "Arten"
von Ausländersein gesellschaftlich akzeptiert sind,
wird es natürlich auch ungemein schwieriger für Migranten eigene kulturelle
Güter
und
traditionelle
Werte zu bewahren und der
nächsten Generation we iterzugeben. Eindrucksvoll
läßt sich diese Tatsache
auf die hier geborene und
aufgewachsene Generation
von
Ausländerfamilien
übertragen: Hin und hergerissen zwischen mittele uropäischen
Anpassung sprozessen und dem Lojalitätsgefühl der Familie und
dem Herkunftsland gegenüber gestaltet es sich für
diese
Menschen
als
schwierig einen für alle
Seiten akzeptablen Individuationsprozeß zu durchleben.
Abhängig von gesellschaftlicher Aufnahme und Toleranz ist dann schließlich
die Möglichkeit einer positiven,
spannungsfreien
Identitätsbildung.
Aus psychosozialer Sicht
läßt sich aus den genannten Erfahrungen ein typ ischer Sozialisationsprozeß
beschreiben(s.
Goffman
1975). Die Erfahrungen
der" begrenzten Akze ptanz" und Ausgrenzung als
Ausländer rufen psychologische Veränderungen und
Neuorientierungen hervor ,
die wiederum die Prägung
wichtiger Verhaltensmuster
für die spätere soziale und
gesellschaftliche
Entwicklung bedeuten. Ein
Gradmesser für diese hier
beschriebenen psychosozialen Veränderungen wird
meiner
Meinung
nach
schließlich immer die in
der Gesellschaft mehr oder
weniger
wahrnehmbare
RUNDBRIEF
25/26-1995
Ängstlichkeit beziehung sweise Feindlichkeit allem
Fremdem und Neuem gegenüber sein. Positiv beeinflußbar ist dies offe nsichtlich jedoch nicht nur
durch Aufklärung und Verbesserung der öffentlichen
Sensibilität. Wenn es darum geht gesellschaftliche
Vorurteile
abzubauen
,
muß ein rechtlicher Ra hmen vorhanden sein der
eine gleiche Behandlung
von Ausländern vorsieht
und sicherstellt, daß die
eigene kulturelle Identität
bewahrt
werden
kann.
Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsgesetze
hierfür wären somit Voraussetzung , um diese
Forderung zu berücksichtigen.
Gemeinsame Presseerklärung von des IIK, des niedersächsischen Flüchtlingsrats und der regionalen Koordinationfür Flüchtlingssozialarbeit im Reg.Bez.
Hannover
Unbegleitete
minderjährige Flüchtlinge unerwünscht und abgeschoben!
Hannover, 21.2.1995
Fachleute der Flüchtling sarbeit (SozialarbeiterInnen
der Zentralen Anlaufstellen
Braunschweig und Langenhagen, des Heimverbundes
des Jugendamtes Hannover, des Kinder- und Jugendheims St. Joseph, der
Jugendwohngruppe
des
ISD Hameln u.a.) folgten
den Einladungen der Regionalen Koordinierung sstelle der Flüchtlingssozialarbeit der Universität Oldenburg und berieten sich
zum Thema Unbegleitete
minderjährige Flüchtli nge.
Kritisiert wurden insbesondere die Unterbringung ssituation,
die
fehlende
Rechtssicherheit sowie die
Abschiebung von minder25/26-1995 RUNDBRIEF
125
jährigen Flüchtlingen: Mit
dieser Kritik schließen wir
uns den Stellungnahmen
der Ausländerbeauftragten
der Bundesregierung (Vgl.
Veröffentlichung Nr.3 „A llein im Exil“ 4/1994) und
ExpertInnen des DPWV
(Vgl. Dokumentation der
Fachtagung, Schriftenreihe
Nr.46) an.
Die besondere Situation
der minderjährigen Flüchtlinge in Deutschland stellt
sich wie folgt dar:
Minderjährige unbegleitete
Flüchtlinge
sind
häufig
durch traumatische Erle bnisse in Ihrer Kindheit sowie während der Flucht gekennzeichnet. Ihre Situation verschlechtert sich darüber hinaus durch die vö l-
lig unsichere Lebensperspektive im Zufluchtsland
Deutschland. In einem Alter, in dem Gleichaltrige
berufliche und/oder private
Pläne für die Zukunft machen, ist den Flüchtlingsjugendlichen diese Möglichkeit gänzlich genommen.
Die schwierige (aufenthaltsrechtliche)
Situation
bietet ihnen keinerlei Sicherheit. Besonders spitzt
sich die Lage für Jugendliche zu, die älter als 16
Jahre sind. Ihnen wird ohne
rechtliche Grundlage ein
pädagogischer
Betreuungsbedarf abgesprochen.
Aufgrund unserer Erfahrungen in der Arbeit mit unb egleiteten
minderjährigen
Flüchtlingen haben wir gemeinsam folgende Forde-
zurückgebliebenen
Familie
(Frau und Kind), die ebenfalls
abgeschoben werden soll, sobald die Ausländerbehörde
ihrer habhaft wird. Nähere
Informationen zu dem Fall sind
beim Asyl e.V. Hildesheim,
Tel. 05121 - 132820, erhältlich.
Fachaufsichtsbeschwerde
des Flüchtlingsrats
über die Bezirksregierung Weser-Ems
(An das Niedersächsische Innenministerium)
Sehr geehrter Herr Gutzmer,
wie den beiliegenden „Hinweisen“ des Herrn Janßen vom 27.10.1994 zu entnehmen
ist, denkt die Bezirksregierung Weser-Ems laut darüber nach, sich über die vom Land
vorgegebenen „Grund sätze über die Unterbringung von ausländischen Flüchtlingen in
Flüchtlingswohnheimen“ hinwegzusetzen:
Hinsichtlich des Nachtdienstes in Wohnheimen sei, so die Bezirksregierung, „zu prüfen, ob dieser im bisherigen Umfang weiterhin erforderlich ist bzw. ob kostengünstigere Alternativen bestehen“.
Weiterhin will die Bezirksregierung Weser-Ems „prüfen, ob auf den bisher für jedes
Heim geforderten, aber nicht immer genutzten Gemeinschaftsraum zu Gunsten einer
Unterbringung verzichtet werden kann“.
Schon aus der Vergangenheit ist bekannt, daß eine Reihe von Unterkünften, die von
der Bezirksregierung Weser-Ems genehmigt worden waren, nicht die vorgeschriebene
Mindestquadratmeterzahl von 5 qm pro Person zzgl. 5 qm an Gemeinschaftsräumen
aufwiesen. Nach Angaben von Sozialarbeitern/innen ist dies heute noch so, ohne daß
die Bezirksregierung daran Anstoß nähme.
Auch bei Vertragsabschlüssen zwischen der Bezirksregierung und privaten Betreibern
von Wohnheimen kommt es, wie dem beiliegenden Artikel aus dem „Weserkurier“ vom
03.12.1994 zu entnehmen ist, zu einer Reihe von Merkwürdigkeiten: Uns ist unve rständlich, warum die Bezirksregierung Weser-Ems trotz des ausdrücklichen Verbots
der Landesregierung, neue Verträge über Flüchtlingswohnheime abzuschließen, ausgerechnet erneut in einen Vertrag einsteigt, den die Gemeinde Wardenburg aufgrund
schwerwiegender Vorwürfe gegen den Privatunternehmer (u.a. Betrug, illegale B eschäftigung, Vorenthaltung von Leistungen an Flüchtlinge) zuvor fristlos gekündigt
hatte (s. auch den anliegenden Artikel aus der oldenburgischen Zeitung „Siesta“).
Wir halten es für erstaunlich, wenn die Bezirksregierung Weser-Ems solche fragwürdigen Betreiber als Geschäftspartner akzeptiert und deckt. Für ungeheuerlich halten wir
es, wenn die Bezirksregierung Weser-Ems nun auch selbst den Land kreisen den
„Prüfauftrag“ zum Verstoß gegen die „Grundsätze über die Unterbringung von aus134
RUNDBRIEF
25/26-1995
ländischen Flüchtlingen in Flüchtlingswohnheimen“ (Nds. Mbl. Nr. 22/1991 S. 812) e rteilt. Die Bezirksregierung Weser-Ems macht mit ihrem Vorgehen die Vorgaben des
Landes zu Makulatur, sie karrikiert damit sämtliche Bemühungen zur verbindlichen
Festlegung von Mindeststandards zur Unterbringung von Asylbewe rbern/innen.
Ich bitte daher um eine Überprüfung dieser Praxis und verbleibe
mit freundlichen Grüßen
Kai Weber
und die Antwort des Ministeriums:
Sehr geehrter Herr Weber,
Ihr Schreiben vom 13.12. 1994 habe ich erhalten. Leider komme ich erst heute dazu,
Ihren Brief zu beantworten. Ich bitte, die auf einen zeitweiligen Personalengpaß im zuständigen Referat meines Hauses zurückgehende lange Bearbeitungsdauer zu entschuldigen.
In ihrer Beschwerde beanstanden Sie die Verfügung der Bezirksregierung WeserEms vom 27.10.1994, mit der die kommunalen Körperschaften des Bezirkes aufgefo rdert werden, über kostensenkende Maßnahmen bei den bestehenden Flüchtling swohnheimen nachzudenken. Wie ich Ihren Ausführungen entnehme, befürchten Sie,
daß die Bezirksregierung Weser-Ems sich in eigenmächtiger Art und Weise und zum
Nachteil der in den Wohnheimen untergebrachten Flüchtlinge über die im meinem
RdErlaß vom 16.04.1991 enthaltenen Unterbringungsgrundsätze des Landes hinwe gsetzt. Dies ist jedoch so nicht der Fall.
Der Niedersächsische Landesrechnungshof hatte im Rahmen seiner Prüfungen der
Kostenerstattungsleistungen an Kommunen für die Unterbringung von ausländischen
Flüchtlingen die Feststellung getroffen, daß nicht alle bisher in Flüchtlingswohnheimen
gewährten Leistungen und Standards für einen reibungslosen Heimbetrieb unter B erücksichtigung einer angemessenen menschenwürdigen Unterbringung von Flüchtli ngen unbedingt erforderlich sind. So wurde beispielsweise festgestellt, daß die nach
den Unterbringungsgrundsätzen geforderten Gemeinschaftsräume sowie die dort aufgestellten Fernsehgeräte häufig nicht genutzt wurden. Des weiteren hat der Landesrechnungshof gerügt, daß Betreiber teilweise das vertraglich vorgesehene Personal
nicht oder nicht in dem vereinbarten Umfang beschäfigt hatten. Gleichzeitig wies er
aber darauf hin, daß hierdurch nicht unbedingt auch der Betrieb des Heimes und die
Betreuung der Bewohner beeinträchtigt gewesen sei. Aus diesem Grunde müsse u. a.
darüber nachgedacht werden, ob die Anforderungen in den Wohnheimen im bisherigen
Umfang auch weiterhin beibehalten werden müssen.
Im Hinblick auf die schwierige Finanzlage des Landes hat der Landesrechnungshof die
Forderung aufgestellt, alle Möglichkeiten zur Reduzierung der Kosten für das Land im
Wohnheimbereich auszuschöpfen und nach Möglichkeit Leistungen und Kosten auch
bei bestehenden Wohnheimen zu reduzieren. Diese Forderung wurde auch in den
Ausschüssen des Niedersächsischen Landtages im Rahmen der Beratungen der Landesrechnungshofstellungen von dort nochmals bekräftigt.
25/26-1995 RUNDBRIEF
135
Auch nach den Erfahrungen der Bezirksregierungen sowie nach den Feststellungen
der unmittelbar von mir vorgenommenen Heimkontrollen wird es in der Praxis ohne e ine Verschlechterung der Unterbringungssituation für die Flüchtlinge in dem einen oder
anderen Fall durchaus möglich sein, durch eine Veränderung bestimmter Leistungen
und Anforderungen zu Kosteneinsparungen zu gelangen.
Bei diesen Überlegungen muß einfach berücksichtigt werden, daß sich in der Unte rbringungssituation Veränderungen vollzogen haben. Geringere Asylbewerberneuzugänge, längere Aufenhaltsdauer bestimmter Personen in den Heimen oder auch die
Unterbringung von Nicht-Asylbewerbern in Heimen (Fremdbelegung) stützen die Frage, ob auch in Zukunft an den Grundsätzen über die Unterbringung von ausländischen
Flüchtlingen im Lichte dieser Entwicklungen weiterhin uneingeschränkt als unumstößliche Vorgabe in jedem Einzelfall festgehalten werden kann. Es ist z.B. in der Tat darüber nachzudenken, ob in allen Fällen eine derart intensive soziale Betreuung, wie sie
bisher bei kurzer Aufenthaltsdauer und großer Fluktuation in den Heimen nötig war,
auch weiterhin erforderlich ist.
Die Bezirksregierungen sind deshalb von mir gebeten worden, zu diesen Fragen entsprechende Überlegungen anzustellen. Ich habe jedoch gleichzeitig darauf hingewi esen, daß in diesem Zusammenhang pauschale Leistungsstreichungen nicht sachg erecht sind. Vielmehr muß, um zu sinnvollen Ergebnissen zu gelangen, in jedem Einzelfall bezogen auf die konkreten Verhältnissen vor Ort geprüft und unter Berücksichtigung aller Aspekte abgewogen werden, in welchem Maße der bisherige Leistung sumfang reduziert werden kann, ohne die Funktion des Flüchtlingswohnheimes zu b eeinträchtigen.
Ich gehe davon aus, daß aufgrund dieser Vorgaben in jedem Flüchtlingswohnheim die
Standards und Leistungen erhalten bleiben, die aufgrund der speziellen Unterbri ngungssituation auch tatsächlich nötig sind, auf der anderen Seite aber solche Leistungen abgebaut werden, auf die ganz oder teilweise verzichtet werden kann.
Mit freundlichen Grüßen
Im Auftrage
Gutzmer
Aufstand in der ZASt Langenhagen:
Flüchtlinge klagen
über unzumutbare
Lebensbedingungen
— Bericht über das Gespräch zwischen der Bezirksregierung, der ZASt-Leitung und
einem Flüchtlingskomitee der ZASt am Dienstag, den 20.12.94 —
136
RUNDBRIEF
25/26-1995
5. Aufenthaltsraum
Es fehlt ein Aufenthaltsraum mit Fernseher und anderen Kommunikationsmitteln. Auch
eine Teeküche ist nicht vorhanden. Wir vermissen auch einen Telefonkarten- Anschluß mit
der Möglichkeit, von außen angerufen werden zu können.
6. ReisemöglichkeitenNur in außerordentlichen Fällen wie Tod oder Hochzeit werden Reisegenehmigungen erteilt, ansonsten wird sie verweigert, etwa wenn man Verwandte besuchen will. Ein Besuch bei Verwandten oder Bekannten ist für uns eine der wenigen
Möglichkeiten, in Kontakt zur Außenwelt zu treten. Es müssen daher Maßnahmen getroffen werden, um Besuche von außen in der ZASt und umgekehrt zu ermöglichen. Dies gilt
insbesondere vor dem Hintergrund der Tatsache, daß manche von uns sich nunmehr seit
Monaten zwangsweise in der ZASt aufhalten und bisher nicht verteilt wurden.
7. Verteilung
Bei der Aufnahme der Asylanträge wurde uns gesagt, daß man uns nach „höchstens 2 bis
3 Wochen“ verteilen würde. Dabei gibt es hier Menschen, die seit 6-8 Monaten hier sind
und immer noch nicht auf die Kommunen verteilt wurden. Wir haben auch hier eher das
Gefühl, als Kriegsgefangene und nicht als verfolgte Menschen behandelt zu werden.
Langenhagen, den 14.12.1994
Niedersächsisches Innenministerium,
Hannover, den 17.01.1995
41-12235-20.1
Zentrale Anlaufstellen
für Asylbewerberinnen und
Asylbewerber
Kabinettsvorlage des Innenministeriums vom 22.11.94
Unterrichtung über die Prüfung der interministeriellen Arbeitsgruppe
Das Kabinett hat in seiner Sitzung am
29.11.94 unter TOP IV die o.g. Vorlage
erörtert und beschlossen, zunächst eine
Arbeitsgruppe,
bestehend
aus
der
Staatskanzlei, dem Innenministerium (federführend), dem Sozialministerium, dem
Kultusministerium, dem Justizministerium
und dem Frauenministerium einzusetzen.
25/26-1995 RUNDBRIEF
145
Über das Ergebnis der Prüfung durch die
Arbeitsgruppe soll der Innenminister das
Kabinett bis spätestens Ende Januar 95
unterrichten.
Die Arbeitsgruppe, in der auch das Finanzministerium mitgewirkt hat, hat ihre
Arbeit abgeschlossen.
Die Kabinettsvorlage des Innenministeriums wurde im wesentlichen unter folgenden Aspekten besprochen:
1. Prüfung des längerfristigen Bedarfs
des Landes Niedersachsen an Erstaufnahmekapazitäten
für
ausländische
Flüchtlinge,
2. Aspekte einer sozialverträglichen und
humanen Unterbringung bei längerfristigem Aufenthalt in den ZASten,
3. Kostensituation bei Unterbringung und
Versorgung der Asylsuchenden in den
ZASten im Vergleich zu den Gemeinden
Zu 1.: Die Zahl der vom Land für die
Durchführung des Asylverfahrens vorzuhaltenden Unterbringungsplätze in Aufnahmeeinrichtungen hängt ab vom Zugang der Asylbegehrenden und von deren
Verweildauer.
a.) Zugangssituation:
Der seit Mitte 1993 zu beobachtende
Rückgang der Asylbewerberzahlen ist im
Verlaufe des Jahres 1994 zum Stillstand
gekommen. Im Jahre 94 haben 14.241
Personen in Niedersachsen einen Asylantrag gestellt. Der durchschnittliche monatliche Zugang an Neuanträgen betrug
damit ca. 1.200. Der Asylbewerberzugang unterliegt jedoch im Verlauf eines
Jahres beträchtlichen Schwankungen. Der
geringste Zugang in 1994 war im April mit
989 Personen und der höchste Zugang im
November mit 1.497 Personen zu ve rzeichnen. Bemerkenswert ist, daß gegen
Jahresende die Zugangszahlen deutlich
gestiegen sind (Zuwachs im November
gegenüber Oktober um 25%, nämlich von
1.197 auf 1.497, Dezember: 1.335).
Als Grundlage für die Berechnung der zukünftig benötigten Unterbringungskapazitäten in den Zentralen Anlaufstellen soll
für 1995 von einem Zugang von 14.500
Personen ausgegangen werden Da nicht
alle Antragsteller auch tatsächlich durch
die ZASten laufen (z.B. Folgeantragsteller
oder Jugendliche, die in Jugendhilfeeinrichtungen untergebracht sind),
soll
hierfür ein Abschlag von 1.000 angesetzt
146
werden, so daß für 1995 insgesamt von
13.500 Personen ausgegangen werden
soll, die in den ZASten aufgenommen
werden müssen.
b) Verweildauer in den ZASten:
In ca. 20% aller Fälle wird der Asylantrag
als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt. Der Aufenthalt dauert in diesen
Fällen durchschnittlich ca. 6 Wochen (B earbeitungszeit beim BAFI, einstweiliges
Rechtschutzverfahren, Aufenthaltsbeend igung unmittelbar aus der ZASt). Bei 52
Wochen im Jahr sind 8,7 Durchgänge für
diesen Personenkreis möglich, d.h. ausgehend von einem Gesamtjahreszugang
von 13.500 werden rechnerisch 310 Plä tze
benötigt
(20%
von
13.500=2.700:8,7=310).
In 80% aller Fälle wird der Asylantrag
entweder „einfach unbegründet“ abgelehnt oder der Betreffende wird als Asylberechtigter anerkannt oder der Antrag
erledigt sich auf sonstige Weise, z.B.
durch Antragsrücknahme. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer in den ZASten beträgt in diesen Fällen ca. 12 Wochen, d.h. es sind 4,33Durchgänge möglich. Für diese Personen werden mithin
2.494
Plätze
benötigt
(80%
von
13.500=10.800:4,33=2.494).
Ingesamt ergibt sich damit ein rechnerischer Bedarf von 2.804 Plätzen in den
Aufnahmeeinrichtungen des Landes Ni edersachsen.
Damit sind weiterhin vier Zentrale Anlaufstellen mit je 700 Plätzen in Niedersachsen erforderlich.
Dieses Ergebnis wird durch folgende Gesichtspunkte gestützt:
- Die Schätzung der Zugangszahlen basiert auf den Ist-Zahlen des Jahres 1994.
Der Zugang kann jedoch jederzeit auch
wieder ansteigen.
- Die Zugänge unterliegen starken
Schwankungen (s. oben). Die Erstaufnahmekapazitäten des Landes müssen
gemäß $47 AsylVFG so ausgerichte sein,
RUNDBRIEF
25/26-1995
daß das Land jederzeit auch mit den
Spitzenzugängen fertig wird.
- Nicht alle Plätze in den Zentralen Anlaufstellen können auch tatsächlich für die
Unterbringung genutzt werden.
- In Deutschland befinden sich ca.
300.000 bis 400.000 Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien,
die bisher keinen Asylantrag gestellt haben. Sollten sie zu gegebener Zeit zur
Erlangung eines längeren Aufenthaltsrechtes Asylanträge stellen, müssen sie
in den ZASten untergebracht werden.
- Das BAFI plant, sein Personal von
3.900 auf 3.000 Personen zu reduzieren.
Es muß daher mit längeren Bearbeitungszeiten und damit auch mit längeren
Aufenthaltszeiten in den ZASten gerechnet werden.
Das rechnerische Ergebnis wird bestätigt, wenn für die Ermittlung des zukünftigen Bedarfs von der Belegung ausgegangen wird, wie sie sich im Verlaufe des
Jahres 1994 tatsächlich ergeben hat.
Die ZASten waren im vergangenen Jahr
im Durchschnitt mit 1.750 Personen belegt.
Dieser Wert erfordert für die Errechnung
der vorzuhaltenden Kapazität aufgrund
der vorstehend genannten Gesichtspunkte
jedoch einen Zuschlag. Legt man hierfür
die Hälfte der Differenz zwischen der
rechnerischen Platzzahl von 2.804 und
der tatsächlichen Durchschnittsbelegung
im Jahre 1994 von 1.750 zugrunde, so
ergibt sich ein Platzbedarf von 2.277
Plätzen
(2.804-1.750:2=527.
1.750+527=2.277).
Dieser Wert wird durch die höchste im
Verlaufe des Jahres 1994 ereichte Tagesbelegung von 2.324 Personen unte rmauert. (Die höchsten Tageswerte der
einzelnen ZASten, allerdings zu verschi edenen Zeitpunkten:
ZASt Braunschweig: 635, ZASt Langenhagen: 596, ZASt Lüneburg: 674, ZASt
Oldenburg: 625)
25/26-1995 RUNDBRIEF
147
Auch nach dieser Betrachtungsweise
werden also weiterhin vier Zentrale Anlaufstellen benötigt.
Für eine Fortführung der ZASt Braunschweig spricht darüber hinaus, daß die
ZASt Langenhagen (ehemalige BoelckeKaserne neben dem Flughafen) und die
ZASt
Lüneburg
(ehemalige
BGSUnterkunft) aufgrund der Befristungen der
Mietverträge mit dem Bund nur bis 1998
abgesichert sind. Der Bund hatte in den
Vertragsverhandlungen
Verlängerung soptionen abgelehnt. Verkaufsverhandlungen zwischen der Flughafengesellschaft
in Langenhagen und dem Bund wegen der
ehemaligen Boelcke-Kaserne stehen kurz
vor dem Abschluß. Die Absichten des
Flughafens bezüglich des ZASt-Geländes
sind konkret noch nicht bekannt. Es muß
aber damit gerechnet werden, daß der
Flughafen wegen eigenen Bedarfs den
Mietvertrag nicht mehr verlängert.
In Lüneburg gibt es Bestrebungen der
Stadt, das ZASt-Gelände wegen seiner
Nähe zur Innenstadt anderen Zwecken zuzuführen. Wenn der Bund das ZAStGelände verkauft, dürfte der Mietvertrag
mit dem Land nicht mehr verlängert we rden.
Das bedeutet, daß die ZASt Braunschweig fortbestehen muß und hierfür die
Husaren-Kaserne übernommen werden
muß, da die bisherigen Räumlichkeiten
abgängig sind (ehemalige TannenbergKaserne) bzw. nur mit unvertretbar hohem
Kostenaufwand weiterbetrieben werden
können (Unterkunft Altewiekring).
Eine Schließung der ZASt Braunschweig
hätte zur Folge, daß die bisherige Freistellung der Stadt Braunschweig von der
Pflicht zur Unterbringung Asylbegehrender beendet wäre und ihr wieder Asylb ewerber zugewiesen werden müßten. Die
Stadt müßte bei erwarteten 14.500 Zugängen und einer Quote von 3,35% im
Jahre 1995 insgesamt 486 Personen unterbringen. Da die Stadt über keine and eren Unterbringungsmöglichkeiten verfügt,
müßte sie selbst auf die HusarenKaserne zurückgreifen. Die Kosten für
Herrichtung und Betrieb müßte ebenfalls
das Land tragen. Im Ergebnis lassen sich
damit nennenswerte Einsparungen durch
die Schließung der ZASt Braunschweig
nicht erzielen.
Zu 2.:
Da wegen der Schwankungen der Zugänge und der Aufenthaltsdauer nicht alle
Plätze in den ZASten stets mit Neua nkömmlingen belegt sind, beabsichtigt das
Innenministerium, diese Plätze durch eine
entsprechende Umstrukturierung der ZASten auch für einen längeren Aufenthalt
(bis zu einem Jahr) zu nutzen. Die hiermit
im Zusammenhang stehenden Fragen
wurden wie folgt erörtert:
- Beschulung schulpflichtiger Kinder
Die im Wohnbereich untergebrachten
Kinder sind schulpflichtig. Da ein Einsatz
von Lehrern in den ZASten wegen Fehlens entsprechender Stellen nicht möglich
ist, kommen für die Beschulung nur die
umliegenden Schulen in Betracht. Es bestand Einvernehmen, daß wegen der sich
aus der erhöhten Fluktuation ergebenden
Belastung dieser Schulen und zur Vermeidung eines Schulwechsels nach einem Jahr Familien mit schulpflichtigen
Kindern in der Regel auf die Gemeinden
verteilt werden sollen.
- Unterbringung alleinreisender Frauen
Alleinreisende Frauen sollen unter Berücksichtigung ethnischer und kultureller
Gesichtspunkte in speziell für sie ausgewiesenen Zimmern in Gebäuden untergebracht werden, die sonst nur noch mit
Familien belegt sind. Diese Form der
Unterbringung ist aufgrund der Erfahrungen in der Praxis der Einrichtung von gesonderten „Frauenhäusern“ vorzuziehen.
Den Frauen stehen abgetrennte und ab148
schließbare Dusch- und Umkleideräume
zur Verfügung. Die Flure sind mit No trufeinrichtungen ausgestattet, mit denen
im Notfall Hausalarm ausgelöst und das
Personal der ständig besetzten Eingangspforte alarmiert werden kann.
- Unterbringung und soziale Betreuung
von Familien
Für die Unterbringung im Wohnbereich
der ZASten gelten die gleichen Regeln
wie für die Wohnheime in dem Kommunen, d.h. die Unterbringung erfolgt unter
Berücksichtigung ethnischer und kultureller Gesichtspunkte. Jedem Bewohner
müssen mindestens 5qm als persönlicher
Bereich und 10qm unter Einschluß sämtlicher Nebenflächen, d.h. Gemeinschaftsräume, Flure usw. zur Verfügung stehen.
Die Gemeinschaftsunterkünfte werden mit
kleinen Küchen ausgestattet, damit die
Bewohner die Möglichkeit haben, sich zusätzlich zur Verpflegung durch die Gemeinschaftsküche eigene Speisen und
Getränke zuzubereitenen. Auf freiwilliger
Basis bestehen auf dem ZASt-Gelände
Arbeitsgelegenheiten (Gartenarbeit sowie
sonstige dem Erhalt der Einrichtung dienende Verrichtungen). Zur Freizeitg estaltung stehen Spiele und Sportgeräte
zur Verfügung. Ferner gibt es einen großen Aufenthaltsraum mit Fernseher sowie
in jedem Haus Aufenthaltsräume. Für die
soziale Betreuung sind insgesamt in allen
vier ZASten des Landes 73 Personen
eingesetzt (Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, Krankenschwestern, Erzieherinnen und Erzieher).
-Kriterien für die Verteilentscheidung
Für die Frage, wo Asylsuchende untergebracht werden sollen (Verteilung auf die
Gemeinden zur Unterbringung in Einze lwohnungen oder Flüchtlingswohnheimen,
Verbleib im Unterkunftsbereich der ZASten) ist eine differenzierte Betrachtung
erforderlich. Es soll in jedem Einzelfall
geprüft werden, in welcher Unterkunft die
RUNDBRIEF
25/26-1995
einzelnen Personen angemessen unte rgebracht werden können. Hierbei spielt
die Aussicht, ein dauerhaftes Bleiberecht
zu erhalten, eine Rolle, entscheidend sind
jedoch soziale Kriterien. Auch soll den
Flüchtlingen nach Möglichkeit ein eigener
Entscheidungsspielraum eingeräumt we rden. Eine Verteilung auf die Gemeinden
ist insbesondere dann angebracht, wenn
z.B. verwandtschaftliche Bindungen vo rhanden sind, gesundheitliche Gründe eine Unterbringung vor Ort erforderlich machen oder sonstige humanitäre Gründe
von vergleichbarem Gewicht vorliegen.
Wenn von vornherein klar ist, daß selbst
bei negativem Ausgang des Asylverfa hrens eine Aufenthaltsbeendigung in absehbarer Zeit nicht möglich ist, soll
ebenfalls frühzeitig auf die Gemeinden
verteilt. Wichtig ist, daß nicht schematisch vorgegangen wird, sondern mit Hilfe
der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter in jedem Fall eine differenzierte Auseina ndersetzung mit dieser Frage erfolgt.
Zu 3.:
Die bei Realisierung der Konzeption einer flexiblen Nutzung der ZASt-Plätze zu
erzielende Einsparung von 600 DM pro
Person pro Monat errechnet sich wie
folgt:
a) Kosten bei Unterbringung in der ZASt:
- Verpflegungskosten (tgl. 9,00 DM incl.
MWSt x 30 Tage)
270 DM
- Taschengeld
70 DM
- Betriebskosten (Energie, Wasser, Abwasser, ohne Miete und Personal
60 DM
----------400 DM
b) Kosten bei Unterbringung in Kommune:
25/26-1995 RUNDBRIEF
149
- Unterbringungskosten (dezentrale Unterbringung ca. 60% d. Asylbewerber
=300 DM, Unterbringung in GU´s ca.
40% d. Asylbewerber =700 DM)
460 DM
- Regelleistungen nach dem AsylbLG,
durchschnittlich ca.
410 DM
- Kosten für einmalige Leistungen (Einrichtung, Hausrat etc.)
130 DM
----------1000 DM
Kosten für Krankenhilfe und sonstige
Hilfe in besonderen Lebenslagen fallen in
beiden Fällen in etwa gleicher Höhe an.
Diese Berechnung geht von der Prämisse
aus, daß die vier ZASten als Aufnahm eeinrichtungen vorgehalten werden müssen
(s. oben). Die Personal- und Objektkosten (Miete, Bewachung) der ZASten
müssen bei der Vergleichsberechnung
also unberücksichtigt bleiben, da sie
auch bei Nichtbelegung von Plätzen anfallen. Bei einer Verteilung auf die Kommunen hingegen sind sämtliche Kosten
der Unterbringung und Versorgung mit
einzubeziehen, da diese Kosten vollstä ndig entfallen, wenn die Kommunen die
Flüchtlinge nicht unterbringen müssen.
Unberücksichtigt bleibt dabei, daß für einen Übergangszeitraum bis zum Ende der
abgeschlossenen Verträge Plätze in den
Wohnheimen nicht b elegt sind.
Abschließende Bewertung:
Die Mitglieder der Arbeitsgruppe waren
übereinstimmend der Auffassung, daß
bei Berücksichtigung der Vorschläge der
Arbeitsgruppe
zur
sozialverträglichen
Unterbringung und Verteilung der Asylb egehrenden und nach eingehender Erörterung des vom MI ergänzend vorgelegten
Materials der Kabinettsvorlage des In-
Georg Classen
Familien- und Nachbarschaftszentrum
Zossener Str.24, 10961 Berlin
Analyse der Absichten des niedersächsischen Innenministers
zum AsylbLG
(anhand des Briefs vom 14.12.1994 an die LAG der Wohlfahrtsverbände)
Liebe Freunde/innen,
ich danke für die Zusendung einer Kopie des o.g.
Briefes.
Ich bin entsetzt, daß
Niedersachsen
entgegen
den Behauptungen in dem
o.g. Schreiben künftig im
Sozialbereich gerade keine „humanitäre Flüchtli ngepolitik“ mehr betreiben
will, sondern offenbar auf
die Linie Bayerns und
Kanthers
umschwenken
will, wenn Glogowski behauptet, daß das AsylbLG
„dringend einer Novellierung bedarf“, und von ihm
„ein
einheitliches
Leistungsgesetz für alle ausländischen
Flüchtlinge“
gefordert wird.
Was „einheitliches Leistungsrecht“ bedeutet, ist
in der Zeitschrift für Ausländerrecht
(ZAR)
Heft
3/94 nachzulesen: ZAR
3/93,
S.
131
ff:
Scholl/Schieffer: „Überlegungen zu einer Novellierung des Asylbewerberle istungsgesetzes.“ Die Autoren, Mitarbeiter im Bundesinnenministerium,
erläutern die Bundesratsi156
nitiative Bayerns und Baden-Württembergs
zur
Verschärfung des AsylbLG
(Bundesrats-Drucksachen
480/94 und 535/94). Sie
bewerten diese Vorschläge
als
unzureichend
und
schlagen die ersatzlose
Streichung
des
§
2
AsylbLG vor. Dazu fordern
die Autoren die Einbezi ehung von Kriegsflüchtingen
mit
Aufenthaltsbefugnis
nach § 32 a AuslG in die
Leistungseinschränkungen
des AsylbLG.
Dies würde für alle
Flüchtlinge - Asylsuchende,
Flüchtlinge mit Duldung
und mit Aufenthaltsbefugnis - unabhängig von der
Aufenthaltsdauer die Versorgung nach §§ 3-7
AsylbLG bedeuten: Versorgung mit Sachleistungen, gekürztes Tasche ngeld, einmalige Beihilfen
für Kleidung usw. nur noch
in Ausnahmefäffen, Beschränkung der Krankenbehandlung, volle Anrechnung aller Vermögensbeträge, usw..
Gelogen ist im übrigen
die Behauptung Glogowskis wie auch dieselbe Be-
hauptung in dem o.g. ZARArtikel, daß die IMK „einstimmig“ eine Verschä rfung des AsylbLG gefordert
habe. Zumindest Hessen
hat
dagegen
gestimmt
(vgl.Frankfurter Rundschau
v. 4.6.94). Auch ist die
Meinung der Innenminister
nicht in jedem Falle identisch mit der Meinung der
jeweiligen
Landesregierungen und der ggf. für das
AsylbLG zuständigen Sozialministerien. Im übrigen
hat es nicht nur in Niedersachsen inzwischen einen
Regierungswechsel gegeben. Mit Sicherheit gegen
eine Novellierung sind beispielsweise die in Berlin
zuständige Senatssozialverwaltung, die neue Landesregierung in Sachsen
Anhalt, und inzwischen hat
auch die Landesregierung
Baden-Württembergs
erkennbar Abstand von ihren
ursprünglichen
Novellierungsvorschlägen geno mmen.
Dringend gewarnt we rden muß in diesem Zusammenhang davor, mögliche oder tatsächliche Konflikte und eine Gefährdung
RUNDBRIEF
25/26-1995
des sozialen Friedens infolge eines Nebeneina nders von Sach- und Geldleistungen zu dokumenti eren (als Begründung für
ausnahmsweise
Geldle istungsgewährung
nach
derzeitigem Recht an Berechtigte
des
§
3
AsylbLG)!
(Vgl. dazu das entsprechende Angebot auf Seite
2 des Glogowski-Briefes Vorsicht Falle!!!)
Derartige Konflikte we rden in Rechtsprechung und
politischer
Auseinandersetzung immer wieder als
Argument dafür angeführt,
Sachleistungen auch an
Berechtigte
des
§
2
AsylbLG zu gewähren (so
OVG Münster und OVG
Frankfurt/Oder, zahlreiche
Länderausführungsbestimmungen zum AsylbLG,
und der o. g. Artikel in der
ZAR). Im Zusammenhang
mit der ergangenen gegenteiligen
Rechtsprechung der meisten oberen
Verwaltungsgerichte
dienen
diese
angeblichen
Konflikte dann als Argument dafür, ein „einheitliches Leistungsrecht“ für
alle Flüchtlinge zu scha ffen, d.h. § 2 AsylbLG zu
streichen.
Tatsächlich
sind
mir
derartige Konflikte aus der
Praxis nirgends berichtet
worden. Konflikte, und zwar
massiver Art, hat es überall allerdings dann gegeben, wenn von Geld- auf
Sachleistungen umgestellt
wurde. Dies waren aber
keine Konflikte der Flüchtlinge untereinander, sondern Konflikte zwischen
Flüchtlingen einerseits und
den
Sozialämtern
und
Wohnheimträ25/26-1995 RUNDBRIEF
157
gern/Sachleistungserbring
ern andererseits.Mir wurde
inzwischen aus Meckle nburg-Vorpommern und aus
Sachsen berichtet (wo aufgrund der zu § 2 AsylbLG
ergangenen
Rechtsprechung seit einiger Zeit die
gleichzeitige
Versorgung
mit Geld- und Sachleistungen in denselben Wohnheimen praktiziert wird),
daß dies - entgegen den
Erwartungen - überall konfliktfrei funktioniert. Festzustellen bleibt, daß die
Flüchtlingszahlen - unabhängig von der konkreten
Umsetzung des AsylbG - in
allen Bundesländern erheblich
zurückgegangen
sind, und daß dieser
Rückgang relativ schlagartig in zwei Stufen ab 1.4.93
und ab 1.7.93 einsetzte,
nicht aber daß ein weiterer
Rückgang ab 1.11.93 bzw.
ab Anfang 94 mit der Umsetzung des AsylbLG festzustellen wäre. Entgegen
der Behauptung Glogowskis hat das AsylbLG erkennbar gerade keinen
Anteil am Rückgang der
Asylbewerberzahlen.
Soweit die rein formalistische
Argumentation
mit
der
Forderung nach einer „Einheitlichkeit“ des Leistung srechts angeführt wird, steht
dem die Forderung nach
einer Einheitlichkeit des
Leistungsrechts mit den
Leistungen
an
andere
Ausländer und Deutsche
nach dem BSHG entgegen.
Der Asylkompromiss fo rderte im Übrigen für Bürgerkriegsflüchtlinge einen
eigenen Aufenthaltsstatus,
der selbstverständlich eine
leistungsrechtliche
Behandlung nach dem BSHG
beinhaltete (vgl. dazu Bun-
destagsdrucksache
12/4451, S.7/8, zitiert in
Leitfaden „Menschenwürde
mit Rabatt“,S.16). Von der
von Glogowski geforderten
Änderung des AsylbLG wären - im Gegensatz zu dieser Forderung des Asylkompromisses - in erster
Linie
Bürgerkriegsflüchtlinge (mit Duldung und
Aufenthaltsbefugnis)
betroffen! Glogowski fordert
somit eine - gegen den
Asylkompromiss
verstoßende - erneute Verschlechterung der Situation
von
Kriegsflüchtlingen.
Asylsuchende mit mehr als
einem Jahr Verfahrensdauer gibt es nach der
Asylrechtsänderung
nur
noch in - begründeten und
beachtlichen - Ausnahm efällen. Die immer größer
werdende Mehrzahl der
unter § 2 AsylbLG falle nden
Flüchtlinge
sind
Kriegsflüchtlinge,
dazu
kommt eine - immer geri nger werdende- Anzahl von
Asylsuchenden mit länger
dauerndem Verfahren, die
vor der Asylrechtsänderung
eingereist sind („sog. Altfälle“). Soweit Niedersachsen Flüchtlinge aus Bürgerkriegsländern wie Bosnien etwa aus Gründen der
„Abschreckung“ auf Dauer
möglichst schäbig beha ndeln will, muß es sich dann
zu dieser - besonders kostenaufwendigen - Form
der schäbigen (bzw. rassistischen) Sonderbehandlung auch offen bekennen die „Einheitlichkeit“ der
Leistungen ist kein inhaltliches Argument in diesem
Zusammenhang.Zu
den
weiteren Argumenten auf
S. 4 des Briefes:- Daß die
Leistungen an Asylbewe r-
ber (!) lt. Asylkompromiss
„eigenständig“
geregelt
werden sollten, ist kein Argument für die Ausgliederung der Leistungen aus
dem SGB - vgl. dazu die
Leistungen an Auszubildende nach dem BAföG,
die zwar ebenfalls aus dem
BSHG ausgenommen sind
(§ 26 BSHG), aber in das
System des SGB einbezogen sind (§ 18 SGB I).
Sämtliche von den Befü rwortern einer Änderung
des AsylbLG beklagten
gesetzestechnischen Mängel des AsylbLG (nicht geregelte Datenübermittlung,
nicht
geregelte
Mitwi rkungspflichten etc.) hängen
158
hingegen unmittelbar mit
der
Ausgliederung
des
AsylbLG aus dem System
des SGB zusammen und
ließen sich durch dessen
Eingliederung in das SGB
proble mlos beseitigen!
- Die fachliche Inkompetenz eines Innenministeriums für die Regelung von
Sozialleistungsrecht
wird
nicht zuletzt durch das vorliegende Schreiben mal
wieder deutlich vor Augen
geführt! Die Regelung von
Fürsorgeleistungen
nach
rein
ordnungspolitischen
und polizeirechtlichen Erwägungen
sollte
in
Deutschland eigentlich der
Vergangenheit angehören.
Nach wie vor sind im Übrigen in vielen Ländern die
Sozialminister zuständig kürzlich geändert wurde
dies neben Niedersachsen
noch in Thüringen, wo
nunmehr die Innenminister
zuständig sind. Auch die
Unterbringung gehört m.E.
in die Zuständikeit der Sozialministerien - hier habe
ich keinen Überblick, weiß
nur daß z.B.in Berlin und
Hamburg auch dafür die
Sozialminister
zuständig
sind.
Herzliche Grüße
Georg Classen
RUNDBRIEF
25/26-1995
Niedersachsens Asylpolitik
Wertgutscheine und Sammellager
von Eckart Spoo
(FR vom 17.2.1995)
Das Land Niedersachsen
ändert seine Flüchtling spolitik. Seitdem die SPD
allein regiert, verabschi eden sich die Behörden von
den liberalen Grundsätzen,
die bis Mitte vergangenen
Jahres unter der rotgrünen
Koalition galten.
Innenminister
Gerhard
Glogowski hat einen Erlaß
vorbereitet, um die Kommunen zu einheitlicher Behandlung der Asylbewerber
zu verpflichten. Danach
sollen die Flüchtlinge im
ersten Jahr ihres Aufenthalts - nur wenigen wird
gestattet, länger zu bleiben
- zum Bestreiten ihres Lebensunterhalts kein Bargeld erhalten. Bisher dur ften die Kommunen nach
eigenem Ermessen Bargeld (wie in Göttingen),
Essenspakete
(wie
in
Wolfsburg) oder Wertgutscheine (wie in Lüneburg)
ausgeben.
Das
Innenministerium
will nun, wie es am Donnerstag auf Anfrage der FR
bestätigte, die Ausgabe
von Wertgutscheinen vo rschreiben. Der Göttinger
Arbeitskreis zur Unterstü tzung von Asylsuchenden
protestierte: Die Flüchtli nge würden so "für jeden
sichtbar
als
potentielle
Diebe abgestempelt".
25/26-1995 RUNDBRIEF
159
Für Bürgerkriegsflüchtlinge gilt bisher ebenso wie
für diejenigen Asylbewe rber, die vor mehr als einem
Jahr gekommen sind, eine
andere Regelung: Sie erhalten Bargeld nach den
höheren Sätzen des Bundessozialhilfegesetzes.
Glogowski strebt jedoch
eine
bundeseinheitliche
Regelung an, die, wie der
erzürnte Niedersächsische
Flüchtlingsrat
formuliert,
"die Bürgerkriegsflüchtli nge in die menschenve rachtenden, diskriminierenden Bestimmungen des
Asylbewerberleistungsgesetzes einbeziehen" würde
- Bestimmungen, die zur
Abschreckung von Flüchtlingen gedacht sind.
Obwohl der Bonner Asylkompromiß einen eigenen
Aufenthaltsstatus für Bürgerkriegsflüchtlinge
vo rsah, würden auch sie dann
Wertgutscheine
erhalten,
deren Wert erheblich unter
dem im Bundessozialhilfegesetz festgelegten Existenzminimum liegt.
Eine wesentliche Änd erung
der
niedersächs ischen
Flüchtlingspolitik
besteht darin, daß das Innenministerium die Asylbewerber in Zukunft "bis
zur Rückkehr in ihr He imatland" in den Zentralen
Anlaufstellen (ZASten) un-
terbringen will, soweit dort
der Platz reicht. Der bis
1994 zuständige Minister
für
Bundesangelegenhe iten, Jürgen Trittin (Bündnis
90/Die Grünen) hatte sich
stets
den
Forderungen
nach Sammellagern widersetzt. Da 1994 die Zahl der
Asylanträge um mehr als
60 Prozent zurückgegangen. ist, stehen in den vier
ZASten viele Schlafsäle
leer. Nach Ansicht des
Flüchtlingsrats
könnten
zwei ZASten geschlossen
werden. Statt dessen sollen sie nun zu Gemeinschaftsunterkünften
mit
Gemeinschaftsverpflegung
werden; wer dort untergebracht ist, bekommt weder
Bargeld
noch
Wertgutscheine. Nach Darstellung
des Ministeriums ist das
die preisgünstigste Lösung
was der Flüchtlingsrat bestreitet - und entlastet die
Kommunen. "Die Folge ist,
daß notwendige soziale
Kontakte, zum Beispiel zu
Anwälten und Menschenrechtsgruppen,
abgeschnitten werden", sagt
Matthias Lange, der Vorsitzende des Flüchtling srats.Die ZASt Langenhagen liegt dicht am Flughafen. Von hier aus sollen die
Flüchtlinge möglichst bald
abgeschoben werden.