Historienfilme als Geschichtsvermittler

Transcription

Historienfilme als Geschichtsvermittler
Einleitung
1. Historienfilme und Geschichtsvermittlung
Auf der aktuellen Liste der – gemessen an Einspielergebnissen und Popularität –
weltweit 75 erfolgreichsten Kinoproduktionen dominieren zwar Fantasyfilme,
Actionfilme und Komödien, aber fünf Historienfilme sind auch darunter: Titanic
(1), Troy (54), Saving Private Ryan (59), Gladiator (72) und Last Samurai (73).1
Aussagekraft gewinnen sie im Kontext der folgenden Zusammenstellung. Sie
sind nämlich repräsentativ für Historienfilme europäischer oder US-amerikanischer Produktion, die in den letzten 30 Jahren in die Kinos kamen:2
1980-1989: Das Boot / Gandhi / Danton / Amadeus / The Bounty / Once Upon a
Time in America / Out of Africa / The Mission / Der Name der Rose
/ The Last Emperor
1990-1999: Dances with Wolves / Black Robe / Robin Hood: Prince of Thieves
/ 1492: Conquest of Paradise / Christopher Columbus: The Discovery / The Last of the Mohicans / Schindler’s List / La reine Margot
/ Farinelli / Braveheart / Total Eclipse / The English Patient / Amistad / Seven Years in Tibet / Titanic / Elizabeth / Saving Private
Ryan / Anna and the King / Joan of Arc
2000-2009: Gladiator / The Patriot / Pearl Harbor / Frida / King Arthur / Last
Samurai / Luther / Alexander / The Aviator / The Motorcycle Diaries / Napola / Troy / Der Untergang / World Trade Center / Kingdom of Heaven / Munich / The New World / The Queen / Sophie
Scholl: Die letzten Tage / Apocalypto / Das Leben der Anderen /
Marie Antoinette / Der Baader Meinhof Komplex / Elizabeth: The
Golden Age / Valkyrie / The Young Victoria
1
http://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_erfolgreichsten_Filme <13.02.2009>.
2
Die Historienfilme sind unter den Originaltiteln innerhalb der Jahrzehnte chronologisch aufgeführt. Detaillierte
Informationen finden sich in der Filmografie.
3
Gandhi (1982). Danton (1983). Amadeus (1984). Out of Africa (1985). The Last Emperor (1987). 1492: Conquest of Paradise (1992). Christopher Columbus: The Discovery (1992). Schindler’s List (1993). Farinelli (1994).
Braveheart (1995). Total Eclipse (1995). Seven Years in Tibet (1997). Elizabeth (1998). Anna and the King
(1999). Joan of Arc (1999). Frida (2002). King Arthur (2003). Luther (2003). Alexander (2004). The Aviator
(2004). The Motorcycle Diaries (2004). Der Untergang (2004). The New World (2005). The Queen (2005). Sophie Scholl: Die letzten Tage (2005). Troy (2005). Marie Antoinette (2006). Der Baader Meinhof Komplex
(2008). Elizabeth: The Golden Age (2008). Valkyrie (2008). The Young Victoria (2009).
© 2010 W. Kohlhammer, Stuttgart
Die Liste beansprucht zwar keine Vollständigkeit, dokumentiert aber Folgendes:
Zahlreiche Filme thematisieren Leben oder Lebensabschnitte populärer Personen.3 Manche rücken auch historische Ereignisse ins Zentrum, wobei diese häufiger aus der Perspektive fiktiver als historisch fassbarer Protagonisten erzählt
10
Einleitung
4
Once Upon a Time in America (1984). Titanic (1997). La reine Margot (1994). The Mission (1986). Dances with
Wolves (1990). Black Robe (1991). The Last of the Mohicans (1992). Saving Private Ryan (1993). The English
Patient (1996). The Patriot (2000). Napola (2005). Apocalypto (2006). Ausnahme (die Protagonisten sind belegt):
Pearl Harbor (2001). World Trade Center (2006).
5
Nordamerika: Dances with Wolves. Black Robe. The Last of the Mohicans. The New World. Mittelamerika:
Apocalypto. Südamerika: The Mission. Karibik: 1492: Conquest of Paradise. Christopher Columbus: The Discovery. Afrika: Out of Africa. Amistad (1997). Indien: Gandhi. Alexander. Thailand: Anna and the King. Tibet:
Seven Years in Tibet. China: The Last Emperor. Japan: Last Samurai (2003). Südsee: The Bounty (1984).
6
Antike: Gladiator (2000). Alexander. Troy. Mittelalter: Der Name der Rose (1986). Robin Hood: Prince of
Thieves (1991). Braveheart. Joan of Arc. King Arthur. Kingdom of Heaven (2005). Neuzeit: 16.-18. Jahrhundert:
The Mission. 1492: Conquest of Paradise. Christopher Columbus: The Discovery. The Last of the Mohicans. La
reine Margot. Elizabeth. Luther. The New World. Marie Antoinette. Elizabeth: The Golden Age. 19.-20 Jahrhundert: Gandhi. Once Upon a Time in America. Out of Africa. The Last Emperor. Total Eclipse. Amistad. Titanic.
The Patriot. Frida. Last Samurai. The Aviator. The Motorcycle Diaries. Das Boot. The English Patient. Der Untergang. Napola. Sophie Scholl: Die letzten Tage. Valkyrie. The Young Victoria. Nach 1948: Munich (2005).
The Queen. Das Leben der Anderen. World Trade Center. Der Baader Meinhof Komplex.
7
Ridley Scott: 1492: Conquest of Paradise. Gladiator. Kingdom of Heaven. Oliver Stone: Alexander. World Trade
Center. Stephen Spielberg: Schindler’s List. Amistad. Munich. Wolfgang Petersen: Das Boot. Troy. Mel Gibson:
Braveheart. Apocalypto.
8
Deutschland: Das Boot. Luther. Der Untergang. Napola. Sophie Scholl: die letzten Tage. Das Leben der Anderen. Frankreich: La reine Margot. Joan Of Arc. Großbritannien: Elizabeth. Elizabeth: The Golden Age. USA:
Dances with Wolves. The Patriot. World Trade Center.
© 2010 W. Kohlhammer, Stuttgart
werden.4 Mehrere Filme wenden sich historischen Stoffen zu, in denen globalüberseeische Kulturen thematisiert sind: aus Nord-, Mittel- und Südamerika und
der Karibik sowie aus Afrika, Indien, Thailand, Tibet, China, Japan und der
Südsee. Mithin sind sie als massenmediale Vermittler von Geschichts- und Kulturbildern anzusprechen.5 Alle Geschichtsepochen sind vertreten: Antike, Mittelalter und Neuzeit. Das regelmäßige und thematisch breite Angebot deutet auf
ein anhaltendes Interesse der internationalen Filmindustrie an historischen Stoffen und zugleich auf deren Beliebtheit und Nachfrage bei einem Massenpublikum hin.6 Dafür spricht auch, dass prominente Regisseure bei mehreren Historienfilmen Regie führten.7 Manche Filme wurden von Regisseuren oder Filmstudios aus Ländern realisiert, zu deren Geschichte die behandelten Themen gehören, was ein Interesse an verfilmter „nationaler“ Erinnerungskultur nahe legt.8
Die Markenzeichen der meisten Filme sind monumentale Bildgewalt, opulente
Kostüm- und Farbenpracht, exotische Schauplätze und eindringliche Soundtracks, die Instrumentalmusik mit Anklängen an klassische Kompositionen
kennzeichnen. Diese Parallelen verweisen ebenso wie historische Kontexte und
Motive auf am Publikumsgeschmack orientierte Interkontextualität. Sind doch
malerische Landschaftsimpressionen und lyrisches Sound Design kombiniert in
Out of Africa (1985), The Mission (1986), Dances with Wolves (1991), 1492:
Conquest of Paradise (1992), Last Samurai (2003) oder Kingdom of Heaven
(2005). Fällt doch auf, dass an den sensationellen Erfolg von Gladiator (2000)
die Antikfilme Alexander (2004) und Troy (2004) anzuknüpfen suchten, und
William Wallace sowie Alexander und Elisabeth hoch zu Ross dramatische Reden an ihre Armeen vor den Schlachten in Braveheart (1995), Alexander (2004)
und Elizabeth: The Golden Age (2008) richten.
Nicht zuletzt verweisen die Filme auf Merkmale eines Historienfilms. Ein
solcher Film fokussiert erstens entweder eine historische (populäre) Person mit
ihrer Biografie oder ein (populäres) Geschichtsereignis. Zweitens kann er auch
überseeische Kulturen berücksichtigen. Dabei kann er drittens ein Kulturporträt
Historienfilme
11
9
Die auf James Fenimore Cooper beruhende Literaturverfilmung The Last of The Mohicans erscheint deshalb in
der voranstehenden Liste, weil sie konkret die Auseinandersetzung zwischen den Franzosen und Engländern in
Nordamerika 1757 behandelt. Von solchen Literaturverfilmungen ist verfilmte autobiografische Literatur zu unterscheiden, worauf Out of Africa oder Anna and the King beruhen.
10
Deutlicher im Roman als im Film, bedingt durch Auslassungen, siehe z. B.: Süskind, Patrick, Das Parfum. Die
Geschichte eines Mörders. Zürich 1985, 10-23 (Terriers Reflexionen über Aberglauben im Spiegel der Aufklärung), 64-68 (Baldinis Reflexionen über Neuerungen im späten 18. Jahrhundert), 157-185 (die Forschungen des
Marquis de la Taillade-Espinasse). Ein Einfluss der französischen Annales-Schule ist naheliegend, siehe insb.
Corbin, Alain, Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs. Aus dem Französ. (Originalausg. 1984).
Berlin 2005.
11
Auch wenn die Begriffe Historienfilm bzw. historical film geläufig sind, gibt es keine einheitliche Definition.
Der hier vorgeschlagene Merkmalkatalog unterscheidet sich auch von anderen Argumentationen. Am ähnlichsten: Rosenstone, Robert A., The Historical Film: looking at the Past in a Postliterate Age. In: Landy, Marcia
© 2010 W. Kohlhammer, Stuttgart
der thematisierten Zeit oder Epoche vermitteln, was durch imitierte bzw. nachgestellte zeitgenössische Kostüme, Requisiten, Kulissen und gewählte Schauplätze konstruiert wird; gut demonstrieren das Historienfilme wie Once Upon a
Time in America (1984), deren Handlung in mehreren Jahrzehnten spielt und die
innerhalb des Films das „Zeitkolorit“ wechseln. Er tut dies viertens durch eine
Filmsprache, die (vergangene) Realität suggeriert. Sie, die Thematik und die
ernsthaft dargestellte Handlung können als markante Merkmale von Historienfilmen gelten – auch wenn sie kein eigenes Genre darstellen und es Ausnahmen
gibt. In Marie Antoinette (2006) etwa irritieren die aufdringliche Popmusik oder
die knallbunten Schuhe und Pralinen. Die fließenden Grenzen zu Vertretern aus
traditionellen Filmgenres sind, gemessen an den spezifizierten Kriterien, bei der
Literaturverfilmung am auffallendsten. Auch sie setzt auf ein historisches Setting und eine ernsthaft-dramatische Handlung mit Realitätsbezug und realistischer Filmsprache. Häufig fehlen ihr nur eine greifbare historische Person bzw.
ein konkretes historisches Ereignis.9 Das Parfum: Die Geschichte eines Mörders
(2006) etwa transportiert in epischen Bildern Kulturporträts von Paris und Grasse im absolutistischen Frankreich, was der Romanvorlage und den Recherchen
Süskinds zu verdanken ist, der bekanntlich Geschichte in München und Frankreich studiert hat.10 The Scarlett Letter (1995), The Man in the Iron Mask (1998)
als nicht die erste Verfilmung nach Alexandre Dumas oder Memoirs of a Geisha
(2005) sind weitere Beispiele. Spürbare Unterschiede zu anderen Filmgenres
sind dagegen vorhanden, die mitunter ebenfalls Geschichtsbilder und -themen
aufgreifen und kolportieren: wie die auf Tolkiens Roman basierende Fantasiefilm-Trilogie The Lord of the Rings (2001-2003) Mittelalter-Chiffren, die Komödie Der Schuh des Manitu (2001) karikierend das Klischee nordamerikanischer Indianer (wobei der Film nur Belustigung provoziert, weil er auf dem aus
den Karl May-Verfilmungen bekannten Stereotyp aufbaut und dieses parodiert)
oder der Zeichentrick-Film Pocahontas (1995) das Schicksal einer verbürgten
Häuptlingstochter aus Virginia des 17. Jahrhunderts. Filmerlebnis und Filmwahrnehmung haben genrebedingt hier allerdings eine andere Dimension. Man
vergleiche nur den Trick-Film Pocahontas mit seinem Pendant The New World
(2005). Diese Konditionierung durch Genrezuordnung, die die Erwartungshaltung des Publikums schon vor dem Filmkonsum lenkt, nutzt auch die Filmvermarktung, indem sie Filme durch Poster oder Trailer bereits zur Rezipientenorientierung als Komödien, Fantasyfilme, Horrorfilme etc. bewirbt.11
12
Einleitung
Seit dem Visualisierungsschub des 19. Jahrhunderts (Fotografie, Film, Illustrationsintensität in Printmedien, Plakatwerbung) leben wir zunehmend in einer
Bilderwelt, was mit den Begriffen iconic turn und visual culture bezeichnet
wird. Nicht mehr Lesen, sondern Sehen sei die Schlüsselqualifikation für Gegenwart und Zukunft.12 Im Zeitalter global verfügbarer elektronischer und digitaler (Bild)Medien haben auch TV-Dokumentationen und TV-Serien über Geschichtsthemen sowie Historienfilme Konjunktur. Dass dabei gerade Historienfilme, produziert für Kino mit noch größerer Breitenwirkung als für TV,13 wie
kaum ein anderes Massenmedium Geschichts- und auch Kulturbilder prägen und
der Geschichtswissenschaft als traditioneller Textwissenschaft ihr Vermittlungsmonopol streitig machen, haben Historiker längst erkannt und betont.14 In der
Tat suggerieren Historienfilme einem Massenpublikum die Vermittlung geschichtlicher Informationen mit verlockenden Vorteilen im Vergleich zum Sachoder Fachbuch: eindringlich und unmittelbar durch ihre Bildgewalt, Filmmusik
und Filmhelden als Identifikationsofferten, unterhaltsam, in kurzer Zeit und
nachhaltig durch Kino, DVD-Verkauf, DVD-Verleih und TV-Wiederholungen.
Diese emotionale und meinungsbildende Intensität erreicht der Dokumentarfilm
nicht, auch wenn er durch verbesserte Didaktik (Spielszenen und Computeranimation) an Attraktivität gewonnen hat,15 und diese Kriterien unterscheiden dieses Medium vom auch für die Geschichtswissenschaft zum Vermittlungskonkurrenten avancierten World Wide Web. Ein extremes Fallbeispiel dürfte geläufig
sein: Als im dritten Teil des deutschen Kassenschlagers Winnetou (1965) nach
Karl May der edle Apachenhäuptling heimtückisch getötet wurde, hagelte es
solche Publikumsproteste, dass Pierre Brice als Winnetou tunlichst auf die Leinwand zurückkehrte. Der Schauspieler Rik Battaglia, der den Winnetou-Mörder
12
Maar, Christa, Burda, Hubert (Hg.), Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder. Köln 12004. 32005. Sturken, Marita,
Cartwright, Lisa (Hg.), Practices of Looking. An Introduction to Visual Culture. Oxford 2001. Paul, Gerhard
(Hg.), Visual History. Ein Studienbuch. Göttingen 2006.
13
Ein wenn auch älteres Musterbeispiel ist der TV-Vierteiler Holocaust (1978), eine US-amerikanische Produktion,
der 1979 auch im deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurde.
14
Repräsentativ: Landy, Marcia, Introduction. In: Landy, Marcia (Hg.), The Historical Film. History and Memory
in Media. New Brunswick, New Jersey 2000, 1-22, hier 8-11. Meier, Mischa, Slanička, Simona, Einleitung, in:
Meier, Mischa, Slanička, Simona (Hg.), Antike und Mittelalter im Film. Konstruktion - Dokumentation - Projektion. Köln-Weimar-Wien 2007, 7-16, hier 10-13. Meyers, Peter, Film im Geschichtsunterricht. In: Geschichte in
Wissenschaft und Unterricht 52/4, 2001, 246-259, hier 247.
15
Z. B.: Versunkene Welten: Pompeji - der letzte Tag. P: BBC/TLC/NDR/France 2 2004, R: Ailisa Orr, Peter
Nicholson. Gesendet auf WDR, 10.06.2004.
© 2010 W. Kohlhammer, Stuttgart
(Hg.), The Historical Film. History and Memory in Media. New Brunswick, New Jersey 2000, 50-66, hier 55-57.
Bernd Hey und Peter Meyers unterteilen Historienfilme in diese zehn Hauptgruppen (nach dem rororo-Filmlexikon): historischer Schicksalsfilm, historischer Abenteuerfilm, historischer Ausstattungsfilm, didaktischer Rekonstruktionsfilm, Klassikerverfilmung, Legendenfilm, Vergangenheitsbewältigungsfilm, historischer Gegenwartsbewältigungsfilm, historischer Propagandafilm, Nostalgiefilm. Hey, Bernd, Geschichte im Spielfilm. Grundsätzliches und ein Beispiel: der Western. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 39/12, 1988, 17-33, hier 1819. Meyers, Film, 251. Hedwig Röckelein und Thomas Scharff verweisen für den „Mittelalterfilm“ auf verschiedene Genres, in denen sich Themen und Chiffren des Mittelalters niederschlagen: biografischer Film, Abenteuerfilm, historischer Monumental- und Kostümfilm, Literaturverfilmung sowie Fantasyfilm, Satire und Parodie.
Röckelein, Hedwig, Mittelalter-Projektionen. In: Meier, Mischa, Slanička, Simone (Hg.), Antike und Mittelalter
im Film. Konstruktion - Dokumentation - Projektion. Köln-Weimar-Wien 2007, 41-62, hier 41ff. Scharff, Thomas, Wann wird es richtig mittelalterlich? Zur Rekonstruktion des Mittelalters im Film. In: Ebd., 63-83, hier 6869.
Historienfilme
13
16
Winnetou I (1963), Winnetou II (1964), Winnetou III (1965). Und ferner: Winnetou und das Halbblut Apanatschi
(1966). Winnetou und sein Freund Old Firehand (1966). Winnetou und Shatterhand im Tal der Toten (1968).
Zum Erfolg: Faulstich, Werner, Filmgeschichte, Paderborn 2005, 174. Zur Publikumsreaktion siehe die Dokumentation: Winnetou darf nicht sterben. P: BRD/F 2006. R: Oliver Schwehm. B: Oliver Schwehm. Gesendet auf
ARTE am 26.12.2007. Freundlichen Dank für die Dateninformation Andrea Scheider, Archiv ARTE Deutschland TV GmbH.
17
Cameron, James, Titanic. In: Newsweek, 15. Dezember 1997, 65.
18
Zit. n. Junkelmann, Marcus, Hollywoods Traum von Rom. „Gladiator“ und die Tradition des Monumentalfilms.
Mainz 2004, 13, 47.
19
Erster Eintrag unter „user reviews“ zu „1492: Conquest of Paradise“: http://www.imdb.com/title/tt0103594/#comment <12.02.2009>.
20
Siehe weitere Einträge (passim) unter „user reviews“: http://www.imdb.com/title/tt0103594/#comment. Sowie:
http://www.ciao.de/sr/q-erfahrungsberichte+1492+die+eroberung+des+paradieses <08.02.2009>.
21
Rother, Rainer, Nationen im Film. Zur Einleitung. In: Rother, Rainer (Hg.), Mythen der Nationen – Völker im
Film. Berlin 1998, 9-16, hier 12.
© 2010 W. Kohlhammer, Stuttgart
Rollins abgab, wurde hingegen öffentlich gemieden und bekam zumindest in
Deutschland keine Rollenangebote mehr.16
Die internationale Filmindustrie scheint sich dieser verführerischen Wirkung
bewusst zu sein. 1997 ließ James Cameron, Regisseur und Drehbuchautor von
Titanic, im Kontext seines populären Historienfilms wissen: „We have a great
responsibility. Whatever we make will become the truth, the visual reality that a
generation will accept.“17 Camerons Beteuerung ist keineswegs neu. Schon 1913
versicherte Enrico Guazzoni, Regisseur von Marcantonio e Cleopatra, sein
Spielfilm beruhe auf „der absolutesten historischen Wahrheit”. David Wark
Griffith, der mit seinem Epos über den US-amerikanischen Bürgerkrieg The
Birth of a Nation (1915) Filmgeschichte schrieb, hatte deshalb die Vision, dass
binnen zehn Jahren im Schulunterricht Filme Bücher ersetzen würden. Und
Ridley Scott, Regisseur von Gladiator (2000), versprach über seinen Antikfilm
aufgrund genauer Recherchen, authentischer Kostüme und digitaler Architekturrepliken: „man lebt im römischen Reich.“18 Statements von Laienkonsumenten
bestätigen diese Wirkung. 1999 votierte ein jugendlicher Konsument, der den
Historienfilm über Kolumbus 1492: Conquest of Paradise (1992) im Schulunterricht kennen gelernt hat, aus Australien: “This is a great film, I really enjoyed
watching it. We watched a small amount at school, and I just had to go out and
borrow the video to watch it all. Gérard [Depardieu] did a great job of playing
Christopher Columbus, this film is also very informative and I did learn from it.
I would recommend that everyone go and get this film on video and watch it.”19
Auch dieses Votum steht repräsentativ für euphorische „user reviews“, die diesen Film aufgrund seines Informationsgehalts wertschätzen.20 Skeptisch geben
sich dagegen erwartungsgemäß für das Sujet zuständige Wissenschaftler. 1998
behauptete der Filmhistoriker Rainer Rother: „Nun ist allerdings der Historienfilm weder auf Quellenstudien noch auf die Detailbesessenheit des Historisten
zu verpflichten. Das Genre hält es, wie der historische Roman, in der Regel eher
mit den Nebenfiguren und Namenlosen, lässt die berühmten „großen Männer“
und die Entscheidungsträger nur am Rande oder im Dialog vorkommen, versucht sich selten an Porträtgenauigkeit bei Zentralgestalten.“21 Auch dieses Verdikt ist keine Ausnahme. Der Historienfilm wird gerne abgestraft, weil ihm das
Vorurteil vorauseilt, wie der historische Roman ein bloßes (fiktives) Unterhal-
14
Einleitung
tungsmedium zu sein.22 Hier setzt das Buch an, um die Berechtigung dieser Aussagen auf den Prüfstand zu stellen. Im Zentrum stehen zwei Fallbeispiele gleicher Thematik, die die genannten Merkmale eines Historienfilms erfüllen und
dabei einen global bekannten „großen Mann“ als Hauptakteur auftreten lassen:
die Kolumbus-Verfilmungen Christopher Columbus (1949) und 1492: Conquest
of Paradise (1992). Mit ihrer systematischen Einzelanalyse verbindet sich ein
eigens entworfenes methodisches Konzept, das sich auch als Modellkonzeption
für die Untersuchung weiterer Historienfilme aus geschichtswissenschaftlicher
Perspektive versteht. Im Kontext von iconic turn, visual culture und Globalisierung zielt das Buch dabei auf die Schlüsselqualifikationen Medienkompetenz
und interkulturelle Kompetenz und möchte mit seinem innovativen Konzept
dazu beitragen, die Geschichtswissenschaft im transdisziplinären Medien- und
Filmdiskurs konkreter und profilierter zu positionieren. Denn das Buch behandelt Fragestellungen, für deren Beantwortung die Geschichtswissenschaft prädestiniert ist. Mit Blick auf das bisherige Forschungsgeschehen erscheint dieser
Vorstoß geboten.
2 Spielfilme und interdisziplinäres Forschungsinteresse
22
Baumann, Heidrun, Probleme historischer Unterrichtsfilme. In: Wilharm, Irmgard (Hg.), Geschichte in Bildern.
Von der Miniatur bis zum Film als historische Quelle. Paffenweiler 1995, 156-198, hier 167. Zur Problematik des
Vorurteils auch: Gunn, William, Writing History in Film. New York-London 2006, 7ff.
23
Faulstich, Werner, Medienwandel im Industrie- und Massenzeitalter (1830-1900). Göttingen 2004, 236ff. Sorlin,
Pierre, Von der Französischen Revolution zur Résistance. Der französische Film. In: Rother, Rainer (Hg.), Mythen der Nationen - Völker im Film. Berlin 1998, 82-95, hier 82. Landy, Introduction, 14-15.
24
Insb. Faulstich, Werner, Die Geschichte der Medien. 5 Bde. Göttingen 1997-2004. Faulstich, Werner, Mediengeschichte. 2 Bde. Göttingen 2006. Faulstich, Werner (Hg.), Grundwissen Medien. Stuttgart 11998. 52004. Wilke,
Jürgen, Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte. Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert.
Köln-Weimar-Wien 2000. Faulstich, Werner, Filmgeschichte. Paderborn 2005.
© 2010 W. Kohlhammer, Stuttgart
Die Geschichte des Films ist erst gut hundert Jahre alt. Es waren allerdings nicht
Dokumentarfilme der Brüder Lumières 1895, sondern Spielfilme, die dieses Medium zunächst im Kino und später im Fernsehen so erfolgreich machten – darunter als erste Märchen- und Fantasyfilme des französischen Filmpioniers
Méliès 1896-1900, aber auch schon Historienfilme, wie La Mort de Robbespierre und L’assassinat de Marat (1897).23 Filme, und zwar bezeichnender Weise Spielfilme, sind seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Forschungsgegenstand unterschiedlicher Disziplinen geworden, wobei eine zunehmende
Publikationsdichte steigendes Interesse signalisiert. Deren methodische Ansätze
und Fragestellungen lassen sich unschwer als disziplinspezifisch verorten und
zugleich ein enormes – auch transdisziplinär nutzbares – Forschungspotenzial
erahnen, das dem Spielfilm als Untersuchungsgegenstand eigen ist.
Die Medienwissenschaft, die traditionell über die größte Erfahrung mit dem
Untersuchungsgegenstand und seinem Regelwerk verfügt, hat sich bisher am
intensivsten und systematischsten dem Forschungsfeld zugewandt. Sie konzentriert sich auf die Filmgeschichte, die entweder im Medienverbund oder solitär
untersucht und nachgezeichnet wird, und auf die Filmanalyse, wobei besonders
populäre Spielfilme zum beliebten Untersuchungssujet zählen.24 Genreübergreifend und einem komparatistischen Ansatz verpflichtet, untersucht diese Diszi-
Interdisziplinäres Forschungsinteresse
15
plin idealtypische Dramaturgiemuster in Drehbuch und Film (das Drei-AktSchema mit Plot Points nach Field oder das Stufenmodell der „Reise des Helden“ nach Vogler) sowie stereotyp auftretende Figuren (Protagonist, Antagonist(en), Mentoren etc.), die bezeichnender Weise schon archetypisch in älteren
Medien greifbar sind und Grundkonzepte und Bauelemente populärer Spielfilme
bilden.25 Ferner werden in die Analyse die drei didaktischen Filminstrumentarien einbezogen: Auf narrativer Ebene wird die Filmhandlung mit ihrer Erzählstrategie (Erzähler, chronologische Handlung oder Rahmenhandlung), ihrer
Geschichte, Problematik und Aussage sowie den Akteuren (Held oder Antiheld,
statische oder sich entwickelnde Charaktere) untersucht. Auf visueller Ebene
werden Sequenzen und Schnitte sowie Blickpunkt, Einstellungen, Perspektiven,
Wechsel und Fahrten der Kamera betrachtet. Ihr Einsatz hat entscheidende Bedeutung für das Filmerlebnis, die Filmspannung wie auch die Zeichnung handelnder Personen. Der Rezipient kann direkt in den Film einbezogen werden, indem er aus der Sicht von Akteuren die Handlung mitverfolgt (subjektive Kamera). Nah-, Groß- oder gar Detailaufnahmen handelnder Personen (Oberkörper,
Gesicht, Gesichtsausschnitt) bewirken auf mimischer Ebene besondere Intimität
beim Betrachter – oder dienen sogar als visuelle Metapher für Geruch, wie fokussierte Nasen in Das Parfum: Die Geschichte eines Mörders (2006). Auf auditiver Ebene werden Sprachmittel (Monologe, Dialoge, Erzähler voice over),
Geräusche (die erst eine natürliche Atmosphäre erzeugen) und Filmmusik (die
die visuelle Ebene unterstützt) als dramaturgische Elemente ausgeleuchtet. Als
besonderes Stilmittel verwenden Filme darüber hinaus das „Platzieren und Ernten“, eine Informationsstreuung, die wie häufige Kamerawechsel dazu dient, die
Aufmerksamkeit des Zuschauers zu erhalten – und zu belohnen. Dabei wird eine
Information, deren Kenntnis der Konsument meist nur mit einem oder wenigen
Akteuren teilt, antizipiert (Platzieren) und darauf später rekuriert (Ernten). In
C´era una volta il west (Spiel mir das Lied vom Tod, 1968) ist es die Mundharmonika, auf der Charles Bronson spielt und deren Bedeutung beim Showdown
mit Frank im Rahmen einer Rückblende aufgeklärt wird. In The Silence of the
Lambs (1991) ist es der Falter, den die FBI-Agentin in Form eines Kokons im
Hals einer Toten entdeckt, den sie von Zoologen bestimmen lässt und der als
Schmetterling für sie am Filmende das erste Indiz abgibt, im Haus des gesuchten
Serienmörders zu sein (In Anspielung auf die Filmthematik handelt es sich
kaum zufällig um einen Totenkopf-Schwärmer). Im Actionfilm Kill Bill – Volume 2 (2004) ist es die mehrmals erwähnte „Fünf-Punkte-Pressur-Herzexplosions-Technik“, die die Filmheldin in der harten Schule ihres Lehrers Pai Mei
erlernt und durch die sie sich im Finale an ihrem stärksten Widersacher rächen
kann. Im Science Fiction-Film I Am Legend (2007) ist es die Schaufensterpuppe,
mit der der Protagonist in einer Videothek im evakuierten New York scheinbar
völlig überflüssig „spricht“, bevor sie von den mutierten Menschen als Lockvogel benutzt wird, um ihm erfolgreich eine Falle zu stellen. Unter diesen AspekField, Syd, Das Handbuch zum Drehbuch. Frankfurt a. M. 101997. Vogler, Christopher, Die Odyssee des Drehbuchschreibers. Über die mythologischen Grundmuster des amerikanischen Erfolgskinos. Aus d. Amerik. (Originalausg. 1998). Frankfurt a. M. 42004. Campbell, Joseph, Der Heros in tausend Gestalten. Aus d. Amerik. (Originalausg. 1949). Frankfurt a. M.-Leipzig 1999.
© 2010 W. Kohlhammer, Stuttgart
25
16
Einleitung
26
Z. B. Hickethier, Knut, Film- und Fernsehanalyse. Stuttgart 32001. Faulstich, Werner, Grundkurs Filmanalyse.
München 2002. Krützen, Michaela, Dramaturgie des Films. Wie Hollywood erzählt. Frankfurt a. M. 12004. 22006
(idealtypisch demonstriert am Beispiel The Silence of the Lambs). Bordwell, David, Thompson, Kristin, Film
Art. An Introduction. Boston-New York-San Francisco u. a. 82008 (mit Beispielen zur Filmanalyse auf visueller
Ebene). Korte, Helmut, Einführung in die Systematische Filmanalyse. Ein Arbeitsbuch. Berlin 12000. 32004 (mit
analysierten Fallbeispielen). Eine Zusammenfassung des filmanalytischen Repertoires bietet: Bohrmann, Thomas, Die Dramaturgie des populären Films. In: Bohrmann, Thomas, Veith, Werner, Zöller, Stephan (Hg.), Handbuch Theologie und populärer Film. 2 Bde. Paderborn-München-Wien-Zürich 2007-2009, Bd. 1, 15-39.
27
Hickethier, Film- und Fernsehanalyse, 2-3.
© 2010 W. Kohlhammer, Stuttgart
ten und der Forderung nach Filmprotokollen, die das Filmgeschehen für die
Analyse hilfreich „verschriftlichen“, liegen theoriegeleitete Handbücher bis hin
zu systematischen Einzelanalysen populärer Spielfilme vor.26
Die Lektüre der Methoden und Analysen dieser Disziplin ist deshalb so gewinnbringend, weil Filme derart subtil konzipiert sind, dass sie und ihre Wirkung Konsumenten kaum bewusst wahrnehmen. Eine Auseinandersetzung mit
den Befunden schärft grundsätzlich die eigene Medienkompetenz.27 Historikern
dienen die Ergebnisse der Sensibilisierung für ihren Untersuchungsgegenstand,
auch wenn die Analyse von Historienfilmen nicht im medienwissenschaftlichen
Fokus steht. Denn auch Historienfilme rekurrieren auf das von der Medienwissenschaft erschlossene filmsprachliche Repertoire. Once Upon a Time in America (1984), Out of Africa (1985) und Alexander (2004) erzählen ihren Stoff nicht
chronologisch, sondern als Rahmenhandlung, wobei die Eröffnungssequenzen
als beliebte Erzählstrategie populärer Spielfilme die sog. Neugierfrage stellen
und dadurch im Zuschauer Interesse für die Vorgeschichte wecken wollen. Als
aussagekräftiges Beispiel lässt sich auch Das Parfum: Die Geschichte eines
Mörders (2006) anführen, weil der Film genau in diesem Punkt von der Romanvorlage abweicht. In Braveheart (1995), 1492: Conquest of Paradise (1992) und
Alexander (2004) treten historische Personen als Erzähler auf, was Authentizität
suggeriert. Prototypisch wird etwa in Braveheart das Stilmittel „Platzieren und
Ernten“ inszeniert. Am Filmbeginn schenkt die kleine Murron dem jungen William Wallace am Grab seines Vaters eine Blume, die er ihr Jahre später in gepresster Form als originelle Liebeserklärung zurückgibt. Eine Hochzeitsfeier im
schottischen Dorf von Wallace, bei der der englische Lord sein Recht auf die
erste Nacht mit der Braut einfordert, erklärt, weshalb Wallace Murron heimlich
heiratet. Weil sie ihm gestanden hat, nicht lesen zu können, versteht der Zuschauer, warum er ihr eine Zeichnung in den Wäschekorb schmuggelt, mit der er
sie über ihre bevorstehende heimliche Trauung informiert. Bei der Trauung
reicht sie ihm ein gesticktes Tuch, dem leitmotivische Bedeutung als Metapher
für Liebe und Freiheit zukommt. Der verletzte Wallace verliert es in einer
Schlacht. Es dient als Pfand für ein Treffen mit schottischen Adeligen, wobei es
wieder zu Wallace gelangt und er in eine Falle gelockt wird. Begleitet von einer
gezielten Kameraperspektive fällt es ihm aus der Hand, als er auf der Folterbank
hingerichtet wird. Die Kamera verfolgt dabei den Fall des Tuchs in slow motion
und aus der Froschperspektive, wodurch der Blick symbolträchtig in einen sonnendurchfluteten Himmel führt. Am Filmende motiviert das Tuch Robert the
Bruce, die Schotten in die entscheidende Schlacht um ihre Freiheit zu führen.
Dabei ist die Analyse dieses häufig angewendeten Stilmittels reizvoll – und do-
Interdisziplinäres Forschungsinteresse
17
28
Bullerjahn, Claudia, Grundlagen der Wirkung von Filmmusik. Augsburg 2001 (mit weiterführender Literatur).
29
Ennio Morricone: Once Upon a Time in America. The Mission. Vangelis: Chariots of Fire (1981). 1492: Conquest of Paradise. Alexander. Hans Zimmer: Pearl Harbor.
30
Z. B. Beicken, Peter, Wie interpretiert man einen Film? Stuttgart 2004. Albersmeier, Franz-Josef, Roloff, Volker
(Hg.), Literaturverfilmungen. Frankfurt a. Main 1989. Brode, Douglas C., Shakespeare in the Movies: From the
Silent Era to Shakespeare in Love. Literary Artist’s Representatives. Oxford 2000. Rosenthal, Daniel, Shakespeare on Screen. New York 2001. Rothwell, Kenneth S., A History of Shakespeare on Screen. A Century of
Film and Television. Cambridge 2001. Bohnenkamp, Anne (Hg.), Literaturverfilmungen. Stuttgart 2005.
© 2010 W. Kohlhammer, Stuttgart
kumentiert allein schon auf dieser filmästhetischen Ebene, wie kunstvoll durchdacht Spielfilme konzipiert sind und wie wenig sie dem Zufall überlassen.
Auch wenn Einsatz und Wirkung von Musik in der medienwissenschaftlichen Filmanalyse berücksichtigt werden, hat sich die Musikwissenschaft eigens
diesem Gegenstand gewidmet. Dies ist verständlich, charakterisieren doch Leitmotive Figuren akustisch und begleiten ihre Filmauftritte, wie das Mundharmonika-Motiv Charles Bronson in C´era una volta il west (1968), während Stimmungsmotive im Zuschauer verschiedene Emotionen wecken (Erregung, Freude,
Sentimentalität, Romantik). Dabei geschieht Musikeinsatz meist aus dem Off
(asynchroner Musikeinsatz) und selten synchron zur Filmhandlung – wie in Out
of Africa (1985), wenn Tania Blixen und Denys Finch Hatton auf einer Safari
Mozart hören, oder natürlich im Film Farinelli (1984), der die Sängerkarriere
des Kastraten Carlo Broschi aus dem 18. Jahrhundert erzählt. Klassische Musik
wird zwar in Filmen mitunter adaptiert, meist handelt es sich jedoch um eigens
komponierte Soundtracks.28 Ihre Bedeutung ist besonders in Filmsequenzen signifikant, in denen nicht gesprochen wird, sondern die nur musikalisch untermalt
sind. Neben der visuellen Ausdruckskraft von Filmen dokumentieren solche
Beispiele Erzeugung und Intensität von Stimmungen und Emotionen durch
Filmmusik eindringlich – wenn man sie ansieht und dabei probeweise den Ton
abstellt. Nicht zufällig gehört Filmmusik zu den Oscar-Preiskategorien und
macht Komponisten und ihre Kompositionen auch von Historienfilmen populär:
Ennio Morricone, Vangelis, Hans Zimmer.29 Darüber hinaus werden main themes zu magischen Erinnerungsträgern von Filmen, die beim (zufälligen) Hören
– auch für Historiker interessante – Film- und Bildassoziationen hervorrufen.
Das kann selbst für ältere Filmmusik gelten, auch wenn sie nostalgische Empfindungen auslösen mag. Die Winnetou-Melodie aus den Karl May-Filmen der
1960er Jahre ist hierfür ebenso wie Lara’s Theme aus Doktor Schiwago (1965)
ein markantes Beispiel. Im geschichtswissenschaftlichen Kontext ist auch Filmmusik zu nennen, die durch spezifische Klangelemente, Instrumente oder Gesänge auf in Filmen thematisierte überseeische Kulturen anspielt, wie in The
Last Emperor (1984), The Mission (1986) oder Anna and the King (1999), was
vermutlich mit stereotypen akustischen Exotikvorstellungen des anvisierten
Massenpublikums der westlichen Welt zusammenhängt.
Die Literaturwissenschaft konzentriert sich unter Berücksichtigung filmgeschichtlicher und soziokultureller Fragen auf die inhaltliche Filminterpretation
und dabei nicht zuletzt auf Literaturverfilmungen.30 Auch die Religionswissenschaft hat sich in den Filmdiskurs eingeschaltet und Erlöserfiguren, religiöse
Motive und Symbolik u. a. in Science-Fiction-Filmen untersucht und dabei
18
Einleitung
31
Bohrmann, Thomas, Veith, Werner, Zöller, Stephan (Hg.), Handbuch Theologie und populärer Film. 2 Bde.
Paderborn-München-Wien-Zürich 2007-2009. Zum Filmbeispiel: Fritsch, Matthias J., Von Star Trek, Matrix &
Co. Theologische Aspekte von Science-Fiction. In: Ebd., Bd. 1, 53-64.
32
Riederer, Günter, Film und Geschichtswissenschaft. In: Paul, Gerhard (Hg.), Visual History. Ein Studienbuch.
Göttingen 2006, 96-113.
33
Kracauer, Siegfried, From Caligari to Hitler. A Psychological History of the German Film. Princeton 1947.
Pierre, Sorlin, The Film in History. Restaging the Past. Totowa, New Jersey 1980. Sorlin, Pierre, European Cinemas, European Societies 1939-1990. London 1991. Rosenstone, Robert A., History in Images - History in
words. In: The American Historical Review 93, 1988, 1173-1185. Rosenstone, Robert A., Visions of the Past.
The Challenge of Film to Our Idea of History. Cambridge-London 11995. 21996.
34
Zimmermann, Clemens, Medien im Nationalsozialismus: Deutschland 1933-1945, Italien 1922-1943, Spanien
1936-1951. Wien-Köln-Weimar 2007.
35
Ferro, Marc, The fiction film and historical analysis. In: Smith, Paul (Hg.), The Historian and Film. Cambridge
1976, 80-94, hier 81.
© 2010 W. Kohlhammer, Stuttgart
selbst Bibelan- und Bibelentlehnungen belegt. So heißt in der Blockbuster-Trilogie The Matrix (1999-2003) der Protagonist nicht zufällig „Neo“ als Anagramm
für „the One“, darf als lange erwarteter Auserwählter die (Untergrund)Welt „Zion“ retten und ist mit einem Raumschiff namens „Nebukadnezar“ unterwegs.31
Derartige Rezeptionsbezüge dürften den Erfolg solcher Filme bei einem in
christlicher Tradition aufgewachsenen Publikum (unbewusst) fördern und vermögen ihn zugleich mit zu erklären.
Das Interesse der Geschichtswissenschaft richtet sich erwartungsgemäß auf
das zeitgenössisch entstandene Filmdokument (wie Wochenschauen mit dem
größten Authentizitätswert), den für TV-Zwecke gedrehten Dokumentarfilm und
den Spielfilm, hier nicht zuletzt den Historienfilm.32 Kategorie eins und drei
stehen dabei im Fokus, und das beileibe nicht nur in der Fachdidaktik. Auf der
Basis der viel zitierten Pioniere Siegfried Kracauer, Pierre Sorlin und Robert
Rosenstone verortet diese Disziplin ihr Untersuchungsmaterial als kultur- und
mentalitätshistorische Quellen, die Rückschlüsse auf Geschmack, Mode, Ernährung oder Sitten sowie Werte, Normen, Sehnsüchte, Ängste und Phantasien gesellschaftlicher Kollektive ihrer Entstehungszeit erlauben (weil populäre Spielfilme Konsens mit einem Massenpublikum voraussetzen), sowie als Vermittler
von Geschichtsbildern.33 Unter dem ersten Ansatz lassen sich Filmdokumente,
wie Wochenschauen und (ideologisch-politische) Propagandafilme,34 aber auch
Spielfilme verschiedener Genres als „Museum der Kultur“ subsumieren und als
soziokulturelle und mentale Zeitzeugnisse untersuchen.35 Die Thriller Es geschah am hellerlichten Tag (1958) und The Silence of the Lambs (1991) wie
auch die Komödie The Devil Wears Prada (2006) transportieren im Hintergrund
der Filmhandlungen alltagskulturelle Phänomene ihrer Entstehungszeit – als
Zeit- und Lokalkolorit Wohn- und Einrichtungsstil, Kleidung und Frisuren,
Konsum- und Freizeitverhalten oder Statussymbole und Schönheitsideale in der
BRD bzw. den USA.
Die Dramen Christiane F.: Wir Kinder vom Bahnhof Zoo (1981) oder Trainspotting (1995) problematisieren den Konsum von Heroin, Beschaffungskriminalität und organisiertes Verbrechen und zeichnen Drogenkarrieren Jugendlicher
in Deutschland und Großbritannien nach. Dagegen erzählen die Komödien
Saving Grace (2000) und Cannabis: Probieren geht über Regieren (2006) von
einer Hanf züchtenden, unbedarften britischen Witwe und einem gegen den Grü-