Kein Folientitel - Fachverband Sucht eV
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25. Heidelberger Kongress des Fachverbandes Sucht e.V. 18. -20. Juni 2012 Meilensteine in der Behandlung Drogenabhängiger: Praxis und Forschung Joachim Körkel © Körkel (2012) Vorbemerkungen 1. Ausschnitthafter Blick – kein bio-psycho-soziales Gesamtresümee zu 25 Jahren Drogenforschung 2. Der ins Blickfeld genommene Ausschnitt: Die sozial auffälligen Drogenabhängigen sog. „harter Drogen“ (landläufig „DIE“ Drogenabhängigen) © Körkel (2012) Übersicht 1. Ausgangssituation: Drogenabhängige 2. Das 4-Säulen-Modell 3. Säule „Beratung und Therapie“ 4. Säule „Niedrigschwellige Drogenarbeit“ 5. Säule „Drogenpolitik“ 6. Fazit © Körkel (2012) Übersicht 1. Ausgangssituation: Drogenabhängige © Körkel (2012) Drogenabhängige 1. … sind Multisubstanzkonsumenten © Körkel (2012) Konsumierte Substanzen Frankfurter Drogenabhängiger (Körkel et al. 2011) Anzahl durchschnittlich konsumierter Substanzen: 5,23 (inkl. Zigaretten und Substitutionsmittel) © Körkel (2012) © Körkel, Becker, Happel & Lipsmeier (2011) % Alkoholkonsum drogenabhängiger Nürnberger Kontaktladenbesucher (mudra, Hängematte) (N = 76; Körkel & Waldvogel 2008) 6 konsumierte Substanzen (letzte 4 Wochen) 83% konsumieren Alkohol 43% sind alkoholabhängig (DSM-IV), 29 Fl. Bier/Woche Mit der Anzahl der konsumierten illegalen Drogen steigt die konsumierte Alkoholmenge (r = .33, p < .05) © Körkel (2012) Drogenabhängige 1. … sind Multisubstanzkonsumenten 2. … sind änderungsmotiviert © Körkel (2012) % Ffm-Drogenabhängiger mit Reduktionsvorsatz (KISS-RCT; Körkel et al. 2011) 100 % 87,7 bei durchschnittlich 2,77 Substanzen Reduktionswunsch 88,7 79,4 80 69 60 46,2 20 0 Zigaretten Crack © Körkel (2012) Heroin Benzos Cannabis Alkohol Kokain © Körkel, Becker, Happel & Lipsmeier (2011) 40 43,9 40,4 Drogenabhängige 1. … sind Multisubstanzkonsumenten 2. … sind änderungsmotiviert 3. … weisen zu ca. 70% eine psychiatrische Komorbidität auf © Körkel (2012) Posttraumatische Belastungsstörungen (nach DSM-IV) bei behandelten Substanzabhängigen (aus 14 klinischen Zentren; N=459; Driessen et al. 2008) % Drogenabhängige 1. … sind Multisubstanzkonsumenten 2. … sind änderungsmotiviert 3. … weisen zu ca. 70% eine psychiatrische Komorbidität auf 4. … versterben im Durchschnitt 20 Jahre früher als der Bevölkerungsdurchschnitt © Körkel (2012) 20-Jahres-Längsschnitt von (abstinenzbehandelten) Abhängigen „harter“ illegaler Drogen 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0 verstorben abstinent problematischer Konsum unproblematischer Konsum Schippers & Cramer (2002) Meili, Dober & Eyal (2004) © Körkel (2012) Übersicht 1. Ausgangssituation: Drogenabhängige 2. Das 4-Säulen-Modell © Körkel (2012) Vier Säulen der Suchthilfe und Suchtpolitik [vgl. Aktionsplan Drogen und Sucht des BMGS 2003; Eidgenössische Kommission für Drogenfragen 2006] PRÄVENTION BERATUNG BEHANDLUNG Primärprävention Beratungsstellen • Verhältnisprävention (Preis, Zugang etc.) Ambul. Behandlung • Früh- und Kurzinterventionen (z.B. FreD) • Substitution • ambulante Therapie • Arbeitsprojekte • Verhaltensprävention (Lebenskompetenzförderung, Elternbriefe, zielgruppengerechte Drogeninfos etc.) Station. Behandlung • Entzugsstationen • Fachkliniken • Nachsorge-WGs ÜBERLEBENSHILFE/ SCHADENSREDUZIERUNG „REPRESSION“/ ANGEBOTSREDUZIERUNG • Kontaktläden • Notschlafstellen • Konsumräume • Streetwork Zoll Polizei Staatsanwaltschaft Gerichte JVA Angebote: • Spritzentausch • Safer Use • Ernährung/ Hygiene •... Zielgruppe: i.d.R. polytoxikoman Abhängige, „offene Drogenszene“ Möglichkeit der Therapie statt Strafe [§§ 35, 36 BtMG] © Körkel (2012) Konzept für eine zukunftsfähige Suchtpolitik in der Schweiz [Quelle: Steuergruppe der drei Eidgenössischen Kommissionen für Alkoholfragen, für Drogenfragen und für Tabakprävention 2010] © Körkel (2012) Übersicht 1. Ausgangssituation: Drogenabhängige 2. Das 4-Säulen-Modell 3. Säule „Beratung und Therapie“ © Körkel (2012) Säule „Beratung und Therapie“ 1. Zwei sehr potente Optionen bei Opiatabhängigkeit: Substitutions- und heroingestützte Behandlung (Haasen et al. 2007; Strang et al. 2012 [EMCDDA 11]). Gleichwohl folgende notorischen Probleme (vgl. COBRA-/PREMOS-Studie mit N = 1615 Substituierten; Wittchen et al. 2008, 2011): - „Beikonsum“: 55% in Eingangserhebung, 53% ein Jahr später (ohne Alkohol, ohne Ausgeschlossene). - Ziel „totale Abstinenz“: Nach 6 Jahren nur 4% opiatfrei. - Meist keine gesicherte Finanzierung der psychosozialen Begleitung, keine adäquate Schulung des Personals, keine adäquaten Arbeitskonzepte - Wenig berufliche Stabilisierungs-/Integrationsmöglichkeiten © Körkel (2012) Säule „Beratung und Therapie“ Fazit: Die Behandlung Opiatabhängiger ist in Deutschland – übergreifend betrachtet – weniger an „ärztlicher Heilkunst“ als an politischen Vorgaben, lokalen Gepflogenheiten etc. orientiert. Beispiel: Substitutabgabe bei Alkoholisierung von Patienten. Wenn Zugangshürden zur Substitutions-/ heroingestützten Behandlung und der Umgang mit Beikonsum wie bei anderen Erkrankungen und analog zu Nachbarländern (v.a. Schweiz) gehandhabt würden, wäre bereits viel gewonnen. Das gilt auch für die restriktive Handhabung stationärer Entwöhnungsbehandlung von Substituierten. © Körkel (2012) Säule „Beratung und Therapie“ 2. Substanz-Tests in Entzugs-, Substitutions- und Entwöhnungsbehandlungen valide? – Wurst et al. (2011): Durch Selbstberichte und Atemluftkontrollen bleibt bei vielen Pat. der Alkoholkonsum unentdeckt, wie Metabolitenanalysen (Ethylglucuronid [UEtG] und Ethylsulphat [UEtS]) zeigen („falsch negatives Ergebnis“). – Jellinek (2011): Bei anderen Pat. wird durch Urinanalysen ein Konsum (z.B. von Amphetaminen) unterstellt, obwohl gar keiner vorliegt („falsch positives Ergebnis“) – mit Folgen wie disziplinarischer Entlassung u.a.m. © Körkel (2012) Säule „Beratung und Therapie“ 3. Bislang gibt es außer bei der Opiatabhängigkeit keine Erfolg versprechende medikamentöse Postakutbehandlung der Abhängigkeit von Cannabis, Kokain/Crack, Amphetaminen und anderen illegalen Drogen. Zudem hohe Abbruchquoten. (vgl. Berglund, Thelander & Jonsson 2003; für Naltrexon: Lobmaier et al. 2011) © Körkel (2012) Säule „Beratung und Therapie“ 4. Stationäre Drogenbehandlung (Entzug/Entwöhnung) – Relativ geringe Haltequoten (z.B. 14 - 49% auf 12 NRW-Entzugsstationen, Specka et al. 2011). – Erhebung von Küfner et al. (1995) in 34 deutschen Drogentherapieeinrichtungen: Von den regulären Therapiebeendern hatten 23,4% während ihrer Therapiezeit einen „entdeckten“ Alkohol-, Drogenund/oder Medikamentenrückfall, bei Therapieabbrechern waren es (geschätzte) 32,9%. – Der Alkoholkonsum bleibt durch Drogenbehandlung/ -therapie so gut wie unbeeinflusst (Körkel 2011). – Positive Wirkung von stationärer Therapie in weltweit allen Studien bei Therapie“durchhaltern“. © Körkel (2012) (DARP): Drug Abuse Reporting Program (DATOS): Drug Abuse Treatment Outcomes Study s (ATOS) AUSTRALIAN TREATMENT OUTCOME STUDY (NTORS): National Treatment Outcome Research Study (DTORS): Drug Treatment Outcomes Research Study (DORIS): Drug Outcome Research in Scotland Study (ROSIE): Research Outcome Study in Ireland Evaluating Drug Treatment Effectiveness Drug Treatment Outcomes Research Study (DTORS) England Fragestellung: Welche Effekte hat Drogenbehandlung? Behandlungszeitraum: 2006 – 2007 Design: Längsschnitt-Feldstudie ohne Randomisierung und ohne KG Erhebungen: t0 + t1 (3.-5. Monat) + t2 (11.-13. Monat) TN: N = 1.796 Drogenkonsumenten/-innen aus 342 Einrichtungen Behandlung: structured community treatment, residential treatment …. Ergebnisse: ↓ Drogenkonsum, Delinquenz ↑ Gesundheitlicher Zustand ↑ Soziale Integration Resümee: „… the drug-treatment system has been responding effectively by increasing numbers in treatment and improving treatment effectiveness.“ Quelle: Jones, A., Donmall, M., Millar, T., Moody, A., Weston, S., Anderson, T., Gittins, M., Abeywardana, V. & D’Souza, J. (2009). The Drug Treatment Outcomes Research Study: Final outcomes report. London: Home Office Säule „Beratung und Therapie“ Fischer et al. (2007): Katamnese von Drogen-Reha Gemäß den Selbstaussagen der Pat. sind – konservativ berechnet – im ersten Katamnesehalbjahr 72,0% (exklusive Alkohol) bzw. 80,4% (inkl. Alkohol) rückfällig, über das gesamte Katamnesejahr 80,2% (exklusive Alkohol) bzw. 85,6% (inkl. Alkohol). „Ist es … sinnvoll, die totale Abstinenz von Drogen, Medikamenten und Alkohol als Ziel für jeden Drogenabhängigen zu deklarieren …? Oder wäre … vorrangig auf eine Reduzierung der hauptsächlich konsumierten Drogen [abzuzielen] …?“ (S. 46) © Körkel (2012) Säule „Beratung und Therapie“ 5. Angesichts des langjährigen, schweren und multiplen Substanzkonsums der Drogenhilfe-Klientel und ihrer eigenen Konsumvorstellungen ist das Ziel der lebenslangen Abstinenz von allen Suchtmitteln unrealistisch (vgl. auch Neale et al. 2011). Kormann (2010): Nur 1% leben langfristig abstinent von ihren „Problemdrogen“ (Vorsicht: Raucher) Richtet man Drogenbehandlung am Ziel der lebenslangen Abstinenz von allen Suchtmitteln aus, ist sie für ALLE Beteiligten (also auch die Behandlungseinrichtungen) ein Misserfolgsmodell. © Körkel (2012) KISS = „Kompetenz im selbstbestimmten Substanzkonsum“ (Körkel & GK Quest Akademie, 20073) Trainermanual CD-ROM mit Arbeits- und Info-Blättern Teilnehmerhandbuch Evaluation (RCT) des Programms „KISS - Kompetenz Im Selbstbestimmten Substanzkonsum“ bei Drogenabhängigen: Veränderungen (pre – post – 6-Monats-FU) in den vier substanzübergreifenden Zielkriterien (in%) (Körkel, Becker, Happel & Lipsmeier 2011) © Körkel (2012) 12% der KISS-TN in zwischenzeitlicher Entgiftung 24% der Wartegruppe-TN in zwischenzeitlicher Entgiftung In der 6-Monats-Nacherhebung abstinente Kl. (28-Tages-Abstinenz), die zu Studienbeginn die jeweilige Substanz konsumiert hatten (Nettobilanz, in %) © Körkel (2012) Säule „Beratung und Therapie“ 6. „Die Therapiechancen der alten Suchtpatienten sind nicht schlechter, teilweise sogar besser als die der jüngeren. Der häufig anzutreffende Defätismus („in dem Alter macht das doch nichts mehr“) ist deshalb keinesfalls angebracht.“ (Wolter 2011, S. 5). © Körkel (2012) Übersicht 1. Ausgangssituation: Drogenabhängige 2. Das 4-Säulen-Modell 3. Säule „Beratung und Therapie“ 4. Säule „Niedrigschwellige Drogenarbeit“ © Körkel (2012) Wirksamkeit niedrigschwelliger Drogenarbeit (vgl. z.B. Uchtenhagen 2004, 2005) Spritzentauschprogramme: Wiederverwendung gebrauchter Spritzen , Infektionsübertragungen durch Blut , Anzahl Injektionen , Bereitschaft Konsum zu reduzieren , Übertrittsrate in Methadon- oder Abstinenzbehandlung , „herumliegende“ Spritzen im öffentlichen Raum ; kein Anstieg des iv-Konsums Injektions-/Konsum-/Gesundheitsräume: Risikobewußtsein und Risikoverhalten , Spritzeninfektionen , Todesfälle durch Überdosierungen in den Standortstädten , freiwillige Serotests , Übertritte in Abstinenztherapie , Konsum in der Öffentlichkeit , Inanspruchnahme medizinischer und sozialer Hilfen © Körkel (2012) Gefahren niedrigschwelliger Drogenarbeit? (vgl. Uchtenhagen 2004, 2005) Keine Belege für: - Nachteile für die Prävention durch Konsum-“Verharmlosung“ (kein verringertes Risikobewusstsein, keine Erhöhung der Konsumbereitschaft, kein erhöhter Konsum) - Kein Gesellschaftlicher Einstellungsdrift in Richtung Drogenlegalisierung © Körkel (2012) Kritischer Blick auf niedrigschwellige Drogenarbeit 1. Akzeptanzbegriff: „Lebensstil-akzeptierend“ bzw. „nicht-bevormundend“ arbeiten = der zunehmenden Verelendung zuschauen? 2. Angewandte Methoden: Ureigenste sozialpädagogische Methoden (z. B. Case Management, aber auch MI und Psychoedukation) sind allenfalls rudimentär bekannt und werden nicht eingesetzt (Happel 2005). 3. Wissenschaftsorientierung/Forschung: „Normative Verlautbarungen“ statt Ausrichtung an gängigen Wissenschaftsstandards/ empirischer Forschung (Bossong 2008) © Körkel (2012) Übersicht 1. Ausgangssituation: Drogenabhängige 2. Das 4-Säulen-Modell 3. Säule „Beratung und Therapie“ 4. Säule „Niedrigschwellige Drogenarbeit“ 5. Säule „Drogenpolitik“ © Körkel (2012) Schadenspotential psychoaktiver Substanzen (Nutt et al. 2010) Säule „Drogenpolitik“ 1. Drogenkonsum nicht abhängig von staatlicher Kontrolle und Repression. Beispiel: 30 Tages-Prävalenz des Cannabiskonsums 15-16-Jähriger unterscheidet sich nicht zwischen USA, Canada und Holland – trotz gravierender Unterschiede in Kontrolldichte/Strafen. 2. Weitaus höchste Kosten unter den „4 Säulen“: „Repression“ (Maßregelvollzug, Polizei, Gerichte, Strafvollzug: ca. 4 Mrd. €/Jahr; vgl. Mostardt et al. 2010). 3. Absurd: Der Repressionsbereich ist der einzige, für den die – politisch geforderte – Evidenzbasierung aussteht bzw. in vielerlei Hinsicht falsifiziert ist (Beispiel: Cannabislegalisierung) (vgl. Babor et al. 2010; Strang et al. 2012) Übersicht 1. Ausgangssituation: Drogenabhängige 2. Das 4-Säulen-Modell 3. Säule „Beratung und Therapie“ 4. Säule „Niedrigschwellige Drogenarbeit“ 5. Säule „Drogenpolitik“ 6. Fazit © Körkel (2012) Gesamtfazit 1. Drogenabhängigkeit ist wie jede chronische Erkrankung ein fluktuierendes Phänomen. „Heilung“ von einer einzigen Behandlung zu erwarten, ist illusorisch. 2. Es gibt nicht nur einen Weg aus der Drogenabhängigkeit. 3. Ein vielfältiges, zieloffenes Behandlungsangebot erreicht mehr Drogenabhängige als eine eng beschränktes. 4. Geringe Hürden für einen Behandlungs(wieder)einstieg und die Minimierung von Behandlungsabbrüchen sind entscheidend für langfristige Erfolge. 5. Die Sicherung des Überlebens bleibt die zentrale Aufgabe staatlicher Suchtpolitik und auf illegale Drogen ausgerichteter Hilfsangebote. Das Thema „alternde/alte Drogenabhängige“ hat daran nichts geändert. © Körkel (2012) Danksagung an Ashoka Der Vortrag ist im Rahmen meiner 3-jährigen Förderung durch Ashoka Deutschland für das Drogenkonsum-Reduktionsprogramm „KISS“ (= „Kompetenz im selbstbestimmten Substanzkonsum“) entstanden (vgl. http://germany.ashoka.org/joachimkoerkel)