Bio + Fair = nachhaltig? Garnelenzucht und
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Bio + Fair = nachhaltig? Garnelenzucht und
Bio + Fair = nachhaltig? Garnelenzucht und Bananenproduktion in Ecuador Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades doctor rerum naturalium (Dr. rer. nat.) im Fach Geographie eingereicht an der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät II der Humboldt-Universität zu Berlin von Magister Artium (M.A.) Stefan Dietrich Präsident der Humboldt-Universität zu Berlin: Prof. Dr. Jan-Hendrik Olbertz Dekan der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät II: Prof. Dr. Elmar Kulke Gutachter/Gutachterin: 1. Prof. Dr. Ludwig Ellenberg 2. Prof. Dr. Elmar Kulke 3. Prof. Dr. Gisela Welz Tag der Verteidigung: 30.10.2013 für Mai Danksagung Viele Personen haben zum Zustandekommen dieser Arbeit beigetragen. Ohne Ihre Hilfe wäre die Verwirklichung dieses Projekts nicht möglich gewesen. Dazu gehören zum einen die vielfältigen Beiträge, die in dieses Buch eingeflossen sind, allen voran die Einblicke, die mir die beobachteten und Interviewten Menschen aus meinem Untersuchungsfeld beschert haben. Zum anderen gehören dazu diejenigen, die mir die Freiräume ermöglicht und die nötige Unterstützung gegeben haben, mich über einen so langen Zeitraum so intensiv mit dieser Forschung beschäftigen zu können. Deshalb möchte ich mich hier an erster Stelle bei allen von ganzem Herzen bedanken und hoffe, mit diesem Buch und allem, was ihm folgt, auch etwas zurückgeben zu können. Mein besonderer Dank richtet sich an Prof. Dr. Ludwig Ellenberg, meinem Doktorvater, der mich über all die Jahre bedingungslos unterstützt hat, mich stets zu motivieren wusste und besonders in schwierigen Phasen große Geduld bewies und mir mit Rat und Tat zur Seite stand, Prof. Dr. Elmar Kulke und Prof. Dr. Gisela Welz für ihr Interesse und ihre Bereitschaft, die Arbeit zu begutachten, die Deutsche Bundesstiftung Umwelt (DBU), ohne deren Stipendium diese Promotion nicht möglich gewesen wäre, Dr. Nicole Freyer und Christine Busch von der DBU für die Betreuung im Rahmen des Stipendienprogramms, Prof. Dr. Wolfgang Lucht für die finanzielle Unterstützung bei einem Teil der Transkriptionen sowie Oscar David Matallana Uribe für die Durchführung derselben, Jana Lahmer für die Unterstützung bei den Formalitäten bezüglich des Promotionsverfahrens, Philippe Wealer dafür, dass er mich auf die Following-Studien von Ian Cook aufmerksam gemacht hat, Dr. Leonore Scholze-Irrlitz für ihre freundschaftliche und fachliche Unterstützung, Federico Koelle, Thomas Maier, Nora Müller und Daniel Schönig für den intensiven freundschaftlichen und fachlichen Austausch sowie die Hilfe beim Lektorieren, Matthias Forster für die große Unterstützung bei der Erstellung und Einarbeitung der Abbildungen und Karten, Prof. Dr. Norbert Lanfer, Prof. Dr. Steve Striffler, Dr. Achim Engelhardt, Raúl Carvajal und Hieronymus Pauli für ihr Einverständnis, ihre Karten und Abbildungen nutzen zu dürfen, meinen Eltern, meinen Geschwistern und meiner Oma für die uneingeschränkte Rückendeckung und die Möglichkeit, jederzeit am Bodensee Kraft tanken zu können, und meiner Freundin Mai Tran, die mir ein unverzichtbarer Rückhalt war, viele Entbehrungen mitgetragen hat und mich außerdem für den Umgang mit Tabellen und systematisches Vorgehen begeistern und bei der Formatierung der Arbeit retten konnte. Ihr ist dieses Buch gewidmet. Inhaltsverzeichnis Abbildungsverzeichnis.................................................................................................................................i Tabellenverzeichnis....................................................................................................................................iii Kartenverzeichnis......................................................................................................................................iv Abkürzungsverzeichnis...............................................................................................................................v 0 Bio + Fair = nachhaltig? Garnelenzucht und Bananenproduktion in Ecuador: eine Einleitung.........1 1 Theoretisch-konzeptioneller Teil.......................................................................................................15 1.1 Zugänge zu globalisierten Produktions-, Handels und Konsumzusammenhängen: eine Fachgeschichte der Ansätze zu Warenketten, -netzwerken und -kreisläufen...........................18 1.1.1 'Drivers of the chain?': Der Global Commodity Chains Approach......................................19 1.1.2 Netzwerke statt Ketten: Der Global Production Networks Approach..................................30 1.1.3 Weiterentwicklung oder Rückschritt? Der Global Value Chains Approach.........................44 1.1.4 Erweiterungen der 'klassischen' Ansätze............................................................................54 1.1.4.1 Erweiterung um den Stakeholder-Ansatz....................................................................54 1.1.4.2 Erweiterung um die Konventionentheorie....................................................................58 1.1.4.3 Erweiterung um die Gouvernementalitätsforschung im Verhältnis zum Virtualismus und ergänzt um diskursanalytische Überlegungen.........................63 1.1.5 Anschluss der Arbeiten zu commodities and circuits of culture..........................................75 1.2 Fallstudien zur Charakterisierung sowie zur Beschreibung und Erklärung der Entwicklung und aktueller Spannungsfelder von Bio + Fair................................................84 1.2.1 Produktsiegel als formale, marktendogene Institutionen (Mayer 2003a)...........................84 1.2.2 Bio als Initiative: Die Globalisierung der organic agro-food networks (Raynolds 2004).....90 1.2.3 Fair als Initiative: Was haben Konzerne mit Fair Trade zu tun? (Reed 2009)....................97 1.2.4 Konventionelle Konkurrenz für Bio + Fair? Aspekte des 'ethischen Handels' (Hughes 2001a, 2004; Neilson/Pritchard 2007)...............................................................109 2 1.3 Konzeptualisierung des Gegenstands.....................................................................................119 1.4 Reflexionen zum theoretisch-konzeptionellen Teil...................................................................125 Methodologien und Methoden........................................................................................................127 2.1 Methodologische Grundlagen..................................................................................................129 2.2 Einzelne Methoden..................................................................................................................135 2.2.1 Teilnehmende Beobachtung.............................................................................................136 2.2.2 Problemzentrierte Interviews............................................................................................138 2.2.3 Gruppendiskussion...........................................................................................................140 2.2.4 'Materialsammlung'...........................................................................................................141 2.3 Verlauf des Forschungsprozesses..........................................................................................142 2.3.1 Konzeptualisierung des Forschungsfelds, Formulierung der prinzipiellen Fragestellung und Verortung der eigenen Person............................................................142 2.3.2 Zirkulärer Verlauf der Feldforschungsphase.....................................................................147 2.3.3 Materialgrundlage zu Beginn der Auswertungsphase......................................................158 2.3.4 Aufbereitung des Materials...............................................................................................163 2.3.5 Auswertung des Materials................................................................................................163 2.3.6 Darstellung des Materials.................................................................................................167 2.4 3 Reflexionen zu Methodologien und Methoden........................................................................170 Portraits der Teilfelder.....................................................................................................................173 3.1 Bio + Fair in Deutschland........................................................................................................178 3.1.1 Orte des Einkaufs.............................................................................................................179 3.1.2 Orte der (Re)Präsentationen der Akteure.........................................................................184 3.1.3 Bio + Fair im Internet........................................................................................................186 3.1.4 Bilder und Themen............................................................................................................190 3.1.5 Standards und Verfahren bei Bananen und Garnelen aus Ecuador ...............................207 3.1.6 Bio + Fair auf Messen und öffentlichen Veranstaltungen.................................................237 3.1.7 Im Verwaltungssitz einer Standard setzenden Organisation............................................243 3.2 Bananenproduktion in Ecuador...............................................................................................250 3.2.1 Ankunft in Ecuador............................................................................................................250 3.2.2 Geschichte der Bananenproduktion in Ecuador...............................................................257 3.2.3 Eine Woche auf der Finca.................................................................................................273 3.2.4 Eine Woche im Büro von UROCAL/Nuevo Mundo...........................................................290 3.2.5 Die lokale Perspektive der Standard setzenden Organisationen.....................................306 3.3 Garnelenzucht in Ecuador.......................................................................................................312 3.3.1 Die Geschichte der Garnelenzucht in Ecuador................................................................318 3.3.2 Die lokale Perspektive einer Standard setzenden Organisation......................................320 3.3.3 In den Büros der Garnelenzuchtfirmen.............................................................................326 3.3.4 Farmbesuche....................................................................................................................335 3.4 MangrovenbewohnerInnen im Golf von Guayaquil.................................................................346 3.4.1 Geschichte der BewohnerInnen des Golfs von Guayaquil...............................................351 3.4.2 Gegenwart des Dorfes......................................................................................................357 3.4.3 Fahrt nach Guayaquil und zum Kongress der C-Condem................................................368 3.4.4 Die C-Condem..................................................................................................................373 3.4.5 Die Arbeit anderer NROs..................................................................................................377 4 Diskussion zentraler Spannungsfelder...........................................................................................383 4.1 Bananenproduktion – Bio + Fair: ein 'Konsensdiskurs'?.........................................................385 4.1.1 Stellenwert von Bio + Fair: eine Unterstützung, aber nicht die Lösung?..........................385 4.1.2 Heterogenisierungsdynamik als Problem: 'negative Wechselwirkungen' als Gegenposition zur 'Additivthese'?...............................................................................388 4.1.3 Beschränkte Wirksamkeit durch regionale und zonale Unterschiede – Bio vs. 'Spritzer' oder wo bleibt die 'territoriale' Perspektive?...........................................391 4.1.4 Zu undifferenziert, einseitig und zunehmend fordernd – certifier driven chains?.............393 4.2 Garnelenzucht und MangrovenbewohnerInnen – Bio + Fair: ein 'Lagerdiskurs'?...................398 4.2.1 Bio + Fair in der Garnelenzucht: Chancen, Grenzen und Spannungen eines Steuerungsinstruments...........................................................................................398 4.2.2 Unzureichende Berücksichtigung der 'territorialen' Einbettung: historische Zerstörungskraft und organisierte Kriminalität als unüberwindbare Hindernisse für eine nachhaltige Garnelenzucht?................................................................................401 4.2.3 Widerstand gegen Bio + Fair und alternativen Ansätze...................................................404 4.3 Allgemeine Aspekte und der Bezug zu Bio + Fair in Deutschland..........................................409 4.3.1 Chancen, Grenzen, Alternativen: Einbettung von Bio + Fair und an Voraussetzungen geknüpftes Veränderungspotential.................................................409 4.3.2 Problematisierende Stimmen und ihre Chancen auf Gehör.............................................414 4.3.3 Das Problem der 'Additivthese': systematische Ausblendung der Möglichkeit 'negativer Wechselwirkungen'?........................................................................................415 4.3.4 Problematisierung des Bilds von Bio + Fair......................................................................417 4.3.5 Schlüsselrolle der Wissensproduktion und Erfahrungsgenerierung.................................420 5 Zusammenfassung, Schlussbemerkungen und Ausblick...............................................................423 Literaturverzeichnis................................................................................................................................439 Abstrakt..................................................................................................................................................465 Abstract..................................................................................................................................................467 Versicherung über die selbständige Erarbeitung der Dissertation.........................................................469 Anhang...................................................................................................................................................470 Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Plakat der Kampagne "Öko + Fair ernährt mehr!"..............................................................2 Abbildung 2: Organic + Fair: Ein Traumpaar - Thema des Jahres bei der BioFach Messe 2010 ..........2 Abbildung 3: doppelt besiegeltes Produkt................................................................................................2 Abbildung 4: neues Naturland-Fair-Siegel...............................................................................................2 Abbildung 5: „Der Faire Handel ist nicht zu stoppen...“...........................................................................3 Abbildung 6: glücklich lächelnder Kaffeebauer........................................................................................5 Abbildung 7: freudestrahlende Blumenpflückerin....................................................................................5 Abbildung 8: Siegelvielfalt........................................................................................................................6 Abbildung 9: Versuch eines graphischen Überblicks über das Rahmenkonzept der GPN...................43 Abbildung 10: einige Veränderungsszenarien der Koordinationsformen von GVC ................................50 Abbildung 11: Konzeptualisierung des Untersuchungskomplexes........................................................122 Abbildung 12: Bio + Fair Milchshake-Rezept aus einem Faltblatt von Naturland..................................184 Abbildung 13: Verpackung einer Biogarnelenpizza...............................................................................185 Abbildung 14: Was ist Fairer Handel?....................................................................................................190 Abbildung 15: Vorteile von Bio...............................................................................................................190 Abbildung 16: Zitat einer Produzentin in einer Broschüre des Fairen Handels.....................................192 Abbildung 17: Postkarte der Kampagne "Make Fruit Fair!" ..................................................................193 Abbildung 18: „Für freie Gewerkschaften!“............................................................................................194 Abbildung 19: Beschreibung des Fairtrade-Siegels mit Link zur Standard setzenden Organisation....195 Abbildung 20: 'Nachhaltige' Schokolade................................................................................................196 Abbildung 21: „Warum tragen jetzt viele GEPA-Produkte kein Fairtrade-Siegel mehr?“.......................198 Abbildung 22: Statement von Fairtrade USA zum Austritt aus der FLO-I .............................................200 Abbildung 23: „FAIR ODER NICHT-FAIR?“ - ein Siegel-Vergleich........................................................203 Abbildung 24: Ziele, wesentliche Bestandteile und Aufgaben der Fairtrade-Standards .......................214 Abbildung 25: Erläuterungen zu den Standards des "Sozialen Bereichs" für "Kleinbauern" und "Plantagen"..................................................................................216 Abbildung 26: freudestrahlende Produzentin, die an der Entwicklung der Fairtrade-Standards mitgewirkt hat ................................................................................223 Abbildung 27: Durchblick gewonnen oder verloren?.............................................................................236 Abbildung 28: „Frauenpower mit Bio & Fair“..........................................................................................242 Abbildung 29: Höhenprofil von Ecuador (West-Ost-Querschnitt)..........................................................251 Abbildung 30: mit 'riego' ausgestattete Finca.........................................................................................305 Abbildung 31: Kakaoernte in einer Mischkulturfinca..............................................................................305 Abbildung 32: Technikerbesuch, aussortierte Früchte...........................................................................305 Abbildung 33: Día de embarque............................................................................................................305 Abbildung 34: Fußballturnier für PlantagenarbeiterInnen......................................................................305 Abbildung 35: Seilzugsystem in einer größeren Finca...........................................................................305 Abbildung 36: Satellitenaufnahme vom Inneren Golf von Guayaquil.....................................................313 Abbildung 37: Vegetationsgürtel im Bereich des Golfes von Guayaquil................................................315 Abbildung 38: Bio-Garnelenfarm im Golf von Guayaquil.......................................................................345 i Abbildung 39: Zuchtbecken und Wirtschaftsgebäude............................................................................345 Abbildung 40: Pumpstation mit Blick auf den estero..............................................................................345 Abbildung 41: nächtliche Garnelenernte................................................................................................345 Abbildung 42: Wiederaufforstung einer piscina......................................................................................345 Abbildung 43: Bio-'Beschilderung' auf einer Farm.................................................................................345 Abbildung 44: Anfahrt auf Cerrito de los Morreños................................................................................376 Abbildung 45: Mangrovenbewohner im Kanu........................................................................................376 Abbildung 46: Krebsfang in den Mangroven..........................................................................................376 Abbildung 47: Ankunft des ersten Wassertanks.....................................................................................376 Abbildung 48: Kongress der C-Condem................................................................................................376 Abbildung 49: 'faire' Muscheln im 'Martin Pescador'..............................................................................376 Abbildung 50: Ressourcennutzungsphasenschema Golf von Guayaquil - Teil 1..................................473 Abbildung 51: Ressourcennutzungsphasenschema Golf von Guayaquil - Teil 2..................................474 Abbildung 52: analoge Auswertung des Materials.................................................................................475 Abbildung 53: digitale Erfassung des Materials.....................................................................................475 Abbildung 54: sortiertes Material............................................................................................................475 ii Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Dokumentierte Aktivitäten Forschungsaufenthalt 2.............................................................160 Tabelle 2: Dokumentierte Aktivitäten Forschungsaufenthalt 2.............................................................161 Tabelle 3: Abgleich der Anforderungen des theoretischen Samplings mit den tatsächlich konstruierten Materialien......................................................................162 Tabelle 4: einfachstes Orientierungsmuster für ethisch bewusste KonsumentInnen..........................183 Tabelle 5: immer noch einfaches Orientierungsmuster für ethisch besonders bewusste KKonsumentInnen.................................................................................................................183 Tabelle 6: Übersicht über einige Internetpräsenzen der zentralen Akteurstypen................................187 Tabelle 7: Gegenüberstellung der Kapitel der hier verglichenen Richtlinien........................................210 Tabelle 8: „EU Bio und Naturland Öko im direkten Vergleich“.............................................................212 Tabelle 9: FLO-I-Fairtrade Standards für KleinproduzentInnenorganisationen und Plantagen im Vergleich........................................................................................................217 Tabelle 10: Definition von Kernanforderungen und Entwicklungs-Indikatoren in den FLO-I-Standards für 'small producer organizations' und 'hired labor'..................................219 iii Kartenverzeichnis Karte 1: Küstentiefland von Ecuador und Lage des Untersuchungsgebiets..........................................249 Karte 2: Bananenanbau-Gebiet Tenguel-Balao zwischen Guayaquil und Machala..............................259 Karte 3: Landnutzungswandel durch die Expansion der Garnelenzucht im Golf von Guayaquil 1987 – 1995.........................................................................................317 Karte 4: Mangrovenfläche und Ausdehnung der camaroneras in Ecuador...........................................319 Karte 5: Cerrito de los Morreños............................................................................................................350 Karte 6: Konzessionsgebiet der AUMCM/JUMAPACOM im Inneren Golf von Guayaquil.....................367 Karte 7: Klimatypen nach Köppen in der Costa Ecuadors.....................................................................471 Karte 8: Räumliche Differenzierung und Jahresgang der Niederschläge an der Costa........................472 iv Abkürzungsverzeichnis 4C Common Code for the Coffee Community ANT actor-network theory ATO(s) alternative Handelsorganisation(en) ['alternative trade organization(s)'] AUMCM Asociación de Usuarios de Manglar Cerrito de los Morreños ASEAN Association of Southeast Asian Nations BMELV Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz BMZ Bundesministerium für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit C-Condem Corporación Coordinadora Nacional para la Defensa del Ecosistema Manglar CACPE Cooperativa de Ahorro y Crédito de la Pequeña Empresa CC Commodity Chains CECCA Centro de Educación y Capacitación Campesina del Azuay CEDENMA Coordinadora Ecuatoriana para la Defensa de la Naturaleza y del Ambiente CEPIBO La Central Piurana de Asociaciones de Pequeños Productores de Banano Orgánico CLAC Coordinadora Latinoamericana y del Caribe de Comercio Justo CNA Cámara Nacional de Acuacultura CPM Comité Pro Mejoras DBU Deutsche Bundesstiftung Umwelt EFTA European Fair Trade Association ENSO El-Niño-Southern-Oscillation EU Europäische Union EZ Entwicklungszusammenarbeit FCV Fundación Cerro Verde F&E Forschung und Entwicklung FiBL Forschungsinstitut für biologischen Landbau FINE informeller Zusammenschluss aus FLO-I, IFAT, NEWS und EFTA FLO fair labelling organization; in der zitierten Literatur oft synonym für FLO-I verwendet FLO-I Fair Labelling Organizations International; in der zitierten Literatur oft nur FLO FODERUMA Fondo de Desarrollo Rural Marginado FTF Fair Trade Federation GCC Global Commodity Chains GEPA / gepa Gesellschaft zur Förderung der Partnerschaft mit der Dritten Welt mbH GIZ Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GMO genetically modified organism GPN Global Production Networks GTZ Deutsche Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (heute Teil der GIZ) GVC Global Value Chains v ICS internal control system IERAC Instituto Ecuatoriano de Reforma Agraria y Colonización IFAT International Federation of Alternative Trade IFOAM International Federation of Organic Agriculture Movements ILO Internationalen Arbeitsorganisation IMO Institut für Marktökologie INEFAN Instituto Ecuatoriano Forestal y de Areas Naturales y Vida Silvestre INFA Instituto de la Niñez y la Familia INP Instituto Nacional de Pesca ISEAL Alliance International Social and Environmental Accreditation and Labelling Alliance ITC Inter Tropic Convergence IWF Internationaler Währungsfond MCPEC Ministerio Coordinador de Producción, Empleo y Competitividad NAATO North American Alternative Trade Organization NEWS Network of European Worldshops NAFTA North American Free Trade Agreement NGO Non-Governmental Organization NIÖ Neuen Institutionenökonomik NRO(s) Nichtregierungsorganisation(en) ONG Organización No Gubermental PPP-Projekt Public Private Partnership-Projekt QM Qualitätsmanagement RAMSAR Convention on Wetlands of International Importance especially as Waterfowl Habitat SD Stefan Dietrich TNC Transnational Corporation UFC United Fruit Company; heute Chiquita UPC Unidad de Policía Comunitaria UROCAL Unión Regional des Organizaciones Campesinas del Litoral USD US-Dollar WTO World Trade Organisation WWF World Wide Fund For Nature vi Bio + Fair = nachhaltig? Garnelenzucht und Bananenproduktion in Ecuador: eine Einleitung 0 Bio + Fair = nachhaltig? Garnelenzucht und Bananenproduktion in Ecuador: eine Einleitung Über vier Jahre lang bin ich Bio- und Fair-zertifizierten Garnelen und Bananen aus Ecuador gefolgt. Habe mich intensiv mit den beiden Produkten, mit verschiedenen Konzepten von Bio + Fair sowie mit unterschiedlichsten Ansätzen beschäftigt, die durch die Herstellung und Zertifizierung dieser Erzeugnisse miteinander verflochtenen Produktions-, Handels- und Konsumzusammenhänge zu beschreiben, zu erklären und zu interpretieren. Mittel- und Höhepunkt dieses Prozesses waren die drei je dreimonatigen Feldforschungsaufenthalte in Ecuador im Zeitraum vom Herbst 2009 bis zum Frühjahr 2011. Bei diesen durfte ich durch teilnehmende Beobachtung in unterschiedlichsten Kontexten, durch Gespräche und Interviews sowie durch die Fortsetzung meines (seit 2003 bestehenden) Mitwirkens in Projekten zur nachhaltigen Entwicklung eines Mangrovenschutzgebiets im Golf von Guayaquil und der Betreuung von in dortigen Dörfern eingesetzten Freiwilligen einen facettenreichen Einblick in den Untersuchungskomplex gewinnen und eine umfangreiche Materialsammlung produzieren. Gerahmt waren diese Aufenthalte von Messebesuchen, der Teilnahme an Diskussions- und Vortragsveranstaltungen und der Durchführung ergänzender Gespräche und Interviews in Deutschland und der Schweiz. Eine in meiner Begleitung organisierte Vortragsreise eines Vertreters der MangrovenbewohnerInnen des Golfs von Guayaquil mit Veranstaltungen in verschiedenen deutschen Städten im Sommer 2011, bei der es zum Dialog mit KonsumentInnen, Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen sowie Standard setzenden Organisationen kam, rundete den interaktiven, nach außen gerichteten Teil dieses Forschungsprojekts ab. Es folgte eine lange, nach innen gerichtete Phase der Aufbereitung, Aufarbeitung und Auswertung des konstruierten Materials, begleitet von einer Auseinandersetzung mit Konzepten und Studien, die in den letzten Jahren in wissenschaftlichen Kontexten in Bezug auf mein Thema formuliert worden sind. Durch die Intensität und Länge dieses Forschungsprozesses mitsamt den genossenen Höhen und erlittenen Tiefen entsteht eine Nähe zu den untersuchten Menschen und Orten, den analysierten Interviews, Notizen und sonstigen Dokumenten, sowie zu den gelesenen Büchern und Artikeln. Von dieser Nähe und den methodisch-systematisch gewonnenen Einblicken und Erkenntnissen, die zu ihr führten, soll die in diesem Buch formulierte Darstellung der Dissertation profitieren. Damit dies gelingt, ist es erforderlich, auch wieder Distanz herzustellen und die (noch) nicht gleichermaßen involvierten LeserInnen an das Thema heranzuführen. Dies erfolgt in dieser Einleitung für diejenigen, die das Buch als WissenschaftlerInnen, Studierende, KonsumentInnen oder VertreterInnen von weiteren, hierzulande verorteten Akteuren (z.B. Standard setzende Organisationen) lesen, wohl wissend, dass für ein anderes Publikum (z.B. die ProduzentInnen in Ecuador) auch eine andere Einführung formuliert werden sollte. Denn wir beginnen mit Sichtbarem der Oberfläche, die sich uns – als Forschende, Konsumierende und beruflich in diesem Feld Tätige – präsentiert, wenn wir uns mit dem Thema Bio- und Fair-Produkte (wie Garnelen und Bananen) aus (Ländern wie) Ecuador befassen möchten. 1 Kapitel 0 Abbildung 2: Organic + Fair: Ein Traumpaar - Thema des Jahres bei der BioFach Messe 2010 (Scan BioFach • Vivaness 2010 | eve | Seite 6) Abbildung 1: Plakat der Kampagne "Öko + Fair ernährt mehr!" (Weltladen-Dachverband e.V.) „Organic + Fair: Ein Traumpaar“ lautete das Motto der BioFach Messe 2010 in Nürnberg. „Öko + Fair ernährt mehr!“ betiteln der Verband für ökologischen Landbau Naturland und der Weltladen-Dachverband ihre gemeinsame Kampagne für zukunftsfähige Welternährung. Zwei Beispiele, die nicht nur von der Konjunktur zeugen, die Bio- und Fair Trade-zertifizierte Produkte in den vergangenen Jahren erfahren haben. Sie deuten auch auf die immer stärkere Liaison von Bio + Fair hin, die sich als vielversprechendes Instrument gegen Armut und für eine nachhaltige Entwicklung in den sogenannten Entwicklungsländern präsentiert. Zum einen bestehen Kooperationen wie die genannte Kampagne. Zum anderen finden sich immer mehr Produkte mit einer doppelten Zertifizierung (Bio + Fair) und Fair Trade- und Sozialstandards werden in Biozertifizierungen integriert sowie ökologische Aspekte des Fairen Handels betont. Beispielsweise führte Naturland 2010 ein eigenes 'Naturland Fair'-Siegel ein. Aus der Nische der Bio- und Weltläden sind die besiegelten Erzeugnisse weit in den Markt vorAbbildung 3: doppelt besiegeltes Produkt (J.J.DARBOVEN GmbH & Co. KG) gedrungen. Selbst in den Discountern gibt es sie Abbildung 4: neues Naturlandzunehmend zu kaufen. Neben einer steigenden Fair-Siegel Nachfrage, einer Diversifizierung der angebote- (www.naturland.de nen Produkte, einem entsprechenden Umsatz- [29.07.12.]) wachstum und einer gewissen Krisenfestigkeit haben sich auch Sichtbarkeit und Anerkennung von Bio + Fair spürbar erhöht. Mit verschiedensten Marketingkampagnen, der politischen Unterstützung großer Nichtregierungsorganisationen und staatlicher Einrichtungen sowie der 2 Bio + Fair = nachhaltig? Garnelenzucht und Bananenproduktion in Ecuador: eine Einleitung Entstehung eines vielschichtigen Netzwerks aus Unternehmen, Vereinen, Verbänden, Zertifizierungsorganisationen, Zertifikaten u.a. haben sich Konzepte von ökologischem Landbau und fairem Handel in der Landschaft nachhaltiger Konsumprodukte und als entwicklungspolitischer Ansatz etabliert. Angesichts dieses 'Booms' von Bio + Fair erscheint es angebracht, deren 'Erfolgsgeschichte' anhand ausgewählter Beispiele genauer zu untersuchen. Abbildung 5: „Der Faire Handel ist nicht zu stoppen...“ (TransFair e.V.: Screenshot von www.faitrade-deutschland.de [29.07.12]) Der exportorientierten Landwirtschaft wird in vielen 'Entwicklungsländern' eine große Bedeutung zugesprochen. Dabei nimmt sie häufig eine zwiespältige Rolle ein. Auf der einen Seite ist sie wichtige Devisenbringerin und Arbeitgeberin, andererseits sind mit ihr oft schwerwiegende soziale und ökologische Lasten wie Kinderarbeit und Ausbeutung oder Entwaldung und Umweltverschmutzung verbunden. Seit langem schon erreicht uns KonsumentInnen in den 'Industrieländern' nicht nur die exotische Produktvielfalt aus aller Welt zu erschwinglichen Preisen, sondern wir erhalten – neben positiven, meist in der Werbung präsentierten Imaginationen – auch Informationen über mangelnde Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit bei der Herstellung und im Handel1. Das Wissen um die Ausbeutung der Arbeitskräfte und die Zerstörung der Umwelt motivierte in den 1970er Jahren zivilgesellschaftliche Bewegungen, etwas gegen diese Missstände zu unternehmen. Nachdem sie 1972 bei einem ihrer monatlichen Diskussionsabende gemeinsam den Dokumentarfilm 'Bananera Libertad' von Peter von Gunten2 gesehen hatten, der u.a. von den Arbeitsbedingungen auf den Bananenplantagen in Guatemala handelt, stellte sich eine Gruppe von Frauen im schweizerischen Frauenfeld die einfache Frage: „Warum eigentlich sind Bananen bei uns so billig, wenn es den Menschen in den Ländern, in welchen die Bananen produziert werden, so miserabel geht?“ (BRUNNER 1999:17). Das Thema ließ sie nicht mehr los: „Der Film hat uns vor die Frage gestellt, was wir gegen die schreiende Ungerechtigkeit im Welthandel mit der Dritten Welt, zum Beispiel bei den Bana1 2 vgl. z.B. W IGGERTHALE 2008 vgl. HODEL/JAEGGI 1996 3 Kapitel 0 nen, tun könnten. Wir wollen der Frage nicht ausweichen“ (HOLENSTEIN 1999:6). „Nun haben wir gesehen, was mit den Bananen los ist, nun können wir doch nicht mehr hingehen und Bananen kaufen und so tun, wie wenn wir es nicht wüssten. Was sollen wir denn nur tun?“ (Liselotte Räschle, zitiert in BRUNNER 1999:18) Die Frauen trugen ihre Fragen nach außen, suchten die Auseinandersetzung mit Importeuren und KonsumentInnen. Mit ihren Aktionen steckten sie viele Menschen an und erweckten eine über die Grenzen der Schweiz hinaus, besonders auch nach Deutschland reichende Bewegung (vgl. PFEIFER 2003, BRUNNER 1999:99f). Eine von ihnen, Ursula Brunner, folgte ihren Fragen und erschloss sich auf eigenen Reisen den Weg der Bananen von den Produktionsstätten in Mittelamerika bis zur 'Ladentheke'3 in der Schweiz (BRUNNER 1999:38ff). Die Frauen erarbeiteten sich so ein immer tieferes Verständnis der ökonomischen, sozialen und ökologischen Zusammenhänge von Bananenproduktion und -handel. Und sie erprobten verschiedenste Handlungsformen als Lösungsansätze: von der Öffentlichkeitsarbeit in den Konsumländern, über verschiedene Modelle für einen gerechteren Preis (Fest- oder Mindestpreise als Sicherheit für die ProduzentInnen, Aufpreise zur Finanzierung von Projekten in den Produktionsregionen; vgl. BRUNNER 1999:200ff), bis hin zu eigenen Aktivitäten im Bereich des Handels und der Vermarktung. Eine zentrale Lernerfahrung der Geschichte der Frauen um Ursula Brunner ist, dass die Fragen wesentlich schwieriger zu beantworten als zu stellen sind; und dass insbesondere die Suche nach Lösungen, die Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit bringen sollen, alles andere als einfach ist. Am Ende steht immer noch ein großes Fragezeichen hinter der Möglichkeit eines gerechten oder nachhaltigen Produkts (BRUNNER 1999:168ff). Stießen sie besonders in den Anfangsjahren auf Unverständnis und Widerstand4, so sind sie inzwischen als die 'Bananenfrauen' aus Frauenfeld zu einem der Gründungsmythen des Fairen Handels geworden. Dabei hat sich dieser, ähnlich wie die heutige Landschaft der Bioprodukte, gegenüber den ursprünglichen Initiativen und sozialen Bewegungen stark verändert. Jene sind als politisch-kritische (eine allgemeine Botschaft transportierende) und gleichzeitig praktische (auf Ebene einzelner Betriebe und Gemeinden ansetzende) Gegenentwürfe zu einem als ungerecht empfundenen Welthandelssystem (bzw. zu einer als destruktiv, umweltund gesundheitsschädlich wahrgenommenen konventionellen Landwirtschaft) entstanden. Getragen von einem breiten gesellschaftlichen Konsens und unter Mitwirkung großer Organisationen (Dachverbände, professionelle Zertifizierungsunternehmen, große Konzerne, politische Instanzen) präsentieren die aus diesen Bewegungen hervorgegangenen, mittlerweile konsolidierten, institutionalisierten und globalisierten Netzwerke biologischer Produktion und fairen Handels heutzutage einfache, manchmal geradezu formelhafte Antworten auf bzw. Lösungen für große Fragen der Gegenwart – wie zum Beispiel: 'Bio + Fair = nachhaltig!' als eine Art Zauberformel für eine nachhaltige Entwicklung im Konsumzeitalter. Die Steigerung von Angebot und Nachfrage scheint Veränderungen im großen Stil möglich zu machen: Das Kaufverhalten der umwelt- und ethisch bewussten KonsumentInnen als Impuls für eine nachhaltigere Welt. 3 4 4 siehe W IGGERTHALE 2008 vgl. z.B. die Auseinandersetzung mit der Migros, u.a. die Beiträge im Magazin „Wir Brückenbauer“ von 1973 (Detailinfos s. BRUNNER 1999:23) Bio + Fair = nachhaltig? Garnelenzucht und Bananenproduktion in Ecuador: eine Einleitung Vorliegende Studie setzt dahinter ein Fragezeichen und möchte erkunden, inwieweit Bio + Fair tatsächlich einen Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung leisten, indem sie zwei ausgewählten Produkten und ihren Standards an die Orte ihrer Herstellung folgt: Bio- und Fair Trade-zertifizierte Garnelen und Bananen aus Ecuador. Sie legt dabei ihren Fokus auf zweierlei. Zum einen betrachtet sie die Dynamik der jüngsten Entwicklung, durch die bei einer steigenden Zahl verschiedener Standards und Zertifizierungen sowohl die altbekannten Produkte in immer größeren Mengen (zum Beispiel Bananen5), als auch stets neue Produkte, für die es bis vor kurzem noch gar keine Bio- oder Fair Trade-Zertifizierungen gab (zum Beispiel Garnelen), auf den Markt kommen. Ein spezielles Augenmerk liegt hier darauf, dass dieses Wachstum u.a. dadurch erzielt wird, dass neben der klassischen Zielgruppe (KleinproduzentInnen) nunmehr auch Zertifizierungen für neue Akteursgruppen (z.B. Großplantagen) eingeführt wurden; ein Prozess, der unter den ProtagonistInnen von Bio + Fair alles andere als spannungsfrei ausgehandelt wird und in dessen Zuge die Grundsätze, Arbeitsweisen und Zielsetzungen der ursprünglichen Bewegungen auf eine harte Probe gestellt werden. Zum anderen liegt der Schwerpunkt auf der untersuchten Produktionsregion, dem Küstentiefland im Südwesten Ecuadors. Den Sichtweisen und Praktiken der dort involvierten Akteure kommt eine besondere Aufmerksamkeit zu. Im Feld von Bio + Fair wird viel über die 'Produzenten des Südens' gesprochen, werden sie als Gegenstand von Siegeln und der dahinter stehenden Zertifizierungssysteme konstruiert. Rechnet man glücklich lächelnde Kaffeebauern und freudestrahlende Blumenpflückerinnen nicht dazu, so kommen sie selbst dabei selten zu Wort. Ihre Hintergründe und Standpunkte sollen durch diese Studie zur Sprache kommen und damit eine „Chance auf Gehör“ (vgl. KELLER 2008:253) erhalten. Abbildung 6: glücklich lächelnder Kaffeebauer TransFair e.V.: Screenshot von www.fairtrade-deutschland.de [29.07.12] Abbildung 7: freudestrahlende Blumenpflückerin TransFair e.V.: Screenshot von www.fairtrade-deutschland.de [29.07.12] Die gewählte Untersuchungsregion eignet sich in mehrerlei Hinsicht dafür, einen Versuch zu unternehmen, mit Hilfe einer ethnographisch-geographischen Forschung das Wissen bezüglich der Wirkungsweise und der Wachstumsdynamik von Bio + Fair sowie unsere Vorstellungen über die Zielgruppen dieser Konzepte zu erweitern und zu bereichern. Das Küstentiefland im Südwesten Ecuadors vereinigt mit den Garnelenfarmen im Golf von Guayaquil und den Bananenplantagen zwischen Guayaquil und Machala/Puerto Bolívar auf engstem Raum die Hauptproduktionsregion für Garnelen in Ecuador und eines der produktivs5 vgl. die Reihe „Zum Beispiel...“, für Bananen: BRUNNER/PFEIFER 1990 5 Kapitel 0 ten Bananenanbaugebiete der Erde. Geschichte und Gegenwart der beiden für das Land sehr bedeutenden Exportprodukte sind eng miteinander verwoben und durch diese Verbundenheit sowie der räumlichen Nähe für eine Person im Rahmen einer etwa vierjährigen Forschungsarbeit machbar zu erschließen und sinnvoll miteinander zu vergleichen. Auch bei den gewählten Produkten findet sich die oben genannte Zwiespältigkeit exportorientierter Landwirtschaft in 'Entwicklungsländern' wieder: Auf der einen Seite haben Garnelenzucht und Bananenproduktion für Ecuador wie für den jeweiligen Exportmarkt eine große bis herausragende Bedeutung, auf der anderen Seite hängen mehrere soziale und ökologische Probleme mit ihnen zusammen. So sind Bananen und Garnelen neben Schnittblumen die wichtigsten landwirtschaftlichen Ausfuhrprodukte und damit – nach dem alles überragenden Erdöl – mit die größten Devisenbringer Ecuadors. Die Plantagen und Farmen bzw. die diesen angeschlossenen Produktionsbereiche (z.B. die Aufzuchtlaboratorien und die Verpackungsindustrie für Garnelen) bieten Arbeitsplätze für hunderttausende EcuadorianerInnen. Gleichzeitig wird die Bananenproduktion mit Kinderarbeit, schlechten Arbeitsbedingungen und Umweltschäden, die Garnelenzucht mit der Zerstörung der Mangrovenwälder und der Verdrängung der alteingesessenen MangrovenfischerInnen in Verbindung gebracht. Nicht nur bei den konventionellen, mittlerweile auch bei den Biobananen ist Ecuador Exportweltmeister. Die EU und damit auch Deutschland stellen den wichtigsten Absatzmarkt für Bananen aus Ecuador dar. Ecuadorianische KleinproduzentInnen (namentlich die von UROCAL6), die für den Fairen Handel produzieren, können als PionierInnen im biologischen Anbau von Bananen bezeichnet werden. In einer alternativen Handelsorganisation aus Deutschland (namentlich BanaFair7) fanden sie eine ihrer ersten und bis heute bedeutendsten Abnehmerinnen. Gehen die meisten konventionellen Exportgarnelen in die USA, ist die EU Hauptabnehmerin im Biosektor. Die ersten Standards für ökologische Garnelenzucht wurden maßgeblich von Naturland im Rahmen eines von der GTZ geförderten PPP-Projekts in Ecuador entwickelt. Das Institut für Marktökologie IMO (Schweiz) brachte vor wenigen Jahren in Kooperation mit Bio-Stiftung Schweiz (Bio Suisse) eine erste Zertifizierung für 'faire' Garnelen auf den Markt. Heute finden sich im Bio + Fair Sektor Ecuadors zahlreiche alte und neue, kleine und große Organisationen auf Ebene der Produktion (von KleinproduzentInnen bis Großplantagen), des Exports (von ProduzentInnenorganisationen bis zu den großen Fruchtkonzernen), des Imports (von Alternativen Handelsorganisationen bis zum konventionellen Groß- und Einzelhandel) und der Zertifizierungsorganisationen, die mit einer Vielzahl verschiedener Zertifizierungen operieren – seien es EU-, Naturland- oder demeter-Bio, FLO-I-Faitrade oder IMO-fair for life. Abbildung 8: Siegelvielfalt Als Beispiele: BanaFair, Demeter, Fairtrade, fair for life 6 7 6 Unión Regional des Organizaciones Campesinas del Litoral, s.a. www.urocal.org [Zugriff: 28.07.2012] www.banafair.de [letzter Zugriff: 28.07.2012, Seite zurzeit in Überarbeitung] Bio + Fair = nachhaltig? Garnelenzucht und Bananenproduktion in Ecuador: eine Einleitung Die räumliche Konzentration, die sozioökonomische wie ökologische Bedeutung zweier unterschiedlicher Produkte sowie die Heterogenität und Dynamik der involvierten Akteure (ProduzentInnen, Handelsunternehmen, Zertifizierungsfirmen, Standard setzende Organisationen, staatliche Einrichtungen, Nichtregierungsorganisationen, etc.) bieten demnach ein hervorragendes Feld, um der Frage 'Bio + Fair = nachhaltig?' nachzugehen. Dies geschieht im Sinne einer Following-Studie nach dem Vorbild von Ian Cook´s „geographies of food: following“ (COOK 2006). Die grundlegende Idee bei Following-Studien ist das ethnographische 'Folgen' eines bestimmten Produkts entlang seines gegenwärtigen Lebenswegs sowie der Verknüpfungen seiner historischen Einbettung; und dies möglichst von der primären Herstellung (und den mit dieser verbundenen Inputs), über verschiedenste Zwischenschritte des Transports, der Weiterverarbeitung, des Handels und der Vermarktung, bis hin zum Konsum (und den mit diesem verbundenen Outputs) – also entlang der gesamten Warenkette und durch die Netzwerke der mit dieser verflochtenen Akteure hindurch. Dabei wird ein klarer, das Erkenntnisinteresse leitender Fokus entworfen (COOK 2006:657), an dem sich die Erhebungen im Feld orientieren, unter Anwendung verschiedener Methoden aus dem Spektrum der qualitativen Sozialforschung. Durch den komplexen Lebensweg dieser Produkte hindurch lassen sich Verflechtungen8 verschiedenster Dimensionen (wirtschaftlich, sozial, kulturell, ökologisch) erschließen. Ziel ist, eine „versteckte Geschichte von der Warenkette“ zu rekonstruieren, „die uns unser Essen erzählen könnte, wenn es sprechen könnte“9. Das Erkunden der hinter den Produkten 'an sich' bzw. unter der Oberfläche der uns KonsumentInnen erreichenden Informationen liegenden (wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und ökologischen) Zusammenhänge hat den Anspruch, die in der modernisierten und globalisierten Landwirtschaft zunehmende Trennung von Bereichen der Produktion, des Handels und des Konsums abzuschwächen und neue Verbindungen herzustellen (COOK 2006:656ff); ohne dabei die Komplexität der Zusammenhänge zu vernachlässigen (vgl. HUGHES/REIMER 2004a:7, MUTHERSBAUGH 2002:1166) und ohne in einem belehrenden Monolog die 'wahre' Geschichte hinter den konsumierten Waren zu erzählen (vgl. z.B. BARNETT/LAND 2007). Vielmehr geht es Following darum, die Akteure verschiedener Standorte 'zu Wort kommen zu lassen' und dadurch einen Einblick in das Leben und den Alltag unterschiedlichster Orte und Menschen zu ermöglichen, die durch diese Produkte bzw. die Organisation deren Lebenswege auf spezifische Weisen miteinander verbunden sind. Der Blick auf die Art und Weise dieser Verbundenheiten, also auf die gegenseitigen Beziehungen der beteiligten Akteure, thematisiert Machtverhältnisse und Ungleichheiten und deren Auswirkungen auf die Lebenswelt der Betroffenen. 8 9 „entanglement“ (vgl. BARNDT 2002) „[...] hidden story from the food chain […] which our food might tell us if it could talk“ (World Food Day Conference 2005, zitiert in COOK 2006:656) 7 Kapitel 0 Following-Studien „[...] concern the ways in which commodities are (re)valued by those working with/on them on their complex, entangled journeys from farms to plates and beyond, and how, why, where and between whom these values get unequally exchanged internationally. [...] Food stories always end up involving bigger stories of dominance, exploitation, 'civilization', imperialism, racism, anti-unionism, gender discrimination, emotional and physical harm“ (COOK 2006:658f). An dieses illustrierende Zitat lassen sich zwei Aspekte anknüpfen. Zum einen charakterisiert die Following-Studien in der Regel eine, in ethischen Erwägungen über das Verhältnis der Forschenden zu den ethnographisch Beforschten oft aufgeführte Empathie mit benachteiligten Akteursgruppen (vgl. CRANG/COOK 2007:26ff). Ein Schwerpunkt liegt dabei auf den ProduzentInnen bzw. im Produktionsprozess Beschäftigten. Zum anderen hoffen die Autoren durch ihre 'Enthüllungen' Veränderungen zu bewirken bzw. zu fördern. Sei es dadurch, dass sie das Kaufverhalten der KonsumentInnen beeinflussen, indem sie mit Bio- und Fair Trade-Initiativen oder Bauernmärkten Alternativen ('alternative economic spaces') dokumentieren und damit bestärken; oder indem sie für mehr gegenseitiges Verständnis und damit für mehr Rücksicht unter den beteiligten Akteursgruppen sorgen (COOK 2006:659). Die 'verfolgten' Nahrungsmittel, seien es Brokkoli (FISCHER/BENSON 2006), Kaugummi (REDCLIFT 2004), Maisblätter (LONG/VILLARREAL 1998), Papayas (COOK 2002), Tomaten (BARNDT 2002), Tortillas (LIND/BARHAM 2004), etc., werden zum Organisationsprinzip der Forschung. Es wird verlangt, den durch das Forschungsobjekt vollzogenen Verbindungen zu folgen und deren Kontexte im Feld zu erschließen, ohne sich von vornherein durch theoretische oder disziplinäre Grenzen (zu sehr) einzuengen: „So many things that aren´t supposed to go together in theory, come together in practice“ (COOK 2006:657). Die Following-Studien sind demnach im wahrsten Sinne des Wortes – und ganz im Sinne des Anspruchs qualitativer Sozialforschung – gegenstandsbezogen und geprägt von einer prinzipiellen Offenheit (vgl. HOFFMANN-RIEHM 1980). Es sollten zuerst die Gegenstände kommen – bzw. das Feld, in denen sie (von Menschen) bewegt werden –, dann die Disziplin(en) mit ihren theoretischen Konzepten. Dieser Begegnungen beim Geographentag: am Gegenstand orientierten und prinzipiell offenen Vor- Was machen Sie? gehensweise wird eine Brückenfunktion zugeschrieben, Ich bin Wirtschaftsgeograph. Und Sie? mit der sich disziplinäre Grenzen überwinden lassen, Ich folge Schrimps Bananen... (frei nach COOK 2006:657). und z.B. zwischen einer der Politischen Ökonomie verschriebenen, methodisch-quantitativ orientierten Agrargeographie10 und einer methodisch-qualitativ poststrukturalistisch orientierten sowie Kulturgeographie11 (vgl. COOK 2006:657, HUGHES/REIMER 2004a:2ff). Es geht nicht um die Überprüfung von vorher festgelegten Theorien und Hypothesen, die an das Feld herangetragen werden, sondern um die Generierung von Konzepten aus dem Feld heraus im Sinne einer gegenstandsbezogenen Theoriebildung ('grounded theory', vgl. z.B. GLASER/STRAUSS 1998). 10 11 8 der sich z.B. die klassischen Ansätze der Analyse Globaler Warenketten zuordnen lassen wie z.B. kulturgeographische Untersuchungen von Warenketten/ -netzwerken/ - kreisläufen Bio + Fair = nachhaltig? Garnelenzucht und Bananenproduktion in Ecuador: eine Einleitung Der Fokus der vorliegenden Arbeit liegt auf dem Beitrag, den Wirkungsweisen, den Möglichkeiten, Chancen und Grenzen von Bio- und Fair Trade-Initiativen am Beispiel von Garnelen und Bananen aus Ecuador. Durch die ethnographische Herangehensweise12 wird die Rolle dieser Initiativen bzw. der mit ihnen verknüpften Produkte kontextualisiert, wodurch auch komplementäre oder relativierende Aspekte und mögliche Alternativen Berücksichtigung finden. Im Rahmen der eingangs genannten Feldforschung wurde in Form von Praktika in Fincas, auf Garnelenzuchtfarmen und bei ProduzentInnenorganisationen, Mitarbeit bei 'Entwicklungsprojekten' im Golf von Guayaquil, problemzentrierten Interviews mit ProtagonistInnen verschiedener involvierter Akteursgruppen, Gruppeninterviews bzw. -diskussionen, Besuchen von Messen und Vorträgen in Deutschland sowie einer Sammlung von vielfältigen, von den Akteursgruppen produzierten Dokumenten eine reichhaltige Materialsammlung konstruiert, analysiert und aufbereitet. Die hier vorgenommene Problemorientierung auf Bio- und Fair Trade-Initiativen weist einige nennenswerte Besonderheiten auf. Durch die Fokussierung auf Bio +Fair folgt die Arbeit nicht nur zwei ausgewählten Produkten, sondern in erster Linie verschiedenen, normativen Programmatiken, die Produktion und den Handel der betreffenden Produkte zu organisieren, die sich mit den Labeln 'Bio' und 'Fair' präsentieren. „Follow the thing“ (MARCUS 1995:105ff) wird hier gewissermaßen ergänzt um ein 'follow the concept/idea'. Somit werden hier zwei der Initiativen, die die im Rahmen vieler Following-Studien untersuchten und kritisierten konventionellen Praktiken herausfordern, selbst zum Gegenstand kritischer Analyse; mit der Annahme, dass auch solche 'alternative economic spaces' nicht frei von Machtbeziehungen, Ungleichheiten und Widersprüchen sind. Bio- und Fair Trade-Produkte unterscheiden sich insofern von den konventionellen, dass die OrganisatorInnen ihrer 'Lebenswege' Problemfelder der Herstellungs- und Distributionsprozesse (z.B. ökologische Schäden, Armut) annehmen und normativ aufgreifen, indem sie Lösungen (biologische Produktion, fairer Handel) anbieten und in der Regel mittels eines Siegels auf dem Produkt an die KonsumentInnen kommunizieren (Essen das sprechen kann!?). Es werden hier also solche Organisationsformen von 'Produktlebenswegen' kritisch untersucht, bei denen die involvierten Akteure sich explizit auf normative Aspekte (ökologische Produktion, Fairness im Handel) des eigenen Handelns beziehen. Darüber hinaus entspricht das ethnographische Vorgehen der Herangehensweise, mit der – wie oben skizziert – einige der PionierInnen des Fairen Handels diesen zu einer sozialen Bewegung machten und auf die öffentliche, politische Agenda setzten. Auch sie folgten, ganz wie die AutorInnen der Following-Studien, einzelnen Produkten, darunter die Banane, um beispielhaft Zusammenhänge des Welthandels zu verdeutlichen und mehr Gerechtigkeit einzufordern. Eindrücke aus der Lebenswelt der Betroffenen in Form von Dokumentarfilmen oder eigene Reisen in die Produktionsländer waren Auslöser und Motivationsgeber für das in Europa wachsende Engagement.13 12 following organic and fairtrade shrimps and bananas, „doing ethnographies“ (CRANG/COOK 2007) 13 wie auch heute Dokumentarfilme zum Nachdenken und zu Debatten über die Landwirtschaft anregen können, zeigen Erfolge von Filmen wie 'We feed the world' oder 'Darwin´s Nightmare' 9 Kapitel 0 Ein erstes Ziel dieser Arbeit ist es, ein 'Plädoyer' „für [mehr] Ethnographie“ (HERBERT 2000) in der Geographie zu sein und das Genre der Following-Studien im Rahmen der deutschsprachigen Geographie einzuführen. Dies spiegelt sich in einer ausführlichen Behandlung und Reflexion der methodologischen Aspekte wieder – nicht nur im dafür vorgesehenen Kapitel, sondern auch übergreifend in der Art der Darstellung und Reflexion der produzierten Texte bzw. Interpretationen. Zweitens möchte die Studie einen Beitrag zum Verständnis von Warenketten/-netzwerken sowie des Phänomens der Bio- und Fair Trade-Zertifizierungen leisten. Dafür werden die in den vergangenen zwei Jahrzehnten bemühten Konzepte und Studien zu Warenketten und -netzwerken bzw. zu Bio- und Fair Trade-Initiativen eingeführt, diskutiert und punktuell weiterentwickelt. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf neueren Ansätzen der Warenketten/-netzwerke-Literatur, die bezüglich der Koordination solcher globalen Produktions-, Handels- und Konsumzusammenhänge nicht nur fragen, wer (also welche Akteure wie z.B. Käuferfirmen, Zertifizierungsunternehmen und KonsumentInnen als mächtige 'driver' der Ketten im Sinne des Global Commodity Chains Approach14 in Erscheinung treten) in welcher Form (also wie der Austausch zwischen den Akteuren im Sinne des Global Value Chains Approach15 koordiniert wird) die Steuerung dieser Zusammenhänge maßgeblich beeinflusst, sondern vor allem danach, wie diese Steuerung (also basierend auf welchen Grundlagen und unter Anwendung welcher Instrumente und Techniken) erfolgt (vgl. z.B. GIBBON et al. 2008). Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass der Definition von Qualität – nicht zuletzt in Form meist privater Standards und Zertifizierungsverfahren – eine zunehmende Bedeutung in der Koordination der vielschichtigen, fragmentierten Zusammenhänge wirtschaftlichen Austauschs zukommt (vgl. z.B. NICOLAS/VALCESCHINI 1995, PONTE et al. 2011, GIBBON et al. 2010). Neben einer Auseinandersetzung mit verschiedenen Programmen zur Steuerung (deren Rationalitäten, Konzepte und Werkzeuge) wird das Verhältnis solcher Programme zu den durch sie betroffenen Praktiken in den Mittelpunkt gestellt. Es interessieren die Ideen und Konzepte zu Bio + Fair (sog. alternativer Handel), deren Verhältnis zu konkurrierenden Qualitätsvorstellungen im konventionellen Bereich (sog. ethischer Handel), deren 'Karrieren' oder 'Biographien' (im Zuge der Entwicklung von verstreuten sozialen Bewegungen zu globalisierten Netzwerken), deren Durchsetzung, Umsetzung und Wirkung bzw. Durchsetzungs-, Umsetzungs- und Wirkungsmöglichkeiten durch einzelne, von verschiedenen, machtbesetzten (Sprecher)Positionen aus agierenden Akteure, sowie die diese Prozesse begleitenden Spannungsfelder. Dabei lassen sich vier miteinander verknüpfte Ebenen ausmachen: Welche Problemdefinitionen und grundlegenden Zielsetzungen liegen den Konzepten von Bio + Fair zugrunde? Welche Standards und Verfahren werden daraufhin formuliert? Wie erfolgt die Umsetzung der einmal formulierten Standards und Verfahren? Welche weitergehenden Wirkungen ruft diese Anwendung der formulierten Standards und Verfahren hervor? 14 15 10 vgl. GEREFFI/KORZENIEWICZ 1994 vgl. GEREFFI et al. 2005 Bio + Fair = nachhaltig? Garnelenzucht und Bananenproduktion in Ecuador: eine Einleitung Drittens wird die Erhellung spezifischer Forschungsfragen zum Phänomen von Bio- und Fair Trade-Initiativen und deren wachsender Bedeutung in der exportorientierten Landwirtschaft in 'Entwicklungsländern' gesucht und anhand der ausgewählten Beispielprodukte (Bananen und Garnelen aus Ecuador) gefunden. Folgende Fragen stehen dabei im Mittelpunkt: − Wie präsentiert sich das Erscheinungsbild der Bio + Fair-Initiativen 'hier'? In welchem Verhältnis stehen diese Repräsentationen zur Umsetzung/Anwendung 'dort'? − Welche Unterschiede sind bezüglich verschiedener Zertifizierungsschemata festzustellen und wie lassen sich gegebenenfalls Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Standards beschreiben? − Welche Chancen, Risiken und Grenzen der Initiativen lassen sich bei dem speziellen Fokus auf die Zielgruppen und lokalen Akteure im Produktionsland identifizieren? Welche Alternativen zu den Zertifizierungen lassen sich aufdecken? − Welche Unterschiede finden sich im Vergleich eines Klassikers des Sektors (Banane) mit einem neuen, dem Bio+Fair-Boom entsprungenen Produkt (Garnele)? − Inwieweit reflektieren die beobachteten Unterschiede allgemeine Trends bei Bio + Fair im Rahmen der genannten Wachstumsdynamik? − Welche Einblicke lassen sich hinsichtlich der Tiefenwirkung der Initiativen einerseits, ihrer Breitenwirkung andererseits gewinnen? − Welche Veränderungsprozesse und Entwicklungsdynamiken lassen sich aufgrund der gesteigerten Nachfrage und des damit verbundenen Wachstums des Bio- und Fair Trade-Markts auf Seiten der ProduzentInnen beobachten? − Inwieweit können Initiativen biologischer Produktion und fairen Handels einen Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung in der Produktionsregion leisten? Schwerpunkt ist eine kritische Auseinandersetzung mit den bestehenden Zertifizierungsinitiativen, deren Ansprüchen und Zielsetzungen, deren Konzepten und Standards, den Praktiken der Umsetzung in der Produktionsregion und der Aneignung, Performance und teilweise auch dem Widerstand gegen diese Praktiken durch die verschiedenen lokalen Akteure. Weniger geht es um die – in der öffentlichen Diskussion immer wieder auftauchende – Frage danach, ob die Vorgaben von Bio + Fair 'wirklich' eingehalten werden und 'man' sich darauf verlassen kann. Vielmehr interessiert, wie solche Vorgaben definiert und verhandelt werden, welche Konzepte und Ideen ihnen zu Grunde liegen und in welchen lokalen Kontexten sie sich auf welche Art und Weise wiederfinden lassen. Durch die möglichst tiefgehende Auseinandersetzung mit gut begründet ausgewählten 'Einzelfällen' liefert die Arbeit einen grundlegenden, qualitativen Beitrag, der die Diskussion über das und die Auseinandersetzung mit dem bearbeiteten Thema fördern soll. 11 Kapitel 0 Das Buch ist folgendermaßen aufgebaut: Das erste Kapitel (1) umfasst die theoretisch-konzeptionellen Überlegungen. Zunächst (1.1) werden die verschiedenen Konzepte, die in den letzten gut zwanzig Jahren zur Beschreibung, Erklärung und Interpretation globalisierter Produktions-, Handels- und Konsumzusammenhänge entwickelt worden sind, eingeführt und diskutiert. Dabei geht es nicht nur darum, aufzuzeigen, inwieweit sie sich für die Konzeptualisierung des Untersuchungskomplexes fruchtbar machen lassen und inwiefern sich der Following-Ansatz sowie die Fragestellung nach Konzepten der Steuerung und ihrer Anwendung in der Praxis hierin einbetten. Darüber hinaus soll auch zu einer neuen Auseinandersetzung mit den verschiedenen Ansätzen, ihren Lesarten und Interpretationen sowie ihren theoretischen und fachgeschichtlichen Verknüpfungen angeregt werden. Anschließend (1.2.) werden, aufbauend auf den Ansätzen aus 1.1, verschiedene Charakterisierungen alternativen und ethischen Handels sowie zentrale Spannungsfelder erörtert, die später bei der Auseinandersetzung mit dem eigenen Material eine große Rolle spielen. Dabei wird insbesondere auch die Geschichte der Bio + Fair-Initiativen berücksichtigt. Die Darstellung in 1.1 und 1.2 erfolgt in Form eines (Neu)Lesens durch Schlüsseltexte, die anhand bestimmter Kategorien (theoretischer Hintergrund; methodologische Aspekte; Kernaussagen; Konzeptualisierung von governance, Wissen/Macht, Akteure/Institutionen; Darstellung von Wandel; Kritik; Anknüpfungspunkte für die eigenen Untersuchung) ausgewertet und durch weiterführende Literatur ergänzt wurden. Informiert durch die Konzepte aus 1.1 sowie die Charakterisierungen und Spannungsfelder aus 1.2 erfolgt im dritten Teil dieses Kapitels (1.3) im Sinne einer Zusammenfassung und Konkretisierung die Konzeptualisierung des Untersuchungskomplexes sowie eine differenziertere Erklärung des ausgewählten Untersuchungsfeldes. Während der theoretische und fachgeschichtliche Hintergrund für die Auswahl der besuchten Menschen und Orte, für die in der Interaktion mit diesen zu stellenden Fragen sowie für eine Einordnung des später dargestellten und interpretierten Materials hilfreich ist, geht es bei der Konstruktion, Aufbereitung, Auswertung und Darstellung des eigenen Materials nicht darum, die unterschiedlichen Kategorien und unterstellten Wirkungszusammenhänge der verschiedenen Ansätze einer Prüfung zu unterziehen. Deren Modelle und Gedankenkonstrukte sind nicht als zu testende Hypothesen dieser Arbeit misszuverstehen. Die Herausarbeitung von Zusammenhängen, Kategorisierungen, Interpretationsmustern, etc. folgt im Sinne des qualitativen Ansatzes der Arbeit und einer gegenstandsorientierten Theoriebildung einem anderen Weg. Das Material oder vielmehr die als solches materialisierten Beobachtungen und Gesprächsprotokolle sollen bestimmen, welche theoretischen Bausteine sich im Zuge der Arbeit herausbilden. Die methodologischen Grundlagen sowie die gewählte methodische Vorgehensweise der Studie werden entsprechend im zweiten Kapitel (2) dargelegt und erörtert. Mit dem Prinzip der Offenheit, der Selbstreflexion, der Zirkularität des Forschungsprozesses, dem theoretischem Sampling, der Triangulation, der gegenstandsbegründeten Theoriebildung, der kontinuierlichen Validierung und der theoretischen Sättigung werden die methodologischen Grundlagen vorgestellt (2.1). Neben einer Beschreibung der einzelnen Methoden und ihrer Anwendung (v.a. Teilnehmende Beobachtung, problemzentrierte Interviews, Gruppendiskussionen; 2.2) wird anschließend ausführlich auf den gewählten Prozess der Aufbereitung 12 Bio + Fair = nachhaltig? Garnelenzucht und Bananenproduktion in Ecuador: eine Einleitung und Auswertung des konstruierten Materials sowie auf die darstellerische Umsetzung in den darauffolgenden Kapiteln eingegangen (2.3). Das dritte Kapitel (3) erlaubt den LeserInnen, in verschiedene Teilfelder der Untersuchung einzutauchen und diese möglichst facettenreich kennenlernen zu dürfen. Den Beginn macht das Feld von Bio + Fair hier in Deutschland (3.1). Vor dem Hintergrund der in 1.2 eingeführten Geschichte der Bio- und Fair Trade-Initiativen präsentiert sich mit den verschiedenen Orten, Akteuren und Konzepten der 'Siegellandschaft' die für die interessierten KonsumentInnen, WissenschaftlerInnen und beruflich Tätigen hier und heute sichtbare Oberfläche. Um die mit dieser Oberfläche verbundene Begrenzung und Selektivität des zur Verfügung stehenden Wissens aufzubrechen, folgen die folgenden Teilkapitel (3.2 – 3.4) den Bio- und Fair Trade-zertifizierten Garnelen und Bananen in drei Teilfelder der Produktionsregion. Jedes Teilkapitel beinhaltet zunächst eine historische Einbettung des jeweiligen Feldes. Es folgt eine 'Gang' durch gegenwärtige Praktiken, zentrale Wandlungsprozesse und deren Wahrnehmung, identifizierte Zuschreibungen und Kategorisierungen sowie im Feld kursierende Konzepte, Strategien und Ideen. Das erste Teilfeld ist die Bananenproduktion in Ecuador (3.2). Nach einer detaillierten Aufarbeitung der Geschichte der weitgehend vom Bananenanbau dominierten Exportlandlandwirtschaft im ecuadorianischen Küstentiefland durchläuft die Erzählung verschiedene Orte des heutigen Bio + Fair Bananenanbaus, angefangen von der Finca eines Kleinbauern, über eine größere Monokulturplantage, Kooperativen und ProduzentInnenorganisationen, bis hin zu BeraterInnen und Zertifizierungsfirmen im Auftrag der Siegelinitiativen. Dem schließt sich die Garnelenzucht im Golf von Guayaquil an (3.2). Über deren jüngere, aber ebenfalls dynamische Geschichte führt die 'Reise' von den städtischen Zentren mit den standardssetzenden Organisationen sowie der Verwaltung, des Qualitätsmanagements, der Verpackung und des Vertrieb der Garnelenzuchtfirmen zu den Garnelenzuchtfarmen innerhalb der Mangroven im Golf von Guayaquil. Schließlich stellen die alteingesessenen MangrovenbewohnerInnen des Golfs von Guayaquil ein weiteres Feld dar (3.4). Für wahrscheinlich keine andere Gruppe bewirkte das Aufkommen der Garnelenzucht einen so gravierenden Wandel ihrer Lebensweise. Nach dem Versuch einer Phaseneinteilung der jüngeren Geschichte des Flussdeltas aus Sicht der lokalen Bevölkerung (vgl. auch MÜLLER 2013) eröffnet sich ein Einblick in die heutige Lebenswelt der FischerInnen, vom Leben in den Dörfern, über die Arbeit in den Mangroven, das Verhältnis zu den Garnelenfarmen und zur städtischen Welt, bis hin zur Partizipation und zum Engagement in Bewegungen zum Erhalt der Mangroven und für eine Veränderung der Lebenssituation ihrer BewohnerInnen. Nach der Reise durch die verschiedenen Felder erlaubt das vierte Kapitel (4) eine informierte Diskussion zentraler Themen und Spannungsfelder. Bio+Fair bei der Bananenproduktion (4.1) sind geprägt von einem Konsensdiskurs bezüglich des Instruments der Zertifizierungen. Problematisiert werden die Heterogenisierungstendenzen (z.B. Zertifizierung von Großbetrieben und Monokulturplantagen) und deren Verhältnis zur den Annahmen der hierzulande verbreiteten 'Additivthese' (eine Zertifizierung für die einen plus eine Zertifizierung für die anderen gleich noch besser), sowie Fragen der Raum- bzw. Breitenwirksamkeit von Bio + Fair. Herausgearbeitet werden sowohl Positionierungen der KleinproduzentInnen, wie auch Aspekte der 13 Kapitel 0 Großplantagen gegenüber dem gegenwärtigen Zertifizierungsregime. Die Spannungsfelder von Bio + Fair bei der Garnelenzucht (4.2) zeigen dagegen einen Lagerdiskurs (Garnelenzuchtunternehmen und Zertifizierungsorganisationen vs. MangrovenfischerInnen und diverse Nichtregierungsorganisationen), bei dem ideologische Positionen (z.B. dass hier die Zerstörung zertifiziert wird16) sowie ein Kriminalitäts-/Kriminalisierungs-Komplex (z.B. MangrovenfischerInnen als Diebe und Piraten) eine zentrale Rolle spielen. Schließlich können allgemeine und vergleichende Aspekte (4.3) aufgegriffen werden. Hierbei stellen sich Fragen nach Chancen, Grenzen und Alternativen der Siegelinitiativen. Thematisieren lassen sich die Problematik der Definitionsmacht bei Bio +Fair ('certifier driven chains'?), das Verhältnis von Tiefen- und Breitenwirkung (und in diesem Zusammenhang die Gegenüberstellung der 'Additivthese' mit der Annahme 'negativer Wechselwirkungen'), Ambivalenzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Zustand und Prozess, etc., sowie die Schlüsselrolle der Wissensproduktion und des Austauschs zwischen den involvierten Akteursgruppen. Die vielschichtigen Ausarbeitungen werden in den Schlussbemerkungen im fünften Kapitel (5) nochmals in Abgleich mit den hier formulierten Zielen zusammengetragen. Sie bauen zum einen auf den Ausführungen der Kapitel (3) und (4) auf, zum anderen werden hier die theoretisch-konzeptionellen und methodologischen Überlegungen aus den Kapiteln (1) und (2) wieder aufgegriffen. Außerdem reflektiert das Kapitel die Stärken und Schwächen der Arbeit und wagt einen Ausblick darauf, wie die behandelten Themen weiterverfolgt werden können und welche Perspektiven für künftige Following-Studien erkennbar sind. Die drei Hauptteile der Arbeit – theoretisch-fachgeschichtliche Aspekte in Kapitel 1, methodologische und methodische Aspekte in Kapitel 2 und die Darstellung der Ergebnisse des Folgens in den Kapiteln 3 und 4 – sind so geschrieben, dass sie prinzipiell auch unabhängig voneinander gelesen werden können. Dabei versteht sich die Darstellung der Ergebnisse u.a. als ein Versuch, durch das 'Implizitlassen' der Theorie eine weniger an akademische Voraussetzungen geknüpfte Lesbarkeit zu erzielen. Um Lesbarkeit und eine sichtbare geschlechtergerechte Schreibweise zu verwirklichen, wurde versucht, konsequent das Binnen-I zu verwenden, sofern keine neutralen Begriffe passend waren.17 16 17 14 vgl. C-CONDEM 2007 Dies gilt v.a. für Personen bzw. Personengruppen, dagegen nicht bei nicht 'personifizierten' Begriffen, wie z.B. der 'Zulieferer' (= die Zulieferfirma). Theoretisch-konzeptioneller Teil 1 Theoretisch-konzeptioneller Teil Die in der Einleitung postulierte prinzipielle Offenheit im Sinne einer Vermeidung vorschneller Vorabannahmen18 und theoretischer oder disziplinärer Einengungen sowie die Devise einer gegenstandsorientierten Theoriebildung ist nicht zu verwechseln mit einer naiven Herangehensweise an das zu untersuchende Thema. So bilden eine Einbettung des gewählten Ansatzes in eine breitere theoretische und fachgeschichtliche Debatte, eine ausführlichere Konzeptualisierung des Untersuchungskomplexes und eine genauere Erklärung des gewählten Untersuchungsfelds den Einstieg in die Studie. Bei der Untersuchung von Bio- und Fair-Initiativen am Beispiel von Garnelen und Bananen aus Ecuador stehen zwei Warenketten globalen Maßstabs im Mittelpunkt, bei denen Produktion, Handel und Konsum auf spezifische Weise gestaltet und gesteuert werden sollen – in den meisten Fällen durch die Anwendung von unterschiedlichen Zertifizierungen. Die Einhaltung von nach Prinzipien biologischer Produktion und fairen Handels festgelegten Standards sowie deren Überprüfung durch ebenfalls festgelegte Verfahren ermöglichen die Platzierung von Bio- und Fair-Siegeln auf den am Ende der Ketten zum Verkauf angebotenen Waren. Vielschichtige Netzwerke von Akteuren (ProduzentInnen, Kooperativen, Handelsunternehmen, Standard setzende Organisationen in Form von Vereinen, Dachverbänden oder gesetzgebenden Instanzen, politische Interessenvertretungen, Umweltschutz- und Menschenrechtsorganisationen, KonsumentInnen, etc.) wirken sowohl bei der Aushandlung dieser Steuerungsvorgaben (Prinzipien, Standards, Verfahren), als auch bei deren Umsetzung in die Praxis mit. In der Geographie (und benachbarten Disziplinen) findet sich in den letzten zwei Jahrzehnten eine Vielzahl von Ansätzen, die sich darum bemühen, globalisierte Produktions-, Handels-, Vermarktungs- und Konsumzusammenhänge zu beschreiben und zu erklären. Vor dem Hintergrund einer intensivierten Globalisierung, die – getragen von einem fortschreitenden Abbau von Handelshemmnissen, sich verbessernden Kommunikationstechnologien und sinkenden Transportkosten (vgl. GIBBON et al. 2008) – eine sich verändernde räumliche Aufteilung der Produktionsvernetzungen sowie neue Organisationsformen dieser Vernetzungen (z.B. vertikale Desintegration, flexible Spezialisierung) auszeichnen, steht dabei neben einer Erklärung eben diesen Wandels die Frage nach der governance solcher Zusammenhänge im Mittelpunkt, also danach, wie sie gesteuert und koordiniert werden. Der erste Teil dieses Kapitels (1.1) widmet sich der Einführung und Diskussion dieser verschiedenen Ansätze. Dabei geht es nicht nur darum, aufzuzeigen, inwieweit sie sich für die Konzeptualisierung des Untersuchungskomplexes fruchtbar machen lassen und inwiefern sich der Following-Ansatz sowie die Fragestellung nach Konzepten der Steuerung und ihrer Anwendung in der Praxis hierin einbetten. Darüber hinaus soll auch zu einer neuen Auseinandersetzung mit den verschiedenen Ansätzen, ihren Lesarten und Interpretationen sowie ihren theoretischen und fachgeschichtlichen Verknüpfungen angeregt werden. 18 keine „Hypothesenbildung ex ante“ (HOFFMANN-RIEM 1980:345; FLICK 2002:69) 15 Kapitel 1 Die Deregulierung internationaler Produktions- und Handelszusammenhänge sowie die daraus resultierenden neuen Organisations- und Koordinationsformen sind mitunter dadurch geprägt, dass die Frage nach der Qualität von Waren und ihren Herstellungsprozessen neu verhandelt wird (vgl. z.B. NICOLAS/VALCESCHINI 1995). Besonders mit der Festlegung von Qualität in Form von – meist privaten – Standards und Normen sowie deren Umsetzung und Kontrolle durch Zertifizierungen spielt diese 'Qualitätsfrage' eine immer wichtigere Rolle bei der Organisation und Koordination der Warenketten (vgl. z.B. PONTE et al. 2011, GIBBON et al. 2010). Konzepte biologischer Produktion und fairen Handels sind als alternative Gegenentwürfe sozialer, zivilgesellschaftlicher Bewegungen gegen konventionelle Formen der Landwirtschaft und des Welthandels im Rahmen dieser Entwicklung entstanden und insbesondere in den letzten zwei oder drei Jahrzehnten gravierenden, bei beiden Initiativen ähnlich verlaufenden Veränderungsprozessen unterworfen, die sich mit den Begriffen Konsolidierung, Institutionalisierung, Internationalisierung und Standardisierung umschreiben lassen (vgl. RAYNOLDS 20004, RENARD 2003, 2005, REED 2009). Dabei können Veränderungen innerhalb dieser alternativen Initiativen von solchen des Kontextes, in dem sie sich verorten und zu dem sie Alternativen darstellen möchten, unterschieden werden. Letzteres bezieht sich vor allem auf die Entstehung von auf den ersten Blick den Bio- und Fair Trade-Initiativen ähnlichen Bestrebungen im konventionellen Bereich, die ökologische und soziale Performance großer, in globalisierte Produktion und Handel involvierter Unternehmen in die Qualitätsmerkmale deren Waren zu integrieren. In Abgrenzung zu Bio + Fair als 'alternativer' Handel werden soziale und ökologische Initiativen im konventionellen Bereich oft als 'ethischer' Handel bezeichnet (vgl. z.B. HUGHES 2001a, 2004, 2006). Verschiedene Beiträge, die sich eines oder mehrerer der in 1.1 behandelten Ansätze bedienen, haben sich mit der Beschreibung, Erklärung und Interpretation dieser Veränderungsprozesse (die Entstehung sowie die weitere Entwicklung des alternativen und ethischen Handels) und der Identifizierung dadurch entstehender Problem- und Spannungsfelder befasst. Im Mittelpunkt stehen dabei Fragen nach dem Charakter und den Folgen des Wandels von Bio +Fair (Konsolidierung, Institutionalisierung, Internationalisierung und Standardisierung bei zunehmender und immer differenzierterer Kooperation mit großen Unternehmen und professionellen Zertifizierungsfirmen) in Hinblick auf die Grundsätze, Ziele und künftigen Entwicklungsperspektiven der Bio + Fair Initiativen. Anhand ausgewählter Texte (MAYER 2003a, RAYNOLDS 2004, RENARD 2003, 2005, REED 2009, HUGHES 2001a, 2004, NEILSON/PRITCHARD 2007) wird im zweiten Teil (1.2) dieses Kapitels in verschiedene Charakterisierungen alternativen und ethischen Handels sowie in zentrale Spannungsfelder eingeführt, die später bei der Auseinandersetzung mit dem eigenen Material eine große Rolle spielen werden. Dabei wird insbesondere auch die Geschichte der Bio + Fair-Initiativen berücksichtigt. Informiert durch die Konzepte aus 1.1 sowie die Charakterisierungen und Spannungsfelder aus 1.2 erfolgt im dritten Teil dieses Kapitels (1.3) im Sinne einer Zusammenfassung und Konkretisierung die Konzeptualisierung des Untersuchungskomplexes sowie eine differenziertere Erklärung des ausgewählten Untersuchungsfeldes. 16 Theoretisch-konzeptioneller Teil Ein theoretisch-konzeptionelles Kapitel zu verfassen stellt in doppelter Hinsicht eine besondere Herausforderung dar. Zum einen erfordert die Erfassung des 'Stands der Forschung' die Durchforstung eines nicht nur umfangreichen, sondern auch oft fragmentierten, teils disparaten, selten bereits 'benutzerfreundlich' zusammengefassten Literaturfeldes. Zum anderen entsteht bei der Darstellung die Aufgabe, Vielfalt, Dichte und Detailliebe mit Zielen von Lesbarkeit, Verhältnismäßigkeit von Vorausgesetztem und zu Erläuterndem, sowie Relevanz und Kohärenz zu vereinbaren. Dies verdient einige Worte zur Methodik, mit der hier versucht wird, diese Herausforderungen zu meistern. Zusätzlich zur ordnenden Struktur des Textes (die Teile 1.1 bis 1.3 – wie eben dargestellt – und die darin vorgenommene Untergliederung in die einzelnen Ansätze und Fallstudien) wird eine 'Hierarchisierung' der verwendeten Literatur vorgenommen: Im Sinne eines '(Neu-)Lesens durch die Texte' erfolgt eine Erörterung von Schlüsseltexten, die durch einen Fettdruck der Literaturangabe kenntlich gemacht sind (z.B. COOK/CRANG 1996). Diese Schlüsseltexte ergänzende Literaturangaben sind normal gehalten (z.B MILLER 2002). Darüber hinaus werden weiterführende Literaturangaben, die insbesondere für die Kontextualisierung und Grundlagen der einzelnen Ansätze von Bedeutung sind, im Rahmen der hier unternommenen Erörterung aber nicht weiter vertieft werden sollen, durch eine Graufärbung abgegrenzt (z.B. MILLER 1987). Diese darstellerische Abstufung dient nicht nur der Orientierung der LeserInnen, indem sie die Grundlagen der Ausführungen nachvollziehbar machen und einen erleichterten Einstieg in eine vertiefte Lektüre ermöglichen soll. Sie entspricht auch der Vorgehensweise der Ausarbeitungen, in der die Schlüsseltexte intensiv anhand bestimmter Kategorien19 ausgewertet und durch weiterführende Lektüre ergänzt wurden. Um das 'Lesen' durch die Schlüsseltexte zu veranschaulichen und nachvollziehbarer zu machen, werden verdeutlichende Zitate aus diesen in Originalsprache in die Ausführungen eingebettet. 19 theoretischer Hintergrund; methodologische Aspekte; Kernaussagen; Konzeptualisierung von governance, Wissen/Macht, Akteure/Institutionen; Darstellung von Wandel; Kritik; Anknüpfungspunkte für die eigenen Untersuchung 17 Kapitel 1 1.1 Zugänge zu globalisierten Produktions-, Handels und Konsumzusammenhängen: eine Fachgeschichte der Ansätze zu Warenketten, -netzwerken und -kreisläufen In der Einleitung wurde die Idee der Following-Studien (COOK 2006) als zentraler Ansatz dieser Arbeit vorgestellt. Ausgewählten Waren (bzw. wie hier bestimmten Konzepten bezüglich der Steuerung von Produktion, Handel und Konsum dieser Waren) ethnographisch durch die Verflechtungen hindurch zu folgen, die durch ihre Herstellung, den Handel mit ihnen, ihre Vermarktung und ihren Konsum entstehen, ist in erster Linie ein methodologischer Ansatz: die Fair Trade-Banane oder die Bio-Garnele als das Organisationsprinzip des Dissertationsprojekts, als die das Feld der Forschung bestimmende (und 'ausdehnende' 20) Instanz. Welche theoretischen Ansätze im Rahmen dieser Herangehensweise bemüht werden, ist prinzipiell offen, abhängig von der gewählten Perspektive und nicht zuletzt davon, wohin das Folgen der Verflechtungen führt. Die Forschenden folgen „ideas and connections wherever they lead instead of following them only as far as the border of their discipline“ (SAYER 2003:5, zitiert in COOK 2006:657, vgl. auch BURGESS 2005). Dadurch, dass im Rahmen dieser Praxis des Folgens Dinge zusammenkommen, die einzelne theoretische Ansätze nicht zusammenbringen würden, wird dem (methodologischen) Ansatz der Following-Studien eine Brückenfunktion zugeschrieben, zwischen verschiedenen theoretischen Perspektiven zu vermitteln, z.B. zwischen wirtschafts- und kulturgeographischen Konzepten (vgl. COOK 2006:657). Es stellt sich die Frage, wie mit dieser Unbestimmtheit bzw. Offenheit umgegangen wird und wie die erwünschte 'Brücke' gebildet werden kann. Auf der einen Seite soll hier auf den Versuch von Ian Cook hingewiesen werden, bei der Darstellung seiner Papaya-Studie die Theorie vollständig implizit zu lassen, im Vertrauen darauf, dass die LeserInnen die Argumente 'zwischen den Zeilen' erkennen (COOK 2002; vgl. COOK 2006:661). Als Lektüre für den Einstieg in das Genre von Following sowie als Diskussionsgrundlage sehr zu empfehlen21, kommt die Wahl ausschließlich dieser Darstellungsform für eine Dissertation wohl eher nicht in Frage. Sie soll aber nach dem Explizieren der konzeptionellen und methodologischen Grundlagen (Kapitel 1 und 2) wieder aufgegriffen werden (vgl. Kapitel 3). Auf der anderen Seite steht die Idee, verschiedenste Ansätze in einer 'großen' Theorie zusammenzuführen (vgl. COOK 2006:660f). Angesichts der Unterschiedlichkeit bislang angewandter Konzepte erscheint dies als ein kaum zu leistendes und zudem auch nicht unbedingt sinnvolles Unterfangen – insofern, dass dies nur auf Kosten der durch das Kombinieren verschiedener Ansätze und deren Diskussion entstandenen Vielfalt geschehen könnte. Eine Konzeptualisierung des Untersuchungsfelds soll stattdessen in einem konstruktiven Aufgreifen verschiedener Konzepte im Sinne einer theoretischen Triangulation erfolgen (vgl. FLICK 20 21 18 vgl. zum Begriff „expanding fields“ COOK et al. 2007 so war dies einer unserer Einstiegstexte in das Seminar „Following-Studien in der Geographie“ im Sommersemester 2011 am Geographischen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin Theoretisch-konzeptioneller Teil 2002:330ff, FLICK 2000). Hierbei wird versucht, der Diversität der Ansätze, die bislang im Rahmen von Untersuchungen zu Nahrungsmitteln, Waren, Warenketten, -netzwerken und -kreisläufen verwendet wurden, gerecht zu werden, sie an geeigneter Stelle zu ergänzen und sie für das Erkenntnisinteresse der hier unternommenen Arbeit fruchtbar zu machen. Insbesondere in der angelsächsischen Geographie findet sich ein breites Spektrum von Arbeiten zu Nahrungsmitteln, Waren, Warenketten, -netzwerken und -kreisläufen (vgl. z.B. HUGHES/REIMER 2004a). Neben Ansätzen zu Warenketten und -netzwerken, darunter der Global Commodity Chains Approach (nachfolgend GCC; GEREFFI/KORZENIEWICZ 1994, vgl. BAIR 2005), dessen Kritik durch den Global Production Networks Approach (nachfolgend GPN; HENDERSON et al. 2002) und dessen (sogenannte) Weiterentwicklung zum Global Value Chains Approach (nachfolgend GVC; GEREFFI et al. 2005), der wiederum vielfach aufgegriffen und mit weiteren Ansätzen wie der Konventionentheorie oder der Governmentalitätsforschung kombiniert worden ist (vgl. z.B. GIBBON et al. 2008), finden sich verschiedene, von Alex Hughes und Suzanne Reimer (2004b:3f) unter dem Begriff commodities and circuits of culture zusammengefasste, kulturgeographische Arbeiten (z.B. COOK/CRANG 1996, JACKSON 1999, 2002), die neben Produktion und Handel besonders auch den Bereich des Konsums bzw. das Verhältnis zwischen Produktion/Handel und Konsum behandeln (z.B. CREWE 2001, BARNETT et al. 2005). In der deutschsprachigen Geographie wurden bislang einige Ansätze um GCC, GPN und GVC aufgegriffen (vgl. z.B. KULKE 2009:71ff,133ff, NUHN 1993, MAYER 2003a, KRÜGER 2007, DIETSCHE 2011) und durch weitere wie dem Stakeholder-Ansatz ergänzt (DIETSCHE 2011), während andere (besonders die Anknüpfung von GVC an die Gouvernementalitätsforschung, vgl. GIBBON/PONTE 2008, auch HUGHES 2001a) sowie die genannten kulturgeographischen Arbeiten kaum Berücksichtigung gefunden haben. Im Sinne einer möglichst vollständigen Erfassung des gesamten Spektrums werden im Folgenden die Ansätze der GCC (1.1.1), GPN (1.1.2), GVC (1.1.3), einige Erweiterungen (Stakeholder-Ansatz, Konventionentheorie, Gouvernmentalitätsforschung) inklusive einer eigenständigen Ergänzung (Diskursanalyse) von GCC/GPN/GVC (1.1.4) und Überlegungen zu commodities and circuits of culture (1.1.5) eingeführt. Nach einer theoretisch-fachgeschichtlichen Einbettung des jeweiligen Ansatzes werden die Kernpunkte ausgeführt und anschließend diskutiert, unter besonderer Berücksichtigung der Konzeptualisierungen von governance, Wissen/Macht und Akteuren/Institutionen. 1.1.1 'Drivers of the chain?': Der Global Commodity Chains Approach Der Global Commodity Chains Approach (GCC) ist als die erste umfassende Konzeptualisierung im Rahmen der Literatur zu Warenketten und -netzwerken Anfang der 1990er Jahre (GEREFFI/KORZENIEWICZ 1994) aus Überlegungen zu den Commodity Chains (CC) der WorldSystem Theories22 hervorgegangen (vgl. BAIR 2005). 22 Die Texte in GEREFFI/KORZENIEWICZ 1994 gingen aus der 16th Annual Conference on the Political Economy of the 19 Kapitel 1 Theoretisch-fachgeschichtliche Einbettung Innerhalb der World-Systems Theories sind CC als Netzwerke von Arbeits- und Produktionsprozessen definiert, deren Resultat eine fertige Ware ist (HOPKINS/WALLERSTEIN 1986:159; vgl. HOPKINS/WALLERSTEIN 1994a:17, BAIR 2005:155). Das 'Welt-System' ist geprägt von der kapitalistischen Weltwirtschaft als einem historischen sozialen System, das sich charakterisiert durch eine „[...] widespread commodification of processes – not merely exchange processes, but production, distribution processes and investment processes – that had previously been conducted other than via the market“ (WALLERSTEIN 1983:15, zitiert in BAIR 2005:155). CC werden als das 'A und O' des Systems der Produktionsverhältnisse bzw. der internationalen Arbeitsteilung innerhalb der Struktur der kapitalistischen Weltwirtschaft gesehen. Entlang der CC werden Produkte von 'peripherem' Ausgangsmaterial in den Peripherien zu 'zentralen' Industrieprodukten in den Zentren verarbeitet (HOPKINS/WALLERSTEIN 1994a:17ff). Jeder Verarbeitungsschritt findet durch den Einsatz von Arbeit, Technologie und Kapital in einer sogenannten 'Box' statt. Es interessieren verschiedene Eigenschaften einzelner 'Boxen', so der Grad ihrer Monopolisierung und Zentralität (ausgedrückt durch ihre Profitrate), die Form ihrer geographischen Verteilung (profitable 'Kernboxen' konzentriert auf wenige Standorte in den Zentren, weniger profitable 'Boxen' verteilt auf viele Standorte in den Peripherien), die Anzahl der verschiedenen CC, in die eine 'Box' eingebunden ist (als Ausdruck von Produktdifferenzierung mit hoher Ausprägung bei Konjunktur und niedriger Ausprägung bei Rezession), die charakteristischen Besitzverhältnisse einer 'Box', die Form der Arbeitskontrolle sowie der Grad der vertikalen Integration einzelner Produktionsschritte innerhalb einer 'Box' (vgl. HOPKINS/WALLERSTEIN 1994a:18f). Die Eigenschaften jeder Box sind sozial konstruiert und unterliegen Veränderungsprozessen. Unternehmen streben dabei danach, entweder Transaktionskosten (durch Schaffung vertikaler Integration und räumlicher Nähe) oder Lohnkosten (durch Auslagerung bzw. Standortverlagerung in die Peripherien) zu reduzieren 23 (HOPKINS/WALLERSTEIN 1994a:19f) . Diese Unternehmensstrategien werden als der kapitalistischen Wirtschaftsweise systemimmanent angesehen. Im Mittelpunkt des Interesses steht die historische Analyse ausgewählter CC, die aufgrund ihrer strategischen Bedeutung eine Schlüsselfunktion in der jeweiligen historischen Phase einnehmen, wie z.B. die Schiffbauindustrie und die Mehlproduktion von 1590-1790 (ÖZVEREN 1994, PELIZZON 1994). Die Analyse erfolgt in Hinblick auf zyklische Veränderungen (in Anlehnung an KONDRATIEFF 1926; vgl. SCHUMPETER 1961) mit sich abwechselnden konjunkturellen 'A-Phasen' und rezessiven 'BPhasen'. Dabei finden sich Ausprägungen der 'Boxen'-Eigenschaften, die jeweils für 'A-' bzw. 'B-Phasen' typisch sind, wie z.B. eine hohe vertikale Integration in 'A-', eine niedrige in 'BPhasen'. Entsprechend stehen in 'A-Phasen' transaktionskostenökonomische, in 'B-Phasen' lohnkostenreduzierende Strategien im Vordergrund. Veränderungsprozesse folgen der Logik 23 20 World System vom 16. bis 18. April 1992 an der Duke University hervor (vgl. GEREFFI/KORZENIEWICZ 1994:xii). vgl. hierzu auch GEREFFI et al. 1994:6, dort PORTER 1990:49ff Theoretisch-konzeptioneller Teil der Profitmaximierung durch Kapitalakkumulation in den jeweils lukrativsten 'Boxen' einer Kette bzw. durch das Ringen der Akteure um diese 'Boxen'24 (vgl. HOPKINS/WALLERSTEIN 1994a,1994b). Insgesamt geht es dem CC Ansatz um die historische Erklärung kapitalistischer Weltwirtschaft bezüglich der Form internationaler Arbeitsteilung, verstanden als ein Prozess, der konjunkturellen Zyklen unterliegt und durch den sich dominierende Zentren und dominierte Peripherien herausbilden und permanent reproduzieren, die durch ungleiche Austauschbedingungen miteinander verbunden sind (vgl. BAIR 2005). Während der GCC Ansatz wesentliche Komponenten der CC aufgreift, ist gleichzeitig eine Verschiebung des Fokus feststellbar (BAIR 2005). Neben den dependenztheoretischen Erwägungen der World-Systems Theories fließen in die GCC Überlegungen zu nationalen Wettbewerbsunterschieden und internationalen Wertschöpfungsketten ('value chains'; GEREFFI et al. 1994:6, vgl. PORTER 1987, 1990; auch KRÜGER 2007:12ff), zu soziologischen Netzwerkanalysen (vgl. GEREFFI et al. 1994:7) sowie zur Regulationstheorie (vgl. BATHELT/GLÜCKLER 2002:278) ein. Der GCC Ansatz konzentriert sich auf die Verbindungen, die zwischen einzelnen Firmen in Form von Netzwerken in globalen Industriezusammenhängen bestehen, und darauf, wie sich die Art dieser Verbindungen im Rahmen einer in jüngerer Vergangenheit sich intensivierenden Globalisierung verändert. Dabei wird die Ablösung eines hauptsächlich von standardisierter, oft vertikal integrierter Massenproduktion geprägten fordistischen Akkumulationsregimes durch eine sogenannte postfordistische, mehr von 'flexibler Spezialisierung', 'schlanker Produktion' und Desintegration geprägte Industrieorganisation beobachtet (GEREFFI et al. 1994:1, vgl. KULKE 2009:107ff, BATHELT 1994, MALECKI 1994). Es lassen sich drei Hauptunterschiede zu den CC ausmachen: hinsichtlich der zeitlichen Orientierung, des vorrangigen Erkenntnisinteresses und des politischen Anspruchs (vgl. BAIR 2005:154ff). Besteht bei den CC mehr ein Verständnis von Globalisierung als ein Phänomen, das von Beginn an die Herausbildung des kapitalistischen Weltwirtschaftssystems bestimmte25 und dessen historische Entwicklung es zu rekonstruieren gilt, betrachtet der GCC Ansatz Globalisierung als eine jüngere Erscheinung, die – begünstigt durch sinkende Transportkosten, neue Kommunikationstechnologien und den Abbau von Handelshemmnissen – eine neue Qualität internationaler Produktionsverflechtungen und damit auch neue Organisations- und Koordinationsformen, nämlich GCC, hervorbringt: „A key difference [...] between the world-systems and GCC camps of commodity chain research is rooted in this debate regarding whether globalization is better understood as a contemporary phenomenon enabled by increasingly integrated production systems, or as a process beginning with the emergence of capitalism in the long sixteenth century.“ (BAIR 2005:157) 24 „One of the most important processes of the capitalist world-economy is the trend toward demonopolization of any highly profitable box, which is then often countered by technological changes and/or redefinitions of the organizational boundaries of the box by production units seeking to restore a high level of profit. Alternatively, big capital may shift its investment to other boxes (or of course to other chains) in search of increased profit“ (HOPKINS/WALLERSTEIN 1994a:18) 25 vgl. hierzu auch APPADURAI 1986a:36ff, dort SOMBART 1922 21 Kapitel 1 In den World-Systems Theories geht es vorwiegend darum, anhand der CC26 aufzuzeigen, wie diese ein vielschichtiges und hierarchisches Welt-System strukturieren und reproduzieren. Das Hauptaugenmerk gilt diesem System als Ganzheit auf der Makroebene, mit seinem konstitutiven und beständigen Merkmal ungleichen Austauschs zwischen Zentren und Peripherien (vgl. BAIR 2005:155ff, s.a. HOPKINS/WALLERSTEIN 1977:117). Dagegen blickt der GCC Ansatz verstärkt auf die Mikroebene einzelner Firmen bzw. die Mesoebene bestimmter Sektoren (vgl. BAIR 2005:164) und versteht Warenketten als verknüpfte Firmen-Netzwerke, die Handelsunternehmen, Hauptproduzenten, Zulieferbetriebe und Subunternehmer globaler Industrien bzw. Märkte miteinander verbinden. Das „[...] GCC camp has moved research on commodity chains away from the type of long-range historical and holistic analysis characteristic of the world-systems school. Rather, the GCC framework has evolved as a network-based organizational approach to studying the dynamics of global industries“ (BAIR 2005:158; vgl. RAIKES et al. 2000). Von Bedeutung ist dabei u.a. die Frage nach den Partizipationsmöglichkeiten von Firmen in diesen Warenketten, deren Beantwortung eine Stärkung der Position ('upgrading') von Exporteuren in 'Entwicklungsländern' – und damit Veränderung – ermöglichen kann (vgl. BAIR 2005:156). Dieser politische Anspruch, Strategien für 'Entwicklungsländer' aufzuzeigen, grenzt den GCC Ansatz weiter von den CC ab: „Its substantive interest in, and analytical emphasis on, national development represents a further break between the GCC framework and the world-systems tradition, as the latter inveighs against the myopia of this 'developmentalist illusion' “ (BAIR 2005:157; vgl. ARRIGHI 1990, WALLERSTEIN 1994). Diese Verschiebung des Fokus auf die Organisation einzelner Warenketten und der in diesen agierenden Firmen im Kontext gegenwärtiger Globalisierungsprozesse sowie der politische Anspruch, Veränderungspotential insbesondere für 'Entwicklungsländer' aufzuzeigen, führten zusammen mit dem speziellen Konzept von GCC dazu, dass zum einen zahlreiche, empirisch reichhaltige Fallstudien zu verschiedenen Sektoren und mit verschiedenen regionalen Schwerpunkten entstanden sind; und dass zum anderen der GCC Ansatz breite Anwendung in der politischen Praxis gefunden hat (vgl. BAIR 2005:158). Die zentralen Punkte dieses GCC Konzepts sollen nun vorgestellt werden. Kernaussagen Globale Warenketten werden im Rahmen des GCC Ansatzes umfassend konzipiert. „Allgemein ist eine Warenkette als die Aufeinanderfolge von Schritten von der Gewinnung des Rohmaterials über verschiedene Bearbeitungsstufen, Distributions- und Handelssysteme bis hin zum Endverbraucher zu verstehen“ (KULKE 2009:70; vgl. auch 2009:133)27. 26 27 22 als ein Konstrukt, mit dem der angenommenen Widerspruch zwischen Kräften der Weltwirtschaft, die nach einer internationalen Integration der Produktionsverhältnisse streben, und der Einteilung des Systems in einzelne, diskrete Nationalstaaten methodologisch überwunden werden kann Die Einbindung von Prozessen nach dem Konsum, vor allem von Aspekten von Abfall und Verschmutzung finden noch Theoretisch-konzeptioneller Teil Nach der vielzitierten Definition von Gary Gereffi und Co. besteht eine globale Warenkette „[...] of sets of interorganizational networks clustered arround one commodity or product, linking households, enterprises, and states to one another within the world economy“ (GEREFFI et al. 1994:2). Dabei fällt auf, dass in dieser ursprünglichen Begriffsbestimmung der Netzwerkcharakter und die soziale Einbettung der Verflechtungen von GCC groß geschrieben wird: „These networks are situationally specific, socially constructed, and locally integrated, underscoring the social embeddedness of economic organization“ (GEREFFI et al. 1994:2). Der Ansatz versteht sich als Netzwerk-orientiert und historisch, indem er diesen transnationalen Verflechtungen folgt, um die räumlich ungleiche Struktur der Weltwirtschaft und deren organisatorischen Wandel zu einer bestimmten, in der Regel der gegenwärtigen Zeit zu ergründen (vgl. GEREFFI et al. 1994:2). Einzelne, in eine Warenkette integrierte, abgrenzbare Produktions- oder Handelsprozesse werden als Knoten ('nodes') bezeichnet und entsprechen den 'Boxen' der CC. „Each successive node within a commodity chain involves the acquisition and/or organization of inputs (e.g., raw materials or semifinished products), labor power (and its provisioning), transportation, distribution (via markets or transfers), and consumption. The analysis of a commodity chain shows how production, distribution, and consumption are shaped by the social relations (including organizations) that characterize the sequential stages of input acquisition, manufacturing, distribution, marketing, and consumption“ (GEREFFI et al. 1994:2, Hervorhebung SD). Die Frage danach, wie die Prozesse durch die sozialen Beziehungen der (Knoten)Akteure zueinander geformt werden, soll bei GCC Analysen im Mittelpunkt stehen. Es werden anfangs drei Hauptdimensionen unterschieden, die globale Warenketten ausmachen (GEREFFI et al. 1994:7, GEREFFI 1994:96f; vgl. KULKE 2009:134, KRÜGER 2007:33, DIETSCHE 2011:27): Input-Output-Beziehungen ('input-output structure') in einer Folge wertschöpfender Schritte räumliche Strukturen ('territoriality'), die bei der Organisation der GCC durch Firmen (unterschiedlicher Größe und Typen) entstehen und bei denen28 zwischen Konzentration und Dispersion unterschieden wird Machtbeziehungen ('governance structure'), die zwischen den in die Warenkette involvierten Akteuren bestehen und die das 'Wie' der innerhalb der Kette koordinierten Prozesse bestimmen: „authority and power relationships that determine how financial, material, and human resources are allocated and flow within a chain“ (GEREFFI 1994:97). selten Erwähnung (vgl. z.B. COE et al. 2008b:274). 28 ganz in der Tradition der CC (vgl. DICKEN et al. 2001:99f; LESLIE/REIMER 1999) 23 Kapitel 1 Schon in der ersten Fassung wird auch der Einfluss staatlicher Politiken auf globale Warenketten berücksichtigt, als „a variable shaping the organization of enterprises within commodity chains“ (GEREFFI et al. 1994: 9f; vgl. CHEN 1994, LEE/CASON 1994, WILSON/ZAMBRANZO 1994). Später (GEREFFI 1995) wird dieser Aspekt mit den institutionellen Rahmenbedingungen ('institutional framework') als eine vierte Dimension eingeführt, die – verstanden als externe, meist staatliche Einflüsse (vgl. DIETSCHE 2011:43; HUMPHREY/SCHMITZ 2004) – die Gestaltung der Warenkette mit prägen (vgl. KRÜGER 2007:33,41): „[an institutional framework] that identifies how local, national, and international conditions and policies shape the globalization process at each stage in the chain“ (GEREFFI 1995:113, zitiert in DICKEN et al. 2001:99). Neben der Unterscheidung dieser drei bzw. vier Hauptdimensionen wird weiteren Aspekten ein Einfluss auf die Gestaltung der GCC eingeräumt, so die Rolle von „ethnicity as a variable shaping the structure of commodity chains“ (GEREFFI 1994:9; vgl. CHEN 1994, RAYNOLDS 1994) oder von neuen Nachfragemustern als „changing culture of the core“ (GEREFFI et al. 1994:12; vgl. GOLDFRANK 1994, KORZENIEWICZ 1994). Darüber hinaus wird eine wachsende Bedeutung von Dienstleistungen bzw. Dienstleistungsunternehmen innerhalb von GCC ausgemacht (RABACH/KIM 1994, vgl. GEREFFI et al. 1994:10f). Dienstleistungsunternehmen ermöglichen – als 'missing link' des GCC Ansatzes – erst den Zusammenhalt der zunehmend räumlich wie organisatorisch zersplitterten bzw. fragmentierten Produktions-, Handels-, und Konsumzusammenhänge: „Service activities not only provide linkages between the segments of production within a GCC and linkages between overlapping GCCs, but they also bind together the spheres of production and circulation. Services have come to play a critical role in GCCs because they do not only provide geographical and transactional connections, but they integrate and coordinate the atomized and globalized production process. Without the integrating and coordinating function fulfilled by services, GCCs would not be viable in today´s highly competitive economic environment.“ (RABACH/KIM 1994:123, Hervorhebungen im Original) Entgegen dieser umfassenden und ambitiösen anfänglichen Konzipierung mit ihren drei bzw. vier Hauptdimensionen und der Integration weiterer Aspekte erfährt der GCC Ansatz in der Folge und entsprechend in seiner Rezeption eine Einengung, indem er sich fast ausschließlich auf eine der Dimensionen, nämlich die Frage nach den Machtverhältnissen bzw. der 'governance structure' von globalen Warenketten konzentriert (vgl. DICKEN et al. 2001, BAIR 2005). Während die Betrachtung der räumlichen Fragen ('territoriality') weitgehend der Zentrum-Peripherie-Perspektive der World-Systems Theories verhaftet bleibt29 (DICKEN et al. 2001:99f), dient die Beschreibung der Input-Output-Beziehungen „vordergründig zur Analyse der auftretenden Machtverhältnisse innerhalb der Warenkette“ (KRÜGER 2007:35). Die institutionellen Rahmenbedingungen rücken trotz ihrer anfänglichen Betonung30 in den Hintergrund unter der Annahme, dass der Einfluss staatlicher Regulierung durch die Globalisierung erodiert wird: 29 30 24 wenngleich durchaus mit weiteren Differenzierungen (vgl. z.B. die 'fünf Ringe' bei GEREFFI 1994:110ff) „State policy plays a major role in GCCs.“ (GEREFFI 1994:100) Theoretisch-konzeptioneller Teil „[...] globalization […] tends to diminish the influence of national origins on business systems, and to highlight the role of design, production, and marketing core competencies and strategic capabilities within and between economic sectors. The way firms do business in the global economy thus is determined to an increasing extent by their position in GCCs, not their national origins“ (GEREFFI 1996:433 zitiert in DICKEN et al. 2001:100, vgl. DIETSCHE 2011:45f).31 Die Fokussierung auf Unternehmen als die zentralen Akteure der globalen Warenketten konzentriert sich vor allem auf die Identifizierung von Leitfirmen bzw. fokalen Unternehmen ('lead firms'), die als 'driver'32 maßgeblich darüber bestimmen, wie innerhalb einer Warenkette produziert wird und wie sich die Gewinne auf die involvierten 'Knoten' verteilen. Der Einfluss der 'driver' wirkt nicht nur auf ihre unmittelbaren Zulieferer oder Abnehmer, sondern bestimmt die Rahmenbedingungen entlang der gesamten Kette (DIETSCHE 2011:33, vgl. BOLWIG et al. 2008:9). Sie legen die Teilnahmebedingungen und 'Spielregeln' (DIETSCHE 2011:33, dort PONTE/GIBBON 2005:3) einer Warenkette fest und setzten diese durch: Leitfirmen sind Unternehmen, „[...] die die Wertschöpfungskette organisieren, indem sie Produkt-, Prozess- und Logistikparameter vorgeben und innerhalb der Kette durchsetzen (vgl. HUMPHREY/SCHMITZ 2004:98; KAPLANSKY/MORRIS 2001:29). Diese Parameter lassen sich an folgenden Fragen festmachen (HUMPHREY/SCHMITZ 2004:96f): Was wird produziert? (Spezifikation und Design des Produkts) Wie wird produziert? (Festlegung von Produktionsprozessen, z.B. eingesetzte Technologien, Standards) Wie viel und wann wird produziert? (Terminierung und Logistik)“ (DIETSCHE 2011:33, Hervorhebungen im Original). Im Mittelpunkt des GCC Ansatzes steht die Unterscheidung von zwei idealtypischen Formen der 'governance structure': produzentengesteuerte ('producer driven') und käufergesteuerte ('buyer driven') Warenketten (GEREFFI 1994:96ff, vgl. KULKE 2009:135, KRÜGER 2007:35ff, DIETSCHE 2011:29). Produzentengesteuerte Warenketten werden als für kapital- und technologieintensive Industrien wie die Automobilindustrie, den Flugzeugbau oder die Halbleiterproduktion charakteristisch angesehen. Hier kontrollieren wenige große, vertikal integrierte, meist transnationale Firmen das Produktions- und Distributionssystem und üben großen Einfluss auf ihre Zulieferer aus. Die Voraussetzungen an die Produktion in Form von hohem Kapitaleinsatz und aufwendigen Technologien stellen hohe Eintrittshürden ('entry barriers') dar, aufgrund derer die etablierten Unternehmen mit ihrem 'industrial capital' ihre Vormachtstellung behaupten können und den Kern der Herstellung selbst ausführen (GIBBON et al. 2008:320). Nur untergeordnete, meist arbeitsintensive Komponenten werden Zulieferern in Auftrag gegeben. „International subcontracting is common, especially for the most labor-intensive production processes, as are strategic alliances between international rivals. What distinguishes 'producer-driven' production systems is the control exercised by the administrative headquarters of transnational corporations.“ (GEREFFI 1994:97) 31 die Abgrenzung der Dimension institutioneller Rahmenbedingungen geht mit der hier vorgenommenen Priorisierung der Rolle der Unternehmen einher (GEREFFI 1995, vgl. DIETSCHE 2011:32) 32 oder 'pilots' (vgl. VAGNERON et al. 2009) 25 Kapitel 1 Fordistische Massenproduktion wird in erster Linie den 'zentralisierten', produzentengesteuerten Warenketten zugeordnet (GEREFFI 1994:10,99, vgl. PIORE/SABEL 1984; KRÜGER 2007:39, BATHELT/GLÜCKLER 2002:278). Demgegenüber finden sich käufergesteuerte Warenketten bei in der Produktion eher standardisierten, arbeitsintensiven Konsumgüterindustrien wie Bekleidung, Schuhe, Haushaltsartikel, Spielwaren oder Nahrungsmittel, wo „viele Produzenten ähnlicher Güter auf eine begrenzte Zahl von Großnachfragern treffen“ (KULKE 2009:135). Diese als 'Käufer' bezeichneten Großnachfrager (vor allem Groß- und Einzelhandelsfirmen sowie Markenartikelverkäufer) sind durch ihr 'commercial capital' (GIBBON et al. 2008:320) in der Lage, „ihre Produkt- und Preisvorstellungen gegenüber den Herstellern durchzusetzen“ (KULKE 2009:135). „International contract manufacturing again is prevelant, but production is generally carried out by independent Third World factories that make finished goods (rather than components or parts) under original equipment manufacturer (OEM) arrangements. The specifications are supplied by the buyers and branded companies that design the goods.“ (GEREFFI 1994:97) Oft verfügen die 'Käufer' über keine eigenen Produktionsstätten mehr, sondern steuern lediglich disperse Produktions- und Handelsnetzwerke, indem sie durch Forschung, Design, Marketing und Finanzierung die Rahmenbedingungen der Warenkette gestalten: „The main job of the core company in buyer-driven commodity chains is to manage these production and trade networks and make sure all the pieces of the business come together as an integrated whole. Profits in buyer-driven chains thus not derive from scale economies and technological advances as in producer-driven chains, but rather from unique combinations of high-value research, design, sales, marketing, and financial services that allow the buyers and branded merchandisers to act as strategic brokers in linking overseas factories and traders with evolving product niches in their main consumer markets“ (GEREFFI 1994:99, vgl. RABACH/KIM 1994, REICH 1991). Entsprechend wird post-fordistische flexible Spezialisierung in erster Linie den 'denzentralisierten', käufergesteuerten Warenketten zugeordnet (GEREFFI 1994:10,99; vgl. KRÜGER 2007:39, BATHELT/GLÜCKLER 2002:278). Diskussion Neben der Beschränkung des Ansatzes auf die 'governance structure' bzw. der Vernachlässigung der anderen Dimensionen und Aspekte im Allgemeinen ist besonders die 'buyerdriven/producer-driven'-Dichotomie vielfach auf Kritik gestoßen (vgl. z.B. DICKEN et al. 2001, HENDERSON et al. 2002, CLANCY 1998, GIBBON et al. 2008:321, WHITLEY 1996, KRÜGER 2007:52ff). 26 Theoretisch-konzeptioneller Teil Zum einen gilt sie trotz des Verständnisses von produzenten- und käufergesteuerten Ketten als „[...] contrasting (but not mutually exclusive) poles in a spectrum of industrial organization possibilities […]“ (GEREFFI 1994:99; zitiert in DICKEN et al. 2001:99) allgemein als zu eng, undifferenziert und abstrakt (GIBBON et al. 2008:321, DIETSCHE 2011:29, DICKEN et al. 2011). Empirische Untersuchungen einzelner Warenketten führen zu Variationen des ursprünglichen, dichotomen Modells, so z.B. Beobachtungen 'biopolarer' governance bei der Kakao- und Schokoladenherstellung, wenn verschiedene Segmente einer Kette von verschiedenen Leitfirmen kontrolliert werden (FOLD 2002), oder die Bezeichnung von Industrien mit hoher Forschungsintensität wie die Softwareentwicklung als 'technology-driven chains' (Ó RIAIN 2004). Auch werden bei einzelnen Waren/Produkten verschiedene Kettenzweige je nach Spezifizierung des Produkts unterschieden, die zu jeweils eigenen Steuerungsformen führen. So treten z.B. bei Kaffee Unterschiede in der 'governance structure' auf, je nach dem, ob es sich um Instantkaffee oder Bohnenkaffee, um Kaffee für den Massen- oder für einen Nischenmarkt handelt (GIBBON et al. 2008:321; vgl. DAVIRON/PONTE 2005, TALBOT 2008). Zum anderen wird die Unterscheidung von 'buyer driven' und 'producer driven' insofern in Frage gestellt, dass sich in fast allen, also auch in den kapital- und technologieintensiven Industrien ein Trend zur flexiblen Spezialisierung nach dem Charakter der käufergesteuerten Warenketten beobachten und die 'producer-driven'-Kategorie mehr und mehr obsolet werden lässt. „In some (formerly) producer-driven chains such as automobiles, computers and consumer electronics, producers were now out-sourcing not only the manufacture of components but also of sub-systems and even final assembly, while keeping control of marketing and (where relevant) consumer finance.“ (GIBBON et al. 2008:321) Nichtsdestotrotz konnte die 'buyer-driven/producer-driven'-Dichotomie den Blick für das an Bedeutung gewinnende Prinzip von käufergesteuerten Warenketten schärfen, besonders auch im Bereich der in dieser Arbeit interessierenden (tropischen) Agrarprodukte (BAIR 2005:159f; DOLAN/HUMPHREY 2000). Die Gegenüberstellung von fordistischer Massenproduktion und flexibleren, post-fordistische Produktionsweisen sowie ihre Zuordnung zu verschiedenen 'driver'-Typen wird hinterfragt. So zeigt Laura T. Raynolds bereits früh (1994) am Beispiel der Ananasproduktion in der Dominikanischen Republik, dass die großen, transnationalen Fruchtkonzerne – ehemals als vertikal integrierte Produzenten die 'driver' der Ketten – sich mit Hilfe ihrer Marken, der Auslagerung der risikoreichen Produktion durch Kontraktanbau33 sowie ihrer Kontrolle über Distributionsund Marketingsysteme durch eine Kombination von 'economies of scale' und 'economies of scope' auch im Zuge flexibler Spezialisierung – nun ausschließlich als 'buyer-driver' – behaupten. 33 vgl. z.B. NUHN 2003b 27 Kapitel 1 „Post-Fordist interpretations tend to overstate the economic opportunities afforded small firms by their flexible production systems and understate the limitations that may be placed on these enterprises by restricted asset and/or limited market niches. […] Analysis of Fordist production patterns often overstates the rigidities of large-scale integrated production systems and understates the flexibilities available to corporations able to efficiently bring to market new and diverse commodities“ (RAYNOLDS 1994:158). Des Weiteren können bei den immer mehr dominierenden käufergesteuerten Ketten unterschiedliche 'Käufer'-Typen als Leitfirmen identifiziert werden, die 'ihre' Kette mit unterschiedlicher Intensität steuern. So können die 'Käufer' Einzelhandelsfirmen, Markenartikelverkäufer, produzierende Betriebe oder auch internationale Händler sein, wobei letztgenannte vergleichsweise weniger starken Einfluss ausüben können (GIBBON et al 2008:321; vgl. FOLD 2001, GIBBON 2001, PONTE 2002). Schließlich fallen verstärkt externe Akteure ins Gewicht, die nicht unmittelbar ein Produkt oder eine Dienstleistung innerhalb der Warenkette beisteuern, aber Einfluss auf die Steuerung von Warenketten nehmen, wie z.B. Nichtregierungsorganisationen, Fachleute oder formal unabhängige Standard setzende Einrichtungen (GIBBON et al. 2008:321; vgl. PONTE 2007a). Angesichts des Einflusses der KonsumentInnen beim Einkauf bestimmter Produkte wird besonders im Bereich des alternativen und ethischen Handels auch von konsumentengesteuerten Warenketten ('consumer driven') gesprochen (KULKE 2009:135, KULKE 2004). Da diese Kaufentscheidungen meist vermittelt durch Zertifizierungsorganisationen ermöglicht werden, die als neue Akteursgruppe die Warenketten 'im Namen der Konsumenten' (vgl. HUGHES 2004) mitbestimmen, wird die Frage interessant, inwieweit auch von zertifizierergesteuerten Warenketten ('certifier driven') gesprochen werden kann. In diesen Zusammenhang kann auch die strategische Bedeutung von hochwertigen Dienstleistungen ('high end services as core niches') darin, die Steuerung der Warenketten (als 'service-driven'?) maßgeblich zu beeinflussen, gestellt werden (vgl. RABACH/KIM 1994). Trotz der mangelnden Differenziertheit und des Hangs zur abstrakten Modellbildung kommt dem GCC Ansatz zum einen der Verdienst zu, die methodologische Grundlage und die Inspiration für zahlreiche empirische Untersuchungen gelegt zu haben (BAIR 2005:158f). Es lohnt der Blick in einzelne Fallstudien, bei denen z.T. über die Behandlung der 'governance structure' hinaus durchaus auch weitere Aspekte, insbesondere die Berücksichtigung institutioneller und politischer Rahmenbedingungen einbezogen werden. So wurde der GCC Ansatz z.B. auch in der deutschsprachigen Geographie aufgegriffen (NUHN 1993) und u.a. auf verschiedene Produkte der tropischen Landwirtschaft angewandt, v.a. bei Kaffee (MAYER 2003a, NUHN 2004) und Bananen (NUHN 2003a; vgl. DIETRICH 2006) aus Mittelamerika. Die Beiträge arbeiten m.E. differenziert die historische Entwicklung der beiden Warenketten heraus und berücksichtigen dabei neben sozioökonomischen Umständen, technischen und organisatorischen Innovationen sowie produktspezifischen Eigenschaften besonders auch die Entwicklung der politisch-institutionellen Rahmenbedingungen. So teilt Helmut Nuhn (2003a, 2003b) die Geschichte des exportorientierten Bananenanbaus in Mittelamerika in zwei 'Zyklen', die sich u.a. hinsichtlich der betrieblichen Organisation (von der Plantage als autonome Enklave zum 28 Theoretisch-konzeptioneller Teil Kontraktanbau; vgl. auch NUHN 2006), des staatlichen Einflusses (insbesondere durch einen zunehmenden Handlungsspielraum der 'Erzeugerländer'), der Verflechtungen mit der Binnenwirtschaft, dem Stand der Technik (neue Bananenvarietät, Innovationen in den Bereichen Verpackung und Transport) und der Rücksicht auf ökologische Folgen der Produktion unterscheiden. Die Schlüsselstellung der transnationalen Fruchtgesellschaften in der Produktionskette bleibt dabei trotz einer relativen Flexibilisierung erhalten (NUHN 2003a:40; vgl. oben RAYNOLDS 1994). Der Einfluss internationaler Regulierungen und Wirtschafts- und Entwicklungspolitik, insbesondere die Liberalisierung seit den 1980er Jahren und deren Auswirkung auf die Produktionsländer, findet systematische Berücksichtigung (vgl. NUHN 2004). Unter dem Stichwort ökologische Modernisierung (vgl. NUHN 2003a, 2003b) werden zunehmend auch ökologische und soziale Probleme thematisiert (Entwaldung, Bodenerschöpfung, Biodiversitätsverlust, Wasserverschmutzung, Müll; Situation von KleinproduzentInnen, PlantagenarbeiterInnen), sowie Lösungsansätze und deren Institutionalisierung (Umweltmanagementsysteme, Umweltund Sozialsiegel) durch die beteiligten Akteure behandelt (vgl. MAYER 2003a, 2003b). Außerdem hat der GCC Ansatz entscheidend für die Frage nach der governance bzw. nach Machtbeziehungen bei der Steuerung und Koordination von Warenketten sensibilisiert (BAIR 2005:158ff; vgl. BATHELT/GLÜCKLER 2002:278): „[...] studies of GCCs have contributed theoretically to our understanding of how the global economy works, and in particular how power is exercised in global industries. […] [t]o describe a chain´s governance structure is to illuminate the nature of power relations that exist along a chain“ (BAIR 2005:159, Hervorhebung im Original). Das Konzept von 'governance as driving' (GIBBON et al. 2008:319ff) ist das erste von drei verschiedenen, im Rahmen der Warenkettenliteratur bemühten governance-Konzepten. Der Identifizierung von einzelnen Firmen bzw. Firmentypen als 'driver' einer Kette – also governance als „a function of lead firm type“ (GIBBON et al. 2008:320) – liegt dabei in erster Linie ein Machtbegriff zugrunde, der davon ausgeht, dass Macht von Akteuren 'besessen' und im Rahmen von asymmetrischen Beziehungen über andere ausgeübt werden kann: „From a realist point of view, [power] has been developed as a 'centered' conception, with power beeing an inscribed capacity of individuals or institutions, something that is possessed by these individuals and institutions. Such a reading of power is closely linked to the capability or potential of actors to dominate others, to have power over them, whether this power is actually exercised or not. In Gereffi´s (1994) definition of GCC governance, for instance, authority as one of the characteristics of GCC governance reflects this understanding of power.“ (HESS 2008:453, Hervorhebung im Original; vgl. GEREFFI 1994, ALLEN 1997, 2003) Darüber hinaus ist jedoch – zumindest in der anfänglichen, Netzwerk-basierten Konzeptualisierung – bereits ein weiterführendes, relationales Machtverständnis angelegt, bei dem Macht zwischen den Akteuren unter Zugriff auf unterschiedliche Ressourcen immer wieder neu verhandelt und verteilt wird: 29 Kapitel 1 „Rather than possessing power by virtue of social relationships (cf. Allen, 1997, 2003), this notion of power has at its centre the idea that actors mobilize ressources that are not all of their own making in order to influence and change economic outcomes. In other words, power is generated through network relationships and thus a 'collective' endeavour, with resources being the medium through which power is exercised. Such a view on power represents a much more de-centred perspective […]. Returning to Gereffi´s (1994) definition of GCC governance, it becomes clear that, while authority – the realist notion of power – plays an important part, he goes on to say that GCC governance is about 'power relationships that determine how financial, material, and human resources are allocated and flow within the chain' (Gereffi, 1994, p.97)“ (HESS 2008:455, vgl. GEREFFI 1994, ALLEN 1997, 2003). Während der erste, 'zentrierte' Machtbegriff Macht zu einem 'Nullsummenspiel' (vgl. ALLEN 1997:61) macht, mit Gewinnern, die über Verlierer verfügen, eröffnet der zweite, eher 'dezentrierte' Machtbegriff eine differenziertere Perspektive, die auch vorübergehende Win-WinSituationen und aktive Einflussnahme schwächerer Akteure erlaubt, z.B. indem sie Ressourcen mobilisieren oder Koalitionen bilden34 (vgl. HESS 2008:455) Vielleicht auch ein Stück weit wegen seiner teilweise mangelnden Differenziertheit und dem Hang zur vereinfachenden Modellbildung hat der GCC Ansatz schließlich einen nicht zu unterschätzenden politisch-praktischen Einfluss erlangt. Zum einen weckte die Aussicht, Möglichkeiten und Wege des 'upgrading' einzelner Firmen oder Länder innerhalb von globalen Warenketten aufzuzeigen, das Interesse von Regierungen und internationalen Organisationen wie der Internationalen Arbeitsorganisation ILO (BAIR 2005:161)35. Zum anderen wurde das GCC Konzept von Initiativen im Bereich des alternativen und ethischen Handels aufgegriffen, um ungerechte Zusammenhänge in Warenketten aufzudecken. Auch verwies das Konzept der käufergesteuerten Warenketten aufgrund der den 'Käufern' zugeschriebenen Macht auf deren Verantwortung für die gesamte Warenkette, was insbesondere von ihrer Reputation abhängige Markenartikelverkäufer als Ziel von Kampagnen ausmachen ließ (vgl. BAIR 2005:161; GEREFFI et al. 2001, BONACICH/APPELBAUM 2000; HENDERSON et al. 2002:442). 1.1.2 Netzwerke statt Ketten: Der Global Production Networks Approach Die zweite umfassende Konzeptualisierung im Rahmen der Literatur zu Warenketten und -netzwerken bildet der Global Production Networks Approach (GPN), der einige Jahre später als Reaktion auf den GCC Ansatz formuliert wurde (HENDERSON et al. 2002; vgl. KRÜGER 2007:54f, DIETSCHE 2011:45f). Auch diesem Ansatz geht es um eine Auseinandersetzung mit sich verändernden Organisationsformen von zunehmend globalen/globalisierten Produktions-, Handels- und Konsumzusammenhängen: 34 35 30 Diese zusätzliche Perspektive (Aushandlungsspielraum zwischen unterschiedlich einflussreichen Akteuren, Möglichkeit von Win-Win-Situationen) wird auch als für die Erklärung bestimmter governance-Phänomene wie z.B. Standards und Kriterien im Rahmen alternativen oder ethischen Handels erforderlich angesehen (HESS 2008:455; vgl. HESS/COE 2006, NADVI 2008). vgl. z.B. http://www.ilo.org/public/english/standards/relm/ilc/ilc86/repi-c4.htm [08.01.13] oder später dann z.B. HUMPHREY 2004 Theoretisch-konzeptioneller Teil „Production networks – the nexus of interconnected functions and operations through which goods and services are produced, distributed and consumed – have become both organizationally more complex and also increasingly global in their geographic extent“ (HENDERSON et al. 2002:445). Dabei nimmt der GPN Ansatz eine neue Schwerpunktsetzung vor, die sich vor allem auch als Antwort auf die stiefmütterliche Behandlung der Input-Output-Struktur, des Netzwerkcharakters, der sozialen Einbettung sowie der institutionellen Rahmenbedingungen innerhalb des GCC Ansatz versteht. Theoretisch-fachgeschichtliche Einbettung Im Mittelpunkt der theoretischen Erwägungen des GPN Ansatzes steht eine kritische Auseinandersetzung mit verschiedenen Konzepten von Warenketten und Netzwerken, die sich hinsichtlich ihres Hintergrundes ('business-managerial literature' oder 'economic-developmental framework') sowie in der Verwendung entweder der 'Ketten'-Metapher oder der Netzwerkperspektive unterscheiden (HENDERSON et al. 2002:439). Unter den Ansätzen, die sich der 'Ketten'-Metapher bedienen, wird vor allem der GCC Ansatz als der am weitesten entwickelte gewürdigt und kritisch beleuchtet. Des Weiteren werden das aus der Management-Literatur stammende Konzept der Wertschöpfungskette (PORTER 1985,1990) und der französische Filière-Ansatz mit seiner Nähe zur Regulations- und Konventionentheorie (LENZ 1997, 2005; vgl. RAIKES et al. 2000, SCHAMP 2000, KRÜGER 2007:19ff, KULKE 2009:69f, NUHN 1993) genannt. Michael E. Porter´s Wertschöpfungskette ('value chain'), verstanden als „die Gesamtheit aller Primär- und Sekundärprozesse [...], die in einem Unternehmen zur Schaffung von Mehrwert beitragen“ (PORTER 1991:61f, zitiert in KRÜGER 2007:12), wird für die Untersuchung 'wirtschaftlicher Entwicklung' als wenig relevant zurückgewiesen, da sich der Ansatz zu sehr auf Firmen bzw. Firmennetzwerke konzentriert und „[...] pays no attention to issues of corporate power, the institutional contexts of – and influences upon – firm-based activities, or to the territorial arrangements (and their profound economic and social asymmetries) in which the chains are embedded“ (HENDERSON et al. 2002:439). Das Konzept der Filière, definiert als „a system of agents producing and distributing goods and services for the satisfaction of a final demand“, zielt auf die Abbildung von Warenflüssen ausgewählter Produkte und die Identifizierung von Akteuren und Aktivitäten innerhalb dieser Flüsse, wodurch auch hierarchische Beziehungen bzw. Machtverhältnisse thematisiert werden (HENDERSON et al. 2002:439). Das Aufgreifen von Machtbeziehungen innerhalb einer Kette macht den Filière-Ansatz für GPN interessant. Er umfasst aber durch seine Einengung auf große Firmen und staatliche Organisationen nicht das breite Spektrum der in ein Netzwerk eingebetteten Akteure: 31 Kapitel 1 „Although the filière approach focuses on agents witin the system, as well as on dependency and the distribution of power, it concentrates mainly on two types of agent – large firms and (national) state institutions – and how their scope of activity is limited by technological constraints. Hence the spectrum of agents in production networks, their role in shaping these networks and thus influencing development at different scales, is only partially dealt with.“ (HENDERSON et al. 2002:439f) Der Breite dieses Spektrums kommt der GCC Ansatz am nächsten, jedenfalls in seiner ursprünglichen Konzipierung als „sets of interorganizational networks“ (s.o.). Die Kritik am GCC Konzept knüpft an die oben ausgeführten zentralen Schwachpunkte des Ansatzes an. Neben der Ablehnung der 'buyer-driven/producer-driven'-Dichotomie und einer Betonung der Bedeutung der Input-Output-Struktur stehen die folgenden Aspekte im Mittelpunkt. Zum einen wird bemängelt, dass die Untersuchungen aktuell bestehender Ketten oft die Geschichte und Pfadabhängigkeit derselben vernachlässigen: „[...]much of the work within the GCC tradition has been concerned with currently existing chains. Hardly any of it seeks to re-construct the history of the nature and implications of the chain. This is an important omission because the social relations embodied in chains at one point in time impose a path-dependency and constrain the future trajectories of chain development“ (HENDERSON et al. 2002:441). Zum anderen wird moniert, dass sowohl Unterschiede bei Firmen hinsichtlich Eigentumsformen und Unternehmensstrategien (Firmen als 'black boxes')36, als auch die (in der Regel nationalen) sozialen und institutionellen Rahmenbedingungen, in die die Ketten bzw. ihre Firmen eingebettet sind, nicht ausreichend berücksichtigt werden: „[...] commodity chains link not only firms in different locations, but also the specific social and institutional contexts at the national (sometimes subnational) level, out of which all firms arise, and in which all – though to varying extents – remain embedded. The implication of the GCC framework seems to be that firms are principally reflexes of the way given commodity chains are organized and of the structural requirements this imposes on their operation in any given location. In this scheme of things firms appear to have little autonomy to develop relatively independent strategies (though this seems crucial for the prospects for sustained development). Additionally there appears to be little room for understanding where national and local differences in labour market organization, working conditions etc. come from. In our view these issues cannot be effectively theorized unless it is understood that inter-firm networks link societies which exhibit significant social and institutional variation, embody different welfare regimes and have different capacities for state economic management: in short, represent different forms of capitalism.“ (HENDERSON et al. 2002:441; vgl. BOYER/DRACHE 1996, WHITLEY 1999, COATES 2000) Neben diesen spezifischen Kritikpunkten an den einzelnen 'Ketten'-Ansätzen wird die 'Ketten'Metapher allgemein als problematisch angesehen, da sie den Eindruck erwecken kann, Produktions-, Handels- und Konsumprozesse seien ausschließlich vertikal und linear aufgebaut und würden in nur einer Richtung von den Rohstoffen bis hin zum Endverbrauch verlaufen. Um dieser Gefahr entgegenzuwirken, greift der GPN Ansatz auf Netzwerkkonzepte, insbesondere die actor-network theory (ANT)37, zurück (HENDERSON et al. 2002:442ff; vgl. LAW 1999): 36 37 32 vgl. hierzu COE et al. 2008b:277f neben der ANT wird nur noch die namensgleichen Konzept der Global Production Networks von Dieter Ernst diskutiert, dessen Vorteile darin gesehen werden, dass es ebenfalls einen eingeengten Fokus auf Leitfirmen ('flagship firms') ablehnt und die Bedeutung sowohl von Dienstleistungen, als auch von nicht kodifizierten/kodifizierbaren Wissensfor- Theoretisch-konzeptioneller Teil „such processes are better conceptualized as being highly complex network structures in which there are intricate links – horizontal, diagonal, as well as vertical – forming multi-dimensional, multi-layered lattices of economic activity“ (HENDERSON et al. 2002:442, Hervorhebung im Original). Dabei geht die Ausarbeitung des Ansatzes nur kurz auf zentrale Aspekte der ANT ein. Betont wird zum einen die Relationalität von Akteur-Netzwerken in dem Sinne, dass die beteiligten Akteure und ihre Handlungen nur durch ihre Beziehungen und ihre Bezogenheit auf andere Akteure des Netzwerks Gestalt annehmen und verstanden werden können. Dies bezieht sich nicht zuletzt auch auf das Verständnis von Räumlichkeit und Distanz, insofern dass diese sich relational durch die Reichweite der Verknüpfungen der Akteure und deren Einflussmöglichkeiten manifestieren und verändern38 (HENDERSON et al. 2002:442; vgl. MURDOCH 1998). Aufgrund dieser Überlegungen findet sich im Konzept der GPN auch keine Raumkategorie, die der 'territoriality'-Dimension der GCC entsprechen würde, obschon räumliche Aspekte weiterhin ein zentrale Rolle spielen sollen (HENDERSON et al. 2002:446f) Zum anderen werden der Umgang der ANT mit konstruierten Dualismen bzw. Dichotomien sowie die Vorstellung von hybriden Kollektiven menschlicher Akteure und nicht-menschlicher Aktanten ('agents') aufgegriffen (HENDERSON et al. 1002:443f; vgl. DICKEN et al. 2001:101f). Bereits der Name das Ansatzes, 'Akteur-Netzwerk', kann als Oxymoron gelesen werden (vgl. LAW 1999:5), das auf die Zusammengehörigkeit bzw. künstliche Trennung von Dualismen wie Struktur und Handeln, Natur und Kultur, global und lokal bzw. Makro- und Mikroebene, hindeutet39. Diese Dichotomien zu überwinden bzw. sie als Konstruktion zu erkennen, ermöglicht eine integrierte Betrachtung der verschiedenen, in GPN eingebundenen Ebenen, wie z.B. die in das globale Netzwerk eingebundenen Handlungen lokal verwurzelter Akteure. Die Konzeptualisierung von Handlung ('agency') umfasst dabei auch nicht-menschliche Aktanten, seien es Artefakte ('artefacts'; z.B. Computer), Hilfsmittel ('tools', z.B. Berichte, Karten) oder Regeln ('rules', z.B. Gesetze), die an der Gestaltung des Netzwerkes aktiv und auf mehr als nur kalkulierbare bzw. die von ihren SchöpferInnen kalkulierte Art und Weise mitwirken (DICKEN et al. 2001:102; vgl. CALLON/LAW 1997, LAW 1994, HARAWAY 1991). Nicht zuletzt ist das Akteur-Netzwerk selbst sowohl ein Akteur, dessen Aktivität im Vernetzen der menschlichen wie nichtmenschlichen Aktanten besteht, als auch ein Netzwerk, das sich aktiv reproduziert bzw. transformiert (DICKEN et al. 2001:102; vgl. CALLON 1987, BINGHAM 1996). Der GPN Ansatz greift diesen Aspekt vor allem hinsichtlich der Rolle von 'technologischen Elementen' auf, die als inhärente Bestandteile der Netzwerke ökonomischen Aktivitäten zugrunde liegen und diese beeinflussen; entsprechend verzichtet der Ansatz auf eine gesonderte 'technology'Kategorie (HENDERSON et al. 2002:443,447). men wertschätzt (HENDERSON et al. 2002:443f; vgl. ERNST 2000, ERNST/KIM 2002) 38 vgl. auch: „in a network, elements retain their spatial integrity by virtue of their position in a set of links or relations“ (LAW 1999:6, Hervorhebung im Original) 39 „Each locus can be seen as framing and summing up. 'Actor' is not here to play the role of agency and 'network' to play the role of society. Actor and network -if we want to still use the terms- designates two faces of the same phenomenon, like wave and particles, the slow realisation that the social is a certain type of circulation that can travel endlessly without ever encountering the micro-level -there is never an interaction that is not framed- nor the macro-level -there are only local summing up.“ (LATOUR 1999:3) 33 Kapitel 1 Der Fokus der ANT liegt, ganz in Abgrenzung zum GCC Ansatz, auf den Handlungen und Praktiken40 der im Netzwerk agierenden Akteure: „Unlike the structuralist-influenced GCC approach […] ANT is a non-representational theory. Actions and practices, rather than structures, form the focus of analysis“ (DICKEN et al. 2001:101, Hervorhebung im Original). Wirtschaftliche Aktivität wird, insbesondere in internationalen Zusammenhängen, als 'performativer Akt' verstanden, durch den die Akteure versuchen, Ordnungen aufzubauen und Einfluss zu erlangen. Der Erfolg ihrer Performance hängt davon ab, inwieweit sie ihnen zugängliche Ressourcen (im Sinne eines relationalen, dezentrierten Machtverständnisses) in Relation zu den Anderen mobilisieren können; also in Abhängigkeit von der „ability of actors to 'act at distance' by entraining both other actors and the necessary material objects, codes and procedural frameworks to effect the activation of power“ (DICKEN et al. 2001:102, 104; vgl. WHATMORE/THORNE 1997). Die Zusammenhänge von Netzwerken ausschließlich dadurch zu konstruieren, den Relationen der Akteure zu folgen, wird vom GPN Ansatz jedoch (vorwiegend aus methodologischen Gründen) zurückgewiesen, indem die Berücksichtigung einer sozusagen Netzwerk-externen bzw. dem Netzwerk präexistenten Struktur wieder eingeführt wird: „Certainly the emphasis on relational practices highlighted by ANT is welcome, but there is a danger that concentrating attention on actors in networks will descend into a mechanistic framework that atomizes agents and focuses solely on the links between them, without a sense of the social processes that constitute these relationships“ (DICKEN et al. 2001:105). Sieht man ein 'zu viel' an vertikaler Struktur und Linearität bei den Kettenansätzen, wird ein 'zu wenig' davon bei den Netzwerkansätzen befürchtet: ANT „lacks an appreciation of the structural preconditions and power relations that inevitably shape production networks“ (HENDERSON et al. 2002:443, vgl. DICKEN et al. 2001). Vergleichbares trifft auch für das Konzept der embeddedness aus der neuen Wirtschaftssoziologie zu, das die Einbettung ökonomischer Aktivitäten in soziale Kontexte (bzw. Netzwerke) betont (vgl. GRANOVETTER 198541). Durch seinen mikrosoziologischen Fokus auf interpersonelle Beziehungen drohe der Ansatz implizit den lokalen Kontext zu überhöhen. Dies führe zu einer „over-territorialized conception of embeddedness that neglects the multi-scalar dynamics of the global economy and the international dimension of contemporary economic organization“ (BAIR 2008:347, vgl. HESS 2004). Während die Überlegungen zur embeddedness in der ursprünglichen Fassung des GPN Ansatzes nicht explizit aufgegriffen werden, haben sie diesen neben der ANT und der Auseinandersetzung mit dem GCC Ansatz als dritte theoretische Komponente entscheidend beeinflusst (vgl. BAIR 2008, HESS/YEUNG 2006)42. 40 41 42 34 dazu gehören besonders Alltagspraktiken und Praktiken der Subjektivierung [„where the subject is decentred (an assemblage of influences, agendas and practices), embodied (it has the capacity to develop and exercise skills – to do), affective (through desire subjects become subjects), and dialogical (subjects always engage with others, never as isolated beings)“] (DICKEN et al. 2002:101, vgl. THRIFT 1997) anknüpfend v.a. an POLANYI et al.1957, vgl. kritisch dazu BAIR 2008:345 was auch die Einführung von embeddedness als eine der konzeptionellen Kategorien der GPN belegt (s.u.) Theoretisch-konzeptioneller Teil Vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzung mit 'Ketten'- und Netzwerkansätzen zu globalen Produktions-, Handels-, und Konsumzusammenhängen wird mit dem GNP Ansatz ein zweites umfassendes Konzept mit einer differenzierten Unterscheidung konzeptueller Kategorien und Dimensionen entwickelt, dessen Kernaussagen im Folgenden vorgestellt werden sollen. Kernaussagen Die Namensgebung 'Global Production Networks' wird aufgrund folgender Überlegungen vorgenommen. In Abgrenzung zum GCC Ansatz wird die Verwendung von Produktion ('production') statt Ware ('commodity') sowie von Netzwerk ('network') statt Kette ('chain') bevorzugt (HENDERSON et al. 2002:444f). Das Wort Ware ('commodity') sei zu eng verbunden mit der Vorstellung standardisierter Produkte und decke dadurch nicht die Heterogenität der flexibilisierten Formen post-fordistischer ökonomischer Aktivitäten ab. Produktion ('production') dagegen soll die Betonung auf die sozialen Prozesse legen, die in die Herstellung bzw. Bereitstellung von Waren und Dienstleistungen sowie in die Reproduktion von Wissen, Kapital und Arbeitskraft eingebunden sind. „There is a need […] to re-focus attention on the social circumstances under which commodities are produced and consumed and thus avoid the ever-present danger of slipping into a perception of commodities as de-humanized building blocks involved in the making of other commodities“ (HENDERSON et al. 2002:444). Die Bezeichnung Netzwerk ('network') statt Kette ('chain') macht die oben skizzierte Befürchtung deutlich, die 'Ketten'-Metapher suggeriere einen linearen und eher starren Prozess, wohingegen mit dem Netzwerk-Begriff die komplexe, vertikal, horizontal wie diagonal verflochtene Organisation des Flusses von Rohmaterialen, halb-fertigen und fertigen Waren, Designs und Dienstleistungen sowie eine stärkere Autonomie der einzelnen Akteure verdeutlicht werden soll: „[...] we find a discourse of networks to be more inclusive, empirically adequate and thus more analytically fertile“ (HENDERSON et al. 2002:445)43. Gemeinsam mit dem GCC Ansatz bleibt die Bezeichnung 'global', um sich von den in 'staatszentrierten' Konzepten verwendeten Begriffen 'international' bzw. 'transnational' abzugrenzen44, die die Art und Weise, in der sich ortsgebundenen ('place-specific') und ortsungebundene ('non place-specific') Prozesse durchdringen und gegenseitig beeinflussen, nicht ausreichend würdigten. Dies soll helfen, die Sensibilität gegenüber 'der Dialektik global-lokaler 43 Das Netzwerk-Konzept erlaube zusammen mit einem breiten Verständnis von Produktion („to include intermediate and final markets“) drüber hinaus eine – im Vergleich zu den GCC – größere Komplexität und geographische Variation bei der Betrachtung von Produktion-Konsum-Beziehungen, mit der ein Anschluss an die kulturgeographischen in diesem Bereich hergestellt werden soll (vgl. 1.1.5): „[...] it should facilitate our ability to reveal how certain key knowledges 'circulate' between producers, consumers and intermediaries, rather than moving in a uni-directional manner, a key insight of the expanding literature on 'commodity cultures' (e.g., Cook and Crang, 1996; Jackson, 1999)“ (HENDERSON et al. 2002:445; vgl. COOK/CRANG 1996, JACKSON 1999). 44 eine Abgrenzung, die bereits von den World-Systems Theories vorgenommen wird (vgl. HENDERSON et al. 2002:437) 35 Kapitel 1 Beziehungen' als einer Voraussetzung für die Analyse ökonomischer Globalisierung und ihrer ungleichen Auswirkungen zu schärfen (HENDERSON et al. 2002:445)45. Dass in Hinblick auf die verbreitete Verwendung des Terminus und die Rolle der Einbettung der Netzwerke in lokale (oft auf nationaler Ebene verortete) Zusammenhänge der Begriff 'transnational' besser passen würde, wird erst später (bzw. zu spät) bemerkt46. Solche nun so benannten Global Production Networks werden mit Hilfe der drei konzeptionellen Kategorien ('conceptual categories') Wert, Macht und Einbettung sowie der vier konzeptionellen Dimensionen ('conceptual dimensions') Firmen, Sektoren, Netzwerke und Institutionen beschrieben. Ihr Zusammenwirken ergibt das gedankliche Gerüst der GPN Analysen. Die drei konzeptionellen Kategorien werden wie folgt gefasst (HENDERSON et al. 2002:448ff): Wert ('value'): Unter Wert werden sowohl Mehrwert im marxistischen Sinne ('surplus value'), als auch wirtschaftliche Erträge ('economic rent') verstanden (HENDERSON et al. 2002:448). Die Kategorie unterteilt sich in Wertschöpfung ('creation of value'), Wertsteigerung ('enhancement of value') und Wertaneignung bzw. -erhalt ('capture of value'). Unter Wertschöpfung fallen zum einen Fragen nach den Bedingungen des Arbeitsprozesses, durch den Arbeitskräfte zur Produktion eingesetzt werden: „[...] issues of employment, skill, working conditions and production technology are important as well as the circumstances under which they are reproduced (hence connecting these issues to broader social and institutional questions)“ (HENDERSON et al. 2002:448). Zum anderen zählen zur Wertschöpfung die Möglichkeiten, verschiedene Formen von Erträgen zu generieren. Zu diesen Möglichkeiten gehören ungleicher Zugang zu Schlüsseltechnologien ('technological rents'), organisatorische und Manage- ment-Fähigkeiten wie z.B. Just-in-Time-Produktion oder Qualitätskontrollen ('organizational rents'), Beziehungen zu anderen Firmen wie z.B. durch strategische Allianzen ('relational rents'), Etablierung von Markenartikeln ('brand rents') und in manchen Fällen auch Vorteile durch protektionistische Handelspolitiken ('trade-policy-rents'). Wertsteigerung meint, die Erträge durch Verbesserungen im Produktionsprozess oder durch eine veränderte Positionierung innerhalb des Produktionsnetzwerks zu erhöhen. Hierunter fallen unterschiedliche Technologietransfers innerhalb eines bzw. zwischen Netzwerken, Innovationen durch die im Netzwerk agierenden Firmen, eine entsprechende Steigerung der im Arbeitsprozess erforderlichen Fertigkeiten sowie die Fähigkeit von Firmen, ihre organisatorischen, relationalen oder Markenartikel-Erträge zu erhöhen. Dabei wird den politisch gestalteten nationalen Rahmenbedingungen ein entscheidender Einfluss darauf beigemessen, inwieweit Wertsteigerungen gelingen können (vgl. HENDERSON et al. 2002:449). 45 46 36 „help to deliver the imaginative sensibilities necessary to grasp the dialectics of global-local relations that are now a pre-condition for the analysis of economic globalization and its asymmetric consequences“ „Strictly speaking the term transnational production network is more accurate. However, current usage suggests that it is better to retain the term 'global'.“ (COE et al. 2008b:274, Hervorhebungen im Original) Theoretisch-konzeptioneller Teil Schließlich stellt sich die Frage, wie erzielte und gegebenenfalls gesteigerte Erträge durch einzelne Akteure angeeignet bzw. behalten werden können: „It is one thing for value to be created and enhanced in given locations, but it may be quite another for it to be captured for the benefit of those locations“ (HENDERSON et al. 2002:449). Dies wird von der Politik eines jeweiligen Landes47, von der Eigentumsverhältnissen bei Firmen48 sowie von der Art und Weise, Firmen zu steuern ('governance'), abhängig gemacht49. Somit wird auch hier den jeweils nationalen politisch-institutionellen Rahmenbedingungen eine große Bedeutung zugeschrieben. Macht ('power'): Macht spielt ähnlich wie beim GCC Ansatz eine zentrale Rolle. Der Hauptunterschied zu GCC besteht darin, dass das GPN Konzept bemüht ist, die Verteilung von Macht in den Netzwerken differenzierter zu betrachten. Allgemein werden die GPN als multi-skalare, d.h. die lokale, regionale, nationale und globale Ebene verknüpfende Netzwerke gesehen, in denen verschiedene Akteure über unterschiedlichen und sich wandelnden Einfluss verfügen: „Such multi-scalar networks are built-up and transformed over time by a multiplicity of agents with asymmetrical influence and power“ (HENDERSON et al. 2002:447). Innerhalb von GPN ausgeübte Macht wird als nicht-materieller Fluss zwischen den verschiedenen Aktanten des Netzwerks verbildlicht (HENDERSON et al. 2002:456). Der Ansatz unterscheidet drei Formen von Machtbeziehungen nach Art der Akteure: unternehmerische Macht ('corporate power'), politisch-institutionelle Macht ('institutional power') und kollektive Macht ('collective' power').50 Die unternehmerische Macht entspricht im Wesentlichen der Sphäre der 'governance structure' des GCC Ansatzes. Dabei knüpft das GPN Konzept explizit an die Unterscheidung von 'producer-driven' und 'buyer-driven' an, wobei betont wird, dass die Übergange fließend sowie Kombinationen der beiden Formen bei einem Produkt bzw. innerhalb eines Sektors möglich sind (HENDERSON et al. 2002:44651). Weiter wird angenommen, dass die Macht von Leitfirmen (so gut wie) nie absolut ist und sich durch den Einfluss des fokalen Unternehmens in Beziehung zu den anderen Firmen des Netzwerks ergibt. Damit wird eine 'Nullsummenspiel'-Konzeption von Macht über andere ausdrücklich zurück- und auf die Möglichkeiten strategischer Einflussnahme durch weniger mächtige Akteure verwiesen, u.a. indem sie Koalitionen bilden (HENDERSON et al. 2002:45052; vgl. 1.1.1). 47 „the nature of property rights and […] laws governing ownership structures and the repatriation of profits“ (HENDERSON et al. 2002:449) 48 „the extent to which firms are totally foreign owned, totally domestically owned, or involve shared equity as in jointventure arrangements“ (HENDERSON et al. 2002:449) 49 „the extent to which corporate governance is founded on stakeholder principles, rather than on shareholder dominance (and required by legal statute) can have important consequences for whether value generated in a given location is retained there and indeed used to the benefit of the commonweal“ (HENDERSON et al. 2002:449) 50 vgl. auch KRÜGER 2007:54f, DIETSCHE 2011:45 51 „The GPN framework explicitly recognizes that […] the distinction between 'producer-driven' and 'buyer-driven' networks is more fluid than Gereffi´s work allows for, with combinations of both in the same product areas, and indeed in some cases […] in the same sector“ 52 „Corporate power: […] the extent to which the lead firm in the GPN has the capacity to influence decisions and 37 Kapitel 1 Um die institutionellen Rahmenbedingungen systematisch zu berücksichtigen, wird die politisch-institutionelle Macht als Unterkategorie eingeführt. Diese umfasst die auf GPN gerichtete Einflussnahme von Staaten, zwischenstaatlichen und supranationalen Institutionen und Organisationen (z.B. EU, ASEAN, NAFTA bzw. die Weltbank, der IWF und die WTO), Teilen der Vereinten Nationen (v.a. die ILO) sowie internationalen Ratingagenturen. Der Grad der Einflussmöglichkeiten wird dabei sowohl innerhalb der einzelnen Ebenen (z.B. Unterschiede zwischen einzelnen Staaten), als auch zwischen diesen Ebenen (z.B. geringer, eher moralischer und beratender Einfluss der UN) als asymmetrisch verteilt angenommen (HENDERSON et al. 2002:450f). Schließlich greift die kollektive Macht zivilgesellschaftliche Akteure auf, die versuchen, Firmen, Regierungen oder andere Organisationen aus dem Bereich der unternehmerischen oder politisch-institutionellen Macht zu beeinflussen. Hierzu zählen insbesondere Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, Vertretungen wirtschaftlicher Interessensgruppen sowie Nichtregierungsorganisationen aus dem Umweltschutz- und Menschenrechtsbereich. Diese Akteure können sich auf lokale/nationale Kontexte beschränken oder international agieren (HENDERSON et al. 2002:451). Einbettung ('embeddedness'): Mit der Einführung von Aspekten der Einbettung einzelner Akteure in geographische und Netzwerk-Zusammenhänge als konzeptionelle Kategorie wird ein weiterer, in der Umsetzung der GCC vernachlässigter Aspekt aufgewertet. Die Prinzipien, Strategien, Fähigkeiten und Praktiken von Unternehmen innerhalb eines GPN sind durch deren Geschichte und Herkunft ('heritage' and 'origin') geprägt. Um Prozesse innerhalb von GPN zu untersuchen, verlangt die Analyse, diese Pfadabhängigkeit ('path dependency') zu berücksichtigen (HENDERSON et al. 2002:451f). Es werden dabei zwei Formen unterschieden, eine geographische ('territorial embeddedness') und eine Netzwerk-basierte ('network embeddedness') Einbettung (HENDERSON et al. 2002:452). Die geographische Einbettung bezieht sich darauf, dass GPN in verschiedenen, spezifischen Orten 'verankert' sind bzw. sich 'verankern', deren Besonderheiten (historisch, sozial, politisch-institutionell, usw.) die (weitere) Entwicklung des Netzwerkes beeinflussen. Die Netzwerk-basierte Einbettung berücksichtigt die gewachsenen Strukturen von GPN, die sich z.B. in der Art und Intensität der Vernetzung, ihrer Stabilität oder der relativen Bedeutung des Netzwerkes für einzelne Akteure unterscheiden können. Diese, über die jeweilige geographische Einbindung der Beteiligten hinaus gewachsenen Strukturen beeinflussen die weitere Entwicklung der in das Netzwerk involvierten Akteure sowie die des Netzwerks als Ganzes. Netzwerk-basierte Einbettung wird dabei als Ergebnis eines Vertrauensbildungsprozesses resource allocations – vis-à-vis other firms in the network – decisively and consistently in its own interests. Our adoption of a network discourse implies a rejection of a zero-zum conception of power in that lead firms rarely, if ever, have a monopoly on corporate power. Rather, while power is usually asymmetrically distributed in production networks, lesser firms sometimes (and for contingent reasons) have sufficient autonomy to develop and exercise their own strategies for upgrading their operations etc. Additionally, and at least in principle, lesser firms incorporated into networks have the possibility of combining with other lesser firms to improve their collective situation within the GPN […].“ (Hervorhebungen im Original) 38 Theoretisch-konzeptioneller Teil zwischen den beteiligten Akteuren gesehen (vgl. HENDERSON et al. 2002:453).53 Diese drei konzeptionellen Kategorien (Wert, Macht, Einbettung) wirken durch die folgenden vier konzeptionellen Dimensionen hindurch54 („are 'energized' and 'live' through“), die die Rahmenbedingungen bilden, durch die Wertschöpfung (sowie deren Steigerung und Verteilung) stattfindet, Macht ausgeübt wird und sich Pfadabhängigkeiten in konkreten Praktiken konkretisieren (HENDERSON et al. 2002:453): Firmen: Das GPN Konzept betont sowohl spezifische Unterschiede zwischen verschiedenen Firmen, als auch (später und in Abgrenzung zu der Behandlung von Firmen als 'black boxes' im GCC Ansatz) die Bedeutung von Firmen-internen Aushandlungsprozessen (vgl. COE et al. 2008b:277f). Unterschiede zwischen Firmen können etwa in verschiedenen Eigentumsformen, Managementstrategien oder Wertvorstellungen liegen (HENDERSON et al. 2002:454). Einzelne Firmen wiederum bilden in der Regel keine homogenen Einheiten, sondern lassen sich selbst als ein Akteur-Netzwerk beschreiben: „Firms are themselves systems of power with constituent groups (e.g. of engineers, managers, workers, R&D staff) challenging each others’ power [...] in which different kinds of interests within the firm try to pursue their own [...] strategies“ (CAWSON et al. 1990:8,27; zitiert in COE et al. 2008b:278). Sektoren: Von Firmen, die in gleichen Sektoren tätig sind, wird erwartet, dass sie GPN hervorbringen, die sich ähnlich sind. Vergleichbare Technologien, Produkte und Marktanforderungen lassen vermuten, dass auf ähnliche Art und Weise versucht wird, Wettbewerbsvorteile zu erzielen, was wiederum zu einer ähnlichen 'Architektur' der Netzwerke führen dürfte. Auch sprechen die in einem Sektor tätigen Firmen in der Regel eine gemeinsame 'Sprache' und teilen eine gemeinsame, sektorspezifische Kommunikationsstruktur (HENDERSON et al. 2002:454; vgl. dort HESS 1998). Dabei umfasst ein Sektor nicht nur die in seinem Rahmen tätigen Hersteller und Dienstleister, sondern auch Akteure aus dem Bereich der politisch-institutionellen bzw. der kollektiven Macht, so z.B. gemeinsame Interessenvertretungen oder Bildungseinrichtungen. Es kann sich eine sektorspezifische 'governance structure' mit mit eigenen Regulierungsformen herausbilden: „These sectoral particularities create sector-specific regulational environments, were particular issues are addressed by government policies at different scales“ (HENDERSON et al. 2002:454). Netzwerke: Auf Ebene der Netzwerke wird erwartet, dass sich, geprägt durch Firmenund Sektor-spezifischen Eigenschaften bzw. deren Auswirkung auf die Art und Weise, wie Macht mobilisiert und ausgeübt wird, verschiedene Variationen von Steuerungsstrukturen ('architecture of goverance') herausbilden (HENDERSON et al. 2002:454). 53 Eine eigene Kategorie für embeddedness verdeutlicht wiederum den oben genannten Einfluss der neuen Wirtschaftssoziologie, auch wenn er im Text implizit bleibt (vgl. BAIR 2008, HESS/YEUNG 2006). 54 are 'energized' and 'live' through“ (HENDERSON et al. 2002:453) 39 Kapitel 1 Institutionen: Schließlich wirken sich institutionelle Festlegungen ('institutional arrangements') auf allen Ebenen/Skalen der GPN auf Wertschöpfung, -steigerung und -aneignung aus. Darüber hinaus können Standards (inklusive ethischer Kriterien55) auch die Arbeitsbedingungen beeinflussen und sind dadurch „central to the question of whether GPNs can deliver sustained economic and social development in the locations they incorporate“ (HENDERSON et al. 2002:455). Mit diesen umfassenden Rahmenkonzept hat der GPN Ansatz – ähnlich wie das GCC Konzept – einen anspruchsvollen und bereits in seiner Terminologie komplexen Vorschlag zur Untersuchung von globalen Produktions-, Handels- und Konsumzusammenhängen entwickelt. Vergleichbar mit der Entwicklung, Anwendung und Diskussion des GCC Ansatzes erfolgt auch bei den GPN eine kritische Auseinandersetzungen bezüglich der Grundlagen sowie der Umsetzung in empirischen Arbeiten, um 'unterentwickelte' bzw. vernachlässigte Aspekte zu rehabilitieren (vgl. COE et al. 2008b, 2008a). Diskussion Die Vernachlässigung von ursprünglich als wichtig erachteten Aspekten bzw. deren Rehabilitierung sowie die Integration neuer, in der ersten Konzeption nicht berücksichtigter Aspekte stehen im Mittelpunkt neuerer reflektierender Auseinandersetzungen mit dem GPN Ansatz. Trotz des Hauptanliegens des GPN Konzepts, die Vielschichtigkeit der Netzwerkperspektive gegenüber dem Fokus auf lineare und vertikale Prozesse bei 'Ketten'-Ansätzen in den Vordergrund zu stellen, wird den Kettenstrukturen innerhalb von GPN oft mehr Aufmerksamkeit geschenkt als nicht-linearen/horizontalen/diagonalen Beziehungen. Dies wird der Intention ('purpose') von GPN zugeschrieben, durch eine Folge wertschöpfender Schritte Güter und Dienstleistungen für den Endverbrauch bereitzustellen (COE et al. 2008b:274). Um dieser Tendenz, die sich gegen die Intention des GPN Ansatzes richtet, entgegenzuwirken, wird u.a. das Konzept der Netzkette ('netchain') aufgegriffen, verstanden als „a set of networks comprised of horizontal ties between firms within a particular industry or group, which are sequentially arranged based on vertical ties between firms in different layers […]. Netchain analysis explicitly differentiates between horizontal (transactions in the same layer) and vertical ties (transactions between layers), mapping how agents in each layer are related to each other and to agents in other layers“ (LAZZARINI et al. 2001:7, zitiert in COE et al. 2008b:275). In den neueren Reflexionen zu GPN werden des Weiteren – neben der bereits ausgeführten Integration Firmen-interner Aushandlungsprozesse – eine stärkere Berücksichtigung von Austauschprozessen ('circulation processes') sowie der Beziehungen der GPN zu ihrer 'natürlichen' Umwelt gefordert (COE et al. 2008b:276ff). Vor dem Hintergrund der die Globalisierung antreibenden, rasanten Entwicklung der Transport- und Kommunikationstechnologien gerät 55 40 „including the moral tone“ (HENDERSON et al. 2002:455) Theoretisch-konzeptioneller Teil (sowohl in der Wissenschaft, als auch in der wirtschaftlichen Praxis) oft aus dem Blick, dass die Koordination der Material- und Informationsflüsse, und damit logistische Probleme eine zentrale Rolle bei der Gestaltung von Produktionsnetzwerken einnehmen (COE et al. 2008b:276). Dies verweist wiederum auf die Schlüsselrolle von Dienstleistungen bei der Koordination von Warenketten bzw. -netzwerken (vgl. 1.1.1). Die Vernachlässigung der Beziehungen von Produktions-, Handels- und Konsumprozessen zur 'natürlichen' Umwelt wird als eine zentrale Lücke des Konzepts angesehen (COE et al. 2008b:278; vgl. DICKEN 2011:454ff, COE et al. 2007). Zum einen bezieht sich dies darauf, dass Rohstoff-gewinnende Industrien wenig berücksichtigt werden56. Zum anderen wird oft prinzipiell die Verknüpfung dieser Prozesse mit ihrer 'natürlichen' Umwelt ignoriert (COE et al. 2008b:278; vgl. HUDSON, R. 2001:300). Produktion57, Handel und Konsum stellen Anforderungen an die 'natürliche' Umwelt durch Inputs für die Produktions-, Transport- und Lagerungsprozesse in Form von natürlichen Ressourcen sowie durch Outputs in Form von Abfall und Verschmutzung (COE et al. 2008b:279). Ein weiterer Komplex, der trotz des Anspruchs des Ansatzes unter einem Aufmerksamkeitsdefizit leidet, ist die Berücksichtigung der ortsgebundenen und institutionellen Rahmenbedingungen sowie der Akteure außerhalb der unternehmerischen Machtsphäre. „Unfortunately, far too much of the production network literature pays little more than lip service to the institutional and geographical environments within which networks not only operate but also are formed and shaped.“ (COE et al. 2008b:279) So betonen neuere Überlegungen zum einen die weiterhin zentrale Rolle von Staaten sowie die wachsende Bedeutung vielschichtiger, transnationaler Regulierungsmechanismen und Abkommen; insbesondere die Aushandlung, Reichweite und unterschiedliche Auswirkung internationaler Standards im technischen, aber gerade auch im Umwelt- und sozialen Bereich (COE et al. 2008b:281f). Zum anderen soll die Rolle von ArbeiterInnen, KonsumentInnen und zivilgesellschaftlichen Organisationen mehr in den Fokus rücken. Die Darstellung von ArbeiterInnen als passiver, immanenter Teil des Produktionsprozesses ist u.a. auch der Behandlung von Firmen als 'black boxes' geschuldet und macht es – in Anschluss an Arbeiten der 'labour geographies' (vgl. z.B. HEROD 1997, 2001, CASTREE ET AL. 2004) – erforderlich, eine aktivere Rolle von ArbeitnehmerInnen anzuerkennen. ArbeiterInnen beeinflussen, wenn auch eingeschränkt durch den Einfluss anderer Akteure – aktiv ihre Position innerhalb der GPN und tragen zudem wesentlich zur Gestaltung ökonomischer Aktivitäten bei (COE et al. 2008b:285; vgl. RUTHERFORD/HOLMES 2007, LAMBERT/GILLAN 2007). Es werden u.a. Praktiken auf lokaler Ebene im Bereich der Arbeit (z.B. betriebsinterne ArbeiterInnenvertretungen) und des Konsums (z.B. Boykotte aufgrund schlechter Arbeitsbedingungen), sowie transnationale Zusammenhänge (wie z.B. ArbeiterInnen-Migration oder Gewerkschaftskampagnen) berücksichtigt (vgl. LIER 2007). 56 dies wird z.B. von Gavin Bridge am Beispiel der Ölförderung aufgegriffen (BRIDGE 2008b) 57 verstanden als „a process of materials transformation in which environmental change and the organization/disorganization of matter and energy are integral rather than incidental to economic activity“ (BRIDGE 2008a:77, zitiert in und Hervorhebung durch COE et al. 2008b:278) 41 Kapitel 1 Als 'produktionistischer' Ansatz haben die GPN oft die Sphäre des Konsums ignoriert und den erwünschten Anschluss an Überlegungen zu Orten des Konsums – insbesondere den häuslichen Bereich (vgl. LESLIE/REIMER 1999) –, zu Vorstellungen und Wissensformen über konsumierte Produkte (vgl. COOK/CRANG 1996, JACKSON 2002), zur Doppelrolle von ArbeitnehmerInnen als Produzierende und Konsumierende (vgl. RAGHURAM 2004) und zu Formen von KonsumentInnenpolitiken und -initiativen bislang nicht herstellen können (COE et al. 2008b:286f). Als Fürsprecherinnen für ArbeiterInnen und KonsumentInnen erlangen insbesondere in transnationalen Zusammenhängen zivilgesellschaftliche Nichtregierungsorganisationen zunehmenden Einfluss, indem sie Druck auf Unternehmen und politische Einrichtungen bezüglich der Steuerung und Gestaltung der GPN ausüben (COE et al. 2008b:287f; vgl. auch HUGHES 2001a, 2004, HUGHES et al. 2008). Schließlich folgt aus voranstehenden Differenzierungen und Reflexionen, die über den Tellerrand des Fokus auf den Bereich der Produktion sowie der unternehmerischen 'governance' blicken möchten, die allgemeine Forderung, GPN in einem umfassenderen, integrativen Sinne als umkämpfte, oft konfliktreiche, nicht nur ökonomische, sondern auch politisch-kulturelle Felder zu fassen (COE et al. 2008b:288ff; vgl. LEVY 2008, HUDSON 2008). Umseitige Abbildung zeigt abschließend den Versuch, einen Teil der Komplexität solcher Felder bzw. GPN graphisch darzustellen. 42 Theoretisch-konzeptioneller Teil 43 Kapitel 1 1.1.3 Weiterentwicklung oder Rückschritt? Der Global Value Chains Approach Kurz nach der ersten Formulierung des GPN Ansatzes greifen die Macher des GCC Konzepts selbst einige der Kritikpunkte an den GCC auf und präsentieren mit dem Global Value Chains Approach (GVC) einen weiteren Ansatz, um Wandlungsprozesse in der Organisation und Koordination von Produktions- und Handelszusammenhängen im Zuge der Globalisierung zu erklären (GEREFFI et al. 2005). Dieser GVC Ansatz ist inhaltlich und theoretisch sehr fokussiert, indem er sich auf die möglichen Koordinationsformen zwischen zwei Knoten einer Kette konzentriert und sich dabei praktisch ausschließlich transaktionskostenökonomischer Überlegungen bedient. Dies stellt einerseits eine Weiterentwicklung des GCC Konzepts dar; insofern, dass gegenüber der binären Unterscheidung von 'buyer-driven' und 'producer-driven' zwischen fünf verschiedenen Koordinationsformen differenziert wird. Andererseits erfährt die Konzeptualisierung des Gegenstands gegenüber den integrativen und weit gefassten Konzepten der GCC und GPN hier eine sehr starke Einschränkung, indem Aspekte wie die Einbettung, die Rolle institutioneller Rahmenbedingungen oder der Einfluss von 'Nicht-Firmen'-Akteuren weitestgehend wieder ausgeschlossen werden. Theoretisch-fachgeschichtliche Einbettung Beobachtungen zu neuen Formen wirtschaftlicher Globalisierung bilden den Ausgangspunkt der Überlegungen. Auf der einen Seite ist eine 'Fragmentierung' (vgl. ARNDT/KIERZKOWSKI 2001) der Produktionsprozesse festzustellen, verstanden als die immer weiter reichende physisch-räumliche Trennung einzelner zu einer Warenkette/einem Produktionsnetzwerk gehörenden Produktionsschritte. Auf der anderen Seite wird diese 'Desintegration der Produktion' von einer 'Integration des Handels' zusammengehalten (vgl. FEENSTRA 1998). Die 'Fragmentierung' der Produktion geht einher mit einer zunehmenden Desintegration großer Unternehmen, die immer mehr Produktionsschritte auslagern und sich auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren, was wiederum zu einem steigenden Anteil von Komponenten und Zwischenprodukten am internationalen Handel führt (vgl. YEATS 2001). Vor diesem Hintergrund stellen die Autoren die Frage in den Mittelpunkt, welche Koordinationsformen an die Stelle der hierarchischen Organisation vertikal integrierter Firmen treten: „If production is increasingly fragmented across geographic space and between firms, then how are these fragmented activities coordinated?“ (GEREFFI et al. 2005:80). Um dieser Frage nachzugehen, greift der GVC Ansatz auf transaktionskostenökonomische Überlegungen aus der Neuen Institutionenökonomik (NIÖ) zurück (W ILLIAMSON 1975, vgl. 44 Theoretisch-konzeptioneller Teil auch MAYER 2003a:25ff, DIETSCHE 2011:24ff58). Diese gehen davon aus, dass sowohl bei der Planung bzw. Initiierung wirtschaftlicher Transaktionen, als auch bei deren Durchführung Kosten entstehen. Hierzu gehören z.B. Informations-, Kommunikations-, Verhandlungs-, Kontrolloder Anpassungskosten (MAYER 2003A:25; vgl. KRÜGER 2007:16). Abhängig von verschiedenen Charakteristika der jeweiligen Transaktion können diese Kosten unterschiedlich ausgeprägt sein. Unter der Annahme, dass Unternehmen danach streben, die Transaktionskosten möglichst niedrig zu halten, steht die Frage, ob es günstiger ist, bestimmte Transaktionen selbst innerhalb des Unternehmens zu tätigen ('make') oder über den Markt einzukaufen ('buy'), im Mittelpunkt (GEREFFI et al. 2005:80f, vgl. MAYER 2003a:26, DIETSCHE 2011:24, KRÜGER 2007:15ff). Während standardisierte Produkte, deren Anforderungen leichter kommuniziert und deren Preise leichter festgelegt werden können, in der Regel günstiger über den Markt bezogen werden, gibt es bei spezifischeren und komplexeren Produkten verschiedene Gründe, den Herstellungsprozess selbst durchzuführen. Dies lässt sich zum einen darauf zurückführen, dass spezifischere Produkte an sich einen höheren Koordinationsbedarf und damit auch höhere Investitionen (z.B. in Technologie, Fachkräfte oder Betriebsstandorte) mit sich bringen. Der erhöhte Koordinations- und Investitionsbedarf kann sich auf die Komplexität der Produkte, z.B. bezüglich der für deren Fertigung erforderlichen Informationen und Technologien, sowie auf deren Einbettung in den Gesamtprozess beziehen, z.B. wenn die zeitliche Einbindung des Produkts in nachfolgende Fertigungsschritte ein sensibles 'Timing' erfordert (GEREFFI et al. 2005:80f,84, vgl. BALDWIN/CLARK 2000). Zum anderen erhöhen komplexere Transaktionen angesichts des begrenzten Einblicks der Auftraggeber in die Umsetzung des Auftrags das Risiko opportunistischen Verhaltens seitens der Auftragnehmer, was bei externer Vergabe Investitionsverluste bedeuten bzw. hohe Kontrollkosten erforderlich machen kann (GEREFFI et al. 2005:80; vgl. auch DIETSCHE 2011:24f). Während der ursprüngliche Transaktionskostenansatz nur die beiden Extremformen Markt und Hierarchie (vertikale Integration) unterscheidet59, bezieht das GVC Konzept die Möglichkeit von Netzwerkformen mit ein, die zwischen den beiden Polen liegen: „Nevertheless, recognizing the importance of transaction costs need not lead to the conclusion that complex and tightly coordinated production systems always result in vertical integration“ (GEREFFI et al. 2005:81). Dabei greift es auf Netzwerktheorien (z.B. POWELL 1990, GRANOVETTER 1985) sowie auf Überlegungen zu Kompetenzen und Lernprozessen in Firmen (basierend auf PENROSE 1959) zurück. Zum einen können die spezifischen Investitionen, das Risiko opportunistischen Verhaltens sowie die Koordinationskosten zwischen Firmen vielfältig gehandhabt und so Kosten und Risiko reduziert werden. Normen, gegenseitige Abhängigkeit, Reputation von Firmen oder Aufbau von Vertrauen (z.B. durch Wiederholung von erfolgreichen Transaktionen) ermöglichen unterschiedliche Kooperationsformen zwischen Firmen, indem sie sowohl die Kosten, als auch das Risiko einer Zusammenarbeit auf ein vertretbares Niveau senken. Zum anderen wäre es 58 vgl. zur NIÖ auch die Ausführungen in 1.1.4 zur Einbettung der Konventionentheorie 59 später werden auch 'hybride' Zwischenformen berücksichtigt und Markt und Hierarchie als Pole eine Spektrums gefasst (MAYER 2003a:27, vgl. W ILLIAMSON 1991) 45 Kapitel 1 auch zu teuer und würde die Wettbewerbsfähigkeit einer Firma mindern, wenn sie alle Teilprozesse selbst durchführen würde. Dies betrifft nicht nur die Häufigkeit der in Frage kommenden Transaktion, in dem Sinne, dass selten anfallende Transaktionen eher ausgelagert werden – ein Aspekt, den auch der Transaktionskostenansatz aufgreift, indem er Häufigkeit neben der Produktspezifizität und dem Grad bzw. der Art der Unsicherheit einer Transaktion als dritten ausschlaggebenden Faktor berücksichtigt (GEREFFI et al. 2005:81, vgl. MAYER 2003a:26, KRÜGER 2007:18). Darüber hinaus stellt der Erwerb der für die Durchführung einer Transaktion erforderlichen Kompetenzen unabhängig von der Häufigkeit und Skala dieser Transaktion einen aufwendigen Prozess dar. Die Konzentration auf 'Kernkompetenzen', die anspruchsvoll und von der Konkurrenz nicht ohne Weiteres nachzuahmen sind, kann dadurch zu einem Wettbewerbsvorteil gegenüber Firmen werden, die übermäßig diversifiziert und vertikal integriert sind (GEREFFI et al. 2005:81, vgl. PRAHALAD/HAMEL 1990)60. Aufbauend auf diesen erweiterten transaktionskostenökonomischen Überlegungen entwickelt der GVC Ansatz ein Konzept zur Beschreibung und Erklärung verschiedener Koordinationsformen industrieller Organisation, das drei Netzwerktypen zwischen Markt und Hierarchie unterscheidet (GEREFFI et al. 2005:82)61. Diese als 'governance' bezeichneten Koordinationsformen, die ihnen zugrunde liegenden Erklärungsprinzipien und die Darstellung von Wandel in der Koordination einzelner Wertschöpfungsketten werden im Folgenden vorgestellt. Dabei knüpfen die Autoren neben den transaktionskostenökonomischen und netzwerktheoretischen Überlegungen an den GCC Ansatz und dessen Unterscheidung von produzenten- und käufergesteuerten Warenketten an. Während sie das Konzept der käufergesteuerten GCC in einzelnen Fallstudien, z.B. zur Gemüse- und Schuhproduktion bestätigt sehen (vgl. DOLAN/HUMPHREY 2000, SCHMITZ/KNORRINGA 2000), legen andere Untersuchungen weitere Koordinationsformen nahe, bei denen verschiedene Typen von Zulieferern in Abhängigkeit von deren Kompetenzen und der Bedeutung ihrer Produkte im Gesamtprozess unterschieden werden (vgl. STURGEON 2002, STURGEON/LEE 2001, HUMPHREY/ SCHMITZ 2000, 2002). Kernaussagen Entsprechend der weiteren Annäherung an die Management-Literatur wird anstelle der Warenkette der Begriff der Wertschöpfungskette aufgegriffen, verstanden als „[...] the process by which technology is combined with material and labor inputs, and then processed inputs are assembled, marketed, and distributed […]“ (KOGUT 1985:15, zitiert in GEREFFI et al. 2005:79). Während hierunter weiterhin die gesamte Kette gefasst werden kann, beschränkt der GVC Ansatz sich weitestgehend auf die Betrachtung der Koordination zwischen zwei Knoten der Kette, in der Regel zwischen den Leitunternehmen und ihren direkten Zulieferern. Dabei geht 60 61 46 Überlegungen zur Ineffizienz vertikaler Integration finden sich auch in den späteren Arbeiten von Williamson (vgl. MAYER 2003a:27f) zur Diskussion zum Verhältnis von Netzwerken, Markt und Hierarchie und den Unterschieden zwischen dem Transaktionskostenansatz und der neuen Wirtschaftssoziologie vgl. BAIR 2008 Theoretisch-konzeptioneller Teil es den Autoren darum, ein möglichst einfaches und damit reduziertes Konzept mit einer gleichzeitig größtmöglichen Erklärungskraft aufzustellen, um es auch für die politisch-praktische Anwendung nutzbar zu machen62. Wenn einzelne Transaktionen nicht vertikal integriert sind, sondern zwischen Firmen ausgeführt werden, unterscheidet der GVC Ansatz neben dem Austausch über den Markt drei Formen expliziter Koordination: modulare, relationale und gebundene Wertschöpfungsketten (GEREFFI et al. 2005, vgl. KULKE 2009:135ff, KRÜGER 2007:56ff, DIETSCHE 2011:29ff). Welche dieser Koordinationsformen sich in der jeweiligen Wertschöpfungskette (bzw. in dem Glied zwischen Leitfirma und erstem Zulieferer) herausbildet, wird auf die Kombination von drei Faktoren und deren jeweiligen binären Ausprägung (stark/hoch bzw. schwach/niedrig) zurückgeführt, die sich aus den theoretischen Vorüberlegungen zu den Transaktionskosten ableiten lassen: Komplexität: Hierunter ist die Komplexität der Informationen (bzw. der Wissenstransfers) zu verstehen, die erforderlich sind, um eine bestimmte Transaktion bzw. einen bestimmten Produktionsschritt durchzuführen. Kodifizierbarkeit: Neben der Komplexität des für eine Transaktion erforderlichen Wissens stellt sich darüber hinaus die Frage, inwieweit dieses kodierbar ist, und damit, wie leicht es sich zwischen den beteiligten Akteuren austauschen bzw. kommunizieren lässt. Kompetenzniveau: Das Kompetenzniveau schließlich beschreibt die Fähigkeit der Zulieferer bzw. auch potentieller Zulieferer, die Anforderungen an eine bestimmte Transaktion zu erfüllen. Bei binärer Ausprägung der drei Faktoren ergeben sich acht Kombinationsmöglichkeiten, von denen drei ausgeschlossen werden. Bei geringer Komplexität des erforderlichen Wissens erscheint eine gleichzeitig geringe Kodifizierbarkeit als unwahrscheinlich, wodurch zwei theoretisch denkbare Varianten entfallen. Ist die Komplexität des Wissens gering und die Kodifizierbarkeit hoch, wird angenommen, dass wenig kompetente Zulieferfirmen von fähigerer Konkurrenz verdrängt und aus der Wertschöpfungskette ausgeschlossen werden (GEREFFI et al. 2005:85,87). Die verbleibenden fünf Kombinationen lassen sich den fünf Koordinationsformen Markt, modulare, relationale und gebundene Wertschöpfungsketten sowie Hierarchie mit deren jeweils typischen Eigenschaften zuordnen (GEREFFI et al. 2005:83f,86f). 62 „If a theory of global value chain governance is to be useful to policymakers, it should be parsimonious. It has to simplify and abstract from an extremely heterogeneous body of evidence, identifying the variables that play a large role in determining patterns of value chain governance while holding others at bay, at least initially. […] Our intention is to create the simplest framework that generates results relevant to real-world outcomes.“ (GEREFFI et al. 2005:82) 47 Kapitel 1 Markt: Bei geringer Komplexität, hoher Kodifizierbarkeit und hohem Kompetenzniveau der Zulieferer werden Marktbeziehungen als die passende Austauschform erwartet. Es ist wenig explizite Koordination von Nöten. Die Machtasymmetrie zwischen den Akteuren wird als niedrig angenommen. Die Kosten, Tauschpartner zu wechseln, fallen für beide Seiten gering aus. Modulare GVC ('modular'): Sind sowohl Komplexität und Kodifizierbarkeit des Wissens, als auch das Kompetenzniveau der Zulieferer hoch, werden modulare Wertschöpfungsketten erwartet. Die Zulieferer produzieren auf Anweisungen ihrer Auftraggeber. Diese Anweisungen können mehr oder weniger detailliert sein, sind auf die individuellen Bedürfnisse der Auftraggeber zugeschnitten und gehen von daher über den bloßen Marktaustausch hinaus. Die Zulieferer übernehmen die volle Verantwortung für ihre Produkte. Die Machtasymmetrie zwischen den Akteuren ist weiterhin relativ niedrig. Beide Seiten arbeiten in der Regel mit mehreren Partnern zusammen. Relationale GVC ('relational'): Sind die Komplexität des Wissens sowie das Kompetenzniveau der Zulieferer hoch, lässt sich dieses komplexe Wissen aber schlecht kodieren, gelten relationale Wertschöpfungsketten als wahrscheinlich. Durch die geringe Kodifizierbarkeit des Wissens kommt es zu komplexen Interaktionen zwischen den Akteuren. Der Austausch dieses 'tacit knowledge'63 führt zu einem hohen Koordinationsbedarf und begünstigt räumliche Nähe sowie intensive Face-to-Face-Kontakte zwischen den Partnern, die in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen. Beide Seiten investieren viel in die gegenseitige Austauschbeziehung, entsprechend sind die Kosten für einen Partnerwechsel sehr hoch. Es wird von einer symmetrischen Machtbalance zwischen mehr oder weniger gleichen Partnern ausgegangen. Risikomindernden Mechanismen wie der Ruf der Akteure, räumliche und soziale Nähe, differenzierte Verträge oder auch familiäre oder ethnische Bindungen wird eine große Bedeutung zugeschrieben. Beide Seiten können von den jeweiligen Kernkompetenzen der anderen profitieren. Gebundene GVC ('captive'): Sind Komplexität und Kodifizierbarkeit hoch, die Kompetenzen der Zulieferer aber eher gering, liegen gebundene Wertschöpfungsketten nahe. Eine große Anzahl von Zulieferern hängt hier von wenigen großen Käufern ab. Angesichts der Komplexität der Anforderungen und der schwachen Kompetenz der Zulieferer besteht ein hoher Interventions- und Kontrollbedarf seitens der fokalen Unternehmen. Die Zulieferer führen in der Regel nur sehr spezifische, eng umfasste Transaktionen aus und sind bezüglich übergeordneter Aspekte wie Logistik, Technologien oder Design von den Käufern abhängig. Die Machtasymmetrie zwischen Zulieferern und 63 48 vgl. KULKE 2009:126,136 Theoretisch-konzeptioneller Teil Leitunternehmen ist hoch, Macht wird von den Käufern direkt über ihre Zulieferer ausgeübt. Durch ihre Dominanz können die Käufer sowohl opportunistischem Verhalten, als auch alternativen Entwicklungspfaden ihrer Zulieferer vorbeugen. Hierarchie (vertikale Integration): Wenn die Komplexität des erforderlichen Wissens hoch und gleichzeitig schwer kodierbar ist, sich aber keine kompetenten Zulieferer finden, ist es für das Leitunternehmen das Beste, die Transaktion selbst durchzuführen. Dadurch behält es die Kontrolle über die Koordination komplexer Prozesse und insbesondere über die hierbei benötigten Ressourcen, darunter auch geistiges Eigentum. Insgesamt nehmen sowohl die Erfordernis expliziter Koordination, als auch die Machtasymmetrie vom Markt zur Hierarchie hin zu. Neben der Identifizierung dieser fünf Formen der 'global value chain governance' und der Bereitstellung der drei wichtigsten Faktoren, die ihre Herausbildung beeinflussen, geht es dem GVC Ansatz darum, Wandlungsprozesse bei der Koordination der Wertschöpfungsketten nicht nur zu erklären, sondern zu 'antizipieren' – nicht zuletzt, um entwicklungspolitisch gestalterisch auf diese Prozesse einwirken zu können (GEREFFI et al. 2005:90). Folgt man dem Modell des GVC Konzepts, kann sich die Koordinationsweise einer Wertschöpfungskette dann wandeln, wenn sich die Ausprägung mindestens eines der drei als besonders relevant erachteten Faktoren ändert. Im Einzelnen werden folgende Szenarien genannt (GEREFFI et al. 2005:90, vgl. Abbildung 10): Erhöht sich die Komplexität des erforderlichen Wissens für eine Transaktion und reduziert dies gleichzeitig bzw. dadurch die Kompetenz der Zulieferer gegenüber den neuen Anforderungen, findet ein Übergang von Marktaustausch hin zu einer gebundenen Wertschöpfungskette statt. Verringert sich die Komplexität des erforderlichen Wissens und wird es dadurch gleichzeitig leichter kodierbar, ist ein Übergang von einer relationalen Koordination zu Marktbeziehungen zu erwarten. Bei Erleichterung (bzw. Erschwerung) der Kodifizierbarkeit kann ein Wechsel von relationaler zu modularer Koordination (bzw. umgekehrt) eintreten. Verbessert (bzw. verschlechtert) sich das Kompetenzniveau der Zulieferer, können sie auf modulare statt gebundene Koordination hoffen (bzw. müssen sie den Übergang von einer modularen zu einer gebundenen Kette fürchten). 49 Kapitel 1 Anhand von Fallstudien zeigen die Autoren beobachtete Übergänge verschiedener Koordinationsformen auf, von Hierarchie zu Marktaustausch im Fall der Fahrradherstellung, von gebundener zu relationaler Koordination in der Bekleidungsindustrie, von Marktbeziehungen zu Formen expliziter Koordination im Bereich des Gemüseanbaus, von Hierarchie zu modularen Wertschöpfungsketten in der US-Elektronikindustrie (GEREFFI et al. 2005:90ff). Die Beispiele sollen die Dynamik der GVC illustrieren, mit der sich Koordinationsformen verändern und durch die innerhalb von einzelnen sowie im Vergleich von verschiedenen Wertschöpfungsketten gleichzeitig unterschiedliche Koordinationsweisen auftreten können. In den Ausformulierungen der Beispiele deuten sich zum einen wichtige komplementäre Aspekte an, die durch die drei Erklärungsvariablen Komplexität, Kodifizierbarkeit und Kompetenz nicht abgedeckt werden. So wird die bedeutende Rolle von Handelsregulierungen, wie z.B. dem Multi-Faser-Abkommen, im Bereich der Bekleidungsindustrie genannt, „[...] just one example of how variables other than the three we have identified work to shape the architecture of cross-border economic activity“ (GEREFFI et al. 2005:92). In der Gemüseproduktion waren es neben veränderten Nachfragemustern bzw. Marketingstrategien ebenfalls komplexer werdende Regulierungen, vor allem im Bereich der Nahrungsmit50 Theoretisch-konzeptioneller Teil telsicherheit, aber auch durch Umwelt- und Sozialstandards, die dazu führten, dass explizite, über den Marktmechanismus hinaus reichende Koordination, z.B. in Form von Zertifizierungen und Audits, zugenommen hat (GEREFFI et al. 2005:92ff). Zum anderen führt die dargestellte Dynamik auf die zentrale Frage hin, wie die jeweiligen Ausprägungen der drei Variablen zustande kommen und gestaltet werden: „Value chain governance patterns are not static or strictly associated with particular industries. They depend on the details of how interactions between value chain actors are managed, and how technologies are applied to design, production and the governance of the value chain itself. […] How and why do the complexity of information, the ability to codify information, and supplier competence change?“ (GEREFFI et al. 2005:96, Hervorhebungen SD). Die Autoren zeigen abschließend in Ansätzen einige mögliche Antworten auf diese 'Wie'-Fragen auf, die insbesondere in den Strategien der beteiligten Akteure liegen. Auf der einen Seite können Leitunternehmen danach streben, entweder die Anforderungen an ihre Zulieferer zu erhöhen, um komplexere Produkte oder Dienstleistungen von diesen zu erhalten; oder auch danach, durch die Entwicklung von Produkt- und Prozessstandards diese Komplexität zu reduzieren bzw. die Kodifizierbarkeit der Transaktionen zu erhöhen (GEREFFI et al. 2005:84f,96). Auf der anderen Seite streben Zulieferer danach, ihre Kompetenzen durch Lernprozesse zu erhöhen. Liegt hierin ein Potential für 'upgrading'-Prozesse, droht gleichzeitig die Gefahr von Rückschlägen, wenn sich die Anforderungen der Käufer ändern oder neue Technologien eingeführt werden. Darüber hinaus besteht ein ständiges Spannungsverhältnis zwischen Kodierung und Innovationen, durch die erzielte Gleichgewichte und Erleichterungen gestört werden können: „new technologies can restart the clock on the process of codification“ (GEREFFI et al. 2005:96, vgl. STORPER 1995, DAVID 1995). Angesichts der Rolle von Standards bei der Koordination von Wertschöpfungsketten und der Tatsache, dass diese Standards stets neu ausgehandelt werden, liegt in der Partizipation an diesen Aushandlungsprozessen ein Schlüssel sowohl für einzelne Firmen, als auch für politische Initiativen, den Wandel von GVC bzw. deren Koordination zu beeinflussen: „Since standards and protocols are dynamic, major advantages accrue to those actors that actively participate in the rule-setting process, which favors established actors and locations“ (GEREFFI et al. 2005:97, vgl. STURGEON 2003). Damit wird mit den Standards eine zentrale institutionelle Dimension identifiziert, durch die die drei Erklärungsvariablen des Ansatzes – und zwar nicht nur von Firmen 64 – beeinflusst werden können: „These variables [...] often depend on the effectiveness of industry actors and the social processes surrounding the development, dissemination, and adoption of standards and other codification schemes. It is the latter set of determinants, in particular, that opens the door for policy interventions and corporate strategy“ (GEREFFI et al. 2005:98, Hervorhebungen SD). 64 vgl. hierzu auch: „Institutions, both public and private, can both define grades and standards and (in some cases) certify that products comply with them. The development of process standards and certification in relation to quality, labor and environmental outcomes perform similar functions.“ (GEREFFI et al. 2005:85; vgl. REARDON et al. 2001, NADVI/WÄLTRING 2002) 51 Kapitel 1 Insgesamt liegt die Ausprägung der drei Faktoren Komplexität, Kodifizierbarkeit und Kompetenz demnach neben einigen produktspezifischen und technischen Einschränkungen also durchaus im Gestaltungsspielraum der an der Koordination einer Wertschöpfungskette beteiligten Akteure, zu denen neben den Firmen auch staatliche und zivilgesellschaftliche Organisationen gehören können. Diskussion Unter den drei großen Ansätzen aus dem Bereich der Literatur zu Warenketten und -netzwerken ist das GVC Konzept nicht nur das vielleicht prominenteste, sondern – wie voranstehende Ausführungen andeuten – auch das problematischste; nicht zuletzt dadurch, dass in der Rezeption des Ansatzes meist nur die drei Erklärungsvariablen und die aus diesen resultierenden Koordinationsformen aufgegriffen werden, während die ansatzweise angestellten Überlegungen, wie die konkreten Ausprägungen und mögliche Veränderungen der Variablen zustande kommen können, weitestgehend vernachlässigt werden. Vor diesem Hintergrund ist es zumindest zweifelhaft, vom GVC Konzept als eine 'Weiterentwicklung' des GCC Ansatzes zu einem 'differenzierteren' Konzept zu sprechen65. Die Problematik ist wohl im Wesentlichen auf die Spannung zurückzuführen, die durch den Versuch entsteht, einerseits ein möglichst einfaches, reduziertes Konzept zu entwickeln, das in der politischen Praxis Anwendung finden soll, das sich andererseits aber in einem wissenschaftlichen Kontext verortet und zur Erklärung globaler Produktions-, Handels- und Konsumzusammenhänge herangezogen wird. In seinem Streben nach Vereinfachung konterkariert das GVC Konzept in mehrerlei Hinsicht die integrativen Bemühungen der GCC und GPN Ansätze. Es fokussiert nicht nur auf die Koordination zwischen zwei Knoten einer Kette – nämlich die Leitfirmen und ihre Hauptzulieferer –, wodurch die Gesamtheit der horizontalen, vertikalen und diagonalen Zusammenhänge und die in diese eingebetteten Akteure vernachlässigt werden66. Auch werden Überlegungen zu Netzwerken, die über ein der Transaktionskostenökonomik verhaftetes Verständnis von Netzwerken als Zwischenformen zwischen Markt und vertikaler Integration hinaus gehen67, nicht systematisch integriert und die Dimension institutioneller Rahmenbedingungen sowie die Berücksichtigung von 'Nicht-Firmen'-Akteuren explizit ausgeschlossen: „Clearly, history, institutions, geographic and social contexts, the evolving rules of the game, and path dependence matter; and many factors will influence how firms and group of firms are linked in the global economy. Nevertheless, a simple framework is useful because it isolates key variables and provides a clear view of fundamental forces underlying specific empirical situations that might otherwise be overlooked“ (GEREFFI et al. 2005:82). 65 66 67 52 z.B. bei KRÜGER 2007:55, DIETSCHE 2011:29 Obgleich diese Zusammenhänge nicht vollständig aus dem Blick geraten, sind die Hinweise darauf, dass „it is important not to ignore the actors at both ends of the value chain“ (GEREFFI et al. 2005:98) und dass z.B. auch durchschnittliche Konsumenten „far from passive“ (GEREFFI et al. 2005:98, mit Verweis auf LESLIE/REIMER 1999) sind, in keinster Weise systematisch in das Konzept eingebunden. trotz der (bloßen) Nennung des GPN Ansatzes (GEREFFI et al. 2005:81; HENDERSON et al. 2002, DICKEN et al. 2001) Theoretisch-konzeptioneller Teil Die Nützlichkeit eines solchen Modells darf aus wissenschaftlicher Sicht in Frage gestellt werden, insbesondere dann, wenn für die Klärung der Ursachen, die zur Ausprägung der drei Variablen bzw. deren Veränderung führen, alte und neue, in jedem Fall aber ergänzende Konzepte herangezogen werden müssen. Nichtsdestotrotz können die herausgehobenen Variablen weiterführenden Untersuchungen als Ausgangspunkt dienen bei der Frage danach, wie ihre Ausprägung zustande kommt. Wie Jennifer Bair bemerkt, zeigen Martin Hess und Neil Coe (2004) am Beispiel des Mobilfunktelefonsektors „[...] that one of the independent variables in the GVC governance theory – the extent to which industry standards enable the codification of information to be exchanged between firms – is itself shaped by a set of political processes, including efforts of national governments as well as corporate actors to shape the standard-setting agenda“ (BAIR 2008:357). Dies macht deutlich, dass die im GVC Ansatz als unabhängige Variablen konzipierten Faktoren „[...] can nevertheless be analysed as an outcome of prior struggles to establish control over the value chain, thus highlighting how other forms of power interact with the 'coordination power' at the core of the GVC model of governance“ (BAIR 2008:357f). Dieses 'model of governance' des GVC Ansatzes unterscheidet sich wesentlich von dem des GCC Konzepts. An die Stelle von 'governance as driving' tritt hier das Konzept von 'governance as coordination' (GIBBON et al. 2008:322ff). Statt der Frage nach der Position (sowie ggf. den Strategien und Praktiken) dominanter Akteure, durch die sie Einfluss auf die gesamte Kette ausüben, interessiert nun die Koordination des Austauschs zwischen einzelnen Firmen in nur einem Glied der Kette. Dabei stehen strukturelle Einflussgrößen in Form der drei Erklärungsvariablen im Vordergrund und weniger intentionale oder strategische Handlungen der Firmen. Die Einengung des Fokus auf nur ein Kettenglied und die weitestgehende Beschränkung auf den Transaktionskostenansatz „[...] marks a sharp break from the 'governance as driving' formulation, and even more so from the early commodity chains research agenda of world-systems theory“ (GIBBON et al. 2008:323). Die Thematisierung von Machtverhältnissen und Ungleichheit durch das gesamte Kettengeflecht hindurch wird aufgegeben zugunsten der Machtbeziehung in bestimmten Koordinationsprozessen zwischen Firmen. Dadurch droht einer der Vorteile des Kettenkonzepts, nämlich die Verdeutlichung der Auswirkungen von Koordination, Strategien und Praktiken mächtiger Akteure auf die gesamte Kette, aus dem Blick zu geraten und sich auf das Verhältnis von Leitunternehmen zu ihren unmittelbaren Zulieferern zu reduzieren (GIBBON et al. 2008:323f, vgl. GIBBON/PONTE 2005). Die starke Fokussierung des GVC Ansatzes und die hier aufgeführten Kritikpunkte sind ein Ausgangspunkt dafür, dass sich nach GCC, GPN und GVC eine weitere Generation im Rahmen der Literatur zu Warenketten und -netzwerken herausgebildet hat, die (meist schon zeitlich parallel zur Ausformulierung von GPN und GVC vorgenommene) Verknüpfungen der drei 53 Kapitel 1 Ansätze mit weiteren Konzepten aufgreift, um den Schwachpunkten ihrer Vorgänger und insbesondere des GVC Ansatzes zu begegnen. Drei dieser Verknüpfungen werden im Folgenden vorgestellt. 1.1.4 Erweiterungen der 'klassischen' Ansätze In den voranstehenden Unterkapiteln wurden die drei zentralen Ansätze der Literatur zu Warenketten und -netzwerken hinsichtlich ihrer theoretisch-fachgeschichtlichen Einbettung und ihrer Kernaussagen vorgestellt sowie wesentliche Stärken, Schwächen und Besonderheiten bei ihrer Konzeptualisierung sowie ihrer Anwendung diskutiert. Mitunter als Reaktion auf ihre Schwächen bzw. Engpässe finden sich in auf diese Ansätze Bezug nehmenden Arbeiten weitere Konzepte, mit denen GCC, GPN oder GVC kombiniert werden. Drei dieser Kombinationen werden hier aufgegriffen. Zunächst ergänzt Christian Dietsche (2011) aufbauend auf Arbeiten von Boris Braun und Mark Starmanns sowie nach Erörterung von GCC, GVC und GPN diese um den Stakeholder-Ansatz (vgl. FREEMAN 1984; BRAUN 2003, STARMANNS/BRAUN 2006, BRAUN/STARMANNS 2009), um die Konzeptualisierung der 'Nicht-Firmen'-Akteure sowie die Berücksichtigung der institutionellen Rahmenbedingungen und der Einflüsse auf die 'natürliche' Umwelt schärfer zu fassen. In Anknüpfung an die zuvor nicht systematisch aufgegriffene Frage, auf welche Art und Weise Akteure versuchen, Ketten und Netzwerken zu steuern, also welche Konzepte, Strategien, Instrumente und Praktiken der 'governance' zugrunde liegen, eröffnet sich das dritte Steuerungskonzept von „governance as 'normalization'“ (GIBBON et al. 2008:324ff). Die zwei Ansätze, mit denen GCC/GPN/GVC hier kombiniert werden, sind zum einen die Konventionentheorie (z.B. BOLTANSKI/THÉVENOT 1991, SYLVANDER 1995), zum anderen die Gouvernementalitätsforschung (vgl. GIBBON/PONTE 2008, HUGHES 2001a). In der Diskussion der Kombination von GVC und Gouvernementalitätsforschung wird schließlich noch das Konzept des virtualism (CARRIER/MILLER 2003, vgl. HUGHES 2004) aufgegriffen sowie eine Erweiterung um eine diskursanalytische Perspektive vorgenommen. 1.1.4.1 Erweiterung um den Stakeholder-Ansatz In seiner Dissertation zur Umweltgovernance in globalen Wertschöpfungsketten am Beispiel des Handels mit tropischen Garnelen und Ledererzeugnissen ergänzt Christian Dietsche (2011) in Anknüpfung an Boris Braun und Mark Starmanns Konzepte zu Warenketten und -netzwerken um den Stakeholder-Ansatz (vgl. BRAUN 2003, STARMANNS/BRAUN 2006, DIETSCHE 2009, BRAUN/STARMANNS 2009). Der Stakeholder-Ansatz kann helfen, den Blick für die unterschiedlichen 'Nicht-Firmen'-Akteure zu schärfen sowie institutionelle Einflüsse und die Beziehungen von Produktions-, Handels- und Konsumzusammenhängen zur 'natürlichen' 54 Theoretisch-konzeptioneller Teil Umwelt in die Analyse einzubinden. Gemäß der Unterscheidung von 'governance as driving' und 'governance as coordination' versteht Dietsche Governance im Sinne des GCC Ansatzes als die Festlegung und Durchsetzung von Teilnahmebedingungen und Spielregeln bezogen auf die gesamte Wertschöpfungskette, wobei den Leitunternehmen (falls vorhanden) eine dominante Rolle zugesprochen wird (DIETSCHE 2011:33). Entsprechend meint Umweltgovernance hier „die Festlegung und Durchsetzung umweltbezogener 'Spielregeln', mit denen das Leitunternehmen auf produktionsbedingte Umweltbelastungen in der Wertschöpfungskette einwirken kann“ (DIETSCHE 2011:55). Umweltgovernance kann, muss aber nicht zu einer Verbesserung der Umweltperformance von Unternehmen im Sinne eines 'environmental upgrading' führen (DIETSCHE 2011:55, vgl. JEPPESEN/HANSEN 2004, KNUTSEN 2000). Unter Koordination wird dagegen die Organisation der Austausch- und Koordinationsprozesse zwischen zwei Knoten der Wertschöpfungskette im Sinne des GVC Ansatzes verstanden. Dabei kann die übergreifende Governance die jeweiligen Koordinationsformen der einzelnen Kettenglieder beeinflussen bzw. verändern (DIETSCHE 2011:33f). In Anlehnung an institutionentheoretische Überlegungen bilden die Teilnahmebedingungen und Spielregeln die im Kontext des „organisatorischen Felds“ der Wertschöpfungskette wirksamen Institutionen, die durch die beteiligten Organisationen ausgehandelt und durchgesetzt werden (DIETSCHE 2011:41f, vgl. NORTH 1992, DIMAGGIO/POWELL 1983, WALGENBACH 2006). Als Institutionen gelten dabei sowohl kodifizierte Gesetze, Standards und Kriterien, als auch sogenannte „weichere“, nicht-kodifizierte Aspekte wie kulturelle Werte, vertrauensbasierte Vereinbarungen oder gewohnheitsbasierte Konventionen (DIETSCHE 2011:35ff). Es werden vier „Mechanismen der Governance“ unterschieden, durch die der Umgang der Akteure mit Institutionen gestaltet wird: die Festlegung von Standards (bzw. von Institutionen im Allgemeinen), die Überwachung ihrer Einhaltung, die technisch-organisatorische Unterstützung der Zulieferer bei der Standardumsetzung sowie die (positive oder negative) Sanktionierung bei Standardeinhaltung bzw. Nicht-Einhaltung (DIETSCHE 2011:55, vgl. KAPLINSKY/MORRIS 2011:30ff, STAMM 2004:22). An der Aushandlung und Durchsetzung der Institutionen, an ihrer Produktion, Reproduktion oder Transformation, sind unterschiedliche Akteure auf unterschiedliche Weise beteiligt. Um diese Akteure und die Art ihrer Beteiligung besser fassen zu können, wird der aus der Managementliteratur stammende Stakeholder-Ansatz bemüht. 'Stakeholder' eines Unternehmens sind „alle Individuen oder Gruppen, die die Erreichung der Unternehmensziele beeinflussen können oder durch das Unternehmen beeinflusst werden. Neben wirtschaftlichen Akteuren wie Anteilseignern, Lieferanten oder Kunden umfasst der Stakeholderbegriff damit auch nichtmarktliche Gruppen, etwa staatliche Akteure, Medien oder zivilgesellschaftliche Organisationen“ (DIETSCHE 2011:46, vgl. FREEMAN 1984:46). Die Stakeholder können unterschiedliche Ansprüche ('stakes') an ein Unternehmen richten. Dazu werden Interessen ('interests'), gesetzliche oder moralische Rechte ('legal or moral rights') und Eigentumsrechte ('ownership') gezählt (DIETSCHE 2011:46, vgl. CAROLL/BUCHHOLTZ 2006:83f). Gemäß der Definition werden jedoch nicht nur diejenigen Akteure einbezogen, die Ansprüche an Unternehmen stellen und aktiv Einfluss ausüben, sondern umgekehrt auch diejenigen, die ihrerseits von den Unterneh55 Kapitel 1 men beeinflusst werden. Daraus werden einerseits ethische oder moralische Verpflichtungen der Unternehmen gegenüber ihren Stakeholdern abgeleitet (DIETSCHE 2011:46, vgl. DONALDSON/PRESTON 1995, FREEMAN 1994, PHILLIPS 2003, WEISS 2003). Andererseits ergibt sich aus der Möglichkeit, dass Stakeholder den Erfolg eines Unternehmens negativ beeinflussen bzw. ihn gefährden können, aus unternehmerischer Sicht die Notwendigkeit, Stakeholderansprüche zu managen. Ein solches Management kann darauf zielen, Risiken zu minimieren und dadurch den Profit zu maximieren (DIETSCHE 2011:46f, vgl. BERMAN et al. 1999). Es gibt verschiedenste Ansätze, die unterschiedlichen Stakeholder zu kategorisieren (DIETSCHE 2011:47ff). Aus instrumentell-unternehmerischer Sicht steht dabei die Macht der Stakeholder im Vordergrund, insbesondere bezüglich des Zugangs zu knappen Ressourcen. In Anlehnung an die resource dependence theory (vgl. PFEFFER/SALANCIK 1978) besteht hier für Firmen die Herausforderung, „knappe Ressourcen im Austausch mit ihren Stakeholdern zu beziehen“ (DIETSCHE 2011:47). Je knapper diese – seien es finanzielle oder physische – Ressourcen (vgl. NEVILLE et al. 2005) und je bedeutender sie für ein Unternehmen sind, desto größer ist die Macht der über diese Ressourcen verfügenden Stakeholder. Dabei ist Macht als eine relationale Eigenschaft konzipiert, die aus der Beziehung zwischen Organisationen heraus entsteht (DIETSCHE 2011:47, vgl. FROOMAN/MURRELL 2005). Nach der Art und Weise, wie sie ihre Macht ausüben, werden Stakeholder, die sich der Strategie der Ressourcenvorenthaltung ('withholding strategies') bedienen, von solchen, die Ressourcen unter bestimmten Bedingungen zur Verfügung stellen ('usage strategies'), unterschieden (DIETSCHE 2011:49, vgl. FROOMAN 1999). Abhängig von ihrer Macht und Legitimität sowie der Dringlichkeit des jeweiligen Zusammenhangs werden Stakeholder nach Relevanz ('salience') für das Unternehmen differenziert, also z.B. ob sie vernachlässigt werden oder dem Unternehmen unter Umständen gefährlich werden können (DIETSCHE 2011:48f, vgl. MITCHELL et al. 1997). Bezüglich der Interaktion des Unternehmens besonders mit den relevanten Stakeholdern unterscheiden sich gemäß deren Verhaltens bzw. deren Strategie 'unterstützende' bzw. kooperative Stakeholder einerseits, von 'anspruchsvollen' oder 'problematischen' Stakeholder andererseits (DIETSCHE 2011:48f, vgl. SAVAGE et al. 1991, BRAUN 2003). Analog zu den drei Machtsphären der GPN werden Stakeholder darüber hinaus nach ihrer Zugehörigkeit zu einem der drei „Lenkungssysteme“ Markt, Politik und Öffentlichkeit kategorisiert (DIETSCHE 2011:47, vgl. DYLLICK/BELZ 1995, DYLLICK 1989). Daran anknüpfend kann außerdem nach der Art der Verbindungen von Stakeholdern zu einem Unternehmen gefragt werden. Neben den Input-Output-Beziehungen als funktionale Verbindungen ('functional linkages') werden authorisierende Verbindungen ('enabling linkages') zu politischen und juristischen Akteuren, Beziehungen zu Medien, Nichtregierungsorganisationen und anderen Gruppen als diffuse Verbindungen ('diffused linkages'), sowie mit anderen Unternehmen gemeinsam wahrgenommene Interessenvertretungen als normative Verbindungen ('normative linkages') aufgeführt (DIETSCHE 2011:48, vgl. GRUNIG/HUNT 1984). Um im Sinne einer Aufhebung der 'firms as black boxes'-Perspektive auch unternehmensinterne Prozesse zu berücksichtigen, können neben externen auch organisationsinterne Stakeholder betrachtet werden (DIETSCHE 2011:48, vgl. FREEMAN 1984). Die verschiedenen Kategorisierungsversuche sind in 56 Theoretisch-konzeptioneller Teil der Regel komplementär und können miteinander kombiniert werden, sodass z.B. Stakeholder identifizierbar sind, die sich dem öffentlichen Lenkungssystem zuordnen lassen, in Form von medialen Kampagnen in einer diffusen Verbindung zu dem betroffenen Unternehmen stehen und sich dabei durch ihren Bekanntheitsgrad, ihre Anerkennung und ihre kritische Haltung gegenüber dem Unternehmen als relevante und gleichzeitig anspruchsvolle, fordernde sowie problematische Akteure erweisen. Während der klassische Stakeholder-Ansatz sich nur auf die „dyadischen“ Beziehungen zwischen einem Unternehmen und seinen Stakeholdern bezieht, können darüber hinaus auch Stakeholder-Netzwerke einbezogen werden, durch die u.U. auch solche Akteure Einfluss nehmen bzw. relevant werden, die nicht direkt von einem Unternehmen betroffen sind (DIETSCHE 2011:53, vgl. ROWLEY 1997). So können etwa von einem Unternehmen negativ betroffene Stakeholder, die alleine über nur geringe Einflussmöglichkeiten verfügen, durch Koalition mit mächtigeren Partnern ihre Relevanz erhöhen; z.B. „sind Umweltorganisationen in Entwicklungsländern zwar in der Regel nicht in der Lage, europäische Unternehmen direkt anzugreifen. Sie können jedoch durch Kooperation mit einflussreicheren internationalen Organisationen ihre Ansprüche auf indirektem Wege an das Unternehmen übermitteln, Druck auf politische Entscheidungsträger ausüben und Konsumenten entsprechend beeinflussen“ (DIETSCHE 2011:53). Damit erweitert sich der Blick von seinem ursprünglichen Fokus auf einzelne Firmen hin zu umfassenderen Zusammenhängen. Um das Verhältnis von Unternehmen in Wertschöpfungsketten zur 'natürlichen' Umwelt in den Mittelpunkt zu stellen, konzentriert sich Dietsche schließlich auf die Umweltstakeholder eines Unternehmens, verstanden als alle Akteure, „die auf die Umweltperformance eines Unternehmens einwirken können“ (DIETSCHE 2011:49). Umweltstakeholder können entsprechend der oben aufgeführten Kategorisierungsversuche weiter differenziert werden. Dabei werden systematisch unterschiedliche Akteure wie „der Staat, Käufer, Wettbewerber, Konsumenten, die lokale Gemeinschaft, Umweltorganisationen und Unternehmensverbände“ einbezogen, vor allem externe, anspruchsvolle und problematische, unterteilt in staatliche, gesellschaftliche und unternehmerische Stakeholder (DIETSCHE 2011:49ff). Damit präsentiert sich der Stakeholder-Ansatz als ein hilfreiches Konzept, um zusammen mit der Perspektive der Räumlichkeit und Raumwirksamkeit der Wertschöpfungsketten zentrale Anliegen insbesondere des GPN Ansatzes zu präzisieren: die differenzierte Betrachtung der in die Netzwerke involvierten Akteure aus allen drei 'Lenkungssystemen' bzw. 'Machtbereichen', die Berücksichtigung der raumgebundenen Umweltwirksamkeit von Wertschöpfungsketten bzw. -netzwerken, sowie die Einbindung institutioneller Kontexte in die Analyse (vgl. DIETSCHE 2011:54f). Dadurch, dass Produktion, Reproduktion oder Transformation von Institutionen als durch die Akteure vermittelt betrachtet werden, kann der Blick nicht nur darauf gerichtet werden, wie Institutionen wirken, sondern auch darauf, wie sie zustande kommen und Veränderungen unterworfen sind. Der Frage, auf welche Art und Weise, auf Grundlage welcher Prinzipien, Konzepte, Strategien und Techniken die Gestaltung und Steuerung der Netzwerke erfolgen, denen diese Akteure und die aus deren Zusammenspiel entstandenen Institutionen angehören, wenden sich die fol57 Kapitel 1 genden beiden Ansätze zu, die dem Konzept von 'governance as „normalization“' zugeordnet werden können (GIBBON et al. 2008:324ff). 1.1.4.2 Erweiterung um die Konventionentheorie „Normalization“ meint nicht Normalisierung im Sinne von 'die Dinge normal, nicht außergewöhnlich zu machen', sondern Normierung im Sinne eines Unterfangens, bestimmte Praktiken so (neu) zu ordnen und zu gestalten, dass sie eine bestimmte Idee, einen erwünschten Standard oder eine erwartete Norm widerspiegeln bzw. materialisieren68. Das Konzept der 'governance as normalization' betont – durchaus auch in kritischer Reflexion des GVC Ansatzes – die „diskursive Dimension“ bei der Formung von Beziehungen und Netzwerken wie denen zwischen Leitfirmen und Zulieferern, basierend auf der Annahme, dass Faktoren wie das für Transaktionen erforderliche Wissen oder die Kompetenzen von Akteuren sozial bzw. diskursiv konstruiert sind und (immer wieder neu) ausgehandelt werden (GIBBON et al. 2008:324). Eines der Konzepte, mit denen GCC bzw. später GVC erweitert werden, um die Frage in den Vordergrund zu stellen, wie die Gestaltung und Steuerung von Wertschöpfungsketten und -netzwerken erfolgt, ist die Konventionentheorie (vgl. z.B. RENARD 2003, 2005, RAYNOLDS 2004, PONTE/GIBBON 2005). Einbettung Mit Überschneidungen zum o.g. französischen Filière-Ansatz hat die Konventionentheorie ihren Ursprung in Überlegungen der Neuen Institutionenökonomik (NIÖ) sowie der Regulationstheorie (vgl. RAIKES et al. 2000). Grundlegend für die NIÖ ist die Ergänzung bzw. Relativierung klassischer ökonomischer Annahmen von vollständiger Information und Rationalität als Eigenschaft der ökonomisch Handelnden sowie vom Preismechanismus als das ausschließliche Regulierungsprinzip ökonomischen Austauschs. Hierzu gehört die Einführung von Annahmen zu unvollständiger Information, begrenzter Rationalität, deren asymmetrische Verteilung auf ökonomische Akteure sowie Transformationskosten und deren Handhabe durch über den Preismechanismus hinaus reichende Koordinations- und Regulierungsformen, insbesondere mit Hilfe verschiedener formeller wie informeller Institutionen als Spielregeln ökonomischen Austauschs69. Entsprechend dieser Bemühungen um eine realistischere Fassung des Ökonomischen versucht sich die Konventionentheorie darin, soziologische Erwägungen in die ökonomische Analyse einzuführen, die entgegen einer individualisierten Konzeption der Akteure sowie einer Überhöhung der Bedeutung des Preismechanismus stehen (RENARD 2003:87, vgl. RALLET 1993, WILKINSON 1997). Dabei stellt die Theorie den Aspekt der Qualität - „one of the spheres in which economic activity is regulated by procedures that go beyond regulation by 68 69 58 „a project of realigning a given practice so that it mirrors or materializes a standard or norm“ (GIBBON et al. 2008:324) vgl. zur NIÖ auch 1.1.3 (s. Fußnote 58) Theoretisch-konzeptioneller Teil price“ – als fundamentales Konzept ökonomischer Analyse in den Mittelpunkt (RENARD 2003:87). Die Festlegung von Qualität erfolgt in Form von Aushandlungsprozessen, die Koordination zwischen den beteiligten Akteuren erforderlich macht und durch die Institutionen bzw. Konventionen zur Regulierung der ausgehandelten Qualitätsvorstellungen entstehen (RENARD 2003:87, SYLVANDER 1995:171). Neben diesen grundsätzlichen Überlegungen zur (Re)Konzipierung des Ökonomischen spielen regulationstheoretische Betrachtungen zu historischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte eine Rolle (vgl. z.B. AGLIETTA 1979). Die beobachtete Ablösung einer fordistischen Phase der Massenproduktion und des Massenkonsums im Rahmen eines relativ stabilen internationalen politisch-institutionellen Regulationsregimes durch Deregulierung, flexible Spezialisierung, Desintegration der Produktion und Integration des Handels als Anzeichen einer neuen, post-fordistischen Phase lässt dem Aspekt der Qualität eine neue Qualität zukommen (vgl. RAIKES et al. 2000:408, RENARD 2003:87, RAYNOLDS 2004:728f, PONTE 2002, NICOLAS/VALCESCHINI 1995). Während in der fordistischen Phase Fragen der Quantität im Mittelpunkt stehen, rückt in der post-fordistischen Phase die Festlegung von Qualität in den Vordergrund (RAIKES et al. 2000:408). Zum einen kommt es im Zuge zunehmender Deregulierungs- und staatlicher Rückzugstendenzen zu einer meist privat gesteuerten Re-Regulierung globaler wirtschaftlicher Aktivitäten, bei der Qualitätsfragen zu einem ausschlaggebenden Faktor werden, der über die Wettbewerbs- und Konkurrenzfähigkeit von Firmen und damit über deren Teilnahmechancen in Wertschöpfungsketten entscheiden kann. Im Agrarsektor spielen dabei die Qualität der Lebensmittelsicherheit sowie soziale und Umweltaspekte eine besondere Rolle (RENARD 2003:87f, 2005:419f, vgl. WATTS/GOODMAN 1997, MUTERSBAUGH 2005). Zum anderen entstehen als Kritik an dieser neoliberalen Phase der Deregulierung (meist zivilgesellschaftliche) Initiativen, die alternative Steuerungsformen globalisierter wirtschaftlicher Netzwerkverbindungen vorschlagen und dabei Qualitätsfragen, beispielsweise nach sozialer Gerechtigkeit und Umweltverträglichkeit in Produktions- und Handelsprozessen, auf ihre Agenda setzen. Die Spannungen und Überschneidungen, Konvergenzen und Divergenzen zwischen konventionellen und alternativen Praktiken – „reflecting struggles for or against a contemporary capitalist project“ – liegen den aktuellen Auseinandersetzungen um die Ausrichtung von Bio- und Fair Trade-Initiativen zu Grunde (GIBBON et al. 2008:325, Hervorhebung im Original, vgl. z.B. RAYNOLDS 2004, RENARD 2003, 2005). Kernaussagen Qualität stellt für die Konventionentheorie kein einfaches, objektives, bereits im Vorfeld gegebenes Kriterium dar, sondern muss – als „an object of collective understanding and negotiation“ (RENARD 2003:88, vgl. VALCESCHINI/NICOLAS 1995:3070) – von den beteiligten Akteuren immer wieder neu ausgehandelt und konstruiert werden (vgl. GIBBON et al. 2008:325). Diesen 70 „[...] la qualité relève d´une politique d´administration de filière et n´est pas pour les acteurs économiques une variable d´action concurrentielle“ 59 Kapitel 1 Aushandlungsprozessen liegt jeweils eine eigene, systematische Sprache zugrunde, durch die Qualitätskriterien identifiziert und gerechtfertigt werden können. Es bestehen verschiedene solche 'Systeme der Rechtfertigung', die auf jeweils eigenen gemeinsamen Prinzipien ('principes communs'/'common principles') basieren und unterschiedliche Ordnungen ('les grandeurs'/'worlds') hervorbringen, in deren Rahmen die involvierten Akteure agieren und ökonomischer Austausch stattfindet (RENARD 2003:88, GIBBON et al. 2008, vgl. BOLTANSKI/THÉVENOT 1991, WILKINSON 1997, EYMARD-DUVERNAY 1989, 1995). Um andere innerhalb des ökonomischen Feldes zu mobilisieren, ist es für die einzelne Akteure erforderlich, gerechtfertigte Argumente im Einklang mit den jeweils vorherrschenden gemeinsamen Prinzipien zu bemühen (RENARD 2003:88, EYMARD-DUVERNAY 1995:4571, vgl. BOLTANSKI/THÉVENOT 1991). Durch die innerhalb dieser Rahmenbedingungen stattfindenden Interaktionen bilden sich Konventionen im Sinne von gegenseitigen, geteilten Erwartungen bzw. Qualitätsvorstellungen heraus, mit deren Hilfe ökonomischer Austausch – „durch Werte und Normen, Standards, Regeln und Institutionen“ (DIETSCHE 2011:38) – koordiniert werden kann, indem sie Entscheidungen und Handlungen im Bereich des Managements, der Produktion, des Handels und des Konsums einen normativen Sinn ('normative sense') verleihen; Konventionen dienen dabei dazu, sowohl konkrete Handlungen anzuleiten ('guides for action'), als auch eine übergeordnete Rechtfertigung dieser Handlungen ('collective systems to legitimize those actions') bereitzustellen (vgl. GIBBON et al. 2008:325). Auch kann oft nur ausgehandelte, festgelegte Qualität überhaupt erst kommuniziert und dadurch zu einem die Wettbewerbsfähigkeit beeinflussenden Unterscheidungsmerkmal werden (vgl. RENARD 2005:421). Grundsätzlich werden zwei Wege unterschieden, Konventionen bzw. Qualitätsvorstellungen – als „endogenous social construct[s] that contribute[...] to coordinate the economic activity of the actors“ (RENARD 2003:88) – (neu) festzulegen: auf der einen Seite durch die Einführung von kodifizierten Institutionen, auf der anderen Seite durch die informelle Einbettung verschiedener Akteure in ein Netzwerk, in dessen Rahmen sie, z.B. basierend auf räumlicher Nähe, direkt kommunizieren und verhandeln können. In der Regel überschneiden sich diese beiden Formen der Aushandlung (RENARD 2003:88, vgl. EYMARD-DUVERNAY 1995:42, SYLVANDER 1995, MURDOCH/MIELE 1999). Kontextabhängig und je nach dem, welche der beiden Aushandlungsweisen vorherrschend ist, werden vier verschiedene Koordinationsformen zur Festlegung und Verhandlung von Konventionen bzw. Qualität gebildet, die sich in der Art und Weise unterscheiden, wie Qualität bestimmt und ihre Einhaltung überprüft wird (SYLVANDER 1995:171, vgl. WILKINSON 1997, RAIKES et al. 2000, RENARD 2003, 2005, RAYNOLDS 2004, PONTE/GIBBON 2005, DIETSCHE 2011:38f)72: Marktbasierte Koordination ('coordination marchande'/'market coordination'73): Hier erfolgt die Koordination nach den Regeln des Marktes, im Mittelpunkt steht die Institution des Preismechanismus. 71 72 73 60 „situations où, pour en mobiliser d´autres, un acteur doit fournir des arguments justifiés en référence à des principes communs“ basierend auf den sechs von Luc Boltanski und Laurent Thévenot (1991) herausgearbeiteten Formen der Rechtfertigung ('inspirational', 'opinion-based', 'domestic', 'industrial', 'market', 'civic'; vgl. RAIKES et al. 2000:413) bzw. 'commercial conventions' (RAYNOLDS 2004) Theoretisch-konzeptioneller Teil Können die gewünschten Qualitätsmerkmale nicht ausschließlich durch den Preis vermittelt werden, sind weitere Konventionen zur Koordination der Austauschprozesse erforderlich (DIETSCHE 2011:38, vgl. PONTE/GIBBON 2005:7). Industrielle Koordination ('coordination industrielle'/'industrial coordination'): Bei der industriellen Koordination stehen kodifizierte, objektivierte Standards und Regeln im Vordergrund, um „Unsicherheiten bezüglich der Qualität zu minimieren“ (DIETSCHE 2011:38). Diese werden entsprechend durch festgelegte Standardisierungsverfahren sowie durch Akkreditierungs-, Zertifizierungs- und Kontrollprozesse (Produkttests, Audits, Inspektionen) aufgestellt und überprüft. Besonders ausgeprägt in Massenmärkten standardisierter Produkte und fokussiert auf technische oder logistische Aspekte, findet die industrielle Koordinationsform in immer mehr Bereichen Anwendung und entwickelt sich zur allgemein dominierenden Koordinationsform (vgl. RENARD 2003:88). Wertebasierte Koordination ('coordination civique'/'civic coordination'): Dagegen beruht wertebasierte Koordination auf gemeinsamen Prinzipien und Werten, die die beteiligten Akteure in eng – und oft in Form von persönlichen Kontakten durch räumliche oder Netzwerk-Einbettung – verbundenen Netzwerken gemeinsam festlegen und pflegen. Vertrauen spielt anstelle von formalen Prüfverfahren eine größere Rolle. Zumindest in ihren Ursprüngen basieren Bio + Fair Initiativen auf dieser Koordinationsform. Den Auswirkungen von Produktion, Handel und Konsum auf Menschen und die Umwelt kommt hier im Vergleich zu technischen oder logistischen Aspekten eine größere Bedeutung zu (vgl. DIETSCHE 2011:38f). Interne Koordination ('coordination domestique'/'domestic coordination'): Qualität ist bei der internen Koordination ähnlich wie bei den wertebasierten Konventionen eine Frage des Vertrauens und der räumlichen oder organisatorischen Nähe. Neben regionalen Produkten findet sich diese Koordinationsform vor allem bei hochwertigen Markenartikeln, die von Unternehmen produziert werden, die einen Ruf errungen und damit auch zu verlieren haben (vgl. DIETSCHE 2011:39). Ebenso wie sich die beiden Grundformen, Konventionen auszuhandeln, in der Regel überschneiden, fließen oft zwei oder mehrere dieser Koordinationsformen zusammen; nicht nur in einzelnen Sektoren oder Ketten/Netzwerken, sondern durchaus auch in einzelnen Geschäftsbeziehungen bzw. deren Koordination (DIETSCHE 2011:39, vgl. KLOOSTER 2006). Wenn beispielsweise besondere Qualitätsmerkmale von Produkten, die im Rahmen interner oder wertebasierter Form entstanden sind (etwa regionaltypische oder biologisch produzierte Waren), durch ein Zertifikat nachgewiesen werden sollen oder müssen, kann dies zur Einführung industrieller Koordinationsformen führen (RENARD 2003:88, SYLVANDER 1995). Dabei sollte der Begriff der Koordination nicht darüber hinweg täuschen, dass diese durchaus 61 Kapitel 1 spannungsgeladen und konfliktiv sein kann, insbesondere wenn verschiedene Koordinationsformen mit sich zum Teil widersprechenden Prinzipien aufeinandertreffen, z.B. wenn es um das Verhältnis von Marktaustausch zu Produkten mit geschützter Ursprungsangabe oder mit sozialen oder ökologischen Qualitätsmerkmalen geht (RENARD 2003:88). Schwierigkeiten können u.a. auch dann entstehen, wenn durch die Anforderungen des Marktes bzw. die Forderungen seiner ProtagonistInnen nach Überprüfbarkeit Produkteigenschaften durch industrielle Koordination zertifiziert werden sollen, die sich nur schwer bzw. nicht vollständig kodieren lassen. Dies trifft vor allem für „vertrauensbasierte Güter“ ('credence goods') zu, deren Produkteigenschaften „beim Konsum nicht unmittelbar zu erkennen sind“, wie zum Beispiel die Umweltauswirkungen eines Produkts oder würdige Arbeitsbedingungen im Herstellungsprozess (DIETSCHE 2011:37f, vgl. BAKSI/BOSE 2007, REARDON et al. 2001, DARBY/KARNI 1973). Diskussion Durch die differenzierte Betrachtung von 'Systemen der Rechtfertigung', mit denen sich die breiteren normativen Rahmenbedingungen von Wertschöpfungsketten sowie deren Einfluss auf konkrete Koordinationsformen zwischen den involvierten Akteuren erfassen lassen, stellt die Konventionentheorie einen Ansatz und eine Terminologie bereit, um zu beschreiben und zu erklären, wie die Steuerung und Gestaltung von Produktions-, Handels- und Konsumzusammenhängen auf bestimmten Konventionen und Wertvorstellungen und damit verbundenen Methoden der Anwendung und Überprüfung beruhen: „Such contexts provide vocabularies for describing, and prescriptions concerning, on the one hand, what actions buyers should take when governing a value chain and, on the other, what specific qualities suppliers should aim for and how they should secure them“ (GIBBON et al. 2008:324f). Fragen von Qualität, deren Bestimmung, Durchsetzung und Überprüfung, werden dabei – nicht zuletzt aufgrund ihres gestiegenen Stellenwerts in der post-fordistischen Phase – systematisch berücksichtigt und in den Mittelpunkt der Analyse gestellt. Angesichts des Konfliktpotentials, das einzelne Koordinationsformen und besonders ihre Kombination bergen, wird bemängelt, dass Machtaspekte in vielen Studien zur Qualität nicht ausreichend berücksichtigt werden (RENARD 2003:88, vgl. DEVERRE 1994). Auch wenn, oder gerade weil das Konfliktpotential durch die Aushandlungen der Konventionen „kanalisiert“ wird und dadurch die direkte Konfrontation gegensätzlicher Interessen vermieden werden kann, spiegeln sich Machtbeziehungen in der Anordnung der institutionellen Rahmenbedingungen, die geschaffen werden, wider; es stellt sich die Frage, wie bei der Festlegung von Qualität Legitimität erzeugt wird, auf welche Weise sich bestimmte Koordinationsformen durchsetzen und welche Kontrollmechanismen zur Überwachung der im Rahmen der ausgehandelten Konventionen stattfindenden Interaktionen angewandt werden (RENARD 2003:88f, vgl. LINCK 1999:20). 62 Theoretisch-konzeptioneller Teil Während die Konventionentheorie dazu beitragen kann, den Blick für die Art der Einbettung von Warenketten und -netzwerken, die ihnen zugrunde liegenden Prinzipien der Rechtfertigung sowie deren Einfluss auf die gewählten bzw. entstehenden Koordinationsformen zu schärfen und dabei die Rolle von Qualität bzw. deren Definition verdeutlicht, wendet sich die Erweiterung des GVC Ansatzes um die Perspektive der Gouvernementalitätsforschung Fragen nach den machtvollen Prinzipien, Konzepten, Techniken und Praktiken zu, mit denen die Steuerung von Produktions-, Handels- und Konsumzusammenhängen und mitunter auch die Durchsetzung bestimmter Konventionen oder Qualitätsvorstellungen unternommen bzw. angestrebt werden. 1.1.4.3 Erweiterung um die Gouvernementalitätsforschung im Verhältnis zum Virtualismus und ergänzt um diskursanalytische Überlegungen Alex Hughes (2001a) sowie Peter Gibbon und Stefano Ponte (2008) greifen Überlegungen der in Anknüpfung an Michel Foucaults Vorlesungen zur Gouvernementalität (2004a, 2004b) entstandenen governmentality studies auf (vgl. DEAN 1999, ROSE/MILLER 1992, MILLER/ROSE 1990; MILLER/ROSE 2008), um das Verständnis von governance in globalen Wertschöpfungsketten bzw. -netzwerken über eine rein strukturelle Betrachtung der Akteursbeziehungen basierend auf der Verteilung bestimmter, gegebener Faktoren – „reflecting given distributions of attributes between firms along chains“ (GIBBON/PONTE 2008:366) – hinaus zu erweitern. Anstatt danach zu fragen, wer (als z.B. welche Firmentypen) und warum (z.B. aufgrund welcher Eigenschaften) an der Steuerung von Wertschöpfungsketten beteiligt ist, werden 'Wie'Fragen in den Vordergrund gestellt (vgl. MILLER/ROSE 2008:6f, DEAN 2010:33,39). Auf welche Art und Weise, aufgrund welcher Prämissen und mit Hilfe welcher Strategien und Instrumente versuchen Akteure, auf die Gestaltung der Wertschöpfungsketten einzuwirken und damit sich selbst und die anderen Beteiligten zu steuern? Einbettung Das Interesse der Gouvernementalitätsforschung an der „'Kunst des Regierens'“ im Sinne von „Mechanismen der 'Menschenführung'“ bzw. einer Anleitung von Verhalten ('conduct of conduct') geht diesen Fragen nach (BRÖCKLING/KRASMANN 2010:23, vgl. FOUCAULT 2004a:183; vgl. DEAN 2010). Neben „Praktiken der Fremd- und Selbststeuerung“ spielen insbesondere die verschiedenen Formen von (Experten)Wissen eine Rolle, die diese Steuerungspraktiken anleiten (BRÖCKLING/KRASMANN 2010:24, vgl. MILLER/ROSE 2008:12). Ausgangspunkt sind dabei die Identifizierung und 'Problematisierung' eines Steuerungsproblems sowie die der jeweiligen Problematisierung zu Grunde liegenden 'Rationalität'. Um ein Konzept oder eine Strategie zu formulieren, wie ein bestimmter Zusammenhang gesteuert werden sollte, muss zunächst festgelegt werden, wie dieser Zusammenhang zu verstehen ist 63 Kapitel 1 und wie die in ihm bestehenden Herausforderungen bzw. Probleme beschaffen sind. An solche 'Problemdiagnosen' schließt sich die Entwicklung von Strategien sowie zu diesen passende Verfahren und Instrumente an, die darüber entscheiden sollen, wer wie und mit welchen Hilfsmitteln die identifizierten Herausforderungen mit welchem Ziel bewältigen sollte, und u.U. auch, wie der Erfolg der Strategien gemessen bzw. die Einhaltung von Steuerungsvorgaben überprüft werden kann (GIBBON/PONTE 2008, MILLER/ROSE 2008, BRÖCKLING/KRASMANN 2010). Dadurch ist das in der Diagnose konstruierte Wissen stets schon ein praktisches Wissen insofern, dass es das Problem nicht nur identifiziert, sondern durch die Verbindung von Ideen und Praktiken auch bestimmt, wie mit ihm umgegangen werden sollte (vgl. MILLER/ROSE 2008:4,20; BRÖCKLING/KRASMANN 2010:24). Grundsätzlich sind immer verschiedene Möglichkeiten denkbar, wie ein Problem verstanden wird und wie mit ihm umgegangen werden sollte. Diesen verschiedenen Möglichkeiten liegen demnach nicht eine bzw. die Rationalität, sondern unterschiedliche Rationalitäten zugrunde: „Was jeweils als rational gilt, hängt davon ab, welche Annahmen über Ansatzpunkte, Wirkungsmechanismen und Zielsetzungen des Handelns Plausibilität beanspruchen, welche Legitimitäts- und Plausibilitätskriterien aufgestellt, welche Autoritäten und Wissensbestände aufgerufen werden, um Aussagen als wahr und Handlungen als vernünftig anzuerkennen“ (BRÖCKLING/KRASMANN 2010:25). Die Gouvernementalitätsforschung interessiert sich in diesem Zusammenhang für die historisch-politischen Rahmenbedingungen, in denen sich bestimmte Rationalitäten und Wissensformen gegenüber anderen durchsetzen und sich – auf gewisse Zeit – als Praxis- bzw. Regierungsweisen oder Regierungsprogramme74 etablieren (DEAN 2010:28, MILLER/ROSE 2008:15). Mit Regierungsweisen bezieht sich die Gouvernementalitätsforschung explizit nicht bzw. nicht nur auf staatliches Regieren, sondern auf zunächst lokale, spezifische Formen der Fremdund Selbststeuerung in den unterschiedlichsten alltäglichen persönlichen, sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Lebensbereichen (MILLER/ROSE 2008:20, vgl. ROSE/MILLER 1992). Von der lokalen Ebene „aufsteigend“ sollen Regierungsrationalitäten, -programme und -praktiken erschlossen werden, durch deren Zusammenspiel für ihre Zeit dominante, hegemonial gewordene Steuerungsweisen identifiziert werden können (BRÖCKLING/KRASMANN 2010:26). „For modes of managing, intervening and administering become modes of power to the extent that they are generalized and linked to a centre, or at least linked up with other comparable or similar modes“ (MILLER/ROSE 2008:21). Eine Einteilung der Geschichte in Epochen nach den jeweils vorherrschenden Regierungsweisen, von einem liberalen über ein wohlfahrtsstaatliches hin zu einem neoliberalen Regime (vgl. MILLER/ROSE 2008:18), soll demnach nicht Ausgangspunkt der Analyse sein, sondern allenfalls an deren Ende stehen. In spezifischen Kontexten wirksame 'Steuerungsprogramme', die sich als temporär geltender Macht-WissensKomplex durchgesetzt haben, können als Dispositiv, also hinsichtlich der ihnen zugrunde liegenden Rationalitäten und deren Zusammenspiel mit den aus ihnen abgeleiteten Techniken und Technologien der Steuerung analysiert werden (BRÖCKLING/KRASMANN 2010:26). Die Fassung von Wissen und Macht, Ideen und Praktiken, Staat und Gesellschaft usw. als Zusammenspiel sowie die Nicht-Unterscheidung von Kategorien wie öffentlich und privat, politisch 74 64 'regimes of practices' bzw. 'regimes of government' oder 'programmes of government' Theoretisch-konzeptioneller Teil und ökonomisch usw. reflektieren die Ablehnung begrifflicher Gegensätze bzw. Dualismen (vgl. BRÖCKLING/ KRASMANN 2010:26). Hinsichtlich der Rationalitäten geht es nicht um eine Beurteilung ihres Wahrheitsgehalts, sondern um die Prozesse, die zu ihrer Anerkennung als Wahrheiten führen: „Gouvernementalitätsanalysen untersuchen […], über welche administrativen Prozeduren, diskursiven Operationen, Sprecherpositionen und institutionellen Legitimationen Wahrheiten produziert werden, die ihrerseits Plausibilitäten erzeugen: Gouvernementale Interventionen erscheinen immer nur innerhalb bestimmter Wahrheitsregime denkbar und akzeptabel“ (BRÖCKLING/KRASMANN 2010:26). Mit anderen Worten geht es um die Prozesse, die die Voraussetzung dafür schaffen, dass Dinge auf eine bestimmte Weise denkbar, sagbar und machbar werden (vgl. MILLER/ROSE 2008:3)75. Geltende Rationalitäten müssen in Programme bzw. Praktiken zur Steuerung übersetzt werden (BRÖCKLING/KRASMANN 2010:27, vgl. MILLER/ROSE 2008:61). Die mit den Rationalitäten verschränkten Praktiken sind mit diversen Techniken bzw. Technologien ausgestattet. Damit sind nicht nur technische Artefakte, sondern auch Techniken der sozialen sowie der Selbststeuerung gemeint, also „gleichermaßen […] Arrangements von Maschinen, mediale Netzwerke, Aufschreibe- und Visualisierungssysteme, architektonische Ensembles wie auch die sanktionierenden, disziplinierenden, normalisierenden, 'empowernden', versichernden, präventiven usw. Verfahren, mit denen Menschen auf das Verhalten anderer Menschen oder auf ihr eigenes Verhalten einwirken. Hierzu gehören rechtliche Reglementierungen, vertragliche Vereinbarungen, Instrumente der Datenerhebung und Evaluation, Dokumentations- und Kontrollsysteme, Maßgaben für die zeitliche und räumliche Anordnung von Menschen, Artefakten und Handlungen, Manuale und Ratgeber für alle Adressaten und Lebenslagen, Techniken der Introspektion und Selbstmodellierung und vieles andere mehr“ (BRÖCKLING/KRASMANN 2010:27). Damit werden Technologien verstanden als ein „Komplex von Verfahren, Instrumenten, Programmen, Kalkulationen, Maßnahmen und Apparaten, der es ermöglicht, Handlungsformen, Präferenzstrukturen und Entscheidungsprämissen von Akteuren im Hinblick auf bestimmte Ziele zu formen und zu steuern“ (BRÖCKLING/KRASMANN 2010:27, vgl. MILLER/ROSE 2008:61f). Kernaussagen Peter Gibbon und Stefano Ponte greifen diese Perspektive der Gouvernementalitätsforschung auf, um governance (as 'normalization') in GVC als „invoked models of practice“' neu zu konzipieren und damit einer Schwäche der GVC Ansätze zu begegnen, bislang die Rolle von Expertenwissen und -praktiken vernachlässigt zu haben (2008:367, vgl. GIBBON et al. 2008:326f). Sie wenden das 'programme of government framework' (MILLER/ROSE 1990, ROSE/MILLER 1992) auf einen spezifischen Steuerungszusammenhang, nämlich die Praktiken der Beschaffung bzw. des Einkaufs in Firmen, an: 75 „[...]the recognition that to understand what was thought, said and done meant trying to identify the tacit premises and assumptions that made these things thinkable, sayable and doable […]“ (MILLER/ROSE 2008:3) 65 Kapitel 1 „The programme of GVC that will be examined here empirically concerns the same group of economic practices as those that the GVC governance literature sees as fundamentally constitutive of relations between lead firms and suppliers. That is, it deals with purchasing or supply management“ (GIBBON/PONTE 2008:368). Dieser Steuerzusammenhang wird gefasst als „a set of programmatic rationalizations of the proper roles of economic agents and institutions and as a set of techniques and tactics for engineering conformity to these roles“ (GIBBON/PONTE 2008:367; vgl. MILLER/ROSE 1990). Dabei umfasst eine solche Steuerungsprogrammatik fünf Komponenten (GIBBON/PONTE 2008:367f): die ihr zugrunde liegende Rationalität ('a rationale'), die die Grundsätze des Programms ausdrückt und die Gegenstände definiert, die gesteuert werden sollen; einen Werkzeugkasten von zur Verfügung stehenden Instrumenten ('a toolbox'); Handlungsanweisungen, wie diese Instrumente angewandt werden sollen ('tactics'); den institutionelle Rahmen, innerhalb dessen das Programm formuliert worden ist und innerhalb dem die beteiligten Steuerungsakteure organisiert sind; die Maßnahmen des Programms, seine Wirkungen und Ergebnisse zu bewerten bzw. auszuwerten. Während die ersten drei Komponenten explizit der Literatur der governmentality studies entnommen sind, werden die letzten beiden als dieser implizit bzw. teilweise auch als von dieser vernachlässigt hinzugefügt (GIBBON/PONTE 2008:368). Am Beispiel der verarbeitenden Industrie in den USA wird zunächst der institutionelle Rahmen beschrieben, innerhalb dessen eine Programmatik des 'supply management' ab den 1970er Jahren herausgebildet worden ist. Zu diesem Rahmen werden insbesondere der Handel (mit dem Beruf des 'purchase agent' und eigenen Fachzeitschriften), eine eigene, akademisch verankerte Disziplin ('purchasing studies', 'supply chain management') sowie die Herausbildung einer auf das 'supply management' spezialisierten Beratungsbranche gezählt (vgl. GIBBON/PONTE 2008:369ff). Der Tätigkeit des 'supply management' steht eine vielfältige 'toolbox' in Form von formalisierten Vorgehensweisen zur Verfügung, um Einkaufsstrategien zu wählen, neue Zulieferer auszusuchen, vorhandene Zulieferer zu bewerten, die tatsächlichen Herstellungskosten der Zulieferer bzw. Beschaffungskosten der Käufer zu bestimmen, Einsparpotential bei den einzukaufenden Zwischenprodukten zu identifizieren, Preisnachlässe auszuhandeln und Bestände zu managen (vgl. GIBBON/PONTE 2008:373ff). Als Handlungsanweisungen, die die Nutzung der vorhandenen Werkzeuge anleiten, werden zum einen die Pflege bzw. Gestaltung der Partnerschaft mit den Zulieferern ausgemacht ('partnering'), zum anderen die Verknüpfung der Einkaufstätigkeit mit anderen Firmenfunktionen wie der Produktentwicklung oder dem Qualitätsmanagement (GIBBON/PONTE 2008:375ff). Als Rationalitäten, die den Instrumenten und Handlungsanweisungen zu Grunde liegen, werden z.B. Prinzipien der Kostensenkung oder der Gewinnsteigerung, aber auch Qualitätsanforderungen aufgeführt. Neben einer Betrachtung der Werkzeuge und Taktiken interessiert auch die durch die Akteure vorgenommenen – in der Gouvernementalitätsforschung oft vernachlässigten – Versuche der 66 Theoretisch-konzeptioneller Teil Validierung der unternommenen Steuerungsaktivitäten (GIBBON/PONTE 2008:377ff). Die zur Bewertung einzelner Werkzeuge und Taktiken angestrengten Studien kommen zu dem Ergebnis, dass die angestrebten Steuerungsziele der Disziplin durch die vorgeschlagenen Praktiken kaum erreicht werden konnten: teilweise, weil sie mangels Ressourcen und Bedeutung im Gesamtfirmenkontext gar nicht erst angewandt worden sind, und teilweise, weil sie dort, wo sie tatsächlich angewandt wurden, nicht sachgerecht bzw. missbräuchlich umgesetzt worden seien (GIBBON/PONTE 2008:380). Durch die Analyse der innerhalb der Wertschöpfungsketten bemühten Programmatiken lassen sich zum einen Rückschlüsse auf die tatsächlichen Strategien der Akteure ziehen; im Gegensatz zu den anderen Ansätzen, bei denen Strategien entweder als systemimmanent vorausgesetzt werden oder sich aus gegebenen Faktoren ableiten lassen. So zeigt sich beispielsweise, dass einzelne Instrumente oder Taktiken hinsichtlich gegensätzlicher Rationalitäten wie Kostensenkung und Qualitätssteigerung gleichermaßen angewandt werden, dass Austauschbeziehungen im Sinne der relationalen Koordination des GVC Ansatzes auch in Situationen bevorzugt und praktiziert werden können, in denen die gegebenen Faktoren andere Koordinationsformen nahe legen würden, oder dass andere Faktoren als die der Komplexität des für eine Transaktion erforderlichen Wissens die Handlungen der beteiligten Firmen anleiten (GIBBON/PONTE 2008:379ff). Die Betrachtung der Steuerung von Wertschöpfungsketten durch die Interpretation der durch die Akteure selbst beschriebenen Programmatiken des Steuerns soll helfen, möglicherweise überschätzte, als systemimmanent oder industrie- bzw. sektorspezifisch angenommene allgemeine Koordinationsformen zu relativieren (GIBBON et al. 2008:327). Zum anderen wirft die Nicht-Implementierung der Programmatik bzw. die geringen Effekte dort, wo sie doch angewandt wurde, Fragen nach dem Verhältnis von Programmen und Praktiken auf, etwa, inwieweit Programme 'über-rationalisiert' werden können, indem sie gegenüber ihren Zielsetzungen oder gegenläufigen Rationalitäten wie Rentabilität unverhältnismäßig aufgebläht sind; oder, inwieweit Programme nur virtuell wirken, „able to change (some people ´s) representations, but […] not […] able radically to transform corporate practice“ (GIBBON/PONTE 2008:383f; vgl. CARRIER/MILLER 1998). Mit der Einbindung der Perspektive der Gouvernementalitätsforschung erfolgt grundsätzlich eine wesentliche konzeptionelle Erweiterung der Frage nach den Steuerungsformen von Warenketten bzw. -netzwerken. Das gewählte Beispiel – die Programmatiken des Einkaufs bzw. der Beschaffung zwischen Käufern und Zulieferern eines bestimmten Sektors – macht dies jedoch nur in Ansätzen deutlich und legt durch die aufgeworfenen Fragen zur Wirksamkeit der Programme sowie durch das in Anlehnung an den GVC Ansatz sehr begrenzt gewählte Feld (Käufer und unmittelbare Zulieferer) zugleich eine weitere Ausdehnung dieser Erweiterung nahe. Während eine Ausdehnung des Feldes auf weitere Bereiche, z.B. Zertifizierungs- und Auditpraktiken oder die Beziehungen von Firmen zur Welt des Konsums, nahe liegt (GIBBON/PONTE 2008:368; vgl. HUGHES 2001a), werden im Folgenden Aspekte konzeptioneller 'Ausdehnung' erörtert. 67 Kapitel 1 Diskussion Mit der Perspektive der Gouvernementalitätsforschung wird neben einem Verständnis von Macht als externe Kraft – entweder 'zentriert' als Macht, die von den einen über die anderen ausgeübt wird, oder 'denzentriert' als Macht, die zwischen den Akteuren unter Zugriff auf unterschiedliche Ressourcen immer neu verhandelt und verteilt wird – ein neuer Machtbegriff eingeführt, der Macht als produktive und immanente Kraft ohne Zentrum begreift, die auf die Handelnden ein und durch sie hindurch wirkt (HESS 2008:456f, vgl. ALLEN 2003; MILLER/ROSE 2008:9). Eine produktive Macht, „die ein spezifisches Wissen erzeugt und auf diese Weise Problemdefinitionen und Interventionsfelder des Regierens überhaupt erst herstellt“ (BRÖCKLING/KRASMANN 2010:26f), erlaubt, darauf zu blicken, wie Machtbeziehungen durch hervorgebrachte Strategien, Techniken und Praktiken entstehen und sich permanent reproduzieren bzw. auch transformieren (HESS 2008). Diese „produktive, nicht-repressive Funktion von Macht“ richtet sich „gegen ein 'Nullsummenverständnis' von Macht, das in schematischer Gegenüberstellung Herrschende gegen Beherrschte ins Feld führt und konzentriert sich stattdessen auf die Frage, wie Wissen in konkreten institutionellen Kontexten zur Wahrheit wird“ (VAN DYK/ANGERMÜLLER 2010:8f). Dabei müssen sich die Vorstellungen von Macht, die von einem Souverän in Form von disziplinierenden Maßnahmen ausgeübt wird, einerseits, und diejenigen, in denen Macht aktivierend durch die Bereitstellung von Steuerungskonzepten und -praktiken wirkt, nicht gegenseitig ausschließen, sondern können sich im Sinne eine Perspektivenpluralität ergänzen: schärft eine Netzwerk-basierte Konzeption von Macht den Blick dafür, wie Austauschbeziehungen innerhalb eines Netzwerks organisiert und ausgehandelt werden, kann der zentrierte Machtbegriff die oft stark ungleiche Verteilung der Einflussmöglichkeiten selbst in eng eingebetteten Netzwerken betonen, während das gouvernementale Machtverständnis dazu beitragen kann, das Zustandekommen sowie das Zusammenspiel der (Wissens)Voraussetzungen als Prozesse zu beleuchten, durch die sowohl machtbesetzte Positionen einzelner Akteure als auch das stetige Aushandeln des Netzwerkgefüges überhaupt erst möglich gemacht werden (HESS 2008:457). Der gouvernementale Machtbegriff kann dabei neben der Betrachtung der historisch-politischen Konstitution der vorgefundenen Austauschbeziehungen auch dazu beitragen, Firmen und andere Stakeholder globaler Warenketten bzw. -netzwerke und ihre Strategien und Praktiken einer Untersuchung zugänglich zu machen, anstatt sie als bloße 'Black-Boxes' in einem strukturellen Gefüge zu vernachlässigen (HESS 2008:457). Bei dem postulierten Zusammenwirken von Rationalitäten, Strategien, Techniken und Praktiken, durch das sich die Wirksamkeit der produktiven Seite der Macht entfaltet, werden in der Gouvernementalitätsforschung die konkreten Praktiken des Gebrauchs von formulierten Programmen sowie die Effekte, die die formulierten Programmatiken tatsächlich hervorrufen, oft nicht ausreichend berücksichtigt (vgl. z.B. VAN DYK/ANGERMÜLLER 2010:13f, GIBBON/PONTE 2008:367). Solange Gouvernementalitätsstudien sich vorwiegend oder gar ausschließlich für Programme als 'Kunst des Regierens' interessieren, die Praxis der Programme, „die Brechun68 Theoretisch-konzeptioneller Teil gen, Modifikationen, Verwerfungen, Zurückweisungen bei ihrer Umsetzung und Aneignung aber ausblenden“, bleiben sie hinter der ursprünglichen Idee, Diskurse und Regieren als Praxis zu begreifen, zurück (BRÖCKLING/KRASMANN 2010:35, vgl. KELLER 2010:48). Die „Aufmerksamkeit für Singularitäten, Brechungen, Störungen, für Momente des Ereignisses“ (BRÖCKLING/KRASMANN 2010:39) zu erhöhen und sich den konkreten Praktiken zuzuwenden, ist zum einen eine methodologische Frage, die im Methodik-Kapitel dieser Arbeit im Sinne einer verstehenden, auf die Praktiken bestimmter Akteure gerichteten Ethnographie aufgegriffen wird (vgl. KELLER 2010, OTT/WRANA 2010:167). Die empirische Ergründung der Wirksamkeit von Programmen bereichert zum anderen aber die theoretischen Frage, inwieweit formulierte Programme genauso wie postulierte Einflussgrößen oder Rahmen (wie Kodifizierbarkeit oder Marktaustausch) überhaupt und eventuell gar die erwünschten bzw. vorausgesagten Effekte erzeugen. In diesem Zusammenhang stehen Überlegungen zu einer 'Virtualisierung' ökonomischer Praxis in dem Sinne, dass abstrakte, von Ökonomen entwickelte Modellvorstellungen, die von den vielfältigen Verflechtungen realer ökonomischer Aktivität zu Idealen wie reinem Marktaustausch oder rationalen/auf den eigenen Vorteil bedachten Interessen der KonsumentInnen abstrahieren, einen immer größeren Einfluss auf ökonomische Aktivitäten und Austauschbeziehungen ausüben, ohne dabei den realen Praktiken zu entsprechen (CARRIER/MILLER 1998, vgl. MILLER 2002, HUGHES 2004). Virtualism stellt dabei in Frage, inwieweit solche Modellvorstellungen (Rationalitäten) und entsprechende Programme dazu in der Lage sind, die Welt nach ihren Vorstellungen zu formen (vgl. CALLON 1998, MACKENZIE et al. 2007), und stellt die Gegenfrage, ob die Formung der Welt durch den wachsenden Einfluss dieser Programme nicht hauptsächlich in einer – allerdings Zeit, Geld und Nerven raubenden – Etablierung von 'virtuellen als-ob-' Institutionen und Prozeduren liegt, die von Ökonomen, Zertifizierungs-, Audit- und Beratungsfirmen am Laufen gehalten werden. Fallstudien wie die oben skizzierte Analyse der Einkaufs- bzw. Beschaffungsdisziplin des 'supply management', zur Zertifizierung von Nachhaltigkeitsinitiativen wie dem FSC-Siegel oder corporate social responsibility (vgl. KLOOSTER 2005, PONTE et al. 2007, PONTE 2008) oder zur Regulierung der Lebensmittelsicherheit durch die EU bekräftigen die Argumente des Virtualism: „In the realm of food safety, for example, the appearance of having a system in place which functions ‘as if’ it followed regulation on food safety is what counts for good performance when systems are evaluated for conformity with EU rules. Little attention is paid to actual practices on the ground or the outcomes of such functioning systems“ (GIBBON/PONTE 2008:384, vgl. PONTE 2007b). Gleichzeitig können solche 'virtuellen', abstrahierenden Systeme neben den Eigeninteressen der durch sie geschaffenen Betriebsamkeit Vorteile mit sich bringen, indem sie den Akteuren helfen, besser mit der wachsenden Komplexität an Anforderungen zurechtzukommen (vgl. CALLON 2002), insbesondere wenn sich dadurch anderen gegenüber zeigen bzw. behaupten lässt, verschiedene und möglicherweise gegensätzliche Ziele gleichermaßen zu verfolgen (GIBBON/PONTE 2008:385). Insgesamt kann diese Debatte dafür sensibilisieren, die „fault lines 69 Kapitel 1 between representation and practice, and between interests, the complexity of situations and the contradictions of achieving multiple objectives with few tools“ sorgfältig zu betrachten (GIBBON/PONTE 2008:385). Schließlich liegt es durch das Aufgreifen der Gouvernementalitätsforschung im Rahmen der Warenketten bzw. -netzwerke-Literatur nahe, mit diskursanalytischen Überlegungen eine weitere, bislang noch nicht explizit erfolgte konzeptionelle Ergänzung vorzunehmen. Eine diskursanalytische Perspektive kann dabei helfen, die Herausbildung der den Steuerungsprogramme zugrunde liegenden Problemdefinitionen und Wissensbestände differenzierter zu betrachten, sowie weniger Gehör findende, alternative Sichtweisen mit einzubeziehen. Dabei besteht nicht nur eine große Schnittmenge mit der Gouvernementalitätsforschung (vgl. ANGERMÜLLER/VAN DYK 2010). Es haben sich in der deutschsprachigen Forschungslandschaft in den vergangenen Jahren auch vielfältige, zum Teil sehr unterschiedliche Ansätze der Diskursanalyse in den Sozial- und Sprachwissenschaften herausgebildet (vgl. zur Einführung z.B. KELLER et al. 2006, KELLER et al. 2008, KELLER 2007, ANGERMÜLLER et al. 2001). Auch in der Geographie werden gouvernementalitäts- und diskursanalytische Überlegungen aufgegriffen, insbesondere im Zusammenhang mit neuen, relationalen Konzeptionen von Räumlichkeit (vgl. z.B. MATTISSEK 2007, GLASZE/MATTISSEK 2009, MATTISSEK 2010). Die Einbindung einer diskursanalytischen Perspektive in die Konzipierung von Warenketten/-netzwerken und deren Steuerung soll zunächst von dieser Pluralität profitieren können, ohne sich im Voraus auf eine bestimmte Richtung wie etwa die wissenssoziologischen (KELLER 2008) oder kritischen (JÄGER 2012) Diskursanalyse oder poststrukturale Ansätze wie die Diskursanalyse nach dem Strukturalismus (ANGERMÜLLER 2010, vgl. ANGERMÜLLER et al. 2001) einzuengen. Vielmehr ermöglichen in einem ersten Schritt die gemeinsamen Grundzüge der verschiedenen Ansätze einen Einstieg in ein diskursanalytisch informiertes Verständnis des Untersuchungskomplexes. Während die bisherige Behandlung von Diskursanalyse im geographischen Kontext vor allem poststrukturalistische Ansätze aufgreift und methodisch mit der Aussagenanalyse (vgl. z.B. ANGERMÜLLER 2007) als Mikro- und quantitativ-lexikometrischer Analysen (vgl. z.B. BUBENHOFER 2009) als Makroverfahren operiert (vgl. z.B. MATTISSEK 2010), werden hier im zweiten Schritt dann hauptsächlich Überlegungen der wissenssoziologischen Diskursanalyse und mit dieser verknüpfte qualitativ-hermeneutische Verfahren (KELLER 2007, 2008) aufgegriffen. Allgemein macht sich Diskursanalyse die „kommunikative Dimension der Vergesellschaftung“ und die „soziale Produktion von Sinn“ zu ihrem Gegenstand: „Die Diskursanalyse untersucht die soziale Produktion von Sinn, und zwar ganz gleich ob aus poststrukturalistischer, wissenssoziologischer oder gesprächsanalytischer Sicht. Ihr Gegenstand sind situationsübergreifende Sinn- oder Wissenszusammenhänge, die auf unterschiedlichste Weise – zum Beispiel in mikrooder makroanalytischer Hinsicht, mit qualitativen wie quantitativen Methoden – untersucht werden können. Schriftliche Texte spielen dabei gewöhnlich eine besondere Rolle. Diese Texte haben, so die übergreifende Annahme, keinen festen Sinn, können aber mit Blick auf die Regeln ihres Gebrauchs und ihrer Interpretation analysiert werden. So können Texte je nach institutionellem Setting, historischem Kontext und den beteiligten Sprechern einen unterschiedlichen Sinn erhalten. Doch während viel gesagt, geschrieben, gedacht und getan werden kann, findet nicht alles Gehör und noch weniger erfährt alles Anerkennung. Vor 70 Theoretisch-konzeptioneller Teil diesem Hintergrund fokussieren Diskursanalysen im Anschluss an Foucault insbesondere auf die Verschränkung von Macht und Wissen im Prozess der Sinn- bzw. Wahrheitsproduktion“ (VAN DYK/ANGERMÜLLER 2010:8, Hervorhebung im Original). Sprache und insbesondere Texte werden in dem Kontext, in dem sie hervorgebracht bzw. geäußert werden, betrachtet (vgl. z.B. ANGERMÜLLER 2010:82). Grundeinheit eines Diskurses ist die in historisch-institutionellen Kontexten in der Regel geäußerte 'Aussage' (VAN DYK/ANGERMÜLLER 2010:8, vgl. FOUCAULT 1988, ANGERMÜLLER 2010:75); verstanden als der „typisierbare und typische Gehalt einer konkreten Äußerung bzw. einzelner darin enthaltener Sprachsequenzen, der sich in zahlreichen verstreuten Äußerungen rekonstruieren lässt“ (KELLER 2008:234). Diskurse sind die Zusammenhänge, die einzelne Aussagen regelhaft miteinander verknüpfen und organisieren. Ein Diskurs ist demnach eine „nach unterschiedlichen Kriterien abgrenzbare Aussagepraxis bzw. Gesamtheit von Aussageereignissen, die im Hinblick auf institutionell stabilisierte gemeinsame Strukturmuster, Praktiken, Regeln und Ressourcen der Bedeutungszuweisung untersucht werden“ (KELLER 2008:234). Dabei spielen Problematisierungen bestimmter Gegenstände, wie sie auch den im Rahmen der Gouvernementalitätsforschung untersuchten Programmen zugrunde liegen, eine besondere Rolle. „Gesellschaftliche Wissensverhältnisse sind komplexe soziohistorische Konstellationen der Produktion, Stabilisierung, Strukturierung und Transformation von Wissen bzw. symbolischen Ordnungen in vielfältigen gesellschaftlichen Arenen. Die entsprechenden Wissensvorräte oder Ordnungen entstehen in sozialen Prozessen der Objektivierung und Institutionalisierung, die aus komplexen historischen Gemengelagen hervorgehen. Solche Prozesse können als Diskurse analysiert und rekonstruiert werden. Diskurse sind zeit-räumlich verstreute, rekonstruierbaren Strukturierungsprinzipien folgende, mehr oder weniger konfliktuelle Äußerungszusammenhänge, die weltliche Phänomene in den Blick nehmen (und erzeugen). Der Diskursbegriff ist die heuristische Unterstellung dieses Zusammenhangs.“ (KELLER 2010:62, Hervorhebung SD) Die Rekonstruktion des mit dem Diskurs unterstellten Zusammenhangs kann nicht nur methodisch unterschiedlich erfolgen, sondern wird auch konzeptuell unterschiedlich gefasst. Ein Diskurs kann beispielsweise anhand seiner Phänomenkonstitution oder nach institutionellen Feldern abgegrenzt werden (KELLER 2008:236). Die Rekonstruktion eines abgegrenzten Diskurses kann ihren Schwerpunkt auf formale oder auf inhaltliche Aspekte legen. Bezüglich der inhaltlichen Strukturierung von Diskursen kann deren „Interpretationsreportoire“ als das „typisierbare Ensemble von Deutungsbausteinen, aus denen ein Diskurs besteht und das einzelnen Äußerungen mehr oder weniger umfassend aktualisiert wird“, erschlossen werden (KELLER 2008:235,240ff, vgl. POTTER/WETHERELL 1995). Zu diesen Deutungsbausteinen zählen: Deutungsmuster als „grundlegende bedeutungsgenerierende Schemata, die durch Diskurse verbreitet werden und nahe legen, worum es sich bei einem Phänomen handelt“ (KELLER 2008:243); Klassifikationen, durch die ein Phänomen implizit oder explizit konstituiert wird, indem sie Einteilungen von Tatsachen oder moralische oder ästhetische Bewertungen vornehmen (KELLER 2008:243ff); 71 Kapitel 1 die Phänomenstruktur eines Diskurses als die spezifische Gestalt, die sich dadurch herausbildet, „dass Diskurse in der Konstitution ihres referentiellen Bezuges (also ihres 'Themas') unterschiedliche Elemente oder Dimensionen ihres Gegenstands benennen und zu einer [… ] Phänomenkonstellation verbinden“ (KELLER 2008:248); „Das Konzept der Phänomenstruktur bezeichnet keineswegs Wesensqualitäten eines Diskurs-Gegenstandes, sondern die entsprechenden diskursiven Zuschreibungen. Bspw. erfordert die Konstruktion eines Themas als Problem auf der öffentlichen Agenda die Behandlung verschiedener Dimensionen durch die Protagonisten und im Rückgriff auf argumentative, dramatisierende und evaluativ-bewertende Aussagen: die Bestimmung der Art des Problems oder des Themas einer Aussageeinheit, die Benennung von Merkmalen, kausalen Zusammenhängen (Ursache-Wirkung) und ihre Verknüpfung mit Zuständigkeiten (Verantwortung), Problemdimensionen, Wertimplikationen, moralischen und ästhetischen Wertungen, Folgen, Handlungsmöglichkeiten u.a.“ (KELLER 2008:248f, Hervorhebung im Original) narrative Strukturen bzw. „rote Fäden“ als „diejenigen Momente von Aussagen und Diskursen […], durch die verschiedene Deutungsmuster, Klassifikationen und Dimensionen der Phänomenstruktur (z.B. Akteure, Problemdefinitionen) zueinander in spezifischer Weise in Beziehung gesetzt werden“ (KELLER 2008:251f). „Narrative Strukturen umfassen abgrenzbare Episoden (von der Einleitung bis zur Schlussfolgerung), Prozesse, das Personal bzw. die Aktanten und ihre spezifischen Positionierungen, die Raum- und Zeitstrukturen sowie die Dramaturgie (den plot) der Handlung. In synchroner Hinsicht verknüpfen sie die unterschiedlichen Deutungselemente eines Diskurses zu einem zusammenhängenden, erzählbaren Gebilde. In diachroner Perspektive werden dadurch die Aktualisierungen und Veränderungen der Diskurse im Zeitlauf verbunden. Sie liefern das Handlungsschema für die Erzählung, mit der sich der Diskurs erst an ein Publikum wenden kann und mit der er seine eigene Kohärenz im Zeitverlauf konstruiert. Durch den Rückgriff auf eine story line können Akteure diskursive Kategorien sehr heterogener Herkunft in einem mehr oder weniger kohärenten Zusammenhang aktualisieren. […] Von Bedeutung ist dabei insbesondere die Herstellung von Kausalzusammenhängen […] und die Betonung von Handlungsdringlichkeiten im Rahmen von Dramen und Moralgeschichten. Kollektive Akteure aus unterschiedlichen Kontexten (z.B. aus Wissenschaft, Politik, Wirtschaft) koalieren bei der Auseinandersetzung um öffentliche Problemdefinitionen durch die Benutzung einer gemeinsamen Grunderzählung, in der spezifische Vorstellungen von kausaler und politischer Verantwortung, Problemdringlichkeit, Problemlösung, Opfern und Schuldigen formuliert werden. Probleme lassen sich (ent)dramatisieren, versachlichen, moralisieren, politisieren oder ästhetisieren. Akteure werden aufgewertet, ignoriert oder denunziert.“ (KELLER 2008:252; vgl. VIEHÖVER 2006, 2008, POFERL 1997, STONE 1989) Neben der inhaltlichen Strukturierung einzelner Diskurse bzw. deren Rekonstruktion stellen sich Fragen des Verhältnisses verschiedener Diskurse zueinander, der 'materiellen' Wirkung der Diskurse in Form von Praktiken und Dispositiven sowie nach der Rolle von Akteuren. Einzelne Aussageereignisse (z.B. Texte) bilden als „Diskursfragmente“ (vgl. JÄGER 2012), in denen „Diskurse mehr oder weniger umfassend aktualisiert werden“, die Datengrundlage einer Diskursanalyse (KELLER 2008:234). In der Regel verschränken sich verschiedene Diskurse in einem Aussageereignis „interdiskursiv“ (vgl. z.B. LINK 2006) miteinander, auch je nach dem, wie die analytische Abgrenzung nach 'Themen' oder institutionellen Zusammenhängen gezo72 Theoretisch-konzeptioneller Teil gen wird. Neben verschiedenen thematischen Bezügen können (massenmedial vermittelte) öffentliche von in „gesellschaftlichen Teilöffentlichkeiten“ artikulierten (z.B. wissenschaftlichen oder politischen) Spezialdiskursen unterschieden werden (KELLER 2008:228ff,235). Dabei ist das Verhältnis einzelner Diskurse zueinander selten spannungsfrei. Vielmehr können „diskursive Felder“ als Arenen, in denen verschiedene „Diskurse um die Konstitution bzw. Definition eines Problems wetteifern“, identifiziert werden (KELLER 2008:234). Zum einen können die jeweilige inhaltliche Konstitution des Phänomens und die stilistischen Akzentsetzungen von Diskursen verglichen werden. Diskurse in einem Diskursfeld können antagonistisch gespalten oder teilweise bzw. gänzlich in ihren Problemdefinitionen und Handlungsanweisungen übereinstimmen; und sie können unterschiedliche Akzente setzen, indem sie „in erster Linie Fragen der 'Faktizität' von Tatsachen oder ethisch-moralische Wertfragen behandeln, ästhetische Kriterien thematisieren, Maßnahmen entwickeln oder dramatisierend Probleme auf die öffentliche Agenda setzen“ (KELLER 2008:239). Zum anderen stellt sich die Frage, inwieweit sich Diskurse gegenüber anderen durchsetzen, ob z.B. von einer mehr oder weniger gleichwertigen, zum Teil explizit konflikthaften Heterogenität des Feldes oder von marginalisierten Positionen einerseits, hegemonialen Standpunkten andererseits, ausgegangen werden kann (KELLER 2008:239,268). Letzterer Punkt weist auf den Zusammenhang von Wissen und Macht, in dessen Rahmen einzelne Diskurse ihren Geltungsanspruch gegenüber anderen behaupten und praktische Wirkung entfalten können. Diskurse entstehen und reproduzieren oder transformieren sich erst dadurch, dass sie von 'sprechenden' Akteuren in „diskursiven Ereignissen“ tatsächlich artikuliert und damit 'materialisiert' werden (vgl. KELLER 2008:205ff). Solchen Ereignissen (Handlungen) liegen im Sinne eines dualistischen Verständnisses von Struktur die zuvor artikulierten Diskurse (Strukturen) als Strukturierungsprinzipien zu Grunde. Neben den durch diese Strukturierungsprinzipien bereitgestellten Regeln bezüglich der formalen und inhaltlichen Produktion von Aussagen ist die Verteilung von Ressourcen, die eine Gehör findende Aussageproduktion ermöglichen, entscheidend (KELLER 2008:205ff; vgl. auch GIDDENS 1992). Darunter fallen zum einen die Handlungsressourcen der involvierten Akteure („Akteurspotentiale“), zum anderen die vorhandenen materiellen Ressourcen („Dispositive“) in Form von institutionalisierten Regeln, Verfahren, Einrichtungen und Hilfsmitteln (KELLER 2008:208). Letztere bilden den Rahmen für die Herausbildung der Akteurspotentiale, sind dabei aber nicht gegebene Strukturen, sondern als „institutionelle Arrangements“ vorangegangener Prozesse der „Sinnverknappung“ entstanden, durch die bestimmte Diskurse ihren Geltungsanspruch gegenüber anderen behaupten (vgl. ANGERMÜLLER 2010:90ff). Ein solcher prozessual verstandener Dispositivbegriff erweitert den Blick der Diskursanalyse über das „Sprachlich-Symbolische“ hinaus und kann die Wirkungen und Effekte von Diskursen (bzw. auch gouvernementalen Programmen) greifbar machen (vgl. VAN DYK/ANGERMÜLLER 2010:12). Sozialen Akteuren kann eine doppelte Rolle innerhalb des diskursiven Feldes, in das sie involviert sind, zukommen. Auf der einen Seite aktualisieren und materialisieren sie die Diskurse und Dispositive, indem sie aufbauend auf dem Vorangegangenen (alte und) neue Aussagen interpretativ produzieren. Akteure bilden eine „Vermittlungsinstanz zwischen Diskursen und 73 Kapitel 1 Aussageereignissen“ (KELLER 2008:209). Dabei sind die Voraussetzungen nicht für alle Akteure gleich. Ihre Chance, Gehör zu finden, hängt davon ab, welche Sprecherpositionen sie bekleiden. Mit Sprecherpositionen ist „ein in vielerlei Hinsicht gegliedertes und mehr oder weniger hierarchisches Netz von institutionell konfigurierten Rollensets und damit einher gehenden 'Chancen auf Gehör' [gemeint], für die je nach Stellenwert in der Diskurshierarchie unterschiedliche Qualifikationsanforderungen als Voraussetzungen bestehen“ (KELLER 2008:253). Verschiedene Akteure können sich als Gegner begegnen oder bei gemeinsamen bzw. ähnlichen Interessen und Positionen Diskursgemeinschaften bzw. Diskurskoalitionen bilden (KELLER 2008:254, vgl. WUTHNOW 1989, HAJER 1995, KELLER 1998). „Diskurs-Akteure benutzen verschiedene Ressourcen und Strategien der Diskursproduktion. Sie erzeugen Faktenwissen, argumentieren, dramatisieren, moralisieren, mobilisieren gängige Alltagsmythen, Klischees, Symbole, Bilder für ihre Zwecke. Sie entwickeln eine Geschichte, in der die Rollen von Gut und Böse verteilt sind und die Handlungsprobleme benannt werden. Sie konstituieren dadurch ihre eigene (kollektive) Identität. In diskursiven Auseinandersetzungen bilden soziale Akteure durch ihre Einnahme von Positionen im Diskurs, durch den Rekurs auf eine gemeinsame story line implizite und explizite Diskursgemeinschaften (W UTHNOW 1989) bzw. Diskurs-Koalitionen (HAJER 1995, KELLER 1998). Innerhalb von großen gesellschaftlichen Akteursaggregaten – Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Protestbewegungen, u.a. – sind unterschiedliche, auch gegensätzliche Diskurspositionen möglich. Es wird also keine Identität von Diskurs und kollektiver Akteursgruppe vorab gestellt. Innerhalb von Akteursgruppen können unterschiedliche Diskurse adaptiert, vertreten und verlassen werden.“ (KELLER 2008:254f, Hervorhebung im Original) Neben aktiven, diskursgestalterischen Handlungen durch solche Sprecherpositionen hindurch kommt Akteuren auf der anderen Seite auch eine passiver(er) Part als Adressaten bzw. Subjekte von Diskursen zu. Adressaten sind „diejenigen, an die sich ein Diskurs richtet oder von denen er rezipiert wird“ (KELLER 2008:234). Dabei kann ein Diskurs Subjektpositionen im Sinne von in ihm konstituierten „Subjektvorstellungen und Identitätsschablonen für seine möglichen Adressaten (z.B. angebotene Kollektiv-Identität; Modell des 'umweltbewussten Bürgers')“ oder von „Positionierungsvorgaben für Akteure, auf die ein Diskurs Bezug nimmt bzw. über die er spricht (bspw. als 'Problemverursacher', 'Helden')“ zur Verfügung stellen (KELLER 2008:235). Dazu zählen auch „Selbsttechnologien“ als „modellhaft ausgearbeitete, handlungspraktisch verfügbare Anweisungen zur Subjektivierung“ (KELLER 2008:223). Auch wenn die Grenzziehung zwischen einer aktiven und passiven Rolle nicht trennscharf gezogen werden kann, verdeutlicht der Aspekt der Passivität die ungleichen Chancen auf Gehör sowie die Fälle, in denen Akteure bzw. Subjekte konstruiert werden, indem im Diskurs über sie gesprochen wird, ohne dass sie selbst zur Sprache kommen bzw. ihre Rolle überhaupt annehmen und ausfüllen. Allgemein können soziale Akteure als Individuen oder Kollektive gefasst werden, „die sich auf die erwähnten Sprecher- oder Subjektpositionen beziehen und diese nach Maßgabe ihrer mehr oder weniger eigen-willigen Rolleninterpretationen und -kompetenzen einnehmen und ausführen, also realisieren“ (KELLER 2008:223). Schließlich interessieren nicht nur die diskursiv herausgebildeten Positionierungen und Erzählungen, sondern auch die durch diese geprägten bzw. auch von diesen abweichenden Praktiken der in einem diskursiven Feld involvierten Akteure (vgl. z.B. 74 VAN DYK/ANGERMÜLLER 2010:13f). Von der bisweilen Theoretisch-konzeptioneller Teil vorgenommenen Unterscheidung diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken (vgl. z.B. KELLER 2008:255ff) soll hier Abstand genommen werden, da die Vorstellung diskursexterner Praktiken mehr den Kriterien der analytischen Abgrenzung einzelner Diskurse76, als einer prinzipiellen Möglichkeit von 'Diskursexternität' entspringen dürfte. Im Sinne der hier skizzierten diskursanalytischen Überlegungen können nicht nur die konkreten Steuerungszusammenhänge globaler Warenketten/-netzwerke und die ihnen zugrundeliegenden Programmatiken, sondern auch die von diesen (im Sinne des Stakeholder-Ansatzes) in der ein oder anderen Weise betroffenen Akteure und deren Positionen bzw. Positionierungen als ein diskursives Feld konzipiert werden. Insbesondere bei der zunehmenden Rolle von Qualität und deren Definition – im Allgemeinen wie auch im Zusammenhang mit der Festlegung der Grundsätze, Inhalte und Konzepte von Bio + Fair – rücken Fragen danach in den Mittelpunkt, welche Akteure über Definitionsmacht verfügen (einflussreiche Sprecherpositionen der verschiedenen 'driver'?), welche Wissens- und Legitimationsformen sie bemühen und wie sich Prozesse der Sinnverknappung vor dem Hintergrund einer Gegnerschaft unterschiedlicher Problemdefinitionen und dazugehöriger Lösungsstrategien vollziehen. Eine diskursanalytische Perspektive erlaubt (in Erweiterung des 'gouvernementalen Blicks'), nicht nur bestehende (als „diskursive Formationen“77 ausgeprägte und damit mehr oder weniger wirksame) Programmatiken, die sich im Zuge der Bemühungen verschiedener Akteure, „die Legitimität und Anerkennung ihrer Weltdeutungen als Faktizität durchzusetzen“, zumindest vorübergehend etabliert haben, zu untersuchen, sondern darüber hinaus sowohl über „Interessen, Strategien und Handlungsressourcen der beteiligten sozialen Akteure“, als auch über „bestehende und verworfene Alternativen“ aufzuklären (KELLER 2008:193). Die Einbindung der Perspektive der Gouvernementalitätsforschung und insbesondere der Diskursanalyse ermöglicht es zu guter Letzt, einen differenzierteren Anschluss an kulturgeographische Ansätze der Warenketten/-netzwerke-Literatur herzustellen, die sich bereits in den 1990er Jahre und etwa zeitgleich zur Formulierung des GCC Ansatzes mit der Rolle von bestimmten, als geographical knowledges bezeichneten Wissensformen in globalen Produktions-, Handels- und Konsumzusammenhängen befassen (COOK/CRANG 1996). 1.1.5 Anschluss der Arbeiten zu commodities and circuits of culture An verschiedenen Stellen wird versucht, kulturgeographische Arbeiten zu commodities and circuits of culture (HUGHES/REIMER 2004b:3f) an die Konzeption der GPN oder der GCC bzw. GVC anzuschließen (z.B. HENDERSON et al. 2002:445, LESLIE/REIMER 1999, HUGHES et al. 2008, HASSLER/FRANZ 2012). Ein Verständnis von innerhalb der Warennetzwerke zirkulierenden Wissensformen als Teil der diskursiv hervorgebrachten Macht-Wissens-Komplexe, wie sie im voranstehenden Abschnitt umrissen worden sind, kann dabei Argumenten entgegengesetzt 76 z.B. als zeitdiagnostische Unterscheidung zwischen tradierten (=diskursexternen) und durch reflektiertes, modellhaftes Expertenwissen angeleiteten (=diskursiven) Praktiken (vgl. KELLER 2008:257) 77 vgl. KELLER 2008:234,267f 75 Kapitel 1 werden, wonach solche Arbeiten wenig zum Verständnis der Machtbeziehungen in diesen Netzwerken beitragen (vgl. COE et al. 2008:287). Nach einem kurzen Überblick über einige grundlegende Aspekte dieser Arbeiten werden hier die Konzeption von geographical knowledges (COOK/CRANG 1996) aufgegriffen, mit der sich die Rolle von bestimmten Wissensformen und Symboliken im Rahmen von globalen Warenketten bzw. -netzwerken problematisieren lässt, sowie zentrale Fragestellungen der commodities and circuits of culture diskutiert. Einbettung Auch in den Arbeiten zu commodities and circuits of culture stehen Phänomene der Globalisierung im Mittelpunkt. Globalisierung wird dabei gefasst als die Intensivierung und Kompression der schon lange bestehenden Austauschbeziehungen zwischen entfernten Menschen und Orten und als zunehmendes Bewusstsein über diese Intensivierungs- und Kompressionsprozesse (COOK/CRANG 1996:133). Neben den mit den anderen Ansätzen gemeinsamen Bemühungen, globalisierte Zusammenhänge und deren Dynamik zu erklären, wird darüber hinaus stärker der – durchaus politisch motivierte – Anspruch vertreten, zu einer Verbindung bzw. auch einer 'Wieder-Verbindung' ('reconnection') zwischen immer mehr getrennt voneinander agierenden Bereichen, vor allem zwischen Produktion und Konsum von Nahrungsmitteln, beizutragen (vgl. z.B. W INTER 2003, 2004, 2005). Der hier vertretene und in der Einleitung vorgestellte Following-Ansatz baut auf diesem Anspruch auf (vgl. COOK 2006:656ff). Das Motiv des (Wieder)Verbindens findet sich nicht nur in Bezug auf die Verknüpfungen zwischen verschiedenen Menschen und Orten, die durch globale Produktions-, Handels- und Konsumzusammenhänge voneinander beeinflusst sind, ohne ihre Verbundenheit vollständig wahrzunehmen bzw. nachzuvollziehen. Auch sollen die Trennung zwischen Politisch-Ökonomischem und Kulturellem sowie die einseitige Zuordnung vom Politisch-Ökonomischem zur Produktion bzw. vom Kulturellem zum Konsum überwunden werden (vgl. JACKSON 1999, 2002). Dabei geht es nicht nur darum, den kulturellen Kontext politisch-ökonomischer Praktiken oder die kulturellen Repräsentationen des Ökonomischen in seiner Alltagspraxis oder im akademischen Diskurs zu betonen, als vielmehr auch darum, die kulturelle Materialisierung des Ökonomischen zu verdeutlichen: „[T]he need to reconnect them is framed […] rather through a focus on the cultural materialization of the economic, such that the cultural is increasingly what is economically produced, circulated and consumed“ (COOK/CRANG 1996:134, vgl. LASH/URRY 1994, Hervorhebung im Original). Kulturelle Materialisierung meint Prozesse, durch die kulturelles Leben objektiviert wird und durch die kulturelle Objekte als soziale Formen konstruiert werden, sodass solche kulturellen Objekte nur durch ihre Beziehungen zu ihrem sozialen und geographischen Kontext verstanden werden können (COOK/CRANG 1996:132, vgl. MILLER 1987). Essen wird als kulturelles Objekt in komplexen Kreisläufen hergestellt, gehandelt, verkauft, zubereitet und konsumiert. Sein Weg durch diese Kreisläufe hindurch verkörpert die Komplexität seines 'sozialen Lebens' 76 Theoretisch-konzeptioneller Teil (vgl. APPADURAI 1986b). Der Begriff des Kreislaufs bzw. der Zirkulation von Kultur ('circuits of culture') wurde in einer von den cultural studies inspirierten Medienwissenschaft geprägt, um die aktive Rolle aller Akteure (inklusive der KonsumentInnen) und die komplexen Wechselwirkungen zwischen diesen Akteuren bei der Konstruktion, Verbreitung und Rezeption von Werten, Wissen und Informationen zu veranschaulichen; „to stress how flows of values and information are not simply imposed on passive viewers or readers by media institutions, but rather constructed and reconstructed through the interrelations of the full range of actors involved in the production, circulation and consumption of those meanings“ (COOK/CRANG 1996:141, vgl. JOHNSON 1986, DU GAY et al. 1997). Übertragen auf Warenketten und -netzwerke insbesondere im Lebensmittelbereich zirkulieren in 'circuits of culinary culture' nicht nur Nahrungsmittel von der Produktion bis hin zum Konsum, sondern auch Vorstellungen und Wissen über diese Nahrungsmittel und ihre Herkunft (COOK/CRANG 1996:141). Die kritische Auseinandersetzung mit solchen Vorstellungen und Wissensformen stehen im Mittelpunkt der Arbeiten zu commodities and circuits of culture. Der Anspruch, zu einer (Wieder)Verbindung zwischen den verschiedenen Bereichen von der Produktion bis zum Konsum beizutragen, basiert dabei auf Annahmen marxistischer Tradition, dass durch die Kommodifizierung von Produkten in distanzierten, weltumspannenden Warenketten/-netzwerken ein Entfremdungsprozess78 zwischen den Orten der Produktion, des Handels und des Konsums stattfindet, der zur Herausbildung von Warenfetischen im Bereich des (von der Produktion und vom Handel entfremdeten) Konsums führt (vgl. HARVEY 1990:422f, COOK/CRANG 1996). Kernaussagen Darauf aufbauend und in Hinblick auf die Rolle von Wissensformen über Waren und ihre Herkunft differenzieren Ian Cook und Philip Crang (1996:132) einen doppelten Warenfetisch ('double commodity fetishism'), der neben einer Unkenntnis über Produktions- und Handelszusammenhänge auch spezifische, als geographical knowledges bezeichnete Vorstellungen über die konsumierten Waren umfasst. Die erste Fetischisierung beruht auf der Trennung der konsumierten Waren von den Umständen ihrer Produktion und ihres Handels und der damit verbundenen Konstruktion von Unwissenheit der KonsumentInnen. Daran knüpft sich oft die Forderung an, im Sinne eines 'Wiederverbindens' hinter den Fetisch zu blicken und die Unwissenheit durch die Konstruktion von Wissen über die Umstände von Produktion und Handel zu überwinden. „[W]e can in practice consume our meal without the slightest knowledge of the intricate geography of production and the myriad social relationships embedded in the system that puts it upon our table. […] The grapes that sit upon the supermarket shelves are mute; we cannot see the fingerprints of exploitation upon them or tell immediately what part of the world they are from. We can, by further enquiry, lift the veil on this 78 bzw. eine „Dekontextualisierung“, die eine „Re-Kontextualisierung“ erfordert (COOK/CRANG 1996:145, HOOKS 1992:31) 77 Kapitel 1 geographical and social ignorance and make ourselves aware of these issues […]. But in so doing we find we have to go behind and beyond what the market itself reveals in order to understand how society is wor king. This was precisely Marx´s own agenda. We have to get behind the veil, the fetishism of the market and the commodity, in order to tell the full story of social reproduction.“ (HARVEY 1990:422f) Zusätzlich zu dieser, durch die vielzitierten Worte von David Harvey illustrierten Dimension der Unwissenheit wird eine zweite Form des Warenfetischs eingeführt, die sich auf konstruierte Vorstellungen und Wissensformen über die konsumierten Waren bezieht. Solche geographical knowledges basieren auf bestehenden kulturellen Bedeutungszuschreibungen bezüglich Orten, Räumen und Menschen und werden innerhalb von Warenketten/-netzwerken konstruiert, um zu verkaufende Produkte mit Imaginationen und Werten zu verknüpfen und sie damit von anderen abzugrenzen (Produktdifferenzierung als Marketingstrategie), oder indem sich bestimmte, z.B. regionaltypische oder gruppenspezifische kulinarische (oder andere Konsum-) Praktiken herausbilden (vgl. COOK/CRANG 1996). So setzt die Werbung für und Präsentation von Waren z.B. auf deren touristische Qualität ('touristic quality'), die eine Integration von Urlaubserfahrungen, exotischen Sehnsüchten oder tropischer Frische in den kulinarischen häuslichen Alltag verspricht (COOK/CRANG 1996:135f, vgl. LASH/URRY 1994). Typische oder internationale Restaurants, nicht selten in spezifischen urbanen Settings geprägt von Gentrifizierung oder multikultureller Bevölkerung, offerieren nicht nur vielfältige Gerichte, sondern auch ein entsprechendes Flair bzw. die Möglichkeit, flanierend zusätzliche touristische oder exotische Qualitäten zu erleben oder Sehnsüchte zu befriedigen (COOK/CRANG 1996:136, vgl. SMART 1994). Vor dem Hintergrund dieser beiden Formen des Warenfetischs lassen sich drei miteinander verwobene Geographien ausmachen, die zusammen genommen zum Verständnis der Welt des (Essens)Konsums beitragen (vgl. COOK/CRANG 1996:138): Geographien der Orte, an denen Nahrungsmittel konsumiert werden – nicht nur zum Zweck der Einverleibung, sondern auch als Räume, in denen identitätsstiftende Praktiken vollzogen werden ('spaces of identity practice', vgl. FRIEDMANN 1994); Geographien der räumlichen Strukturen von Produktion und Handel, die über die Orte des Konsums hinausreichen, als deren Versorgungssysteme ('systems of provision') jedoch essentiell für deren Zustandekommen sind (vgl. FINE/LEOPOLD 1993:20); Geographien der Wissensformen und Vorstellungen ('geographical knowledges'), die mit den Produkten, die durch diese Versorgungssysteme fließen, verbunden werden. Die (den oben genannten doppelten Fetischisierungsprozessen entgegenstehende) Untrennbarkeit dieser drei konstitutiven Komponenten führt zu einer (doppelten) Konzipierung von Essen oder sonstigen Produkten als sowohl ortsgebunden auftretende kulturelle Artefakte ('placed cultural artefacts'), als auch als ortsübergreifende ('dis-placed') Gegenstände, die nur durch ihre Verbindungen zu den vielen Orten, die an ihrem Zustandekommen beteiligt sind, begriffen werden können (vgl. COOK/CRANG 1996:132f). Waren und deren Konsum an 78 Theoretisch-konzeptioneller Teil bestimmten Orten werden durch solche ortsübergreifenden Prozesse ('processes of displacement') hervorgebracht. Der Begriff des displacement ermöglicht ein erweitertes geographisches Verständnis von Waren und der Ketten bzw. Netzwerke, die sie hervorbringen: „[...] the notion of displacement has […] been used […] to evoke a sense of a geographical world where cultural lives and economic processes are characterized not only by the points in space where they take and make place, but also by the movements to, from and between those points (CLIFFORD 1988, 1992; ROBERTSON et al. 1994). To elaborate, in terms of food consumption the figure of displacement might be used to suggest an understanding whereby: processes of food consumption are cast as local, in the sense of contextual; but where those contexts are recognized as being opened up by and constituted through connections into any number of networks, which extend beyond delimiting boundaries of particular places (see also MASSEY 1991a, 1991b, 1992, 1993, 1995); furthermore, where imagined and performed representations about 'origins', 'destinations' and forms of 'travel' sourround these networks´ various flows; and where consumers (and other actors in food commodity systems) find themselves socially and culturally positioned, and socially and culturally position themselves, not so much through placed locations as in terms of their entanglements with these flows and representations.“ (COOK/CRANG 1996:138) Die Wissensformen und Vorstellungen von den Waren, von ihrer Herkunft und von dem Weg, den sie von dort bis zu ihrem Konsum zurücklegen, spielen sowohl für kulturelle (z.B. kulinarische) Praktiken des Konsum, als auch für die sie produzierende (Nahrungsmittel)Industrie eine immer wichtigere Rolle (COOK/CRANG 1996:140). Zur Einordnung dieser geographical knowledges kann danach gefragt (und kritisch hinterfragt) werden, welche Formen sie annehmen, wie ihre soziale Konstruktion zustande kommt und wie sie verwendet werden, um kulturelle Unterschiede oder Produktdifferenzierung herzustellen (vgl. COOK/CRANG 1996:133). Aus Sicht der KonsumentInnen lassen sich grundsätzlich drei Formen solcher geographical knowledges unterscheiden (COOK/CRANG 1996:142f): Vorstellungen bezüglich der Settings der konsumierbaren Waren, also bezüglich der Kontexte in denen sie benutzt oder verbraucht werden können bzw. sollen; „Geographical knowledges about settings evaluate the appropriate uses of foods and contexts for their consumption. This involves knowledge about the resources needed for domestic preparation, such as recipes and kitchen tools, and judgements on the appropriate physical and social environments for consumption.“ (COOK/CRANG 1996:142f) Vorstellungen bezüglich des Lebenswegs der Produkte, also darüber, wie sich ihre Produktion und der Handel mit ihnen gestalten; „Knowledges concerning the biographies of foods´ production and distribution […], whilst more generally apparent, are stressed most explicitly in various 'ethical' food products, whether those be fairtrade products […], or meat products that are 'animal friendly'.“ (COOK/CRANG 1996:143) Vorstellungen bezüglich der Herkunft von Produkten, die in unterschiedlichen Formen auftreten und sich einerseits sehr spezifisch auf Zuschreibungen von Tradition und Authentizität (z.B. auch kodifiziert durch geschützte Ursprungsangaben), andererseits 79 Kapitel 1 eher lose auf kulturelle Unterschiede (z.B. in Form von 'exotischen' oder 'ethnischen' Nahrungsmitteln) beziehen können. „Knowledges about 'origins' can take varying forms. They might construct geographies of specific places or regions of product origin, constructions often associated with meanings of tradition and authenticity. […] And/or they might involve constructed geographies much more loosely expressive of cultural differences“ (COOK/CRANG 1996:143) Geographical knowledges sind dabei nicht einfach Bilder, die auf die Waren projiziert, und die von denen, die mit den Waren in Kontakt kommen, betrachtet werden. Sie stellen als bestimmte, von den verschiedenen Akteuren eines Warennetzwerkes konstruierbare Wissensformen vielmehr eine (machtvolle) Ressource dar, durch die sich soziale und kulturelle Praktiken formen oder Produkte von anderen abgrenzen und in Wert setzen lassen (vgl. COOK/CRANG 1996:140f). Sie können durch die Konstruktion von Ignoranz oder durch die Erzeugung bestimmter Vorstellungen von der Qualität eines Produkts entstehen. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, wo bzw. von wem welche Formen von Wissen (oder Nicht-Wissen) produziert werden und welche ökonomischen, sozialen oder kulturellen Effekte dies hat: „In thinking about them [the geographical knowledges, S.D.], we clearly need to ask questions of quantity (how much do consumers and other actors within the food system know about the commodities that they are involved with?), but this in itself is not enough. It examines only the first commodity fetish, the construction of ignorance. We also need to understand historical and spatial variations in knowledges, their textual constructions, and their operations within fields of power. We need to deal with questions of source (where are these knowledges produced?), quality (what kinds of knowledges do consumers have?), and economic and cultural effects (in particular the economic and cultural surpluses extracted through them; see CHOW 1993:144-164).“ (COOK/CRANG 1996:140f) Die Produktion, die Zirkulation und der Konsum von geographical knowledges erfolgt in circuits of culture, in denen alle Akteure potentielle ProduzentInnen, MultiplikatorInnen und KonsumentInnen solcher Wissensformen sind. Die Beziehungsgeflechte innerhalb dieser Kreisläufe bestimmen die Formung und Verbreitung der Wissensformen. Beziehungen – oder auch 'Nicht-Beziehungen' – umfassen verschiedene repräsentative Prozesse ('representational processes'), zu denen das zur Sprache bringen (bzw. auch das Verschweigen oder Unterdrücken) bestimmter Vorstellungen (Lesarten), das Übersetzen von Wissen (um andere zu informieren oder eigene Interessen zu schützen), die Konstruktion von Interessen, durch die Akteure den Anspruch erheben, andere Akteure des Warennetzwerkes zu verstehen oder gar zu repräsentieren, sowie das Abschöpfen von Mehrwert durch die Erhöhung des ökonomischen oder kulturellen Kapitals mithilfe der konstruierten Wissensformen gehören können (COOK/CRANG 1996:142). An eine solche Konzeption von geographical knowledges schließen sich Fragen nach ihrer sozialen Produktion innerhalb solcher Beziehungsgeflechte an, wie z.B. nach der historisch, räumlich oder sozial unterschiedlichen Bewertung (und ökonomischen Inwertsetzung) verschiedener Vorstellungs- und Wissensformen, nach den bestimmten Wissensformen zugrun80 Theoretisch-konzeptioneller Teil deliegenden Rationalitäten, nach der institutionellen Landschaft, innerhalb derer die Wissensformen hervorgebracht werden, nach der Rolle der KonsumentInnen bei der Konstruktion, aber auch bei der Kritik bestimmter Vorstellungen, oder danach, inwieweit bestimmte Wissensformen in einzelnen Märkten zu einer dominanten Strategie der Produktdifferenzierung und Wertsteigerung werden (COOK/CRANG 1996:142). Diskussion Auf der einen Seite können geographical knowledges als eine spezielle Art von Wissensformen gefasst werden, die innerhalb von Warenketten/-netzwerken diskursiv hervorgebracht werden und sich dem Interpretationsreportoire des jeweiligen Diskurses zuordnen lassen. Die Möglichkeit, bestimmte geographical knowledges im Rahmen der Ketten/Netzwerke zu konstruieren und zu mobilisieren, kann als an die den involvierten Akteuren zugänglichen Sprecherpositionen innerhalb des jeweiligen diskursiven Feldes geknüpft betrachtet werden. Mit einer solchen Übersetzung dieser Überlegungen in die zuvor ausgeführten gouvernementalitäts- und diskurstheoretische Ansätze gelingt deren Anschluss an bzw. deren Integration in die Konzeption der Steuerungszusammenhänge von Warenketten/-netzwerken. Für die Untersuchung von Bio + Fair Produkten ist der Begriff der geographical knowledges von besonderem Interesse, da hier gezielt Wissensformen und Vorstellungen über die angebotenen Produkte erzeugt werden, die sich auf die Gestaltung deren Lebensweges und die Rolle der in Herstellung und Handel involvierten Menschen beziehen (und dabei einen Repräsentationsanspruch stellen, sofern sie nicht von diesen Menschen selbst erzeugt werden) und die sowohl zur Produktdifferenzierung am Markt beitragen, als auch ein Entscheidungskriterium bei der Kaufbzw. Konsumentscheidung darstellen können. Auf der anderen Seite bestehen innerhalb der Literatur zu commodities and circuits of culture einige kontroverse Auseinandersetzungen, deren Fragen für die Untersuchung von Bio + Fair Initiativen von Interesse sind und die sich in erster Linie mit dem durch Forschung konstruierbaren Wissen beschäftigen. Wenn innerhalb von Warenketten/-netzwerken Fetischisierungsbzw. Dekontextualisierungsprozesse eintreten, die entweder Wissen über Produktions- und Handelszusammenhänge der zum Konsum bereit gestellten Waren verschleiern oder bestimmte Wissensformen über die Konsumgüter konstruieren, stellt sich die Frage, welches alternative bzw. zusätzliche Wissen durch geographische Forschung produziert werden sollte, um die bestehenden Produktions-, Handels- und Konsumzusammenhänge sowie die durch sie hindurch zirkulierenden geographical knowledges zu erklären und um dem Anspruch des Wiederverbindens von Produktion, Handel und Konsum gerecht zu werden (COOK/CRANG 1996:145; vgl. HOOKS 1992). Entsprechend der Aufteilung der geographical knowledges in Lesarten über die Herkunft der Waren, ihren Weg durch Produktions- und Handelssysteme hindurch und in die im Rahmen von Vermarktung, Verkauf und Konsum übermittelten Bilder und Vorstellungen ergeben sich hier verschiedene Möglichkeiten. 81 Kapitel 1 So kann zum einen mehr Wissen über die tatsächliche Herkunft von Waren oder die Entstehung typischer Speisen produziert werden. Dabei besteht die Gefahr, bestehende Konstruktionen von Orten, Herkunft, Authentizität, 'Hier' und 'Dort' oder vom 'Eigenen' und 'Anderen' zu reproduzieren bzw. neue Formen davon zu produzieren. Die Beschäftigung mit Ursprüngen und deren Vermischungen erfordert von daher eine stete Reflexion der sozialen Konstruiertheit von Orten, Räumen (Regionen) und deren Abgrenzungen sowie eine kritische Auseinandersetzung mit mehr oder weniger pessimistischen Lesarten einer einseitigen oder gegenseitigen Beeinflussung globaler Kommodifizierungstendenzen – á la McDonaldisierung (RITZER 1993) oder in Form einer Indigenisierung (vgl. z.B. HANNERZ 1992) globaler Warenströme (COOK/CRANG 1996:137ff; vgl. COOK 2008, vgl. z.B. zu Currywurst und Döner HENDERSON 2004, zu Halloumi z.B. WELZ/ANDILIOS 2004). Entgegen einem Verständnis von Orten oder Regionen als geschlossene Einheiten und entgegen einer sich gegenseitig bedingenden Opposition lokaler kultureller Artefakte bzw. Praktiken einerseits und homogenisierender, invasiver äußerer Einflüsse andererseits, wird das Konzept des displacement gestellt (COOK/CRANG 1996:138): „[...] emphasis is laid on an extroverted sense of place in which boundaries are seen as contestable and contested social constructions and where any here/us is constituted through its connections into the there/them. Thus any placed cuisine depends upon those connections, not simply historical accretion or stasis within that place. And, in turn, there is no simple or unconstructed association of foods and places; rather, placings of foods are active social constructions (MINTZ 1985), as borne witness to most obviously by the contemporary fabrication or simulation of many 'ethnic' cuisines (e.g. chilli con carne as a Texan construction of a Mexican dish) (see SMART 1994:177), but, crucially, equally true of all such placings including those more commonly valued as authentic.“ (COOK/CRANG 1996:139, Hervorhebung im Original) Mit einem Verständnis von Orten und Räumen (Regionen) als sozial konstruierte, identitätsstiftende Projekte können kritische Analysen zur Herkunft von Waren und Speisen zu einer Rekontextualisierung und Reinterpretation bestehender Symboliken und Praktiken beitragen (COOK/CRANG 1996:140). Zum anderen wird neben der Herkunft von Waren vor allem eine Produktion von mehr Wissen über deren Biographien bzw. Lebenswege durch die Versorgungssysteme hindurch gefordert, um 'hinter den Fetisch' zu blicken und die Geschichten aufzudecken, die unser Essen erzählen würde, wenn es sprechen könnte. Unterfangen dieser Art werden kontrovers diskutiert, insbesondere, wenn damit eine Moralisierung des Konsums (vgl. z.B. SACK 1993) und eine wissenschaftliche Deutungshoheit im Sinne der Möglichkeit, die 'wahre' Geschichte hinter den Dingen enthüllen zu können (vgl. z.B. HARVEY 1990), verknüpft werden (vgl. z.B. BARNETT/LAND 2007, BARNETT et al. 2005, JACKSON 1999, 2002). Die Kritik richtet sich u.a. gegen eine Ausblendung des Bereichs des Konsums bzw. eine Entmündigung der KonsumentInnen (z.B. COOK/CRANG 1996:146f) und gegen die Annahme, die bloße Produktion von erklärendem, monologischem Wissen führe zu einer Veränderung des (aufgrund eines Wissensdefizits unmoralischen) Verbraucherverhaltens (z.B. BARNETT/LAND 2007:1068). Während eine solche Kritik ihrerseits darauf achten sollte, bei ihrer Rede gegen Moralisierung und ForscherInnenautorität die KonsumentInnen nicht auf der anderen Seite zu entmündigen, indem 82 Theoretisch-konzeptioneller Teil jegliches 'Aufdecken' von Einblicken, die über die Oberfläche der Konsumwelt hinausgehen, als unzumutbar oder einseitig belehrend unterbunden wird, kann sie gleichzeitig für Fragen der Analyse und der Darstellung sensibilisieren: Neben sprachlichen Feinheiten, die räumliche Begriffe gegenüber bildlichen bevorzugen ('routes' statt 'roots', 'distanced' oder 'displaced' statt 'veiled'; vgl. JACKSON 1999:98f), wird der Ansatz des 'Aufdeckens', des 'Blicks unter die Oberfläche' ergänzt durch die Anregung, mit den Oberflächen der Fetische zu arbeiten, indem z.B. verschiedene sichtbare Facetten aufbereitet oder dekonstruiert, Bruchstellen aufgezeigt oder Oberflächen bzw. Sichtbares unterschiedlicher Orte und Zeitpunkte ethnographisch erforscht und in Form von Montagen oder Nebeneinanderstellungen ('juxtapositions') dargestellt werden (COOK/CRANG 1996:147f, vgl. TAUSSIG 1992:122, WILLIS 1991, PRED 1995; COOK et al. 2004). Damit geben die Arbeiten zu commodities and circuits of culture neben ihres konzeptionellen Beitrags durch die Fokussierung auf die Rolle von geographical knowledges methodologische Impulse bezüglich der Aufbereitung und Darstellung des im Rahmen von Following-Studien konstruierten Materials. Zusammenfassung Mit der Einführung in die verschiedenen, in den vergangenen zwei Jahrzehnten hervorgebrachten Ansätze zur Beschreibung, Erklärung und Interpretation von globalen Produktions-, Handels- und Konsumzusammenhänge wurde ein Streifzug durch einen speziellen Teil der Ideengeschichte des Fachs unternommen. Weisen die diskutierten Arbeiten einerseits einen gemeinsamen thematischen Bezug auf, konnten andererseits die verschiedenen Schwerpunktsetzungen und Facetten sowie Stärken und Schwächen aufgezeigt werden. Alles zusammen genommen ergibt die Grundlage für eine umfassende und vielschichtige Konzeptualisierung des Gegenstandsbereichs. Von governance as driving (wer?) über governance as coordination (in welcher Form?) zu governance as driving (mit welchen Grundlagen und Mitteln?) wurden verschiedene Ebenen der Frage nach der Steuerung solcher transnationaler Produktions-, Handels- und Konsumketten bzw. -netzwerken aufgezeigt. Dabei ergänzen sich Konzeptionen von Macht als externe, entweder zentrierte oder dezentrierte, sowie interne Kraft. Akteure, deren Beziehungen zueinander und zu ihrer 'natürlichen' Umwelt, deren Positionen, Strategien und Praktiken, sowie durch diese Akteure hervorgebrachte und immer wieder neu verhandelte Institutionen wurden aus verschiedenen Blickwinkeln und mit unterschiedlichen Akzenten und Reichweiten als in diese Ketten und Netzwerke involviert erfasst. Bevor nun zentrale Aspekte dieser allgemeinen theoretisch-fachgeschichtlichen Aufarbeitung für die Konzeptualisierung des Untersuchungskomplexes dieser Arbeit aufgegriffen werden, erfolgt zunächst eine Einführung in Arbeiten, die sich Bio + Fair als einer speziellen Form der Steuerung globaler Warenketten/-netzwerke widmen. 83 Kapitel 1 1.2 Fallstudien zur Charakterisierung sowie zur Beschreibung und Erklärung der Entwicklung und aktueller Spannungsfelder von Bio + Fair In 1.1 wurden mittels eines Lesens durch Schlüsseltexte hindurch verschiedene Ansätze zur allgemeinen Konzipierung von globalen Produktions-, Handels- und Konsumzusammenhängen und deren Steuerung und Koordination erschlossen. Bio- und Fair Trade-Zertifizierungen und dahinter stehende Initiativen stellen eine besondere Form von Bemühungen dar, solche Zusammenhänge zu steuern und zu koordinieren. Ihr gemeinsames Thema sind die ökologischen Auswirkungen und sozialen Bedingungen bei der Herstellung von und dem Handel mit Produkten sowie die Bereitstellung von Verfahren und Instrumenten, um Produktion und Handel möglichst nachhaltig zu gestalten. Die Bestimmung von Qualitätsaspekten, die über die unmittelbaren Eigenschaften des Endprodukts hinausgehen und die Rahmenbedingungen dessen Lebenswegs mit einbeziehen, steht im Mittelpunkt. Was Bio +Fair Initiativen und ggf. dazugehörige Zertifizierungen genau sind, ist dabei weder eindeutig und unumstritten, noch statisch und unveränderlich. Vielmehr handelt es sich um Programmatiken, deren Definitionen, Grundsätze, Ziele, Instrumente und Praktiken umkämpft sind und die sich, eingebettet in ein dynamisches Umfeld und unter Mitwirken unterschiedlichster Akteure, kontinuierlich entwickeln und verändern. Ähnlich der Vielfalt bei der Konzeption von globalen Warenketten/-netzwerken im Allgemeinen finden sich auch bei dem Versuch, Bio und Fair Trade zu charakterisieren und ihre Entwicklung im Lauf der Zeit zu interpretieren, unterschiedlichste Ansätze. Im Folgenden wird – anhand von ausgewählten Beispieltexten, die auf einen oder mehrere der in 1.1 behandelten Ansätze zurückgreifen – zunächst eine Charakterisierung von Produktsiegel und damit verbundenen Zertifizierungen als formale Institutionen vorgenommen (1.2.1), um anschließend in zentrale Spannungsfelder bei der Entwicklung von Bio + Fair als historische gewachsene und sich verändernde Initiativen einzuführen. Neben der Entwicklung der biologischen Landwirtschaft (1.2.2) und des Fairen Handels (1.2.3) werden dabei auch Aspekte des zu Bio + Fair komplementären und in einem Spannungsverhältnis stehenden 'ethischen Handels' im konventionellen Bereich (1.2.4) aufgegriffen. 1.2.1 Produktsiegel als formale, marktendogene Institutionen (MAYER 2003a) Eine ausführliche institutionenökonomische Charakterisierung und Typisierung von Produktsiegeln und den dazu gehörigen Zertifizierungssystemen findet sich in Claudia Mayers Dissertation zu Umweltsiegeln im Welthandel (MAYER 2003a). Anhand des Beispiels der globalen Warenkette von Kaffee soll untersucht werden, „inwieweit Marktmechanismen unter gegebenen Rahmenbedingungen für eine nachhaltige Exportproduktion sinnvoll genutzt werden kön- 84 Theoretisch-konzeptioneller Teil nen“ (MAYER 2003a:1). Die Analyse der Funktions- und Wirkungsweise von Umweltsiegeln soll die erforderlichen Rahmenbedingungen sowie die Möglichkeiten und Grenzen herausarbeiten, eine „nachhaltige Exportproduktion unter Verbesserung der ökologischen wie ökonomischen Situation“ zu fördern (MAYER 2003a:4). Zwischen ökonomischer Rentabilität und ökologischer Anpassung wird ein Spannungsverhältnis angenommen, dass als „sozial-ökologisches Dilemma“ bei binärer Ausprägung (hoch/niedrig) vier Szenarien zulässt (MAYER 2003a:8ff): einen „positiven Komparativitätsfall (Rahmenbedingungen ermöglichen, dass wirtschaftlich lohnenswerte Handlungen auch ökologisch angepasst sind)“, einen „moralischen Konfliktfall (Verfolgung wirtschaftlicher Interessen ist umweltzerstörend)“, einen „negativen Komparativitätsfall (Ressourcenausbeutung bei gleichzeitiger ökonomischer Unrentabilität)“ sowie einen „ökonomischen Konfliktfall (ökologische Anpassung führt zu ökonomischen Nachteilen)“ (MAYER 2003a:9)79. Es werden grundsätzlich drei Steuerungselemente zur Durchsetzung von (Umwelt)Politik unterschieden: „erstens die Internalisierung der externen ökologischen Kosten, zweitens staatliche Regulierung durch Umweltabgaben, Umweltzertifikate sowie Haftungs- und Ordnungsrechte und drittens freiwillige Selbstverpflichtungen bzw. informatorische Siegel“ (MAYER 2003a:2). Dabei stellen letztgenannte „den Versuch dar, die Kräfte des Marktes für Ziele des Umweltschutzes einzusetzen“, indem sie ökologische Aspekte der Produktion als Auflagen integrieren, die bei konventioneller Herstellungsweise nicht berücksichtigt werden (MAYER 2003a:42). Um erfolgreich zu sein, müssen sie u.a. den negativen Komparativitätsfall sowie die beiden Konfliktfälle des sozial-ökologischen Dilemmas vermeiden können. Insgesamt sollten Siegel, um einen Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung zu leisten, „in der Lage sein, einen grundlegenden Wandel der Produktionsmuster zu induzieren und zu fördern“, dafür „ökologisch sinnvolle“ Standards bereit stellen, die „von vielen Betrieben übernommen werden können“, eine „grundlegend neue Verteilung der Ressourcen und Wertschöpfungsanteile entlang der Warenkette“ anstreben und gerade für sonst benachteiligte KleinproduzentInnen „Wettbewerbsvorteile und stabile Marktbeziehungen bieten“ (MAYER 2003a:11f). Dabei können aufgrund der Freiwilligkeit innerhalb der Marktlogik nur positive Anreize (z.B. Preispremium), keine sanktionierenden Mittel eingesetzt werden (MAYER 2003a:12). Allgemein werden Umweltsiegel verstanden als „marktendogene Institutionen, die als neue Spielregeln einen Handlungsspielraum für die Akteure der globalen Warenkette schaffen“ (MAYER 2003a:37, Hervorhebungen SD) und „die den Umgang des Menschen mit seiner Umwelt regeln sollen“ (MAYER 2003a:2). Institutionen werden im Sinne der neuen Institutionenökonomik definiert als „Spielregeln der Gesellschaft mit dem Ziel, durch die Schaffung einer stabilen (aber nicht notwendigerweise effizienten) Ordnung die Unsicherheit menschlicher Interaktion sowie das Risiko ökonomischen Tausches zu vermindern und damit die Austauschbeziehungen zu optimieren“ (MAYER 2003a:20, vgl. NORTH 1992:4 und 1.1.4). Dabei werden Institutionen nicht nur als (bereits bestehende bzw. gegebene) Unsicherheit reduzierende „Orientierungsmittel“ und „Verhaltensrestriktionen“ gefasst (MAYER 2003a:20f, vgl. DIETL 1993), sondern es wird auch deren Entstehung und Veränderung als ein Aushandlungspro79 zu äquivalenten Überlegungen im Bereich des fairen Handels vgl. LIEBIG/SAUTTER 2000:152 85 Kapitel 1 zess zwischen den verschiedenen involvierten (also nach den Spielregeln spielenden) Akteuren bzw. Organisationen konzipiert, um zu untersuchen, wie „Entstehung, Veränderung und Gestaltung von Institutionen durch menschliches Handeln“ erfolgt (MAYER 2003a:21; vgl. NORTH 1992). So können „pfadabhängig“ neue Institutionen entstehen bzw. bestehende Institutionen sich wandeln (MAYER 2003a:32). Im Falle der Umweltsiegel wird deren Entstehung als „eine Reaktion auf Staatsversagen, Umweltschutz auf nationaler wie internationaler Ebene zu implementieren, aber auch Marktversagen durch Unterlassung der Akteure mittels entsprechender Nachfragen und Angebote“ angenommen (MAYER 2003a:37). Als ein Auslöser für das vermehrte Auftreten von umwelt- oder sozialbezogenen Produktsiegeln wird ein „zunehmendes Kundenbewusstsein für globale ökologische und soziale Probleme einerseits und schadstoffbelastete Lebensmittel andererseits“ ausgemacht, durch das „die Nachfrage nach Produkten, die entweder mit bestimmten Produktmerkmalen (z.B. Schadstofffreiheit) oder mit der Umweltverträglichkeit ihrer Herstellung beworben werden“, steigt (MAYER 2003a:10). Entsprechend fungieren Umweltsiegel - „primär ein Vermarktungsinstrument“ (MAYER 2003a:42) – in einer „Brückenfunktion zwischen Verbraucher und Produzent“ als „Vermittlungsinstitution zwischen Angebot und Nachfrage“ (MAYER 2003a:4,11). Sie sind dabei keine bloßen „Informationsträger“, sondern auch „Bewertungsinstrumente“: „Umweltzeichen sind als Symbol dargestellte, vereinfachte Informationen über die bessere Umweltverträglichkeit von Produkten, die im Vergleich zu anderen, dem gleichen Gebrauchszweck dienenden Produkten, ermittelt wurde“ (LANDMANN 1999:23, zitiert in MAYER 2003a:37). Bedeutend ist der „komparative Charakter der Definition“, der zum einen „verdeutlicht, dass es sich lediglich um eine vergleichsweise, nicht aber um eine absolute Verbesserung handelt“ (MAYER 2003a:37), was zum anderen im Zuge eintretender Veränderungen der (Siegel als) Institutionen sowohl relative Verbesserungen als auch Verschlechterungen möglich macht80. So haben sich z.B. die internationalen Standards in der biologischen Landwirtschaft schrittweise entwickelt, indem sie zunächst auf den Anbau fokussierten, später dann um soziale Kriterien, biodiversitätserhaltende Aspekte und eine Regelung des Umgangs mit genmodifiziertem Material erweitert wurden (vgl. MAYER 2003a:74). Andererseits kann – wie später gezeigt wird (vgl. Kapitel 3) – z.B. die Einführung von EU-Kriterien für ökologische Aquakultur dazu führen, dass der Mangrovenschutz gegenüber privaten Siegeln der Bioverbände abgewertet wird. Angesichts der Vielfalt der bestehenden Siegel und dahinter stehenden Zertifizierungsverfahren sowie der damit verbundenen Unterschiede in der Reichweite und der Wirkungsweise werden verschiedene Siegeltypen festgelegt. Nach dem Wirkungsbereich von Umweltsiegeln bzw. ihrer Standards lassen sich zwischen Produkt- und Produktionsspezifität folgende Typen identifizieren (MAYER 2003a:38f, vgl. LANDMANN 1999): 80 86 vgl. zu solchen Verbesserungen ('trading up') bzw. Verschlechterungen ('trading down') im Zusammenhang von Marktbzw. Handelsliberalisierung auch MURPHY et al. 2006, dort VOGEL 1995, 1997 Theoretisch-konzeptioneller Teil umweltrelevante Produktstandards: Verbot von Produkteigenschaften, die eine unmittelbare Gefahr für Mensch oder Umwelt darstellen; umweltrelevante produktbezogene Produktionsstandards: Verbot von umweltschädlichen bzw. für den Mensch gefährlichen Herstellungsverfahren, die bestimmte Produkteigenschaften hervorbringen, auch wenn von letzteren selbst keine Gefahr mehr ausgeht; umweltrelevante prozessorientierte Produktionsstandards: Verbot auch solcher umweltschädlichen bzw. für den Mensch gefährlichen Herstellungsverfahren, die sich nicht im Endprodukt niederschlagen. Letztgenannter Typ ist der weitestreichende, allerdings aufgrund seiner Komplexität und seiner 'Loslösung' vom Endprodukt problematisch in der Umsetzung sowie der Überprüfung. Komplementär zu Siegeln, die produktgebunden sind, können sich Unternehmen bezüglich der Anwendung von Umwelt- und Sozialmanagementsystemen (z.B. ISO 14001 im Umweltoder SA 8000 im sozialen Bereich) zertifizieren lassen. Bei Sozialgütesiegeln lassen sich Standards, die sich auf Arbeitsbedingungen (z.B. in einer Plantage) beziehen, von solchen unterscheiden, die auf Handelsbeziehungen (z.B. einer Kleinproduzentin) Einfluss nehmen (MAYER 2003a:39f). Nach der Verteilung der Verantwortlichkeit und der Unabhängigkeit der Kontrollverfahren lässt sich bei Warenketten, die nicht nur auf gegenseitigem Vertrauen basieren, sondern ein Zertifizierungsverfahren zur Überprüfung der vereinbarten Standards anwenden, folgende Unterscheidung vornehmen (vgl. MAYER 2003a:40f): Einerseits finden sich Siegel, bei denen die Zertifizierung von unabhängiger, dazu befugter (akkreditierter) Seite vollzogen wird ('thirdparty-certification'). Dazu gehören nationale bzw. multinationale Umweltsiegel, bei denen die Verantwortlichkeit bei den von den Ländern bestimmten Organen liegt und die Standards gesetzlich geregelt sind (z.B. das EU-Biosiegel) sowie privatrechtliche Umwelt- oder Sozialsiegel, bei denen die Verantwortlichkeit bei einer privaten Gesellschaft/bei einem privaten Verein liegt (z.B. das Fairtrade-Siegel der FLO-I). Auf der anderen Seite stehen firmeneigene Siegel, bei denen die Unternehmen eigene Standards entwickeln und sie selbst kontrollieren ('firstparty-certification' bei Einzelunternehmen, 'second-party-certificiation' bei Unternehmensverbänden). Damit die Umwelt- und Sozialsiegel bezüglich der Zielgebung einer nachhaltigen Entwicklung wirkungsvoll eingesetzt werden können, werden des Weiteren verschiedene erfolgskritische Faktoren angenommen und mit diesen verknüpfte Spannungsfelder identifiziert (vgl. MAYER 2003a:42ff). Eine zentrale Rolle spielt dabei das Verhältnis von Tiefen- und Breitenwirkung. Aus der Annahme, dass Siegel und ihre Zertifizierungssysteme dazu in der Lage sein sollten, einen grundlegenden Wandel der Produktionsweise anzustoßen und voranzutreiben und hierfür von möglichst vielen Betrieben angewandt werden sowie eine Neuverteilung der Wertschöpfungsanteile entlang der Warenkette bewirken sollten (vgl. MAYER 2003a:11f), werden 87 Kapitel 1 realistische(re) Anforderungen an die Produktionsbetriebe als erfolgskritischer Faktor abgeleitet: „Ein aus ökologischer Perspektive strenger Standard wird nichts bewirken, wenn er die Anpassungsfähigkeit der Produzenten durch ein zu hohes ökonomisches Risiko bei der Umstellung überfordert“ (MAYER 2003a:48). Um diese Anpassungsfähigkeit zu gewährleisten, wird zum einen die Entwicklung und Anwendung produkt-, regional- und betriebsspezifischer Indikatoren für einzelne Standards vorgeschlagen, um den unterschiedlichen ökologischen Rahmenbedingungen und Betriebsstrukturen Rechnung zu tragen (vgl. MAYER 2003a:243f). So ließ sich zeigen, dass im Falle von Kaffee in Costa Rica und Kolumbien sich hauptsächlich Kleinunternehmen zertifizieren ließen, die sich in agrarökologisch suboptimalen Anbauregionen befinden. Sie hatten geringe Umstellungskosten zu tragen, da sie ohnehin schon Bio anbauten und somit weder investieren noch Ertragsrückgänge hinnehmen mussten. Modernisierte Großbetriebe in den agrarökologisch optimalen Anbaugebieten dagegen konnten aus den Anforderungen und Möglichkeiten der Zertifizierung weniger Nutzen ziehen.81 Anstelle der erwünschten Breitenwirkung droht so die bloße 'Besiegelung' bestehender Praktiken. Anderseits liegt in einer Unterscheidung der Standards nach Regionen oder Betriebstypen auch die Gefahr, Breitenwirksamkeit auf Kosten der Qualität zu fördern: „Eine Differenzierung in Groß- und Kleinbetriebe könnte allerdings dazu führen, dass Großproduzenten mit 'weicheren' Indikatoren dafür belohnt werden, dass sie in der Vergangenheit relativ mehr externe Kosten verursacht haben“ (MAYER 2003a:163). Neben einer Berücksichtigung produkt-, regional- und betriebsspezifischer Merkmale sei zum anderen auf mehr Ausgewogenheit zwischen den ökologischen Anforderungen und den ökonomischen Anreizen zu achten (vgl. MAYER 2003a:210ff). Bei ökologisch zertifiziertem Kaffee aus Costa Rica und Kolumbien hatte sich an der Verteilung der Wertschöpfung entlang der Warenkette im Vergleich zu konventionellem Kaffee nur graduell etwas im Sinne einer Verbesserung für die Akteure im Produktionsland geändert. Die grundlegenden Machtstrukturen der 'Röster-gesteuerten' Warenkette blieben erhalten. Das größte Risiko beim Umstellungsprozess trugen die ProduzentInnen. Als Alternativen für die defizitäre Berücksichtigung der ökonomischen Dimension innerhalb der Standards der Umweltsiegel werden verstärkte (horizontale, vertikale, diagonale/komplementäre) Kooperationen – etwa um Handelskontakte zu sichern, größeren Einfluss auf die Preisgestaltung zu haben oder Zugang zu Vorfinanzierungen/Krediten z.B. im Rahmen der EZ zu erschließen – sowie eine Kombination von Bio und Fair gesehen, da durch den Fairen Handel das ökonomische Risiko der ProduzentInnen bei der Umstellung auf biologische Produktion reduziert werden könne (MAYER 2003a:212ff). Die Vereinbarkeit von Tiefen- und Breitenwirkung lässt sich einem der zentralen Spannungsfelder in der Diskussion um Bio + Fair zertifizierte Produkte zuordnen, nämlich der Frage, inwieweit eine zunehmende, 'angepasste' Breitenwirkung (in dem Sinne, dass immer mehr, und besonders auch größere Betriebe zertifiziert werden) zu einer 'Verwässerung' der Standards, also zu einer Reduktion der Tiefenwirkung führt, die im schlimmsten Fall sogar zu einer Stabilisierung der Verhältnisse nicht nachhaltiger Produktion bzw. einer Benachteiligung von KleinproduzentInnen beitragen könnte (vgl. z.B. auch PFEIFER 2007). Eng mit dieser Proble81 88 für ähnliche Beobachtungen im Bananenanbau in Ecuador vgl. FAO 2008:23 Theoretisch-konzeptioneller Teil matik verknüpft ist der Umstand, dass Standards festgelegt (ausgehandelt) werden müssen, erfüllt werden sollen und wandelbar sind. Hieran knüpfen sich Fragen der Partizipation bei der Festlegung und Anpassung von Standards sowie Fragen der standardorientierten (Kriterien müssen erfüllt sein) oder prozessorientierten (Weg zur Erfüllung der Kriterien wird eingeschlagen) Zertifizierung. Statt Minimalstandards intendierten die Siegel ursprünglich, „to encourage and reward firms that choose to produce or trade products that use the highest social and environmental standards in production“ (CONROY 2001:4, zitiert in MAYER 2003a:47). Treten verstärkt Akteure für Breitenwirkung und Anpassungsfähigkeit ein, kann dieser hohe Anspruch erodieren. Eine zentrale Rolle beim Zustandekommen (bzw. auch in der Verhinderung) solcher Veränderungen spielen dabei die Standard setzenden Organisationen, die aufgrund der dem Zertifizierungssystem innewohnenden Machtasymmetrien in den Industrieländern ansässig sind: „Die Standards, die Zertifizierungs- und Akkreditierungsverfahren sind aus der Perspektive der Akteure der [...P]roduktionsländer ein System der Konsumländer. Die dort ansässigen Organisationen haben die neuen Rahmenbedingungen geschaffen, die auch die Handlungsspielräume für Exportproduzenten in Ländern des Südens gestalten. Auf eine Veränderung dieser Rahmenbedingungen haben sie jedoch nur geringen Einfluss. In erster Linie sind es die siegelvergebenden Organisationen, die Begrenzungen der Handlungsspielräume […] verringern oder gar beseitigen könnten“ (MAYER 2003a:241). Neben den Aspekten der Tiefenwirkung, Breitenwirkung und Anpassungsfähigkeit gelten als weitere erfolgskritische Faktoren (vgl. MAYER 2003a:42ff): die internationalen Vergleichbarkeit und die Vermeidung von negativen Wechselwirkungen mit internationalen und nationalen Rahmenbedingungen – etwa, um Diskriminierung auf dem Exportmarkt bzw. den Missbrauch der Siegel als handelspolitisches Instrument zu verhindern, oder um einem 'trading down' nationaler Gesetze entgegenzuwirken; Kompetenz und Unabhängigkeit der siegelvergebenden Organisationen, die angemessene Partizipation bei der Kriterienentwicklung und Transparenz bei der Siegelvergabe gewährleisten sollen – Unabhängigkeit ist am ehesten im Rahmen der 'third-partycertification' gegeben, Kompetenz und Partizipation können durch den Einbezug von Akteuren aus den Produktionsländern gestärkt werden (z.B. lokale Zertifizierer als kompetentere Inspekteure, ProduzentInnen als TrägerInnen von Erfahrungswissen); Glaubwürdigkeit und Akzeptanz bei den Kunden und Reputation im Handel – ein Aspekt hierbei ist, dass ein gewisser Wissensstand, ein ausreichendes Maß an Vertrauen und eine gewisse Sensibilität der Konsumgesellschaft Grundvoraussetzung dafür ist, dass KonsumentInnen überhaupt nach Bio- oder Fair-besiegelter Ware nachfragen; der Handel als ein Schlüsselakteur in den meisten Warenketten von Nahrungsmitteln „spielt eine wichtige Rolle als Bindeglied zwischen Produzenten und Konsumenten“ (MAYER 2003a:44). 89 Kapitel 1 Spannungsfelder, die in Zusammenhang mit den letztgenannten erfolgskritischen Faktoren stehen, sind u.a. die Einschränkung der Siegel durch internationale Rahmenbedingungen, die Nivellierung der positiven Anreize für Firmen, wenn Siegel nur Vorläufer für allgemeingültige, z.B. gesetzlich bestimmte Standards sind, die Wirkungslosigkeit von Siegeln angesichts gegenläufiger staatlicher Förderpolitik oder die 'Siegelflut' – also das Vorhandensein einer steigenden Anzahl unterschiedlicher Siegel (und eine damit verbundene Erhöhung der Suchkosten sowie eine drohende 'Siegelmüdigkeit' der KonsumentInnen)82. Offenbaren Siegel Schwächen, z.B. wenn sie sich immer mehr an weniger nachhaltige Praktiken großer Unternehmen anpassen oder indem sie keine Partizipation der ProduzentInnen zulassen, kann dies zu Vertrauensverlusten seitens der KonsumentInnen führen. Hierbei besteht ein Spannungsverhältnis zwischen einerseits der Glaubwürdigkeit der Siegel bzw. auch der Bereitschaft der KonsumentInnen, einen Mehrpreis zu bezahlen, die um so höher sein dürften, je „eindeutiger der Unterschied zwischen konventionellen und umweltgerechten Produkten ist“ (MAYER 2003a:44), und andererseits der Gefahr für den Handel, dass dadurch die ebenfalls geführten, nicht besiegelten Produkte in Verruf geraten können, wenn die Verbraucher fragen: „and what ´s wrong with all the others?“ (CONROY 2001:14, zitiert in MAYER 2003a:44). Mit der Charakterisierung und Typisierung bestehender Siegel und Zertifizierungsverfahren sowie der Identifizierung erfolgskritischer Faktoren und mit diesen verbundenen Spannungsfeldern erlaubt der institutionenökonomisch inspirierte Ansatz zur Untersuchung einer globalen Warenkette, in der Umweltsiegel angewandt werden, eine erste Orientierung über den Untersuchungskomplex. Trotz der prinzipiell integrierten Zeitkomponente, die die Möglichkeit institutionellen Wandels berücksichtigt, wird die Entstehung der Siegelprogramme lediglich auf eher abstrakte Faktoren wie Staats- und Marktversagen zurückgeführt, ohne der historischen Entwicklung, die die heutige Siegel- und Zertifizierungslandschaft hervorgebracht hat und in der Bio + Fair als zivilgesellschaftliche, politisch motivierte Initiativen eine zentrale Rolle spielten, Rechnung zu tragen. Im Folgenden werden daher Beiträge vorgestellt, die die Entwicklung von Bio +Fair als solche Initiativen aufgreifen. 1.2.2 Bio als Initiative: Die Globalisierung der organic agro-food networks (RAYNOLDS 2004) Laura T. Raynolds untersucht die ökonomische, soziale und politische Globalisierung von organic agro-food networks (RAYNOLDS 2004). Aktuell präsentiert sich die Bio-Landwirtschaft als globalisiertes System eines formal regulierten Handels, der sozial und räumlich entfernte Orte der Produktion und des Konsums miteinander verbindet. Sie stellt – obwohl absolut betrachtet noch ein Nischenmarkt – das am schnellsten wachsende Segment der Nahrungsmittelindustrie dar. Dieses Wachstum wird v.a. auf die rasante Ausbreitung von zertifizierten Waren und deren zunehmende Verfügbarkeit im Mainstream der Einzelhandels- und Super82 90 vgl. LANDMANN 1999, COURVILLE 1999, 2001 Theoretisch-konzeptioneller Teil marktketten zurückgeführt. Dabei besteht der internationale Handel mit Bio-Produkten aus zwei Strängen: im Rahmen einer Zentrum-Peripherie-Kategorisierung hat der Handel zwischen den Zentren (US Exporte in die EU und nach Japan; Handel zwischen EU-Ländern sowie Exporte aus Australien, Neuseeland und Südafrika in die 'Triade') die größte Bedeutung, gefolgt von – aufgrund einer steigenden Nachfrage der KonsumentInnen in den Industrieländern nach tropischen Früchten, außersaisonalem Gemüse und vor Ort nicht ausreichend vorhandenen Produkten – wachsenden Exporten aus den Peripherien bzw. dem Süden in die Zentren bzw. den Norden, mit immer mehr Produktionsstätten in 'Entwicklungsländern', insbesondere in Lateinamerika (vgl. RAYNOLDS 2004:725). Anhand des letztgenannte Strangs und dessen rasanten Wachstums wird aufgezeigt, wie sich die heutige Situation eines globalisierten und formal regulierten Zusammenhangs darstellt, der sich aus eher lose koordinierten lokalen ProduzentInnen-KonsumentInnen-Netzwerken heraus entwickelt hat, und welche Spannungen ihr innewohnen. Das Konzept der ökologischen Landwirtschaft mit seiner Schlüsselannahme, dass gesunde Ökosysteme der Landwirtschaft förderlich sind, hat vielfältige internationale Wurzeln (RAYNOLDS 2004:729). Hauptsächlich wurden die verschiedenen Grundsätze und Verfahren von Bioanbau jedoch in den Ländern des 'globalen Nordens' hervorgebracht: „Methods of organic, or what the Europeans call ecological, farming were initially developed by isolated individuals and groups in Europe, North America, and Japan“ (RAYNOLDS 2004:729). Ab den 1960er Jahren wurden Ideen ökologischer Produktion von zivilgesellschaftlichen Bewegungen aufgegriffen, die die destruktiven, umweltschädigenden und landschaftszerstörenden Praktiken einer modernisierten, agrarindustriellen Landwirtschaft kritisierten und zunächst oben genannte, lose und im Sinne einer wertebasierten (bzw. auch internen) Koordination gesteuerte lokale ProduzentInnen-KonsumentInnen-Netzwerke als Alternative bzw. Gegenentwurf zum vorherrschenden agrarindustriellen Modell schufen. „Northern movements in the 1960s popularized organic ideas, criticizing the destructive nature of agroindustrial practices and creating local production/distribution/consumption systems linking small-scale organic farms, distribution via food cooperatives, box schemes, and farmers markets, and wholesome diets. Diverse local initiatives have promoted what convention theorists refer to as domestic and civic conventions, based on personal trust, local knowledge, ecological diversity, and social justice, directly countering traditional industrial and commercial conventions based on efficiency, standardization, and price competition“ (RAYNOLDS 2004:729; vgl. ARCE/MARSDEN 1993, MIELE 2001, MURDOCH et al. 2000). Vor allem durch sich verändernde Nachfragemuster in den Industrieländern ist das Angebot an biologisch produzierten Lebensmitteln in den letzten Jahrzehnten rasant angewachsen. Neben den genannten Genussgelüsten nach tropischen Früchten, außersaisonalem Gemüse und vor Ort nicht ausreichend vorhandenen Produkten als Motor für den Bezug von Bioprodukten aus 'Entwicklungsländern' spielte dabei der Wunsch nach sichererer, gesünderer und (in geringerem Maße auch) umweltfreundlicherer Nahrung eine ausschlaggebende Rolle – nicht zuletzt aufgrund von Ängsten vor genmanipulierten Produkten und Lebensmittelskandalen wie z.B. BSE (RAYNOLDS 2004:732; vgl. ITC 1999, KORTBECH-OLESEN 2002). Bioprodukte profitierten in diesem Zusammenhang von der Annahme vieler VerbraucherInnen, sie seien gesünder als 91 Kapitel 1 konventionelle Lebensmittel: „Though organic certification is not based on explicit health claims, the majority of consumers identify organic labels as symbols of food safety and quality“ (RAYNOLDS 2004:732). Die zunehmende Bekanntheit und Anerkennung ökologischer Produktionsverfahren, der wachsende Bedarf an Bioprodukten und damit verbundene Ausweitungen und Steigerungen der Produktion haben zu einschneidenden Veränderungen innerhalb der Bio-Initiativen geführt. Es erfolgte eine Konsolidierung, Institutionalisierung und Internationalisierung sowie eine damit einhergehende Standardisierung der einzelnen Initiativen, was sich an der Entstehung und Entwicklung der International Federation of Organic Agriculture Movements (IFOAM) veranschaulichen lässt. Die IFOAM wurde 1972 als Zusammenschluss verschiedener Anbauverbände und Gruppen (zunächst aus Großbritannien, Frankreich, Schweden, Südafrika und den USA) gegründet. Die IFOAM legte eine eigene Definition für Bio fest, die die Anwendung natürlicher Methoden zum Erhalt der Bodenfruchtbarkeit und zur Krankheitsbekämpfung, die Ablehnung synthetischer, chemischer Dünger, Pestizide und Medikamente sowie Aspekte zum Schutz der Ökosysteme beinhaltet. Die Akzeptanz dieser einen Definition hat durch das Wachstum der IFOAM mit Mitgliedsverbänden aus mittlerweile über hundert Ländern einen hohen Stellenwert erlangt (vgl. RAYNOLDS 2004:729). In der Wahrnehmung ihrer Funktion, organic agro-food networks zu koordinieren und die Entwicklung der biologischen Landwirtschaft zu fördern, spielen bei der IFOAM die Entwicklung und internationale Verbreitung von Zertifizierungssystemen und die Unterstützung der Ausbreitung biologischer Produktion bzw. ihrer Marktanteile eine bedeutende Rolle (RAYNOLDS 2004:729f). Dadurch kommt es innerhalb der IFOAM (ähnlich wie bei vielen nationalen Anbauverbänden) zu Spannungen und Widersprüchen zwischen den ursprünglichen Grundsätzen und Praktiken der Initiativen, die einen Gegenentwurf zu konventionellen Praktiken darstellen wollen, und den neueren, marktorientierten Bestrebungen. „IFOAM, like many national organic groups, embodies sharp contradictions between its original movementoriented and more recent market-oriented organic norms and practices. IFOAM maintains its holistic movement-oriented mission: 'Our goal is the worldwide adoption of ecologically, socially and economically sound systems that are based on the principles of Organic Agriculture.' But its 'major aims and activities' include key market-oriented functions such as establishing international organic standards and certification procedures and promulgating the international equivalency of organic quality claims“ (RAYNOLDS 2004:729)83. Die Bemühungen der IFOAM, 'zertifiziert Bio' – in der Regel entwickelt von ProduzentInnen und Organisationen aus den 'Industrieländern' (RAYNOLDS 2004:730; vgl. ALLEN/KOVACH 2000, GUTHMAN 1998) – zu definieren und international durchzusetzen, fördert marktbasierte und industrielle Koordination auf Kosten der ursprünglichen, internen und wertebasierten Konventionen der Initiativen in dreierlei Hinsicht: Die IFOAM fördert die Kodifizierung bzw. Formalisierung von Standards, die die Praktiken der Biolandwirtschaft mehr durch verallgemeinerte Regeln und Prinzipien gestal83 92 die Zitate im Zitat stammen von der IFOAM Homepage aus dem Jahr 2003 Theoretisch-konzeptioneller Teil ten, als durch die ursprünglichen, ganzheitlichen Kriterien sozioökologisch nachhaltiger Produktionsweisen. „Organic standards are defined largely through the specification of acceptable and unacceptable agricultural production inputs, undermining more holistic civic or locality specific organic norms and practices“ (RAYNOLDS 2004:730) Die IFOAM setzt sich für rigorose 'third-party-certification' ein, durch die einheitliche Praktiken über verschiedene Bio-Initiativen/Netzwerke hinweg forciert werden und die sich mit der Forderung nach wissenschaftlich messbaren und objektiv überprüfbaren Kriterien im Sinne industrieller Koordination über interne oder wertebasierte Koordinationsformen stellen. „IFOAMs industrial style verification, auditing, and documentation procedures are widely applied, even beyond the 59 IFOAM accredited organic certification agencies which certify a third of world trade [...].“ (RAYNOLDS 2004:730) Die IFOAM untermauert ihre definitorische Vereinheitlichung sowie marktbasierte Konventionen durch die Förderung und Bevorzugung von zertifizierten und damit mit einem Siegel versehenen Bioprodukten gegenüber allen anderen Lebensmitteln. „IFOAM extends traditional commercial conventions by promoting the superiority of 'certified organic' labeled products over all other (naturally occuring or industrially derived) foods, cementing a singular organic quality claim which can be advertised to capture price premiums and market shares“ (RAYNOLDS 2004:730) Damit stellt sich im Rahmen der Konsolidierung, Institutionalisierung und Internationalisierung der verschiedenen Bio-Initiativen ein Standardisierungsprozess ein, der den Prinzipien industrieller Koordination ein immer größeres Gewicht verschafft und eine Herausforderung oder gar Bedrohung für die alternativen, wertebasierten Konventionen der ursprünglichen Bewegungen darstellt (RAYNOLDS 2004:729; vgl. GUTHMAN 1998, TOVEY 1997). Neben diesen den Initiativen internen Veränderungsprozessen betreten im Zuge der Globalisierung der organic agro-food networks neue Akteure das Feld. Zum einen werden zusätzlich zu den privaten Standards und Zertifizierungsverfahren der IFOAM und nationaler Bioverbände staatliche Regulierungen der biologischen Landwirtschaft vorgenommen. Aufbauend auf den von der IFOAM entwickelten Kriterien für Biolandwirtschaft entstehen ab den 1980er Jahren sowohl gesetzliche Regelungen von Bio in der EU, den USA und weiteren Ländern wie z.B. Japan, Australien oder Neuseeland, als auch der sogenannte Codex Alimentarius auf Ebene der Vereinten Nationen (vgl. RAYNOLDS 2004:730). Bei deren Festlegungen werden Spannungen zwischen marktorientierten Interessen und den ursprünglichen Grundsätzen der Bio-Initiativen offenbar. Während sich eine agrarwirtschaftliche Lobby für weichere Standards einsetzt, stehen traditionelle Bioverbände für Strenge und die Aufrechterhaltung der ursprünglichen Prinzipien ein. 93 Kapitel 1 „Conflicts between market and movement orientations have been clearly evident in the recent effort to formulate US national organic standards, with agro-industrial interests lobbying for weak standards and consumer/movement groups fighting to maintain organic principles. Arguments regarding the importance of international equivalency in bolstering US exports dissipated pressures to undermine organic standards“ (RAYNOLDS 2004:730; vgl. CHAPMAN 2000). Mit der Festlegung und internationalen Harmonisierung der Standards und Verfahren der biologischen Landwirtschaft auf Ebene der Regierungen werden die Tendenzen zu Prinzipien marktbasierte und industrieller Koordination weiter untermauert und ursprüngliche Grundsätze der Bio-Initiativen oft ignoriert. So fördert der Codex Alimentarius z.B. technische Produktionsvorgaben und Prüfverfahren industrieller Koordination, „defining organic as a 'labelling term that denotes products that have been produced in accordance with organic production standards and certified by a duly constituted certification body or authority'. This definition ignores the organic movement´s civic and domestic principles and affirms the position of commercial and industrial conventions in shaping global organic norms, enterprises, and exchanges“ (RAYNOLDS 2004:730).84 Zum anderen gelingt das enorme Wachstum des Marktes für Bio-Produkte maßgeblich durch die Einbindung neuer Betriebstypen, insbesondere des Einzelhandels und der Supermärkte im Bereich der Distribution der Waren. Während anfangs die Distribution und der Verkauf von lokal produzierten Biowaren über alternative Absatzkanäle wie Bioläden, Bauernmärkte oder Hofverkäufe erfolgte und Direktbeziehungen und Vertrauen wichtiger waren als Produktsiegel und dahinterstehende Zertifizierungsverfahren, vollzieht sich die Ausbreitung des Biosegments über die konventionellen Absatzketten großer Einzelhandelsunternehmen und Supermärkte. „In recent years, mainstream distributors have greatly increased the availability of domestic and imported organic commodities throughout the North, with supermarket sales representing the most dynamic area of market growth“ (RAYNOLDS 2004:733; vgl. YUSSEFI/WILLER 2003). Die Einbindung dieser großen Käufer, die auch im Biobereich großen Einfluss auf ihre Zulieferer ausüben können, in die governance der organic agro-food networks fördert zusätzlich Konzepte industrieller Koordination wie Effizienz, Standardisierung oder Preiswettbewerb und bestimmt die Konkurrenzfähigkeit und Präferenz von Produktionsprozessen, Produktmerkmalen und Unternehmen, beispielsweise durch die Arbeit mit bestimmten Zertifikaten oder die Forderung kontinuierlicher Lieferung großer Mengen (RAYNOLDS 2004:733f; vgl. DIMITRI/RICHMAN 2000). Dies kann auf Ebene der ProduzentInnen zum Ausschluss von kleineren Betrieben führen, die nicht mit den verlangten Zertifizierungen arbeiten oder keine ausreichenden Mengen liefern können. Auf einer allgemeineren Ebene stellt diese Entwicklung einen gewissen Widerspruch zu den ursprünglichen Anliegen der Bio-Initiativen dar, in dem Sinne, dass mit dem Erfolg und dem Wachstum der Biolandwirtschaft diese sich immer mehr den Praktiken und Konventionen der konventionellen Agrarwirtschaft angleicht, zu der sie einst für eine steigende Anzahl an KonsumentInnen ein attraktiver, ihrem Unbehagen gegen84 94 das Zitat im Zitat stammt aus den „Codex guidelines for the production, processing, labelling and marketing of organically produced foods“ der FAO/WHO aus dem Jahr 2001 Theoretisch-konzeptioneller Teil über der modernisierten Landwirtschaft ein Ventil gebender, alternativer Gegenentwurf war: „While Northern organic market growth has been fueled by mounting consumer distrust of the agro-industrial food system, that growth has paradoxically fostered the rise of conventional agro-industrial norms, practices, and market relations in national and international organic networks. Dominant agro-industrial production and retail corporations control growing mainstream organic markets, upholding industrial and commercial conventions in the establishment of large-volume, highly regimented, long-distance supply networks and the sales of standardized (often processed) products for affluent consumers. Formal legally sanctioned organic certification standards and monitoring procedures help tighten corporate control across commodity networks, while organic labels facilitate sales in anonymous retail venues.“ (RAYNOLDS 2004:734) Während in den 'Industrieländern' wertebasierte Netzwerke durchaus weiterhin parallel zu den neuen Bio-Warenketten bestehen und sich eine Verzweigung in marktorientierte und Initiativen-orientierte Versorgungssysteme abzeichnet, vollzieht sich die Ausdehnung des Handels mit Bioprodukten aus 'Entwicklungsländern' in erster Linie unter den Vorzeichen der (für den Biosektor neuen, sonst altbekannten) Formen marktorientierter und industrieller Koordination (RAYNOLDS 2004:734ff). Basierend auf der Nachfrage der KonsumentInnen aus den Industrieländern werden Bioprodukte in den 'Entwicklungsländern' überwiegend für den Export hergestellt. Entsprechend liegen die politischen Interessen in den 'Ländern des Südens' vor allem darin, durch Erfüllung der Anforderungen der Akteure und Institutionen des 'Nordens' Zugang zu den dortigen Märkten zu erlangen. Der Aufbau von Produktionsstrukturen im Biobereich verfolgt demnach folgende drei Hauptziele (RAYNOLDS 2004:731): die Sicherung von Absatzmärkten für traditionelle Exportprodukte angesichts steigendem internationalem Wettbewerbsdruck; einen Ausweg aus sinkenden Weltmarktpreisen für Nahrungsmittel durch Zugang zu den hochpreisigen Märkten für zertifizierte Produkte; die Vermeidung von Kosten, die durch den Import teurer chemischer Betriebsmittel im Bereich Pflanzenschutz und Düngung anfallen. Vor diesem Hintergrund werden verschiedene Spannungsfelder bei der Einführung und Ausweitung der biologischen Landwirtschaft in 'Entwicklungsländern' identifiziert. Zum einen scheint das neue Segment bestehende Ungleichheiten des globalen Handels mit konventionellen Waren schlicht zu reproduzieren bzw. zu kopieren, anstatt nachhaltigere Austauschbeziehungen, die als „ecologically, socially and economically sound systems“ (vgl. oben) mehr im Sinne der Prinzipien von Bio wären, zu schaffen. Abhängigkeit von den Märkten, Vulnerabilität gegenüber deren Preisentwicklung sowie die Beschränkung auf die Primärproduktion bleiben auch im Biosektor erhalten (RAYNOLDS 2004:734ff). Zum anderen begünstigt die steigende Nachfrage des 'Nordens' und das damit verbundene Interesse der Importeure, ausreichende Mengen kontinuierlich geliefert zu bekommen, Großproduzenten, die mithilfe ihrer economies of scale diesen Ansprüchen genügen können (RAYNOLDS 2004:737). Zusammen mit hohen Zertifizierungskosten, anspruchsvollen adminis- 95 Kapitel 1 trativen Anforderungen, sowie Standards, die meist nicht an agrarökologische Begebenheiten der Tropen angepasst sind, stellt das an sich lukrative Biosegment (mit einem Preispremium von bis zu 40%) damit KleinproduzentInnen und ihren Kooperativen, deren Wirtschaftsweise im agrarökologischen Sinne oft viel eher den Vorstellungen von nachhaltiger Bioproduktion entspricht, große Eintrittsbarrieren in den Weg (RAYNOLDS 2004:736; vgl. BARRETT et al. 2002, MUTERSBAUGH 2002). Innerhalb der IFOAM ist diese nachteilige Situation für KleinproduzentInnen immer wieder ein Thema. Entgegen der einseitigen Schwerpunktsetzungen, wie sie in den oberen Absätzen skizziert werden, besteht jedenfalls im Rahmen der Bemühungen, Zertifizierungsverfahren für Bioprodukte zu entwickeln, durchaus ein Bewusstsein für die Nachteile von KleinproduzentInnen gegenüber Großbetrieben, wenn sie sich als Konkurrenten in ein und dem selben Markt für Biowaren bewegen. In diesem Zusammenhang hat die IFOAM mit dem internen Kontrollsystem (ICS = internal control system) ein Instrument entwickelt und sich für dessen Anerkennung z.B. im Rahmen der EU-Bestimmungen zur Biolandwirtschaft eingesetzt, durch das diese Nachteile kompensiert werden sollen (vgl. Kapitel 3.1). Verfügt eine KleinproduzentInnenkooperative über ein solches ICS mit interner Fachberatung sowie Überprüfung der Standards, muss sich nur ein Teil der Mitgliedsbetriebe den externen Audits unterziehen, wodurch die Inspektionskosten reduziert werden können. Ermöglicht dieses Instrument einerseits vielen Kooperativen, überhaupt am Geschäft mit Bio teilhaben zu können, bleiben die Kosten und Anforderungen andererseits trotzdem noch so hoch, dass oft nur gut aufgestellte oder ausreichend große Kooperativen wettbewerbsfähig sind und dabei nicht selten auf zusätzliche Unterstützung z.B. aus EZ-Projekten oder im Rahmen des Fairen Handels angewiesen sind (RAYNOLDS 2004:736). Der von Laura T. Raynolds vorgenommene Überblick über die Globalisierung von Bio-Initiativen bzw. von diesen begründeten organic agro-food networks zeigt, dass sich diese als ein spannungsgeladener Konsolidierungs-, Institutionalisierungs-, Internationalisierungs- und Standardisierungsprozess vollzieht, bei dem nicht nur ökonomische (wie in der Schwerpunktsetzung der GCC), sondern auch staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure (wie im Konzept der GPN) und die KonsumentInnen (wie in den Ansätzen zu commodities and cultural circuits stärker berücksichtigt) mitwirken und in dessen Zuge die politisch motivierten, alternativen, auf internen und wertebasierten Konventionen beruhenden Koordinationsformen der ursprünglichen Bio-Initiativen bzw. Bewegungen immer mehr von marktorientierten und industriellen Konventionen abgelöst zu werden scheinen; letzteres umso stärker, je mehr Regierungen und große (Handels)Unternehmen die Steuerung der Netzwerke mitgestalten. Insbesondere die (von der Konventionentheorie postulierte) Festlegung und Durchsetzung von Qualität in Form von Standards und Zertifizierungsverfahren stellt sich dabei als eine machtvolle Strategie im Ringen um die Steuerung globaler Produktions-, Handels- und Konsumzusammenhänge heraus, bei der die 'Kleinen' und die 'ganzheitlich Ökologischen' auf der Strecke bleiben könnten. Neben einer pessimistischen Perspektive hinsichtlich des zunehmenden Einflusses marktorientierter und industrieller Koordination, der getragen wird von großen, mächtigen Spielern auf politischer und wirtschaftlicher Ebene, sieht der Beitrag auch eine Alternative dahingehend, 96 Theoretisch-konzeptioneller Teil dass sich wertebasierte Koordinationsformen durch die direkte (Wieder?)Verbindung von KleinproduzentInnen des Südens und sensibilisierte KonsumentInnen des Nordens stärken lassen könnten (RAYNOLDS 2004:738f). 1.2.3 Fair als Initiative: Was haben Konzerne mit Fair Trade zu tun? (REED 2009) Eine mit der Globalisierung der organic agro-food networks vergleichbare Entwicklung findet im Bereich der Initiativen des Fairen Handels bzw. des fair labelling network statt (RENARD 2003, 2005). Entstanden hauptsächlich in den 1970er Jahren als zivilgesellschaftliche Initiativen bzw. Bewegungen (wie z.B. die in der Einleitung aufgegriffene der 'Bananenfrauen' aus Frauenfeld), die zum einen grundsätzliche Kritik am vorherrschenden Welthandelssystem üben, zum anderen benachteiligten KleinproduzentInnen über alternative Handelswege (möglichst ohne Zwischenhandel und mit sogenannten Alternativen Handelsorganisationen anstelle des konventionellen Groß- und Einzelhandels) einen Absatz ihrer Waren zu fairen Preisen ermöglichen wollten, bildete sich im Laufe der Zeit ein internationales Netzwerk heraus, das getragen durch große Organisationen und unter Anwendung formaler Standards und Zertifizierungsverfahren mit dem Eintritt in konventionelle Absatzkanäle zu einem rasanten Wachstum fair besiegelter Produkte führte. Während Marie-Christine Renard (2003, 2005) diese Entwicklung (ähnlich wie Laura T. Raynolds für den Biosektor) konventionentheoretisch als einen spannungsgeladenen Übergang von hauptsächlich intern und wertebasiert koordinierten Netzwerken zu verstärkt marktorientierten und industriellen Steuerungsformen beschreibt, in deren Zuge neue Akteure (Groß- und Einzelhandel, Großproduzenten, professionelle Zertifizierungsorganisationen) immer größeren Einfluss ausüben, eröffnet Darryl Reed (2009) mittels der Frage, was Konzerne mit Fair Trade zu tun haben, einen differenzierteren, nämlich vierstufigen, GVC-inspirierten Zugang zu den Veränderungsprozessen innerhalb des fair labelling network, insbesondere bezüglich der fortschreitenden Integration der genannten neuen Akteursgruppen. Zusätzlich stellt er einen Rahmen zur Beurteilung und Interpretation dieser Veränderungsprozesse bereit. Die Konsolidierung, Institutionalisierung, Internationalisierung und Standardisierung der Fair Trade Bewegungen lässt sich in zwei Phasen unterteilen, eine erste ohne, eine zweite mit Beteiligung von großen Unternehmen. Die erste Phase, in der formale Standards und Zertifizierungsverfahren in der Regel keine große Rolle spielten, wird bisweilen als „alternativer Handel“ von der zweiten Phase als dem „fairen Handel“, in dem die Zertifizierung der gehandelten Produkte im Mittelpunkt steht, abgegrenzt (vgl. z.B. VALIO OTTOWITZ 1997). Die Ursprünge der Fair-Initiativen sind vielfältig und nicht eindeutig festgelegt (REED 2009:4; vgl. GENDRON et al. 2009). Während manche die Wurzeln des Fairen Handels in den frühen europäischen Kooperativen-Bewegungen sehen, wird der in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg initiierte Wohltätigkeits-Handel ('charity or good-will trade') meist als der erste Vorläufer 97 Kapitel 1 von Fair-Initiativen genannt. Karitative Organisationen, in der Regel mit einem christlichen Hintergrund, begannen mit dem Verkauf von Handarbeiten aus 'Entwicklungsländern'. Diese Initiativen hatten keinen kommerziellen Hintergrund und die Arbeit wurde von Ehrenamtlichen geleistet. Die Qualität der Waren und deren Gebrauchsnutzen für die KonsumentInnen spielten eine untergeordnete Rolle, vielmehr stand das Motiv des Helfens im Vordergrund. Durch den Kauf der Produkte aus gutem Willen sollte das Leid der ProduzentInnen gelindert werden (REED 2009:4; vgl. LITTRELL/DICKSON 1997, TALLONTIRE 2000). In den späten 1960er und im Laufe der 1970er Jahre gesellten sich zu den religiösen verstärkt politisch motivierte Gruppen. Es entstanden vermehrt Dritte-Welt- bzw. Eine-Welt-Läden. Neben den Handarbeiten erhielten auch erstmals landwirtschaftliche Produkt Einzug ins Sortiment dieser Läden, allen voran Kaffee. Anstelle des Wohltätigkeitsmotivs erlangten Konzepte von Partnerschaft und Solidarität mit den ProduzentInnen des 'Südens' eine größere Bedeutung. Dieser Wandel vollzog sich vor dem Hintergrund von Veränderungen der politischökonomischen Verhältnisse (bzw. deren Bewertung) wie z.B. einer steigenden Skepsis gegenüber Entwicklungsprognosen, Kritik am bestehenden Welthandelssystem und Forderungen nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung zur Verbesserung der Situation der 'Entwicklungs-' gegenüber den 'Industrieländern'. Im Zuge dieser neuen Sichtweisen verstanden sich viele der alten und neu entstehenden Handelsorganisationen als alternative Handelsorganisationen ('alternative trade organizations', ATOs). Sie sympathisierten mit Regierungen und sozialen Bewegungen des 'Südens', die sich für alternative Wirtschaftsmodelle einsetzten und solidarisierten sich insbesondere mit kleinen, von internationalen Konzernen (formal) unabhängigen ProduzentInnen. Ein Paradebeispiel hierfür war das sandinistische Projekt in Nicaragua, an das viele der Fair Trade-Initiativen in den 1980er Jahren Anschluss suchten, u.a. um alternative und faire Absatzmöglichkeiten für nicaraguanische Bananen oder Kaffee aufzubauen. In dieser Phase, die aufgrund der zentralen Bedeutung von Solidarität auch als Solidaritäts-Handel ('solidarity trade') bezeichnet wird, bildeten sich die zwei der Grundzüge des von zivilgesellschaftlichen Akteuren ('social economy actors') getragenen Fairen Handels als soziale Bewegung heraus: Zum einen ging es darum, KleinproduzentInnen in Entwicklungsländern zu unterstützen. Da deren Benachteiligung als eine Frage des Systems gesehen wurde, ging es gleichzeitig immer auch darum, sich für Alternativen zum vorherrschenden Welthandelssystem einzusetzen (REED 2009:4f; vgl. LOW/DAVENPORT 2005, LECLAIR 2002). Diese zwei Ebenen entsprechen dem doppelten Anspruch der Bio-Initiativen, sowohl nachhaltige Anbauformen in einzelnen Biobetrieben zu praktizieren, als auch einen Gegenentwurf zu konventionellen Modellen der Landwirtschaft zu schaffen. Ab Ende der 1980er Jahre setzte eine Entwicklung ein, mit der der alternative Solidaritäts-Handel von der heutigen Form des Fairen Handels überlagert wurde. 1988 wurde durch die niederländische Max Havelaar Stiftung als erste fair labelling organization (FLO) ein Zertifizierungsprogramm für fair gehandelte Produkte eingeführt und damit auch die Einbindung von großen Firmen in das Fair Trade Netzwerk eingeläutet. Hauptziel dieser Maßnahme war die Stärkung ('empowerment') von KleinproduzentInnen und deren Gemeinden in 'Entwicklungsländern'. Dieses empowerment beinhaltete verschiedenen Komponenten, so die Schaffung 98 Theoretisch-konzeptioneller Teil von Marktzugang, die Vermittlung von Wissen über diese Märkte, Unterstützung für lokale Infrastruktur, eine Stärkung der internen Organisation von Kooperativen, eine Steigerung der Produktqualität, der Aufbau von Netzwerken zwischen ProduzentInnen- und Handelsorganisationen, die Erschließung alternativer Einkommensquellen (z.B. durch vertikale Integration, Spezialisierung oder Produktdifferenzierung), eine Erhöhung der Einkommen, Bereitstellung von Dienstleistungen für die ProduzentInnen, eine Erhöhung der Anzahl der in das Fair TradeNetzwerk integrierten ProduzentInnen sowie die Beteiligung deren Gemeinden an den Vorzügen dieses Netzwerks. Eine Zertifizierung und die mit ihr verbundenen Standards sollten dabei einen doppelten Zweck erfüllen. Zum einen sollten sie den KonsumentInnen versichern, dass durch die angebotenen Produkte KleinproduzentInnen bezüglich der genannten Komponenten gefördert werden. Zum anderen sollten sie den Zugang der Produkte in den konventionellen Einzelhandel eröffnen. Letzterem lag die Annahme zu Grunde, dass eine Etablierung des Konzepts des Fairen Handels und die angestrebte Integration von immer mehr ProduzentInnen nur durch eine Ausdehnung des Marktes für faire Produkte über die alternativen Absatzwege der Weltläden hinaus erreicht werden können (REED 2009:5; vgl. ESHUIS/HARMSEN 2003). Der Ansatz der niederländischen MaxHavelaar Stiftung brachte schnellen Erfolg und wurde in vielen anderen Ländern nachgeahmt. So entstanden in Belgien, Frankreich und der Schweiz ebenfalls Max Havelaar Stiftungen. Die European Fair Trade Association (EFTA) und TransFair Deutschland begründeten 1992 mit TransFair International eine ähnliche Zertifizierungsinitiative, die neben Deutschland zur Gründung von FLOs in Luxemburg, Japan, Kanada und den USA führte. Auch in Schweden, Finnland, Großbritannien und weiteren Ländern entstanden vergleichbare FLOs. Neben dem Einzug der nun zertifiziert fairen Waren in den Einzelhandel wurden bereits früh zusätzlich zur Kooperation mit KleinproduzentInnen erste Zertifizierungen für Plantagen kreiert und große Unternehmen als Lizenznehmer für faire Produkte zugelassen (REED 2009:5; vgl. RAYNOLDS/LONG 2007). Die Phase der Konsolidierung, Institutionalisierung, Internationalisierung und Standardisierung setzte sich fort, indem die verschiedenen FLOs, ATOs, Importeure und Weltladenverbände ihre Zusammenarbeit durch die Gründung übergreifender Organisation festigten und damit einen weiteren Schritt zu einem vereinheitlichten fair labelling network vornahmen. Ein Schlüsselmoment war dabei die Gründung der Fair Labelling Organizations International (FLO-I) als ein Zusammenschluss von 17 FLOs im Jahr 1997. Die Hauptziele, die sich mit der Gründung dieser Dachorganisation verknüpfen, sind die Entwicklung konsistenter Standards sowie die Ausarbeitung entsprechender Zertifizierungsverfahren. Anfangs innerhalb der FLO-I vereint, wurde 2004 die FLO-Cert als unabhängiges Zertifizierungsunternehmen im Sinne einer 'thirdparty-certification' geschaffen, während die Festlegung der für die Zertifizierung relevanten Standards sowie die Kooperation mit ProduzentInnenorganisationen, Handelsunternehmen und ExpertInnen zur Förderung des fairen Handels im Zuständigkeitsbereich der FLO-I verblieb. Während die FLO-I sich als maßgebende Instanz zur Bestimmung von Standards und Verfahren des fairen Handels entwickelt hat (trotz zunehmender politischer Unterstützung des Fairen Handels bestehen noch keine mit dem Biobereich vergleichbaren gesetzlichen Regelungen), entstanden mit der International Federation of Alternative Trade (IFAT, gegründet 99 Kapitel 1 1989) auf Ebene der ATOs (in Kooperation mit ProduzentInnenorganisationen und später deren regionalen Zusammenschlüssen), der European Fair Trade Association (EFTA, gegründet 1990) auf Ebene der Fair Trade Importeure sowie dem Network of European Worldshops (NEWS, gegründet 1994) auf Ebene der Weltläden weitere Dachverbände. Auch in Nordamerika bildete sich die North American Alternative Trade Organization (NAATO), aus der später die Fair Trade Federation (FTF) wurde, das Zentrum der Konsolidierungsbemühungen lag jedoch in Europa. Schließlich erfolgte als informelle Allianz die Bildung der sogenannten FINE (FLO-I, IFAT, NEWS, EFTA), in der die vier wichtigsten Dachorganisation die Harmonisierung von Fair Trade Standards und Zertifizierungsverfahren, die Anpassung ihrer Informations- und Kommunikationssysteme sowie Lobbyarbeit und Kampagnen koordinieren (REED 2009:5f; vgl. KOCKEN 2006, LOW/DAVENPORT 2005, WILKINSON/MASCARENHAS 2007). Vergleichbar mit dem Fortbestand intern und wertebasiert koordinierter Netzwerke im Biobereich sind auch im fairen Handel nicht alle Akteure auf die Zertifizierungswelle aufgesprungen. Manche praktizieren weiterhin ihre ursprüngliche Form des alternativen Handels. Einige ATOs und ProduzentInnenorganisationen wollten oder konnten sich nicht zertifizieren lassen, auch wurden nicht für alle Produkte Zertifizierungen eingeführt (REED 2009:9). Im Großen und Ganzen dominiert jedoch mittlerweile die mittels der Produktsiegel eher kommerziell-industrielle Steuerung der fairen Warenketten. Dies führt zu verschiedenen Spannungen innerhalb des von losen Bewegungen zu einer Einheit gewachsenen fair labelling network. Diese Spannungen drehen sich um konkurrierende Grundverständnisse darüber, was Fair Trade ist bzw. sein sollte, um die Rolle und den Einfluss von KleinproduzentInnen als die ursprünglichen Zielgruppe sowie die Rolle bzw. die Beteiligung von Großunternehmen und Plantagenproduktion als neue Akteursgruppen (REED 2009:6; vgl. RAYNOLDS/MURRAY 2007). Ein Beispiel, bei dem diese Spannungen sichtbar werden, sind die von den Dachverbänden veröffentlichten Definitionen von Fair Trade im Laufe der Zeit. Die FINE-Definition von 1999 bestimmt Fair Trade als „aimed 'at sustainable development for excluded and disadvantaged producers'“ sowie als „'an alternative approach to conventional international trade'“ (zitiert in REED 2009:6, Hervorhebung Darryl Reed). Laut der überarbeiteten Version von 2001 geht es beim Fairen Handel darum „'offering better trading conditions to, and securing the rights of, marginalised producers and workers – especially in the South'“, der Faire Handel bildet „'a trading partnership, based on dialogue, transparency and respect, that seeks greater equity in international trade“ (zitiert in REED 2009:6, Hervorhebungen Darryl Reed). Während die alte Definition die Kernpunkte des Solidaritäts-Handels noch widerspiegelt (ohne das Wort Solidarität zu verwenden) – KleinproduzentInnen als Zielgruppe sowie die Absicht, eine Alternative zum bestehenden Welthandelssystem zu schaffen – integriert die neue Begriffsbestimmung neben den KleinproduzentInnen auch ArbeiterInnen (als Zielgruppe innerhalb von größeren Unternehmen) und tauscht den Anspruch eines Gegenentwurfs zum Welthandelssystem gegen das Bestreben, innerhalb des vorhandenen Welthandels für mehr Gerechtigkeit zu sorgen. Diese Veränderungen können als eine Neuorientierung interpretiert werden, mit der der Weg für eine stärkere Einbindung großer Unternehmen in das Netzwerk geebnet werden soll: 100 Theoretisch-konzeptioneller Teil „Many see these changes in the definition as aimed at making fair trade more palatable to corporations and paving the way for plantation production.“ (REED 2009:6) Ein weiteres Beispiel, anhand dessen sich die genannten Spannungen offenbaren, sind Auseinandersetzungen um die Entscheidungsstrukturen innerhalb der FLO-I. Zum einen gibt es Auseinandersetzungen bezüglich der Stimmgewichtung von RepräsentantInnen des 'Südens'. Bestand das Board der FLO-I anfangs ausschließlich aus VertreterInnen der FLOs, wurde mittlerweile zwar eine ausgewogenere Stimmenverteilung durchgesetzt (fünf Sitze für FLOs, vier für ProduzentInnenorganisationen, zwei für Fair Trade HändlerInnen und drei für externe, unabhängige ExpertInnen85), die vielen ProduzentInnenorganisationen aber noch nicht weit genug geht, sodass der Vorwurf willkürlicher Entscheidungsfindungen bestehen bleibt (REED 2009:6f). Zum anderen sind innerhalb der FLOs zwei Lager auszumachen. Auf der einen Seite stehen viele ATOs, sonstige Nichtregierungsorganisationen und andere Akteure (wie z.B. auch die 'Bananenfrauen' aus Frauenfeld), die das fair labelling network mit aufgebaut haben und die sich als 'movement actors' kategorisieren lassen. Sie vertreten den Standpunkt, dass die FLOs sie nicht angemessen konsultieren und immer mehr von den ursprünglichen Grundsätzen der Bewegung abweichen. Die FLOs seien zu einseitig daran interessiert, die Verkaufszahlen in die Höhe zu treiben und würden dadurch immer mehr zum Spielball großer Unternehmen. Auf der anderen Seite stehen Fachleute, die angeheuert wurden, um die zunehmend komplexeren und technisch anspruchsvollen Zertifizierungsprogramme zu managen und die sich als 'market actors' bezeichnen lassen. Diese argumentieren, dass sie den KleinproduzentInnen nicht mehr helfen können, wenn es ihnen nicht gelingt, zu wachsen, da sich die großen Unternehmen sonst auf konkurrierende Zertifikate mit niedrigeren Standards einlassen würden (REED 2009:7; vgl. RAYNOLDS/MURRAY 2007, RENARD/PÉREZ-GROVAS 2007). Um die Spannungen zwischen 'movement actors' und 'market actors', zwischen Akteuren des 'Südens' und des 'Nordens', zwischen wertebasierter und industrieller Koordination, usw., insbesondere in Bezug auf die zunehmende Integration großer Unternehmen, differenzierter fassen zu können, unterscheidet Darryl Reed zwischen vier Formen von Fair Trade-Wertschöpfungsketten, abhängig vom Grad, in dem große Unternehmen involviert werden (REED 2009:8ff). Dabei werden die ersten beiden Wertschöpfungskettentypen als Bewegungs-dominiert (bzw. 'social economy dominated') mit einem Schwerpunkt auf der größtmöglichen Stärkung von KleinproduzentInnen, die letzten beiden als Markt-dominiert (bzw. 'corporate dominated') mit einem Schwerpunkt auf Wachstum und Profit für die diversen Kettenakteure und einer größeren Ähnlichkeit mit konventionellen value chains eingestuft. Neben einer Beschreibung des jeweiligen Typs werden die entsprechenden Vorteile und Risiken, die mit diesem verbunden sind, erörtert. 85 vgl. http://www.fairtrade.net/how_we_are_run.html [01.01.2013] 101 Kapitel 1 (A) Fair Trade ohne Beteiligung großer Unternehmen (100% social economy, auf Solidarität fußende relationale Wertschöpfungskette; REED 2009:8ff): Beschreibung: Diese Form der Wertschöpfungsketten des fairen Handels stellt die typische Konstellation vor Einführung der Zertifizierungsverfahren dar. Auf einem alternativen Handelsweg bemühten sich ATOs um eine qualitativ hochwertige Unterstützung und ein weitestgehendes empowerment der KleinproduzentInnen, ihrer Kooperativen und Gemeinden. Um den ProduzentInnen den Zugang zu einem Absatzmarkt zu eröffnen und ihnen einen möglichst großen Anteil an der Wertschöpfung zukommen zu lassen, wurde versucht, die Kettenlänge und damit die Anzahl der involvierten ZwischenhändlerInnen zu reduzieren. Der dadurch gewonnene Mehrwert kam in der Regel nicht nur den produzierenden Betrieben, sondern auch den Gemeinden, in denen diese ihren Standort haben, zu Gute (vgl. RENARD/PÉREZ-GROVAS 2007). Die Steuerung der so entstandenen Netzwerke beruhte entgegen dem gover- nance-Konzept der GVC nicht auf wirtschaftlicher Zweckmäßigkeit, Bedarfsorientierung, Streben nach größtmöglichem Einfluss bei unterschiedlichen Kompetenzniveaus und einem danach gerichteten Machtgleichgewicht, sondern auf Solidarität in Form von langfristigen Austauschbeziehungen, einer Förderung der Fähigkeiten der ProduzentInnen (=Zulieferbetriebe) durch die Käuferorganisationen sowie einem offenen Austausch von Wissen und Technologien. Während aus dem Modell der fünf Koordinationsformen der GVC der relationale Typ aufgrund der engen und direkten Austausch- und Koordinationsbeziehungen hier am besten passt, beruht dessen Zustandekommen weniger auf der Komplexität und geringen Kodifizierbarkeit der zugrundeliegenden Transaktion, als vielmehr auf dem Selbstverständnis von Solidarität und sozialer Gerechtigkeit insbesondere seitens der involvierten Käuferorganisationen. Diese Variante der Wertschöpfungskette ist auch diejenige Form des fairen Handels, die ursprünglich durch die Einführung der Zertifizierungen abgegrenzt und geschützt werden sollte (vgl. ESHUIS/HARMSEN 2003). Dass heute ATOs immer noch diesen Typ von Netzwerken pflegen, liegt neben Fragen des Handelsvolumens auch an ideologischen Gründen, insofern dass sie die Beteiligung von großen Unternehmen als den Prinzipien des fairen Handels entgegenstehend ablehnen bzw. deren Einbeziehung als ein trojanisches Pferd für die Bewegung betrachten (vgl. GRODNIK/CONROY 2007, RANDALL 2005, WARIDEL 2002). Vorteile: Diese Form des Fairen Handels deckt sich vollständig mit den mit Fair Trade assoziierten Grundsätzen (die Unterstützung von KleinproduzentInnen, die Vermeidung von ZwischenhändlerInnen, etc.). Alternative Handelswege sowie Informationsund Aufklärungsstrategien für sensibilisierte bzw. sensibilisierbare KonsumentInnen, wie sie z.B. über die Weltläden ins Leben gerufen wurden, könnten unter Beibehaltung dieses 'reinen' alternativen Handels weiterentwickelt werden (vgl. LOW /DAVENPORT 2009). Durch die strikte Ablehnung einer Zusammenarbeit mit großen, kommerziellen Unternehmen können die befürchteten negativen Auswirkungen einer solchen Koope- 102 Theoretisch-konzeptioneller Teil ration mit Sicherheit vermieden und kann die Unbestechlichkeit der Bewegung im Sinne ihrer politische Botschaft gegen das bestehende Handelssystem untermauert werden. Risiken: Dabei läuft die Bewegung unter Beibehaltung dieser Reinform andererseits Gefahr, eine marginale Größe zu bleiben, der es nicht gelingt, ausreichend Produkte abzusetzen, um auch nur eine Bruchteil der interessierten bzw. in Frage kommenden KleinproduzentInnen in ihr System zu integrieren. Der konkrete Nutzen würde für die meisten ProduzentInnen entfallen, die Bewegung des alternativen Handels hätte dann vor allem eine rein symbolische Bedeutung. (B) Fair Trade mit Beteiligung großer Unternehmen auf Ebene des Einzelhandels (social economy-dominiert, auf Solidarität fußende relationale Wertschöpfungskette; REED 2009:10f) Beschreibung: Die Absatzmöglichkeiten des Einzelhandels für eine Ausweitung des Verkaufs von Produkten aus Fairem Handel zu nutzen, war die Ausgangsidee bei der Einführung der Zertifizierungen. Nachdem der Einzelhandel sich nach oft mühsamen Anstrengungen von Nichtregierungsorganisationen und durch das Vorbild von Lebensmittelhandelskooperativen davon überzeugen ließ, dass eine Nachfrage bzw. ein Markt für fair gehandelte Waren besteht (vgl. BARRIENTOS et al. 2007), beruhte dessen Integration in die fairen Wertschöpfungsketten anfangs lediglich auf marktbasierten Austauschbeziehungen mit den ATOs, die die fairen, nun zertifizierten und mit einem Siegel versehenen Produkte importierten und an die Einzelhandelsunternehmen weiterverkauften. Abgesehen von der Einbindung großer Unternehmen im Bereich des Endverkaufs unterscheidet sich diese Form der Wertschöpfungskette kaum von Variante A, da die Strukturen und Prozesse von den ProduzentInnen bis zu den ATOs unverändert bleiben. Deswegen wird auch hier von einer auf Solidarität basierenden relationalen GVC gesprochen. Vorteile: Der große Vorteil dieser Variante liegt darin, dass über die Absatzpotentiale des Einzelhandels der Markt für fair gehandelte Produkte wesentlich ausgeweitet werden kann. Entsprechend können dadurch deutlich mehr ProduzentInnen in das System des Fairen Handels integriert werden und davon profitieren. Deshalb wird diese Form der fairen Wertschöpfungsketten sowohl von vielen ProduzentInnenorganisationen befürwortet, als auch von den meisten ATOs (angesichts der Vorteile für ihre Zielgruppe) zumindest akzeptiert, solange die Einzelhandelsfirmen keinen negativen Einfluss auf deren, nun durch die FLOs kontrollierte Steuerung nehmen. Risiken: Für ATOs, deren eigene Existenz weniger vom Import und Großhandel, sondern selbst vom Verkauf der fairen Produkte im Einzelhandel (z.B. in den Weltläden) abhängt, kann dagegen der Eintritt großer Einzelhandelsunternehmen eine neue, u.U. bedrohliche Konkurrenzsituation bedeuten. Darüber hinaus kann der Ruf der Fair Trade Marke darunter leiden, wenn sie nun in Handelsketten mit einer schlechter 103 Kapitel 1 Reputation (z.B. bezüglich der Behandlung ihrer MitarbeiterInnen86) angeboten wird. Wenn eine Handelskette eine eigene Fair Trade Produktlinie einführt, kann diese zudem dafür herhalten, das Image der gesamten firmeneigenen Marken aufzuwerten, also auch derjenigen Produkte, die nicht gemäß Fair Trade Standards hergestellt oder gehandelt wurden (vgl. DAVIES/CRANE 2003, DOHERTY/TRANCHELL 2005, MOORE 2004). Die Einführung einer eigenen Linie für Fair Trade Produkte kann auch als ein erster strategischer Schritt geschehen, um anstelle reiner Marktbeziehungen zu den ATOs einen aktiveren Einfluss auf die Steuerung der alternativen Wertschöpfungsketten (im Sinne einer modularen bzw. auch gebundenen statt relationalen GVC) zu erlangen und damit in einem der wachsenden Nischenmärkte höhere Margen zu erzielen (vgl. TAYLOR et al. 2005, RENARD 2005; DOLAN/HUMPHREY 2004). (C) Fairt Trade mit großen Unternehmen als Lizenznehmer für faire Produkte (corporate-dominiert, modulare Wertschöpfungskette; REED 2009:11ff) Beschreibung: Der für die großen Unternehmen strategisch günstige Übergang zu einer modularen GVC gelingt spätestens dann, wenn sie auch Lizenznehmer für fair gehandelte Produkte werden und damit als direkte Handelspartner den ProduzentInnenorganisationen gegenüber treten können. Neben der Attraktivität von fair gehandelten Produkten als neuer Nischenmarkt kann auch die Imageverbesserung in Reaktion auf den Druck öffentlicher, von Nichtregierungsorganisationen initiierten Kampagnen ein Motiv für ein einsetzendes Engagement von Konzernen im Bereich des Fair Trade sein (vgl. WARIDEL 2002, WILKINSON 2006, FRIDELL 2007). Als Lizenznehmer haben die großen Firmen mehr Möglichkeiten, auf die Steuerung der Wertschöpfungskette Einfluss zu nehmen. Ihr Interesse an mehr Einfluss liegt zum einen im Wunsch nach stärkerer Kontrolle der Produktqualität (mehr im Sinne des Geschmacks, denn des Beigeschmacks der Produktionsverhältnisse), zum anderen in der Erzielung von Kostenvorteilen. Vorteile: Eine Einbindung von Konzernen als Lizenznehmer kann nicht nur eine weitere Steigerung der Marktanteile für fair gehandelte Produkte – neben Supermärkten auch in neuen Konsumbereichen wie z.B. bei Kaffee in großen Restaurant- oder CaféKetten – ermöglichen, sondern darüber hinaus der Fair Trade Marke zu einer erhöhten Sichtbarkeit z.B. in der Werbung verhelfen (vgl. GRODNIK/CONROY 2007). Risiken: Dagegen sind die Risiken einer Integration großer Unternehmen auf Ebene der Lizenznahme verbunden mit deren genannten Interessen, auf die Steuerung der fairen GVC Einfluss zu nehmen. Um eine möglichst gute Produktqualität zu erhalten, können Konzerne als Lizenznehmer die ProduzentInnenorganisationen (jetzt ihre direkten Zulieferer) dazu bewegen, die durch die Regeln des Fairen Handels erhaltene Unterstützung (z.B. die Prämie) überwiegend oder ausschließlich in qualitätsverbessernde Maßnahmen zu investieren. Während so einerseits u.U. Produktivitätssteige86 104 ein in Deutschland prominentes Beispiel ist die Einführung von Fair-Produkten durch Lidl (allerdings gemäß Typ C) Theoretisch-konzeptioneller Teil rungen und damit höhere Einnahmen erzielt werden können, kann dies andererseits dazu führen, dass andere Bereiche, die zuvor im Interesse der Kooperativen und unter Zustimmung der ATOs gefördert wurden, vernachlässigt werden, wie z.B. soziale Programme für die ProduzentInnen, ihre Familien und Gemeinden, Stärkung der demokratischen Organisationsstrukturen oder Bemühungen um Produktdifferenzierung zur Risikostreuung (vgl. PONTE 2004). Um Kostenvorteile im Wettbewerb mit anderen LizenznehmerInnen (den ATOs) zu erzielen, haben große, kommerzielle Unternehmen weitreichende Möglichkeiten. Neben allgemeinen economies of scale werden sie in der Regel auch nur die Minimalanforderungen erfüllen, die das Reglement des Fairen Handels an sie stellt. Dies kann zu Wettbewerbsvorteilen gegenüber den ATOs führen, die traditionell gewissenhaft und teilweise über die Minimalanforderungen hinaus ihre Zulieferbetriebe unterstützen. Das kann sich z.B. darin äußern, dass sie höhere Fair Trade Prämien bezahlen, in andere Bereiche als und dadurch weniger in Qualitätsverbesserung investieren 'lassen' oder die laut Standards erwartete Langfristigkeit der Handelsbeziehungen ernster nehmen als ihre neuen, kommerziellen Konkurrenten. Neben der Einengung des Spektrums an Unterstützung für die ProduzentInnen und der Wettbewerbsnachteile für die ATOs können auch negative Wirkungen für die Fair Trade Marke an sich eintreten. So kann es zum einen zu Verwirrung der KonsumentInnen führen, wenn große Konzerne in 'paralleler Produktion' sowohl fair gehandelte, als auch konventionelle Produkte auf dem Markt bringen, ohne dass Transparenz oder gar eine Regelung bezüglich des quantitativen Verhältnisses von fairen und nicht fairen Waren besteht. Mündet diese Intransparenz in Vorwürfen des 'fairwashing' oder trifft sie auf eine grundsätzliche Ablehnung von Konzernbeteiligungen am Fairen Handel, kann dies zu einer Schädigung des Rufes der Marke und zu Verkaufsrückgängen führen (vgl. RAYNOLDS/MURRAY 2007, MUTERSBAUGH 2005, MURRAY et al. 2006, HUDSON/HUDSON 2004). Zum anderen haben die großen Unternehmen als Lizenznehmer mehr Möglichkeiten, auf die Festlegung der Regeln des Fairen Handels und damit auf eine Schwächung bzw. Aufweichung der Standards einzuwirken (vgl. MUTERSBAUGH 2005). (D) Fair Trade mit Plantagenproduktion (100% corporate, auf einem Machtgleichgewicht fußende relationale Wertschöpfungskette oder hierarchisch organisiert; REED 2009:14ff) Beschreibung: Der Schritt zu einer Zertifizierung von Plantagenproduktion erfolgte anfangs selektiv, nicht um große Unternehmen zu integrieren, sondern eher aus der Einsicht heraus, dass es schwierig wäre, bestimmte Produkte in den Fairen Handel aufzunehmen, ohne Plantagen zu zertifizieren. Dies bezog sich auf Produkte, an deren Herstellung traditionell keine KleinproduzentInnen beteiligt waren (vgl. RENARD/PÉREZ-GROVAS 2007). Später jedoch wurde die Möglichkeit der Plantagenzertifizierung auch in Bereichen eingeführt, in denen ebenfalls KleinproduzentInnen tätig sind, so z.B. in der Bananenproduktion (vgl. LA CRUZ 2006, MURRAY/RAYNOLDS 2000, SHRECK 2005). Während dabei zunächst möglichst strenge Kriterien berücksichtigt 105 Kapitel 1 bzw. nur Plantagen mit einem guten Ruf bezüglich ihrer corporate responsibility ausgewählt wurden, scheinen in jüngerer Zeit Erwägungen der Marktausweitung eine größere Rolle zu spielen. Dies wird zum einen auf die Dominanz von Konzernen bei bestimmten Produkten wie z.B. den Bananen zurückgeführt, zum anderen auf den zunehmenden Einfluss konkurrierender, weniger strenger Zertifizierungsprogramme wie das der Rainforest Alliance (RA), die speziell auf Großplantagen zugeschnitten sind (vgl. RAYNOLDS 2007). Um Großplantagen in die Fair Trade Zertifizierungen einzubinden, sind gewisse Anpassungen der Standards erforderlich, da die Unternehmen, um Profiteinbußen zu vermeiden, keine wesentlichen Einschnitte in ihre Art, die Wertschöpfungsketten zu steuern, zulassen würden. In der Regel ist die Steuerungsform eine relationale, wobei die großen Käufer die Logistik, den Vertrieb und die Vermarktung ab dem Exporthafen kontrollieren und bezüglich der Produktion mit nationalen Großgrundbesitzern in gegenseitiger Abhängigkeit zusammenarbeiten (vgl. FRUNDT 2005). Ob in solchen relationalen oder in Ausnahmefällen auch hierarchischen/vertikal integrierten Zusammenhängen, in dieser Variante der fairen Wertschöpfungskette sind die ursprünglichen 'movement actors' komplett ausgeschlossen, der Übergang zu Formen des ethischen Handels (vgl. SMITH/BARRIENTOS 2005 und 1.2.4) ist hier fließend. Vorteile: Neben weiterer Marktausweitung bietet die Zertifizierung von Plantagen die Chance, eine bislang vernachlässigte Akteursgruppe, nämlich landlose LandarbeiterInnen, als Zielgruppe in den Fairen Handel zu integrieren und deren Situation auf Grundlage sinnvoller und durchsetzbarer Kriterien zu verbessern. Risiken: Andererseits kann die verstärkte Zertifizierung von Plantagen, insbesondere bei Fruchtkonzernen zweifelhaften Rufs wie Chiquita oder Del Monte, den Ruf der Fair Trade Marke noch weiter aufs Spiel setzen und das Vertrauen der KonsumentInnen vollends erschüttern (vgl. RAYNOLDS/MURRAY 2007, RENARD/PÉREZ-GROVAS 2007). Darüber hinaus besteht bei Produkten, die auch von KleinproduzentInnen angebaut werden, die Gefahr, dass diese auf lange Sicht zusammen mit den sie unterstützenden ATOs von den Großen vom Markt verdrängt oder zumindest an den Rand bzw. zurück in die alternativen Absatzkanäle gedrängt werden (vgl. FRUNDT 2005, MURRAY/RAYNOLDS 2000, MURRAY et al. 2006). Einer Ausbreitung dieser Variante auf alle Fair Trade Produkte könnte im schlimmsten Fall gar das Aus des ursprünglichen Mandats des Fairen Handels, für KleinproduzentInnen einzutreten, bedeuten. Diese vier, sich anhand des Grads der Einbindung großer Unternehmen unterscheidenden Typen der fairen GVC geben einen differenzierten Einblick in verschiedene Steuerungsmodelle des Fairen Handels und den mit ihnen verbundenen Chancen und Risiken. Außerdem spiegeln sie die Spannungsfelder der historische Entwicklung und des mit dieser verbundenen Übergangs von intern und wertebasiert koordinierten, alternativen Netzwerken zu einem von Zertifizierung dominierten, in den Markt integrierten System wider. 106 Theoretisch-konzeptioneller Teil Zur Interpretation und Bewertung dieser Entwicklung und der durch sie entstandenen Spannungsfelder schlägt Darryl Reed die Unterteilung in drei Bereiche vor, anhand derer sich normative Fragen zum Fairen Handel interpretieren lassen (REED 2009:16ff; vgl. REED 1999): 'Fairness/Gerechtigkeit' (Moral) bezogen auf verfahrenstechnische Standards und Normen, 'gutes Leben' (Ethik) bezogen auf grundsätzliche Werte und Konzepte für ein solches und 'demokratische Prozesse' (Legitimität) bezogen auf die Rechte, Verfahren und Institutionen, durch die nicht konsensuelle Entscheidungen innerhalb des fair labelling network zustande kommen. Fairness innerhalb von Fair Trade: Im Mittelpunkt des Fairen Handels steht die Frage nach der Gerechtigkeit des Welthandelssystems. Im Allgemeinen teilen die VertreterInnen des Fairen Handels den Standpunkt, dass das bestehende Welthandelssystem ungerecht ist und dass es Teil des Mandats des Fairen Handels ist, zur Veränderung dieses ungerechten Systems beizutragen. Darüber, welche Art von Veränderungen erfolgen müsste und ob das bestehende System fairer gestaltet werden kann oder von einem komplett neuen Modell abgelöst werden müsste, besteht allerdings keine Einigkeit (REED 2009:16; vgl. FRIDELL 2007). Auf Ebene der derzeitigen Praktiken des Fairen Handels selbst gibt es einige Punkte, bei denen das Thema Gerechtigkeit eine Rolle spielt. Bezüglich des Umgangs mit bzw. der Rolle der KleinproduzentInnen stellen sich verschiedene Fragen, z.B. wie überhaupt ein 'fairer' Preis festgelegt werden kann, in welcher Höhe Vorfinanzierungen durch die HändlerInnen vorgeschrieben werden sollen oder ob die Lizenznehmer wirkungsvoll genug hinsichtlich der Einhaltung ihrer Verpflichtungen in die Pflicht genommen werden. Angesichts der zunehmenden Einbindung und des wachsenden Einflusses großer Unternehmen stellen sich Fragen der Gerechtigkeit auch in Bezug auf die Situation der ATOs. Die ATOs haben wesentlich dazu beigetragen, das heute existierende fair labelling network mit all seinen Organisationen, Institutionen und Verfahren aufzubauen. Dadurch haben sie einen Großteil der zur Initiierung dieses Systems angefallenen Transaktionskosten getragen. Die nun beitretenden kommerziellen Unternehmen können somit nicht nur ihre Wettbewerbsvorteile gegenüber den ATOs ausspielen (wie insbesondere in Variante C der fairen GVC ausgeführt). Sie nutzen darüber hinaus auch die Fair Trade Marke, ohne dass sie in deren Aufbau investieren mussten bzw. nachträglich an dessen Kosten beteiligt werden und – solange es keine weitergehenden Bestimmungen wie z.B. ein festgelegtes Mindestverhältnis von fair zertifizierten und konventionellen Waren oder ein Mindestvolumen an zu beziehenden fair gehandelten Produkten gibt – zudem ohne nennenswertes Risiko. Ethische Fragen innerhalb von Fair Trade: Auf allgemeiner Ebene ist die ethische Kernfrage die nach dem Zweck des internationalen Handels, danach, ob dieser hauptsächlich dem möglichst effektiven ökonomischen Austausch dient, oder ob er auch im Sinne anderer Anliegen, z.B. der Unterstützung lokaler Entwicklung oder der Förderung marginalisierter Gruppen, gestaltet werden kann. Auf Ebene der einzelnen Akteure, insbesondere der involvierten Firmen, stellen sich ethische Fragen bezüglich der grundsätzlichen Ziele und Werte des Fairen Handels und wie diese 107 Kapitel 1 durch den Einbezug oder den Ausschluss bestimmter Akteurstypen beeinflusst werden. Dies stellt die Gestaltung und Steuerung des Fairen Handels vor schwierige Entscheidungen. Eine grundsätzliche Spannung besteht zwischen den beiden Zielen des Fairen Handels, einerseits KleinproduzentInnen konkret zu unterstützen, andererseits ein alternatives Modell in Kritik am bestehenden Welthandelssystem zu propagieren. So kann die Frage, ob man große Unternehmen auf Ebene des Einzelhandels oder gar als Lizenznehmer integrieren soll, um mehr KleinproduzentInnen unterstützen zu können, oder ob man aus politischen Gründen an der Reinheit des alternativen Handels festhalten soll, zu einem ethischen Konfliktfall werden. Während eine Ablehnung, den Einzelhandel mit einzubeziehen, angesichts der Interessen der Hauptzielgruppe (KleinproduzentInnen) und des geringen Einflusses dieses Schritts auf den Charakter der Wertschöpfungskette schwer aufrecht zu erhalten ist, mehren sich aufgrund der dargestellten Risiken die Argumente gegen ein Zulassung von Konzernen als Lizenznehmer, da dadurch die politischen Ziele ernsthaft gefährdet werden können. Bleibt jedoch auch bei der Lizenznehmer-Variante das Argument der Wachstumsinteressen seitens der ProduzentInnen bestehen, taucht bei der Frage nach der Zertifizierung von Plantagen ein weiterer Aspekt auf, nämlich ob KleinproduzentInnen die einzige Zielgruppe bleiben dürfen oder ob eine Verpflichtung besteht, auch landlose LandarbeiterInnen zu unterstützen. Während BefürworterInnen der Plantagenzertifizierung argumentieren, dass LandarbeiterInnen zum einen schon von Anfang an im Fairen Handel mitgedacht worden sind (nämlich als saisonale Arbeitskräfte in den kleinen Betrieben), zum anderen genauso, wenn nicht noch stärker marginalisiert sind als KleinproduzentInnen, können deren GegnerInnen dem entgegenhalten, dass eine Unterstützung von LandarbeiterInnen zwar wünschenswert und notwendig ist, diese aber nicht im Rahmen des Fairen Handels erfolgen sollte, da in diesem Rahmen v.a. die Plantagenbesitzer und großen Handelsunternehmen davon profitieren und das gesamte fair labelling network beträchtlichen Schaden erleiden würde. Die Legitimität der Fair Trade Institutionen: Die vielen moralischen und ethischen Fragen, die bei der Gestaltung und Steuerung des fairen Handels auftreten, werfen die Frage auf, wie diese beantwortet werden. Wer legt auf welche Weise fest, welches die Grundsätze und Ziele des Fairen Handels sind, wie hoch ein fairer Preis ist, ob kommerzielle Unternehmen, die das fair labelling network nutzen, stärker in die Pflicht genommen werden sollen oder wie weit man mit der Integration großer Unternehmen geht? Während die meisten der gestaltenden Akteure des Fairen Handels die Legitimität des Welthandelssystems an sich verneinen, gibt es innerhalb des Netzwerkes verschiedene Komplikationen bezüglich der Legitimität von Entscheidungskompetenzen. Vor dem Hintergrund demokratischer und partizipativer Grundsätze stellt sich die Frage, inwieweit Nichtregierungsorganisationen wie die FLOs oder ATOs als die Schlüsselakteure des Feldes demokratisch legitimiert sind und inwieweit insbesondere die Zielgruppe(n), also die ProduzentInnen und ggf. auch die LandarbeiterInnen in Entscheidungsprozesse mit einbezogen sind. Dies hängt zum einen allgemein mit der Legitimität von Nichtregierungsorganisationen zusammen, die als Fürsprecherinnen von marginalisierten Gruppen, die vermeintlich selbst keine Stimme haben, auftreten, ohne von diesen basisdemokratisch damit beauftragt zu sein (vgl. EDWARDS 1999, HUDSON, A. 2001). Zum anderen wird 108 Theoretisch-konzeptioneller Teil speziell im Kontext des fair labelling network die Frage aufgeworfen, ob FLOs Richtungsänderungen hin zur Integration von Konzernen, der Erweiterung des Mandats auf LandarbeiterInnen, usw. vornehmen können, ohne dass eine entscheidenden Mitbestimmung dieser strategischen Entscheidungen durch legitimierte VertreterInnen der KleinproduzentInnen gewährleistet ist, als dessen Fürsprecherinnen die FLOs einst angetreten sind. Ähnliches gilt für die Mitbestimmung der ATOs, die den Aufbau der FLOs überhaupt erst ermöglicht haben und sich jetzt immer mehr von – sich mit ihrer Professionalität legitimierenden – 'market actors' verdrängt sehen. Die als Konsolidierung, Institutionalisierung, Internationalisierung und Standardisierung beschriebene Globalisierung der Bio- und Fair-Initiativen, das rasante Anwachsen der Märkte durch die Integration neuer Akteursgruppen, die diesen Veränderungsprozessen innewohnenden Spannungen, die in deren Zuge vorgenommenen Richtungsänderungen sowie die damit verbundenen Fragen der Gerechtigkeit, Ethik und Legitimität verweisen in erster Linie auf den Bio + Fair-Initiativen interne Entwicklungen. Gerade durch die zunehmende Integration der beiden alternativen Initiativen in die konventionellen Konsummärkte zeigt sich, dass die Entwicklung von Bio + Fair nicht im luftleeren Raum erfolgt, sondern auch von den sie umgebenden politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen abhängt. Deutet sich eine durch zunehmend industrielle Koordinationsformen oder eine Aufweichung von Standards bewirkte Annäherung der Initiativen an konventionelle Praktiken an, so ist dies kein einseitiger, sondern ein mit der 'Gegenseite' verwobener Prozess. Die als Argument für eine Modifizierung von Standards und Verfahren angeführte drohende Gefahr konkurrierender Zertifzierungsprogramme, die noch viel weniger streng sind als Bio + Fair, verweist auf Entwicklungen im konventionellen Bereich, durch die auch dort die Verhandlung und Vermarktung von Qualität einen Bedeutungszuwachs erfährt und dabei im Lichte einer mehr oder minder kritischen Öffentlichkeit nicht mehr ohne eine Legitimierung der ökologischen und sozialen Performance ökonomischer Praktiken auskommt. Unter dem Stichwort corporate social responsibility bemühen sich große Unternehmen des konventionellen Sektors, ihre Tätigkeit als nachhaltig zu präsentieren, teilweise durch selbstgemachte Erklärungen und Zeichen (im Sinne von 'first-' oder 'second-party-certification'), teilweise durch externe Siegelprogramme (z.B. Rainforest Alliance) bis hin zu sektorweiten Initiativen (wie z.B. der '4C' in der Kaffeeproduktion). Ein Einblick in damit zusammenhängender Problematiken rundet diesen Teil des Kapitels ab. 1.2.4 Konventionelle Konkurrenz für Bio + Fair? Aspekte des 'ethischen Handels' (HUGHES 2001a, 2004; NEILSON/PRITCHARD 2007) Bio + Fair bewegen sich innerhalb der (konventionellen) Märkte, sind aber teilweise 'gegen' sie (vgl. z.B. TAYLOR 2005). In diesen Märkten, in die die Initiativen Schritt für Schritt vorgedrungen sind, ist in Form des sogenannten ethischen Handels ein eigener Strang entstanden, mit 109 Kapitel 1 dem versucht wird, den wachsenden Forderungen nach nachhaltigem Wirtschaften im Rahmen konventioneller Praktiken gerecht zu werden. Anhand des Code of Practice des Kenyan Flower Council, einem nationalen Siegelprogramm der kenianischen Schnittblumenindustrie, analysiert Alex Hughes ein Beispiel für Initiativen des 'ethischen Handels', also dem Versuch, die ökologische und soziale Performance von konventionell produzierenden Unternehmen vermittelt über einen Code und damit verbundenen Grundsätzen, Standards und Zertifizierungsverfahren als positives Qualitätsmerkmal für den Handel und die KonsumentInnen aufzugreifen (HUGHES 2001a, 2004). Ein solcher Code soll vermitteln, dass durch die Herstellung des Produkts weder ökologische Schäden angerichtet, noch ArbeiterInnen ausgebeutet werden. Dabei handelt es sich – in Abgrenzung zu Bioproduktion oder Fairem Handel – in der Regel nur um Minimalstandards: „Unlike fair trade projects [...] ethical trade normally refers much more modestly to the establishment of minimum standards for social and environmental responsibility in existing large scale business. These standards are usually set out in codes of conduct and are monitored through the use of auditing practices.“ (HUGHES 2001a:390) Dass immer mehr solche Codes of Conduct oder Codes of Practice in Erscheinung treten, wird als eine Re-Regulierung in Zeiten von Globalisierung, Neoliberalismus und Deregulierung des Welthandels interpretiert (HUGHES 2001a:393ff, HUGHES 2004:215). Durch die globale Reichweite der Produktions-, Handels- und Konsumnetzwerke, die sich nationalen Regulierungen teilweise entziehen können und für die keine internationale Gesetzgebung besteht, bilden über den Marktmechanismus funktionierende Programme ethischen Handels heute den gängigsten Weg, um Arbeits- oder Umweltstandards zu verhandeln und festzulegen (HUGHES 2001a:391; vgl. O´Brien 2000, HALE 2000, HUGHES 2001b). Als treibende Kraft hinter der Einführung solcher programmes of government ethischen Handels werden oft die Interessen der KonsumentInnen aufgeführt, deren Druck durch die großen Einzelhandelsfirmen als die driver der Netzwerke weitergegeben wird. Wird der Bereich des Konsums dadurch als Raum für effektive politische Handlungen aufgewertet (HUGHES 2001a:392, Hughes 2004:222; vgl. CREWE 2000, 2001, 2004, HARTWICK 2000, JOHNS/VURAL 2000), deutet das Beispiel des Kenya Flower Council darauf hin, dass meist weniger die KonsumentInnen selbst – ob individuell oder in organisierter Form – aktiv werden und Veränderungen einfordern. Vielmehr sind es in der Regel JournalistInnen oder Nichtregierungsorganisationen aus dem sozialen, Menschenrechts- oder Umweltbereich, die mit negativen Berichterstattungen oder kritischen Kampagnen im Namen der 'virtuellen KonsumentInnen' (MILLER 2000:197) den Handel und seine Zulieferbetriebe zum Handeln bringen: „While the motivation for constructing the Code of Practice and the system for ethical auditing is […] quite rightly suggested to derive from the sphere of consumption, the consumers of cut flowers themselves are less directly involved. Rather, it is the media, NGOs acting on behalf of the consumers and the supermarket chains who call for developments in ethical trade“ (HUGHES 2004:223f, Hervorhebung im Original) 110 Theoretisch-konzeptioneller Teil Aufgrund des durch Medien und Nichtregierungsorganisationen vermittelten und durch den Einzelhandel weitergegebenen Drucks aus der Sphäre des Konsums sprechen Firmen nun immer häufiger von einer 'triple bottom line' und von 'stakeholder accountability', durch die neben der ursprünglichen Quintessenz der Profitabilität nun auch Umweltschutz und soziale Bedürfnisse der von den Unternehmen betroffenen Stakeholder betont werden (HUGHES 2001a:392; vgl. UTTING 2000, UTTING/MARQUES 2010, BLOWFIELD 1999, O´RIORDAN 2000, ZADEK 1998). Es ist somit dieser spezifische Kontext, durch den eine 'Problematisierung' bzw. 'In-Frage-Stellung' der bisherigen Konzepte und Praktiken sowie die Einführung von neuen Programmen zur Steuerung der Warennetzwerke zustande kommt (HUGHES 2001a:393f; vgl. DEAN 1999). Eine Betrachtung dieser neuen Steuerungsprogramme in ihrem Zustandekommen, ihren Grundsätzen, den auf diesen aufbauenden Standards sowie deren Implementierung in die Praxis am Beispiel des Kenyan Flower Council zeigt verschiedene Charakteristika und Spannungsfelder hinsichtlich der zugrundeliegenden Rationalitäten und deren Übersetzung in einen institutionellen und organisatorischen Rahmen, des Einsatzes von Techniken und Instrumenten, der Definitionsmacht und dem Handlungsspielraum dominanter Akteursgruppen sowie dem Verhältnis von Programmen und Praktiken. In einem ersten Schritt werden Codes of Practice konstruiert. Am Beispiel des Kenyan Flower Council wurde der Code im Kreis der Manager der großen Blumenexportfirmen unter Ausschluss anderer Akteure wie z.B. Gewerkschaften ausgearbeitet, sodass sich ein hoher Grad an Autonomie bezüglich der Bestimmung von Details feststellen lässt (HUGHES 2001a:397). Die der Formulierung des Code of Practice zugrundeliegenden Rationalitäten sind geprägt von einem internationalen Management-Diskurs über Unternehmensverantwortung ('corporate responsibility'), Nachhaltigkeit ('triple bottom line') und die (paternalistisch angehauchte) Fürsorge für Stakeholder ('stakeholder accountability') (HUGHES 2001a:396). Dies verweist auf die allgemeine Tendenz, dass die Grundlagen für Codes of Conduct hauptsächlich durch die dominanten Akteure des 'Nordens' bestimmt werden, auch wenn sie durch ihren Fokus auf den Bereich der Produktion besonders auf den Schutz der ArbeiterInnen und der 'natürlichen' Umwelt des 'Südens' abzielen (HUGHES 2001a:392; vgl. BLOWFIELD 1999, HALE 2000, BARRIENTOS et al. 2000). Das bereits im Kontext von Bio + Fair problematisierte Partizipationsdefizit der eigentlichen Zielgruppen in den 'Entwicklungsländern' scheint im Bereich des ethischen Handels noch stärker ausgeprägt: „'[T]he content of codes often appears to be largely decided in non-transparent and non-participatory processes' (DILLER 1999:112). Instead, the process of re-regulation through the Kenya Flower Council tends to involve paternalism and is driven by transnational business networks at the managerial level […].“ (HUGHES 2001a:398) Bei der Festlegung einzelner Bestimmungen wird eine gewisse (durch das Fehlen einer internationalen Regulierung sowie die genannte Autonomie in Verbindung mit den eigenen Interessen mögliche) Selektivität etwa in Bezug auf die Rechte der ArbeiterInnen erkennbar (vgl. DILLER 1999). Beispielsweise wird der Einsatz von Chemikalien an bestehende gesetzliche 111 Kapitel 1 Regelungen geknüpft. Während für die Lagerung von Pestiziden die strengere Gesetzgebung Großbritanniens als Referenz aufgenommen wird, um den Anforderungen des britischen Einzelhandels gerecht zu werden, wird bei der Anwendung der Chemikalien durch die ArbeiterInnen auf die weniger strengen kenianischen Gesetze zurückgegriffen. „The fact that legislation on chemical use and labour laws in Kenya represent less stringent standards than those defined through European legislation is enough to raise questions about whether business responsibility in this case goes far enough.“ (HUGHES 2001a:397) Als weiteres Beispiel kann etwa das Festhalten an niedrigen nationalen Mindestlöhnen die Sicherung von Grundbedürfnissen wie dem Zugang zu sauberem Trinkwasser, eine angemessene Wohnsituation oder die erschwingliche Nutzung öffentlicher Transportmittel konterkarieren. „So, while mentalities of stakeholding are evident in the strategies of the Kenya Flower Council and the code of practice, they do not always translate immediately into acceptable labour conditions on the ground.“ (HUGHES 2001a:397, Hervorhebung im Original) Allgemein werden ArbeiterInnen in den Kriterien der Codes of Practice als passive Subjekte konstruiert, die trainiert und ausgebildet werden müssen, um arbeitsrechtliche Bestimmungen z.B. im Hygienebereich einhalten zu können. Oft wissen ArbeiterInnen – abgesehen von diesen sie bezüglich des Arbeitsablaufs betreffenden Regeln, die im Rahmen von Inspektionen relevant werden können – wenig über den Kenya Flower Council, die Inhalte des Code of Practice und die ihnen zugesprochenen Rechte (HUGHES 2001a:398). Eine Möglichkeit, auf die genauen Inhalte solcher Code of Practice einzuwirken, kann die Fortsetzung nämlicher Arbeit von JournalistInnen und Nichtregierungsorganisationen im Namen der KonsumentInnen (und auch der ArbeiterInnen) sein, die auch deren Entstehung provoziert hat (vgl. HALE 2000). Nach der Festlegung eines Code of Practice stellt sich die Frage nach dessen Umsetzung und Kontrolle. Die Übersetzung der Codes in die Praxis erfolgt in der Regel unter dem Einfluss privater Zertifizierungs- bzw. Auditfirmen. Diese machen als neue und einflussreiche Akteursgruppe die bereits vielschichtigen Warennetzwerke noch komplexer (HUGHES 2004:221). Ihre Rolle, ihre Techniken und Instrumente sowie die Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit ihrer Kontrollarbeit ist dabei umstritten. In einem Klima des Misstrauens87 werden externe Auditfirmen als Kontrollorgane positioniert, durch die die Einhaltung der selbstdefinierten Codes nachweisbar werden soll (HUGHES 2004:222). Oft beeinflusst von Prüfverfahren und -techniken aus dem Finanzwesen im Sinne eines 'borrowing across regimes of practices' (DEAN 1999), wenden die Auditfirmen (ganz im Stile industrieller Koordination) Instrumente wie Checklisten, Fragebögen und die Überprüfung messbarer Indikatoren an, um die Compliance der inspizierten Firmen zu überprüfen (HUGHES 2001a:398f; vgl. POWER 1997, MILLER 1998). Auf eine meist nur halboder eintägige Inspektion, auf die sich die jeweilige Firma gut vorbereiten kann und bei der 87 112 „we are experiencing […] a movement along a continuum from a society that trusts everything and audits nothing towards a society that trusts nothing and audits everything“ (PENTLAND 2000:307, zitiert in HUGHES 2004:222) Theoretisch-konzeptioneller Teil diese Instrumente in situ zur Anwendung kommen, folgt die Erstellung von schriftliche Berichten, in denen sich die Prüfergebnisse materialisieren: „[W]hile the occasion of the audit itself involves highly performative acts of observation, checking, watching and interacting with members of the workforce, the results are frequently crystallized and recorded in the form of checklists, paper trails and condensed reports.“ (HUGHES 2001a:401) Dabei wird – neben der grundsätzlichen Kritik daran, dass Schlüsselakteure, die bestimmte Stakeholderansprüche repräsentieren (z.B. lokale Gewerkschaften oder Umweltorganisationen), unzureichend in die Monitoringprozesse eingebunden sind und sich der bereits bei der Definition der Codes erhobene Vorwurf des Partizipationsdefizits auf Ebene der Kontrolle durch die Dominanz privater, externer, meist international agierender Auditunterehmen wiederholt (HUGHES 2001a:392,400) – v.a. die Gefahr gesehen, dass die Praktiken der Auditfirmen von den Realitäten vor Ort 'abstrahieren' (vgl. MILLER 1998, 2000) und sich die Auditprozesse bzw. das, was von ihnen in Form ihrer Berichte oder der letztlich am Ende stehenden Zertifikate sichtbar wird, von den tatsächlichen Produktionsprozessen 'entkoppeln' (HUGHES 2001a:400; vgl. POWER 1997): „[T]he crystallization of the code´s key clauses into a checklist and set of simple questions illustrates the process of abstraction […], whereby complex organizational activities are frozen into simple, predetermined categories of data. Power (1997) has suggested that procedures of audit often become seperated from the practical realities of the worlds being audited. This 'decoupling' occurs 'when an audit process is disconnected from what is really going on' (POWER 1997:96). As such, decoupling might represent the process by which codes and audits are abstracted from real, lived experiences in the workplace.“ (HUGHES 2004:226) Am Beispiel der Kriterien zu Mindestlöhnen und einer angemessenen Wohnsituation des Code of Practice der kenianischen Schnittblumenproduktion konnte gezeigt werden, dass die Befragung des Managements und der ArbeiterInnen im Rahmen einer Inspektion zu diesen Punkten keine Beanstandung ergaben, während weiterführende Interviews von Alex Hughes mit den gleichen ArbeiterInnen spezifische Aspekte derer Alltagssituation zur Sprache brachten (wie z.B. dass gezahlte Mietzuschüsse nicht ausreichen, um eine ausreichend mit Wasser und Elektrizität versorgte Wohnung anzumieten), die dem Blick der Inspektion verborgen blieben: „Farm audits conducted by both the Kenya Flower Council and their external auditor […] include checks for compliance with both of these labour conventions. However, at the time of my study checks were entirely verbal. Management were asked if they complied with the requirements, requiring a yes/no response, and a small sample of workers were interviewed briefly about working and living conditions. Interviews were brief and the process visibly intimidated workers, who revealed few of their experiences to the auditor. […] [M]y discussions with workers suggested that many specific issues of housing and living conditions remained untouched by the code and were hidden from the view of the audit process. Workers quite simply '[fell] out of account' (POWER 1997:100).“ (HUGHES 2004:226, Hervorhebung SD) Untersuchungsergebnisse dieser Art untermauern demnach eher das 'als ob'-Argument des Virtualism und erlauben Fragen wie beispielsweise, ob es bei den Audits und Zertifizierungsin- 113 Kapitel 1 spektionen nicht eher darum geht, inspiziert zu werden und dies nach außen sichtbar zu machen, als um das, was ein Audit tatsächlich zu Tage fördern könnte (HUGHES 2001a:399; dort MILLER 1998:202); ob das Wissen, das die Festlegung von Codes und Standards anleitet, nicht ein dem Kontext entrissenes, 'ent-bettetes', mit Unwissenheit über die realen Verhältnisse durchdrungenes Wissen ist (HUGHES 2004:228; vgl. MILLER 2000); oder ob die Umtriebigkeit der Zertifizierungsfirmen als 'control of control' nicht eher eine Selbstbeschäftigung mit selbst erschaffenen Umständen darstellt und eventuell sogar von sinnvolleren Tätigkeiten ablenkt (HUGHES 2004:21988). Die von den governmentality studies und dem Konzept des virtulism inspirierte Untersuchung des Kenya Flower Council zeigt Spannungsfelder bezüglich der Festlegung und Anwendungen von Programmen ethischen Handels auf, deren Fragen (Wer legt mit welchem Wissen welche Standards fest und wie werden diese umgesetzt bzw. wird deren Einhaltung kontrolliert?) auch innerhalb der Bio + Fair Initiativen von Interesse sind. Unterschiede zu Bio + Fair liegen in der geringeren Strenge der Standards und darin, dass die Definitionsmacht bezüglich der Programme hier von Anfang an bei den kommerziellen Unternehmen liegt. Jeffrey Neilson und Bill Pritchard dagegen zeigen am Beispiel der Kritik indischer Stakeholder während der Testphase des Common Code for the Coffee Community (4C), einem Code of Conduct für die gesamte Kaffee produzierende Branche, der unter maßgeblicher Mitarbeit der deutschen EZ entwickelt wurde, welche Spannungen auftreten können, wenn sich alternative Produktions- und Handelskonzepte mit konventionellen vermischen und das gesamte Spektrum der bei der Herstellung und in den Handel eines Produkts involvierten Akteure unter einem Nachhaltigkeits-Label zusammengefasst wird (NEILSON/PRITCHARD 2007). Die Etablierung eines solchen industrieweiten Codes kann als ein Ergebnis der Strategien großer Firmen interpretiert werden, eine positive Darstellung ihrer sozialen und ökologischen Performance unter weitestgehender Beibehaltung ihrer gewohnten Praktiken zu verwirklichen. Sie führt damit weiter als die 'Parallelproduktion' von Bio + Fair und konventionellen Produkten oder die Aufstellung von Codes of Conduct auf Ebene der einzelnen Unternehmen (NEILSON/PRITCHARD 2007:316ff). Indische KaffeeproduzentInnen erwarten negative Auswirkungen des unter dem Motto 'Nachhaltigkeit' firmierenden industrieweiten Standards in ökologischer, ökonomischer und sozialer Hinsicht. Übergreifend hängt dies mit Befürchtungen zusammen, dass ein (etwas so komplexes und vielschichtiges wie Nachhaltigkeit versprechender) Standard für die gesamte Kaffeeproduktion – durch Anwendung vereinheitlichter, an große Unternehmen angepasster Instrumente und Verfahren der Steuerung – bestehende alternative Konzepte bedrohen und kleinere Akteure aus dem Markt drängen kann. Auf ökologischer Ebene wird die Nicht-Berücksichtigung lokaler Besonderheiten kritisiert. So finden die im indischen Kontext zur Erhaltung der Biodiversität wichtigen Mischkulturbetriebe keine ausreichende bzw. systematische Berücksichtigung in den Standards des 4C. Auch 88 vgl. auch die Überlegungen zu intelligenterer 'accountability' von Onora O´Neil (2002): http://www.bbc.co.uk/radio4/reith2002/ [10.01.2013] 114 Theoretisch-konzeptioneller Teil gemeinsame Anstrengungen der verschiedenen lokalen Stakeholder zur Bewahrung der Artenvielfalt, wie sie in gewachsenen soziokulturellen Zusammenhängen innerhalb der indischen Kaffeeproduktion üblich sind, werden durch einen auf Einzelbetriebe zugeschnittenen, mit Checklisten etc. operierenden Code nicht honoriert. Stattdessen könnten steigende Kosten, die für die Zertifizierung nach dem neuen 4C zu erwarten sind, dazu führen, dass diese durch eine Intensivierung der Produktion und damit einer Aufgabe des Mischkulturanbaus oder auch eines Rückzugs aus gemeinschaftlichen Aktivitäten kompensiert werden (NEILSON/PRITCHARD 2007:322ff; vgl. CHANDRAKANTH et al. 2004, NINAN/SATHYAPALAN 2005, DAMODARAN 2002). Auf ökonomischer und sozialer Ebene stoßen zunächst die Ablehnung eines Mindestpreises (im Gegensatz zum Fairen Handel) und vor allem die Aussicht auf Kritik, dass maßgeblich die ProduzentInnen die Kosten (Umstellung, Zertifizierung) des neuen Systems tragen, während der Handel seinen Nutzen daraus zieht. Darüber hinaus wird befürchtet, dass ein einheitlicher Standard dazu führt, dass durch andere Qualitätssiegel (wie Bio + Fair) und sonstige Produktdifferenzierungsstrategien aufgebaute Vorteile (Marktanteile, Preispremium) erodieren. Stehen kleinere und mittlere ProduzentInnnen durch den industrieweiten Standard wieder verstärkt in Konkurrenz zu den Großen oder können sie die Anforderungen und Kosten für die Zertifizierung nicht tragen, laufen sie darüber hinaus Gefahr, aus dem Markt gedrängt zu werden, wodurch sich ökonomische Konzentrationsprozesse verschärfen dürften und Vielen der Verlust ihrer durch den Kaffeeanbau geprägten Identität droht (NEILSON/PRITCHARD 2007:324ff). Gelingt es nicht, solche Stimmen betroffener Stakeholder, die in den außendarstellerischen Erzählungen solcher Standards als Begünstigte konstruiert werden, zu berücksichtigen und lokalen Besonderheiten und Unterschieden (z.B. Monokultur vs. Mischkultur, Einzelbetriebe vs. Gemeinschaftsarbeiten, Große vs. Kleine) gerecht zu werden, drohen Initiativen wie der 4C, aber auch die in den Mainstream rückenden Ansätze von Bio + Fair, Verluste ihrer Legitimität und der Glaubwürdigkeit ihrer Versprechungen. „For the Indian coffee sector, consumer-led certification initiatives as typified by the 4C are perceived to be emblematic of a form of economic and political imperialism in which the claims of social and environmental sustainability by (non-Western) producers are rendered subservient to those that fit within the audit-culture mentality of Western corporate models.“ (NEILSON/PRITCHARD 2007:328) 115 Kapitel 1 Zusammenfassung Anhand der in 1.2 ausgeführten Beispiele konnte zweierlei aufgezeigt werden: Zum einen verdeutlichen die ausgewählten Texte, wie mittels der verschiedenen, in 1.1 eingeführten Ansätze diverse Aspekte, Problematiken und Spannungsfelder herausgearbeitet werden können. Claudia Mayers Kombination von GCC und Neuer Institutionenökonomik erlaubt eine Typisierung der heute bestehenden, vielfältigen Siegellandschaft und der dahinterstehenden Zertifizierungssysteme sowie die Identifizierung erfolgskritischer Faktoren und daraus resultierender Spannungsfelder. Konventionentheoretisch inspirierte Arbeiten (Laura T. Raynolds zur Globalisierung der Bio-, Marie-Christine Renard zu der der Fair Trade-Initiativen) ermöglichen eine Interpretation der historischen Entwicklung von Bio + Fair, die als soziale Bewegungen entstehen und spannungsgeladene Konsolidierungs-, Institutionalisierungs-, Internationalisierungsund Standardisierungsprozesse durchlaufen, in deren Zuge neue Akteurstypen das Spielfeld betreten (Dachorganisationen, große Unternehmen, professionelle Zertifizierungsorganisationen) und interne oder wertebasierte Konventionen mehr und mehr von industrieller Koordination abgelöst werden. Darryl Reed´s vom GVC Ansatz sowie ethischen Erwägungen inspirierte Ausführungen helfen, die stufenweise Integration großer Unternehmen als einer dieser neuen Akteurstypen differenzierter zu betrachten und aus dieser Integration resultierende Änderungen, Vorteile, Risiken und damit verbundene Entscheidungsfragen bei der Gestaltung der Bio + Fair Netzwerke zu erörtern. Mit Einblicken in das im konventionellen Bereich immer mehr an Bedeutung gewinnende Feld des ethischen Handels arbeitet Alex Hughes Fragen zur Festlegung und praktischen Anwendung von Standards und Kontrollverfahren heraus und berücksichtigt dabei das Interesse der Gouvernementalitätsforschung an den Rationalitäten, Techniken, Instrumenten und Praktiken solcher Programme sowie die kritische Beleuchtung des Verhältnisses von Programmen und Modellen zu den alltäglichen ökonomische Praktiken im Sinne des Konzepts des virtualism. Jeffrey Neilson und Bill Pritchard schließlich stellen kritische Argumente aus ProduzentInnen-Perspektive gegenüber der Einführung eines industrieweiten Nachhaltigkeitscodes zur vollständigen Abdeckung einer Branche mit der Idee eines ethischen Handels vor. Zum anderen werden durch die exemplarisch ausgewählten Arbeiten zentrale Spannungsfelder eingeführt, die sich heute in der Landschaft von Bio + Fair vorfinden und von denen erwartet werden darf, sie auch beim 'Folgen' von Bio + Fair Garnelen und Bananen nach Ecuador vorzufinden. Hierzu gehören mögliche Spannungen und Auseinandersetzungen um die grundsätzliche Ausrichtung der Initiativen, um die auf solchen Grundsätzen aufbauende Festlegung von Standards und Verfahren, um die Umsetzung festgelegter Standards und Verfahren, sowie um die weiterreichenden Wirkungen, die die Festlegung und Umsetzung bestimmter Standards und Verfahren hervorrufen. Auf allen diesen Ebenen spielen Fragen der Einbeziehung (bzw. auch der Ausgrenzung) verschiedener Akteurstypen sowie deren Möglichkeiten, zu partizipieren und Einfluss zu nehmen, eine große Rolle bezüglich der jeweiligen Richtung, die eingeschlagen wird. 116 Theoretisch-konzeptioneller Teil In der grundsätzlichen Ausrichtung bestehen verschiedene, miteinander konkurrierende Vorstellungen von der Problemstellung, mit der sich die Initiativen auseinandersetzen, sowie von den Zielen, für die sie sich einsetzen. Geht es etwa darum, einen radikalen Gegenentwurf zur konventionellen Landwirtschaft bzw. zum derzeitigen Welthandelssystem zu propagieren, oder darum, die bestehende Zusammenhänge ein wenig umweltfreundlicher und gerechter zu machen? Soll eine möglichst tiefgehende Reinform alternativer Praktiken sichergestellt werden, die sich an strengsten Anforderungen orientiert, oder wird einer breiten Anwendung der Konzepte, die sich eher an Mindesterwartungen orientiert, mehr Gewicht gegeben? Gibt es Akteurstypen, die als besondere Zielgruppen behandelt werden sollen (z.B. KleinproduzentInnen oder LandarbeiterInnen), oder solche, deren Mitwirken an den Initiativen prinzipiell vermieden werden sollte (z.B. große, kommerzielle Konzerne)? Die Beantwortung dieser Fragen beeinflusst auch die Wahl der Standards und Verfahren, mit der die erkannten/ernannten Probleme gelöst und die festgelegten Ziele erreicht werden sollen. Hierbei spielen zunächst die Unterschiede zwischen internen und wertebasierten Koordinationsformen einerseits, einer kommerziell-industriellen Koordination andererseits eine Rolle. Inwieweit sollen überhaupt formale Standards und Verfahren eingeführt und mittels Zertifizierungen realisiert, aufrechterhalten und überprüft werden? Inwieweit lassen sich angestrebte Prozesse (wie z.B. eine weitestgehende Kreislaufwirtschaft in einem ökologischen Betrieb oder das empowerment von KleinproduzentInnen) überhaupt in messbare oder abfragbare Kriterien übersetzen? Mit dem von den meisten eingeschlagenen Weg, mehr und mehr in die konventionellen Märkte vorzudringen, diese von innen heraus zu verändern und in die Breite zu wirken, ist eine Entscheidung für die Anwendung von Zertifizierungsverfahren gefallen, wodurch kommerziell-industrielle Konventionen die Koordination der alternativen Warennetzwerke immer stärker beeinflussen. Die genaue Festlegung der Standards und Verfahren im Rahmen solcher kommerziell-industriell koordinierter Zertifizierungspraktiken ist wiederum Gegenstand spannungsgeladener Auseinandersetzungen. Wer verfügt über die Definitionsmacht bei der Bestimmung der Kriterien und Instrumente? Können die verschiedenen Interessensgruppen angemessen partizipieren? Deutet die beobachtbare Selektivität bei der Ausformulierung von Standards nicht auf eine einseitige, den Interessen bestimmter Akteure in die Karten spielende Entwicklung hin? Sind die Wissensbestände, die in die Konstruktion der Regelwerke einfließen, informiert über die Realitäten, auf die sie sich beziehen, oder sind sie von diesen entkoppelt? Sind einheitliche Standards möglich oder werden produkt-, regionalund betriebstypenspezifische Kriterien benötigt? Wie lässt sich eine Ausgewogenheit zwischen ökologischer, sozialer und ökonomischer Anpassungsfähigkeit herstellen? Wie lässt sich eine sukzessive Verbesserung bzw. Weiterentwicklung der ökologischen und sozialen Performance, also eine Prozessorientierung in die Standards integrieren? Wer trägt welche Kosten der Umstellung auf die Standards, wer die Kosten der Kontrolle? Wer soll wen wie kontrollieren? Was ist ein fairer Preis? Die Erarbeitung eines Zertifizierungssystems erfordert Entscheidungen über diese und viele weitere Fragen. Sind die Regeln und Mechanismen einer Zertifizierung, also die Kriterien und Instrumente, die sie ausmachen, einmal festgelegt und sollen sie zur Anwendung in der Praxis 117 Kapitel 1 kommen, ergeben sich weitere Spannungen, die auf möglichen Unzulänglichkeiten der Standards und Verfahren selbst, oder auf der Performance der mit ihrer Umsetzung beauftragten Akteure beruhen können. Gelingt es mithilfe der neuen Regeln, die gewünschten Ziele zu erreichen? Sind die Bestimmungen ausreichend, um negative Umwelteinflüsse abzuwenden oder den Zielgruppen angemessene Lebensbedingungen zu ermöglichen? Sind die Zertifizierungsorganisationen, die die Inspektionen durchführen, die richtigen, um dieser Aufgabe gerecht zu werden? Können sie mit ihren Methoden überhaupt ermitteln, inwieweit ein Standard erfüllt ist? Oder bleibt zu vieles unerkannt, weil es sich bei den Zertifizierungspraktiken um eine von den Verhältnissen vor Ort entkoppelte Selbstbeschäftigung handelt? Neben konkreten Aspekten der Umsetzung in die Praxis stellen sich darüber hinaus Fragen bezüglich der weiterreichenden Wirkungen, die die Einführung solcher Zertifizierungssysteme entfaltet. Darunter können Wechselwirkungen zwischen einzelnen Zertifizierungssystemen oder mit anderen institutionellen Rahmenbedingungen fallen, sowie Auswirkungen auf einzelne Akteursgruppen oder auch das Gesamtgefüge des Bio- oder Fair Trade-Segments. Kann etwa die Einführung neuer Bio + Fair Zertifizierungen dazu führen, dass bestehende, strengere Zertifizierungen oder gesetzliche Rahmenbedingungen aufgeweicht werden, es zu 'trading down'-Effekten kommt? Entsteht durch neue Zertifizierungsschemata möglicherweise eine neue Konkurrenzsituation, z.B. zwischen großen und kleinen Betrieben, zwischen Mischund Monokulturbetrieben, zwischen ATOs und konventionellen Handelsfirmen – mit negativen Auswirkungen für einzelne Akteurstypen? Werden die KonsumentInnen durch immer mehr Siegel zusehends verwirrt? Schädigt die Einbindung großer Unternehmen dem guten Ruf der Bio + Fair Initiativen? Gleichen sich alternativer und ethischer Handel immer mehr an? Trägt der von Marktausweitung, großen Firmen und professionellen Zertifizierungsunternehmen getragene Erfolg der Initiativen dazu bei, dass einige der Missstände, gegen die sie ursprünglich angetreten sind, reproduziert und unter dem Deckmantel der neuen Siegel zusätzlich legitimiert werden? Die Spannungsfelder, die sich mit Fragen dieser Art umreißen lassen, werden auch die Akteure umtreiben, denen man beim Folgen von Bio + Fair Garnelen und Bananen aus Ecuador begegnet. Wie diese Spannungsfelder genau ausgeprägt sind, wie einzelne Akteure damit umgehen und wie sie sich zu bestimmten Fragen positionieren, soll sich bei der Umsetzung des Forschungsansatzes in die Praxis zeigen, beim Folgen der Produkte und der auf die Gestaltung ihres Lebensweg ausgerichteten Konzepte von Bio + Fair. 118 Theoretisch-konzeptioneller Teil 1.3 Konzeptualisierung des Gegenstands Mithilfe der verschiedenen Ansätze zu globalen Warenketten, -netzwerken und -kreisläufen und deren Steuerung aus 1.1 sowie den in 1.2 vorgenommenen Charakterisierungen und identifizierten Spannungsfeldern kann nun eine theoretisch und fachgeschichtlich informierte Konzeptualisierung des Untersuchungskomplexes 'Bio + Fair Garnelen und Bananen aus Ecuador' sowie eine genauere Auswahlbegründung des Untersuchungsfeldes erfolgen. Folgen wir im Folgenden Bio + Fair zertifizierten Garnelen und Bananen aus Ecuador, so können die Ausführungen dieses theoretisch-konzeptionellen Teils helfen, unsere Vorstellungen davon zu präzisieren, in welchen Feldern wir uns dabei bewegen. Nehmen wir als eine mögliche Ausgangssituation die Verortung der forschenden Person, die beschließt, Bio- und Fair Trade-zertifizierten Garnelen und Bananen aus Ecuador zu folgen. Die bisherigen Berührungspunkte liegen – neben der Auseinandersetzung mit dem Thema im Rahmen des bisherigen akademischen Werdegangs – vermutlich vorwiegend im Bereich des Konsums; sei es durch die Wahrnehmung der in Frage kommenden Produkte, wie sie in Biound Weltläden, in (Bio- oder normalen) Supermärkten oder in der Werbung zum Verkauf angeboten werden; durch den Verzehr nämlicher Produkte, wenn man sich zum Kauf hat hinreißen lassen; durch das Thema betreffende Medienberichterstattungen (z.B. Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, TV-Dokumentationen); oder durch Gespräche im Familien- oder Freundeskreis. Selbst wenn man sich, wie in meinem Fall, bereits durch Besuche von Vorträgen von VertreterInnen von ProduzentInnenorganisationen, Interviews mit ProtagonistInnen aus den Anfängen der Bewegungen oder durch eigene Erfahrungen im Produktionsland ein erweitertes Bild machen durfte, ist man anfangs mit dem Phänomen konfrontiert, das Ian Cook und Philip Crang (1996) als den 'doppelten Warenfetisch' beschrieben haben. Zum einen muss es vieles geben, was man über die Herkunft und den Lebensweg der Produkte (genauso wie der sie zierenden Siegel) gar nicht weiß. Zum anderen begegnet man verschiedenen Formen von geographical knowledges, die Informationen über die konsumierbaren Waren und deren Lebensweg vom Ort ihrer Herstellung durch das Handels- und Distributionssystem hindurch bis ins Verkaufsregal transportieren. Eine kritische Auseinandersetzung mit diesen geographical knowledges kann eine erste Erweiterung des eigenen Verständnisses bringen. Recherchiert man z.B. im Internet die verschiedenen Richtlinien, Kriterien und Verfahren, wie sie von den unterschiedlichen Standard setzenden Organisationen festgelegt worden sind, oder verfolgt man einige der öffentlichen Auseinandersetzungen um Bio + Fair in unterschiedlichen Printmedien und Fernsehbeiträgen, so kann man sich einen Überblick über, sowie einen vertieften Einblick in die (durchaus vielfältige) Oberfläche verschaffen, an der die verschiedenen Vorstellungen und Wissensformen zu den beiden Produkten (Garnelen, Bananen) sowie den beiden Konzepten (Bio + Fair) sichtbar werden. Um mehr zu erfahren und insbesondere, um an dieser Oberfläche nicht zu Wort kommende Stimmen sprechen zu lassen, verlässt man schließlich die sichtbaren und unmittelbar zugäng119 Kapitel 1 lichen Orte des Konsums, um entlang der Versorgungswege bis an die Orte der Herstellung zu gelangen; möglichst sowohl an die Orte der Herstellung der Produkte, als auch an die der Herstellung der Regeln für Bio + Fair. Um den Alltag derjenigen Menschen zu beobachten, die in der einen oder anderen Weise beteiligt sind daran (oder betroffen sind davon), dass die Bananen und Garnelen mit den aufgeklebten Siegeln bei uns ankommen. Um mit denjenigen Menschen zu sprechen, die etwas dazu zu sagen haben. Mit ihnen zu diskutieren, sie untereinander diskutieren zu lassen. Die in 1.1 eingeführten und diskutierten Ansätze, die miteinander verflochtenen Zusammenhänge von Produktion, Handel und Konsum zu konzipieren, können dabei helfen, diesen Weg des ethnographischen Folgens der Waren und der Steuerungskonzepte zu beschreiten. Das Folgen wird kaum in der Form geschehen, dass man ein Produkt während des gesamten Wegs durch das Versorgungssystem physisch begleitet, gleich eines einem Zugvogel implantierten Senders. Auch dürfte es schwer umsetzbar sein, allen Verflechtungen zu folgen, die sich zwischen den Beteiligten dieser Zusammenhänge zu Tage fördern lassen. Deswegen können die verschiedenen Ansätze helfen, bezüglich der aufzusuchenden Orte und Menschen eine sinnvolle Wahl zu treffen. Die Vorstellung von den Verflechtungen der Warenströme als Kette – mit der Betonung vertikaler Verbindungen sowie der Verknüpfung von Macht mit bestimmten Positionen innerhalb der Kette – kann zum einen herangezogen werden, um die einzelnen wertschöpfenden Schritte, die in der Regel vertikal verlaufen und auf die Erstellung des zum Verkauf angebotenen Endprodukts ausgerichtet sind, entlang der Input-Output-Struktur der Kette zu berücksichtigen. So ergibt sich bei der Bananenkette ein funktionaler Ablauf von den für die Produktion benötigten Betriebsmitteln, über den eigentlichen Anbauprozess auf der Finca oder Plantage, die Ernte, erste Qualitätskontrolle und Verpackung in Kisten in einer Verpackungsstation in situ, den Transport zum Exporthafen, der nach einer erneuten Qualitätskontrolle erfolgenden Weiterreise in einem Kühlcontainer per Schiff in den Importhafen, den weitere Kontrollschritte beinhaltenden Weg über den Großhandel und die Reifereien in den (alternativen oder konventionellen) Einzelhandel, bis hin zu den VerbraucherInnen. Entsprechend umfasst die Garnelenkette die Aufzuchtlaboratorien der Garnelenlarven, die weitere Aufzucht in den Garnelenfarmen unter Einsatz zugekaufter Betriebsmittel, die Ernte der 'fertigen' Tiere, den (gekühlten) Transport zum Verpackungsbetrieb, Export-Import inklusiver dazugehörender Qualitätskontrollen, den Groß- und Einzelhandel und schließlich den Konsum. Für eine umfassende Untersuchung mit Fokus auf die Produktionsregion sollten demnach zumindest Fälle von Akteuren abgedeckt sein, die in die einzelnen Input-Output-Schritte bis zum Export involviert sind. Darüber hinaus kann das Konzept von 'governance as driving' mit der Idee, Warenketten könnten z.B. käufer-, zertifizierer-, dienstleistungs- oder konsumentengesteuert sein, auf einzelne einflussreiche Sprecherpositionen innerhalb des Feldes verweisen, von denen aus bestimmte Prinzipien, Kriterien, Instrumente und Verfahrensweisen zur Steuerung von Bio + Fair artikuliert und ggf. leichter durchgesetzt werden können. Angesichts der zentralen Rolle der Zertifizierungsverfahren sollen insbesondere die Programme und Praktiken derjenigen Organisationen betrachtet werden, die die Standards und Verfahren festlegen und sich um die 120 Theoretisch-konzeptioneller Teil Durchsetzung ihrer Anwendung bemühen. Das Folgen wird sich jedoch weder ausschließlich auf vertikale Verbindungen oder auf Firmen als Akteure des ökonomischen Machtbereichs beschränken, noch diese Akteure als 'BlackBoxes' behandeln können. Die Rolle der Standard setzenden Organisationen bei der Festlegung und Durchsetzung von Zertifizierungsverfahren deutet bereits eine der diagonalen bzw. komplementären Verflechtungen an, die auf die Steuerung der Warenketten (oder eben -netzwerke) einwirken. Mögliche Unterschiede und Spannungen zwischen Akteuren eines Kettenknotens lassen die Bedeutung horizontaler Verflechtungen erahnen. Wenn es einen Unterschied macht, ob z.B. ein Betrieb groß oder klein ist, er in Mischkultur oder in Monokultur anbaut, es sich um eine aus vielen Betrieben bestehende Kooperative oder eine einzelne Großplantage handelt, die Handelsfirma ein rein kommerzielles Unternehmen oder eine ATO ist, etc., so sollen diese Varianten auf der horizontalen Ebene durch die untersuchten Fälle abgedeckt werden. Wirken staatliche Akteure, z.B. durch die gesetzliche Festlegung von Standards der ökologischen Aquakultur auf Ebene der EU, durch die Unterstützung breit angelegter Initiativen des ethischen Handels wie des 4C durch die deutsche Bundesregierung oder durch den Aufbau einer EU-konformen Regulierung der Biozertifizierung in Ecuador auf die Gestaltung der Bio + Fair Netzwerke ein, sollen deren Aktivitäten nicht vernachlässigt werden. Positionieren sich zivilgesellschaftliche Organisationen wie z.B. Umwelt- oder Menschenrechtsgruppen zu den Konzepten und Praktiken von Bio + Fair, sollen deren eigene Konzepte und Praktiken ebenfalls eine Rolle spielen. Das Folgen soll auch nicht vor denjenigen Akteuren haltmachen, die von den zertifizierten Produktions-, Handels- und Konsumpraktiken betroffen sind, ohne direkt an deren Gestaltung und Steuerung mitzuwirken. So gehören z.B. die alteingesessenen MangrovenbewohnerInnen, deren Lebensbedingungen entscheidend durch die Aktivitäten der (zertifizierten wie nicht-zertifizierten) Garnelenzucht beeinflusst werden, und für diese – auf nationaler wie internationaler Ebene – sprechende Nichtregierungsorganisation zum Spektrum der Untersuchung. Nicht zuletzt werden die Auswirkungen auf die 'natürliche' Umwelt berücksichtigt. Schließlich interessieren auch organisationsinterne Unterschiede und Spannungen, so z.B. mögliche Auseinandersetzungen zwischen 'movement actors' und 'market actors' in Organisationen des Fairen Handels, zwischen einer 'shareholder'-Orientierung und einer 'stakeholder'-Orientierung innerhalb einer Firma, oder auch die Vielschichtigkeit vertikal integrierter Betriebe, zu denen u.a. gut ausgebildete Angestellte aus der Mittelklasse im administrativen Bereich genauso gehören wie angelernte ArbeiterInnen im Produktionsbereich. Damit befolgt ein Folgen der Produkte und Konzepte neben der vertikalen Strukturierung der Produktions-, Handels- und Konsumzusammenhänge im Sinne der Kettenansätze auch die den Netzwerkcharakter betonenden Perspektiven der GPN und des Stakeholder-Ansatzes, indem sowohl vertikale, als auch horizontale und diagonale Verflechtungen, indem die drei Sphären der wirtschaftlichen, der politischen und der kollektiven Macht, die institutionellen Rahmenbedingungen, die diese zusammenhalten, organisationsinterne Prozesse sowie alle von den Netzwerken betroffenen Stakeholder sowie die ebenso betroffene 'natürliche' Umwelt berücksichtigt werden (vgl. Abbildung 11). 121 Kapitel 1 122 Theoretisch-konzeptioneller Teil Bei den Beobachtungen an den mithilfe der verschiedenen Ansätze ausgewählten Orten und bei den Begegnungen mit dort verorteten Akteuren wird zum einen versucht, diese möglichst umfassend wahrzunehmen. Es soll nicht nur die Oberfläche des jeweiligen Moments interessieren, sondern auch die geschichtliche, soziale oder kulturelle Einbettung dieses Moments der Beobachtung oder der Begegnung (ganz im Sinne der Konzeptualisierungen der GCC und GPN und im Gegensatz zum Reduktionismus der GVC). Zum anderen werden – im Sinne der Konzepte von 'governance as normalization' – Wie-Fragen bezüglich des Dreiklangs Rationalitäten/Grundsätze, Programme/Konzepte (und dazugehörende Instrumente/Techniken) und Praktiken in den Vordergrund gestellt. Beobachtungen und Gespräche (Interviews, Gruppendiskussionen) fokussieren darauf, was die Beteiligten tun, wie sie ihr Tun interpretieren, wie sie Wandel (allgemein und speziell in Bezug auf Bio + Fair) wahrnehmen, wie sie diesen Wandel interpretieren (als z.B. welche Verantwortungszuschreibungen sie vornehmen, welche Phänomene sie betonen, welche vernachlässigen, etc.), welche Kategorien sie von sich und anderen bilden, welche Konzepte, Strategien und Instrumente sie vorschlagen bzw. auch anwenden, wie sie diese Wahl begründen und auf welche Ressourcen sie bei der Ausarbeitung und Durchsetzung ihrer Strategien zurückgreifen können. Durch das ethnographische Eintauchen in den Alltag und die Sichtweisen verschiedener Menschen an unterschiedlichen Orten soll zum einen das Verhältnis von Programmen und Praktiken in den Blick genommen werden. Zum anderen soll – im Sinne des in Kapitel 1.1.4 vorgenommenen Anschlusses diskursanalytischer Überlegungen an eine von der Gouvernementalitätsforschung inspirierte Konzeption von GVC und angesichts der vielen, in 1.2 vorgestellten Spannungen, die innerhalb der Netzwerke von Bio und Fair vorzufinden sind – die Begegnung mit einem möglichst breiten Spektrum an Stakeholdern ermöglichen, nicht nur die aktuell vorherrschenden Programme zur Steuerung von Bio + Fair Warenketten/-netzwerken, die weithin Gehör gefunden haben und mehr oder weniger effektiv zur Anwendung kommen, kritisch auf deren Chancen und Grenzen zu beleuchten, sondern auch alternative, weniger Gehör und Anerkennung bekommende Perspektiven zu berücksichtigen. Eine Kombination (Triangulation) der in 1.1 eingeführten Vielfalt der Ansätze zur Erklärung von globalen Produktions-, Handels- und Konsumzusammenhängen und deren Steuerung kann demnach sowohl bei der Auswahl der zu erforschenden Orte, als auch bei der Wahl der Forschungsperspektive, mit der diese Orte und ihre Menschen aufgesucht werden, hilfreich sein. In Hinblick auf die in 1.2 vorgestellten Studien zu Bio + Fair, insbesondere die identifizierten Spannungsfelder, verspricht die gewählte Untersuchungsregion, ein geeignetes Beispiel für deren Aktualität und Vielschichtigkeit zu sein. Neben der in der Einleitung genannten räumlichen Konzentration auf das Küstentiefland im Südwesten Ecuadors (Pragmatik) sowie der großen wirtschaftlichen Bedeutung einerseits, den sozialen und ökologischen Problemen wie Kinderarbeit und Ausbeutung oder Entwaldung und Umweltverschmutzung andererseits (Relevanz), lässt sich die bestehende Heterogenität an Akteuren und Institutionen als Auswahlbegründung nun noch differenzierter fassen. Es findet sich zunächst eine Vielzahl von verschiedenen bestehenden, vor Ort in der Praxis angewandten Zertifizierungssystemen. Im Biobereich gibt es mit EU-Bio als Minimalstandard für ökologische Produktion, mit den strengeren 123 Kapitel 1 Siegeln der privaten Bio-Verbände wie z.B. Naturland oder Demeter und mit den schwächeren, auf Großplantagen zugeschnittenen Zertifizierungen wie z.B. die der Rainforest Alliance das gesamte Spektrum des alternativen wie ethischen Handels. Im Bereich des Fair Trade bestehen bei den Bananen Zertifizierungen der FLO-I sowohl für KleinproduzentInnen, als auch für Plantagen. Als zur FLO-I konkurrierendes Siegel wurde mit fair for life von IMO/BioSuisse erstmals eine Fair-Zertifizierung für Garnelen eingeführt (wahlweise interpretierbar als Kritik an den standardisierten Praktiken der FLO-I oder als Teil des marktorientierten Ausweitungsprozesses auf immer mehr Produkte und Betriebe). Alle diese Zertifizierungssysteme erfüllen das (formale) Kriterium der 'third-party-certification' und weisen teilweise produkt-, regional- oder betriebstypenspezifische, sowie sowohl produkt- als auch prozessbezogene Standards auf. Neben diesen vorwiegend industriell koordinierten Steuerungszusammenhänge bestehen außerdem noch Kooperationen, die zu einem stärkeren Grad wertebasiert arbeiten, wie z.B. die zwischen der geschichtsträchtigen Organisation UROCAL/Nuevo Mundo (die nicht nur Kooperative, sondern auch politische Interessenvertretung für KleinproduzentInnen und deren Gemeinden ist) und der traditionellen ATO BanaFair (die z.B. möglichst auf einen Verkauf im konventionellen Einzelhandel verzichtet, eine höhere Prämie bezahlt und ihr 'Banafair'-Zeichen ohne formales Zertifizierungsverfahren vergibt). UROCAL als politische Organisation von KleinproduzentInnen und Banafair als klassische ATO stehen an einem Ende eines breiten Spektrums von involvierten Akteurstypen. Zu ihnen gesellen sich u.a. unterschiedliche Typen von Kooperativen (z.B. hinsichtlich ihrer Größe und ihres Professionalisierungsgrades), größere Plantagen, diverse Garnelenzuchtbetriebe (von kleineren Produktionsfirmen bis hin zu größeren Unternehmen, die von der Produktion über die Verpackung bis hin zum Export vertikal integriert sind), staatliche Behörden, die unterstützend oder regulierend eingreifen, sowie verschiedenste Zertifizierungsfirmen und Standard setzende Organisationen. Mit den alteingesessenen BewohnerInnen der Mangroven und mehreren Nichtregierungsorganisationen, die sich für deren Belange oder den Schutz der Mangroven einsetzen und dabei oft die Garnelenzucht (ob nun zertifiziert oder nicht) als ihre Hauptgegnerin ansehen, rückt zusätzlich eine Akteursgruppe als Stakeholder in den Blick, die von den bisherigen Zertifizierungsschemata noch gar nicht oder nur sehr unzureichend erfasst wird. Diese Konstellation an Akteuren und institutionellen Arrangements erlaubt zu erwarten, dass die diversen Spannungen und Auseinandersetzungen um die grundsätzliche Ausrichtung der Bio + Fair Initiativen, um die auf diesen Grundsätzen aufbauende Festlegung von Standards und Verfahren, um die Umsetzung festgelegter Standards und Verfahren, um die Wirkungen, die die Festlegung und Umsetzung bestimmter Standards und Verfahren hervorrufen, sowie die mit diesen Spannungen und Auseinandersetzungen verbundenen Fragen auch in der gewählten Untersuchungsregion verhandelt werden und somit ein intensiver Einblick in diese Aushandlungsprozesse gewonnen werden kann. 124 Theoretisch-konzeptioneller Teil 1.4 Reflexionen zum theoretisch-konzeptionellen Teil Wie das ethnographische Folgen von Bio + Fair in die Region der Bananenproduktion und Garnelenzucht an die Pazifikküste Ecuadors nun seine Beobachtungen und die Stimmen seiner Begegnungen festhält, sie aufbereitet, auswertet und darstellt, ist Gegenstand des folgenden Kapitels zu Methodologien und Methoden. Dass die in 1.3 unterstellte Ausgangssituation – die Welt des Konsums als wesentliche Verortung der forschenden Person – nur eine von mehreren denkbaren darstellt (wenngleich wohl angesichts der Chancen, in den Genuss des Privilegs zu kommen, eine solche Arbeit anfertigen zu können, die wahrscheinlichste und auch in meinem Fall zutreffende) und dass sich die als Ausgangspunkt für ein Folgen verfügbare Oberfläche an geographical knowledges z.B. aus Perspektive eines in den Mangroven oder auf einer Bananenfinca aufgewachsenen Menschen vom hier eingenommenen Blickwinkel wesentlich unterscheiden dürfte, wird in der Einleitung von Kapitel 3 nochmals aufgegriffen. In Rückblick auf dieses theoretisch-konzeptionelle Kapitel soll die hierfür gewählte Form der Auswertung, Aufbereitung und Darstellung reflektiert werden. Manch einer/m drängt sich möglicherweise die Frage auf, ob das alles erforderlich war. Gewiss hätte es auch andere Wege gegeben. Andere Wege, das Feld zu problematisieren. Andere Wege, die verschiedenen Ansätze und Fallstudien aufzugreifen und aufzuarbeiten. Andere Wege, an eine Konzeptualisierung des Untersuchungsfeldes heranzuführen. Vielleicht einfachere Wege. Auf jeden Fall kürzere Wege. Alternativen, die dazu berechtigen, noch einmal zu hinterfragen, warum gerade so. Dass voranstehende Darstellungsform gewählt wurde, hängt in erster Linie mit einem doppelten Anspruch zusammen. Dieses Kapitel sollte nicht nur eine theoretisch-konzeptionelle Einbettung dieser konkreten Studie sein. Angesichts der Vielzahl von Artikeln und Büchern, die verschiedene Ansätze und Konzepte hervorbringen sowie unterschiedlichste Beispiele und Teilbereiche der komplexen globalen Produktions-, Handels- und Konsumzusammenhänge behandeln, die zudem zumeist nur in der englischsprachigen Geographie umfassend diskutiert worden sind, entstand bei der Einarbeitung in die theoretischen und fachgeschichtlichen Hintergründe meiner Arbeit das Bedürfnis, dieses heterogene Feld mit seiner Stimmenvielfalt in einer deutschsprachigen Studie aufzuarbeiten. Um einen umfassenden Überblick zu ermöglichen. Um Bekanntes aufzugreifen. Möglicherweise zu einer Reinterpretation anzuregen. Um neue oder bislang vernachlässigte Aspekte zu integrieren, zu Wort kommen zu lassen. In Anlehnung an die im Kontext des Following-Ansatzes aufgegriffenen Ansprüche, zum einen eine Brücke schlagen zu können zwischen verschiedenen, z.B. wirtschafts- und kulturgeographischen Konzepten, zum anderen anstelle eines monologischen Aufdeckens verborgener Zusammenhänge verschiedene Stimmen nebeneinanderzustellen und für sich sprechen zu lassen, entstand die Idee, in die Heterogenität dieses Literaturfeldes – sozusagen in stilistischer Analogie zum Umgang mit dem empirisch erhobenen Material – in Form eines Lesens durch Schlüsseltexte einzuführen. Durch ausgewählte Bücher und Aufsätze, deren Darstellung relativ nahe am Originaltext bleibt und gerne Zitate einfließen lässt, sollte ein fokussierter und gleichzeitig 'authentischer' Einstieg in die verschiedenen Ansätze, nicht nur für diese Studie, 125 Kapitel 1 ermöglicht werden. Wer sich dieses Feld erschließen möchte, darf sich mit der Lektüre der fettgedruckten Literaturangaben aus 1.1 und 1.2 auf einem guten Weg wissen. Die ergänzende und kontextualisierende Literatur erlaubt der/m geneigten LeserIn darüber hinaus ein weiteres Vordringen in die Vielfalt der vorhandenen Arbeiten. So konnten in diesem Sinne in 1.1 die drei klassischen Ansätze der GCC, GPN und GVC relativ umfassend vorgestellt und diskutiert werden, Kombinationen von GCC/GPN/GVC mit dem Stakeholderansatz, der Konventionentheorie und der Gouvernementalitätsforschung aufgegriffen werden, letztere eigenständig um diskursanalytische Überlegungen erweitert werden, sowie ein Anschluss an commodities and circuits of culture hergestellt werden. Auch 1.2 war geprägt vom doppelten Anspruch dieses Kapitels, insofern, dass nicht nur in unterschiedliche Konzeptionen von Bio + Fair (als formale Institutionen, als sich globalisierende Bewegungen, in schwindender Abgrenzung zum ethischen Handel) und in deren Rahmen identifizierte Spannungsfelder eingeführt wurde, sondern gleichzeitig – wiederum anhand ausgewählter Texte – aufgezeigt werden sollte, wie aufbauend auf verschiedenen der Ansätze aus 1.1 ganz unterschiedliche Aspekte des Themenkomplexes global(isiert)er Warenketten/-netzwerke herausgearbeitet werden können. Schließlich wurde in 1.3 versucht, die zentralen Aspekte aus den Ansätzen aus 1.1 bzw. aus den Konzeptualisierungen und Spannungsfeldern aus 1.2 aufzugreifen, mit deren Hilfe sich ein theoretisches und fachgeschichtliches Vorverständnis des eigenen Untersuchungskomplexes präzisieren und mit denen sich nicht nur die Auswahl der besuchten Orte und Akteure sowie der Untersuchungsregion im Allgemeinen begründen, sondern auch der Fokus der Forschungsperspektive ableiten lässt. Neben diesem konkreten Nutzen für die Konzipierung meiner Arbeit soll das theoretisch-konzeptionelle Kapitel den LeserInnen darüber hinaus auch ermöglichen, bei der Darstellung der Teilfelder der Untersuchung in Kapitel 3 (Bio + Fair in Deutschland, Bananenproduktion in Ecuador, Garnelenzucht in Ecuador, MangrovenbewohnerInnen im Golf von Guayaquil) nicht nur deren Vielschichtigkeit und Eigenarten kennenzulernen, sondern auch – nach dem Vorbild der eingangs erwähnten Papaya-Studie von Ian Cook (2002) – die Theorie zwischen den Zeilen lesen zu können. Dagegen wird es bei der Konstruktion, Aufbereitung, Auswertung und Darstellung des eigenen Materials nicht darum gehen, die unterschiedlichen Kategorien und unterstellten Wirkungszusammenhänge der verschiedenen Ansätze einer Prüfung zu unterziehen. Die Modelle und Gerüste von GCC, GPN und Co. sind nicht als zu testende Hypothesen dieser Arbeit misszuverstehen. Die Herausarbeitung von Zusammenhängen, Kategorisierungen, Interpretationsmustern, etc. folgt im Sinne des qualitativen Ansatzes der Arbeit und einer gegenstandsorientierten Theoriebildung einem anderen Weg. Das Material oder vielmehr die als solches materialisierten Beobachtungen und Gesprächsprotokolle sollen bestimmen, welche theoretischen Bausteine sich im Zuge der Arbeit herausbilden. Die Frage, wie die Konstruktion dieses Materials, seine Analyse, die Herausarbeitung von Kategorien und Mustern sowie deren Darstellung zustande gekommen sind, ist Thema des folgenden Kapitels. 126 Methodologien und Methoden 2 Methodologien und Methoden Die Arbeit 'folgt' biologisch produzierten und fair gehandelten Garnelen und Bananen aus Ecuador, mit einer Schwerpunktsetzung auf die Produktionsregion im südwestlichen, zur Pazifikküste hin auslaufenden Tiefland Ecuadors. Dieses 'Folgen' geschieht zum einen mit einem klaren Fokus – der Frage nach Programmen und Praktiken von Bio- und Fair Trade-Initiativen (und zu diesen alternativen Sicht- und Handlungsweisen) –, zum anderen unter Verwendung ethnographischer Methoden und Methodologien. Ethnographisch meint die Anwendung von Teilnehmender Beobachtung in Verbindung mit weiteren Methoden der qualitativen Sozialforschung unter Beachtung bestimmter methodologischer Grundsätze (CRANG/COOK 2007:1,35). Im vorliegenden Fall kommen zur Teilnehmenden Beobachtung als weitere Einzelmethoden v.a. problemzentrierte Interviews (WITZEL 1989, vgl. MAYRING 2002:67ff), Gruppendiskussionen (z.B. LAMNEK 1998) und eine diskursanalytisch inspirierte Auswertung von während der Feldforschung 'gesammelten', durch die beforschten Akteure produzierten oder in Auftrag gegebenen Texten (z.B. Internetseiten, Flugblätter, Gutachten, Gesetzestexte) hinzu. Die Methodologien und Methoden, die hier berücksichtigt und ausgewählt worden und zur Anwendung gekommen sind, bilden das 'Programm' des Dissertationsprojekts, stellen seine 'Kunst des Forschens' und ihre Umsetzung dar. Wie bei anderen Programmen, z.B. Konzepten von Bio und Fair Trade, gehören auch zur Praxis des Forschens Grundlagen ('Rationalitäten') und auf diesen aufbauende Instrumente, Techniken ('Toolbox') und Handlungsanweisungen ('Taktiken'), die von den ForscherInnen angewandt und (im Sinne der Grundlagen) kritisch reflektiert werden sollen. Dabei stehen für jede Phase des Forschungsprozesses – also für die Vorbereitung, die eigentliche Feldforschung/Datenerhebung, die Datenaufbereitung, die Auswertung des Materials sowie die Darstellung der Ergebnisse – spezifische Instrumente/Techniken und Handlungsanweisungen zur Verfügung. In diesem Kapitel sollen dementsprechend die angenommen Grundlagen (2.1), die einzelnen angewandten Methoden (2.2) sowie die verschiedenen, miteinander verflochtenen Phasen des Forschungsprozesses (2.3) vorgestellt, erörtert und reflektiert werden. Abschließend erfolgt eine Zusammenfassung und Reflexion dieses Kapitels (2.4). Indem es in der konkreten Feldforschung zur Anwendung kommt, ist das methodologische und methodische Wissen ein praktisches Wissen. Es ist eingebettet in einen vielschichtigen Interaktions- und Kommunikationsprozess zwischen der/m ForscherIn und dem Feld bzw. den in diesem agierenden Menschen und Artefakten. Im Rahmen dieses Prozesses wird das der Arbeit zugrundeliegende Material – interaktiv, kommunikativ und reflexiv – konstruiert, zusammengestellt, aufbereitet, ausgewertet und dargestellt. Ziel ist es, durch ein Sich-Einlassen und eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit den verschiedenen beforschten Menschen und Orten zu einem tieferen Verständnis eines anfangs relativ offen abgesteckten Themas zu gelangen. Das Ergebnis, das in den Kapiteln 3 und 4 präsentiert wird, stellt meine Analyse-, Interpretations- und Darstellungsleistung aufbauend auf der methodologisch angeleiteten Aus- 127 Kapitel 2 einandersetzung mit dem im Feld hergestellten Material dar. Dieses Kapitel soll das Zustandekommen und die methodologische Fundierung dieser Leistung nachvollziehbar machen. Für die Auseinandersetzung mit ethnographischen bzw. allgemein qualitativen Methodologien und Methoden steht ein breites Literaturfeld mit zahlreichen allgemeinen Einführungen, Handund Lehrbüchern sowie Beiträgen zu spezifischen Methoden und methodologischen Einzelfragen zur Verfügung. Anders als im ersten Kapitel, in dem eine Einführung und ausführliche Erörterung der Ansätze und Studien zu Warenketten/-netzwerken/-kreisläufen vorgenommen wurde, wird in diesem Kapitel kein vergleichbarer Gesamtüberblick und keine grundsätzliche Diskussion der verschiedenen Ansätze und Spannungsfelder qualitativer Forschung angestrebt. Vielmehr soll das Augenmerk auf die Praxis meines eigenen Forschens gelegt werden, sollen die bei der Anwendung und Umsetzung der Methodologien und Methoden im Rahmen dieser Arbeit vorgenommenen Handlungen, getroffenen Entscheidungen und gemachten Erfahrungen sowie deren Reflexion in den Vordergrund gestellt werden. Es handelt sich demnach weniger um einen Beitrag über ethnographische Methodologien und Methoden, sondern um einen Beitrag über das Praktizieren derselben ('doing ethnographies') anhand eines konkreten Projekts (CRANG/COOK 2007). Dabei durchlaufen die Ausführungen nach einer kurzen Skizzierung der Grundlagen und Einzelmethoden die einzelnen Stufen des hier realisierten Forschungsprozesses von der Konzeptualisierung des Forschungsfelds, der Formulierung der prinzipiellen Fragestellung und der Verortung der eigenen Person (2.3.1) über den zirkulären Verlauf der Feldforschungsphase (2.3.2), die Materialgrundlage zu Beginn der Auswertungsphase (2.3.3), die Aufbereitung (2.3.4) und Auswertung (2.3.5) des Materials bis hin zu dessen Darstellung (2.3.6). Während für die Auseinandersetzung mit den methodologischen und methodischen Fragen neben meiner eigenen Vorerfahrungen (vgl. 2.3.1) der – an den gegebenen Stellen durch Literaturangaben kenntlich gemachte – Blick in verschiedene Handbücher und einzelne Artikel bereichernd war, hat sich insbesondere das aus der (geographischen) Praxis heraus entwickelte Einführungsbuch „Doing ethnographies“ von Mike Crang und Ian Cook (2007) als hilfreicher Leitfaden und Wegweiser durch die verschiedenen Phasen dieses Projekts hindurch erwiesen89. 89 128 Die Lektüre der einzelnen, dem Verlauf einer Forschung entsprechenden Kapitel (Zugang, Erhebung, Auswertung und Darstellung) begleitete auch das bereits genannte Seminar zu 'Following-Studien in der Geographie' im Sommersemester 2011 am Geographischen Institut der Humboldt Universität zu Berlin. Methodologien und Methoden 2.1 Methodologische Grundlagen Die Arbeit verfolgt das Ziel, durch einen qualitativen, interaktiven und kommunikativen Forschungsprozess ein vertieftes Verständnis über Programme und Praktiken von Bio- und Fair Trade-Initiativen am Beispiel der Herstellung von und des Handels mit zertifizierten Garnelen und Bananen aus Ecuador zu erlangen. Dabei geht es sowohl um eine möglichst vielschichtige Beschreibung und Interpretation der konkreten Verflechtungen, die sich bei Bio- und Fairzertifizierten Garnelen und Bananen aus Ecuador ausfindig machen lassen, als auch um die analytische Ableitung allgemeinerer Fragenkomplexe bezüglich der Programme und Praktiken von Bio + Fair im Kontext globalisierter Warenketten/-netzwerke/-kreisläufe. Um diesem Ziel qualitativ hochwertig gerecht zu werden, beruht die Umsetzung des Forschungsprozesses auf der Berücksichtigung verschiedener grundlegender Gütekriterien qualitativer Sozialforschung. Offenheit Ein erstes Kriterium ist, dass dem Untersuchungsfeld mit einer möglichst weitreichenden Offenheit und Unvoreingenommenheit begegnet werden sollte. Es geht nicht darum, vorher festgelegte Hypothesen oder formulierte Theorien empirisch zu überprüfen. Anstelle einer „Hypothesenbildung ex ante“ (HOFFMANN-RIEM 1980:345) zielt qualitative Forschung darauf, in Auseinandersetzung mit dem im Feld Vorgefundenen (zumindest) explorativ Hypothesen aufzustellen oder (als weiter reichender Anspruch) aus dem Material heraus Theorien zu generieren. Eine solche Aufgeschlossenheit und Unvoreingenommenheit ist dabei stets gradueller und nicht absoluter Natur. Ist die Herangehensweise einerseits offener und weniger festgelegt als bei quantitativen Ansätzen, die Hypothesen überprüfen oder vorab festgelegte Kategorien verwenden, darf sie andererseits nicht übersehen, dass qualitativ Forschende nie ohne Vorwissen, Vorerfahrungen und Vorabannahmen in ihre Feldforschung einsteigen können und auch ihr Erkenntnisinteresse von Beginn an in eine bestimmte, wenngleich anfangs noch relativ weit gefasste Richtung lenken. Diesen Ausgangsrahmen gilt es daher im Vorfeld zu explizieren und kritisch zu reflektieren. Zu dieser Offenlegung können eine erste Konzeptualisierung des Untersuchungskomplexes, die Formulierung einer vorläufigen Fragestellung sowie eine Verortung des/r ForscherIn bezüglich ihrer/seiner akademischen wie biographischen Vorerfahrungen (sofern sie für die Forschung relevant erscheinen) und seiner/ihrer Zugangsvoraussetzung zum Feld gehören. Reflexivität Die Verortung der/s Forschenden spielt nicht nur bei der Ausgangssituation eine Rolle. Dadurch, dass die Materialien (Daten) und darauf aufbauende Thesen oder Theoriebausteine interaktiv und kommunikativ im Feld konstruiert werden und deren Auswertung eine Interpretationsleistung der/s WissenschaftlerIn darstellt, sind Fragen des eigenen Zugangs, der Rolle, 129 Kapitel 2 des Verhaltens, der Haltungen, etc. in jeder Phase des Forschungsprozesses von Bedeutung und haben Einfluss auf die am Ende präsentierten Resultate. Der Umgang mit diesem Umstand zielt nicht – wie in der quantitativen Forschung verbreitet – darauf, den Einfluss der/s ForscherIn auf die Untersuchungsobjekte bzw. -subjekte so gering wie möglich zu halten oder gar zu neutralisieren, sondern darauf, mit diesem Einfluss bewusst, offensiv und konstruktiv umzugehen und ihn als einen wesentlichen Bestandteil des Erkenntnisprozesses zu nutzen. Vor diesem Hintergrund stellt die Reflexivität, also das Bemühen, die Beziehung des/r Forschenden zu ihrem/seinem Feld transparent zu machen und permanent – auf allen Stufen des Forschungsprozesses – zu hinterfragen, eine zweite Grundlage qualitativer Forschung dar. Zirkularität des Forschungsprozesses Der Forschungsprozess beginnt demnach mit einer – in die explizit gemachten Ausgangsbedingungen und Vorüberlegungen eingebetteten – Offenheit und vollzieht sich unter einer kontinuierlichen (Selbst)Reflexion. Damit im Verlauf des Forschungsprozesses die angestrebten Ziele (z.B. die vom Feld geleitete Konkretisierung der Fragestellung, die Exploration von Hypothesen oder die Generierung von gegenstandsbegründeten Theorien) erreichbar werden, werden weitere Grundlagen herangezogen, die die Verwirklichung des Forschungsvorhabens anleiten und durch die das Projekt Qualität erlangt. Allgemein folgt das Vorgehen der Idee eines zirkulären Forschungsprozesses, bei dem Tätigkeiten wie Lesen, Daten erheben und Schreiben nicht nacheinander – nach dem Motto: erst lesen, dann forschen, dann schreiben (vgl. CRANG/COOK 2007) – , sondern gleichzeitig bzw. abwechselnd und aufeinander Bezug nehmend durchgeführt werden. Anstelle der einmaligen Überprüfung von vorher theoretisch begründeten und methodisch operationalisierten Hypothesen (und der entsprechenden Anpassung der Hypothesen an theoretische Überlegungen und methodische Machbarkeit) bei einem linearen Forschungsverlauf erfolgt beim zirkulären Forschungsprozess eine mehrfache Anpassung der theoretischen (Vor)Annahmen und vorläufigen (Auswertungs-)Ergebnisse an neu erhobenes empirisches Material: „Das Vorverständnis über die zu untersuchende Gegebenheit soll als vorläufig angesehen und mit neuen, nicht kongruenten Informationen überwunden werden.“ (KLEINING 1982:231, zitiert in FLICK 2002:73). Umgekehrt fließen dadurch gewonnene Modifizierungen der theoretischen Annahmen und des Verständnisses des Gegenstands in die Gestaltung des nächsten Erhebungsschritts mit ein. Dieses 'theoretische Sampling' (z.B. GLASER/STRAUSS 1998) bezieht sich sowohl auf die Auswahl der Orte und Personen, die (als nächstes) untersucht werden sollen, als auch auf die an den Gegenstand gerichteten Fragen (Konkretisierung der prinzipiellen Fragestellung). Während die Entscheidung des ersten Sampling sich aus den theoretischen Vorannahmen und der prinzipiellen Fragestellung heraus begründet, entscheiden die Forschenden im Folgenden anhand der im jeweils vorherigen Schritt erhobenen und (vorläufig) ausgewerteten Daten, „welche Daten als nächstes erhoben werden sollen und wo sie zu finden sind“ (GLASER/STRAUSS 1998:53). 130 Methodologien und Methoden Fallauswahl/theoretisches Sampling Mit dem schrittweisen theoretischen Sampling als „genuines Prinzip“ der Fallauswahl in qualitativer Sozialforschung (FLICK 2002:108) stellt sich weiter die Frage, nach welchen Kriterien die 'Fälle' ausgewählt werden. Für ein solches 'gezieltes Sampling' können verschiedene Auswahlkriterien unterschieden werden (FLICK 2002:109ff, vgl. PATTON 1990). Beim 'Sampling extremer Fälle' („gezielt Extremfälle oder abweichende Fälle“ einbeziehen) wird das Untersuchungsfeld „eher von den Rändern her erschlossen, um darüber ein Verständnis des Feldes insgesamt zu gewinnen“, während beim 'Sampling typischer Fälle' („gezielt besonders typische Fälle“ auswählen) „das Feld eher von innen heraus [...] erschlossen“ wird (FLICK 2002:109). Das 'Sampling maximaler Variation' („möglichst unterschiedliche Fälle“ einbeziehen) zielt darauf ab, die ganze Bandbreite, das komplette Spektrum, das sich im Feld findet, abzudecken (FLICK 2002:109). Das 'Intensitäts-Sampling' (Fallwahl „nach der Intensität, mit der die interessierenden Eigenschaften, Prozesse, Erfahrungen etc. in ihnen gegeben sind bzw. vermutet werden“) interessieren entweder Fälle besonders hoher Intensität oder vergleicht „systematisch Fälle unterschiedlicher Intensität“ (FLICK 2002:109). Das 'Sampling kritischer Fälle' wählt Fälle, denen eine begründete Schlüsselrolle im Feld zugeschrieben wird, das 'Sampling sensibler Fälle' solche, die besonders geltungsstark oder brisant sind (FLICK 2002:109f). Schließlich ist auch das 'Convenience-Sampling' zu beachten, was sich im forschungspraktischen Sinne angesichts begrenzter zeitlicher, personeller oder finanzieller Ressourcen an der (möglichst leichten) Zugänglichkeit orientiert (FLICK 2002:110). Dieser pragmatische Aspekt führt Janice M. Morse (1994) des Weiteren dazu, zu bevorzugende 'Primärauswahl' (Fälle, von denen – angesichts des Wissens und Erfahrungsschatzes der/s InformantIn einerseits, ihrer/seiner Bereitwilligkeit, Zeit für die Untersuchung zu opfern andererseits – eine hohe Aussagekraft zu erwarten ist) von hinten anzustellender 'Sekundärauswahl' (Fälle, die nicht alle Eigenschaften für eine 'Primärauswahl' erfüllen) zu unterscheiden (FLICK 2002:110f). Welche 'Sampling-Strategie' angemessen ist, lässt sich nicht allgemein festlegen. Die getroffenen Entscheidungen müssen sich (gegenstandsorientiert) anhand der verfolgten Fragestellung begründen lassen. Die Positionierung der ausgewählten Fälle, also 'wofür' sie stehen 90, ist dabei kenntlich zu machen. Ein grundsätzliches Entscheidungskriterium ist die Reichhaltigkeit, Positionierung und Qualität der durch die 'Sampling-Strategie' konstruierbaren Informationen (FLICK 2002:111, CRANG/COOK 2007:14). „Dabei bewegen sich Auswahlentscheidungen immer [auch; SD] zwischen den Zielen, ein Feld möglichst breit zu erfassen oder möglichst tiefgründige Analysen durchzuführen“ (FLICK 2002:111). 90 für sich selbst, als Mitglied oder MitarbeiterIn einer Organisation, als Angehörige/r einer spezifischen Profession, einer bestimmten Akteursgruppe etc. (vgl. FLICK 2002:112f) 131 Kapitel 2 Triangulation Während diese Grundlagen zur Fallauswahl bzw. zum Sampling die Wahl der zu beforschenden Menschen und Orte anleiten (Wer und wo?), lassen sich andere Prinzipien bezüglich des Vorgehens im Austausch mit den einmal ausgewählten Fällen (Wie?) bemühen. Zum einen betrifft dies die Wahl der einzelnen Methoden, die zur Anwendung kommen sollen, zum anderen die Wahl der an das Feld bzw. die 'Fälle' zu richtenden Fragen oder zu diskutierenden Themen. Mit beidem eng verknüpft ist das Konzept der Triangulation (vgl. FLICK 2011). Indem unterschiedliche Perspektiven auf verschiedenen Ebenen (Theorien, Methoden, Datenformate, Personen) eingenommen und miteinander kombiniert ('trianguliert') werden, soll eine breitere und gleichsam tiefgründigere Auseinandersetzung mit dem Forschungsfeld ermöglicht werden, als wenn nur eine Theorie mit einer nur ein bestimmtes Datenformat konstruierenden Methode von nur einer Person angewandt wird. Unter Ausnutzung der jeweiligen Stärken (und Reflexion der jeweiligen Schwächen) einer Methode, eines theoretischen Konzepts, eines Datenformats oder auch einer/s ForscherIn kann so ein vielschichtiges, einzelne Teilaspekte ergänzendes oder relativierendes Bild des Untersuchungskomplexes erarbeitet werden. Dabei ist eben diese Vielschichtigkeit, die durchaus auch Disparates oder gar Widersprüchliches hervorbringen kann, Ziel und Gütemerkmal, weniger die 'wechselseitige Validierung der Einzelergebnisse', um zu einem 'objektiven' Bild des Untersuchungskomplexes zu gelangen (FLICK 2011:17ff). Es können Theorien-, Methoden- und Datentriangulation sowie die Triangulation von ForscherInnen (Feldforschung im Team) unterschieden werden. Eine Feldforschung im Team war im Rahmen dieses (Ein-Mann-)Projekts schwer umzusetzen; punktuell kann der Austausch und die gemeinsame Entwicklung einer Phaseneinteilung der Geschichte des Golfes von Guayaquil mit Nora Müller, die ihre Masterarbeit über die alteingesessenen MangrovenbewohnerInnen des 'Golfo' an denselben Orten durchgeführt hat, in denen meine Erhebung dieses Teilfelds erfolgte, als eine solche ForscherInnen-Triangulation eingestuft werden (MÜLLER 2013). Die Triangulation verschiedener, im Kontext des Forschungsinteresses adäquater theoretischer Ansätze (mithilfe der publizierten Bücher und Artikel als ein bestimmtes Datenformat) wurde im ersten Kapitel praktiziert. In Form der prinzipiellen Fragestellung und Themenfestlegung fließt sie in die methodologischen und methodischen Erwägungen mit ein. In diesem Kapitel liegt der Schwerpunkt auf der Methoden-Triangulation und den durch diese gewonnenen, unterschiedlichen Datenformaten. Die Methoden-Triangulation unterteilt sich in die Triangulation zwischen Methoden (mehrere Methoden werden angewandt) und die innerhalb einer Methode (unterschiedliche Varianten einer Methode werden angewandt). So werden hier z.B. mit Teilnehmender Beobachtung, problemzentrierten Interviews, Gruppendiskussionen und einer 'Materialsammlung' grauer Literatur, die von den beforschten Akteure produziert wurde, Einzelmethoden angewandt, die sich entsprechend in verschiedenen Datenformaten (Feldnotizen; Tonaufnahmen von Interviews und Diskussionen bzw. deren Transkripte; weitere Texttypen wie Flugblätter, Broschüren, Zeitschriften, Studien oder Gesetzestexte) materialisieren. Gleichzeitig kann z.B. Teilnehmende Beobachtung in unterschiedlicher Form (Grad des aktiven Mitwirkens, Rolle des/r ForscherIn als BeobachterIn im Hintergrund, als 132 Methodologien und Methoden PraktikantIn, als LeiterIn eines Seminars, etc.) umgesetzt werden, oder können die in allen problemzentrierten Interviews gleichen Leitfragenkomplexe/Leitthemen durch dem jeweiligen Interviewkontext angepasste Zusatzthemen oder eine biographische Vertiefung ergänzt werden. Während die Methoden-Triangulation den Einsatz verschiedener Techniken und Instrumente bei der Datenkonstruktion ermöglicht, leitet die Idee einer gegenstandsbegründeten Theoriebildung ('grounded theory') die inhaltliche Ausrichtung der mithilfe dieser 'Tools' zu behandelnden Themen und zu stellenden Fragen an (GLASER/STRAUSS 1998, STRAUSS/CORBIN 1996). Grounded Theory Der möglichst offen begonnene Forschungsprozess erfährt im Laufe der Zeit eine 'Einengung'/ 'Schließung', indem sich die Fragestellung mehr und mehr konkretisiert, zu vertiefende Themenbereiche abgesteckt werden und aus dem Feld heraus generierte Hypothesen oder Kategorien selektiv weiterverfolgt werden. Dieser Fokussierungs- und Selektionsprozess erfolgt schrittweise in Interaktion mit dem bereits konstruierten Material und dem Feld. Im Sinne einer gegenstandsbegründeten Theoriebildung können anhand des bereits vorhandenen Materials durch systematisches Fragen und Vergleichen Themenfelder, Zusammenhänge und Fragestellungen identifiziert werden, denen in den folgenden Erhebungsphasen gezielt nachgegangen wird, um durch neues Material das Verständnis dieser Themen- oder Fragenkomplexe zu verfeinern (vgl. z.B. GLASER/STRAUSS 1998, STRAUSS/CORBIN 1996). Solche Themen- und Fragenkomplexe zu identifizieren und miteinander in Beziehung zu setzen (durch weiteres Differenzieren, sinnvolles Zusammenfassen, interpretatives Interpunktieren) stellt den Kern des Analyseprozesses dar und wird im Rahmen der 'grounded theory' auch als Kodieren bezeichnet. Angelehnt an die schrittweise 'Schließung' des Fokus der Forschung von einer offenen Ausgangsphase über einzelne Themenstränge hin zu konkreten Spannungsfeldern kann das Kodieren auch in offenes, axiales und selektives Kodieren unterteilt werden, wobei diese Kategorien weder zeitlich noch inhaltlich trennscharf sind und fließend ineinander übergehen können (vgl. STRAUSS/CORBIN 1996:40f). Kommunikative und kontinuierliche Validierung Im Rahmen einer solchen gegenstandsbegründeten Theoriebildung stellt sich die Frage, wie die Validität der in Entstehung begriffenen Thesen, Codes, Konzepte, etc. über die permanent auszuübende Reflexion hinaus sicher gestellt werden kann. Die Gültigkeit der entstehenden Interpretationen kann mittels einer kommunikativen und kontinuierlichen Validierung überprüft werden (vgl. FLIEGE 1998:138f). Kommunikativ meint, dass die im Rahmen der analytischen Tätigkeit entwickelten Interpretationen oder auch Aussagen anderer GesprächspartnerInnen des Feldes (letztere in angemessener, z.B. bei Bedarf ausreichend anonymisierter Form) in nachfolgende Interaktionen im Feld eingebracht werden, um sie gemeinsam mit den Beforschten bestätigen, modifizieren oder relativieren zu können. Kontinuierlich meint, dass dieses 133 Kapitel 2 'Zurückspiegeln' ins Feld durch die Zirkularität des Forschungsprozesses mehrmals, im Idealfall während des gesamten Erhebungszeitraums erfolgen kann. Die kontinuierliche und kommunikative Validierung kann auf mehreren Ebenen stattfinden. Zum einen kann sie allgemein im Rahmen der Anwendung der Methoden-Triangulation eingesetzt werden. So können z.B. die Ergebnisse einer ersten Phase Teilnehmender Beobachtung eine wesentliche Grundlage für die Konstruktion der Leitfragen-/Leitthemenkomplexe für problemzentrierte Interviews oder Gruppendiskussionen bilden. Darüber hinaus kommt es in der Regel zu mehreren Treffen mit den gleichen Personen. So finden z.B. erste Begegnungen im Rahmen Teilnehmender Beobachtung statt, die späteren InterviewpartnerInnen nehmen evt. auch an einer Gruppendiskussion teil, anschließend werden Interviews vereinbart und durchgeführt, zu denen es oft auch noch eine Nachbesprechung gibt. Bei jeder Begegnung werden die Beforschten mit dem jeweiligen Stand der Interpretation der Forschenden konfrontiert und können darauf reagieren. Diese Konfrontation erfolgt sowohl implizit, als auch explizit – implizit durch die aufgrund des Vorangehenden modifizierten allgemeinen Fragen und Themen, explizit durch die Diskussion von im Vorfeld getroffenen Aussagen und deren Interpretation durch die Forschenden. Die Daten werden somit interaktiv bzw. kommunikativ sowie kontinuierlich bzw. immer wieder zusammen mit den Befragten konstruiert, rekonstruiert oder transformiert. Theoretische Sättigung Schließlich bildet das Konzept der 'theoretischen Sättigung' eine Grundlage dafür, den Zeitpunkt zu finden, zu dem das Feld breit genug erfasst ist, die ausgewählten Fälle tief genug analysiert sind und die empirische Erhebung abgeschlossen werden kann. Diese Sättigung ist prinzipiell dann erreicht, wenn sich keine neuen Gruppen/Typen/Fälle mehr identifizieren (Breite), und sich innerhalb einer ausgemachten Gruppe/eines gewählten Fall(typ)s keine neuen Daten (Argumente, Aspekte, Eigenschaften, etc.) mehr finden lassen (Tiefe): „researching the lives of every member of every interest group may not only be impractical but also unnecessary because there usually comes a point in the research process where the range of arguments which can be made concerning a particular matter has been made“ (CRANG/COOK 2007:14f). Dabei ist die theoretische Sättigung eng verknüpft mit der kontinuierlichen und kommunikativen Validierung, insofern dass letztere aufzeigen kann, inwieweit das bislang Erarbeitete adäquat erfasst wurde und ob im Rahmen der 'Spiegelung' der vorgenommenen Interpretationen noch neue Perspektiven zur Sprache kommen. 134 Methodologien und Methoden 2.2 Einzelne Methoden Mit der prinzipiellen Offenheit (unter offenzulegenden Rahmenbedingungen), der permanenten Reflexivität, der Zirkularität des Forschungsprozesses, dem theoretischen Sampling, dem Konzept der Triangulation, der Idee der gegenstandsbegründeten Theoriebildung, der kommunikativen und kontinuierlichen Validierung sowie der theoretischen Sättigung wurden die wesentlichen Grundlagen (Rationalitäten) skizziert, die die Ausarbeitung dieser Dissertation angeleitet haben. Im Sinne einer Methoden-Triangulation wurden im Verlauf der Feldforschungsphase unterschiedliche Einzelmethoden angewandt. Diese einzelnen Methoden sind eingebettet in die Gesamtkonzeption des Erhebungsprozesses, in dessen Mittelpunkt drei jeweils dreimonatige Forschungsaufenthalte in der Produktionsregion stehen. Wurde während des ersten Aufenthalts, bei dem es bei größtmöglicher Offenheit um die Identifizierung von wesentlichen Spannungsfeldern und Fragekomplexen im Sinne einer Konkretisierung der Fragestellung ging, ausschließlich Teilnehmende Beobachtung als die 'offenste' der ausgewählten Einzelmethoden angewandt, wurde diese beim zweiten und dritten Aufenthalt um problemzentrierte Interviews und Gruppendiskussionen ergänzt, mit denen die identifizierten Spannungsfelder aus der Perspektive einer konkretisierten Fragestellung vertiefend erfasst werden konnten. Dabei rückten im Laufe des dritten Aufenthalts Aspekte der Validierung und gezielten Vertiefung in den Vordergrund, während beim zweiten Aufenthalt noch die möglichst breite Erschließung der verschiedenen Fragekomplexe vorrangig war91. Ein Stück weit reflektieren die gewählten Einzelmethoden bzw. der jeweilige Zeitpunkt, zu dem von ihnen Gebrauch gemacht wird, dabei auch den Prozess der Erkenntnisgewinnung unter Anleitung der Idee gegenstandsbegründeter Theoriebildung, der sich von einem breit angelegten, offenen Kodieren (aufbauend auf Teilnehmender Beobachtung) zu einem fokussierten axialen oder selektiven Kodieren (aufbauend auf Interviews und Diskussionen) 'schließt'. Die vollzogenen Handlungen, getroffenen Entscheidungen und gemachten Erfahrungen bei der Anwendung der einzelnen Methoden sollen deshalb bei der Darstellung des Forschungsverlauf erörtert und reflektiert werden. Um jedoch einen Überblick über die angewandten Einzelmethoden zu geben, auf den die Erörterung des Forschungsverlaufs zurückgreifen kann, werden im Folgenden Teilnehmende Beobachtung (2.2.1), problemzentrierte Interviews (2.2.2) und Gruppendiskussionen (2.2.3) sowie die während der gesamten Feldforschung praktizierte 'Materialsammlung' grauer Literatur (2.2.4) kurz vorgestellt. Dabei beruht die Darstellung – bei geringen redaktionellen Änderungen – im Wesentlichen auf Formulierungen, wie sie zur Auswahlbegründung der Methoden vor der Umsetzung im Feld festgehalten worden sind92. Dies soll zum einen die Ausgangsüberlegungen zu dem Zeitpunkt offen legen, zu dem die Entscheidung über die Methodenwahl getroffen wurde. Zum anderen soll diese Bemerkung für den grundsätzlichen Aspekt sensibili91 Wenngleich die begründete Aussicht auf neues, eine qualitative Erweiterung bzw. Verbesserung versprechendes Material zur Verlängerung des dritten Aufenthalts zur – ursprünglich nur während des zweiten Aufenthalts vorgesehener Konstruktion solcher Daten geführt hat (vgl. 2.3.2). 92 z.B. in den Zwischenberichten an meine Stipendiengeberin, die Deutsche Bundesstiftung Umwelt (DBU) 135 Kapitel 2 sieren, dass die Darstellungen zum theoretisch-konzeptionellen sowie zum methodologisch-methodischen Rahmen, die die LeserInnen dieser Arbeit an die Darstellung der empirisch und analytisch gewonnenen Ergebnisse heranführen und dem logischen Aufbau des Buches nach nur die zeitlich vorgelagerten Voraussetzungen für die weiteren Kapitel geben, dennoch ein Produkt sind, das am Ende des gesamten Projekts steht und in dieser Form nicht vor der Durchführung des Forschungsprozesses hätten formuliert werden können 93. Die Darstellung der Methoden beschränkt sich auf die Techniken der Materialerhebung. Details zur Auswertung der mittels der ausgewählten Einzelmethoden konstruierten Materialien (Feldnotizen, Transkripte, etc.) werden erst weiter unten (v.a. 2.3.5) aufgegriffen. 2.2.1 Teilnehmende Beobachtung Als grundlegender Zugang zum Feld wurde – als 'genuiner' Bestandteil ethnographischen Arbeitens – die Teilnehmende Beobachtung gewählt (z.B. CRANG/COOK 2007:37ff, MAYRING 2002:80ff, FLICK 2002:206ff). Mit ihr wird versucht, so intensiv wie möglich am Alltag der verschiedenen Orte, die innerhalb des Untersuchungskomplexes ausgewählt worden sind, teilzunehmen und dabei aufmerksam zu beobachten. Die während der (mehr oder weniger aktiven) Teilnahme gemachten Beobachtungen werden in einem Feldtagebuch notiert und anschließend ausgewertet. Ein wesentliches Ziel ist es, durch die Partizipation am Leben und Arbeiten der Beforschten und durch dabei geführte Gespräche deren Alltagspraktiken und Sichtweisen kennenzulernen und nachvollziehen zu können. Durch das 'Sich-Einlassen' auf die Beforschten94 kann erhoben werden, welche Aspekte des zu untersuchenden Themas aus der Perspektive der Betroffenen bedeutend sind. Es werden auf diese Weise Einblicke gewonnen, die für eine den jeweiligen lokalen Kontexten angemessene problemorientierte Fragestellung erforderlich sind. Die Entscheidung für die Teilnehmende Beobachtung begründet sich also damit, dass nur so die für die weitere Verfolgung des Themas notwendigen Informationen erlangt werden können. Bei der Frage nach den lokalen Auswirkungen der gegenwärtigen (Wachstums)Dynamik des Bio- und Fair Trade-Sektors können durch die Teilnehmende Beobachtung zentrale 'Spannungsfelder' identifiziert werden, die die vor Ort involvierten Akteure 'umtreiben'. Die Feldforschung der Arbeit beginnt mit Teilnehmender Beobachtung in ausgewählten 'Settings', entsprechend dem Fokus der Fragestellung vorwiegend in der Produktionsregion. Bei der Umsetzung einer Teilnehmenden Beobachtung lassen sich mit der Schaffung des Zugangs zu den (theoretisch begründeten und erwünschten) 'Settings', der Durchführung und 93 94 136 Z.B. haben die Lektüre der im theoretisch-konzeptionellen Kapitel behandelten Texte und die Ansätze und Fallstudien, die diese repräsentieren, durchaus das Vorverständnis des Untersuchungskomplexes sowie die Auswahl der ersten Fälle der Feldforschung angeleitet. Auch waren viele der dort bearbeiteten Artikel und Bücher treue Begleiter während der Forschungsphase. Eine derart differenzierte Diskussion, wie sie in Kapitel 1 formuliert wurde, konnte jedoch erst im Rahmen einer erneuten und vertieften Auseinandersetzung mit den Konzepten nach der Feldforschung ausgearbeitet werden. “deep hanging out” (WOGAN 2004, zitiert in CRANG/COOK 2007:37) Methodologien und Methoden Dokumentation sowie der Auswertung der Feldnotizen grundsätzlich drei Phasen unterscheiden, die sich bei zirkulären Forschungsprozessen oder solchen, die an mehreren Orten stattfinden, auch abwechseln bzw. mehrmals wiederholen können (CRANG/COOK 2007:37ff). Überlegungen des Zugangs betreffen alle Einzelmethoden. Sie sollen an dieser Stelle exemplarisch aufgeführt werden, da in den meisten Fällen der erste Kontakt zu späteren InterviewpartnerInnen oder TeilnehmerInnen einer Gruppendiskussion im Rahmen Teilnehmender Beobachtung zustande gekommen sind. Bei der Frage des Zugangs stellt sich eine Reihe spezifischer Herausforderungen. Zunächst ist darüber nachzudenken, wie man mit den einzelnen Akteuren in Kontakt kommt und wie man sich und sein Vorhaben vorstellt. Die Kontakte für die erste Feldforschungsphase kamen z.B. entweder über persönliche Vermittlung oder durch schriftliche Anfragen per Email zustande. Durch das Anschreiben (bzw. bei den persönlich vermittelten Kontakte auf spätere Anfrage) erfolgte in den meisten Fällen eine schriftliche Präsentation des Forschungsvorhabens. Die Promotionstätigkeit und das Arbeitsthema wurden ohne Ausnahme (schriftlich oder mündlich) offen gelegt, die Anschreiben jeweils so formuliert, möglichst das Interesse und damit die Kooperationsbereitschaft der AdressatInnen zu wecken. Es wurde demnach stets eine Mischung aus einer möglichst umfassenden Darstellung des Anliegens und einer jeweils taktisch angepassten, eine mögliche Zusammenarbeit stimulierenden Version ('tactical version') verwendet: „multiple versions of the same project get fashioned for funders, supervisors, colleagues, friends, family and the various peolple with whom we do our research. None of these versions need necessarily be the 'true one'.“ (CRANG/COOK 2007:41). Mit der Einführung der eigenen Person ist stets auch die eigenen Rolle im Feld verknüpft. Dies gilt sowohl für das eigene Selbstverständnis, als auch dafür, wie man von den anderen, den Beforschten gesehen wird. Gewisse Fragen sollte man sich demnach immer wieder vor Augen führen: Wie verstehe ich mich/meine Rolle? Wie sehen mich die anderen? Inwieweit ist nachvollziehbar, was ich da genau mache und wie ich die gewonnenen Daten verwenden werde? Welche Erwartungen werden an mich herangetragen? Was bedeutet es, wenn sich meine eigene Rolle oder meine eigene Einstellung gegenüber dem Feld im Laufe des Forschungsprozesses wandelt? Dies sind Fragen, an die sich solche des Verhaltens gegenüber den Beforschten während des Feldaufenthalts anschließen: Lasse ich Aussagen einfach so stehen, oder kommentiere, bestärke oder widerspreche ich auch mal? Zeige ich mein Wissen oder stelle ich mich eher dumm? Soll ich immer ehrlich sein? Und wie ehrlich sind die anderen? (vgl. CRANG/COOK 2007:40ff, v.a. 47) Schließlich ist die Rolle der Sprache zu reflektieren. Einmal ist generell mit 'Übersetzungsproblemen' zu rechnen zwischen der Sprache einer/s akademisch Forschenden und den Sprachen der im Feld angetroffenen Menschen. Im vorliegenden Fall kommen die Tücken einer Forschung hinzu, die in einem fremdsprachigen Raum (trotz sehr guter Kenntnisse des Spanischen) gegeben sind. Der Aufenthalt im Feld erfordert demnach auch einen Lernprozess, sich die sprachlichen Feinheiten der ungewohnten Umgebung soweit wie möglich anzueignen, und sich möglicher Missverständnisse bewusst zu sein (CRANG/COOK 2007:48ff). Die Kunst bei der Durchführung der Teilnehmenden Beobachtung inklusive ihrer Dokumenta137 Kapitel 2 tion liegt u.a. darin, den Gegenstand einerseits möglichst breit zu erfassen, um nichts möglicherweise Wichtiges außer Acht zu lassen, andererseits fokussiert bezüglich der Themenstellung zu beobachten. Hierzu können einige grundsätzliche Überlegungen herangezogen werden, nach denen beobachtet und das Feldtagebuch geführt werden kann. Hinsichtlich der Beobachtung lassen sich drei Ebenen unterscheiden (FLICK 2002:207, vgl. SPRADLEY 1980:34): Die 'deskriptive Beobachtung' versucht, „die Komplexität des Feldes möglichst vollständig zu erfassen“, die 'fokussierte Beobachtung' „verengt die Perspektive [...] auf die für die Fragestellung besonders relevanten Prozesse und Probleme“, die 'selektive Beobachtung' sucht gezielt nach weiteren Belegen und Beispielen für die Ergebnisse der 'fokussierten Beobachtung95 (man bemerke die Analogie zu den drei Formen des Kodierens). Die Notizen, die zur Dokumentation ins Feldtagebuch geschrieben werden, sollten ihrerseits Angaben zum Ort, dem Zeitpunkt/-raum, den anwesenden Personen, Details der Umgebung und der Situation, beobachtete Interaktionen zwischen Beforschten, Beschreibungen der eigenen Partizipation und Kommunikation, Reflexionen zum Forschungsprozess und Selbstreflexionen umfassen (vgl. CRANG/COOK 2007:51f). Stets wird versucht, die primären Notizen zeitnah – möglichst noch am gleichen Tag96 – und Reflexionen regelmäßig in ruhigen Momenten abzufassen. Basierend auf einer (vorläufigen) Auswertung der verfassten Feldnotizen können die identifizierten Spannungsfelder und Fragenkomplexe mit Hilfe von problemzentrierten Interviews und Gruppendiskussionen vertieft werden. 2.2.2 Problemzentrierte Interviews Ein problemzentriertes Interview ist eine offene, halbstrukturierte Befragung (WITZEL 1989, MAYRING 2002:67ff). Nachdem die wesentlichen biographischen und kontextuellen Daten im Vorfeld erfasst worden sind97, wird ein grundsätzlich offenes Gespräch geführt, dessen Richtung aber mit Hilfe von Leitfragen/Leitthemen auf eine vorher von der/vom InterviewerIn erarbeitete Problemstellung gelenkt wird. Das problemzentrierte Interview beginnt mit der Einführung ins Thema durch die/den InterviewerIn und sich anschließenden, dem Einstieg dienenden „Sondierungsfragen“ (MAYRING 2002:70). Im weiteren Verlauf werden einerseits „Leitfadenfragen“ gestellt, die das Gespräch in die gewünschte, problemzentrierte Richtung lenken, andererseits „Ad-hoc-Fragen“ eingebracht, wenn die/der InterviewerIn „spontan“ auf im Gesprächsverlauf ihr/ihm relevant erscheinende Aspekte näher eingeht (MAYRING 2002:70). 95 96 97 138 Dementsprechend wurden während des ersten Forschungsaufenthalt zum einen die allgemeinen Praktiken, Umstände und einzelne Gesprächsverläufe beschrieben (z.B. die einzelnen Arbeiten auf der Finca bzw. der Farm), zum anderen Aussagen und Gespräche notiert, die sich in irgendeiner Weise auf den Fragenkomplex Bio/Fair bezogen. Wurde dieser Fragenkomplex thematisiert, wurden solche Momente auch gezielt genutzt, um nachzufragen und weiter zu vertiefen. Letzteres gilt besonders für vorher vereinbarte Gesprächstermine, die bereits als Vorstufe zu den Interviews gesehen werden können. was nicht immer konsequent durchsetzbar ist, so z.B. bei abendlichem Stromausfall im Bananenbauernhaus Bei WITZEL (1989:236) geschieht dies durch einen Kurzfragebogen. Hier sind die Daten meist bereits während der Teilnehmenden Beobachtung oder im Rahmen der Kontaktaufnahme erhoben worden. Methodologien und Methoden Strategisch sind des Weiteren erzählungsgenerierende Fragen (damit die/der Interviewte ihre/seine 'Gesprächsfäden' aufnimmt) von verständnisgenerierenden Fragen (zur Prüfung, ob man richtig verstanden hat oder um nähere Ausführungen zu bewirken) zu unterscheiden (vgl. WITZEL 1989:244ff). Die Leitfadenfragen werden aber nicht eins zu eins gestellt, sondern sollen „das Hintergrundwissen des Forschers thematisiert organisieren, um zu einer kontrollierten und vergleichbaren Herangehensweise an den Forschungsgegenstand zu kommen“ (WITZEL 1989:236). „Der Leitfaden ist Orientierungsrahmen bzw. Gedächtnisstütze für den Interviewer und dient der Unterstützung und Ausdifferenzierung von Erzählsequenzen des Interviewten. In ihm ist der gesamte Problembereich in Form von einzelnen thematischen Feldern formuliert, unter die die in Stichpunkten oder Frageform gefassten Inhalte des jeweiligen Feldes subsumiert sind. Die innere Logik des Aufbaus der Themenfelder sowie die Reihenfolge der einzelnen, unter die Thematik fallenden Fragerichtungen sind nur der 'leitende Faden' für die Problemzentrierung des Interviews. Für die Entwicklung des Gesprächs ist der Begriff 'Leitfaden' unzutreffend, weil hier die Gesprächsfäden des Interviewten im Mittelpunkt des Interesses stehen, der Leitfaden diesen lediglich als eine Art Hintergrundfolie begleitet. Zum einen 'hakt' hier der Interviewer sozusagen im Gedächtnis die im Laufe des Interviews beantworteten Forschungsfragen ab, kontrolliert also durch die innere Vergegenwärtigung des Leitfadens die Breite und Tiefe seines Vorgehens. Zum anderen kann er sich aus den thematischen Feldern, etwa bei stockendem Gespräch bzw. bei unergiebiger Thematik, inhaltliche Anregungen holen, die dann ad-hoc entsprechend der Situation formuliert werden. Damit lassen sich auch Themenfelder in Ergänzung zu der Logik des Erzählstranges seitens des Interviewten abtasten, in der Hoffnung, für die weitere Erzählung fruchtbare Themen zu finden bzw. deren Relevanz aus der Sicht des Untersuchten festzustellen und durch Nachfrage zu überprüfen.“ (WITZEL 1989:236f) Jedes Interview wird nach Möglichkeit auf Tonband aufgezeichnet und (bei Bedarf) transkribiert. Im Anschluss an jedes Interview wird ein „Postscriptum“ verfasst, in dem eine Beschreibung des Kontextes sowie Beobachtungen und erste Einfälle der/des InterviewerIn festgehalten werden (WITZEL 1989:238). Diese Interviewform wurde ausgewählt, da sie am vorteilhaftesten die Offenheit gegenüber den Interviewten mit der Problemfokussierung der forschungsleitenden Fragen kombinieren kann. Zudem erlaubt sie die Verbindung von in jedem Interview gleichen Themenkomplexen, die der Vergleichbarkeit dienen, mit individuellen Detailfragen, die die Verfolgung einzelner, im vorangegangenen Forschungsschritt oder ad-hoc identifizierter Argumente/Aspekte zulassen. Es besteht die Möglichkeit, bei einzelnen ausgewählten Fällen (nach der Strategie des 'Intensitäts-Samplings') eine biographische Vertiefung bzw. eine ausgeprägtere Fallanalyse vorzunehmen. Hierbei geht es darum, die relativ 'isolierten' Leitfragen/-themen in den lebensgeschichtlichen Zusammenhang der (Schlüssel)Person einzuordnen; zum einen, indem nach einer solchen Einordnung durch die Interviewten gefragt wird, die Biographie also zum Thema des Interviews wird, zum anderen, indem anderweitige Informationen zum Leben/der Lebenssituation der Betroffenen (z.B. Beobachtungen, Photographien) hinzugezogen werden (vgl. WITZEL 1989:238ff). 139 Kapitel 2 2.2.3 Gruppendiskussion „Die Gruppendiskussion ist eine Erhebungsmethode, die Daten durch die Interaktionen der Gruppenmitglieder gewinnt, wobei die Thematik durch das Interesse des Forschers bestimmt wird“ (MORGAN 1997, zitiert in LAMNEK 1998:27). Im Grunde bezieht sich das problemzentrierte Interview bei Witzel auch auf Gruppendiskussionen (1989:240f). Auch hier sind die ausgearbeiteten Fragekomplexe – also das „Interesse des Forschers“ – 'diskussionsleitend', gleichzeitig erfolgt eine zielgruppenspezifische Anpassung. Die Gruppendiskussion wird eingeleitet, indem die/der DiskussionsleiterIn einen „Grundreiz“ präsentiert, der die Diskussion anstoßen soll (MAYRING 2002:78). In den weiteren Verlauf greift sie/er mit weiteren „Reizargumenten“ ein, um den Verlauf der Diskussion in der problemzentrierten Richtung zu halten, analog zur Frageweise in den problemzentrierten Interviews. Ggf. kann sich eine „Metadiskussion“ zur Bewertung des Diskussionsverlaufs durch die Teilnehmenden anschließen (MAYRING 2002:78f). Diese Methode soll zusätzlich zu den Interviews verwendet werden, da hier zum einen gruppeninterne Prozesse („gruppendynamische Prozesse und Effekte“), zum anderen „Gruppenmeinungen zu einem spezifischen Gegenstand“ erhoben werden können (LAMNEK 1998:67). „Gruppendiskussionen können offenbaren, wie Meinungen im sozialen Austausch gebildet und vor allem verändert, wie sie durchgesetzt bzw. unterdrückt werden. Die Erhebung verbaler Daten lässt sich in Gruppendiskussionen stärker kontextualisieren. Aussagen und Meinungsäußerungen werden hier im Gruppenzusammenhang getätigt, möglicherweise auch kommentiert und sind Gegenstand eines mehr oder minder dynamischen Diskussionsprozesses“ (FLICK 2002:178). So können zu den Interviewdaten komplementäre Einblicke gewonnen werden. Die Idee, Gruppendiskussionen mit in die hier angewendete Methoden-Triangulation mit aufzunehmen, entstand während der ersten Phase Teilnehmender Beobachtung, einerseits durch die Erlebnisse bei Dorfversammlungen (MangrovenfischerInnen) bzw. Leitungssitzungen (BananenproduzentInnen-Kooperative), andererseits bei der Teilnahme an Podiumsdiskussionen (Bananenforum, Kongress einer MangrovenfischerInnenvereinigung). Hier deuteten sich zum einen interessante Aushandlungsprozesse zwischen Gruppenmitgliedern an, zum anderen waren Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Akteursgruppen (und die dabei verwendeten Strategien) 'in Aktion' beobachtbar. Die in beiden Fällen entstehende, aufschlussreiche Dynamik ist nicht in Interviews rekonstruierbar. Es sind sowohl Gruppendiskussionen homogener Gruppen (Mangrovendorf, Kooperative), als auch heterogener Gruppen (verschiedene Akteure der Bananen- oder Garnelenproduktion) denkbar. Es soll sich in dieser Arbeit um natürliche Gruppen (also solche, die auch im Alltag bestehen bzw. deren Mitglieder im 'Alltagsgeschäft' miteinander in Verbindung stehen) handeln (FLICK 2002:172f). Die Durchführung ist, neben diversen Herausforderungen bei der Moderation (Steuerung der/ Einfluss auf die Dynamik) und der Auswertung (viele Faktoren, die schwierig zu interpretieren sind), v.a. auch eine organisatorische und logistische Herausforderung. Es zeigt sich, nach 140 Methodologien und Methoden einer 'Wunschauswahl' im Sinne des 'Samplings typischer Fälle'/des 'Intensitäts-Samplings' (bezüglich der homogenen Gruppen Mangrovendorf und Kooperative) bzw. des 'Samplings maximaler Variation' (bezüglich der Zusammensetzung je einer heterogenen Gruppe im Garnelen- und Bananenbereich), vor Ort unter dem Sachzwang des 'Convenience-Samplings', welche der geplanten Diskussionen sich verwirklichen lassen. Auch die Gruppendiskussionen sollen – analog zu den problemzentrierten Interviews – nach Möglichkeit aufgezeichnet und (später) transkribiert sowie in einem 'Postskriptum' unmittelbar nach der jeweiligen Diskussion kontextualisiert und reflektiert werden 2.2.4 'Materialsammlung' Während der gesamten Erhebungsphase wurde außerdem eine 'Materialsammlung' zusammengestellt, deren Texte die Datengrundlage (Korpus) für eine diskursanalytisch inspirierte Analyse bilden. Neben Recherchen im Internet – insbesondere auf den Internetseiten der beforschten Akteure – und der 'Sicherung' dort verfügbarer oder erschwinglich bestellbarer Materialien (Downloads, lieferbare Zeitschriften oder sonstige Studien) wurde von mir keine Möglichkeit ausgelassen, an Messeständen, in den Büros der verschiedenen Organisationen oder an sonstigen Orten, an die mich das 'Folgen' von Bio + Fair bzw. Garnelen und Bananen geführt hat, alle zur Information ausgelegten oder auf Nachfrage mir zur Verfügung gestellten Texte, die von den Akteuren/Organisationen selbst produziert oder von ihnen in Auftrag gegeben worden sind, mitzunehmen und meiner 'Materialsammlung' zuzuführen. Das Resultat dieser Sammelleidenschaft ist eine stattliche Sammlung von Flugblättern, Postkarten, Infobroschüren, Zeitschriften, Gutachten, Studien, Gesetzestexten, Kriterienkatalogen, etc., in denen sich vor allem die beforschten Akteure mit ihren Grundsätzen, Konzepten und Ideen präsentieren. Mittels der Analyse dieser Sammlung soll ein Bild rekonstruiert werden können, das man sich von diesen Organisationen machen kann, wenn man auf deren für KonsumentInnnen – mehr oder weniger leicht, aber grundsätzlich immer – öffentlich zugänglichen, in Textform materialisierten Äußerungen zurückgreift. 141 Kapitel 2 2.3 Verlauf des Forschungsprozesses Der Verlauf des Forschungsprozesses lässt sich – trotz des grundsätzlich zirkulären Charakters – im Wesentlichen in zwei Phasen einteilen. Die erste Phase bildet die – im Wechsel mit vorläufigen Auswertungsschritten und begleitet durch kontinuierliche Lektüre erfolgte – Datenerhebung mit Schwerpunkt auf den drei Feldforschungsaufenthalten in Ecuador. Dabei umfasst diese zum einen die vorläufige Konzeptualisierung des Forschungsfelds und die Verortung der eigenen Position, womit auch die Formulierung der prinzipiellen Fragestellung und die Herausforderungen des Zugangs zu einzelnen Teilfeldern verbunden sind (2.3.1). Zum anderen gehört hierzu die Durchführung der drei Forschungsaufenthalte, die sich mit Zwischenphasen der vorläufigen Aufbereitung und Auswertung des jeweils vorangegangenen Feldaufenthalts abwechseln (2.3.2). Zeitlich fällt diese erste Phase in den Zeitraum vom Beginn des Projekts im Juni 2009 (bzw. dessen Planung ab Sommer 2008) bis zum Abschluss der Erhebungen Ende März 2011. Die zweite Phase des Forschungsprozesses beginnt mit dem Abschluss der Erhebungen und beinhaltet – aufbauend auf dem gesamten, im Rahmen der ersten Phase konstruierten Material (2.3.3) – dessen Aufbereitung (2.3.4), endgültige Auswertung (2.3.5) und abschließende Darstellung (2.3.6), angefangen im April 2011 und abgeschlossen mit der Fertigstellung dieses Werks. Eine Ausnahme bilden zwei ergänzende Interviews Anfang Juni 2011 sowie die Vortragsreise eines Vertreters der MangrovenbewohnerInnen des Golfs von Guayaquil in Deutschland im Sommer 2012, während der die Analysearbeit ruhen musste und ergänzende Eindrücke (im Sinne Teilnehmender Beobachtung und kommunikativer Validierung) gewonnen werden konnten. 2.3.1 Konzeptualisierung des Forschungsfelds, Formulierung der prinzipiellen Fragestellung und Verortung der eigenen Person Eine ausführliche Konzeptualisierung des Forschungsfeldes und eine daraus abgeleitete Formulierung der prinzipiellen Fragestellung wurde in Kapitel 1 vorgenommen (vgl. v.a. 1.3). Mit der Konzeptualisierung des Untersuchungskomplexes wurden dabei auch die grundsätzlichen Ansprüche an die Feldforschung deutlich. Um das Ziel zu erreichen, zumindest im Bereich der im Fokus stehenden Produktionsregion möglichst das gesamte Spektrum der im Feld vermuteten Akteure und der innerhalb ihrer Netzwerke zu erwartenden Spannungsfelder abzudecken, verlangt das 'Sampling' der zu untersuchenden Fälle, unterschiedliche Akteurstypen in vertikaler (z.B. Produktion, Verpackung, Transport, Vermarktung und Export), horizontaler (z.B. kleine und große, Misch- und Monokulturbetriebe; aktiv mitwirkende und passiv betroffene Stakeholder) und diagonaler (z.B. Zertifizierungsorganisationen, staatliche Einrichtungen, Nichtregierungsorganisationen) Richtung zu berücksichtigen. Die prinzipielle Fragestellung, 142 Methodologien und Methoden das Interesse für Wie-Fragen an Programme und Praktiken von Bio + Fair im lokalen bzw. regionalen Kontext der Untersuchungsregion, gibt einen ersten, wenngleich auch noch relativ weit gefassten Blickwinkel für die Durchführung der ersten Teilnehmenden Beobachtungen vor. Verortung der eigenen Person Neben den theoretisch-konzeptionellen, fachgeschichtlichen und methodologischen Vorüberlegungen, die bereits einen Teil des Arbeitsprozesses des Dissertationsprojekts darstellen, spielen die eigenen Vorerfahrungen, Interessen und Motive eine wesentliche Rolle bezüglich der Aufnahme der Feldforschungstätigkeiten. Sich über mehrere Jahre mit dem gewählten Thema zu beschäftigen, kommt in der Regel nicht von ungefähr und knüpft an bisherige Erfahrungen im wissenschaftlichen Bereich (thematisch wie methodisch) sowie an biographische Berührungspunkte mit der Thematik bzw. auch der Untersuchungsregion an. Studium: Im Rahmen des Studiums (Magisterstudiengang mit Geographie und Europäische Ethnologie als Hauptfächer) habe ich bereits an verschiedenen Stellen mit Bezug zum jetzigen Forschungsthema gearbeitet. Im Fach Geographie wurde für die dreiwöchige, von Ludwig Ellenberg und Elmar Kulke geleitete Hauptexkursion nach Costa Rica und Panamá das Thema „Bananen und die Rolle der United Fruit Company in Costa Rica und Panamá“ vertieft und als Artikel im Exkursionsbuch veröffentlicht (ELLENBERG/KULKE 2006, DIETRICH 2006a). Vor Ort konnten Einblicke in die Bananenanbaugebiete, u.a. in Form eines Besuchs einer Verpackungsstation, gewonnen werden. Für ein spanischsprachigen Oberseminars zum Thema 'Problemas ambientales en America Latina' wurden spezifische Umweltprobleme der 'Región Tumbesina' (tropische Trockenwaldregion im Südwesten Ecuadors/Nordwesten Perús, in der sich auch die zu untersuchenden Produktionsgebiete befinden) erarbeitet. Im Rahmen des fachlichen und persönlichen Austauschs mit KommilitonInnen in der 'Arbeitsgruppe Ellenberg', in der wir über ihre Eigenschaft als ein Kolloquium hinaus auch Tagungen zu Themen des Umweltschutzes und der Entwicklungszusammenarbeit organisierten (vgl. ELLENBERG/ZOLL 2006, DIETRICH 2006b), verdanke ich es Philippe Wealer, der einen Vortrag von Ian Cook besucht hatte, auf das Genre der Following-Studien aufmerksam gemacht worden zu sein. Im Fach Europäische Ethnologie, dem ich insbesondere eine intensive Einführung und Ausbildung in qualitativer Forschung verdanke, wurde im Rahmen des Seminars 'Banane, alles Banane?' bei Harald Dehne eine Hausarbeit zu den in der Einleitung vorgestellten 'Bananenfrauen aus Frauenfeld', den Pionierinnen des Fairen Handels in der Schweiz, erstellt (vgl. dazu BRUNNER 1999). Hierfür durfte ich auch zwei Interviews mit der 'Bananenfrau' Ursula Brunner führen, woraus sich eine freundschaftliche Beziehung entwickelte. Außerdem wurde im gleichen Fach im Rahmen eines dreisemestrigen Studienprojekts zum Thema 'Nachhaltigkeit als Lebensform' die Nachhaltigkeitsdebatte im Allgemeinen sowie im lokalen Kontext eines Dorfes in der Uckermark forschungspraktisch bearbeitet. Forschungspraktisch heißt, dass hier die Anwendung ethnographischer Vorgehensweisen im Team erprobt und umgesetzt 143 Kapitel 2 wurde (vgl. SCHOLZE-IRRLITZ 2008, DIETRICH 2008a). Bei der Erstellung der Magisterarbeit habe ich bereits einzelne der hier ausgewählten Methoden (Teilnehmenden Beobachtung, problemzentrierte Interviews) angewandt. Die Untersuchung der Modernisierung des Gemüseanbaus auf der Insel Reichenau im Bodensee beschäftigt sich bereits mit Geschichte und Gegenwart eines marktorientierten landwirtschaftlichen Feldes, in dem Fragen unterschiedlicher Anbaukonzepte, Spannungen zwischen Ökologie und Ökonomie sowie Produktsiegel (Bio und v.a. geschützte Herkunftsangaben) eine entscheidenden Rolle spielen und unter den involvierten Akteuren kontrovers verhandelt werden (DIETRICH 2008b). Für die mündliche Magisterprüfung im Fach Geographie erfolgte eine gründliche Einarbeitung in den GCC-Ansatz, für die entsprechende Prüfung im Fach Europäische Ethnologie wurden diskursanalytische Ansätze vertieft. Ehrenamtliches Engagement: Die Beschäftigung mit dem Thema beschränkte sich jedoch nicht nur auf den Bereich meiner akademischen Ausbildung. Dank der langjährigen Arbeit als Präsident des Schutzwaldvereins e.V., den ich mit FreundInnen zusammen gegründet habe und der mit Gemeinden und Organisationen in Ecuador und Perú kooperiert, die sich um den Schutz und die nachhaltige Nutzung tropischer Wälder bemühen, konnte ich während mehrerer Aufenthalte in Ecuador und Perú sehr gute Spanischkenntnisse entwickeln, für die Arbeit wertvolle Vor-Ort-Erfahrungen sammeln und zahlreiche Kontakte knüpfen. Durch die Kooperation mit dem in den Mangroven des inneren Golfs von Guayaquil liegenden Dorfes Cerrito de los Morreños seit 200398 (bzw. ab 2009 mit weiteren Gemeinden des Gebiets) im Rahmen einer vom ecuadorianischen Umweltministerium vergebenen Konzession zum Erhalt der verbliebenen Mangroven und zur nachhaltigen Entwicklung der dort ansässigen Gemeinden, deren Umsetzung vom Schutzwaldverein und ecuadorianischen Nichtregierungsorganisationen begleitet wird, bestanden bereits zu Beginn des Vorhabens fundierte Vorkenntnisse über die Situation vor Ort sowie gute Kontakte zu verschiedenen Akteuren (Gemeindeorganisationen, Umweltorganisationen aus Guayaquil, MitarbeiterInnen von Garnelenfirmen). Einige der mir bereits bekannten Nichtregierungsorganisationen (v.a. die Fundación Cerro Verde) engagieren sich dabei zusätzlich im Bereich des Bananenanbaus. Insbesondere durch die Betreuung von Freiwilligen99 und PraktikantInnen, die im Konzessionsgebiet in Projekten zum Aufbau einer nachhaltigen Grundversorgung (schwerpunktmäßig in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Trinkwasserversorgung) eingesetzt werden, die Leitung von Seminaren und Studienreisen vor Ort sowie die Koordination von einzelnen Teilprojekten (wie z.B. die Renovierung der Dorfschule oder der – zu Beginn der Forschung bereits begonnene und mittlerweile abgeschlossene – Aufbau von Trinkwassertanks und dazugehörigen Zapfstellen) verfügte ich über vielschichtige Einblicke in die Lebenswelt der (im größten Garnelenzuchtgebiet Ecuadors beheimateten) alteingesessenen MangrovernfischerInnen sowie in die diversen Tätigkeiten der dort involvierten 'externen' Organisationen (v.a Fundación Cerro Verde). Im Rahmen meiner ehrenamtlichen Arbeit für den Schutzwaldverein kam es auch zu Überschneidungen mit 98 99 144 vgl. zu den Anfängen SCHUTZWALDVEREIN E.V./FUNDACIÓN CERRO VERDE 2003 im Rahmen des Anderen Dienstes im Ausland (ADiA), seit 2008 im Rahmen von weltwärts, dem entwicklungspolitischen Freiwilligendienst des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) Methodologien und Methoden dem universitären Leben, neben vielen Vorträgen v.a. der von mir begleitete Besuch der Gemeinde Cerrito von den Studierenden einer von Ludwig Ellenberg geleiteten Hauptexkursion durch Ecuador im Sommer 2007 (ELLENBERG 2008, DIETRICH 2008c). Während mir dieses Engagement schon früh erste Eindrücke des Ressourcennutzungskonflikts vermittelte, der im Golf von Guayaquil zwischen der industriellen Garnelenzucht und den alteingesessenen BewohnerInnen ausgemacht werden kann und der auch vor Bio- oder Fair Trade-zertifizierten Garnelenzuchtbetrieben keinen Halt macht, habe ich mich – als weitere Annäherung an die Problematik der Arbeit – seit den letzten zwei, drei Jahren meiner Schulzeit mit Themen des Fairen Handels (mal mehr, mal weniger) aktiv auseinandergesetzt. Durch die Mitarbeit im Weltladen Konstanz Ende der 1990er Jahre waren mir einige der Kontroversen innerhalb der Fair Trade-Bewegung, in denen sich die Spannungen zwischen 'movement actors' und 'market actors' widerspiegeln, vertraut. Die Begegnung mit Ursula Brunner half, das Bewusstsein für diese Problematik zu schärfen. Im Februar 2006 nahm ich auf Einladung von Ursula Brunner an der Tagung 'Labels unter der Lupe' in Bern teil. Veranstaltet von verschiedenen schweizerischen Hilfswerken und Fair Trade-Organisationen, kamen hier VertreterInnen aller Akteure der globalen Warenkette von Bananen zusammen, u.a. Gewerkschaftsvertreter aus Costa Rica, VertreterInnen von Chiquita, der Max-Havelaar-Stiftung Schweiz und der Rainforest Alliance. Die Tagung gewährte einen interessanten Einblick in aktuelle Diskussionen um biologische(re)n Anbau von und faire(re)n Handel mit Bananen (EVB 2007). Interessen und Motive: Diese Vorerfahrungen aus verschiedenen Lebensbereichen ergeben nicht nur Vorteile bezüglich der Einarbeitung in das Forschungsthema und Anknüpfungspunkte für einen einerseits leichteren, andererseits evt. auch pfadabhängig selektiven Zugang zum Feld. Ihnen entspringen auch wesentliche Interessen und Motive, ein solches Dissertationsprojekt in Angriff zu nehmen. Ein großes persönliches Interesse an der Verwirklichung dieser Arbeit lag demnach auch darin, die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema über mehrere Jahre mit einer Fortsetzung des Engagements im Golf von Guayaquil verbinden zu können (was dessen Quantität erhöhen würde) und dabei gleichzeitig ein differenzierteres und tiefgründigeres Verständnis der Problematiken vor Ort gewinnen zu können (was dessen Qualität verbessern dürfte). Ein Hauptmotiv für die Ausarbeitung dieser Arbeit war der Wunsch, den verschiedenen Akteuren wie den MangrovenbewohnerInnen, den wenigen AktivistInnen im Bereich des Umweltschutzes in Ecuador oder den PionierInnen des Fairen Handels, zu denen allen ich im Laufe der Jahre eine persönliche und freundschaftliche Bindung aufgebaut hatte, eine Stimme in einem Feld zu geben, in dem sie sich selten ausreichend Gehör verschaffen können. Gleichzeitig könnte dies mit dem Aufgreifen der Idee, Produkten und Konzepten zu folgen, nicht nur methodologisch fundiert gelingen, sondern auch auf eine Form des Forschens aufmerksam machen, die ihrerseits – jedenfalls in dem Umfeld, in dem ich die Geographie habe kennenlernen dürfen – kaum Gehör gefunden hat. Ein weiteres Motiv, das mich gerade in schwierigen Zeiten des Forschungsprozesses angetrieben und aufgebaut hat, war, dass ich die (wachsende) Möglichkeit für KonsumentInnen, Bio- und Fair Trade-Produkte anstelle der konventionellen zu wählen, die ich subjektiv oft am Einkaufsverhalten meiner Mut145 Kapitel 2 ter und in Gesprächen darüber bei Treffen mit Verwandten wahrgenommen habe, immer auch als einen Weg angesehen habe, politischen und ethischen Erwägungen in einem Alltag Ausdruck zu verleihen, der durch die Rolle der KonsumentInnen (Distanz zur Lebensmittelproduktion, zu politischen Entscheidungsprozessen; Einkaufstätigkeit als zugewiesene Rolle im Rahmen und zur Versorgung der Familie) zutiefst in ein System eingebettet ist, dass die von den Bio- und Fair Trade-Initiativen kritisierten, ökologisch schädlichen und sozial ungerechten Praktiken permanent produziert und reproduziert. Eine Arbeit, die Schlüsselakteuren von Bio + Fair eine Stimme gibt und sich kritisch mit den Entwicklungen der Initiativen und Zertifizierungspraktiken auseinandersetzt, sollte wenigstens einen bescheidenen Beitrag dazu leisten können, Bio + Fair auch für die Zukunft so zu gestalten, dass sie tatsächlich etwas von dem bewirken, was sie den KonsumentInnen versprechen und über ihre Zielgruppen wie z.B. die KleinproduzentInnen behaupten. Vorarbeiten: Vor dem Hintergrund dieser Vorerfahrungen, Vernetzungen, Interessen und Motive wurde das Dissertationsprojekt in Angriff genommen. Bis es formal angenommen war und mit der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU) eine Stipendiengeberin gefunden hatte, die seine Durchführung überhaupt erst möglich machte, wurden einige gezielte Vorarbeiten unternommen. Zum einen beinhaltete dies erste, hauptsächlich auf weiterführende Lektüre aufbauende konzeptuelle Ausarbeitungen in Form von Exposés, zum anderen wurden alte Kontakte aufgefrischt und neue geknüpft, um im Ernstfall gleich in die Forschung einsteigen zu können. Erste Beobachtungen wurden während der Teilnahme an der Feier des 10-jährigen Jubiläums der gebana AG - eine Aktiengesellschaft, die mit Fair Trade-Produkten handelt und die eine direkte Nachfolgerin der 'Bananenfrauen aus Frauenfeld' ist100 – und bei einem Vortrag im Weltladen Mannheim im Rahmen der Fairen Woche101 zur Produktion von Bio-/Fair TradeBananen aus Ecuador gemacht. Bei letzterem wurde der Kontakt zur ecuadorianischen KleinproduzentInnenorganisation UROCAL (Unión Regional de Organizaciones Campesinas del Litoral)102 und zur deutschen Bio + Fair Bananen-Importorganisation BanaFair103 hergestellt. UROCAL war durch ihren Präsidenten, mit dem ein Besuchstermin für März 2009 vereinbart wurde, und dessen Frau vertreten, BanaFair durch ihren Geschäftsführer Rudi Pfeifer. Im März 2009104 erfolgten erste sondierende Recherchen in der Untersuchungsregion. Dabei konnten neben einem ersten kurzen Gespräch mit dem Präsidenten von UROCAL auch Kontakte zu verschiedenen AktivistInnen, die sich für die politischen Belange der MangrovenbewohnerInnen auf nationaler Ebene einzusetzen versuchen, geknüpft werden, so z.B. zur CCondem (Corporación Coordinadora Nacional para la Defensa del Ecosistema Manglar) 105 oder zum Schriftsteller Juan Manuel Guevara (s.a. C-CONDEM 2007, GUEVARA/GRANDA 2009) . 100 101 102 103 104 vgl. http://www.gebana.com/de/globus/ [Stand: 21.01.2013] vgl. www.faire-woche.de [Stand: 21.01.2013] vgl. http://urocal.org/ [Stand: 21.01.2013] vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/BanaFair [Stand: 21.01.2013]; die eigene Webseite (banafair.de) ist derzeit inaktiv nach der Durchführung eines Zwischenseminars für Freiwillige des Schutzwaldvereins e.V. im Rahmen des weltwärtsProgramms (Januar, Anfang Februar) und nach der Koordination der weiteren Zusammenarbeit mit der Indigenenvertretung der Shuar in der Provinz Pastaza im Amazonastiefland Ecuadors (Rest Februar) 105 vgl. http://www.ccondem.org.ec [Stand: 21.01.2013] 146 Methodologien und Methoden Mit der Zusage des Stipendiums und nach dem Umzug vom Bodensee nach Berlin konnte schließlich basierend auf voranstehender Vorgeschichte im Juni 2009 offiziell mit dem Dissertationsprojekt begonnen werden. 2.3.2 Zirkulärer Verlauf der Feldforschungsphase Im Folgenden werden die drei Feldforschungsabschnitte und die dazwischenliegenden vorläufigen Auswertungsphasen erörtert. Dabei soll gezeigt werden, wie die Praxis des Forschens verlief und rückblickend reflektiert werden kann und wie in diesem Verlauf eine Fokussierung der prinzipiellen Fragestellung in Auseinandersetzung mit den Erfahrungen im Feld erfolgte. Äußerst hilfreich für eine gründliche Aufarbeitung und vorläufige Auswertung der einzelnen Feldforschungsabschnitte waren die beiden Zwischenberichte, die Ende April 2010 bzw. 2011 im Rahmen des Stipendiums für die DBU erstellt werden mussten. Auszüge aus diesen illustrieren den jeweiligen Stand des Forschungsprozesses. Erstes 'Sampling' und Zugang zum Feld Angesichts der erläuterten Vorgeschichte und den in den ersten Monaten des Projekts vertieften theoretisch-konzeptionellen und methodologischen Vorüberlegungen stellte sich für den Einstieg ins Feld die Frage, wie in dessen Zuge das ausgearbeitete Konzept und insbesondere die darin enthaltenen Anforderungen an ein erstes 'Sampling' in die Praxis der ersten Feldforschungsphase übersetzt werden und der Zugang zu den beforschten Menschen und Orten hergestellt werden konnte. Das erste 'Sampling' wurde wie folgt gefasst: „Zur Auswahl der 'Settings' (Sampling) wurde eine gemischte Strategie zwischen dem 'Sampling maximaler Variation', dem 'Sampling typischer Fälle', dem 'Intensitäts-Sampling' und dem 'Convenience-Sampling' verfolgt. Anhand der theoretischen Vorüberlegungen [...] und der eigenen Vorerfahrungen (Gespräche mit Aktivisten, eigene Tätigkeit in der Entwicklungszusammenarbeit mit Mangrovenfischern) wurde eine vorläufige Typisierung der involvierten Akteursgruppen vorgenommen (Kooperativen, größere Einzelfirmen, Mangrovenfischer und deren Organisationen, alternative Fair Trade Organisationen, Standard setzende Organisationen) und von jedem Typ ein Verteter ausgewählt (UROCAL/Nuevo Mundo als Kooperative im Bereich der Bananenproduktion, eine größere Einzelfirma aus dem Bereich der Garnelenzucht, die AUMCM106 und die C-Condem als Organisationen der Mangrovenfischer [auf lokaler bzw. nationaler Ebene; SD 2013], eine ATO, eine Standard setzende Organisation), der als typisch sowie relevant/intensiv vermutet wurde und außerdem im Rahmen der begrenzten persönlichen Möglichkeiten während des ersten Forschungsaufenthalts (v.a. Zeit und Geld) teilnehmend beobachtbar war.“ (Zwischenbericht an die DBU, April 2010107) Der Zugang erwies sich durch die bereits vorhandene Vernetzung mit dem Feld insgesamt als unbeschwert. Zudem zeigten sich viele der Akteure sehr offen und es war deutlich spürbar, dass sie eine 'Botschaft' vertreten, die sie 'rüberbringen' wollen. Dies war insbesondere bei 106 Asociación de Usuarios de Manglar Cerrito de los Morreños 107 aus Gründen der Anonymisierung leicht verändert 147 Kapitel 2 den politisch aktiven Organisationen wie der UROCAL, der AUMCM oder der C-Condem der Fall. Diese Unbeschwertheit und der Mitteilungsbedarf der meisten Personen resultierten andererseits auch in einer gewissen Bequemlichkeit, sodass bei weniger mitteilsamen Akteuren, besonders im Bereich der Garnelenzuchtfirmen, vernachlässigt wurde, intensiver eigeninitiativ in weitere Kontakte zu investieren, was zu einem Nachholbedarf während des zweiten Forschungsaufenthalts führen sollte. Die Darstellung des Forschungsvorhabens erfolgte – noch unter dem Eindruck der Lektüre methodologischer Texte im Rahmen der Vorbereitung – sehr gewissenhaft, stets wurden das eigene Anliegen möglichst umfassend formuliert, Aspekte herausgestellt, die für den jeweiligen Akteurstyp besonders interessant sein könnten, und Nachfragen gestellt, welche Gesichtspunkte die Befragten denn besonders interessiere, um besonders diese in das weitere Vorgehen einbeziehen zu können. Gleichzeitig wurde deutlich, dass ich meine eigenen Vorstellungen von meinem Vorhaben oft nur begrenzt vermitteln konnte bzw. viele mit Erklärungen der ethnographischen Vorgehensweise, also dass ich z.B. einfach erst mal teilnehmen und beobachten möchte, ohne schon spezifische Fragen zu haben, nicht immer etwas anfangen konnten. Um dennoch 'einfach erst mal teilnehmen und beobachten' zu können, führte dies dann häufig (und im Laufe der drei Forschungsphasen immer mehr) dazu, dass ich mich sehr zurückgehalten habe, was vielleicht die eine oder den anderen vergessen ließ, wozu oder gar dass ich überhaupt da war. Während mir dies bestimmt viele interessante Beobachtungsmomente und Gesprächssequenzen bescherte und das anfangs unbewusste 'Understatement' immer mehr zu einer Strategie werden ließ, könnte es andererseits die Asymmetrie meiner Beziehung zu den Beforschten vergrößert haben, insofern, dass ich, je intensiver ich meiner beobachtenden und dokumentierenden Tätigkeit nachging, umso passiver (z.B. als schüchtern, desinteressiert, sprachlich nicht folgen könnend, etc.) wahrgenommen wurde. Auch wenn der möglicherweise bei anderen entstandene Eindruck, ich könne sprachlich nicht folgen, so gut wie nie zutreffend war, stellte die sprachliche Ebene eine große Herausforderung dar. Zum einen forschte ich zum ersten Mal auf Spanisch108, was trotz sehr guter Kenntnisse durchaus gewöhnungsbedürftig war und im Laufe der Zeit immer leichter ging (was eben bedeutet, dass es anfangs hätte besser sein können). Zum anderen sprechen die unterschiedlichen Akteure sehr verschiedene 'Sprachen' (Soziolekte, Dialekte), z.B. bezüglich des verwendeten Vokabulars oder der Ausprägung des Dialekts, sodass man oft umschalten muss, z.B. zwischen dem Spanisch eines Mangrovenfischers und dem einer Büroangestellten aus Guayaquil. In diesem Zusammenhang deutete sich bereits beim Einstieg ins Feld an, dass es von großem Vorteil sein würde, die für den zweiten und dritten Aufenthalt geplanten Interviews und Diskussionen auf Band aufnehmen und damit zur späteren Bearbeitung sichern zu können. So konnte ich mich in der Gewissheit, später alles nochmal in Ruhe hören zu können, meist voll auf meine kommunikative Performance konzentrieren 108 wenn man von den wenigen Gesprächen und Interviews absieht, die auf deutsch durchgeführt werden konnten 148 Methodologien und Methoden Erster Teil der Feldforschung (im Kern von Oktober bis einschl. Dezember 2009 in Ecuador) Unter den genannten Voraussetzungen des ersten 'Samplings', des – hier reflektierten – Zugangs und der prinzipiellen Frageperspektive – dem Interesse an Programme und Praktiken von Bio + Fair im lokalen bzw. regionalen Kontext der Untersuchungsregion – konnte der erste Teil der Feldforschung durchgeführt werden: „Im Kern fand die erste Forschungsphase im Rahmen des Ecuadoraufenthalts von Anfang Oktober bis Anfang Dezember 2009 statt. Dabei erfolgte: die Mitarbeit auf einer als Familienbetrieb geführten (Bio- und Fair Trade-zertifizierten) Bananenfinca, ein Praktikum bei der Bananenkooperative Nuevo Mundo und deren politischer Vertretung UROCAL, ein Freiwilligendienst auf einer (ebenfalls […] zertifizierten) Garnelenzuchtfarm, der Aufenthalt in einer im Garnelenzuchtgebiet des Golfo de Guayaquil gelegenen Fischergemeinde, die Teilnahme an Konferenzen (eine einer Bananenorganisation und eine einer Organisation, die als Repräsentantin der 'alteingesessenen Mangrovengemeinden' gegen die Zerstörung der Mangroven und deren – in ihren Augen – Hauptverantwortliche, die Garnelenzuchtindustrie, kämpft), sowie zahlreiche Gespräche mit im Bio- und Fair Trade-Bereich der ecuadorianischen Garnelenzucht und Bananenproduktion tätigen Personen. Gerahmt war dieser erste Forschungsaufenthalt von ersten Gesprächen mit Akteuren in Deutschland und der Schweiz (zwei Pioniere des Fairen Handels und ein Vertreter einer Zertifizierungsorganisation), sowie von Messebesuchen (Bio-Süd 2009 in Augsburg und Bio-Fach 2010 in Nürnberg), bei denen sich in die Warenketten von Bio-/Fair Trade- Garnelen und Bananen aus Ecuador involvierte Firmen und Organisationen präsentierten. Während dieser ersten Feldforschungsphase ist eine umfangreiche Materialsammlung entstanden, v.a. in Form von Einträgen im Feldtagebuch.“ (Zwischenbericht an die DBU, April 2010)109 Vorläufige Auswertung und weiteres 'Sampling' nach dem ersten Ecuador-Aufenthalt Diese Materialsammlung, die neben den Feldnotizen die bis dahin gesammelte graue Literatur umfasste, konnte zur Vorbereitung des zweiten Feldforschungsaufenthalts einer ersten Auswertung unterzogen werden. Dazu wurden die vorhandenen Texte mehrfach gelesen und erste Codes gebildet, die – weiterhin offen und eher deskriptiv – einzelne Themen- und Spannungsfelder abdecken sollten: „Das erste Themenfeld umfasst die Praktiken der untersuchten Akteure. Hierunter fallen die Beobachtungen des Alltags der verschiedenen Akteure während der Teilnehmenden Beobachtung, v.a. auch die deskriptiven Sequenzen der Feldnotizen, bei denen die Situation und die Tätigkeiten der Beforschten geschildert werden. Auch der Bezug zur/zum und der Stellenwert der Umwelt bzw. des bewirtschafteten Landes (z.B. Mangroven als Lebenswelt vs. Mangroven als 'menschenleerer', ungenutzter Raum), sowie der Bezug zur eigenen Tätigkeit spielen hier eine Rolle (z.B. Bananenbauer als Lebensform, zentraler Lebensinhalt vs. Tätigkeit in der Garnelenzucht oder auf der Bananenplantage als Job). Das zweite Feld beschäftigt sich mit 'Dynamik und Veränderung'. Das meint einerseits, welche Veränderungen und Dynamiken von den Beforschten thematisiert worden sind (z.B. Rückgang der Fänge in Qualität und Quantität; Wasserverknappung; Wasserverschmutzung; Ökologisierung; Zugang zu Lohnarbeit; zunehmende Konkurrenz durch neue, 'größere' Akteure; Opportunismus von Mitgliedern der Kooperative; Über109 aus Gründen der Anonymisierung leicht verändert 149 Kapitel 2 gang vom Kampf um Rechte zur Koordination von Entwicklungsprojekten). Andererseits geht es um die Art und Weise, wie diese Veränderungen interpretiert und problematisiert werden (z.B. Zuschreibungen von Verantwortung). Dieser Lesart der Entwicklungen und Probleme schließen sich als dritter Themenkomplex die (Selbst- und Fremd-) 'Positionierungen und Kategorisierungen' an, die von den untersuchten Akteuren vorgenommen worden sind und teilweise in der Interaktion verschiedener Akteure beobachtbar waren (z.B.: arm – reich; klein – mittel – groß; vollständig bio – teilweise bio; die, die nur das Minimum erfüllen – die, die mehr tun; legal – illegal; traditionell – modern; idealistisch – opportunistisch). Das vierte Feld schließlich arbeitet 'Strategien und Lösungswege' heraus, die bei den untersuchten Akteuren identifiziert worden sind. Dies sind zum einen konkrete Ziele, auf die hingearbeitet wird (z.B. Kredite für Bewässerung und Kompost, Anerkennung als juristische Person, Verbot und Schließung der Garnelenfarmen, Ökologisierung der Garnelenproduktion, neue Abnehmer zur Steigerung des Absatzes, Verbesserung der Grundversorgung), zum anderen die Mittel (z.B. Projektanträge formulieren/stellen, Verfassungsklage, Beschwerden gegen Verstöße, Koalition mit NGOs, Absprachen mit dem Minister, Forschung und Entwicklung, Marketing) und Methoden (z.B. Legitimierungs- bzw. Delegitimierungsstrategien, Kontakte pflegen, sich weiter bilden). Dabei spielen auch die den Akteuren zur Verfolgung ihrer Ziele zur Verfügung stehenden (oder eben nicht zur Verfügung stehenden) Ressourcen eine Rolle (z.B. Grad der formalen Bildung, Zugang zu Krediten, finanzielle Ausstattung, Mobilität). In allen vier Feldern können bei den untersuchten Akteuren Unterschiede festgestellt werden.“ (Zwischenbericht an die DBU, April 2010110) Zusätzlich zu dieser ersten Strukturierung des Beobachteten in die Bereiche Praktiken, Wandel und dessen Wahrnehmung, Kategorisierungen und Strategien wurde ein erster Vergleich zwischen der Garnelenzucht einerseits, der Bananenproduktion andererseits angestellt: „Neben der Zuordnung der erhobenen Sequenzen zu einzelnen Themenkomplexen wurden zudem zwei, sozusagen übergeordnete, Spannungsfelder (eines bei den Garnelen, eines bei den Bananen) identifiziert. Diese waren hinsichtlich der Quantität und Qualität der Beobachtungen und der von Akteuren getroffenen Aussagen dominant, 'trieben die Beforschten quasi am stärksten um' [...]. Die beiden aus der Feldforschung heraus generierten Spannungsfelder zeigen im Vergleich einen prägnanten Unterschied zwischen den Garnelen und den Bananen auf. In beiden Bereichen setzen sich die in der Teilnehmenden Beobachtung beforschten Akteure kritisch mit neuen Dynamiken der Bio- und Fair- Zertifizierung (Ausweitung der Zertifizierung auf neue Produzententypen und neue Produkte) auseinander. Im Falle der Garnelen vollzieht sich eine konflikthafte Auseinandersetzung, in der die Legitimation einer Zertifizierung von der einen Seite behauptet, von der anderen vehement bestritten wird. Zentral ist hier die Frage, ob die Initiativen der biologischen und fairen Zertifizierung überhaupt ein adäquates bzw. gerechtfertigtes Instrument für eine nachhaltige Entwicklung darstellen. Im Falle der Bananen dagegen sind Bio- und Fair- Zertifizierungen an sich als adäquates und sinnvolles Instrument akzeptiert (auch wenn ihnen nicht immer der gleiche Stellenwert eingeräumt wird); auch seitens der Akteure, denen aus den neuen Dynamiken ein Nachteil erwachsen könnte. Die Auseinandersetzung erfolgt hier eher entlang der Frage, wie Bio und Fair gestaltet werden sollten, damit sie ihre positiven Wirkungen im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung beibehalten bzw. noch weiter ausbauen können.“ (Zwischenbericht an die DBU, April 2010111) Durch eine erste Auswertung der 'Materialsammlung' grauer Literatur konnten die beiden identifizierten Spannungsfelder untermauert und die Positionierungen sowie die Strategien einzelner Akteure verschärfter herausgearbeitet werden. So zeigte sich z.B. im Bereich der Garne110 redaktionell geringfügig abgeändert 111 redaktionell geringfügig abgeändert, Hervorhebungen im Original 150 Methodologien und Methoden len, dass gegenüber der gleichen Problematik (Zerstörung und Verschmutzung der Mangroven) zum Teil sehr konträre Positionen vertreten werden, wie diese Problematik gelöste werden könnte und ob Bio-Zertifizierungen ein probates Mittel hierfür darstellen. Gemäß dem Konzept des schrittweisen theoretischen 'Sampling' konnte aufbauend auf dieser vorläufigen Auswertung schließlich erwogen werden, wo und mit wem im zweiten Teil der Feldforschung Interviews und Gruppendiskussionen durchgeführt werden und welche Fragen und Themen dabei im Vordergrund stehen sollten: „Aus den bei der Analyse des Materials der ersten Feldforschung herausgearbeiteten Themenkomplexen sowie aus den ergänzenden Aspekten der ersten Diskursanalyse leitet sich das 'Sampling' für die zweite Feldforschungsphase ab. Zum einen kann eine erweiterte und anhand der Daten begründbare Auswahl der erwogenen Partner für die problemzentrierten Interviews (bzw. auch die Gruppendiskussionen) getroffen werden. Zum anderen können die Leitfäden (Leitfragenkomplexe) für Interviews und Diskussionen formuliert werden. Die in der ersten Feldforschungsphase (u.a. durch die Positionierungen der Beforschten, [...]) identifizierten Akteurstypen sollen mit mindestens einer Person in den problemzentrierten Interviews vertreten sein. Im Einzelnen sind dies: Bananenbauern (verschiedene Untertypen: z.B. Monokultur-Mischkultur, HaupterwerbNebenerwerb); eine große bio- und fair- zertifizierte Monokultur-Bananenplantage; eine konventionelle Plantage; Mangrovenfischer (verschiedene Untertypen: z.B. politisch organisiert und nicht politisch organisiert); Garnelenzuchtfarmen (verschiedene Untertypen:100% Bio+Fair; 100% Bio; teilweise Bio; konventionell/Ex-Bio); verschiedene Produzentenorganisationen [...]; die C-Condem; die Camara Nacional de Acuacultura; das Sistema de la Investigación de la Problemática Agraria del Ecuador (SIPAE); ein Vertreter des Landwirtschaftsministerium; die involvierten Zertifizierungs- und Siegelorganisationen [...]; je ein Importeur und ein Einzelhändler. Bei ausgewählten Interviewpartnern soll eine biographische Vertiefung erfolgen […]. Außerdem sollen möglichst fünf Gruppendiskussionen stattfinden, darunter drei Diskussionen homogener Gruppen (die Bananenbauern von Nuevo Mundo/UROCAL, die Versammlung eines Mangrovenfischerdorfs, das Direktorium der C-Condem), und zwei Diskussionen heterogener Gruppen (verschiedene Akteure der Garnelenzucht bzw. der Bananenproduktion). Als Leitthemen/Leitfragenkomplexe dienen die herausgebildeten Themenfelder 'Praxis', 'Wandel und seine Interpretation', 'Positionierungen und Kategorisierungen der Akteure' sowie 'Strategien, Lösungswege und dazu zur Verfügung stehende Ressourcen'. Des Weiteren werden ausgewählte, im Feld bzw. in der Diskursanalyse erhobene Aussagen in die jeweiligen Interviews bzw. Diskussionen eingebracht, als Impuls für eine Reaktion und Einschätzung der Befragten zum selben Thema.“ (Zwischenbericht an die DBU, April 2010) Mit diesen Erwägungen wurde der zweite Teil der Feldforschung begonnen. Entgegen der ursprünglichen Planung ließ sich die methodologisch begründete inhaltliche Trennung des zweiten und dritten Teils des Erhebungsprozesses, nach der der zweite der Erfassung des im ersten Teil identifizierten Spektrums dienen und der dritte der Validierung und punktuellen Vertiefung vorbehalten bleiben sollte, nicht aufrecht erhalten. Angesichts vieler offener Fragen und neuer 'Spuren' wurde die Dauer des dritten Ecuador-Aufenthalts verlängert und zusätzlich zur Validierung und punktuellen Vertiefung nochmals 'komplett neues' Material konstruiert. Aus diesem Grund soll zunächst auf die Konstruktion dieses Materials im zweiten und dritten Teil der Feldforschung zusammenfassend eingegangen werden, um anschließend die Aspekte der Validierung im dritten Teil gesondert aufzugreifen. 151 Kapitel 2 Zweiter und dritter Teil der Feldforschung: Generierung von Material (im Kern von Juli bis einschl. September 2010 + Januar bis einschl. März 2011 jeweils in Ecuador) Während der beiden Ecuador-Aufenthalte in 2010 bzw. 2011 sind alle gewählten Einzelmethoden zur Anwendung gekommen. Die dabei gemachten Erfahrungen sollen im Folgenden entlang der einzelnen Methoden (mit Ausnahme der kontinuierlich und unproblematisch verlaufenen 'Materialsammlung') reflektiert werden. Nach der intensiven Teilnehmenden Beobachtung während des ersten Forschungsaufenthalts standen bei den beiden folgenden Aufenthalten die problemzentrierten Interviews im Vordergrund. Die Arbeit in Ecuador war geprägt von einer ständigen 'Jagd' nach Interviews, was sich angesichts der Anforderungen an die Interviewsituation, der begrenzten Zeit der Akteure (und auch der begrenzten Vorstellungen darüber, warum ich mich mit ihnen 'in Ruhe zusammensetzen und plaudern' möchte, anstatt einfach nebenbei konkret das zu fragen, was ich 'wissen' möchte) und der oft schweren Zugänglichkeit der Orte (z.B. kaum öffentlicher Bootsverkehr im Golf von Guayaquil, Zugang zu Garnelenfirmen teils nur mit vorheriger Genehmigung durch den Sicherheitsdienst) als aufwendiger als erwartet herausstellte. Erfahrungen mit der Teilnehmenden Beobachtung Die Teilnehmende Beobachtung blieb jedoch während des gesamten Forschungszeitraums eine zentrale Erhebungsmethode. Zum einen war es bisweilen schwierig, eine geeignete Situation für ein problemzentriertes Interview herzustellen (Zugang und Kennenlernen der/des gewünschten GesprächspartnerIn, erste Vorstellung der eigenen Tätigkeit als Forscher, Aufbau von Vertrauen), sodass hierfür bereits eine Menge an Teilnehmender Beobachtung erfolgte und in Feldnotizen festgehalten wurde. So verbrachte ich z.B. mehrere Arbeitstage im hektischen Büro der Abteilung für Qualität und Zertifizierungen einer Garnelenfirma (nachdem ich über irgendwelche Bekannte endlich den Zugang hierzu erhalten hatte), konnte zwischen den verschiedenen Sitzungen der Angestellten ab und an ein paar Fragen loswerden oder ein kurzes Gespräch führen, bis es dann endlich zu einem Interview mit dem Chef und einem Mitarbeiter (um 6 Uhr morgens vor der Arbeit im Haus des Chefs) kam. Das 'Vorspiel' für ein Interview brachte somit oft schon viele interessante Beobachtungen und Gespräche mit sich. So konnten die Kontexte der GesprächpartnerInnen (z.B. Arbeitsalltag, private Interessen) erfasst und wichtige Informationen durch informelle Gespräche oder Einsicht in Unterlagen aus den Büros gewonnen werden. Unerträglich war dabei, wenn sich die informellen Gespräche dermaßen ausführlich entwickelten, dass man sie so gerne auf Band gehabt hätte; vor allem, wenn dann später sich entweder kein Interviewtermin finden ließ oder im Interview nur noch knapp geschildert und auf vorangegangene Gespräche verwiesen wurde (...„wie ich gestern ja schon sagte“...). Beobachtungen wurden stets zeitnah, unter Berücksichtigung des Forschungsfokus und mit Reflexionen zum Forschungsprozess bzw. Selbstreflexionen notiert. Auch war nicht in allen Situationen ein arrangiertes Interview mit Aufnahme auf Band möglich. 152 Methodologien und Methoden Das Folgen bestimmter 'Spuren', insbesondere die Auseinandersetzung mit dem Sicherheitsproblem im Golf von Guayaquil (Piraterie, Diebstahl, private Sicherheitsdienste, etc.), führte zu Gesprächspartnern, bei denen das Zücken des Diktiergeräts zu viel Misstrauen hervorgerufen hätte bzw. die Qualität der Äußerungen hätte einschränken können (Gespräche mit der Staatsanwaltschaft, mit Piraten). Hier erwies sich die Teilnehmende Beobachtung mit anschließenden Gedächtnisprotokollen als die geeignetere Vorgehensweise. Zumal ich das Diktiergerät (mein technisches Heiligtum) nicht immer bei mir hatte, wenn kein Interview zu erwarten war und der Weg in Gebiete (besonders in den Armenvierteln von Guayaquil) führte, wo mit Überfällen zu rechnen war. Erfahrungen mit den problemzentrierten Interviews War die Interviewsituation erst einmal hergestellt, wurde das problemzentrierte Interview zunächst vorbereitet (Überlegen einer Einleitung und von „Sondierungsfragen“112; Formulierung der Leitfragenkomplexe und spezifischer Fragen, die sich aus der vorangegangenen Teilnehmenden Beobachtung oder anderen Interviews ergeben haben) und dann realisiert. Hauptgesprächsgegenstand waren stets die aus der ersten Feldforschungsphase abgeleiteten Themenkomplexe (Praktiken, Dynamik/Veränderung und dessen Wahrnehmung, Selbst- und Fremd-Positionierungen/Kategorisierungen, Strategien/Lösungswege) sowie eines der beiden identifizierten Spannungsfelder (bei den Bananen bzw. den Garnelen). Mit zunehmender Erfahrung wurden sowohl der Einstieg ins Gespräch, als auch die strategische Verwendung der erzählungs- und verständnisgenerierenden Fragen immer leichter; gleichzeitig jedoch vermutlich auch subtiler, was zwar den Gesprächsfluss und die 'Generierung von Erzählung' förderte, aber auch die eingeschränkte Einschätzbarkeit dessen, was dieser Forscher überhaupt möchte. Nicht selten kam es nach einem Interview zu der Bemerkung, ich müsse entschuldigen, dass man jetzt so total ausgeschweift wäre – obwohl doch genau das es war, was ich erreichen wollte. Umso bedeutender dürften in diesem Zusammenhang die Maßnahmen zur Validierung sein. Insgesamt hat sich das problemzentrierte Interview neben der Teilnehmenden Beobachtung als die zentrale Erhebungsmethode bewährt. Die gedankliche Vorbereitung (quasi als 'Präskript') und die thematische Strukturierung erlaubten fokussierte und später im Vergleich einander ähnliche Gespräche. Der offene Charakter des Interviews führte zusammen mit meiner Neigung, lange zuzuhören und den Gesprächsfluss eher weniger als mehr zu unterbrechen, dazu, dass innerhalb der Strukturierung viel Raum war, den die InterviewpartnerInnen oft zu nutzen wussten, um eigene Gedankengänge und Erzählstränge auszuführen. Das Erstellen eines 'Postskripts'113 erlaubte nicht nur eine zeitnahe Reflexion, sondern half zudem beim Anfertigen der 'Präskripte' nachfolgender Interviews. 112 vgl. MAYRING 2002:70 113 oft verbunden damit, die Aufnahme an einem ruhigen Ort, z.B. im Hotelzimmer, nochmals anzuhören 153 Kapitel 2 Erfahrungen mit Gruppendiskussionen Während die problemzentrierten Interviews nicht nur qualitativ erfolgreich verliefen, sondern auch eine zufriedenstellende Anzahl an Interviews dokumentiert werden konnte (vgl. 2.3.3), gestaltete sich die Verwirklichung von Gruppendiskussionen als äußerst schwierig. In der Form, dass ich als Forscher die Gruppe moderierte und das Ereignis auf Band aufgezeichnet wurde, konnten leider nur zwei Diskussionen im Bereich der Bananen mit homogenen Gruppen (mehrere KleinproduzentInnen; Funktionäre einer KleinproduzentInnenorganisation) realisiert werden. Diese waren vor allem im Sinne der angestrebten theoretischen Sättigung und der Validierung bestimmter, aus dem empirischen Material hergeleiteter Interpretationen eine sinnvolle Bereicherung des Methoden- bzw. daraus resultierenden Datenmix. Es waren zwei weitere Diskussionen mit heterogenen Gruppen geplant (Einladung verschiedener 'Stakeholder'), um die in den einzelnen Interviews in Dialogform erhobenen Positionen der verschiedenen Akteure einmal kontrovers diskutieren zu lassen. Diese kamen aus verschiedenen Gründen nicht zustande. Einmal fand eine solche Diskussion spontan statt, als ich mein Diktiergerät nicht bei mir hatte und so nur ein grobes Gedächtnisprotokoll anfertigen konnte. Im Zusammenhang mit dem Nicht-Zustandekommen geplanter Diskussionen nennenswert – und als Beobachtung aufschlussreich für das Verständnis des Zusammenspiels der involvierten Akteure – sind zum einen das sehr knappe Zeitbudget von Schlüsselpersonen, das es ihnen erschwert, von ihren gewohnten Bahnen abzuweichen 114; zum anderen Berührungsängste zwischen einzelnen Akteuren, deren Überwindung eines hohen Aufwands bedarf. So war es z.B. trotz einer grundsätzlich signalisierten Bereitschaft nicht möglich, die verschiedenen 'Stakeholder' im Golf von Guayaquil 'einfach so' zu einem Treffen einzuladen; angesichts der aufgeladenen Sicherheitsdebatte wäre das Einverständnis u.a. von Betriebseigentümern erforderlich gewesen, was dann aus (meinen) Zeitgründen nicht weiter verfolgt werden konnte. Es konnte jedoch einigen Veranstaltungen beigewohnt werden (und diese auch teilweise auf Band aufgenommen werden), bei denen zwar nicht „die Thematik durch das Interesse des Forschers“115 aktiv bestimmt wurde, die aber für die Thematik relevant waren und durchaus, wenn nicht gar vorzüglich „gruppendynamische Prozesse und Effekte“ (LAMNEK 1998:67) und damit die Auseinandersetzungen und Aushandlungsprozesse zwischen verschiedenen Akteursgruppen 'in Aktion' dokumentieren ließen. Im Einzelnen waren dies die Teilnahme an einer Versammlung zur Gründung einer betriebsinternen Arbeiterorganisation (in Hinblick auf die Verwirklichung von Projekten mittels der künftigen Fair Trade-Prämie), an einer Tagung des ecuadorianischen Mangrovenschutznetzwerks, an Gesprächen von im Golf von Guayaquil tätigen Nichtregierungsorganisationen im Umweltministerium (bei denen ich im Rahmen des Verlängerungs- und Erweiterungsprozesses der o.g. Konzession zum Schutz und zur nachhaltigen Nutzung von Mangroven als Vertreter des Schutzwaldvereins anwesend war) und mit einem wichtigen Geldgeber (im Rahmen eines EZ-Projekts) sowie an einem Treffen zur Verab114 So hat z.B. die FLO-I einen einzigen Vertreter für ganz Ecuador, der für verschiedenste Produkte und Betriebe zuständig ist und der zusätzliche zu einem Interview nicht auch noch an einer Gruppendiskussion teilnehmen konnte. 115 MORGAN 1997, zitiert in LAMNEK 1998:27; vgl. oben 2.2.3 154 Methodologien und Methoden schiedung einer lokalen politischen Initiative zur Eindämmung des unkontrollierten Fungizideinsatzes durch die Bananenfirmen. Darüber hinaus konnten unter meiner Leitung in zwei Mangrovengemeinden des Golfs von Guayaquil je ein Workshop durchgeführt werden, bei dem die Teilnehmenden lernen sollten, wie sie im Rahmen eines vom Schutzwaldverein ausgearbeiteten Programms für nachhaltige Gemeindeprojekte Projekte beantragen können. Diese Tätigkeit erlaubte einen aufschlussreichen Einblick in die für die alteingesessenen MangrovenbewohnerInnen bestehenden Hürden, die ihnen im Rahmen der zunehmenden Regulierung der Ressourcennutzung zur Verfügung stehenden Möglichkeiten überhaupt wahrzunehmen. Erwies sich die Durchführung von Gruppendiskussionen im eigentlichen Sinne zwar als organisatorisch-logistisch zu aufwendig, konnte die konzeptionelle Vorbereitung und das Streben danach, solche Veranstaltungen dennoch zu realisieren, zum einen für gruppendynamische Ereignisse im Allgemeinen sensibilisieren. Zum anderen erwies sich die Teilnahme an Diskussionen oder ähnlichen Veranstaltungen, die ich aufzeichnen durfte, sie aber selbst nicht moderierte und an denen ich nicht immer aktiv mitgewirkt habe, im Nachhinein als interessante Alternative. Während Gruppendiskussionen einerseits Möglichkeiten geben, den Verlauf zu steuern oder ausgewählte Aspekte kommunikativ zu validieren, erlauben solche Ereignisse andererseits, eine Auseinandersetzung ohne (bzw. bei nur sehr geringem) Einfluss der/s ForscherIn zu dokumentieren. Vorläufige Auswertung und weiteres 'Sampling' nach dem zweiten Aufenthalt Im Großen und Ganzen war der Abschluss der Erhebung neuen Materials nach Ende des zweiten Aufenthalts vorgesehen. Vor dem Hintergrund der Frage nach der theoretischen Sättigung, also wann das Feld breit genug erfasst und die einzelnen Fälle tief genug ergründet sind, lässt sich aufgrund der Erfahrungen der drei Forschungsaufenthalte zunächst bemerken, dass man wahrscheinlich immer weiter machen könnte, dass jedes neue Gespräch neue Aspekte und 'Spuren' ergeben kann, bei denen es sich lohnen würde, sie weiter zu verfolgen – sodass der Abschluss der 'Beweisaufnahme' stets durch seine eigene Notwendigkeit erfolgen wird und niemals durch das Erreichen von Vollständigkeit; dies gerade angesichts der Komplexität des Feldes und der Geringfügigkeit einer Ein-Mann-Unternehmung mit begrenzten zeitlichen wie finanziellen Ressourcen, wobei letztere getrieben von Neugier nach mehr und von Angst vor Unvollständigkeit im Nachhinein gesehen wohl ein wenig über Gebühr ausgereizt wurden. Trotzdem konnte man nach Abschluss des zweiten Forschungsaufenthalts und der ersten Sichtung des dabei kreierten Materials zu der Auffassung kommen, dass es die Qualität der Arbeit wesentlich steigern könnte, einige der aufgetauchten 'Spuren' im Sinne eines weiteren Zyklus des theoretischen Samplings im Rahmen des dritten Forschungsaufenthalts zu vertiefen. Durch die begrenzte Zeit und den hohen Mobilitätsaufwand (erschwerte Zugänglichkeit vieler Orte, an denen relevante GesprächspartnerInnen angetroffen werden konnten) war dies im Rahmen des zweiten Aufenthalts nicht mehr möglich gewesen. 155 Kapitel 2 „So wurden für den dritten Aufenthalt – zusätzlich zu den Validierungsmaßnahmen – folgendes Sampling 116 aufgestellt (und größtenteils umgesetzt): Vertiefung der Spannungen um die Sicherheitsproblematik im Golf von Guayaquil (Gespräche mit der Staatsanwaltschaft, mit betroffenen Fischern, mit betroffenen Garnelenfirmen, mit Piraten117) Vertiefung der Rolle staatlicher Akteure Vertiefung des Feldes der Initiativen in und der NGO-Kooperationen mit den Fischergemeinden bezüglich deren Entwicklung (in Hinblick auf eine mögliche künftige Rolle innerhalb, oder auch als Alternativen zur Bio+Fair-Zertifizierung) Vertiefung des Themas des Verhältnisses von Betrieben und deren Angestellten im Rahmen der Fairtrade-Zertifizierungen Zusammenspiel verschiedener Akteure in der Praxis bzw. bei Gruppendiskussionen118 Interview mit einem Schlüsselakteur aus dem Bereich der Fairtrade-Zertifizierung, mit dem sich beim zweiten Forschungsaufenthalt kein Termin hatte finden lassen Durch diese Ergänzungen soll die abschließende Arbeit zu einem vertieften Verständnis dieser – für die gegenwärtige Praxis und die Zukunft der Bio- und Fair Trade-Initiativen in Ecuador wie auch im Allgemeinen – bedeutenden Bereiche gelangen können.“ (Zwischenbericht an die DBU, April 2011) Trotz dieses einerseits ergiebigen und aufschlussreichen, andererseits aber auch sehr zeitintensiven Verfolgens weitere 'Spuren' und Themen wurden während des dritten Teils der Feldforschung auch verstärkt Maßnahmen zur kommunikativen Validierung durchgeführt. Kommunikative Validierung während des dritten Teils der Feldforschung (im Kern von Januar bis einschl. März 2011 in Ecuador) Bei der kommunikativen Validierung des erhobenen Materials, die – neben des kontinuierlichen Einfließens von Aussagen aus dem Feld sowie von eigenen Interpretationen in die jeweils nachfolgenden Erhebungssituationen – zum Großteil während des dritten Forschungsaufenthalts erfolgte, wurden verschiedene, sich ergänzende Maßnahmen eingesetzt. Zunächst fand, soweit möglich, nach einer ersten Analyse jeden Interviews ein erneutes Gespräch mit der/m jeweiligen InterviewpartnerIn statt. Bei diesem wurde nach Neuigkeiten und Ergänzungen gefragt, zentrale Aspekte der Interpretation thematisiert und die neuen Aussagen notiert oder auf Band aufgenommen. Außerdem wurden Aussagen, Kategorisierungen und Interpretationen aus anderen Interviews/Beobachtungen bzw. aus der Literatur (auch im Sinne der Zirkularität des Forschungsprozesses), wenn notwendig in angemessen anonymisierter Form, in die verschiedenen Validierungs-Gespräche mit eingebracht. In einem Fall, bei der Organisation UROCAL und der ihr angeschlossenen ProduzentInnnenkooperative Nuevo Mundo, konnte zu einem Vortrag eingeladen werden, bei dem ich meine wesentlichen Inter116 in den meisten Fällen dem Prinzip des Intensitäts-Samplings von Fällen besonders hoher Intensität bzw. der Primärauswahl folgend (vgl. 2.1) 117 Der beim zweiten Aufenthalt geknüpfte Kontakt zu einem der (in der Szene) bekannten Piraten konnte leider nicht durch ein Interview ergänzt werden, da er kurz vor Weihnachten 2010 bei einem Diebstahlversuch in einer Garnelenzuchtfarm von deren Wachschutz angeschossen wurde und als Folge der Schussverletzung ertrank. Eine Untersuchung dieses Todesfalls hat es nicht gegeben. Es blieb uns nur der Besuch seines Grabes auf einem Friedhof in Guayaquil, um – wie auch an dieser Stelle – seiner zu gedenken. 118 Hier konnten, wie oben aufgeführt, einige Veranstaltungen in die Materialsammlung aufgenommen werden; die Gruppendiskussionen mit heterogenen Gruppen kamen jedoch nicht zustande. Im Bananenbereich war eine arrangiert worden, der Einladung zu meinem Vortrag mit anschließender Diskussion folgten jedoch nur Angehörige eins (nämlich des gastgebenden) Akteurstyps. 156 Methodologien und Methoden pretationen vorstellte und wir sie anschließend diskutierten. Schließlich wurden, soweit möglich, die Emailadressen der Befragten erfasst, um ihnen die kompletten Transkripte und ggf. einige der zentralen Interpretationen zukommen zu lassen und ihnen die Möglichkeit zu geben, diese zu kommentieren. Auf diese Emails habe ich keine einzige Rückmeldung erhalten. Abschließend erlaubte die eingangs dieses Unterkapitels (2.3) genannte Vortragsreise mit einem Vertreter der MagrovernbewohnerInnen, dem Präsidenten der AUMCM, bei gemeinsamen Vorträgen sowie einer Rund-um-die-Uhr-Begleitung während der Reise viele der erarbeiteten Interpretationen nochmals auszutauschen und zu reflektieren. Nebenschauplätze Die Erörterung des Verlaufs des zirkulären Forschungsprozesses von der Ausgangssituation über die einzelnen Zwischenschritte bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die gesamte Materialgrundlage für den abschließenden Aufbereitungs-, Auswertungs- und Darstellungsprozess konstruiert ist, richtet sich nach den zentralen methodologischen Grundlagen und gewählten Einzelmethoden des Projekts und dokumentiert die schrittweise Fokussierung des Projekts auf gegenstandsbegründet generierte Fragen- und Themenkomplexe. Durch die so vorgenommene Strukturierung des Textes sowie die (methodologisch gewollte) 'Einengung' der anfangs möglichst offenen Perspektive fallen gleichzeitig auch einige Aspekte durch das darstellerische 'Raster', von denen manche verdienen, an dieser Stelle kurz genannt zu werden. Zum einen konnten einige 'Spuren' und Akteursgruppen nicht erschlossen werden, obwohl sie ausgesprochen interessant (aber außerhalb des Fokus liegend) oder sogar für die bereits im Fokus liegenden Themen relevant sein dürften. Ein Beispiel für eine nicht weiterverfolgte 'Spur' sind die in einigen Gesprächen angedeuteten oder unterstellten Zusammenhänge zwischen der Garnelenzucht (oder deren Auswirkungen) und der organisierten Kriminalität. Dies bezieht sich z.B. auf die strukturellen Zusammenhänge der Piraterie im Golf von Guayaquil, die ohne eine übergeordnete Organisation, die einen sofortigen Absatz geraubter Schiffsladungen ermöglicht, nicht denkbar ist. Interpretationen im Zusammenhang mit der Sicherheitsund Kriminalitätsdebatte können mangels Daten nur unvollständig bleiben bzw. sich – als solche kenntlich gemachter – plausibler Spekulationen bedienen119. Ein Zugang in die Kreise der Besitzer der Garnelenzuchtfirmen konnte (wenn man von kurzen Begegnungen absieht) nicht hergestellt werden, der Austausch beschränkte sich im Wesentlichen auf leitende Angestellte der Firmen; dies ein Beispiel für eine nicht erschlossene, aber durchaus relevante Akteursgruppe. Zum anderen wurden weitere forschungspraktische Aktivitäten durchgeführt und methodische Ideen aufgegriffen. So habe ich aus forschungspraktischen Motiven an den Treffen des DFGForschungsnetzwerks „Methoden und Methodologien der Diskursanalyse“ im April 2010 im Harz und im November 2010 in Berlin teilgenommen, um mehr über das Feld der Diskursana119 weitere vage Spuren während des ersten Forschungsaufenthalts, die ich aber nicht weiter verfolgte (u.a. weil sie zunächst nicht mit der abgegrenzten Untersuchungsregion verbunden waren, sondern sich auf die Provinz Esmeraldas im Nordwesten Ecuadors bezogen), waren die vermuteten Zusammenhänge zwischen Garnelenfarmen und Drogenschmuggel sowie zwischen den Auswirkungen der Garnelenzucht auf die lokale Bevölkerung und der Entstehung von (Zwangs)Prostitution in Quito 157 Kapitel 2 lyse zu erfahren, zu dem ich ansonsten eigentlich nur 'autodidaktisch' arbeiten konnte. Diesen Treffen und ihren TeilnehmerInnen verdanke ich viele Anregungen und Denkanstöße sowie den Genuss der vertraulichen Lektüre der Textentwürfe des sich in Ausarbeitung befindlichen Kompendiums zur Diskursanalyse. Auch wenn die bei solchen Treffen kommunizierte Kompetenz durchaus auch das Gefühl hervorrufen kann, die eigenen Überlegungen seien noch mehr als unzulänglich, so hat diese Lernerfahrung doch einen großen Teil dazu beigetragen, den Versuch einer konzeptionellen Erweiterung des mit Überlegungen der gouvernmentality studies kombinierten GVC-Ansatzes um eine diskursanalytische Perspektive (vgl. 1.1.4) zu formulieren. Bei der Umtriebigkeit im Feld während der Erhebungsphasen, die mit wachsender Vertrautheit und Materialausbeute zunimmt, habe ich neben den unten in 2.3.3 aufgeführten Texten noch weiteres Material konstruiert, das aus Kapazitätsgründen bei der Aufbereitung und Auswertung nie berücksichtigt wurde. So habe ich z.B. einmal die Anmerkungen und Markierungen in mein Notizbuch geschrieben, die ich auf dem Ausdruck der neuen EU-Bestimmungen zur ökologischen Aquakultur vorfand, der in einem Aktenordner im Büro einer Garnelenzuchtfirma abgeheftet war120, um aus diesen Anmerkungen (in Kombination mit weiterem Nachforschen) die Relevanz und Brisanz einzelner Punkte dieser Bestimmungen für die Praxis der ortsansässigen Firmen zu rekonstruieren. 2.3.3 Materialgrundlage zu Beginn der Auswertungsphase Neben den Feldnotizen des ersten Forschungsaufenthalts, aus denen das erwünschte Sampling sowie eine Konkretisierung der Fragestellung für die weiteren Beobachtungen, Interviews und Gruppendiskussionen analytisch abgeleitet wurden (vgl. 2.3.2), wurden während des zweiten und dritten Forschungsaufenthalts die in den folgendenTabellen (1 und 3) aufgeführten Aktivitäten durchgeführt und dokumentiert, wobei neben der konkretisierten Fragestellung auch neue Interpretationen und Aussagen aus vorangegangen Aktivitäten im Sinne kontinuierlicher kommunikativer Validierung mit eingeflossen sind. Mit der Dokumentation dieser Ereignisse konnte das nach dem ersten Forschungsaufenthalt erstellte und nach dem zweiten Aufenthalt ergänzte theoretische Sampling weitestgehend erfüllt und ein zufriedenstellender Materialkorpus kreiert werden. Einen Überblick über die tatsächlich konstruierten Materialien (Anzahl der dokumentierten 'Fälle', unterteilt in Feldnotizen und Aufnahmen/Transkriptionen) in Abgleich mit dem nach Aufenthalt 1 gewünschten Sampling bietet Tabelle 3. 120 und der mir zur Studie der Bestimmungen der Zertifizierer empfohlen worden war 158 Methodologien und Methoden Dokumentierte Aktivitäten Forschungsaufenthalt 2 Aktivität; (Materialtyp) Datum Interview mit einem Mitarbeiter einer Nichtregierungsorganisation, der ein Jahr in einer Mangrovenge- 15.07.10 meinde tätig war; (Aufnahme: 01:05:53 h; Transkription) Interview mit einer leitenden Angestellten einer kleineren, Bio und Fair zertifizierten Garnelenfirma (ohne 18.07.10 eigenen Verpackungsbertieb); (Aufnahme: 00:45:56 h; Transkription) Interview mit einer Angestellten einer teilweise Bio zertifizierten Garnelenfirma; (Aufnahme: 00:58:27 h; 20.07.10 Transkription) Gespräche mit einem ehemaligen Bewohner einer Mangrovengemeinde und mit einem Piraten in einem 21.07.10 + der Armenviertel an den Ufern der Ästuare in Guayaquil; (Feldnotizen) 24.07.10 Interview mit einem Angestellten in der Qualitäts- und Zertifizierungsabteilung einer größeren, teilweise Bio- 23.07.10 zertifizierten Garnelenfirma (mit eigenem Verpackungsbetrieb); (Aufnahme: 02:08:32 h; Transkription) Interview mit dem Präsidenten einer MangrovennutzerInnen-Vereinigung aus dem Golf von Guayaquil und 25.07.10 damaligen Sprecher des ecuadorianischen Mangrovenschutznetzwerks für die Provinz Guayas; (Aufnahme: 01:33:34 h; Transkription) Teilnehmende Beobachtung in den Büros einer größeren, teilweise Bio-zertifizierten Garnelenfirma (mit 26./27.07.10 eigenem Verpackungsbetrieb); (Feldnotizen, graue Literatur) Interview mit dem Geschäftsführer einer Nichtregierungsorganisation, die sich für eine nachhaltige Entwick- 28.07.10 lung der Mangrovengebiete des Golfs von Guayaquil einsetzt, und damaligem Präsident des ecuadorianischen Umweltschutznetzwerks CEDENMA; (Aufnahme: 01:39:00 h; Transkription) Teilnehmende Beobachtung: nächtliche Ernte auf einer Bio-zertifizierten Garnelenzucht-Produktionsstätte; 01./02.08.10 Gespräche mit LKW-Fahrern, Arbeitern; Besichtigung der Produktionsstätte am folgenden Tag, Gespräche mit Angestellten und dem Eigentümer; (Feldnotizen) Interview mit dem technischen Betriebsleiter einer 1000 ha großen, Bio-zertifizierten Garnelen- 02.08.10 zucht-Produktionsstätte; (Aufnahme: 01:48:01 h; Transkription) Teilnehmende Beobachtung in den Büros einer größeren, teilweise Bio-zertifizierten Garnelenfirma (mit 04.08.10 eigenem Verpackungsbetrieb); (Feldnotizen, graue Literatur) Interview mit dem Chef und einem leitenden Mitarbeiter der Abteilung für Qualität und Zertifizierungen einer 05.08.10 größeren, teilweise Bio-zertifizierten Garnelenfirma (mit eigenem Verpackungsbertieb); (Aufnahme: 01:01:37 h; Transkription) Besuch der Camara Nacional de Acuacultura, informelle Gespräche, Teilnahme an einer Informationveran- 05.08.10 staltung für Garnelenfirmen; (Feldnotizen, graue Literatur) Gruppengespräch mit verschiedenen AkteursvertreterInnen (Mangrovengemeinde, Umweltschutzorganisa- 07.08.10 tion, Biogarnelenfarm) bei einem privaten Besuch in einer Fischergemeinde; (Feldnotizen) Teilnahme an einer Versammlung zur Gründung einer betriebsinternen Arbeiterorganisation einer Garnelen- 11.08.10 firma (in Hinblick auf die Verwirklichung von Projekten mittels der künftigen Fair Trade-Prämie); (Feldnotizen) Teilnehmende Beobachtung bei einer Prä-Inspektion durch leitende Angestellte einer kleineren Bio- und 11./12.08.10 Fair-zertifizierten Garnelenfirma im Golf von Guayaquil; (Feldnotizen) Interview mit dem Präsidenten von UROCAL; (Aufnahme: 00:44:45 h; Transkription) Gespräch mit einer Nebenerwerbs-Monokultur-Biobananen-Kleinbäuerin; (Feldnotizen) 16.08.10 Teilnehmende Beobachtung: Begleitung der Techniker einer Bananen-KleinproduzentInnen-Kooperative bei 17.08.10 ihrer Rundfahrt durch die Betriebe am Erntetag ('Día de Embarque'), abends an der Sammelstelle zur Qualitätskontrolle, anschließend eine Fahrt mit dem Bananen-LKW zum Exporthafen; (Feldnotizen) Interview mit dem Schatzmeister der CEPPCJ (Coordinadora Ecuatoriana de Pequeños Productores en el 18.08.10 Comercio Justo); (Aufnahme: 01:11:30 h; Transkription) Teilnehmende Beobachtung in den Büros von UROCAL/Nuevo Mundo; (Feldnotizen) Teilnehmende Beobachtung: Begleitung des Arbeitstags des Eigentümers und Geschäftsführers einer grö- 19.08.10 ßeren, Bio- und Fair Trade-zertifizierten Bananen-Monokulturplantage; Besuch der Arbeiterorganisation des Betriebs, Besuch der Stadtverwaltung, Besuch der Plantage; (Feldnotizen) Teilnehmende Beobachtung auf einer größeren, Bio- und Fair Trade-zertifizierten Bananen-Monokulturplan- 21.08.10 tage; (Feldnotizen) Interview mit einem Bio+Fair-zertifizierten Bananenkleinproduzenten; (Aufnahme: 01:16:00 h; Transkription) 22.08.10 Teilnahme an einer Vollversammlung der ABO (Aosiación de Bananeros Orenses) zum Thema einer neuen 23.08.10 Exportgelegenheit für Kleinbetriebe an einen lybischen Abnehmer; (Aufnahme: 01:55:35 h; Transkription) 159 Kapitel 2 Interview mit einem Mitarbeiter der größten z.T. Bio- und v.a. Fair Trade-Kooperative Ecuadors (Bananen 25.08.10 und Kakao); (Aufnahme: 01:05:25 h; Transkription) Interview mit dem Eigentümer und Geschäftsführer einer größeren, Bio- und Fair Trade-zertifizierten 26.08.10 Bananen-Monokulturplantage; (Aufnahme: 00:35:20 h; Transkription) Gruppendiskussion mit mehreren (Bio- und Fair Trade-zertifizierten) KleinproduzentInnen in einem Dorf 26.08.10 zwischen Guayaquil und Machala; (Aufnahme: 01:05:25 h; Transkription) Interview mit der Repräsentantin von Naturland in Ecuador in Quito; (Aufnahme: 01:53:29 h; Transkription) 02.09.10 Interview mit Prof. Carlos Larrea121; (Aufnahme: 00:29:50 h; Transkription) 03.09.10 Teilnehmende Beobachtung: Besuch des 'Centro Martin Pescador' in Quito; (Feldnotizen) 04.09.10 Interview mit dem Präsidenten des ecuadorianischen Mangrovenschutznetzwerks; (Aufnahme: 01:26:54 h; Transkription) 05.09.10 Interview mit dem Schriftsteller Juan Manuel Guevara122; (Aufnahme: 00:48:13 h; Transkription) 05.09.10 Interview mit einem Mitarbeiter eines Zertifizierungsunternehmens; (Aufnahme: 01:10:17 h; Transkription) 09.09.10 Interview mit dem Präsidenten des Comité Pro Mejoras einer Mangrovengemeinde; (Aufnahme: 00:12:30 h; Transkription) 10.19.10 Interview mit einem Garnelen- und Krebsfischer in einer Mangrovengemeinde im Golf von Guayaquil; (Auf- 12.09.10 nahme: 01:13:16 h; Transkription) Podiumsdiskussion in Berlin zum Thema Fairer Handel im Rahmen der Fairen Woche (auf dem Podium 22.09.10 u.a. der Präsident von UROCAL); (Aufnahme: 00:55:10 h) Tabelle 1: Dokumentierte Aktivitäten Forschungsaufenthalt 2 121 z.B. LARREA 1987 122 GUEVARA/GRANDA 2009 160 Methodologien und Methoden Dokumentierte Aktivitäten Forschungsaufenthalt 3 (plus Nachbereitung in Deutschland) Aktivität; (Materialtyp) Datum Teilnehmende Beobachtung an der vorbereitenden Sitzung einer Nichtregierungsorganisation (NRO) vor 23.01.11 dem anstehenden Besuch des wichtigsten Geldgebers (s. folgende Aktivität); (Feldnotizen) Teilnehmende Beobachtung bei dem Besuch einer großen ausländischen NRO bei einer lokalen, im Golf 02.-04.02.11 von Guayaquil tätigen NRO zur Begutachtung eines laufenden Projekts in den Mangrovengemeinden; (Feldnotizen) Teilnahme an einem Anhörungsgespräch von im Golf von Guayaquil tätigen NROs im Umweltministerium 16.02.11 (im Rahmen des Vergabeprozesses einer Konzession zum Schutz und zur nachhaltigen Nutzung von Mangroven); (Feldnotizen; graue Literatur), Interview mit einem Schlüsselakteur in der Umweltabteilung des Gobierno Provincial de Guayas in Guayaquil; (Aufnahme: 01:08:51; graue Literatur) Validierungsgespräch einem Bio- und Fair Trade-zertifizierten Bananenkleinproduzenten zwischen Guaya- 17.02.11 quil und Machala; (Feldnotizen) zusätzliches Interview mit einem Mangrovenfischer über Gewalterfahrungen mit Garnelenfarmen; (Auf- 26.02.11 nahme: 00:29:03 h; Transkription) Durchführung von Workshops zu Entwicklungsprojekten in zwei Gemeinden im Golf von Guayaquil; (Feld- 26./27.2. 11 notizen; graue Literatur) Validierungsgespräche bei UROCAL und anderen Akteuren in Machala; (Feldnotizen) 11.03.11 Interview mit einem Mitarbeiter der FLO-I in Ecuador; (Aufnahme: 01:35:16 h; Transkription) 12.03.11 Validierungsgespräch mit dem Geschäftsführer einer im Golf von Guayaquil tätigen NRO (Interview vom 15.03.11 28.07.10); (Feldnotizen) Teilnahme an einem Treffen zur Verabschiedung einer lokalen politischen Initiative zur Eindämmung des 16.03.11 unkontrollierten Fungizideinsatzes durch die Bananenfirmen im Cantón Guabo; (Aufnahme: 02:44:08 h; Transkription; graue Literatur) Gespräch mit einer Mitarbeiterin der GIZ (ehem. GTZ) zu dem PPP-Projekt zur Einführung von Bio-Stan- 18.03.11 dards in die Garnelenzucht; (Feldnotizen; graue Literatur) Besuch 'Centro Martin Pescador', Validierungs- und Ergänzungsinterview mit dem ('ehem.') Präsidenten des ecuadorianischen Mangrovenschutznetzwerks; (Aufnahme: 00:24:43 h; Transkription) Recherche in der Bibliothek der FLACSO Ecuador in Quito Besuch Instituto Geográfico Militar Guayaquil und CLIRSEN; (Karten; graue Literatur) 23.03.11 Teilnehmende Beobachtung, Interviews auf Basis von Gedächtnisprotokollen bei der für die Piraterie-Fälle 23.-25.3.11 im Golf von Guayaquil zuständigen Staatsanwaltschaft und mit einem Insider; (Feldnotizen; Gedächtnisprotokolle) Besuch des Grabes eines ehemaligen, an Weihnachten getöteten Piraten; Gespräche mit Angehörigen; 24.03.11 (Feldnotizen) vertiefendes Interview mit leitenden Angestellten einer Bio- und Fair Trade-zertifizierten Garnelenfirma zu 25.03.11 den Themen Organisation der Arbeiter, Verhältnis zu den umliegenden Gemeinden und Sicherheit; (Aufnahme: 00:44:47 h; Transkription) Gespräch mit einer Universitätsdirektorin, die früher in NROs zum Mangrovenschutz und staatliche Institu- 25.03.11 tionen, die für die Mangroven zuständig sind, tätig war; (Feldnotizen) Validierungsgespräche und Diskussionen zur Sicherheitsproblematik in zwei Mangrovengemeinden im Golf 28./29.03.11 von Guayaquil; (Feldnotizen) Teilnehmende Beobachtung: Validierungsgespräche und neue Fragen zu den Themen Sicherheit, Verhältnis 30.03.11 zu den umliegenden Gemeinden, Fair Trade-Zertifizierung in einer größeren, teilweise Bio zertifizierten Garnelenfirma (mit eigenem Verpackungsbertieb); (Feldnotizen; graue Literatur) Interview mit einem langjährigen Arbeiter einer Bio- und Fair Trade-zertifizierten Bananenplantage zum 31.03.11 Thema Fair Trade und Arbeiter; (Aufnahme: 01:22:12 h) Vortrag und Gruppendiskussion mit Vertretern von UROCAL und der Kooperative Nuevo Mundo zu zentra- 31.03.11 len Thesen der Dissertation; (Aufnahme: 00:54:25 h) zwei Interviews mit MitarbeiterInnen von Naturland (Aufnahmen: 00:31:18 h und 00:17:24 h; Transkriptionen) 06.06.11 Gespräche mit verschiedenen Akteuren (Standard setzende Organisation, Umweltschutz- und Menschen- Juli 11 rechtsgruppen) zusammen mit einem Vertreter der MangrovenbewohnerInnen des Golfs von Guayaquil während einer Vortragsreise in Deutschland (Feldnotizen) Tabelle 2: Dokumentierte Aktivitäten Forschungsaufenthalt 2 161 Kapitel 2 Abgleich der Anforderungen des theoretischen Samplings mit den Anzahl dokumentierter Ereignisse tatsächlich erzielten Beobachtungen und Aufnahmen gewünschte GesprächspartnerInnen ('Fälle') laut des Samplings für Feldnotizen Phase 2 und der Ergänzungen des Samplings für Phase 3 Aufnahmen/Transkriptionen Teilfeld Bananen Bio+Fair-BananenkleinproduzentIn Mischkultur 6 1 (mit biographischer Vertiefung) Bio+Fair-BananenkleinproduzentIn Monokultur/Nebenerwerb 1 - Bio+Fair-BananenkleinproduzentIn Haupterwerb 6 1 Besitzer große Bio+Fair-Plantage 3 1 Arbeiter große Bio+Fair-Plantage - 1 konventionelle Plantage - - UROCAL 1 1 Asociación Guabo - 1 FLO-I - 1 MitarbeiterIn Zertifizierungsfirma - 1 Nuevo Mundo/UROCAL; andere Kooperativen (homogene Gruppen) 1 2 heterogene Gruppen (verschiedene Akteure aus dem Bananenbereich) - - Sonstiges (was nicht im Sampling expliziert war) - 3 Teilfeld Garnelen / MangrovenbewohnerInnen Mangrovenbewohner (politisch organisiert) 1 2 (mit biographischer Vertiefung) Mangrovenbewohner (politisch nicht organisiert) 1 2 VertreterInn Garnelenzuchtfarm Bio+Fair (+ Vertiefung Arbeiterproblematik) 1 2 (mit biographischer Vertiefung) VertreterIn Garnelenzuchtfarm 100% Bio - - VertreterIn Garnelenzuchtfarm teilweise Bio (+ Vertiefungen) 5 4 VertreterIn Garnelenzuchtfarm konventionell/ehemals Bio - - MitarbeiterIn Naturland Ecuador - 1 MitarbeiterIn IMO Ecuador - - VertreterIn Ministerium 2 1 NROs (+ Vertiefungen) 2 4 (mit biographischer Vertiefung) Piraten, Staatsanwaltschaft, etc. 2 - Gruppendiskussion Direktorium C-Condem (homogene Gruppe) - - Gruppendiskussion Mangrovendorf (homogene Gruppe) 2 - Gruppendiskussion 'Stakeholder' (heterogene Gruppe) 1 - Sonstiges (was nicht im Sampling expliziert war) - 2 MitarbeiterIn Naturland 2 - VertreterIn BanaFair 1 - MitarbeiterIn FLO-I/FLO 1 - VertreterIn Import, Einzelhandel - - 2 (mit biographischer Vertiefung) - Akteure in Deutschland/CH Sonstiges (was nicht im Sampling expliziert war) Tabelle 3: Abgleich der Anforderungen des theoretischen Samplings mit den tatsächlich konstruierten Materialien 162 Methodologien und Methoden 2.3.4 Aufbereitung des Materials Das erhobene und gesammelte Material wurde in bis zu drei Stufen aufbereitet. Zunächst galt es in der Regel, die 'erbeuteten' Materialien zu sichern. Dies wurde durch Anfertigung von (digitalen wie materiellen) Kopien sehr gewissenhaft betrieben, da ein Verlust eines Teil des Originalmaterials angesichts der im Rahmen der Feldforschung nicht immer zu vermeidenden Sicherheitsrisiken nicht auszuschließen war123. Die handschriftlichen Feldtagebucheinträge wurden abgetippt, um sie in einem bearbeitbaren digitalen Format vorliegen zu haben. Die Tonbandaufnahmen wurden bis auf wenige Ausnahmen vollständig transkribiert. An dieser Stelle möchte ich mich ganz herzlich bedanken bei Oscar David Matallana Uribe für die Transkription der Interviews des zweiten Forschungsaufenthalts, die auf spanisch geführt wurden, und bei Prof. Dr. Wolfgang Lucht, der die Finanzierung der Arbeit von Oscar ermöglichte124. Die auf deutsch geführten Interviews sowie die Interviews des dritten Forschungsaufenthalts habe ich selbst transkribiert125. Schließlich wurde sämtliches, nun in Textform vorliegendes Material in Aktenordnern sortiert. Für die verschiedenen beforschten 'Fälle' oder Akteurstypen wurde jeweils ein Ordner angelegt. Die Ordneranzahl (15 Stück) ist höher als die der abgegrenzten Akteurstypen, da abhängig vom Materialumfang teilweise für einzelne Fälle eigene Ordner angelegt wurden (z.B. für die verschiedenen Standard setzenden Organisationen), während andere Einzelfälle bereits in einem Ordner zusammengefasst wurden (z.B. die verschiedenen Garnelenzuchtfirmen). In jedem Ordner sind die verschiedenen Texttypen (sofern vorhanden) in folgender Reihenfolge abgelegt: 1) Feldnotizen/ Feldtagebucheinträge, 2) transkribierte Interviews/Gruppendiskussionen (und dazugehörige Notizen/Protokolle), 3) graue Literatur allgemein (z.B. Flugblätter, Broschüren, Zeitschriftenartikel), 4) Gesetzestexte/Standards, 5) Studien und Gutachten. 2.3.5 Auswertung des Materials Das aufbereitete Material wurde anschließend einer gründlichen und systematischen Auswertung unterzogen. Dabei wurde folgendermaßen verfahren: Alle Texte wurden zunächst gründlich gelesen, die Tonaufnahmen nochmals angehört. In dieser Phase wurde das CodeSystem, das sich während der vorläufigen Auswertungen herausgebildet hatte, weiter verfeinert und für die Feinanalyse festgelegt. 123 Glücklicherweise ist mir trotz einiger kritischer Situationen nie etwas Konkretes passiert. 124 Prof. Lucht hatte mir als Reaktion auf meinen Vortrag über meine Dissertation am Tag der Geographie vergangenen Mai am Geographischen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin angeboten, mein Promotionsvorhaben mit Mitteln zu unterstützen, die ihm als Inhaber des Alexander-von-Humboldt Chair in Sustainability Science zur Verfügung stehen und wodurch sich eine Transkriptionskraft finanzieren ließ. 125 mit Hilfe des Programms f4 163 Kapitel 2 Zuordnung der Textsequenzen der Texttypen 1 und 2 Es wurde entschieden, für die anstehende Feinanalyse der Texttypen 1 und 2 (Feldnotizen und Transkriptionen) ein doppeltes Kodiersystem anzuwenden, bei dem das erste eher deskriptiv für die Darstellungen in Kapitel 3, das zweite stärker analytisch-interpretativ für die Darstellungen in Kapitel 4 herangezogen werden kann (vgl. 2.3.6). Jede Textsequenz sollte zum einen einer der vier Kategorien Praktiken/Wandel/Zuschreibungen/Strategien zugeordnet werden, die die Frageperspektive während des zweiten und dritten Forschungsaufenthalts angeleitet hatten, zum anderen verschiedenen thematischen Codes, die sich (im Sinne des axialen und selektiven Kodierens) im Rahmen der Vertiefung einzelner Fragenkomplexe ergeben hatten. Folgende thematische Codes wurden dabei festgelegt. Bezogen auf die einzelnen Akteurstypen: AA/AALN: thematisiert das Verhältnis zwischen selbst artikulierten Ansprüchen und Grundsätzen einzelner Organisationen und den beobachtbaren Praktiken (Ansprüche Alltagspraktiken); eine spe- zielle Unterkategorie beinhaltet mögliche Spannungen zwischen ideellen Prinzipien und ökonomischer Anpassungsfähigkeit (Ansprüche/Anforderungen ökoLogischer Natur solche ökoNomischer Natur); BILD: umfasst Reflexionen der Beforschten über verschiedene Bilder bzw. Vorstellungen, die über Bio + Fair konstruiert werden und zirkulieren, vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen/ihres eigenen Wissens; SINN: greift Reflexionen der Akteure über Sinn und Unsinn bzw. auch Möglichkeit und Unmöglichkeit nachhaltiger Exportproduktion unter Anwendung der Konzepte von Bio + Fair auf; HANDLUNGSFÄHIGKEIT: beinhaltet Beobachtungen und Einschätzungen der Akteure zu ihrer Handlungsfähigkeit, insbesondere in Zusammenhang mit zur Verfügung stehenden (oder eben nicht nur Verfügung stehenden) Ressourcen; ABGRENZUNG: hält die verschiedenen Äußerungen fest, mit denen sich die Akteure von anderen oder von bestimmten Programmen und Praktiken abgrenzen; LEGITIM: erfasst die unterschiedlichen Techniken und Taktiken, mit denen die Akteure ihre Positionen oder Handlungsweisen legitimieren; Bezogen auf das Verhältnis der Akteurstypen zueinander bzw. auf die identifizierten Fragenkomplexe und Spannungsfelder: MARKT: greift sämtliche Äußerungen auf, in denen der Markt (marktbedingte Zwänge, marktbedingte Entscheidungen, Mechanismen des Marktes, etc.) bemüht wird; DRIVER: umfasst Sequenzen, in denen der Einfluss anderer Ketten-/Netzwerkakteure zum Gegenstand gemacht wird; HETERO: deckt die verschiedenen Aspekte ab, die bezüglich der Heterogenisierung des Feldes im Sinne einer Integration neuer Akteurstypen (z.B. große Firmen oder professionelle Zertifizierungsfirmen) und Institutionen (z.B. neue Standards und Verfahren) zur Sprache kommen; ADDITIV: greift Positionen auf, in denen die Heterogenisierung als unproblematisch dargestellt wird in dem Sinne, dass sich verschiedene Akteurstypen und neue Institutionen harmonisch oder sogar gegenseitig gewinnbringend nebeneinanderstellen ('addieren') lassen, bzw. auch die Kritik solcher Positionen; 164 Methodologien und Methoden STANDARDS: umfasst alle Sequenzen, in denen explizit die Standards der einzelnen Zertifikate angesprochen werden; KONZEPTMAIN: beschäftigt sich mit den etablierten Konzepten (z.B. die bereits festgeschriebenen und weit verbreiteten Standards und Verfahrensweisen); KONZEPTALTERNATIV: greift zu den etablierten Konzepten alternative Ansätze auf, insbesondere auch solche, die bislang wenig 'Gehör' gefunden haben; MODELLGESAMT: problematisiert die (fragliche) Übertragbarkeit von Modellprojekten, best practices u.ä. auf andere Fälle und in andere Zusammenhänge; ZUSTANDPROZESS: thematisiert die Spannungen zwischen zu einem bestimmten Zeitpunkt erreichten Umständen (z.B. 'Bio + Fair besiegelt einen nachhaltigen Zustand') und in einem weiteren Prozess anzustrebenden Veränderungen (z.B. 'Bio + Fair soll schrittweise zu einer immer besseren ökologischen und sozialen Performance beitragen'); KONZEPTUMSETZUNG: problematisiert Herausforderungen, Diskrepanzen, Strategien, etc. die die Umsetzung bestimmter Programme in die Praxis ergeben; KOMMUNIKATIVRAUM: hält jene (spontanen oder institutionalisierten) Momente, Situationen, Orte, etc. fest, in denen sich unterschiedliche Akteure begegnen, kommunizieren, Austausch- und gegenseitige Lernprozesse stattfinden können, Spannungen im Dialog verhandelt werden, etc.(z.B. gemeinsame Workshops, Vor-Ort-Besuche von BeraterInnen, Inspektionen); INVISIBLE: sichtet Aspekte, die leicht ausgeblendet werden, jedoch (unsichtbare) Voraussetzungen für viele der Programme bzw. deren Anwendung sind (z.B. die für viele KleinproduzentInnen erforderlichen Bildungs-, Lern- und Investitionsprozesse, die erforderlich sind, um an einem Programm wie Fair Trade, das sich an alle kleinen ProduzentInnen richtet, überhaupt partizipieren können); REGULWACHS: erfasst Aspekte der zunehmenden Regulierung der Lebenswelt einzelner Akteursgruppen (z.B. durch an Komplexität gewinnende Umwelt- und Landnutzungsgesetzgebungen oder die entstandene Dominanz industrieller Koordination); IDEOLOGIE: deckt die 'ideologische' Ebene der Auseinandersetzungen um Zertifizierungsprogramme und -praktiken ab; KRIMISICHER: bezieht sich auf die komplexe Sicherheits-, Kriminalitäts- und Kriminalisierungsdebatte im Golf von Guayaquil; BIOSPRITZER: behandelt die Probleme und Spannungen, die durch mögliche Verschmutzung von Biobetrieben durch in deren Nachbarschaft eingesetzte Spritzmittel entstehen, insbesondere wenn die Verbreitung der Chemikalien durch Flugzeuge erfolgt. Die Feinanalyse der beiden Texttypen erfolgte nach folgendem Verfahren: Beim Lesen der Texte wurden einzelne Sequenzen von einander abgetrennt (farbliche Markierung durch Textmarker). Am Textrand wurde mittels eines Kürzels auf die jeweilige inhaltliche Code-Zuordnung des ersten Code-Systems (a=Praktiken, b=Wandel, c=Kategorisierungen, d=Strategien) und formale Eigenschaften der Sequenz (1=Aussagen/Lesarten/Interpretationen/ Narrationen, 2=Bilder/Metaphern/Vergleiche, 3=Konzepte/Ideen, 4=Reflexionen/Sinnierungen, 5=sprachliche/formulierungstechnische Besonderheit) verwiesen. Auf einem separaten Blatt wurde die Zuordnung der jeweiligen Sequenz126 zu maximal fünf der thematischen Codes vorgenommen, z.B. b1 am Textrand mit dem Vermerk HETERO, DRIVER, MARKT auf dem separaten Blatt. Allgemeine, weiterführende oder über die jeweilige Sequenz hinaus reichende Gedanken und Ideen wurden parallel in einem 'Memotagebuch' festgehalten. 126 unter Angabe der Seitenzahl und des Kürzels am Rand, um sie zuordnen zu können 165 Kapitel 2 Nach der analogen Kodierung wurden alle Text in einer Tabellen-Datei digitalisiert. Dabei wurde zunächst in einem Tabellenblatt jeder Text systematisch registriert. Neben einem Arbeitstitel, einer kurzen Einordnung/Reflexion, dem Datum der Registrierung, der Zugehörigkeit zu einem der 15 Material Ordner (01,02,...,15), der Textkategorie (I=Feldnotiz, II=transkribierte Aufnahme) und der Position in der Reihenfolge der in einem Ordner unter einer Kategorie abgehefteten Texte (01,02,03, usw.), wurde auch die Zuordnung zu einer Textunterkategorie (Interview, Gruppendiskussion), zu einer Akteurskategorie (z.B. MangrovenbewohnerIn, Bananenproduktionsbetrieb, Garnelenzuchtbetrieb, Standard setzende Organisation) und dazugehöriger Akteursunterkategorien (z.B. organisiert/nicht organisiert, klein/groß bzw. Monokultur/Mischkultur, ArbeiterIn/leitende Angestellte) festgehalten. Schließlich konnten die einzelnen Textsequenzen in ein zweites Tabellenblatt kopiert (eine Zeile pro Sequenz) und die erfolgten Zuordnungen festgehalten werden. Dabei war eine Spalte für die Zuordnung des Textes (z.B. 01II02 für die zweite Transkription aus Aktenordner 1) vorgesehen, sodass später der Text, aus dem die Sequenz entnommen wurde, wieder in den ursprünglichen Materialordnern gefunden werden kann. In einer zweiten Spalte wurde die Seitenzahl des in den Aktenordnern abgehefteten Ausdrucks vermerkt, um die Sequenz innerhalb des Textes später wiederfinden zu können. In einer dritten Spalte konnte aus einer Auswahlliste eine der vier Kategorien des ersten CodeSystems gewählt werden, in der vierten entsprechend eine der fünf formalen Kategorien, in den fünf folgenden Spalten bis zu fünf der thematischen Codes des zweiten Code-Systems. In zwei weiteren Spalten schließlich konnten Memos (Ideen/Inhaltliches sowie Querverbindungen zu anderen Sequenzen/Texten) festgehalten werden. Mithilfe der Filterfunktionen der Tabellen-Datei konnte nach Erfassung aller Textsequenzen nach Belieben gefiltert werden. So wurden zum einen jeweils alle Textsequenzen eines Aktenordners sortiert nach den Kategorien Praktiken/Wandel/Kategorisierung/Strategien ausgedruckt und erneut abgeheftet, zum anderen alle Textsequenzen aller Aktenordner nach ihrer Zuordnung zu den einzelnen thematischen Codes sortiert, ausgedruckt und erneut abgeheftet. Auf den Ausdrucken für die einzelnen Aktenordner ist jeweils eingeblendet bzw. sichtbar, welche thematischen Codes der Sequenz zugeordnet sind, umgekehrt ist bei den nach den thematischen Codes sortierten Sequenzen ersichtlich, aus welchem Aktenordner sie stammen und welcher der vier Kategorien Praktiken/Wandel/Kategorisierungen/Strategien sie zugeordnet sind. Somit liegt nach Anwendung dieses Verfahrens eine doppelte Sortierung sämtlicher Textsequenzen vor. Bei den Akteurstypen oder Einzelfällen, die in die einzelnen Aktenordner aufgeteilt worden sind, können nun alle Sequenzen über deren Praktiken (bzw. über die anderen drei Kategorien) 'am Stück' gelesen werden. Bei den verschiedenen thematischen Codes sind nun die dafür interessanten Sequenzen aller Texte gebündelt, sodass z.B. das gesamte Spektrum an Aussagen zur Kriminalitäts- und Sicherheitsdebatte im Golf von Guayaquil 'am Stück' gelesen werden kann (vgl. Abb. 52 bis 54 im Anhang). Analyse der Texttypen 3 bis 5 Die Texte der 'Materialsammlung' (Typ 3: Flugblätter, Broschüren, Zeitschriftenartikel; Typ 4: Gesetzestexte/Standards; Typ 5: Studien, Gutachten) wurden nummeriert und mithilfe eines Formblatts hinsichtlich der Kategorien 'Bilder/Botschaften/Thesen/Implikationen', 'Themen', 'Konzepte & Instrumente' sowie 'Koalitionspartner/Kooperationsform' durch- 166 Methodologien und Methoden leuchtet. Dabei wurden neben des Titels und des institutionellen Kontextes des Textes während des Lesens im Sinne einer Grobanalyse wesentliche Aspekte zu den vier Kategorien handschriftlich festgehalten. Begründet ausgewählte Beispieltexte wurden für die nachfolgende Darstellung einer Feinanalyse unterzogen, in der die verwendeten sprachlich-rhetorischen Mittel (Symbole, Bilder) und der logische und ideologische Aufbau der Texte (Grundannahmen, Argumentationsweise, roter Faden) erarbeitet wurden (vgl. KELLER 2007, JÄGER et al. 1997:355ff). Zusammenfassungen der Ordner Abschließend wurde für jeden der Aktenordner, in dem die Materialtypen 1 bis 5 eines Akteurstyps bzw. eines Falls zusammengefasst sind, eine Zusammenfassung geschrieben. Diese stellt wesentliche Aspekte des jeweiligen Akteurs/Falls heraus. Die Zusammenfassungen unterteilen sich dabei in der Regel in eine geschichtliche Einbettung und eine Beschreibung der beobachteten Praktiken, des wahrgenommenen Wandels/dessen Interpretation, der vorgenommenen Kategorisierungen und der thematisierten Strategien und Ideen. Darüber hinaus stellen sie Verknüpfungen zu den verschiedenen Themen- und Spannungsfelder her und geben einige allgemeine Gedanken, Interpretationen und Reflexionen wieder. Sie bilden (zusammen mit dem allgemeinen Memotagebuch) als das letztes Zwischenprodukt des Auswertungsverfahrens die Grundlage für die abschließende Darstellung des Materials. 2.3.6 Darstellung des Materials Die Darstellung des umfassend aufbereiteten und analysierten Materials bringt ein letztes Mal einige Herausforderungen mit sich. Durch den Gesamtumfang des Materials und die differenzierte, feingliedrige Sortierung und Auswertung ergibt sich einerseits ein großes Potential, andererseits die Gefahr der Überfrachtung. Es stellt sich die Frage, wie die gewonnenen Einsichten so dargestellt werden können, dass einerseits die erarbeitete Vielschichtigkeit nicht zu sehr verloren geht und andererseits ein lesbarer und nachvollziehbarer Text entsteht. Eine Kunst dürfte also darin liegen, Breite, Tiefe und Lesbarkeit miteinander zu vereinbaren. Ebenfalls offen ist, inwieweit einzelne Fälle diskutiert werden oder inwieweit bereits auf die während des Forschungsprozesses gebildeten Kategorien (z.B. Akteurstypen oder Themenfelder) abstrahiert werden soll. Darauf Einfluss hat u.a. die Problematik der Anonymisierung. Während einige der Grundsätze der Arbeit wie z.B. die Idee, einzelne Akteure zu Wort kommen zu lassen, oder der Vorsatz, die jeweilige historische, geographische und Netzwerk-Einbettung der Akteure zu berücksichtigen, nahelegen, bei den 'echten' Personen und Organisationen zu bleiben, erfordern die politische Brisanz einiger zentraler Äußerungen bzw. die möglichen Konsequenzen für die Interviewten (z.B. als ArbeitnehmerInnen oder als politisch Aktive in 167 Kapitel 2 einem ideologisch aufgeladenen und gespaltenen diskursiven Feld) das Gegenteil. Weitere Herausforderungen sind das Verhältnis von Deskription und Interpretation sowie die Verknüpfung des eigenen Materials zur Literatur (Theorien/Konzepte; andere Fallstudien, die zum Vergleich herangezogen werden können). Eine Beurteilung, ob diese Herausforderungen zufriedenstellend gelöst werden konnten, kann nur anhand der Lektüre der folgenden Kapitel erfolgen. An dieser Stelle sollen jedoch die Grundüberlegungen und Begründungen zur gewählten Darstellungsform offen gelegt werden. Die Darstellung teilt sich in einen eher deskriptiven Teil (Kapitel 3), in dem die LeserInnen in vier verschiedene Teilfelder des Untersuchungskomplexes eingeführt werden, und einen (noch mehr) interpretativen Teil (Kapitel 4), in dem einige der zentralen Fragenkomplexe und Spannungsfelder diskutiert werden. Verknüpfungen zur Literatur werden im Fließtext weitestgehend implizit gelassen. Dies folgt der Idee, die Theorie 'zwischen den Zeilen' lesen zu können (vgl. Kapitel 1 und COOK 2002, 2006). Aspekte aus dem theoretisch-konzeptionellen und dem methodologischen Kapitel werden in den Schlussbemerkungen (Kapitel 5) nochmals explizit aufgegriffen. Kapitel 3 gliedert sich in die vier Teilfelder 'Bio + Fair in Deutschland' (3.1), 'Bananenproduktion in Ecuador' (3.2), 'Garnelenzucht in Ecuador' (3.3) und 'MangrovenbewohnerInnen des Golfs von Guayaquil' (3.4). Das gesamte Kapitel ist als eine Reise des 'Folgens' geschrieben, die mit dem Einkauf zertifizierter Garnelen und Bananen in verschiedenen Einzelhandelsgeschäften beginnt und nach einer Auseinandersetzung mit den über das Internet erschließbaren Repräsentationen, Positionierungen, Grundsätzen und Programmen (des Handels, der Standard setzenden Organisationen und der Zertifizierungsfirmen) schließlich die unterschiedlichen Orte, Begegnungen und Ereignisse porträtiert, zu denen mich das Folgen der Produkte und Konzepte geführt hat. Die Darstellung des Teilfeldes 'Bio + Fair in Deutschland' führt v.a. in die für KonsumentInnen und WissenschaftlerInnen sichtbare Oberfläche der geographical knowledges und der etablierten Programme von Bio + Fair ein, die sich mit den Formulierungen ihrer Standards und Verfahrensweisen sowie den öffentlichen Positionierungen ihrer Akteure präsentieren. Es beschreibt und interpretiert damit in erster Linie die Ebene der Programme. Mit dem Aufbruch zu Messen, zu Aktionsveranstaltungen und zu den Verwaltungssitzen der Standard setzenden Organisationen erfolgt der Übergang zur Ebene der Praktiken, der mit den Portraits der Teilfelder der Produktionsregion fortgesetzt wird. Die Darstellung der Ebene der Praktiken, insbesondere der drei Teilfelder in Ecuador, erfolgt in 'stilisierter' Form. Das 'Folgen' der Produkte und Konzepte führt zu Begegnungen mit Personen, die auf dem Weg durch die Warenkette und deren Akteursnetzwerke begleitet und interviewt werden. Dabei treffen sie auf weitere Personen, die einen anderen Akteurs(sub)typ repräsentieren. Indem diese Personen begleitet und ihre Interaktionen mit anderen rekonstruiert werden, wird das gesamte Spektrum der Breite und Tiefe des Materials exemplarisch vorgestellt. Während einige wenige offizielle RepräsentantInnen von Organisationen als solche benannt und Äußerungen unter ihrem Namen zitiert werden, werden die meisten Akteurstypen mit fiktiven Namen oder der bloßen Typbezeichnung (z.B. MitarbeiterIn Garnelenfirma) verse168 Methodologien und Methoden hen. Zitierte Äußerungen oder beschriebene Handlungen dieser Akteurstypen können dabei auch von verschiedenen Einzelpersonen stammen, die interviewt bzw. beobachtet wurden und die dieser Akteurstyp repräsentieren soll. Die Stilisierung solcher 'typischen' Charaktere und deren Interaktionen ermöglichen zum einen, das detailreiche Material umfassend und doch übersichtlich einzuführen, zum anderen wird so die notwendige Anonymisierung erreicht, ohne die persönliche, unmittelbare Ebene verlassen zu müssen. Kapitel 4 interpretiert und diskutiert zentrale Spannungsfelder. Dabei werden zunächst Spezifika im Bereich der Bananenproduktion (4.1) und der Garnelenzucht (4.2) erörtert und miteinander verglichen, anschließend allgemeine Fragen zu den Programmen und Praktiken von Bio + Fair behandelt (4.3). Hierbei werden – orientiert durch die thematische Kodierung – einzelne Themen herausgegriffen, die mir während der Feldforschung und später bei der detaillierten Analyse des Materials als zentral erschienen. Unweigerlich gehen durch diese Selektion, vergleichbar mit der 'Schließung' der Erhebungsphase (vgl. 2.3.2), andere interessante Aspekte verloren. Die vorhandene Aufbereitung und Sortierung des Materials würde eine spätere Behandlung jedoch jederzeit möglich machen. Die eigenen Interpretationen werden in diesem Kapitel deutlich gemacht. Dadurch bleiben sie nicht als endgültige Resultate stehen, sondern öffnen sich Zustimmung, Ergänzung und Kritik durch die LeserInnen. Zitate aus den Feldnotizen, Interviews, Gruppendiskussionen sowie aus der 'Materialsammlung' der grauen Literatur werden in beiden darstellerischen Kapiteln zur Illustrierung verwendet. Zitate aus Interviews/Gruppendiskussionen in Kapitel 3 werden den (fiktiven) Namen der (fiktiven) Personen sowie dem jeweiligen Akteurstyp zugeordnet, den diese repräsentieren. Dieser Umgang mit Zitaten bezieht sich auf nicht veröffentlichte Texte, die im Rahmen der Feldforschung konstruiert oder 'eingesammelt' wurden. Zitate aus Texten, die von beforschten Akteuren publiziert sind (z.B. Zeitschriftenartikel), werden wie alle anderen Literaturangaben behandelt und sind als solche im Literaturverzeichnis aufgeführt. Schließlich konnte durch abermalige Durchsicht der sortiert ausgedruckten und abgehefteten Textsequenzen nach (vorläufiger) Fertigstellung der Kapitel 3 und 4 überprüft werden, ob die Portraits der einzelnen Akteurstypen sowie die Diskussion der ausgewählten Spannungsfelder die wesentlichen Aspekte und Argumente abdeckten oder ob etwas Wichtiges vergessen wurde (Überprüfung der theoretischen Sättigung in der Darstellung mittels einer Validierung durch die sortierten Textsequenzen). 169 Kapitel 2 2.4 Reflexionen zu Methodologien und Methoden Als ich mich um das Stipendium bei der DBU beworben habe, wurden mir zur Vorbereitung auf das Bewerbungsgespräch einige der gutachterlichen Hinweise zugeschickt, die das Auswahlgremium zusammengestellt hatte. Einer dieser Hinweise lautete: „In die Einleitung würde ich die Methoden mit aufnehmen, denn zu denen ist nicht viel zu sagen, und zwischen Theorie und Empirie passen sie nicht als eigenes Kapitel“. Wer einen ähnlichen Standpunkt vertritt, könnte während der Lektüre dieses Kapitels sehr gelitten haben. Meine Hoffnung ist aber, dass dem nicht so ist und dass dieses Kapitel sich seinen autonomen Status verdienen konnte. Seine Legitimation schöpft dieser aus dem in der Einleitung formulierten Ziel der Arbeit, „ein 'Plädoyer' „für (mehr) Ethnographie“ (HERBERT 2000) in der Geographie zu sein und das Genre der Following-Studien im Rahmen der deutschsprachigen Geographie einzuführen“ (vgl. Einleitung). Mit dem Kapitel zu Methodologien und Methoden sollte ein Teil dieses Ziels erreicht werden. Ethnographische Methodologien und Methoden sind, jedenfalls in meiner Wahrnehmung der Wissenschaft im Allgemeinen sowie der Geographie im Besonderen, immer noch Randerscheinungen. Gerade in einer so breit aufgestellten Disziplin wie der Geographie, die unterschiedlichste Forschungsstile unter ihrem Dach vereint, erscheint es mir angebracht und wichtig, auch für ein breiteres Publikum (physische wie HumangeographInnen, Studierende, Laien) deutlicher herauszuarbeiten, was mit qualitativen Vorgehensweisen gemeint ist, wie sie aufgegriffen werden können und auf welchen Wegen sie zu gewinnbringenden wissenschaftlichen (geographischen) Beiträgen führen können. Wie bei allen Forschungsstilen ist auch bei einer ethnographischen Herangehensweise eine fundierte Methodik ein, wenn nicht der Schlüssel für eine erfolgreiche Bearbeitung einer Forschungsfrage. Allgemein begrüßenswert, erfordern darüber hinaus gerade die spezifischen Gütekriterien qualitativer Forschung (Reflexivität, Gegenstandsangemessenheit, kommunikative Validierung), die beherzigten methodologischen Grundlagen und methodischen Praktiken explizit zu machen. Damit andere die eigene Reflexivität oder die angemessene Behandlung des Gegenstands nachvollziehen können, reicht die bloße Nennung von Grundsätzen und Methoden nicht aus. Sie können nur anhand der jeweils entwickelten und praktizierten Übersetzungen dieser Grundlagen und Methoden in den spezifischen Forschungsprozess verstanden werden. Hierfür möchte dieses Kapitel ein Beispiel geben. Die bewusste und intensive Auseinandersetzung mit der Methodik standen eigentlich in jeder Phase dieses Projekts mit im Mittelpunkt. Die Programmatik einer ethnographischen Forschung wurde anhand des eigenen Projekts 'durchdekliniert'. Dabei wurden jeweils eigene Lösungsansätze, eigene Übersetzungen entwickelt, die in diesem Kapitel offen dargestellt werden, z.B. die Formulierung von Frageperspektiven zu unterschiedlichen Phasen des Erhebungsprozesses oder der Umgang mit dem konstruierten und in Textform aufbereiteten Material mithilfe eines selbst entwickelten, doppelten Code-Systems. Diese offene Darlegung stellt sich einerseits in ihrer Offenheit konstruktiver Kritik und möchte andererseits auch Anregungen 170 Methodologien und Methoden für künftige ForscherInnen vermitteln können, ihr jeweils eigenes Projekt zu 'deklinieren'; sei es dadurch, dass einige der hier entstandenen Ideen übernommen und weiterentwickelt werden, oder dadurch, dass neue, kreative Konzepte entstehen. Vor diesem Hintergrund haben es 'Methodologien und Methoden' nicht nur aus der Einleitung hinaus zum eigenen Kapitelstatus dieser Arbeit geschafft. Vielmehr kann dieses Kapitel als Plädoyer für mehr Ethnographie je nach Interesse auch relativ 'autonom' gelesen werden, ähnlich wie der theoretisch-konzeptionelle Teil im Sinne einer fachgeschichtlichen Aufarbeitung der verschiedenen Ansätze zu Warenketten, -netzwerken und -kreisläufen sowie der exemplarisch auf diesen unterschiedlichen Ansätzen aufbauenden Fallstudien zu Bio + Fair auch 'für sich' gelesen werden kann. Umgekehrt soll das nun Folgende prinzipiell auch ohne eine tiefere Kenntnis der ersten beiden Kapitel gelesen werden können. Während die einen (das ist jedenfalls die Hoffnung) nun sowohl die theoretisch-konzeptionellen als auch die methodologischen Aspekte zwischen den Zeilen wiederentdecken dürfen, können die anderen guten Mutes zu Bedenken geben, dass da präzise betrachtet ja auch gar nichts steht. 171 Portraits der Teilfelder 3 Portraits der Teilfelder In den vorangegangenen Kapiteln wurden die theoretisch-konzeptionellen und methodologisch-methodischen Grundlagen dieser Following-Studie ausgeführt. Angeleitet durch die konzeptionellen Überlegungen und methodologischen Grundsätze wurde mit Garnelen und Bananen aus Ecuador zwei ausgewählten Produkten gefolgt, deren Produktion, Handel, Vermarktung und Konsum in Zusammenhang mit Zertifizierungen aus dem Bereich biologischer Landwirtschaft und fairem Handel gesteuert werden sollen. Der geographische Schwerpunkt der Feldforschung lag dabei auf der Produktionsregion an der Pazifikküste im Südwesten Ecuadors. Entsprechend stehen auch die beobachteten Praktiken und die in den Gesprächen, Interviews und Gruppendiskussionen in Ecuador erhobenen Perspektiven der dort involvierten Akteure im Mittelpunkt der erarbeiteten Ergebnisse (Beschreibungen und Interpretationen), die in den folgenden beiden Kapiteln dargestellt werden sollen. Mittelpunkt der Perspektive, mit der den beiden Produkten gefolgt wurde, waren Fragen nach dem Beitrag, den Wirkungsweisen, den Möglichkeiten, Chancen und Grenzen von Bio- und Fair Trade-Initiativen bezüglich einer nachhaltigen Entwicklung in der Produktionsregion. Von besonderem Interesse war dabei die Wachstumsdynamik von Bio + Fair, die immer neue besiegelte Produkte und alte wie neue Waren in immer größeren Mengen in die Regale 'unserer' Läden bringt. Ein Blick in Studien zu Bio + Fair in Kapitel 1 hat gezeigt, dass dieser Wachstumsprozess, bei dem sich die als verstreute soziale Initiativen entstandenen Bewegungen biologischer Landwirtschaft und alternativen/fairen Handels zu globalisierten Netzwerken entwickelt haben, deren interne Koordination verstärkt durch Konventionen des industriellen Typs geprägt sind, besonders auch dadurch ermöglicht wird, dass vormals externe Akteure wie große Unternehmen und neue Akteure wie professionell Zertifizierungsfirmen in die 'biofairen' Warenketten integriert werden. Diese Integration ruft verschiedene Spannungsfelder und mit diesen verbundene Entscheidungsfragen hervor, die die grundsätzliche Ausrichtung der Initiativen sowie die Umsetzung der Grundsätze durch Standards, Verfahren und durch diese geprägte Praktiken tangieren. Zentrale Themen sind dabei, inwieweit die Bestrebungen der Zertifizierungssysteme nach Tiefenwirkung einerseits, nach Breitenwirkung andererseits, miteinander vereinbar sind; ob durch die Integration neuer Zielgruppen (z.B. ArbeiterInnen großer Unternehmen) und Akteure (z.B. große Handelsfirmen als Lizenznehmerinnen) die für diese entstehenden Vorteile (z.B. Verbesserung der Arbeits- und Lebenssituation; Erschließung eines an Bedeutung gewinnenden Nischenmarkts) gleichzeitig auch Nachteile für die ursprünglich Beteiligten (z.B. Wettbewerbsnachteile für KleinproduzentInnen oder alternative Handelsorganisationen) bewirken können; und ob das Wissen, mit dem immer neue Standards und Verfahren entwickelt werden, mit den Realitäten, auf die diese Standards und Verfahren wirken sollen, verknüpft oder von diesen entkoppelt ist. 173 Kapitel 3 Vor diesem Hintergrund sollen an dieser Stelle die Fragen in Erinnerung gerufen werden, deren Erhellung anhand des im Rahmen dieser Following-Studie konstruierten und ausgewerteten Materials in der Einleitung angekündigt wurde (vgl. S.11): − Wie präsentiert sich das Erscheinungsbild der Bio + Fair-Initiativen 'hier'? In welchem Verhältnis stehen diese Repräsentationen zur Umsetzung/Anwendung 'dort'? − Welche Unterschiede sind bezüglich verschiedener Zertifizierungsschemata festzustellen und wie lassen sich gegebenenfalls Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Standards beschreiben? − Welche Chancen, Risiken und Grenzen der Initiativen lassen sich bei dem speziellen Fokus auf die Zielgruppen und lokalen Akteure im Produktionsland identifizieren? Welche Alternativen zu den Zertifizierungen lassen sich aufdecken? − Welche Unterschiede finden sich im Vergleich eines Klassikers des Sektors (Banane) mit einem neuen, dem Bio+Fair-Boom entsprungenen Produkt (Garnele)? − Inwieweit reflektieren die beobachteten Unterschiede allgemeine Trends bei Bio + Fair im Rahmen der genannten Wachstumsdynamik? − Welche Einblicke lassen sich hinsichtlich der Tiefenwirkung der Initiativen einerseits, ihrer Breitenwirkung andererseits gewinnen? − Welche Veränderungsprozesse und Entwicklungsdynamiken lassen sich aufgrund der gesteigerten Nachfrage und des damit verbundenen Wachstums des Bio- und Fair Trade-Markts auf Seiten der ProduzentInnen beobachten? − Inwieweit können Initiativen biologischer Produktion und fairen Handels einen Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung in der Produktionsregion leisten? Diese Fragen werden der Lektüre der Kapitel 3 und 4 vorangestellt – nicht nur, um am Ende Antworten darauf formulieren zu können, sondern auch, weil sie als gedankliche Fokussierung beim Lesen durch die Darstellung des Materials dienen sollen. Für die Darstellung der erarbeiteten Ergebnisse steht eine breite, vielschichtige und facettenreiche Materialbasis zur Verfügung, die beim Folgen der Produkte an ausgewählte Orte der Warenketten/-netzwerke in Interaktion mit den an diesen Orten agierenden Menschen sowie durch eingehende Lektüre orts- und themenbezogener Studien konstruiert wurde. Neben den Literaturquellen setzt sich diese Basis aus unterschiedlichen Texttypen (Feldnotizen; Transkriptionen von Interviews und Gruppendiskussionen; graue Literatur wie z.B. Flugblätter oder Infobriefe; Standards, Richtlinien und andere Regelwerke; von den Akteuren selbst erstellte oder in Auftrag gegebene Studien) zusammen, die unterschiedlichen Akteurstypen (u.a. ProduzentInnen und sie vertretende Organisationen, MangrovenbewohnerInnen und sie vertretende Organisationen, Zertifizierungsfirmen, Standard setzende Organisationen, staatliche Einrichtungen) zugeordnet werden können. Diese Texte wurden sowohl bezogen auf die Akteurstypen hinsichtlich deren Praktiken, deren Wahrnehmung von Wandel, den Kategorien, die sie von sich selbst und anderen bilden, sowie deren Strategien geordnet und ausgewertet; als auch bezogen auf verschiedene thematische Zusammenhänge wie z.B. die Heterogenisie- 174 Portraits der Teilfelder rung der Felder durch die Integration und Evolution neuer Akteure oder die ideologischen Standpunkte gegenüber der Garnelenzucht im Allgemeinen und ihrer Biozertifizierung im Besonderen. Eine solche Materialbasis eröffnet vielfältige Möglichkeiten der Darstellung und erfordert nicht nur die Entscheidung für eine dieser Möglichkeiten, sondern angesichts des Umfangs auch eine Beschränkung auf zentrale Aspekte der Auswertung. Ein Stärke der durch das konstruierte Material und seine Auswertung erarbeiteten Ergebnisse liegt in ihrer Syntheseleistung, grundsätzliche Spannungsfelder bei Bio + Fair für Bananen und Garnelen aus Ecuador sowie im Allgemeinen diskutieren zu können, indem sie die Perspektiven der unterschiedlichen Akteurstypen zusammenführt und ihr Verhältnis zueinander interpretiert. Diese Interpretationen werden in Kapitel 4 vorgenommen. Ihnen (gedanklich) zu folgen, um sie (inhaltlich) zu teilen, zu verwerfen oder weiterentwickeln zu können, ist nicht voraussetzungslos. Es erfordert einen Einblick in die Materialien und in die in diesen verankerten Wissensbestände, die den Interpretationen zugrunde liegen. Kapitel 3 unternimmt den Versuch, den LeserInnen diesen Einblick zu eröffnen. Als Bestandteil der Idee von Following wurde bereits vorgestellt, dass durch das Folgen der Produkte (Garnelen, Bananen) und Konzepte (Bio, Fair) mehr in Erfahrung gebracht werden kann über die Verflechtungen, die durch die Herstellung, den Handel, die Vermarktung und den Konsum unter Anwendung bestimmter Koordinations- und Steuerungsprogramme bestehen. Dieses 'Mehr' ist abhängig vom jeweiligen Standpunkt. Starten wir aus der Perspektive der KonsumentInnen in Deutschland, erfahren wir z.B. mehr über die Programme der Zertifizierungssysteme oder die Verhältnisse in der Produktionsregion, wissen aber bezogen auf einzelne Teilfelder am Ende wahrscheinlich doch noch weniger als die Fachleute der Standard setzenden Organisationen über die Regelwerke, die KleinproduzentInnen der Bananen über Probleme des Anbaus oder die von der Garnelenzucht betroffenen MangrovenbewohnerInnen über das Leben im Golf von Guayaquil. Darüber hinaus sind ganz unterschiedliche Ausgangssituationen denkbar, von denen aus ein Folgen begonnen werden kann. So erschließt sich die Warenkette aus der Perspektive eines Kleinproduzenten oder einer Mangrovenbewohnerin jeweils auf ihre eigene Weise, um am Ende mehr, wenngleich nicht alles z.B. über die Standard setzenden Organisationen oder die KonsumentInnen in Deutschland erfahren zu haben. Um diesen Überlegungen zur Abhängigkeit von den jeweiligen Perspektiven und zur Relativität des Wissens Rechnung zu tragen, soll der Einblick in das den Ausführungen des vierten Kapitels zugrunde liegende Material in Form von Portraits der vier zentralen Teilfelder des Untersuchungskomplexes eröffnet werden, die ihren Ausgang – wenngleich stets mit den Augen des Autors – von einem jeweils eigenen Standpunkt nehmen und von diesem aus sich weitere Zusammenhänge (Orte, Ereignisse, Begegnungen) erschließen. Dabei bedient sich die Darstellung dem Stilmittel der Nebeneinanderstellung ('juxtaposition') bzw. Montage (vgl. z.B. COOK et al. 2004), mit der unterschiedliche Orte, Beobachtungen, Erzählungen, Texttypen, Aussageereignisse, etc. vorgestellt werden, durch deren Hilfe sich die jeweiligen Teilfelder und bedeutende bzw. auch für die anschließenden Diskussionen relevante Aspekte innerhalb dieser vermitteln lassen. 175 Kapitel 3 Das erste Teilfeld porträtiert die Landschaft von Bio + Fair in Deutschland (3.1). Ausgehend von der Perspektive der KonsumentInnen werden Orte des Verkaufs und Orte, an denen sich die ProtagonistInnen von Bio + Fair (z.B. Handel, Standard setzende Organisationen, Zertifizierungsfirmen) präsentieren (Internet, Messen, Aktionstage, Verwaltungssitze), aufgesucht, um mehr über die zertifizierten Produkte und die dahinterstehenden Programme (Grundsätze, Standards, Verfahren) zu erfahren. Auf Grundlage der Informationen, die beim Einkauf, im Internet und bei Besuchen von Messen, Aktionstagen und Büros zugänglich waren, können mit verschiedenen Standard setzenden Organisationen und Zertifizierungsfirmen v.a. diejenigen Akteursgebilde vorgestellt werden, die maßgeblich an der Gestaltung der Programme von Bio + Fair beteiligt sind. Kann diese erste Stufe des Folgens den Blick erweitern und in die Welt der Programme von Bio + Fair einführen, ergeben sich dadurch auch weitere Fragen bezüglich der Praktiken, die die Anwendung dieser Programme an den Orten der Produktion und des Handels hervorrufen. Um diesen Praktiken nachzugehen und die Einbettung der Programme in spezifische lokale Kontexte nachvollziehen zu können, werden drei Teilfelder der untersuchten Produktionsregion vorgestellt: die Bananenproduktion in Ecuador (3.2), die Garnelenzucht in Ecuador (3.3) und die MangrovenbewohnerInnen im Golf von Guayaquil (3.4). Jedes dieser Portraits beginnt mit einer historischen Einordnung des heutigen Felds bzw. der zentralen Akteurstypen, denen wir in diesem begegnen. Dem schließt sich jeweils ein 'Reise' an verschiedene Orte und zu ausgewählten Ereignissen des Feldes an, bei denen es zu Begegnungen mit VertreterInnen verschiedener Akteurstypen kommt. So begleitet der Weg durch die Bananenproduktion Ecuadors einen Kleinproduzenten während einer Arbeitswoche auf dessen Finca, gerahmt von Besuchen benachbarter Fincas und Gesprächen mit deren BesitzerInnen, um am Ende der Woche nach einem intensiven Erntetag (día de embarque) mit den gepackten Bananenkisten zum Hafen mitzufahren. Vom Hafen gelangen wir in das ebenfalls in der Stadt gelegene Büro der Kooperative und politischen Vertretung, der der Kleinproduzent angehört. Im Rahmen einer Arbeitswoche dort finden – neben der Beobachtung der alltäglichen Arbeiten der Angestellten – Gespräche mit dem Präsidenten der Organisation, mit Vertretern anderer Kooperativen und politischen Organisationen und mit einem Plantagenbesitzer statt, den wir einen Tag auf seine Plantage begleiten. Außerdem wird nicht nur die monatliche Vollversammlung der Kooperative veranstaltet, sondern auch ein 'Bananenforum' mit Besuch des Landwirtschaftsministers, und es kommt der Mitarbeiter einer Standard setzenden Organisation zu einer Inspektion mit anschließendem Beratungsgespräch und Interview. Die Darstellung der Garnelenzucht beginnt – nach einem Gespräch mit einer Mitarbeiterin einer Standard setzenden Organisation – in den Büros der Garnelenfirmen in Guayaquil. Beobachtungen des Arbeitsalltags sowie je einer betriebsinternen und einer auf Industrieverbandsebene organisierten Informationsveranstaltung von einer Zertifizierungsfirma bzw. von einer staatlichen Einrichtung werden ergänzt durch Gespräche mit leitenden MitarbeiterInnen. Von den Büros aus werden anschließend drei Fahrten zu Produktionsstätten unternommen: eine Anreise mit ArbeiterInnen, um ein einwöchiges Praktikum zu absolvieren, eine Fahrt mit 176 Portraits der Teilfelder einem LKW, der den Ernteertrag eines Zuchtbeckens zum Verpackungsbetrieb liefern soll, sowie die Begleitung einer Delegation leitender MitarbeiterInnen, die die einzelnen Zuchtfarmen ihrer Firma auf eine anstehende Inspektion vorbereiten sollen. Das Teilfeld der MangrovenbewohnerInnen des Golfs von Guayaquil beginnt mit einem längeren Aufenthalt in einem der Fischerdörfer. Mit einem der Zwischenhändlerboote geht es daraufhin zusammen mit zwei Dorfbewohnern nach Guayaquil, wo – nach Verwandtschaftsbesuchen am Stadtrand – ein Kongress des ecuadorianischen Mangrovenschutznetzwerkes stattfindet. Dessen MitarbeiterInnen begleiten wir in deren Büro in die Hauptstadt Quito, wo neben der politisch-juristischen Arbeit auch ein Restaurant und Kulturzentrum betrieben wird, in dem fair gehandelte Fangprodukte der MangrovenbewohnerInnen, Koch- und Tanzkurse u.v.a.m. angeboten werden. Ein Gespräch mit einem Mitarbeiter einer der weiteren Nichtregierungsorganisationen (NROs), die gemeinsam mit den Vereinigungen der MangrovennutzerInnen und der Umweltabteilung der Provinzregierung der Provinz Guayas eine Konzession zum Schutz und zur nachhaltigen Nutzung der verbleibenden Mangroven im Golf von Guayaquil umsetzen, runden die Reise durch die Untersuchungsregion ab. Die Wege, die die Portraits der Teilfelder einschlagen, simulieren die Wege des Folgens – sowohl die Wege, die ich während der Feldforschung gegangen bin, als auch (in Ansätzen) die Wege, die die KonsumentInnen in Deutschland, die BananenproduzentInnen, die MitarbeiterInnen von Garnelenfirmen und die BewohnerInnen der Mangrovengebiete des Golfs von Guayaquil einschlagen könnten. Dies soll den LeserInnen ermöglichen, nicht nur einen möglichst vielschichtigen Einblick in die verschiedenen Teilfelder zu bekommen, sondern sich auch (ein Stück weit) in die Perspektivität der unterschiedlichen ProtagonistInnen hineinzuversetzen. Damit diese ProtagonistInnen in ihren eigenen Worten Gehör finden können, werden einzelne Erzählsequenzen in Originalsprache ausführlich zitiert. Sofern die Zitate jedoch nicht (durch Doppelpunkt, Komma oder Semikolon) mit dem Flusstext verknüpft sind, kann dieser aufgrund der voranstehenden oder nachfolgenden Paraphrasierungen auch ohne jene gelesen werden. 177 Kapitel 3 3.1 Bio + Fair in Deutschland Biologisch produzierte und fair gehandelte Produkte gibt es an verschiedenen Orten zu kaufen. Darüber hinaus werden sie und die dahinter stehenden Programme auf unterschiedliche Weise zu Informations- und Werbezwecken präsentiert. Neben den Bildern und Informationen, die an den Orten des Verkaufs selbst vorgefunden werden können, erlauben v.a. die Internetauftritte des Handels, der zivilgesellschaftlichen und staatlichen Standard setzenden Organisationen, verschiedener Dachverbände oder auch der Zertifizierungsfirmen einen weiterreichenden Einblick in die mit den Produktsiegeln gekennzeichneten Initiativen von Bio + Fair. Auch auf alljährlich stattfindenden Fachmessen wie der Biofach oder öffentlichen Aktionstagen wie der jeden September veranstalteten Fairen Woche präsentieren sich die Akteure von Bio + Fair untereinander bzw. gegenüber einer interessierten Öffentlichkeit. Ereignisse wie die Biofach oder die Faire Woche, Pressemitteilungen zu aktuellen Verkaufszahlen oder neuen bzw. reformierten Standards, der Einstieg eines neuen Akteurs (z.B. die Aufnahme von fair gehandelten Produkten in das Sortiment einer Supermarktkette oder die Ernennung einer Stadt zur 'Fair Trade Town') oder auch 'Skandale' (z.B. Betrug bei der Bio-Kennzeichnung) führen zu einer medialen Verarbeitung von Bio + Fair in Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehsendungen. Angesichts der Vielfalt der Orte, an denen Bio + Fair angeboten und mit Inhalten und Bedeutungen verknüpft werden, der Vielfalt der Akteure, die an den Aktivitäten der Vermarktung und Wissens- und Bedeutungsproduktion von Bio + Fair mitwirken, sowie der Vielfalt der Produkte und Standards, die im Rahmen der Bio- oder Fair-Zertifizierungen in Erscheinung treten, soll ein Portrait der Landschaft von Bio + Fair gezeichnet werden, das einen Überblick verschafft und eine Grundorientierung bezüglich der Gemeinsamkeiten nach außen sowie der internen Unterschiede ermöglicht. In einem ersten Schritt werden die Orte des Verkaufs und der Repräsentationen von Bio + Fair porträtiert. Im Mittelpunkt stehen dabei zum einen die Bilder und Vorstellungen, die bezüglich der beiden Initiativen produziert werden. Die Auswahl der beiden Produkte, denen im weiteren Verlauf der Arbeit gefolgt werden soll, erlaubt zum anderen einen genaueren Blick auf die Grundsätze, Standards und Verfahren, die im Rahmen der Zertifizierungsprogramme zu Garnelen und Bananen formuliert worden sind und in der aktuellen Praxis der Herstellung und des Handels zur Anwendung kommen. So können aus verschiedenen staatlichen Einrichtungen, Standard setzenden Organisationen und Zertifizierungsfirmen einige Positionen und Stimmen derjenigen Akteursgebilde vorgestellt werden, die maßgeblich an der Gestaltung der Programme von Bio + Fair beteiligt sind. Besuche der Biofach-Messe, der Fairen Woche und des Verwaltungssitzes einer Standard setzenden Organisation stellen schließlich den ersten Schritt des Folgens in die von den Programmen von Bio + Fair mit geprägten Praktiken dar. 178 Portraits der Teilfelder 3.1.1 Orte des Einkaufs Ein erster Schritt, um mit biologisch hergestellten Garnelen oder fair gehandelten Bananen in Berührung zu kommen, ist, sie einzukaufen. Den KonsumentInnen stehen unterschiedliche Orte zur Verfügung, um einen solchen Einkauf zu tätigen. Die Vielfalt und Heterogenität dieser Einkaufslandschaft kann hier nur angedeutet werden. Um zur Illustration Biogarnelen und biologisch angebaute und fair gehandelte Bananen zu erwerben, sollen hier zwei Ebenen unterschieden und aufgesucht werden. Auf der einen Seite sind biologisch produzierte und fair gehandelte Produkte heutzutage in praktisch allen Supermarktketten zu finden. Auf der anderen Seite bestehen nach wie vor Fachgeschäfte wie Bio- oder Weltläden, über die die Distribution der alternativen Produkte bereits erfolgte, bevor sie Einzug in den konventionellen Einzelhandel erhielten. Bio + Fair im (konventionellen) Supermarkt In den herkömmlichen Supermarktketten werden die Bio- und Fair-besiegelten Waren neben konventionellen Produkten (Markenartikel oder Eigenmarken der Ketten) und Produkten mit anderen Zertifikaten aus dem Bereich des ethischen Handels angeboten. Sie sind erkennbar an den auf den Produkten/Produktverpackungen angebrachten Siegeln sowie in der Regel an einer Kennzeichnung der Preisschilder im Regal. Die Supermarktketten verkaufen sowohl zertifizierte Produkte anderer (Groß)Händler weiter, als auch haben sie häufig zusätzlich Eigenmarken für Bio (praktisch alle) und Fair (einige wenige) eingeführt. Während die Auswahl gegenüber den konventionellen Produkten insgesamt überschaubar ist, weisen Bioprodukte gegenüber den fairen eine größere Vielfalt auf. Von letzteren sind oft nur 'Klassiker' wie Kaffee, Tee, Schokolade, Fruchtsäfte oder Bananen verfügbar. Zusätzliche Informationen zu den besiegelten Produkten in Form von Broschüren oder Zeitschriften sind, wenn man von den Werbeprospekten absieht, in denen oft auf einer Extraseite für sie geworben wird, in der Regel vor Ort nicht verfügbar. Die meisten Bioprodukte tragen das EU-Biosiegel, die meisten fairen Produkte das Fairtrade-Siegel der FLO-I. Für die KonsumentInnen sind hier Bio + Fair-Produkte durch die eindeutige Kennzeichnung sichtbar, sie können zwischen ihnen und konventionellen Produkten oder solchen aus ethischem Handel wählen und demnach dort, wo sowohl besiegelte als auch nicht besiegelte Artikel vorhanden sind, sich für oder gegen Bio + Fair entscheiden. Wir entscheiden uns dafür und kaufen: Bio- und fair-zertifizierte Bananen (Eigenmarke mit EU-Bio und FLO-I-Fair Siegeln) für 1,79 EUR pro Kilogramm. Als konventionelle Alternativen gibt es am Tag unseres exemplarischen Einkaufs außerdem 'Bonita'-Bananen (Ecuadors größte Bananenmarke im konventionellen Bereich) im Angebot für 1,39 EUR/kg und 'Chiquita'-Bananen für 1,89 EUR/kg(!), deren Plantagen von der Rainforest Alliance (einem Siegel aus der Sphäre des ethischen Handels) nach weniger strengen Richtlinien als die von Bio 179 Kapitel 3 + Fair zertifiziert sind127. 250 g Biogarnelen (Füllgewicht) aus ökologischer Aquakultur in Ecuador (Naturland-Siegel) von 'Gelima' für 3,99 EUR (100g = 1,60 EUR). An Auswahl stehen uns dabei mehrere ähnlich Produkte zur Verfügung. Neben weiteren Biogarnelen mit EUBio oder Naturland-Bio gibt es auch Garnelen aus konventioneller Aquakultur sowie wild gefangene Garnelen, die teilweise konventionell, teilweise mit dem MSC-Siegel für nachhaltige Fischerei versehen sind, bei einer Preisspanne von 0,80 EUR bis 2,78 EUR pro 100g. Bio + Fair in den Fachgeschäften Exklusivere Orte des Verkaufs bieten Fachgeschäfte für Bio- und Fair Trade-Produkte. Neben den traditionellen Bio- und Weltläden, die als alternative Absatzkanäle für Bio + Fair entstanden sind, bevor mit Hilfe der Siegel der Weg für den Einzug in den herkömmlichen Einzelhandel geebnet worden ist, gehören hierzu heute auch die Bio-Supermarktketten. Im Bereich des fairen Handels ist zwar noch keine vergleichbare Konsolidierung und Konzentration zu beobachten, dennoch haben sich viele der Weltläden im Laufe der Zeit vermarktungstechnisch professionalisiert und fallen durch ein einheitliches Erscheinungsbild und kundenorientiertes Ladenmanagement auf, das vom Weltladen-Dachverband e.V. gefördert und gesteuert 128 wird . Diese alternativen Orte des Verkaufs zeichnen sich dadurch aus, dass hier ausschließlich Biound/oder Fair Trade-Waren angeboten werden. Das Sortiment ist breit. Manchmal befinden sich darunter Produkte, die von BioproduzentInnen aus der Region oder aus Projekten in 'Entwicklungsländern' stammen, zu denen das Geschäft einen direkten Kontakt unterhält. Oft können die KundInnen nicht nur durch die Siegel gekennzeichnete Artikel kaufen, sondern zusätzliche Informationen über Bio + Fair erhalten. Durch ausgelegte Infomaterialien, die mitgenommen oder auch im Laden zusammen mit einer Tasse fairen Kaffees, einem Stück Biokuchen oder getrockneten bio-fairen Mangos zu Gemüte geführt werden können. Durch einschlägige Literatur, die in Regalen in einer Ecke zum Verkauf angeboten wird. Oder durch Gespräche mit den oft schlecht bezahlten (Bioladen/-supermarkt)129 oder ehrenamtlich arbeitenden (Weltladen) VerkäuferInnen, die mehr oder weniger über die hinter den besiegelten Produkten stehenden Initiativen Bescheid wissen, darüber Auskunft geben und angesichts der Vielfalt des Sortiments und der verschiedenen Siegel eine gewisse Orientierung bieten können. Eine solche Orientierung, die sich an KundInnen richtet, die mit dem Besuch eines Fachgeschäfts die Wahl für Bio oder Fair meist bereits getroffen haben, erörtert in der Regel die Unterschiede innerhalb von Bio + Fair und reflektiert auch die Abgrenzungen, die von den 127 vgl. z.B. http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/verwirrende-biosiegel-chiquita-und-der-gruene-frosch-1.902266 [10.03.13] 128 vgl. hierzu http://www.unternehmen-weltladen.de/front_content.php?idcat=8 [10.03.13] 129 vgl. z.B.: http://www.biohandel-online.de/public/HTML/2012/hg20120402.shtml [12.02.13] http://www.taz.de/!50470/ [12.02.13] http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=a2&dig=2010%2F04%2F03%2Fa0169&cHash=77e3af70e01305e718efc6e710b25183 [12.02.13] http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/alnatura-zoff-um-bezahlung-yoga-statt-tariflohn-1.17691 [12.02.13] http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/zoff-um-gehaelter-alnatura-bessert-bei-knauser-loehnen-nach-1.2052 [12.02.13] http://www.bio-berlin-brandenburg.de/presse/detailansicht/meldungen/fairer-handel-unfaire-loehne-maerkische-allgemeine/ [12.02.13] 180 Portraits der Teilfelder Fachgeschäften gegenüber dem herkömmlichen Einzelhandel vorgenommen werden. So finden sich in den Bioläden vorwiegend Produkte, die gemäß den Richtlinien eines der biologischen Anbauverbände wie demeter, Bioland oder Naturland hergestellt worden sind. Diese gelten als strenger im Vergleich zu den (Mindest-)Vorgaben der EU. Entsprechend werden in Weltläden in erster Linie Produkte angeboten, die durch Alternative Handelsorganisationen (ATOs) wie z.B. der gepa oder BanaFair importiert werden, die ausschließliche faire Waren handeln und deren Unterstützung z.T. weiter reicht als die (Mindest-)Vorgaben der Fair Trade Standards der FLO-I an konventionelle Lizenznehmer. Beim Einkauf in einem Biosupermarkt nehmen wir ausgelegte Gratis-Informationsschriften mit und kaufen eine Biogarnelenpizza der Marke 'Biopolar', mit Naturland-zertifizierten Garnelen aus ökologischer Aquakultur aus Ecuador für 4,99 EUR (350g Gesamtgewicht, Garnelenanteil 14%). Die EU-Bio und FLO-I-fairen Bananen (2,49 EUR/kg) lassen wir liegen, um hierfür einen Weltladen aufzusuchen. Dort finden wir als Angebot Bio + Fair Bananen der ATO BanaFair (hergestellt nach NaturlandRichtlinien) für 0,50 EUR/Stück. Durch späteres Abwiegen berechnen wir für die fünf Bananen, die wir nach einer Tasse Kaffee und einem orientierenden Gespräch mit der Verkäuferin einkaufen, einen Preis von 3,26 EUR/kg. Außerdem kaufen wir eine Packung „Bio & Fair Getrocknete Bananen von UROCAL (Ecuador)“, ebenfalls importiert durch BanaFair, zertifiziert nach Naturland-Richtlinien (wie die Frischfrüchte inklusive Naturland-Fair), getrocknet und verpackt in den Antonius-Werkstätten Fulda, Preis: 2,80 EUR für 150g. Neben einigen kostenlosen Faltblättern und Postkarten von BanaFair und Naturland gibt es verschiedene Zeitschriften zu kaufen, die sich mit Fairem Handel, Entwicklungszusammenarbeit und ausgewählten regionalen oder thematischen Schwerpunkte zu 'Entwicklungsländern' oder dem Welthandel im Allgemeinen befassen. So erwerben wir zusätzlich zu den Bananen mehrere Hefte, um uns weitergehend informieren zu können. Darunter befinden sich: die Ausgabe 355/Mai 2012 der ila (Zeitschrift der Informationsstelle Lateinamerika) mit dem Schwerpunkt 'Meeresressourcen' unter dem Titel „Kampf um die letzten Fische“ mehrere Ausgaben der Südzeit (Eine Welt Journal Baden-Württemberg, herausgegeben vom Dachverband Entwicklungspolitik Baden-Württemberg DEAB e.V.) mit Schwerpunkten rund um den fairen Handel (Nr. 38/Juli 2008: u.a. „Schwerpunkt: Fair und Bio“ und „Wie fair ist der Faire Handel?“; Nr. 41/April 2009: u.a. „Faire Messe“; Nr. 55/Dezember 2013: u.a. „Alles fair oder was? Fairtrade-Siegel unter der Lupe“) Erste Orientierungsmuster Resümieren wir den kurzen Blick in die verschiedenen Ladentypen und die exemplarische Einkaufsaktion, lässt sich insbesondere bezüglich des herkömmlichen Einzelhandels feststellen, dass die in der Literatur beschriebene Heterogenisierung besiegelter Produkte aus alternativem wie aus ethischem Handel heute sichtbare und allgegenwärtige Wirklichkeit geworden ist. Das Spektrum von Waren, auf denen mittels eines Siegels für eine gute bzw. bessere ökologische oder soziale Performance bei der Herstellung und im Handel hingewiesen werden 181 Kapitel 3 soll, umfasst sämtliche Kategorien, die sich hinsichtlich der (definitorischen) Herkunft der Zertifizierungssysteme und der Integration unterschiedlicher Unternehmenstypen auf verschiedenen Stufen aufstellen lassen. So finden sich bezüglich der ökologischen Verantwortung solche Produkte, die nach den EU-Richtlinien für biologische Landwirtschaft hergestellt worden sind, solche, die den strengeren Standards der traditionellen Anbauverbände wie Naturland oder demeter gerecht werden, und solche, deren Produktionsprozess gemäß privaten Zertifizierungen aus dem Bereich des ethischen Handels erfolgt, die bestimmte Umweltkriterien aufstellen, ohne dabei die (Mindest)Anforderungen von EU-Bio zu erfüllen. Für letztere gilt das gleiche bezüglich der sozialen Verantwortung, die außerdem sowohl durch das international verbreiteten Fairtrade-Siegel der FLO-I, als auch durch z.T. noch weiter reichende Eigenmarken traditioneller ATOs wie 'BanaFair' oder 'gepa fair+' vertreten ist. Nicht nur neue, sondern auch altbekannte große Marken (und damit die dahinter stehenden Firmen) schmücken sich mit dem ein oder anderen Siegel, so z.B. 'Chiquita' mit dem grünen Frosch von Rainforest Alliance. Innerhalb des alternativen Handels (Bio + Fair) sind große (Groß- und Einzel-)Handelsketten auf verschiedenen Stufen in das zertifizierte System involviert: von gar nicht, über den Vertrieb fertiger Produkte, die sie von anderen Händlern, insbesondere von ATOs, beziehen, bis hin zur Vermarktung von Eigenmarken, die sie als Lizenznehmerinnen der Siegel und direkte Handelspartnerinnen der produzierenden Betriebe in Erscheinung treten lässt. Einerseits erweitert dieser wachsende Markt immer mehr die vor nicht allzu langer Zeit noch sehr begrenzten Möglichkeiten, Produkte zu beziehen, die sich explizit und in einer positiv gestalterischen Absicht auf die Umstände der Herstellung und des Handels beziehen. Man braucht heutzutage nicht mehr unbedingt ein extra darauf ausgerichtetes Fachgeschäft aufzusuchen und bekommt selbst außergewöhnliche, erst jüngst massentauglich gewordene Delikatessen wie Garnelen. Andererseits erschwert diese Siegelflut auch die Orientierung. Trotz all der guten Sachen kommt manch einer/m – möglicherweise ausgelöst durch den ein oder anderen Skandal, den sich die Lebensmittelindustrie schon geleistet hat – in den Sinn, dass vielleicht nicht alles gleich gut sein könnte und man nicht unbedingt allem vertrauen sollte. Zweifelnde Fragen können aufkommen. Ist das auch wirklich Bio? Wirklich fair? 'Wieviel' Bio kann es denn sein, wenn es von soweit herkommt? Aus Ecuador?! Von einer Chiquita-Plantage?! Kommt der Mehrpreis, den ich zahle, wirklich bei den ProduzentInnen an? Fragen dieser Art sind nicht einfach zu beantworten. Antworten darauf können an vieles geknüpft sein. Manchmal würde es vielleicht vom Produkt abhängen. Würde ich mehr darüber wissen, würde ich möglicherweise zu dem Schluss kommen, dass ich Bananen kaufen möchte, wenn die Rahmenbedingungen stimmen, Garnelen aus Aquakultur aber grundsätzlich ablehne – ob nun Bio oder nicht. Oder es würde mir darauf ankommen, aus welchem Land die Produkte kommen – vielleicht: Garnelen aus Ecuador 'ja', aus Vietnam 'nein'. Da das produkt- und regionalspezifische Wissen, das für solche Entscheidungen erforderlich wäre, im Normalfall nicht verfügbar ist und schon gar nicht für alle Produkte, liegt es nahe, sich grundsätzlich anhand der unterschiedlichen Siegel zu orientieren. Ohne die Kenntnis der Standards, Verfahren und Praktiken, die im Einzelnen hinter den Siegeln stehen, unbedingt vorauszusetzen, sind zwei relativ einfache Orientierungsmuster weit verbreitet und u.a. auch schon während des Ein182 Portraits der Teilfelder kaufs in den Fachgeschäften, z.B. durch Gespräche mit den VerkäuferInnen, erfahrbar. Zum einen geben das EU-Biosiegel und das FLO-I-Fairtade-Siegel Gewissheit, dass die Zertifizierungen nach den gesetzlichen Bestimmungen für Bioproduktion bzw. den international anerkannten Standards für fairen Handel erfolgt sind. Dies bietet den ethisch bewussten KonsumentInnen eine Grundsicherheit gegenüber allen anderen Produkten, die nicht oder mit einem anderen, vermutlich weniger strengen Siegel (mit Verdacht auf 'Green-' oder 'Fairwashing') versehen sind. + - EU-Biosiegel Fair Trade Siegel der FLO-I kein Siegel oder andere Siegel Tabelle 4: einfachstes Orientierungsmuster für ethisch bewusste KonsumentInnen Darüber hinaus können diejenigen, denen das – im Sinne einer ethisch möglichst verantwortungsvollen Kaufentscheidung, die bestenfalls auch nicht budgetgebunden ist – nicht weit genug geht, weiter differenzieren, indem sie, wo verfügbar, nach als strenger bzw. weiter reichend geltenden Zeichen der Bioverbände (z.B. Naturland, demeter) bzw. von ATOs (z.B. BanaFair, gepa) Ausschau halten. ++ Zeichen der Bioverbände Naturland, demeter) + - EU-Biosiegel Fair Trade Siegel der FLO-I kein Siegel oder andere Siegel (z.B. Produkte von Alternativen Handelsorganisationen (z.B. gepa, BanaFair) Tabelle 5: immer noch einfaches Orientierungsmuster für ethisch besonders bewusste KonsumentInnen 183 Kapitel 3 3.1.2 Orte der (Re)Präsentationen der Akteure Abbildung 12: Bio + Fair Milchshake-Rezept aus einem Faltblatt von Naturland (gescannter Auszug eines Faltblatts aus dem Jahr 2010) Gestärkt durch eine doppelt gute, weil leckere und nachhaltige Mahlzeit – im Übrigen eine Mischung aus Convenience (Tiefkühl-Bio-garnelenpizza aus dem Backofen) und mehr oder weniger individueller Kochkunst (Spaghetti mit in Knoblauch gedünsteten Garnelen nach eigenem Gutdünken und ein Bana-nen-Milchshake nach Re-zeptur des Naturland-Fair- Faltblattes aus dem Weltladen) – vertiefen wir zu Hau-se die Suche nach weiterreichenden Informationen über die erworbenen Produkte und die hinter diesen stehenden Zertifizierungssysteme. Eine erste Hilfe sind dabei z.T. die Verpackungen der Produkte, auf denen manchmal (und tendenziell eher in den Fachgeschäften) zusätzlich zu den Siegeln Erläuterungen zu den Produkten und Zertifikaten aufgedruckt sind. So erfahren wir über die getrockneten Bananen aus dem Weltladen: „Ob Kaffee, Tee oder Bananen: in der Regel werden diese Kolonialwaren auf großen Plantagen angebaut, in Monokulturen und unter Einsatz hochgiftiger Pestizide. Doch gibt es Alternativen, z.B. in Ecuador: Einige hundert Bauernfamilien in der Küstenregion bauen auf kleinen Flächen Kakao und Bananen an. Sie verzichten auf den üblichen Giftcocktail und arbeiten nach den Grundsätzen des ökologischen Landbaus: Stärkung der Pflanzen durch Mulchen und Mischkultur, organische Düngung, mechanische Unkrautbekämpfung. Der Genossenschaftsverband UROCAL berät und unterstützt die Bauern. UROCAL hat sich dem Ziel einer nachhaltigen Entwicklung verschrieben und die Ökologisierung der Produktion ist ein wichti- 184 Portraits der Teilfelder ger Schritt dorthin: die Böden bleiben fruchtbar und die Menschen gesund. BanaFair bezieht regelmäßig frische Bio-Bananen von UROCAL. Überschussmengen bei schwankendem Absatz werden durch Trocknung und Weiterverarbeitung aufgefangen. Der Faire Handel durch BanaFair garantiert UROCAL einen stabilen Absatz, bessere Preise und zusätzliche Finanzierungen für soziale und ökologische Verbesserungen. Getrocknete Bananen haben einen ähnlich hohen Nährstoffgehalt wie die frische Frucht. Sie sind ein beliebter Pausensnack und eine ideale Ergänzung für das morgendliche Müsli.“ (Hervorhebungen auf der Verpackung) Dieses (untypischerweise) sehr ausführliche Beispiel weist einige Aspekte auf, die hier festgehalten werden sollen. Erstens erfolgt eine positive Identifizierung mit biologischer Landwirtschaft und fairem Handel, was allein durch den Fettdruck der beiden Schlüsselbegriffe deutlich und durch diesen in den Vordergrund gestellt wird. Gleichzeitig (aber gewissermaßen erst auf den zweiten Blick) werden deutliche Abgrenzungen vorgenommen. So werden Großplantagen und Monokulturen mit giftigem Pestizideinsatz in Verbindung gebracht und Klein- und Mischkulturproduktion als positive Alternativen dem gegenübergestellt. Eine Ökologisierung der Produktion wird als wichtige Komponente für eine nachhaltige Entwicklung angesehen, wobei sowohl ökologische (Bodenfruchtbarkeit) als auch gesundheitliche Argumente aufgeführt werden. Als Vorteile des Fairen Handels werden dessen drei (typischerweise kommunizierten) Hauptkomponenten genannt: mehr Sicherheit beim Absatz (langfristige Handelsbeziehungen), bessere Preise (Mindestpreis) und zusätzliche Finanzmittel für nachhaltige Projekte (Fair Trade-Prämie). Schließlich finden sich – wie bei für die KonsumentInnen unüblichen Produkte üblich – Hinweise, wie das Produkt konsumiert werden kann (Pausensnack, Müslizutat). Auch die Verpackung der Biogarnelenpizza wartet mit einigen Hintergrundinformationen über das Produkt Biogarnele aus Ecuador auf: Obgleich hier keine Fair TradeZertifizierung sowohl vorliegt, ökologische, werden als auch soziale Vorteile der Biogarnele aus Ecuador hervorgehoben. Dabei beschränkt sich die postulierte Wirkung von Bio (+ Fair) nicht nur auf die Herstellungsbetriebe, es wird vielmehr ein regionaler Bezug hergestellt: nicht nur geht es den Tieren (biologisch angebautes und naturnahes FutAbbildung 13: Verpackung einer Biogarnelenpizza (gescannter Auszug) 185 Kapitel 3 ter, keine schädlichen Zusatzstoffe, keine Gentechnik) und den Menschen (faire Arbeitsbedingungen) in den Aquakulturen gut, sondern auch der natürlichen Umwelt der Umgebung und den dort lebenden Menschen („Die umweltschonende Aufzucht schützt die wertvollen Mangrovenwälder Ecuadors.“, womit zudem ein Zusammenhang zwischen Garnelenzucht und Mangroven eingeführt wird; „Unterstützung sozialer Projekte in der Region“). Die Photos – ein überschaubar und natürlich wirkender Garnelenteich, der von einem einzigen, mit einem kleinen Netz fischenden Arbeiter geerntet wird, und sattgrüne Mangroven – verstärken das positive Bild und gewähren einen Blick auf die Produktionsstätte und die natürliche Umgebung. 3.1.3 Bio + Fair im Internet Über diese unmittelbar auf der Verpackung angebrachten Informationen hinaus stehen uns zum einen die mitgebrachten Faltblätter, Postkarten und Zeitschriften zur Verfügung, zum anderen lassen sich durch die Beobachtungen beim Einkauf und anhand der Angaben auf den Verpackungen die Internetpräsenzen verschiedener involvierter Akteure aufsuchen, so z.B. die Seiten der Einzelhandelsläden, in denen wir eingekauft haben (konventionelle Einzelhandelsunternehmen, Weltläden, Biosupermärkte), des Großhandels (gemäß den auf den Verpackungen aufgeführten Marken oder Adressen, z.B. die Marke 'Biopolar' oder die ATOs BanaFair und gepa), der Standard setzenden Organisationen, die hinter den Siegeln stehen (z.B. EUBiosiegel, FLO-I, Naturland), oder der Zertifizierungsfirmen, die die Einhaltung der Richtlinien kontrolliert haben (z.B. IMO als eine der Öko-Kontrollstellen130 oder FLO-Cert GmbH als die einzige Zertifizierungsfirma für das Fairtrade Siegel). Umseitige Tabelle gibt einen Überblick über wichtige Internetseiten und was auf ihnen vorgefunden werden kann. Stellt diese Zusammenstellung auch nur eine Auswahl dar, die problemlos erweitert werden könnte, lassen sich mit ihrer Hilfe jedoch bereits wesentliche Aspekte hinsichtlich der Formen und Inhalte exemplifizieren und erörtern, mit denen die unterschiedlichen Akteurstypen der besiegelten Produkte und der dahinter stehenden Zertifizierungssysteme in Erscheinung treten. Die dadurch vorgenommene Ordnung kann eine weitergehende Orientierung bieten und unterschiedliche Positionierungen der Akteurstypen identifizieren. Dabei sollen anhand ausgewählter Beispiele zunächst die vermittelten Bilder, aufgegriffenen Themen und vorgenommenen Kategorisierungen hinsichtlich der Gemeinsamkeiten von Bio + Fair sowie hinsichtlich interner Abgrenzungen bezogen auf die Grundsätze der Zertifizierungssysteme betrachtet werden. Anschließend wird auf die Problematik eingegangen, wie diese Grundsätze in die unterschiedlichen Standards und Verfahren übersetzt werden, die für die praktische Anwendung der Zertifizierungssysteme ausschlaggebend sind. 130 die wir über die Kontrollstellennummer DE-ÖKO-005 auf der Pizzaverpackung identifizieren 186 Großhandel/Import konventionell Fachgeschäfte Fair www.weltladen.de keine Angaben gefunden Beispiel der (hauptsächlich als 'Buyer' aktiven) 'Fruchtmultis': Chiquita www.chiquita.se/de/de/ Gelima www.biopolar.de, www.oekofrost.de Biopolar (Ökofrost GmbH) neben den durch ihre vertikale Integration auch hier vertretenen Einzelhandelsketten den Markenangaben unserer Verpackungen folgend: Beispiel für Weltläden, die nicht im Dachverband Mitglied sind: www.weltladen-konstanz.de Weltladen Konstanz Beispiel für Mitgliedsläden: www.weltladen-dettingen.de Weltladen Dettingen Weltladen-Dachverband derzeit kein Dachverband [Seiten unabhängiger Bioläden, unser Beispiel: sonnenklar Bio-Markt www.tpsonnenklar.businesscatalyst.com/] - Betonung der positiven Merkmale (Qualität), gleichzeitig politische Positionierung als Alternative zum konventionellen Handel: „ein kleines Stück Weltpolitik“ - Koalition mit der Biolandwirtschaft: „viele [Produkte] stammen bereits aus ökologischer Produktion“ - „nachhaltige Entwicklung“ als in die Alltagspraxis umzusetzende Leitidee 187 - Chiquita: Präsentation des Produktsortiments, - „Hochglanz“ mit Spielen, Filmen und einem professionelKurzinfos zur Zertifizierung durch die Rainforest len Design Alliance, spielerische Elemente - Betonung der Verantwortung des Unternehmens für Menschen und Umwelt - Biopolar/Ökofrost als Fachhändler für Biopro- - Betonung positiver Merkmale, Hervorhebung des ganzdukte: Präsentation des Produktsortiments, der heitlichen Ansatzes (Umwelt & Soziales) Unternehmensphilosophie, kurze Hintergrundinfos zu den Produkten - Präsentation des Sortiments und der Läden - Kundenmagazin „Welt&Laden“ - Grundsätze zum Fairen Handel (Konvention der Weltläden), Informations- und Bildungsarbeit sowie politische Kampagnen als Aktivitäten zusätzlich zur Vermarktung - Infos für Läden und Lieferanten - Betonung der positiven Merkmalen, stärkerer Fokus auf Regionalität und Vielfalt - Positionierung als Fachgeschäfte und als strenger als die gesetzlichen Bestimmungen - Koalition mit den traditionellen Bioverbänden - Ablehnung von Gentechnik als ein Schwerpunktthema - Präsentation des Sortiments an Bio-Produkten und der Märkte - Hintergrundinformationen u.a. zum Bio-Landbau, zu Ernährungsfragen, zur Firmengeschichte und Firmenphilosophie Fachgeschäfte Bio Biosupermarktketten, unser Beispiel: www.alnatura.de Alnatura - Betonung der positiven Merkmale - zentrale Aspekte: Qualität, Vertrauen + Kontrolle (Bio, Fair), Natur + Gesundheit (Bio), Hilfe (Fair) - mehr oder weniger gleichwertiges Nebeneinanderstellen unterschiedlicher Siegel grundsätzlich alle verbreiteten Super- Präsentation des Sortiments an Bio-Produkten marktketten, für die weitere Darstellung: und Fair Trade-Produkten, insbesondere der Eigenmarken Lidl www.lidl,de - Kurzinfos zur Kennzeichnung (Siegel) und Kaufland www.kaufland.de dahinter stehenden Standards REWE www.rewe.de einige typische Merkmale Einzelhandel konventionell Inhalte Auswahl an Internetseiten Akteurstyp Tabelle 6: Übersicht über einige Internetpräsenzen der zentralen Akteurstypen www.banafair.de (inaktiv) www.bio-siegel.de Seite des BMELV www.ec.europa.eu/agriculture/organic/home_de Seite der Europäischen Kommission Kampagne von BanaFair u.a.(Infoflyer aus dem Weltladen) www.makefruitfair.de BanaFair Zertifizierungsfirmen Bioverbände www.flo-cert.net FLO Cert GmbH www.imo.ch unser Beispiel, DE-ÖKO-005 www.oeko-kontrollstellen.de Konferenz der Kontrollstellen KDK unser Beispiel bei Garnelen und Bananen aus Ecuador: www.naturland.de Naturland Internationaler Dachverband: www.ifoam.org IFOAM www.fairtrade-deutschland.de www.fairtrade.net FLO-I Fair FLO-I Trade SieFairtrade Deutschland (TransFair) gel EUBiosiegel gepa ATOs www.gepa.de, fair-plus.de Auswahl an Internetseiten Akteurstyp einige typische Merkmale - Betonung der eigenen Fachkompetenz und Innovationskraft - Positionierung als strenger im Vergleich zu den EUMindeststandards - Vernetzung, Internationalität - Betonung der eigenen Kompetenz - Akkreditierungen, Strenge und Erfahrung als Gütekriterien - Nebeneinanderstellen der verschiedenen Zertifikate, Wahlmöglichkeit nach Wunsch der Kunden - umfangreiche Informationen über die Organisation, Definitionen, Hintergründe und Standards zur biologischen Landwirtschaft - Materialien zu verschiedenen Fachthemen, Verbandszeitschriften (Magazin Ecology&Farming, Naturland International Nachrichten) - Informationen über die Angebote als Dienstleister im Zertifizierungssektor (Zertifizierung, Beratung, Fortbildung) - Angebot zur Zertifizierung aller gängigen Zertifizierungssysteme, inklusive eigens entwickelter Fairtrade-Standards - Informationen über die Tätigkeit als Dienstleister v.a. für Fair Trade Zertifizierung 188 - Betonung der positiven Wirkungen von Fair Trade (Strategie zur Armutsbekämpfung) - Schwerpunkt der Kampagnen auf Marketing, Verbreitung und Verankerung der Fair Trade Marke - Informationen über die Organisation, den Fairen Handel, Produkte, ProduzentInnen und Kampagnen www.fairforlife.net - Betonung positiver Wirkungen der Bio-Landwirtschaft (Natur, Gesundheit, Entwicklung) - Bereitstellung von verschiedenen Infomaterialien, Links zu den Gesetzestexten - umfangreiche Informationen zur biologischen Landwirtschaft und zur Politik der EU in diesem Bereich - umfangreiche Informationen zur Organisation, - Positionierung als traditionelle und strenge ATO zum fairen Handel und dessen internationaler - Abgrenzung von den FLO-I Standards als MindeststanVernetzung dards - Koalition mit Weltläden als Fachgeschäfte für Fair Trade - Vernetzung: Forum Fairer Handel (gemeinsam mit anderen ATOs, Weltläden, Fairtrade Deutschland u.a.) www.forum-fairer-handel.de - Präsentation der Kampagne mit Hintergrundinfos zur Bananen- und Ananasproduktion, Forde- - Positionierung gegen aktuelle Praktiken der Supermärkte und großen Fruchtkonzerne rungen und Lösungsansätzen Inhalte Kapitel 3 3.1.4 Bilder und Themen Abbildung 14: Was ist Fairer Handel? (gescannter Auszug aus einem Faltblatt von Brot für die Welt) Abbildung 15: Vorteile von Bio (gescannter Auszug eines Faltblatts aus einem Biosupermarkt) Es dürfte nicht sonderlich überraschen, dass - wie schon bei den oben aufgeführten Verpackungsbeispielen – insgesamt und über alle Unterschiede hinweg ein positives Bild von den besiegelten Produkten und deren Wirkung auf die Produktions- und Handelszusammenhänge produziert wird. Dabei wird allgemein der biologischen Landwirtschaft eine positive Wirkung auf die Natur und die Gesundheit der (produzierenden, v.a. aber der konsumierenden) Menschen, dem fairen Handel eine solche auf benachteiligte Gruppen im Welthandel (KleinproduzentInnen, ArbeiterInnen) zugeschrieben. Dies zeigt sich zum einen an formelhaften Slogans wie z.B. „Bio. Gut für die Natur, gut für dich“ auf der Homepage der Europäischen Kommission oder komprimierte Aussagen wie z.B. „Der Faire Handel verbessert im Süden Lebens- und Arbeitsbedingungen und bewirkt nachhaltige Entwicklung“ auf der Seite vom 'Forum Fairer Handel'. Zum anderen werden in einführenden Texten oder Übersichten differenziertere Charakteristika und Effekte von Bio + Fair beschrieben bzw. postuliert. So wird von der Europäischen Kommission gleich auf der Startseite der unter besagtem Motto „Bio. Gut für die Natur, gut für dich“ stehenden Internetpräsenz in Aussicht gestellt, zu erfahren, „wie die biologische Landwirtschaft zum Schutz unserer natürlichen Rohstoffe beiträgt, zu 190 Portraits der Teilfelder biologischer Vielfalt und artgerechter Tierhaltung, und inwiefern sie die Entwicklung des ländlichen Raums unterstützt“. „Hauptaussagen“ wie z.B. „Die biologische Produktionsweise trägt zu einer großen biologischen Vielfalt und der Bewahrung von Arten und natürlichen Habitaten bei“, „Die biologische Produktionsweise erfüllt die spezifischen Verhaltensbedürfnisse von Tieren“, oder „Das Wachstum der Biolandwirtschaft schafft mehr Arbeitsmöglichkeiten und Wohlstand für die ländliche Wirtschaft und trägt zur Bewahrung und Verbesserung von ländlichen Gegenden bei“ untermauern diese hier für Bio als Ganzes präsentierten Wirkungszusammenhänge. Der Auszug aus einem Faltblatt des besuchten Biosupermarkts (Abb. 15) verknüpft Bio mit ähnlichen, positiven Eigenschaften und Wirkungsweisen. Die Charakterisierungen beschränken sich in der Regel nicht auf einfache, klar abgrenzbare (und vermutlich auch leichter nachweis- bzw. kontrollierbare) Eigenschaften wie z.B. die im Faltblatt unter dem Stichwort „Verzicht auf Risiken“ aufgeführte Vermeidung von Pestiziden und Gentechnik, sondern greifen sehr komplexe Wirkungsgefüge wie die Bewahrung „unsere[r] Naturgrundlage für künftige Generationen“ oder den Erhalt der Biodiversität auf. Auch bei Fair bezieht sich die Darstellung neben den typischen Hauptmerkmalen, die den Fairen Handel ausmachen, häufig auf komplexe Zusammenhänge, auf die dieser sich positiv auswirken soll (vgl. Abb. 14). So wird der Faire Handel z.B. auf der Seite von Fairtrade Deutschland als „Strategie zur Armutsbekämpfung“ nicht nur bezüglich der zentralen Komponenten (Mindestpreise/-löhne, langfristige Handelsbeziehungen, Prämien für Projekte) vorgestellt, sondern auch als Alternative in einer ansonsten für die Schwachen bedrohlichen Welt: „Warum Fairer Handel? Bauernfamilien und Plantagenangestellte in den so genannten Entwicklungsländern leben unter dem Druck des Weltmarktes, der schwankenden Preise und des ausbeuterischen lokalen Zwischenhandels. Die Folgen reichen von Verschuldung über Arbeitslosigkeit bis zu Verelendung. Alternativen zur angestammten Produktion gibt es häufig nur wenige und diese beinhalten leider auch Drogenanbau, Prostitution, ausbeuterische Kinderarbeit, Flucht in die Elendsviertel der Großstädte oder Emigration. Fairtrade bietet über einer Million Menschen einen Ausweg aus dieser Abwärtsspirale“. Bio + Fair werden in dieser Weise auch häufig zusammen präsentiert, wie z.B. der Beitrag der Kombination aus biologischer Landwirtschaft und fairem Handel zur weltweiten Ernährungssicherung im Rahmen der Kampagne „Öko + Fair ernährt mehr!“ von Naturland und dem Weltladen-Dachverband (vgl. Abb. 1, S.2). So entsteht ein sehr anspruchsvolles Gesamtbild von Bio + Fair, das einerseits gute Argumente für die beiden Initiativen platziert, andererseits auch hohe Erwartungen schafft, an denen sich die besiegelten Produkte messen lassen müssen; zumal dieses Gesamtbild im Allgemeinen mit Bio + Fair als Ganzes assoziiert wird und damit nahelegt, es auch für Teile (wie z.B. für eine große 'biofaire' Bananenmonokulturplantage oder einen biozertifizierter Garnelenzuchtbetrieb) als zutreffend anzunehmen. 191 Kapitel 3 Gestärkt wird dieses den Texten zu entnehmende Gesamtbild durch Photos von ansehnlichen (und wenn nicht durch den Aufkleber eines Siegels, dann mithilfe einer Bildunterschrift als solche ausgezeichneten) Bioprodukten, idyllischen Biobauernhöfen, schönen Landschaften oder von glücklich lächelnden oder freudestrahlenden ProduzentInnen aus 'Entwicklungsländern' (vgl. Abb. 6 und 7, S.5). Letztere werden gerne in Kombination mit Zitaten der abgebildeten Personen präsentiert, die eine der positiven Wirkungen oder das Gute des Fairen Handels im Allgemeinen zum Ausdruck bringen sollen. Abbildung 16: Zitat einer Produzentin in einer Broschüre des Fairen Handels (Auszug aus einem Faltblatt von 'GEPA – The Fair Trade Company') Sieht man von den einzelnen Charakteristika ab, die für die jeweils behaupteten positiven Wirkungen auf Natur und Menschen im Detail aufgeführt werden – wie z.B. Mischkulturanbau oder mechanische Unkrautbekämpfung beim Anbau von Biobananen (Verpackungsinformation BanaFair) oder Mindestpreise für ProduzentInnen im Fairen Handel –, stehen die Darstellungen eines positiven Gesamtbilds, die im Bereich des ethischen Handels bemüht werden, denen von Bio + Fair in nichts nach. Auch hier wird ein rücksichtsvoller Umgang mit der Umwelt und die Wahrnehmung sozialer Verantwortung gegenüber den Beschäftigten angepriesen. 192 Portraits der Teilfelder So eröffnet z.B. ein Blick auf die Homepage von Chiquita folgende Selbstverständlichkeit: „Es versteht sich von selbst, dass wir uns gegenüber Mensch und Umwelt verantwortungsbewusst verhalten. Deshalb wurden all unsere Bananenplantagen so verbessert, dass sie die strikten Kriterien der Rainforest Alliance™ erfüllen. Als Symbol unseres Zertifikats finden Sie den Rainforest Alliance-Frosch auf all unseren Bananen“131. Durchforstet man die Internetpräsenz des Fruchtriesen, erfährt man hauptsächlich, was Chiquita alles für Wälder, Wasser, Recycling und seine MitarbeiterInnen tut – und sei es spielerisch, indem man lernt, dass es eine schlechte Entscheidung ist, Palmen mit einer Motorsäge zu fällen (vgl. das Spiel auf chiquita.de). Der offensive Umgang mit Themen der Unternehmensverantwortung für Mensch und Natur und der Verweis auf die Zertifizierung sämtlicher Plantagen mit einem darauf ausgerichteten Zertifikat legen nicht unbedingt nahe, dass der Name Chiquita gleichzeitig auf der Titelseite der von BanaFair mitinitiierten Kampagne 'Make Fruit Fair!' auftaucht, von der wir eine Postkarte aus dem Weltladen mitgenommen haben und die sich an die großen Fruchtkonzerne und Supermarktketten richtet mit der Aufforderung, durch ihre Vormachtstellung in den Warenketten von Bananen und Ananas dafür zu sorgen, von ihnen mitverantwortete Missstände im Umgang mit ArbeiterInnen sowie im Umweltschutz zu beseitigen: „Warum eine Kampagne zu Bananen und Ananas? Bananen sind die am meisten gehandelten Früchte der Welt. Der Welthandel mit Ananas wächst sehr schnell, jede zweite Ananas wird zur Zeit für den Export angebaut. Bananen- und Ananasbeschaffungsketten sind sich sehr ähnlich, die Früchte wachsen in denselben Produktionsländern und werden von denselben multinationalen Fruchtunternehmen gehandelt. Die Verletzung von Arbeitsrechten und mangelhafter Umweltschutz gibt es zunehmend sowohl in der Bananen- als auch in der Ananasindustrie“132. Abbildung 17: Postkarte der Kampagne "Make Fruit Fair!" (aus dem Weltladen mitgenommen) 131 Zitat von chiquita.de, 19.03.2013, Hervorhebung SD 132 Zitat von makefruitfair.de, 19.03.2013 193 Kapitel 3 Abbildung 18: „Für freie Gewerkschaften!“ (Screenshot der Titelseite von makefruitfair.de vom 19.03.2013; Abb.17+18: s.a. http://makefruitfair.de/copyright) Angesichts der allseits anzutreffenden Bekenntnis zu ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit fällt es ohne weiteres Wissen über Unterschiede der einzelnen Programme und darüber, was diese Unterschiede möglicherweise in der Praxis bedeuten könnten, schwer, Gemeinsamkeiten und Unterschiede oder Schein und Sein in der Reichweite der verschieden besiegelten Produkte zu beurteilen. Kritische Stimmen wie die 'Make Fruit Fair!'-Kampagne, von der wir durch unseren Besuch im Weltladen erfahren haben, verweisen auf die Möglichkeit, dass es nicht nur Unterschiede darin geben könnte, wie gut oder um wie viel besser die besiegelten Produkte gegenüber ihren konventionellen Ebenbildern sind, sondern auch bezweifelt werden darf, inwieweit die behaupteten guten Eigenschaften überhaupt in den Praktiken der Produktion und des Handels, auf die sie sich beziehen, wiederzufinden sind. Zweifeln daran, ob auch wirklich drin ist, was drauf steht, wird in der Regel mit Verweisen auf strenge Kriterien und unabhängige Kontrollen begegnet. Manche Handelsfirmen oder Standard setzende Organisationen, denen das Standardargument einer 'Third-Party-Certification' durch nach internationalen Standards akkreditierte Kontrollstellen nicht weit genug reicht, haben als zusätzlichen vertrauensbildenden Service Konzepte eingeführt, durch die sich mittels einer auf dem Produkt bzw. seiner Verpackung aufgeführten Nummer oder anhand der Herkunftsangaben (z.B. 'getrocknete Bananen der Kooperative Apro-Verde aus Brasilien') übers Internet der konkrete Herstellungsbetrieb ermitteln lässt (bio-mit-gesicht.de von Naturland und anderen in Kooperation mit dem Forschungsinstitut für biologischen Landbau FiBL) oder man Kontakt mit einer/m der ProduzentInnen aufnehmen kann (z.B. der 'Weltweit-abHof'-Globus auf gebana.com, der Seite einer Nachfolgeorganisation der 'Bananenfrauen' aus Frauenfeld). 194 Portraits der Teilfelder Fragen nach der Reichweite der Praktiken einzelner Akteure und der hinter den Siegeln stehenden Programme (Standards und Verfahren) werden in der Regel dadurch aufgegriffen, dass die jeweils positiven oder noch positiveren Eigenschaften des jeweiligen Akteurs oder Programms benannt werden. Selten geht dies mit einer Kritik weniger strenger Akteure oder Programme einher, die sich der gleichen positiven Grundbotschaft bedienen. Bevor die Standard setzenden Organisationen als diejenigen, die die Programme entwickeln und definieren und sich in ihrer Außendarstellung sowohl durch Betonung der absoluten Strenge ihrer Kriterien als auch durch deren relative Strenge im Vergleich zu konkurrierenden Programmen positionieren, näher betrachtet werden, lassen sich auf der Ebene des Großund Einzelhandels einige Besonderheiten hinsichtlich des Umgangs mit Gemeinsamkeiten, Unterschieden, Kritiken und entsprechenden Positionierungen dazu beobachten Positionierungen von Bio, Fair und 'ethischem Handel' im konventionellen Einzelhandel Typisch für den konventionellen Einzelhandel ist die positive Darstellung aller besiegelten Produkte, die nicht selten 'in einem Atemzug' unter dem Begriff 'nachhaltig' aufgeführt werden, ohne etwaige Unterschiede hinsichtlich der Reichweite einzelner Programme zu differenzieren. Eine solche 'Nebeneinanderstellung' bedient sich der allen gleichen positiven Grundbotschaft. Ein gutes Beispiel hierfür ist die unter dem Motto „Auf dem Weg nach Morgen“ stehende Präsentation der 'nachhaltigen' Schokolade von Lidl, bei der Produkte mit Zertifizierungen von Fairtrade (alternativer Handel), Rainforest Alliance und UTZ certified (ethischer Handel) unter dem Titel „Schokolade mit 100% nachhaltig angebautem Kakao“ in einer Reihe stehen (vgl. Abb 20). In der Regel werden die einzelnen Siegel, die im Sortiment vertreten sind, kurz beschrieben, und für weitergehende Informationen wird Internetseiten der auf die Standard setzenden Organisationen verwiesen (vgl. Abb. 19). Abbildung 18: Beschreibung des Fairtrade-Siegels mit Link zur Standard setzenden Organisation (Screenshot von www.kaufland.de [20.03.2013]) 195 Kapitel 3 Abbildung 20: 'Nachhaltige' Schokolade (Screenshot von lidl.de [20.03.2013]) 196 Portraits der Teilfelder Einzelne Handelsketten sind, obwohl keineswegs frei vom Phänomen der 'Nebeneinanderstellung', differenzierter hinsichtlich der Reichweite einzelner Programme. So koaliert die Kette REWE mit dem Bioverband Naturland, indem sie verstärkt Naturland-zertifizierte Produkte in ihrem Sortiment führt und den Verband als „starken Partner“ präsentiert, dessen Richtlinien „weit über EU-Standard“ liegen. In einer eigens zusammengestellten Broschüre als „Leitfaden durch die Welt der Siegel“ werden diese einerseits alle als positiv dargestellt (also z.B. EU-Bio „Im Einklang mit der Natur“), andererseits die relativen bzw. zusätzlichen Stärken einzelner Programme wie dem von Naturland hervorgehoben. Die inhaltlichen Angaben, insbesondere die verwendeten Slogans und Attribute geben dabei meist die Kernaussagen und Positionen der Standard setzenden Organisationen selbst wieder. So ist „Bio. Im Einklang mit der Natur.“ einer der offiziellen Slogans der EU-Kommission. Naturland hebt neben seiner Strenge insbesondere auch seine Internationalität und Innovationskraft hervor, was sich in der Broschüre in Formulierungen wieder findet wie z.B.: „Weltweit ein Höchstmaß an Vertrauen“ oder „[Naturland] hat als erster Öko-Verband Sozialstandards eingeführt, die für alle Mitgliedsbetriebe verbindlich sind“ (Zitate von REWE 2012133). Positionierungen von Bio + Fair im alternativen Groß- und Einzelhandel In der Sphäre des alternativen Groß- und Einzelhandels und der dort zugänglichen Informationen sind anstelle der mehr oder weniger differenzierten 'Nebeneinanderstellungen' des konventionellen Handels deutlichere Abgrenzungen und Positionierungen bestimmter Programme und Akteure zu finden. Dabei ist das Hauptmotiv allerdings ebenfalls die Betonung des Positiven, indem herausgestellt wird, was an Verbands-Bio oder ATO-Fair noch strenger oder besser ist. Kritische Stimmen, wie sie ansatzweise im Beispiel der 'Make Fruit Fair!'-Kampagne anklingen, die bestimmte Trends innerhalb von Bio + Fair und auch bezüglich des ethischen Handels in Frage stellen, kommen dabei kaum an die Oberfläche. Dass Verbands-Bio strenger als EU-Bio ist, ist bereits bei einigen der konventionellen Handelsketten deutlich geworden. Orientierende Gespräche in Biofachgeschäften bringen diese Unterscheidung meist ebenfalls zu Tage. Entsprechend positionieren sich die Fachgeschäfte damit, dass sie bevorzugt diese 'strengeren' Produkte führen, so z.B. eine der Bio-Supermarktkette Alnatura: „Alnatura Qualität: Gesetzlich vorgeschrieben sind mindestens 95 Prozent, bei unseren rund 1.000 Alnatura Produkten weisen alle landwirtschaftlichen Zutaten eine Bio-Herkunft vor. Viele Produkte tragen zusätzlich das Siegel eines anerkannten ökologischen Landbauverbandes wie Bioland, Demeter oder Naturland“ (Auszug aus einer der in einem Biosupermarkt mitgenommenen Broschüren) Ähnliche Positionierungen sind auch im Bereich des Fairen Handels auszumachen, insofern dass hier die zusätzlichen Leistungen der Weltläden (Informations- und Kampagnenarbeit) gegenüber dem konventionellen Einzelhandel bzw. Alternativer Handelsorganisationen (100% 133 Broschüre: „REWE setzt Zeichen. Ein Leitfaden durch die Welt der Siege, Labels und Testurteile“: http://www.rewe.de/besser-leben/rund-um-produkte/guetesiegel/guetesiegelbroschuere.html [26.03.13] 197 Kapitel 3 fair gehandelte Produkte, zusätzliche Beratung, Förderung und politische Arbeit) gegenüber konventionellen Lizenznehmerinnen betont werden. Neben Slogans, die auf die Fachkompetenz und Originalität hinweisen (z.B. „Weltladen. Fachgeschäft für Fairen Handel“, „BanaFair. Das Original.“ oder „gepa fair+: Mehr als Fair! Fairer Handel ist unsere Leidenschaft. Dabei gehen wir häufig über Standards hinaus.“), zeigt sich dies z.B. in einer Initiative der ATO gepa in Kooperation mit den Weltläden, durch die gepa ein exklusiv für die Weltläden aufgestelltes Sortiment unter dem Motto 'Weltladen Exklusiv' bereitstellt. Dass solche Abgrenzungen und Positionierungen nicht immer nur ein harmonisches Nebeneinander von gut und besser oder fair und fairer darstellen, zeigt der im Sommer 2012 gefasste Be-schluss der gepa, auf vielen ihrer Produkte das Fairtrade-Siegel nicht mehr abzubilden, sondern nur noch auf den eigenen Namen (und die damit verbundene Qualität) zu setzen134. Die gepa selbst begründet diesen Schritt, indem sie die positiven Merkmale und den Mehrwert der eigenen Marke gegenüber den (Mindest-)Standards von Fairtrade hervorhebt (z.B. die Fokussierung auf KleinproduzentInnen-Organisationen durch langfristige Beziehungen, intensive und umfassende Beratung sowie die Integration neuer KleinproduzentInnen-Gruppen) und sich als Pionierin des Fairen Handels gegenüber den neuen Akteuren abgrenzt, die nur Mindestkriterien festlegen (FLO-I) oder nur einen Teil ihres Sortiments gemäß diesen Kriterien anbieten (konventioneller Einzelhandel). Abbildung 21: „Warum tragen jetzt viele GEPA-Produkte kein Fairtrade-Siegel mehr?“ (Screenshot: FAQs 'GEPA-The Fair Trade Company' auf gepa.de [30.3.2014]) 134 was andere ATOs wie z.B. auch BanaFair längst so praktizieren 198 Portraits der Teilfelder Während diese Strategie in einer Stellungnahme des Weltladen-Dachverbandes e.V. begrüßt wurde, äußerte der siegelvergebende TransFair Verein zur Förderung des Fairen Handels mit der "Dritten Welt" e.V. (Fairtrade Deutschland) als Mitglied der Standard setzenden Organisation FLO-I sein Bedauern über diesen Schritt, da dieser den eigenen Bestrebungen nach einem einheitlichen Wachstum des Fair Trade-Marktes und der Vertrauensbildung gegenüber den KonsumentInnen entgegenläuft. In einem Statement des Vereins135 werden zum einen die Stärken des eigenen Programms herausgestellt, „einem transparenten internationalen System, das auf einem stabilen Fundament aus fairen Preisen, Förderung und Beratung für die Produzentenorganisationen sowie der unabhängigen Kontrolle durch Dritte besteht. Die weltweite Fairhandelsbewegung wurde mit dem Entstehen des Fairtrade-Systems vor 20 Jahren und dem Engagement zahlreicher Engagierter in vielen nationalen und internationalen Organisationen verstärkt. Die Siegelinitiative hat sich mit ihrem Multistakeholder-Ansatz zu einem weltweiten, transparenten und kohärenten System entwickelt, bei dem die Produzentenvertreter 50 Prozent Stimmanteil an allen Entscheidungen haben und das von einer breiten zivilgesellschaftlichen Basis getragen wird. Wachsende Mitgliederzahlen im globalen Süden und die zunehmende Einsicht von Unternehmen in den Konsumentenländern, sich stärker für soziale Aspekte in der Wertschöpfungskette einzusetzen, führen zu kontinuierlich zunehmendem Erfolg, steigender Bekanntheit und Vertrauen in das Siegel.“ Zum anderen wird das angestrebte Wachstum der Bewegung als Voraussetzung dafür gesehen, Breitenwirkung erzielen und die umfassenden Leistungen (Gewährleistung der Fair Trade-Kriterien wie Mindestpreise /-löhne oder Fair Trade-Prämie, sowie Beratung der ProduzentInnen und ArbeiterInnen) zu gewährleisten: „Der Faire Handel tritt zunehmend aus der Nische, doch um einen signifikanten Beitrag zur Armutsbekämpfung leisten zu können, muss er weiter wachsen. Für einen starken Auftritt am Markt ist es wichtig, dass die Fairhandelsakteure am selben Strang ziehen. Dazu gehört auch, nach außen hin bestehende Kriterien und Ziele einheitlich zu kommunizieren und dies auf nationaler wie auf internationaler Ebene zu tun. Sich gegenseitig zu stützen und zu unterstützen, sehen wir als wichtige Chance, den Fairen Handel als Ganzes weiter zu etablieren und seinen Erfolg auszubauen. Nach wie vor sieht sich der Faire Handel mit großen Herausforderungen konfrontiert, die mit gebündelten Kräften gemeistert werden wollen. […] TransFair arbeitet in Deutschland dafür, Marktzugänge zu schaffen und Absatzmöglichkeiten auszubauen. Fairtrade ermöglicht inzwischen über 1,2 Millionen Bäuerinnen und Bauern, Arbeiterinnen und Arbeitern bessere Arbeits- und Lebensbedingungen. Einerseits durch gerechte Mindestpreise, Fairtrade-Prämien und BioZuschläge sowie durch Richtlinien zu Gesundheits- und Umweltschutz und Arbeitnehmerrechten. Andererseits durch gezielte Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen. Weltweit arbeiten 52 Fairtrade-Berater in den Herstellerländern, um Produzentenorganisationen bestmögliche Unterstützung zu bieten: Sie organisieren Fortbildungen zu Qualitäts- und Risikomanagement, zu Vertragsverhandlungen und Buchhaltung, zu Produktivitäts- und Umweltverbesserung. Diese Kapazitäten gibt es, weil Fairtrade eine global agierende Bewegung ist, die Synergien nutzen und Kräfte gebündelt einsetzen kann.“ Demgegenüber wird die Entscheidung der gepa als „Marketingstrategie“ und „unternehmerische[s] Anliegen, sich gegenüber anderen Anbietern abzugrenzen“, eingestuft, die den gemeinschaftlichen Bestrebungen der Fair Trade-Bewegung entgegenläuft. Eine Debatte über die Inhalte des Programms Fair Trade wird aufgrund einer äußeren Bedrohung – dem Verlust 135 heruntergeladen von www.fair-rhein.de/fairer-handel/ [20.03.2013] 199 Kapitel 3 des Vertrauens der KonsumentInnen – nicht gewünscht: „Wir halten daher die neue Markenstrategie der gepa nicht für hilfreich und den Zeitpunkt in jedem Falle für verfrüht. Denn es ist zu befürchten, dass Verbraucherinnen und Verbraucher negative Konsequenzen aus einer „fairer als fair“-Diskussion ziehen könnten und sich frustriert von fairen Handelsalternativen abwenden. Statt Synergien zu nutzen wird die Kraft des Fairen Handels geschwächt.“ Dieser disziplinierende Appell, der um den Zusammenhalt der Fair Trade-Initiative bemüht ist, lässt mit seiner Unterordnung einer inhaltlichen 'fairer als fair'-Diskussion unter die Abgrenzung der Initiative nach außen die Frage zu (und offen), inwieweit eine Reduzierung des Schritts der gepa, das einheitliche Siegel nicht mehr zu nutzen, auf eine unternehmerische Marketingstrategie dem Wesen einer Organisation gerecht wird, die den Fairen Handel (und Fairtrade Deutschland) mit aufgebaut hat, als deren Unternehmensziel die Förderung des Fairen Handels ausgeschrieben ist und die ihre Gewinne in den Fairen Handel reinvestiert. Diese kleine Dissonanz an der Oberfläche von Fair Trade deutet auf Spannungen innerhalb des Fair Trade-Netzwerkes betreffend der Ausrichtung der Bewegung zwischen Tiefen- und Breitenwirkung hin. Dabei bestehen diese Spannungen nicht nur dahingehend, dass manchen Akteuren das Programm der FLO-I nicht mehr weit genug geht. Auf der anderen Seite scheint sich das fair labelling network auch gegen eine zu starke bzw. noch stärkere Annäherung des Programms an konventionelle Praktiken zu wehren. Das wohl auffälligste Ereignis, das darauf hindeutet, ist die Trennung der nationalen FLO Fairtrade USA von der FLO-I seit Anfang 2012 aufgrund von Differenzen in der strategischen Ausrichtung, in deren Kern die Absicht von Fairtrade USA steht, mehr Wachstum durch weniger strenge Standards (geringerer Fair Trade-Anteil in Mischprodukten, Plantagenzertifizierung bei Kaffee) zu erzielen. Nähere Informationen dazu muss man suchen, auf den Seiten der FLOs ist außer Äußerungen des Bedauerns und oberflächlichen Erklärungen wenig dazu zu finden, möglicherweise aufgrund ähnlicher Befürchtungen bezügAbbildung 22: Statement von Fairtrade USA zum Austritt aus der FLO-I (Screenshot FAQ fairtradeforall.com[20.03.13, Seite mittlerweile aufgelöst]) lich der Wirkung auf KonsumentInnen wie sie im oben skizzierten 'gepa-Fall' geäußert werden. Im Archiv der Rubrik „Aktuelles“ der Homepage der ATO el puente fin- det sich eine der wenigen Spuren, die dieses Ereignis hinterlassen hat, die ein wenig ausführlicher auf den Kontext eingeht und in der auch eine Stellung bezogen wird, die die Beibehaltung der Strenge durch die FLO-I begrüßt, eine Vereinheitlichung von Standards nur auf hohem Niveau begrüßt und damit indirekt das Vorgehen von Fairtrade USA kritisiert: 200 Portraits der Teilfelder „Nach 12-jähriger Mitgliedschaft beenden Fair Trade USA und die Fair Trade Labelling Organisation International (FLO) ihre Zusammenarbeit. Fair Trade USA möchte mit diesem Schritt eine neue Strategie verfolgen, die veränderte Standards bei der Zertifizierung von Fair Handels-Produkten beinhaltet. Von Januar 2012 an, will die Siegelinitiative ihre eigene Zertifizierung von Produkten durchführen und so den Verkauf von Fair Trade-Produkten in den Vereinigten Staaten bis 2015 verdoppeln. Kernpunkte sind dabei die Ausweitung der Zertifizierungsstandards auf Plantagenkaffees sowie die Maßstäbe bei der Auszeichnung von Mischprodukten. 25% Fair Trade-Anteil in Mischprodukten – auch wenn es fair gehandelte Alternativen gibt? Ein Kernpunkt der neuen Strategie von Fair Trade USA sind die Maßstäbe bei der Zertifizierung von Mischprodukten. Mischprodukte, die einen Fairhandels-Anteil von 10% aufweisen, sollen durch die neue Initiative mit dem „Fair Trade Certified – Ingredients“ -Siegel ausgezeichnet werden. Produkte, die hingegen 25% aufweisen, bekommen das „Fair Trade Certified“-Siegel. Bei FLO-zertifizierten Produkten liegt die Grenze der gesiegelten Produkte bei 20%, darüber hinaus müssen gesiegelte Zutaten verwendet werden, wenn verfügbar. Bei der Zertifizierung von FT USA fehlt jedoch dieser entscheidende Zusatz. Nach den jetzigen Maßstäben reichen künftig 10% bzw. 25% aus, auch wenn darüber hinaus Fair Trade-Zutaten verfügbar wären. Kann also ein Schokoriegel das Siegel tragen, obwohl kein fair gehandelter Kakao enthalten ist, weil 25% fair gehandelter Zucker verarbeitet wurde? Das würde bedeuten, dass der Schokoladenriegel eine Fair-Trade-Kennzeichnung trägt, obwohl beim Kakaoanbau möglicherweise Kinder ausgebeutet werden? Zertifizierung von Plantagen-Kaffee Ein anderer wesentlicher Aspekt der neuen Zertifizierung durch Fair Trade USA sind die veränderten Standards, die die Ausweitung auf Plantagen-Kaffees betreffen. Von FLO werden bisher nur Kaffees aus kleinbäuerlicher Landwirtschaft zertifiziert. FT USA will nun die bereits bestehenden Standards für Tee-, Bananen- und Blumenplantagen auch auf Kaffee sowie langfristig auf Zucker und Kakao ausweiten. Jedoch sind besonders Kleinbauern von den Schwierigkeiten im konventionellen Welthandel betroffen und im Wettbewerb mit großen Plantagen benachteiligt. Das wichtigste Ziel sollte es sein, den benachteiligten Produzenten einen Marktzugang zu ermöglichen. Die geplante Zertifizierung von Plantagen-Kaffees lässt viele Fragen offen. Was genau werden die neu entwickelten Standards für Kaffeeplantagen beinhalten? Wie kann gewährleistet werden, dass die Fair TradeStandards auf Kaffeeplantagen umgesetzt werden? Ist es möglich, demokratische Strukturen auf einer Kaffeeplantage zu etablieren? Und wird es in Zukunft auch in Deutschland zertifizierten Plantagenkaffee bei Unternehmen wie Starbucks zu kaufen geben? Fair Trade USA hat zu Recht kritisiert, dass FLO sehr unterschiedliche Maßstäbe ansetzt: Kleinbauern bei Kaffee, große Privatfirmen bei Tee und Blumen. Fair Trade USA fordert einheitliche Maßstäbe. Wir meinen: Aber bitte nicht auf unterstem, sondern höchstem Niveau!“ (Hervorhebungen auf der Internetseite)136 Ebenfalls kritisiert wurde das Vorgehen von Fairtrade USA von ProduzentInnenorganisationen, z.B. von der Vertretung der lateinamerikanischen Coordinadora Latinoamericana y del Caribe de Comercio Justo (CLAC), in der auch UROCAL vertreten ist137. 136 http://www.el-puente.de/lilac_cms/de/66,373ffccb8f7798b8926b09abcd7a86d0,news,news_details,2,435/News-undAktuelles/Aktuelles/Entwicklungen-im-Fairen-Handel.html [20.03.13] 137 http://clac-comerciojusto.org/media/descargas/clac-communique-on-the-ft-situation-in-the-usa-pdf-2012-04-02-11-3254.pdf [20.03.13] 201 Kapitel 3 Leichter als bei Netzwerk-internen Auseinandersetzungen fällt die Abgrenzung strengerer Standards dagegen, wenn es um die Profilierung des Fairtrade-Siegels gegenüber anderen Zertifikaten, insbesondere solchen aus dem ethischen Handel geht. Ein vom Forum Fairer Handel e.V. (Mitglieder u.a. Fairtrade Deutschland, Naturland, BanaFair, gepa und el puente) herausgegebenes Faltblatt mit dem Titel „Fair oder nicht Fair? Drei Gütesiegel- und KodexSysteme im Vergleich mit dem zertifizierten Fairen Handel“138, das die Ergebnisse einer in Auftrag gegebenen Untersuchung wiedergibt, kommt beim Vergleich des Fairtrade-Siegels mit den Programmen der Rainforest Alliance, der 4C-Initiative im Kaffeesektor und des Hand-inHand-Systems des Bio-Lebensmittel-Herstellers Rapunzel Naturkost AG zu dem Schluss, dass der „zertifizierte Faire Handel nach FLO-Kriterien […] einzigartig [ist] in seiner Bedeutung für die Produzenten, da er ihnen neben ökologischen und sozialen Aspekten vor allem ökonomische Vorteile bringt.“ Am Beispiel der Rainforest Alliance wird gezeigt, dass deren Schwerpunkt auf Umweltkriterien liegt, diese aber nicht so weit reichen wie die EU-Bio-Richtlinien, und dass sich Vorteile für die ProduzentInnen vor allem im ökologischen Bereich finden, ihnen aber keine Mindestpreise zugesichert werden: „RA Produkte sind von daher weder fair noch bio“ (vgl. Abb.23). Stellen derlei Abgrenzungen und Positionierungen – die zwar zugänglich sind, jedoch eines gewissen Suchaufwands oder geübten Blicks bedürfen – einerseits erste raue Stellen der sonst sehr glatten Oberfläche der Präsentationen besiegelter Produkte des alternativen und ethischen Handels dar, so liegt ihr Schwerpunkt andererseits weiterhin in der positiven Herausstellung der eigene Position, ohne dabei sonderlich offen Kritik an anderen Programmen oder Positionen zu äußern. Kritische Stimmen zu Bio + Fair Die Lektüre der Zeitschriften, die wir im Weltladen erworben haben, offenbart schließlich einen Einblick in Positionen, die Veränderungen bei Bio + Fair, einzelnen Zertifikaten oder insgesamt den Bio + Fair-Zertifizierungen kritisch bis ablehnend gegenüberstehen. Bei den drei Beiträgen, die hier aufgegriffen werden sollen, handelt es sich um Artikel, in denen ProduzentInnen oder vom Produktionsprozess Betroffene direkt oder indirekt zu Wort kommen. Zwei Artikel in der Ausgabe Nr.38/Juli 2008 der Zeitschrift Südzeit – „Bananen: Der steinige Weg zum Erfolg“ (Helge Fischer, BanaFair, Perú), und „Wie fair ist der Faire Handel?“ (Martin Lang, Inforeferent der Fairhandelsgenossenschaft dwp) – befassen sich kritisch mit der Rolle großer Fruchtkonzerne im Handel mit bio- und fair-zertifizierten Produkten bzw. der FLO-I als Standard setzende Organisation bei der Einführung neuer Standards für Plantagen. Die beiden Autoren, langjährige Mitarbeiter von ATOs, geben dabei ihre eigenen Erfahrungen und Stimmen von KleinproduzentInnen aus Perú bzw. Südafrika weiter und generieren eine pessimistische Lesart des Wachstums von Bio + Fair durch die Integration neuer Akteurstypen. 138 http://www.forum-fairer-handel.de/webelements/filepool/site/Publikationen/flyer_standard_2009_2.pdf [ 20.03.2013] 202 203 Kapitel 3 Helge Fischer (2008) berichtet von den Versuchen des peruanischen KleinproduzentInnenverbunds CEPIBO, in den Exportmarkt für Bio + Fair-Bananen einzusteigen. Die Kooperation mit der ATO BanaFair eröffnete prinzipiell diese Perspektive, so wird der CEPIBO-Vorsitzenden José Lecarnaqué zitiert: „Der Fairtrade in Perú ist besonders für die Bananen-Kleinproduzenten der Beginn einer neuen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung. Dadurch konnten wir auf Regierungsentscheidungen Einfluss nehmen, weil wir als Organisation stärker geworden sind. Der Fairtrade hat uns unsere Hoffnung auf ein besseres Leben zurückgegeben“ (FISCHER 2008:16) Diesem Ansatz wird als größtes Hindernis der „Fruchtmulti DOLE“ als mächtiger Gegenspieler und größter Exporteur von Bio-Bananen aus Perú gegenübergestellt, der „sich ab 2001 anschickte, Herr über Export, Produktion und Produzenten zu werden. Dazu hatte DOLE geschickt die Chancen eines staatlichen Förderprogramms für den Bio-Anbau im Chira-Tal genutzt. Nach einer Landreform 1969 und dem späteren Scheitern von Kooperativen, woran die Abhängigkeit von fremden Exportunternehmen einigen Anteil hatte, waren die individuellen Anbauflächen durch Parzellierung und Erbteilung auf einen halben bis eineinhalb Hektar geschrumpft. DOLE ließ die meist analphabetischen Bauern Lieferverträge mit ihnen oft unbekanntem Inhalt unterschreiben, mit denen sie sich auf Gedeih und Verderb dem Multi auslieferten. Wer Vertragsverhandlungen oder bessere Preise forderte, wurde von DOLE boykottiert.“ (FISCHER 2008:16) Diese böswillige Dominanz des großen Käufers, dem Anti-Held des alten alternativen Handels, wird nun weitere Macht verliehen, dadurch dass er von der FLO-I die Möglichkeit bekommt, in den Fairen Handel einzusteigen und direkten Einfluss auf die Fairtrade-Kooperativen auszuüben: „Noch schwieriger wurde die Situation, als DOLE von der Fair Labelling Organisation FLO eine Lizenz bekam und Fairtrade-Bananen aus Perú exportieren konnte. 'DOLE förderte die Spaltung oder Umorganisierung von Produzentenorganisationen nach eigenem Gutdünken und Vorteil, unter dem Vorwand, das wäre für den Fairtrade notwendig', bemängelt Lecarnaqué.“ (FISCHER 2008:16) CEPIBO und BanaFair arbeiten deswegen daran, dass CEPIBO eigenständiger Fair TradeExporteur werden kann, um Abhängigkeiten sowie festgefahrene und subtile Ausbeutungsmechanismen gegenüber einem Käufer wie Dole zu vermeiden. Der Artikel endet mit einem Appell an die Standard-SetzerInnen des Fairen Handels: „Der Verband weiß, dass es im Exportgeschäft viele Risiken gibt. Aber ein Risiko kann man vermeiden und das muss der Faire Handel selbst tun. Darum bittet CEPIBO darum, dass kein Kleinbauernverband mehr ohne eigenes Betriebskapital einem Multi-Milliardärs-Unternehmen wie DOLE als Fairtrade-zertifiziertem Konkurrenten entgegentreten muss.“ (FISCHER 2008:17) Auf ähnliche Weise beklagt Martin Lang (2008), wie neue Standards der FLO-I im Bereich des Rooiboshandels „eine beispielhafte Erfolgsgeschichte in Südafrika“ gefährden. Durch die von der FLO-I im Jahr 2007 beschlossene Ausweitung des Fairen Handels mit Rooibos auf Großplantagen und einer damit einhergehenden Festlegung eines Mindestpreises für dieses Pro- 204 Portraits der Teilfelder dukt treten die bis dahin exklusiv zertifizierten KleinbäuerInnenkooperativen 'Heiveld' und 'Wupperthal' in eine für sie nachteilige Konkurrenz zu den großen Plantagen. Bemängelt wird, dass im Vorfeld der Entscheidung schriftlich mitgeteilte Bedenken der Kooperativen an die FLO-I unbeantwortet blieben, dass ein Mindestpreis für die Kooperativen aufgrund von lagebedingten Ernteschwankungen kein adäquates Instrument darstelle (sondern der Preis immer wieder neu verhandelt werden müsse), dass die Wettbewerbsvorteile der Plantagen u.a. auf dem niedrigen Lohnniveau basieren, an dem auch die neuen Fair Trade-Standards kaum etwas ändern würden, und dass der Einstieg des Fairen Handels in die Plantagenproduktion eine Entwicklung störe, in deren Zuge sich viele PlantagenarbeiterInnnen als KleinproduzentInnen im Rahmen der Kooperativen selbständig machen wollten. Kernpunkt der Kritik ist demnach, dass eine „neue Konkurrenzsituation“ innerhalb des Fairen Handels entsteht, die sich nachteilig auf die alte Zielgruppe der KleinproduzentInnen auswirkt, ohne signifikante Verbesserungen für die ArbeiterInnen der Plantagen zu bringen. Der Beitrag endet mit dem persönlichen Kommentar: „FLO hat für mich damit weiter an Glaubwürdigkeit verloren, und ich frage mich, ob kurzfristige Umsatzsteigerungen wichtiger sind, als die Zukunft derer, für die wir den Fairen Handel in langen Jahren aufgebaut haben. Ich fordere die FLO und seine Mitgliedsorganisationen auf, die unglückliche Entscheidung zu revidieren und sich den angerichteten Schaden vor Augen zu halten. Ein Vertreter von Heiveld teilte mir dieser Tage mit, dass die Kleinbauern bereits ihre ersten Kunden – mit Begründung auf die großen Preisunterschiede und die damit verbundene Marktkonkurrenz – verloren haben!“ (LANG 2008:19) In den Beiträge von Helge Fischer und Martin Lang kommen damit Stimmen zu Wort, die nicht nur Unterschiede zwischen verschiedenen Zertifizierungssystemen feststellen, sondern den Wachstumsprozess von Bio + Fair durch die Einbeziehung neuer Akteure und die Reformulierung von Standards direkt kritisieren, indem sie neben den Vorteilen (größerer Markt, Hilfe auch für ArbeiterInnen) auch mit 'negativen Wechselwirkungen' zwischen alten und neuen Akteuren argumentieren, die dadurch entstehen, dass diese vorher mehr oder weniger getrennt voneinander agierenden ProtagonistInnen nun miteinander in Konkurrenz treten. In der Zeitschrift der Informationsstelle Lateinamerika ila 355 vom Mai 2012 erscheint ein „Interview mit dem Umweltaktivisten Líder Góngora zur Garnelenzucht in Ecuador“, dem Vorsitzenden des ecuadorianischen Mangrovenschutznetzwerks C-Condem139, unter dem Titel „Pures Wunschdenken: die Öko-Garnele“. Darin eröffnet sich die Position eines Vertreters einer Organisation, die „die Bevölkerung [vertritt], die in Ecuador von diesem Ökosystem lebt: Muschel-, Krebs- oder LarvensammlerInnen, Kleinfischer oder Leute, die vom Holz der Mangroven leben“; eine Position, die die „Unsinnigkeit von Ökosiegeln“ beklagt und Zertifizierungsinitiativen wie die von Naturland für Garnelen aus Aquakultur grundsätzlich ablehnt. Der Garnelenzuchtindustrie Ecuadors, die von der C-Condem als die Hauptverantwortliche der Zerstörung und Verschmutzung der Mangroven des Landes und der Vertreibung und Schikanierung der ortsansässigen Bevölkerung gesehen wird, die Möglichkeit auf ein Nachhaltigkeits-Zertifikat zu eröffnen, wird als profitgesteuerte Komplizenschaft mit den Zerstörern interpretiert: 139 Corporación Coordinadora Nacional para la Defensa del Ecosistema Manglar 205 Kapitel 3 Lider Góngora: „[...] Mittlerweile wollen sich auch einige Unternehmen zertifizieren lassen, damit sie ein grünes Label (für „nachhaltig“ hergestellte Garnelen, d.Red.) bekommen. Das ist ein Witz vor dem Hintergrund, dass in Ecuador 70 Prozent der Mangrovengebiete zerstört und Gewässer kontaminiert worden sind, das ökologische Gleichgewicht nachhaltig gestört, Territorium verlorengegangen und die ansässige Bevölkerung vertrieben worden ist. Vor dem Hintergrund kann es gar kein grünes Label geben – wer es dennoch verleiht, ist kriminell! ila: „Meinst Du damit das deutsche Label Naturland?“ Líder Góngora: „Ja, genau die. Ich war auch schon an ihrem Verwaltungssitz und habe es ihnen ins Gesicht gesagt: Ihr seid hierhergekommen und habt behauptet, dass nachhaltige Garnelen produziert werden können. Dann habt ihr dem erstbesten Garnelenunternehmer ein Label verliehen, habt ihm vertraut, seid wieder weggegangen und als ihr wiedergekommen seid, habt ihr gesehen, dass er sich noch nicht einmal an die Regeln gehalten hat, die Naturland vorschreibt. Wir finden selbst diese Normen unzureichend, weil sie unrealistisch sind. Keine einzige Garnele, die in den insgesamt 243.000 Hektar Shrimpsbecken aufwächst, kann zertifiziert werden, weil diese Garnele dasselbe Wasser wie die Nachbargarnele trinkt, weil es keine Aufbereitung des Wassers gibt, weil sie in den ersten Monaten Antibiotika bekommt und erst in den letzten Monaten vor der Ernte keine Antibiotika und Pestizide mehr verabreicht werden, um die Auflagen der Europäischen Union zu erfüllen. Wir haben all das aufgedeckt, aber die Naturland-Betriebe haben selbst die eigenen – schwachen – Auflagen nicht eingehalten. Naturland führt seine Inspektionen durch und kassiert dafür ein Prozent der jährlichen Produktion. Wir reden hier von einem Privatunternehmen, das mit seinem Label ein Geschäft macht und die Bevölkerung hereinlegt – und damit meine ich die deutsche Bevölkerung, die z.B. an die landwirtschaftlichen Zertifizierungen glaubt. Aber im Hinblick auf Aquakulturen bedeutet dies, eine sehr blutige Angelegenheit zu zertifizieren. Schließlich sind an den Elektrozäunen der Außenwände der Shrimpsfarmen viele Menschen zu Tode gekommen und 70 Prozent der Mangroven Ecuadors verschwunden […] Diese Garnelen werden in einem Ökosystem, das aus dem Gleichgewicht geraten ist, hergestellt […] Und dieser 'Garnelenwahnsinn' wird nach Europa exportiert. Ich frage mich, wer diese Dinger konsumiert. Wir müssen die Wahrheit sagen: Nach wie vor werden Mangroven abgeholzt, wird die Bevölkerung vertrieben, werden Leute umgebracht. […] Ich hab es den Naturland-Vertretern offen ins Gesicht gesagt: in Ecuador kann es keine ökologisch hergestellten Garnelen geben“ (ila 355:14, Hervorhebungen im Original) Diese anklagende Rede bildet einen scharfen Kontrast zu der Pizzaverpackung, die uns als erstes auf den Zusammenhang von Garnelenzucht und Mangroven in Ecuador aufmerksam gemacht hat. Biogarnelen mit positiven Auswirkungen auf alle Bereiche der Produktionsregion einerseits, Biogarnelen als Etikette für zerstörerische oder gar kriminelle Machenschaften andererseits. Eine Beurteilung aus der Distanz ist schwer möglich. Mit Zweifeln und Interesse gegenüber beiden Versionen und der Erahnung eines konflikthaften Zusammenhangs bleiben wir zunächst zurück – sowie mit der Feststellung, dass neben (vergleichender) Kritik an bestimmten Programmen und Kritik an Veränderungen der Programme im Zuge des Wachstums von Bio + Fair auch kategorisch ablehnende Positionen gegenüber Bio + Fair formuliert werden, wenngleich diese sich selten Gehör verschaffen. Je nachdem, welcher Positionierung man folgt, wandeln sich die Orientierungsmuster bezüglich der vorhandenen Siegel und ihrer Programme. 206 Portraits der Teilfelder Vor dem Hintergrund dieser Eindrücke von den Bildern, Themen und Positionierungen, die sich anhand der Informationen zusammenstellen ließen, die über den exemplarischen Einkauf und die vorwiegend auf Ebene des Handels erschlossenen Internetseiten zugänglich waren, ist der nächste Schritt die Erweiterung des Fokus auf die Standard setzenden Organisationen, auf die bislang vor allem als die Gewährsleute und Verantwortlichen für die Siegel-Programme verwiesen worden ist. Damit richtet sich der Blick auf diejenigen Akteursgebilde, die für die Formulierung der Standards und Verfahren verantwortlich sind und die sich mit Fragen der absoluten und relativen Strenge, der Anpassung an sich verändernde Rahmenbedingungen oder der Legitimation gegenüber kritischen Stimmen auseinandersetzen müssen. 3.1.5 Standards und Verfahren bei Bananen und Garnelen aus Ecuador Für die Grundsätze und Ziele, mit denen die Initiativen aus dem Bereich Bio + Fair an- und für die sie eintreten, werden im Rahmen von Zertifizierungssystemen im Sinne einer 'industriellen Koordination' Standards formuliert, die von den beteiligten Akteuren befolgt werden, die die Einhaltung der Grundsätze gewährleisten und die ein Erreichen der Ziele ermöglichen sollen. Die Formulierung solcher Standards stellt eine komplexe und komplizierte Übersetzungsleistung dar, in die die Produktion von Expertenwissen, Aushandlungsprozesse zwischen den unterschiedlichen Beteiligten und daran anknüpfende Entscheidungsfindungen einfließen müssen. Standard setzende Organisationen wie die EU, die FLO-I oder Naturland bewältigen mit der Festlegung 'ihrer' Standards damit große Herausforderungen. Wollen wir uns ausgehend von den gekauften Produkten und den recherchierten Repräsentationen der Grundsätze und Positionierungen ein Bild von den dahinter stehenden Programmen und den sie definierenden Organisationen machen, knüpfen sich daran ebenfalls komplexe Fragen und Herausforderungen. Eine naheliegende Vorgehensweise ist, die bestehenden Standards einzusehen und miteinander zu vergleichen. So lässt sich ein Eindruck gewinnen, was bei der Übersetzung der Grundsätze in Standards im Einzelfall herausgekommen ist, und in einer Gegenüberstellung aufzeigen, welche Unterschiede zwischen den verschiedenen Programmen bestehen. Ein solcher Blick in die einzelnen Regelwerke ist jedoch sowohl begrenzt, als auch weist er einige Begrenzungen auf. Er ist begrenzt, weil er den prozessualen Charakter der Programme nicht berücksichtigt und damit Fragen danach offen lässt, wie die Standards zustande gekommen sind, wie sie sich im Laufe der Zeit geändert haben und wie sie sich künftig weiter ändern könnten. Jeder/m LeserIn – ob Laie oder ExpertIn – weist er darüber hinaus Begrenzungen in der Fähigkeit auf, die vorliegenden Übersetzungen der Grundsätze und Ziele in die Regelwerke zu beurteilen. Lässt sich noch relativ leicht feststellen, welches Programm in welchen Punkten strenger ist als ein anderes, setzt eine Beurteilung, ob mit einem Standard einem gesetzten Grundsatz entsprochen oder ein ausgegebenes Ziel erreicht werden kann oder ob ein strengerer Standard weit genug reicht bzw. ein weniger strenger Standards noch zu wenig ist, meist ein umfangreiches Spezialwissen über einzelne Produkte, Herstellungsverfahren, regionale Besonderheiten, juristische Zusammenhänge, 207 Kapitel 3 betriebswirtschaftliche Aspekte, etc. voraus – ein Spezialwissen, das zudem nicht frei von positionsabhängigen Bewertungen sein kann. Um mit diesen Unzulänglichkeiten umzugehen, kann der Blick140 zum einen erweitert werden auf die Verfahren und Prozesse, durch die die Programme produziert, reproduziert und transformiert werden, zum anderen auf die Debatten (und ihre Zugänglichkeit), die bezüglich der Formulierung der Programme geführt werden. Standards zu Bananen und Garnelen aus Ecuador Ein Überblick über die Regelwerke, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt im Bereich biologisch hergestellter und fair gehandelter Bananen und Garnelen aus Ecuador bereits zur Anwendung kommen141, zeigt, dass diese bereits sehr differenziert sind. Neben allgemeinen Standards zur biologischen Produktion und zum fairen Handel gibt es produkt-, betriebstypen- und regionalspezifische Ausprägungen. Im Einzelnen handelt es sich im Bereich der biologischen Landwirtschaft um gesetzliche Richtlinien wie die der EU142 einerseits, private Richtlinien wie die von Naturland andererseits. Beim fairen Handel gibt es zum einen die Standards der FLO-I und die Fair-Richtlinien von Naturland (und anderer privater Standard setzender Organisationen aus dem Biobereich), zum anderen hat das Institut für Marktökologie IMO zusammen mit Bio-Stiftung Schweiz (Bio Suisse) mit dem fair for life-Programm ein auf den FLO-I- und anderen Standards aufbauendes System entwickelt, mit dem grundsätzlich alle Betriebstypen und Produkte (also z.B. auch Garnelenzuchtbetriebe) zertifiziert werden können. Die Texte der einzelnen Regelwerke sind über die Internetseiten der Standard setzenden Organisationen leicht zugänglich, zudem finden sich begleitende Informationen über ihre Entstehung, Entwicklung und Inhalte. Alle für Bananen und Garnelen relevanten Standards können z.B. über die Seiten von Naturland (naturland.de), Fairtrade Deutschland (fairtrade-deutschland.de mit Links zu fairtrade.net der FLO-I) und fair for life (fairforlife.net) erschlossen werden. Auf der Seite von Naturland finden wir nicht nur die verbandseigenen Richtlinien, sondern werden per Link zur EG-Bio-Verordnung (über die Internetpräsenz des BMELV) sowie zu den IFOAM Basic Standards (über die Homepage der IFOAM) weitergeleitet. Bio-Standards zu Bananen und Garnelen: EU-Bio und Naturland-Bio im Vergleich Im Bereich der biologischen Landwirtschaft steht demnach im hier gewählten Vergleich die EG-Bio-Verordnung, bestehend aus der „EG-ÖKO-BASISVERORDNUNG VERORDNUNG (EG) Nr. 834/2007 DES RATES vom 28. Juni 2007 über die ökologische/biologische Produktion und die Kennzeichnung von ökologischen/biologischen Erzeugnissen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 2092/91, ABl. Nr. L 189 vom 20.07.2007, S. 1, geändert durch: Verordnung (EG) Nr. 967/2008 des Rates vom 29. September 2008, ABl. Nr. L 264 vom 03.10.2008, S. 1 (Gemeinschaftslogo)“ 140 neben der Anerkennung des Umstands, mit unserer Vorgehensweise auch nur einen weiteren kleinen Teil an Spezialwissen zu produzieren 141 ungeachtet weiterer Standards, die sich gerade in der Entwicklung befinden wie z.B. Standards zu nachhaltiger Aquakultur des WWF 142 weitere aufgrund ihrer Märkte bedeutende staatliche Gesetzgebungen sind die der USA und von Japan 208 Portraits der Teilfelder sowie den darauf aufbauenden „DURCHFÜHRUNGSBESTIMMUNGEN VERORDNUNG (EG) Nr. 889/2008 DER KOMMISSION vom 5. September 2008 mit Durchführungsvorschriften zur Verordnung (EG) Nr. 834/2007 des Rates über die ökologische/biologische Produktion und die Kennzeichnung von ökologischen/biologischen Erzeugnissen hinsichtlich der ökologischen/biologischen Produktion, Kennzeichnung und Kontrolle, ABl. Nr. L 250 vom 18.09.2008, S. 1“, den Richtlinien des Anbauverbands Naturland gegenüber, bestehend aus den „Naturland Richtlinien Erzeugung“ (Stand 05/2012) „Naturland Richtlinien Verarbeitung“ (Stand 05/2012) und den „Naturland Richtlinien für ökologische Aquakultur“ (Stand 05/2012). In den Richtlinien-Dokumenten sind sowohl deren Grundsätze und Ziele, als auch deren Übersetzung in Standards für unterschiedliche Bereiche (Produktion, Verarbeitung, Transport und Handel, Zertifizierung, Kontrolle und Kennzeichnung) ausformuliert. Einen Überblick über den Aufbau der einzelnen Dokumente bietet die Aufstellung der umseitigen Tabelle. Dabei sind die Kapitel und Unterkapitel, die produkt- oder regionalspezifische Bestimmungen bezüglich Garnelen und Bananen aus Ecuador bzw. die Kombination von Bio mit sozialen Aspekten (Fair) enthalten, hervorgehoben. Für den Bananenanbau gibt es keine produktspezifischen Standards, abgesehen von den zusätzlichen Bestimmungen von Naturland für Tropische Dauerkulturen, wobei auch hier nur allgemeine Vorschriften (Humuswirtschaft und Düngung; Regulierung von Schädlingen, Krankheiten und Unkräutern [Beikräutern]; Nachhaltigkeit des Anbausystems) niedergelegt sind; lediglich für Kakao und Kaffee sind diese weiter differenziert. Eine – von Naturland geplante – Ausweitung dieser Bestimmungen um produktspezifische Kriterien für Bananenanbau könnte z.B. durch die in den allgemeinen Vorschriften in der Rubrik 'Nachhaltigkeit des Anbausystems' festgelegte Normen 3.2 und 3.4, „3.2 Wassereinzugsgebiete sind entlang von Bach- bzw. Flussläufen und Seen durch eine Puf- ferzone mit standortangepassten Bäumen zu schützen, geeignete Maßnahmen sind im Bewirtschaftungsplan festzulegen.“ „3.4 Bei Kulturen, die traditionell mit Schattenbäumen angebaut werden, sind Schattenbäume zu verwenden.“, und in Anbetracht der bereits vorhandenen Detailregelungen zu Kakao und Kaffee dazu führen, dass sich die Zertifizierbarkeit von Betrieben nach Naturland (im Gegensatz zu EU-Bio) auf solche beschränken wird, die in Mischkultur anbauen (eine Beschränkung, die in der Praxis von Naturland bereits der Fall ist). Dies ist – wenn auch hier noch hypothetischer Natur – ein Beispiel dafür, wie durch die konkrete Ausprägung einzelner Standards ( = durch Übersetzung der Grundsätze in genauere Kriterien) bestimmte Betriebstypen (Monokulturplantagen) ausgeschlossen und Anbausysteme (Mischkultur) bevorzugt werden können. 209 Kapitel 3 Richt EG-VO 834/2007 linie: EG-VO 889/2008 Naturland Richtlinien Erzeugung Naturland Richtlinien Verarbeitung Naturland Richtlinien für ökologische Aquakultur Kapi- Erwägungsgründe Erwägungsgründe Vorwort Vorwort Vorwort tel Einleitende Bestimmungen Allgemeine Richtlinien für die Verarbeitung Anwendungsbereich der Richtlinien Allgemeine Regelungen für die Erzeugung Vorschriften für die - Vertragswesen und Produktion, VerarZertifizierungsverProduktionsvorbeitung, Verpafahren schriften ckung, Beförderung - Allgemeine - Allgemeine Pround Lagerung ökolo- (Bewirtschaftungs-) duktionsvorschriften gischer/biologischer Auflagen bzw. sons- Landwirtschaftliche Erzeugnisse tige übergeordnete Erzeugung - Pflanzliche Bestimmungen - Herstellung verar- Erzeugung - Soziale Verantbeiteter Futtermittel - Meeresalgenprowortung - Herstellung verar- duktion Regelungen für die beiteter Lebensmit- - Tierische Erzeueinzelnen Produktitel gung - Flexibilität - Tierproduktion in onszweige Erzeugung Aquakultur Kennzeichnung Allgemeine Vor- Pflanzenbau schriften, Herkunft - Viehwirtschaft Kontrollen der Aquakulturtiere, - Gemüseanbau Aquakulturhaltung, - Pilzanbau Handel mit DrittZüchtung und Reproländern duktion, Futtermittel - Anbau von Zierpflanzen, Stauden, für Fische, Übergangs- und Gehölzen, WeihKrebstiere und StaSchlussbestimmun- chelhäuter, spezifinachtsbäumen gen sche Vorschriften für - Obstanbau Mollusken, Krank- Weinanbau Anhang heitsvorsorge und - Tropische Dauertierärztliche Behandkulturen lung - Wildsammlung - Verarbeitete - Imkerei Erzeugnisse - Aquakultur - Abholung, Verpa- Ökologische Waldckung, Beförderung nutzung und Lagerung von Erzeugnissen Anhang - Vorschriften für die Umstellung - Ausnahmen von den Produktionsvorschriften - Saatgutdatenbank Ziele und Grundsätze der ökologischen/biologischen Produktion Kennzeichnung Kontrolle Mitteilungen an die Kommission, Übergangs- und Schlussbestimmungen (Ziele, Vertragswesen und Zertifizierungsverfahren, Allgemeine Produktionsbestimmungen, Soziale Verantwortung) (Vertragswesen und Zertifizierungsverfahren, Allgemeine [Bewirtschaftungs-] Auflagen bzw. sonstige übergeordnete Produktgruppenspe- Bestimmungen, Soziale Verantwortung) zifische Verarbei- tungsrichtlinien - für Fleisch und Fleischwaren - für Milch und Milcherzeugnisse - für Brot und Backwaren - für Getreide, Getreideerzeugnisse und Teigwaren - für Futtermittel - für Erzeugnisse aus Aquakultur und nachhaltiger Fischerei - für Brauerzeugnisse - für Gemüse und Obst - für die Herstellung von Wein, Perlwein, Schaumwein, Traubensaft und Edelbränden - für Speiseöle und Speisefette - für Hefe, Hefeerzeugnisse, Sauerteig und Backferment - für die Herstellung von Mikroalgen und Mikroalgenprodukten - für Textilien - für kosmetische Produkte - für Heimtierfuttermittel - für das Herstellen und Anbieten von Speisen und Getränken in gemeinschaftlichen Verpflegungseinrichtungen Anhänge Verarbeitung Anhang Tabelle 7: Gegenüberstellung der Kapitel der hier verglichenen Richtlinien (für das Thema der Arbeit besonders relevante Kapitel/Unterkapitel fettgedruckt) 210 Allgemeine Regelungen Regelungen für die ökologische Aquakultur - Grundsätze der Bewirtschaftung - Ergänzende Vorschriften zur Haltung/Kultur des Karpfens und seiner Beifische in Teichen von Salmoniden und Coregonen in Teichen und Netzgehegen von Muscheln und Makroalgen an Leinen und Gestellen von Garnelen in Teichen (Standortwahl/Mangrovenschutz, Schutz der Ökosysteme auf den Betriebsflächen und den umliegenden Gebieten, Art und Herkunft des Besatzes, Zucht unter Laborverhältnissen/Zuc htbetriebe, Gestaltung der Teiche/Wasserqualität/Besatzdichte, Gesundheit/Hygiene, Düngung der Teiche, Fütterung, Ernte/Verarbeitung) von tropischen Süßwasserfischen in Teichen und Netzgehegen von Fischarten der Familien Dorschartige, Meerbrassen, Meerbarsche und Umberfische in Netzgehegen im Meer Anhang Aquakultur: Anforderungen an zu Futterzwecken eingesetztes Fischmehl/-öl Portraits der Teilfelder Anders als beim Bananenanbau verfügen sowohl die EG-Verordnungen als auch die Naturland-Richtlinien über produktspezifische Standards zur Zucht von Biogarnelen als Teil der ökologischen Aquakultur. Die Details finden sich in den Durchführungsbestimmungen der EG-VO 889/2008 bzw. in den gesonderten Richtlinien für ökologische Aquakultur von Naturland. Anhand dieser für den weiteren Verlauf der Arbeit besonders relevanten Richtlinien kann exemplarisch aufgezeigt werden, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf Ebene der Programme ausgemacht werden können. Auf den ersten Blick umfassen beide Richtlinien ähnliche Bereiche des Herstellungsprozesses, die reguliert werden sollen. So geht es bei beiden um die Herkunft der zu züchtenden Tiere, die Rahmenbedingungen bei der Reproduktion der Larven in Laboratorien, die Gestaltung der Zuchtbecken, die Wasserqualität, die Besatzdichte, die Herkunft und Zusammensetzung der Futtermittel sowie die Gesundheit der Tiere und deren tierärztliche Behandlung. Um Unterschiede innerhalb dieser Rubriken oder fehlende bzw. zusätzliche Rubriken herauszulesen, bedarf es ein wenig Übung und Mühe, zumal die Gliederung der Rubriken bzw. der Aufbau der Kapitel der beiden Richtlinien nicht vollständig äquivalent ist. Der Einfachheit halber kann deshalb eine von Naturland auf dessen Homepage bereitgestellte Tabelle („EU Bio und Naturland Öko im direkten Vergleich“, s. Tab. 8) herangezogen werden, in der die Unterschiede zwischen den EU-VOs und den Naturland-Richtlinien unter dem Titel „Naturland setzt höhere Maßstäbe“ einander gegenübergestellt werden (Hervorhebungen durch Fettdruck im Original). Diese Übersicht offenbart zweierlei. Zum einen bestehen Unterschiede in Details, wie z.B. in der Höhe der Besatzdichte, die bei Naturland 160g/m², bei EU-Bio 240g/m² beträgt. Können wir einerseits dadurch objektiv feststellen, dass der Verbands-Standard in diesem Punkt strenger ist als die gesetzliche Regelung, fällt andererseits die Bewertung dieses Unterschieds schwer. Naturland nimmt hier seine eigene Bewertung vor, indem es den eigenen Wert als „streng begrenzt“ bezeichnet und damit die „viel höhere“ (Hervorhebung SD) Obergrenze der EU implizit als nicht streng genug einstuft. Vielen LeserInnen dürfte es dabei ähnlich ergehen, die Differenz zwar nachvollziehen, jedoch nicht wirklich einschätzen zu können, ob nun der Wert 240 g/m² noch nicht wenig genug ist, der Wert 160 g/m² aber doch, etc. Zum anderen gibt es in den Naturland-Richtlinien tatsächlich Bereiche, die von der EU-Verordnung nicht abgedeckt sind. Neben den Bestimmungen zu sozialer Verantwortung sticht dabei insbesondere die Berücksichtigung der Wiederaufforstung von Mangroven ins Auge, ein Aspekt, der angesichts der bereits vernommenen 'kritischen Stimmen' von Bedeutung für die Praktiken der Garnelenzucht im lokalen Kontext sein könnte. Ein genauerer Blick auf die entsprechenden Standards zeigt, dass auch die EU-Verordnung den Begriff Mangrove verwendet, ihr jedoch eine historische Dimension sowie eine weitergehende Berücksichtigung der Umgebung der Garnelenzuchtfarmen abgeht. So heißt es in der EU-VO 889/2008 einzig im Anhang XIIIa Abschnitt 7 („Ökologische/biologische Produktion von Geißelgarnelen [Penaeidae] und Süßwassergarnelen [Macrobrachium spp]“) auf Seite 122 zur „Einrichtung von Produktionseinheiten“: „[...] Die Zerstörung von Mangrovenbeständen ist nicht erlaubt“. 211 Kapitel 3 Naturland Richtlinien (Stand 05/2012) EU-Bio-VO Allgemeines (Auszug) Gesamtbetriebsumstellung vorgeschrieben Teilbetriebsumstellung möglich mit allen Folgeproblemen (mangelnde Abgrenzung, Kontrolle, Glaubwürdigkeit usw.) Umsetzung von Vorgaben zur sozialen Verantwortung gegenüber Beschäftigten auf Naturland Betrieben weltweit keine Regelung Aquakultur Im Interesse von artgerechter Tierhaltung und ökologischem Gleichgewicht sind die Besatzdichten streng begrenzt auf: […] 160 g Garnelen (Shrimps) pro Quadratmeter Für EU-Bio-Betriebe gelten viel höhere Obergrenzen: Antibiotika und konventionelle Tiermedizin sind bei Garnelen (Shrimps) verboten. […] Antibiotika und konventionelle Tiermedizin sind bei Garnelen erlaubt. […] […] 240 g Garnelen (Shrimps) pro Quadratmeter Regelmäßige Analytik von Wasser, Sediment, Futter Analysen sind nicht vorgeschrieben. und Endprodukt/Fisch ist Pflicht. Shrimpsfarmer müssen ehemalige Mangrovenflächen wieder aufforsten. Diese Vorschrift ist Teil der jährlichen Öko-Kontrolle. Keine Regelung. Netzgehege dürfen nicht mit bewuchshemmenden Chemikalien („Antifouling“) behandelt, sondern nur mechanisch gereinigt werden. Der Einsatz von Kupfersulfat ist – zunächst bis 2015 – erlaubt. Detaillierte Vorgaben zur Verwendung von Fischmehl in Bezug auf nachhaltige Herkunft, die durch eine gesonderte Zertifizierung belegt werden. Vorgaben zur Herkunft von Fischmehl als Futtermittel sind kaum stichhaltig, eine Prüfung ist nicht vorgeschrieben. Verfütterung von Fischresten aus der konventionellen Aquakultur ist verboten. Verfütterung von Fischresten aus der konventionellen Aquakultur ist bis mindestens 2014 erlaubt. Tabelle 8: „EU Bio und Naturland Öko im direkten Vergleich“ auf naturland.de als Download angebotene Tabelle [21.03.2013] Dagegen geht Naturland in seinen „Naturland Richtlinien für ökologische Aquakultur (Stand 05/2012)“ auf die Möglichkeit ein, dass zur Anlage bereits bestehender Produktionsstätten in der Vergangenheit Mangroven zerstört worden sein können. Des Weiteren berücksichtigt Naturland die Möglichkeit von Konflikten zwischen den Farmen und anderen NutzerInnen der die Farmen umgebenden Mangrovengewässer, die es zu vermeiden gilt und für deren Vermeidung auch einzelne Instrumente (z.B. die Vergabe von Passierscheinen) vorgeschlagen werden: 212 Portraits der Teilfelder „[...] Teil B. Regelungen für die Ökologische Aquakultur I. Grundsätze der Bewirtschaftung 1. Standortwahl, Wechselwirkungen mit umliegenden Ökosystemen 1.1. Durch Standort und Bewirtschaftungsform des Betriebes dürfen die umliegenden Ökosysteme nicht beeinträchtigt werden. Durch geeignete Maßnahmen sind insbesondere eine Belastung durch Abwässer sowie das Entweichen gehaltener Tiere zu vermeiden. Bei Neuanlagen bzw. Erweiterungsbauten dürfen natürliche Pflanzengemeinschaften nicht nachhaltig geschädigt werden. Dies gilt insbesondere, wenn diese regional oder weltweit als selten oder gefährdet einzustufen sind (z.B. Feuchtwiesen in Mitteleuropa; Regenwald, Mangrove). 1.2. Der Betreiber der Farm soll im Einvernehmen mit den Vertretern der benachbarten Kommunen/Regionalbehörden sicherstellen, dass Fischern und anderen interessierten Personengruppen freier Zugang zu den an das Betriebsgelände angrenzenden natürlichen Gewässern ermöglicht wird. Empfohlen werden hierzu z.B. eingezäunte Wege oder die Vergabe von Passierscheinen. In jedem Fall sind die gültigen gesetzlichen Bestimmungen einzuhalten. […] V. Ergänzende Vorschriften zur Haltung von Garnelen (z.B. Litopenaeus vannamei, Penaeus monodon, Macrobrachium rosenbergii u.a.) in Teichen 1. Standortwahl, Mangroveschutz 1.1. Die Mangrove ist als ökologisch besonders wichtiges und durch menschliche Einflüsse weltweit gefährdetes Ökosystem zu schützen. Die Beschädigung von Mangrovebeständen zur Anlage neuer oder zur Erweiterung bestehender Betriebe ist nicht zulässig. Jede von den Betreibern des Betriebes oder in deren Auftrag durchgeführte Maßnahme, die angrenzende Mangrovebestände beeinflussen kann (z.B. Anlage von Wegen und Kanälen zum Farmgelände), muss bei Naturland beantragt werden. 1.2. Farmen (hier verstanden als zusammenhängende, eigenständige Produktionseinheiten), die in Teilen auf ehemaliger Mangrovefläche liegen, können zur Ökologischen Aquakultur nach den Naturland Richtlinien umgestellt werden, wenn der Anteil ehemaliger Mangrovefläche nicht mehr als 50% der Fläche der Produktionseinheit ausmacht143. Vorbedingung dafür ist in jedem Fall, dass die einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen für Landnutzung, Wiederaufforstung etc. eingehalten wurden144. Die ehemalige Mangrovefläche auf der Fläche jeder Produktionseinheit muss innerhalb von maximal 5 Jahren mit Mangrove zu mindestens 50% wiederaufgeforstet werden. Die Ernte dieser Teilfläche darf nicht als Anerkannt Ökologisches Produkt unter Hinweis auf Naturland vermarktet werden, bevor nicht der erfolgreiche Abschluss der Wiederaufforstung durch die Naturland Anerkennungskommission bestätigt wurde. Zusätzlich muss der im Umstellungsplan zu definierende jährliche Fortschritt der Wiederaufforstungsmaßnahme von der Naturland Anerkennungskommission bestätigt werden. […]“ (Naturland Richtlinien für ökologische Aquakultur, Stand 05/2012, Hervorhebungen SD) Auch für diesen Teil der Standards gilt, dass die Bestimmungen des Verbandes eindeutig weiter reichen, eine Beurteilung der konkreten Werte (warum z.B. ausgerechnet bis zu 50% auf ehemalige Mangrovenfläche?) nicht ohne Weiteres vorgenommen werden kann. Durch die Festlegung von Grenzwerten wird wiederum die Zertifizierbarkeit bestimmter Betriebstypen (solche, die vor 1994 auf mehr als 50% ihrer heutigen Produktionsstättenfläche oder prinzipiell nach 1994 Mangroven gerodet haben) ausgeschlossen. 143 Ausnahmen hiervon können unter besonderen geografischen bzw. historischen Bedingungen für extensive „MangroveAquakultur-Systeme“ gewährt werden. 144 Ecuador: Schutz der Mangrove ab 1994 (D.G. 1907.94) 213 Kapitel 3 Fair-Standards zu Bananen und Garnelen: das Regelwerk der FLO-I Bei den Standards für Fairen Handel finden wir im Regelwerk der FLO-I einen hohen Differenzierungsgrad für den Bananenanbau bzw. -handel, wo sowohl produkt- und regionalspezifische, als auch betriebstypenspezifische Kriterien vorhanden sind. Bei der FLO-I können nicht nur die Standards selbst heruntergeladen werden, sie werden auch auf den Internetseiten der FLO-I und ihrer Mitgliedsorganisationen, in unserem Beispiel Fairtrade Deutschland, erklärt und es sind zusätzliche Dokumente zugänglich, die einzelne Kriterien (und ihre Veränderungen im Laufe der Zeit) kommentieren oder erläutern. Dies erlaubt es uns, der Einführung in die Standards entlang der Internetseiten zu folgen und dabei den Fokus auf die unterschiedlichen Spezifizierungen und Besonderheiten zu legen. Den Erläuterungen der einzelnen Standards sind ihre allgemeinen Ziele, wesentlichen Bestandteile und Aufgaben vorangestellt: Abbildung 24: Ziele, wesentliche Bestandteile und Aufgaben der Fairtrade-Standards (TransFair e.V., Screenshot von www.fairtrade-deutschland.de [24.03.13]) 214 Portraits der Teilfelder Bereits die Formulierung der Ziele macht abermals deutlich, dass der Schwerpunkt auf Ebene der ProduzentInnen liegt und auf dieser Ebene zwischen KleinproduzentInnen und ArbeiterInnen unterschieden wird. Diesem Schwerpunkt entsprechend gibt es verschiedene betriebstypenspezifische Standards, die 'nebeneinandergestellt' werden. Zum einen sind Standards auf Ebene der Produktion vorhanden, zum anderen besteht eine Richtlinie für die erste Stufe des Handels, also für diejenigen, die als direkte HandelspartnerInnen der ProduzentInnen in Erscheinung treten. Auf Ebene der Produktion gibt es je eine Richtlinie für „Kleinbauern“, „Vertragsanbau“ und „Plantagen/Arbeiterinnen und Arbeiter“. Des Weiteren sind produktspezifische Standards (u.a. auch für 'Frischobst inklusive Bananen') formuliert, die die für alle zertifizierbaren Produkte geltenden betriebstypischen Regeln ergänzen, sowie z.T. regionale Differenzierungen, z.B. dass beim gleichen Produkt (so auch bei Bananen) für verschiedene Länder unterschiedliche Mindestpreise festgelegt sind. Die Richtlinie für die erste Stufe des Handels, die auf der Seite von Fairtrade Deutschland nicht näher erläutert wird, unterliegt folgenden Prinzipien: „Companies trading Fairtrade products must: Pay a price to producers that aims to cover the costs of sustainable production: the Fairtrade Minimum Price. Pay an additional sum that producers can invest in development: the Fairtrade Premium. Partially pay in advance, when producers ask for it. Sign contracts that allow for long-term planning and sustainable production practices.“ (www.fairtrade.net [24.03.13]) Den Richtlinien auf Ebene der Produktion gemeinsam ist, dass sie alle „Kriterien zu den Bereichen Soziales, Ökonomie und Umwelt“ enthalten. Die Ziele und Vorgaben in den Bereichen Ökonomie und Umwelt sind über alle Betriebstypen hinweg ähnlich. Dabei entsprechen die ökonomischen Kriterien den Anforderungen an den Handel: Mindestpreis, Fairtrade Prämie, Vorfinanzierung, langfristige Verträge. Unterschiede bestehen hauptsächlich in der Art und Weise, wie die Verwendung der Fairtrade Prämie, die im einen Fall den KleinproduzentInnen und ihren Familien, im anderen Fall den ArbeiterInnen zu Gute kommen soll, organisiert wird. Die vorgeschriebenen Umweltstandards legen für die Produktion folgenden, u.a. auch eine Komponente zur Förderung von Bio-Produktion beinhaltenden „Fokus […]: Reduzierung des Einsatzes von Agrochemikalien im konventionellen Anbau Einhaltung von Sicherheitsvorkehrungen und Arbeitsschutzmaßnahmen Abfallmanagement, Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit Schutz der Wasserressourcen Verbot von gentechnisch veränderten Organismen und die Bewahrung der Biodiversität Fairtrade-Produkte müssen laut den Standards nicht biologisch angebaut werden. Trotzdem wird der Anbau von biologischen Produkten gefördert – zum Beispiel durch höhere Fairtrade-Mindestpreise für BioProdukte.“ (www.fairtrade-deutschland.de [24.03.13]) 215 Kapitel 3 Dagegen unterscheiden sich die Richtlinien im sozialen Bereich aufgrund der unterschiedlichen Zielsetzungen, die die FLO-I bezüglich der einzelnen Zielgruppen verfolgt. Im Vergleich der beiden weit verbreiteten Standards zu „Kleinbauern“ und „Plantagen“ wird deutlich, dass es im ersten Fall vorwiegend um die gemeinschaftliche und demokratische Organisation der Kooperativen geht, im zweiten Fall die Rechte der ArbeitnehmerInnen geschützt werden sollen. Abbildung 25: Erläuterungen zu den Standards des "Sozialen Bereichs" für "Kleinbauern" und "Plantagen" (TransFair e.V., Screenshot von www.fairtrade-deutschland.de [24.04.13]) Diese Differenzierung erlaubt einerseits, die höchst unterschiedlichen Betriebstypen 'Kleinbauernbetrieb' und 'Plantage' kontextbezogen zu steuern. Prinzipiell steht dadurch auch ein Steuerungsinstrument zur Verfügung, um auf die von manchen Akteuren bereits unterstellten 216 Portraits der Teilfelder negativen Auswirkungen einer Konkurrenzsituation zwischen Kleinen und Großen einzuwirken. Andererseits fällt ein Vergleich sowie eine Beurteilung, ob solche 'negativen Wechselwirkungen' berücksichtigt werden, insofern schwer, dass die Standards aufgrund der verschiedenen Schwerpunkte unterschiedlich aufgebaut sind und nicht aufeinander bzw. explizit auf mögliche 'Wechselwirkungen' Bezug nehmen, sondern 'nebeneinander stehen'. Dies veranschaulicht folgende Tabelle über den Aufbau der beiden Standards im Vergleich: Standards: Fairtrade Standard for Small Producer Organizations (05/2011) Kapitel Introduction (Purpose, References; How to use this Standard; Implementation; Application; Monitoring of changes; Change history) General Requirements - Certification - Members are Small Producers Trade - Tracebility - Sourcing - Contracts - Use of Fairtrade trademark Production - Management of Production Practices - Environmental Protection (Environmental management; Pest management; Soil and water; Waste; GMO; Biodiversity; Energy and greenhouse gas emissions) - Labour Conditions (Freedom from discrimination; Freedom of labour; Child labour and child protection; Freedom of association and collective bargaining; Conditions of employment; Occupational health and safety) - Business and Development (Development Potential; Democracy, Participation and Transparency; Non Discrimination) Fairtrade Standard for Hired Labour (05/2011) Fairtrade: an Alternative for Small Farmers and Workers (Beneficiaries; References; Structure; Scope; Application; Monitoring of amendments; Definitions) Social Development - Development Potential and Capacity Building - Freedom from Discrimination - Freedom of Labour - Freedom of Association and Collective Bargaining - Conditions of Employment - Occupational Health and Safety Economic development Environmental development - Environmental management - Pest management - Soil and water - Waste - GMO - Biodiversity - Energy and greenhouse gas emissions Annex 1 (Geographical Scope) Annex 2 (Prohibited Material List) Annex 1 (Geographical Scope) Annex 2 (Prohibited Material List) Tabelle 9: FLO-I-Fairtrade Standards für KleinproduzentInnenorganisationen und Plantagen im Vergleich Auch bei der Definition der Fairtrade-Standards gilt, dass sie – neben den vielen Detailbestimmungen der einzelnen Kapitel und Unterkapitel – grundsätzlich über die Zertifizierbarkeit von Betrieben in Abhängigkeit vom Betriebstyp und vom Standort entscheiden. Hierfür finden sich mehrere formale Selektionsmechanismen. Zunächst regelt der „Annex 1“ der Standards, in welchen Ländern Organisationen/Betriebe zertifiziert werden können145. Liegt die betreffende Einheit in einem der zulässigen, auch einzeln aufgelisteten Länder, regelt die Definition einer 145 „countries with low and medium development status […] based on the OECD-DAC (Development Assistance Committee) list of recipient countries of Official Development Assistance“ 217 Kapitel 3 „small producer organization“, dass Kooperativen zertifiziert werden können, die folgende Bedingungen erfüllen: „[…] 1.2.1 You are a small producer organization and at least half of your members must be small producers. Guidance: If your members produce less labour intensive products (cocoa, coffee, herbs and herbal teas and spices, honey, nuts, oilseeds, cereals, seed cotton), they are small producers if the following criteria are fulfilled: Farm work is mostly done by members and their families. They do not hire workers all year round. If your members produce highly labour intensive products (cane sugar, prepared and preserved fruit & vegetables, fresh fruit, fresh vegetables, tea), they are small producers if the following criteria are fulfilled: They hire less than a maximum number of permanent workers as defined by the certification body. The land they cultivate is equal to or below the average of the region, as defined by the certification body. They spend most of their working time doing agricultural work on their farm. Most of their income comes from their farm. 1.2.2 At least half of the volume of a Fairtrade product that you sell as Fairtrade per year must be produced by small producers.“ (Fairtrade Standard for Small Producer Organizations, Stand: 05/2011, Hervorhebungen im Original) Neben der Tatsache an sich, dass hier Ein- bzw. Ausgrenzungskriterien festgelegt werden, stellt sich natürlich auch hier die nicht ohne Weiteres zu beantwortende Frage, warum es ausgerechnet die Hälfte der Mitglieder ist, die der Definition von KleinproduzentInnen entsprechen müssen und die – ausgerechnet – die Hälfte des Produktionsvolumens beisteuern müssen, und nicht etwa 30% oder 70%. Die produktspezifischen Standards schließlich geben nicht nur vor, für welche Produkte eine Fair Trade Zertifizierung überhaupt möglich ist und auf welche über die allgemeinen Regeln hinaus reichende Aspekte bei der Zertifizierung geachtet werden muss. Auch regeln sie, ob Kooperativen von KleinproduzentInnen ausschließliche Zielgruppe des Zertifizierungssystems für dieses Produkt sind. So offenbart ein Blick in die Liste aller Fairtrade-Standards, dass es z.B. bei Kaffee nur Standards für KleinproduzentInnen gibt, bei 'Frischobst inklusive Bananen' dagegen auch eine Plantagenzertifizierung möglich ist. Dass die Entscheidung über die Reichweite der Zertifizierbarkeit anhand der Beschränkung auf KleinproduzentInnen bzw. der Öffnung für Plantagen eine politische sein kann, noch dazu nicht ohne Brisanz, hat das Beispiel des Austritt von Fairtrade USA aus der FLO-I gezeigt – ein Fall, in dem u.a. mit negativen Auswirkungen einer Plantagenzertifizierung auf KleinproduzentInnen argumentiert wurde. Andere Programme finden andere Lösungen, die entsprechende Konsequenzen auf die Reichweite/Zertifizierbarkeit haben. Ist das fair for life-Programm grundsätzlich offen für alle, wodurch auch fair gehandelte Garnelen möglich geworden sind, und zudem bemüht, über die erste Stufe der Warenkette hinaus die soziale Performance aller Kettenglieder/-knoten mit zu berücksichtigen, finden sich in den Naturland-Fair-Richtlinien Ansätze, die KleinproduzentInnen bevorzugen (Seite 8: „3.6.1 Vorrang für Kleinbauern“) oder Einschränkungen für Unternehmen festlegen, die nur einige wenige Produkte unter fairen Bedingungen führen (Seite 4: 218 Portraits der Teilfelder „Unternehmen, die nur einzelne Produkte Naturland Fair zertifizieren, dürfen in ihrer Außendarstellung nicht auf 'Naturland Faire Partnerschaft' hinweisen“). Wer einen Blick in die einzelnen Kapitel und Unterkapitel der Standards wirft, wird feststellen, dass die Zertifizierbarkeit einer Organisation oder eines Betriebs nicht nur an solche formalen Kriterien gebunden ist. Richtlinien und Standards legen auch inhaltlich vielfältige Voraussetzungen fest, die erfüllt werden müssen, um sich zertifizieren lassen zu können, so z.B. eine funktionierende Administration, um den Dokumentationsanforderungen gerecht zu werden, oder verfügbares Personal, um die Aufgaben im Bereich des Produktions- und Umweltmanagements wahrzunehmen. Damit ist eine Fair-Zertifizierung – wie jede Bio- oder sonstige Zertifizierung auch – an Kompetenzen und Kapazitäten der Organisationen und Betriebe gebunden. Dass dies insbesondere für die Zielgruppe der KleinproduzentInnen eine problematische Hürde darstellen kann, wird in zwei Konzepten der Standards der FLO-I aufgegriffen. Zum einen wird innerhalb aller Standards der FLO-I zwischen Kernanforderungen („core indicators“) und Entwicklungs-Indikatoren („development indicators“) unterschieden, die zudem einer zeitlichen Staffelung unterliegen. Während die Kernindikatoren zu einem gegeben Zeitpunkt (z.B. im Jahr 0, Jahr 1 oder Jahr 3 der Zertifizierungszugehörigkeit) erfüllt sein müssen, wird bei den Entwicklungs-Indikatoren ein Punktesystem (KleinproduzentInnen) bzw. eine jährliche Berichtspflicht (Plantagen) angewandt, wodurch kontinuierliche Verbesserungen in den Bereichen Organisation, Arbeitsbedingungen und Umweltschutz erzielt werden sollen, wobei im Fall des Punktesystems jeweils eine Mindestpunktzahl erreicht werden muss (vgl. Tab. 10). Diese dem System immanente Flexibilität soll – ähnlich den oft bei neuen Bio-Standards eingeräumten Übergangsbestimmungen – die Anpassungsfähigkeit der Zertifizierten bzw. an einer Zertifizierung Interessierten an die Anforderungen erhöhen. Darüber hinaus integriert sie eine prozessorientierte Komponente, die die Möglichkeit eröffnet, dass die angestrebten Verbesserungen auf dem Weg einer nachhaltigen Entwicklung nicht mir Erhalt des Zertifikats 'besiegelt' sind, sondern kontinuierlich weiter verfolgt werden müssen. Kernanforderungen und Entwicklungs-Indikato- Kernanforderungen und Entwicklungs-Indikatoren bei KleinproduzentInnen-Organisationen ren bei Firmen mit abhängig Beschäftigten In this Standard you will find two different types of In this Standard you will find two different types of requirements: requirements: - Core requirements which reflect Fairtrade principles - minimum requirements, which all companies must and must be complied with. These are indicated with meet from the moment they join Fairtrade. the term ’Core’ found in the column on the left throughout the Standard. - Development requirements which refer to the continuous improvements that certified organizations must make on average against a scoring system (also defining the minimum average thresholds) defined by the certification body. These are indicated with the term ’Dev’ found in the column on the left throughout the Standard - progress requirements, against which companies must demonstrate efforts towards longterm improvement and which should be developed according to a plan agreed by the company’s management, some within a specified period of time. A report on the achievement of progress requirements should be made available to the certification body each year. Tabelle 10: Definition von Kernanforderungen und Entwicklungs-Indikatoren in den FLO-IStandards für 'small producer organizations' und 'hired labor' 219 Kapitel 3 Zum anderen besteht ein weiterer grundlegender Standard für sogenannten „Vertragsanbau“, der die Problematik für organisatorisch noch nicht ausreichend aufgestellte KleinproduzentInnen grundsätzlicher aufgreift. Auf der Internetseite von Fairtrade Deutschland heißt es dazu: „Die Fairtrade-Standards für Vertragsanbau (auf Englisch "contract production") eröffnen kleinbäuerlichen Produzenten, die noch nicht ausreichend organisiert sind und somit die Einstiegskriterien für Kleinbauern nicht erfüllen, die Möglichkeit, trotzdem am Fairen Handel teilzunehmen. Damit die Produzenten diese Option nutzen können, ist Voraussetzung, dass eine Partnerschaft zu einer größere Farm, Plantage, Fabrik oder auch einer Nichtregierungsorganisation (NGO), existiert. Dieser Partner ist dazu verpflichtet, die Entwicklung der Kleinbauern voranzutreiben, so dass die Produzenten mittelfristig in die Lage versetzt werden, selbst eine formelle unabhängige Organisationsstruktur aufzubauen. Auf diese Weise können die Produzenten ihre Zukunft selbst in die Hand nehmen und im weiteren Verlauf eine Zertifizierung als selbstständige Kleinbauernorganisation anstreben. Die Fairtrade-Standards für Vertragsanbau bieten also eine Einstiegsoption für Produzenten, die noch nicht alle Voraussetzungen für die Fairtrade-Standards für Kleinbauern erfüllen.“ (www.fairtrade-deutschland.de [24.03.13]) Dabei fällt bei näherem Hinsehen auf, dass dieses interessante (und gleichwertig in einer Reihe mit den Standards für KleinproduzentInnen und Plantagen aufgeführte) Konzept geographisch und produktbezogen nur sehr selektiv angewandt wird. Es zählt nämlich nur für Basmati-Reis aus Indien, Trockenfrüchte aus Pakistan sowie Baumwolle aus Indien und Pakistan (vgl. Liste aller FLO-I-Standards). Entwicklungsdynamik der Standards zu Bananen und Garnelen aus Ecuador Die vorgenommene Erörterung dieser Richtlinien und Standards und einiger ihrer Kapitel und Unterkapitel stellt nicht nur 'nur' eine Auswahl dar, die einen Einblick in die Ebene der Programme eröffnet und einige grundsätzlichen Aspekte wie die relativen Unterschiede zwischen Standards oder formale und inhaltliche Ausgrenzungsmechanismen exemplifiziert, sie ist auch nur eine Momentaufnahme der in den Regelwerken zu einem bestimmten Zeitpunkt materialisierten Aushandlungsprozesse um die Definition solcher Steuerungsprogramme. Schon ein oberflächlicher Rückblick macht deutlich, dass es sich bei diesen Aushandlungsprozessen um ein höchst dynamisches Feld handelt, in dem die vorhandenen Regelwerke immer wieder überarbeitet, geändert und erweitert werden sowie neue Richtlinien entstehen. So hat z.B. die – zeitlich nach der Formulierung privater Bio-Standards (z.B. IFOAM Basic Standards) anzusiedelnde und u.a. an deren Erfahrungen anknüpfende – erste gesetzliche Regulierung der biologischen Landwirtschaft durch die EU Anfang der 1990er Jahre mehrfache Änderungen und Ergänzungen erfahren, deren grundlegende Überarbeitung bis auf Weiteres in den derzeit gültigen, oben genannten Verordnungen mündet. Erstmalig wurden Kriterien für ökologische Aquakultur von Naturland Anfang dieses Jahrtausends formuliert, die derzeitigen Durchführungsbestimmungen der EU enthalten erstmals gesetzliche Regelungen für diesen Bereich. Die FLO-I hat ihre Standards schon mehrmals überarbeitet, hat heute Standards für 220 Portraits der Teilfelder mehr Produkte als früher und in den letzten Jahren sind zusätzliche Fair-Richtlininen anderer Standard setzenden Organisationen entstanden, z.B. die Naturland-Fair-Richtlinien oder das fair for life-Programm (IMO/Bio Stiftung Schweiz). Ein Blick in die Richtlinien-Texte selbst deutet an, dass zum einen in diese Aushandlungsprozesse verschiedenste Interessen, Prinzipien und Zielsetzungen einfließen, zum anderen auch für die Überarbeitung und Neuformulierung der Standards Steuerungsinstrumente bestehen. Allein die Vorworte und 'Erwägungsgründe' offenbaren, welch unterschiedliche Leitlinien die Formulierung der Programme beeinflussen können. So stellt z.B. Naturland neben einer für die Praxis wichtigen Flexibilität und der Partizipation verschiedener „Experten“ („Landwirte, Verbraucher, Verarbeiter und Wissenschaftler“) die Beibehaltung von Qualität und Tiefgründigkeit hinsichtlich der „zentralen Grundprinzipien“ und des „ganzheitlichen Ansatzes“ im Widerstand gegen schnelllebige Trend in den Vordergrund: „Dem ganzheitlichen Anspruch treu bleiben Entscheidend für die konsequente Weiterentwicklung der Richtlinien ist, dass der ökologische Landbau nach den Naturland Richtlinien dem ursprünglichen Anspruch treu bleibt; dass es gelingt, schnelllebigen Trends zu widerstehen; dass nicht um rascher Erfolge willen Abstriche an elementaren Inhalten gemacht werden. Richtlinien können immer nur den äußeren Rahmen setzen, denn „Ökologischer Landbau“ auf der Basis von Vorschriften allein kann nicht funktionieren: Es ist die gemeinsame Zielsetzung, durch die er getragen wird. Dennoch sind exakte und vor allem bindende Vorgaben für die Praxis erforderlich, die aber in der Umsetzung genügend Raum für das Eingehen auf individuelle betriebliche Situationen lassen. Die Experten - Landwirte, Verbraucher, Verarbeiter und Wissenschaftler - die an der Entwicklung der Naturland Richtlinien beteiligt sind, haben diese Herausforderung immer neu gemeistert. Der äußere Rahmen für die Richtlinien wird gesetzt durch die zentralen Grundprinzipien des anerkannt ökologischen Landbaus, der Anspruch, mit unseren Lebensgrundlagen sorgsam und verantwortungsvoll umzugehen. Der ganzheitliche Ansatz, nachhaltiges Wirtschaften, praktizierter Natur- und Klimaschutz, Sicherung und Erhalt von Boden, Luft und Wasser sowie der Schutz der Verbraucher stehen im Zentrum aller Naturland Richtlinien. Dazu gehört auch gegenseitige Toleranz und respektvoller Umgang der Menschen untereinander und die Übernahme sozialer Verantwortung.“ (aus den Vorworten der „Naturland Richtlinien Erzeugung“ und „Naturland Richtlinien für ökologische Aquakultur“, Hervorhebungen SD) Dass Bio + Fair im Trend liegen, nimmt dabei durchaus Einfluss auf die Entwicklung neuer Standards. So führen IMO/die Bio Stiftung Schweiz auf ihrer Homepage und in der Präambel ihres fair for life-Programms auf, das Programm im Interesse (im Namen) derjenigen KonsumentInnen, ProduzentInnen, VerarbeiterInnen und Handelsfirmen entworfen zu haben, deren Nachfrage nach zertifizierten bzw. zertifizierbaren Produkten durch die bis dahin vorhandene Zertifizierungssysteme nicht bedient werden konnte: „Present fairtrade certification schemes do not cover the entire range of products, production situations and trade relations. In responding to the increasing demands of consumers, producers, processors, retailers and their global suppliers the Institute for Marketecology (IMO) and the Swiss Bio-Foundation have jointly created and implemented the Social & FairTrade Certification Programme in 2006.“ (www.fairtrade.net [25.03.13], Hervorhebung SD: ähnlich formuliert in: Fair For Life Social & Fairtrade Certification Programme, Version 2011, Seite 3 oben) 221 Kapitel 3 Auch die EU-VO sieht die Notwendigkeit einer Regulierung der ökologischen Aquakultur darin, dass eine Steigerung des „Verbraucherinteresses“ daran erwartet wird. Aufgrund der jungen Geschichte dieses Bereichs werden einerseits Übergangsmechanismen zugestanden, andererseits angesichts bestehender Wissenslücken und Erfahrungsdefizite weitere Überarbeitungen der Richtlinie vorgesehen: „(9) Da die Tierproduktion in ökologischer/biologischer Aquakultur noch in den Anfängen steckt, sind Elterntiere aus ökologischer/biologischer Produktion nicht unbedingt in ausreichenden Mengen verfügbar. Es ist vorzusehen, dass unter bestimmten Bedingungen auch Eltern- und Jungtiere nichtökologischer/nichtbiologischer Herkunft eingesetzt werden dürfen. […] (24) Die ökologische/biologische Aquakultur ist, im Vergleich zur ökologischen/biologischen Landwirtschaft mit ihrer langjährigen Erfahrung, ein verhältnismäßig junger Zweig der öko-logischen/biologischen Produktion. Da jedoch das Verbraucherinteresse an ökologischen/biologischen Aquakulturerzeugnissen wächst, dürften immer mehr Betriebe auf die ökologische/biologische Produktionsweise umstellen. Auch hier werden folglich bald mehr Erfahrung und technisches Wissen abrufbar sein. Außerdem dürften geplante Forschungsarbeiten neue Ergebnisse vorlegen, insbesondere über Haltungssysteme, über notwendige nichtökologische/nichtbiologische Futtermittelzutaten oder über optimale Besatzdichten für bestimmte Arten. Neue Erkenntnisse und technologischer Fortschritt, die Verbesserungen in der ökologischen/ biologischen Aquakultur bedeuten, sollten sich in den Produktionsvorschriften niederschlagen. Daher ist eine Klausel vorzusehen, dass diese Vorschriften überprüft und gegebenenfalls geändert werden können. […]“ (EU-VO 889/2008: Erwägungsgründe zur Verordnung (EG) Nr. 710/2009 der Kommission vom 5. August 2009) Es stellt sich angesichts dieser bestehenden Wissens- und Erfahrungslücken, unterschiedlichen Interessen und vielfältigen Akteursgruppen wie „Landwirte, Verbraucher, Verarbeiter und Wissenschaftler“ und nicht zuletzt die staatlichen und privaten Standard setzenden Organisationen selbst die Frage, wie es in der Praxis zu Neu- oder Reformulierungen solcher Regelwerke kommt und welche Auseinandersetzungen diese Praxis prägen. Einerseits sind regelmäßige Überarbeitungen und Ergänzungen verfahrenstechnisch vorgesehen. Diesen sind in der Regel nicht nur Fristen gesetzt, sondern sie folgen einem formalisierten Procedere, wie Meinungen eingeholt, Vorschläge aufgenommen und schließlich neue Formulierungen verhandelt und entschieden werden. Dies gilt nicht nur für gesetzgebende Verfahren im Rahmen der Entstehung und Reformulierung von EU-Verordnungen. Auch die privaten Standard setzenden Organisationen haben in den letzten Jahren Steuerungsprogramme entwickelt, die eine Mindestqualität bei der Standardentwicklung gewährleisten sollen. Im Mittelpunkt stehen dabei zum einen die Partizipation betroffener Stakeholder im Entwicklungsprozess der Standards, zum anderen Ansprüche an die Formulierung der Standards. So gründeten die großen Standard setzenden Organisationen aus dem Bereich des alternativen und ethischen Handels (darunter IFOAM, FLO-I, FSC, MSC, Social Accountability International, Rainforest Alliance) im Jahr 2002 die ISEAL Alliance (International Social and Environmental Accreditation and Labelling Alliance) als eine Interessenvertretung, die v.a. Leitlinien für die Entwicklung von Nachhaltigkeits-Standards und für die Überprüfung deren Wirkungen erstellt: „The ISEAL Alliance is an international nonprofit organisation that codifies best practice for the 222 Portraits der Teilfelder design and implementation of social and environmental standards systems“. Der „Setting Social and Environmental Standards v5.0. ISEAL Code of Good Practice“ umfasst Vorgaben zur Entwicklung und Formulierung von Nachhaltigkeits-Standards. Hierzu gehören Instrumente wie die Formulierung und Veröffentlichung klarer Terms of Reference und Zusammenfassungen, die Identifikation von und Kooperation mit relevanten Stakeholdern und öffentliche Konsultationen bei der Standard-Entwicklung, sowie Vorgaben hinsichtlich des logischen Aufbaus, der Konsistenz und der sprachlichen Darstellung bei der Standard-Formulierung. Mit der Befolgung dieses Standards über Standards können sich die Standard setzenden Organisationen quasi hinsichtlich der Erstellung ihrer Zertifizierungssysteme zertifizieren lassen. Knüpfen sich auch an solche 'Programme über Programme' Fragen der Zugänglichkeit (z.B. zu Entscheidungsprozessen), die – ähnlich wie auf Ebene der Programme selbst – sowohl an formale Zugangsvoraussetzungen, als auch an Kompetenzen und Kapazitäten, also Ressourcen, gebunden sein dürften, so erzeugen sie durch ihre prinzipielle Berücksichtigung partizipativer Fragen eine Legitimität, die auch gerne nach außen kommuniziert wird146. Abbildung 26: freudestrahlende Produzentin, die an der Entwicklung der Fairtrade-Standards mitgewirkt hat (TransFair e.V., Screenshot von www.fairtrade-deutschland.de [25.03.13]) 146 wenngleich intern ein Bewusstsein dafür besteht, dass hier Schwierigkeiten in der praktischen Umsetzung bestehen: „FLO unterhält ein Standard-Komitee, das diesen schwierigen Prozess verantwortet: vielen Beteiligten, die ihren Beitrag leisten können sollen, stehen aber begrenzte Ressourcen und Partizipationsmöglichkeiten gegenüber“ (Beitrag eines Vertreters der FLO-I in der Tagungsdokumentation des Forum Fairer Handel zu „Herausforderungen des Fairen Handels durch neue Akteure wie Transnationale Unternehmen und Discounter. Wie wirkt sich die Ausweitung des Fairen Handels auf seine Zielgruppen aus?“, s. http://www.forum-fairer-handel.de/#publikationen_ffh [25.03.13]) 223 Kapitel 3 Ein Hinweis darauf, wie einzelne Akteursgruppen ihre formale Mitsprachemöglichkeit in der Praxis realisieren, gibt die Schilderung eines Mitarbeiters von Naturland über den Entstehungsprozess der Durchführungsbestimmungen für ökologische Aquakultur der EU: „Seit Ende des Jahres 2007 wurden durch die DG MARE zahlreiche Expertentreffen organisiert, um Fachwissen für die Erstellung der Durchführungsbestimmungen zu erhalten. Diese Treffen waren durch Diskussionen zwischen 'Hardliner'- Positionen der privaten Zertifizierer und den eher Industriefreundlichen Positionen der Vertreter einzelner EU-Mitgliedstaaten, sowie (in geringerem Ausmaß) denen der Aquakulturindustrie selbst, gekennzeichnet. Es gab nur sehr geringen – wenn überhaupt vorhandenen – Input von Seiten der Umweltschutz-NGOs, die üblicherweise die Entwicklung des Aquakultursektors weltweit sehr kritisch betrachten. Darüber hinaus war der Beitrag von bereits zertifizierten ökologischen Aquakulturbetrieben gering, obwohl sie doch die am meisten betroffenen Akteure sind. Der ursprüngliche Plan der Kommission, die DVO für Aquakultur bereits im Jahr 2008 zu verabschieden, wurde zurückgezogen, da die Mitgliedsstaaten und der Öko-Sektor den Vorschlag als noch nicht ausgereift bewerteten und die Entscheidung somit auf den Sommer 2009 verschoben wurde. Drei aufeinanderfolgende, vorläufige Arbeitsdokumente zu den DVO für Aquakultur wurden in diesem langatmigen Prozess bisher entwickelt (das erste im Juli 2008). Die beteiligten Fachleute hatten jedoch Schwierigkeiten, den Zusammenhang zwischen ihrem Beitrag aus den Arbeitstreffen bzw. der weiteren Arbeit, die nachfolgend von ihnen geleistet wurde, und dem Inhalt der Arbeitsdokumente zu sehen. Ausserdem unterschieden sich die einzelnen Versionen erheblich voneinander.“ (IFOAM EU GROUP 2009:48f147). Andererseits stellt sich – neben diesen formalen Abläufen solcher Aushandlungsprozesse und ihrer Umsetzung in die Praxis – die Frage nach den Inhalte von Debatten, die bezüglich der Formulierung der Programme geführt werden, wie z.B. die eben genannten „Diskussionen zwischen 'Hardliner'- Positionen […] und den eher Industriefreundlichen Positionen […]“. Debatten zu Standards zu Bananen und Garnelen aus Ecuador Das zitierte Statement des Naturland-Mitarbeiters, abgedruckt in einer Veröffentlichung der IFOAM EU Group zur „neue[n] EU-Öko-Verordnung“ (IFOAM EU GROUP 2009), zeigt auf, dass diese Debatten in erster Linie als Spezialdiskurse zwischen Fachleuten, LobbyistInnen und PolitikerInnen ablaufen, die der Öffentlichkeit nur bedingt zugänglich sind. Positionen zu Detailfragen, deren Beantwortung aber mitunter von nicht zu unterschätzender Tragweite sein kann, wie es z.B. die obigen Überlegungen zur Reichweite der Zertifizierbarkeit veranschaulichen, werden selten deutlich, wenn das Thema Bio + Fair, oft 'inspiriert' durch den ein oder anderen Skandal, in breitenwirksamen Medien behandelt wird. Als interessierte ForscherInnen oder KonsumentInnen, als die wir den Produkten und Programmen folgen, haben wir, sofern wir nicht auf die ein oder andere Weise in einen der Spezialdiskurse involviert sind, die Möglichkeit, aktuelle Debatten durch eingehende Recherche und Analyse zu rekonstruieren. Im Bereich des Fairen Handels stellte es sich bereits als nicht ganz einfach heraus, Hintergründe zu Ereignissen wie dem Bruch zwischen Fairtrade USA und der FLO-I zu erfahren. Auf 147 zugänglich unter www.soel.de/fachthemen/downloads/ifoam_eu_dossier.PDF [25.03.13] 224 Portraits der Teilfelder den Internetseiten der FLO-I und ihrer Mitglieder war ein eher diplomatischer Umgangston in Bemühung um eine einheitliche, KonsumentInnenvertrauen bewahrende Außendarstellung zu beobachten. Ein Einblick darin, dass 'Fair-intern' kontroverse Debatten im Gange sind, braucht sich jedoch nicht unbedingt nur auf ein Lesen zwischen den Zeilen bzw. in disparaten Fragmenten, wie sie während unseres Einkaufs und bei unserer Internetrecherche zusammengestellt worden sind, beschränken. So bietet im deutschsprachigen 'Raum' z.B. das Forum Fairer Handel zusammenfassende Dokumentationen von Fachveranstaltungen als Download an148, die einen Teil dieser Debatten wiedergeben. Themen der Tagungen waren: „Was ist ein fairer Preis?“, „Die Wirkungen des Fairen Handels“ oder „Herausforderungen des Fairen Handels durch neue Akteure wie transnationale Unternehmen und Discounter. Wie wirkt sich die Ausweitung des Fairen Handels auf seine Zielgruppen aus?“. In der Dokumentation letztgenannter Veranstaltung kommen unterschiedliche Positionen zu Wort und die LeserInnen werden im Geleitwort zu einer Beteiligung an weiteren Auseinandersetzungen eingeladen: „Liebe Leserin, lieber Leser, der Faire Handel boomt, und immer mehr Akteure wollen an dieser positiven Entwicklung teil haben: weltweit steigen große Supermarktketten mit Fairtrade-Produkten in den Handel ein, in Deutschland führt Lidl eine TransFair-gesiegelte Eigenmarke ein. Nestlé ist Fairtrade-Lizenznehmer in Großbritannien, andere Transnationale Unternehmen streben eine FLO-Zertifizierung an oder arbeiten mit konkurrierenden Zeichen, um sich ein soziales Image zu geben. Wie wirkt sich das auf den Fair Handels-Markt insgesamt aus? Können Kleinbauern davon profitieren oder werden sie eher verdrängt? Verändert das die Grundidee, mit der der Faire Handel vor über 30 Jahren angetreten ist? Wie kann gewährleistet werden, dass diese Entwicklungen positiv für alle Beteiligten verlaufen? Ca. 70 TeilnehmerInnen diskutierten am 27.04.06 über diese Fragen auf einer internen Diskussionsveranstaltung des Forum Fairer Handel. […] Mit dieser Dokumentation möchten wir Ihnen die Ergebnisse der Veranstaltung zur Verfügung stellen. Zum einen gab es interessante Referate mit einer Fülle von Informationen über neue Entwicklungen im Fairen Handel. Zum anderen wurden in der Diskussion unterschiedliche Einschätzungen deutlich. Wichtige Argumentationslinien haben wir für Sie zusammengefasst. Daneben wurden viele weiter führende, grundsätzliche Fragen aufgeworfen, mit denen sich der Faire Handel in der nahen Zukunft auseinandersetzen muss. Vielleicht kann man sogar sagen, wir haben am 27.04. mehr Fragen aufgeworfen als Antworten gegeben. Diese Dokumentation stellt eine Momentaufnahme einer aktuellen, nicht abgeschlossenen Diskussion in der Fair Handels-Bewegung dar. Wir möchten die vielfältig aufgeworfenen Fragen an dieser Stelle fest halten und Sie einladen, sich in die zukünftige weiterführende Diskussion einzubringen!“ (Hervorhebungen SD) Die „unterschiedlichen Einschätzungen“ und „wichtigen Argumentationslinien“ lassen sich an den Beiträgen in der Tagungsdokumentation von Fairtrade Deutschland und der FLO-I einerseits, von BanaFair andererseits verdeutlichen. Fairtrade Deutschland (TransFair) argumentiert für die Zusammenarbeit mit dem Discount-Einzelhandel in erster Linie damit, dass die Absatzsteigerungen letztlich der Zielgruppe der ProduzentInnen zu Gute kommen: 148 http://www.forum-fairer-handel.de/#publikationen_ffh [25.03.13] 225 Kapitel 3 „Damit verändert der Faire Handel nicht die Handelslandschaft in Deutschland, kann sie sich aber nutzbar machen. TransFair sieht dies als einen Weg an, um ihrem Auftrag gerecht zu werden: mehr Absatz für die ProduzentInnen im Süden“ (Tagungsdokumentation S.5) Gleichzeitig wird am Beispiel der Kooperation mit Lidl auch vorgebracht, dass dieser Schritt den Auswüchsen des 'verwässernden' ethischen Handels entgegenwirken solle, verbunden mit der Hoffnung, indirekt auf die Einkaufs- und Personalpolitik des Discounters Einfluss nehmen zu können: „Es gibt die Hoffnung, dass die vereinbarte Kooperation nicht ohne Wirkungen auf die allgemeine Unternehmenspolitik von Lidl bleiben wird, aber dies taugt nicht als Messlatte für den Erfolg der Zusammenarbeit. Es gehört auch nicht zu den Aufgaben von TransFair, sich um die gewerkschaftliche Organisation der Lidl-Verkäuferinnen zu kümmern – hier gibt es eine Arbeitsteilung mit anderen Nichtregierungsorganisationen. Der Tenor der bisherigen nicht unbeträchtlichen Medienresonanz zu dieser Frage: Lidl wird die Einführung fair gehandelter Produkte nicht als billige Werbekampagne zur allgemeinen Imageaufbesserung nutzen können – denn wer sich beispielsweise für Kaffeebauern und –bäuerinnen in Honduras einsetzt, wird auch an die Verkäuferin in Darmstadt denken müssen. […] Angesichts der Tatsache, dass immer mehr Konzerne mit ‚pseudo-fairen’ Angeboten in den Markt drängen, ist es immens wichtig, dass große Akteure in Deutschland sich dem gesiegelten Fairen Handel anschließen. Chiquita macht bereits massiv Werbung mit der durch die Rainforest Alliance zertifizierte Banane, Jacobs wird im Bereich Kaffee demnächst mit der Rainforest Alliance auftreten. In anderen europäischen Ländern versuchen z.B. Carrefour und Utz Kapeh, eigene ‚faire’ Produktlinien ohne Siegel zu etablieren. Die Kooperation mit Lidl kann helfen, die Akzeptanz der Fairtrade-Standards auch bei neuen Akteuren zu erhöhen, vor allem wenn im Erfolgsfall weitere Unternehmen nachziehen. So lässt sich eventuell verhindern, dass andere Akteure im ‚fairen’ Markt Fuß fassen können, die nicht den internationalen Fairtrade-Standards gerecht werden. Dem befürchteten Imageschaden muss der Faire Handel mit der Schärfung seines Profils begegnen. Auf diese Art können wir die neuen Herausforderungen gemeinsam zum Wohl der ProduzentInnen meistern.“ (Tagungsdokumentation S.5) Der Standpunkt der Standard setzenden Organisationen bezüglich der Vermarktung wird durch einen Vertreter der FLO-I ergänzt um eine Argumentationslinie bezüglich der Standardentwicklung, die den KleinproduzentInnen Vorrang einräumt (entsprechend der FLO-I-Position gegenüber Fairtrade USA), dem Problem möglicher negativer Auswirkungen von Plantagenzertifizierung auf die Zielgruppe der KleinproduzentInnen jedoch ausschließlich durch die jeweilige Entscheidung begegnet, ob für ein Produkt Plantagenzertifizierung zugelassen wird oder nicht. Dabei wird auch das in der Kritik stehende Beispiel der Rooibos-Zertifizierung aufgegriffen und eine Überarbeitung angekündigt: „Die überwiegende Zahl der produktspezifischen Standards gilt nur für Kleinbauern und Kleinbäuerinnen. Standards für Firmen mit abhängig Beschäftigten gibt es nur für Tee, Frischfrüchte, Fußbälle und Blumen. Generell fragt der Standard bei Plantagen nach der Angemessenheit der Löhne, unabhängig davon, wie viel die Plantage in den Fairen Handel verkauft. Wenn produktspezifische Standards auch für Plantagen eingeführt werden sollen, muss gewährleistet sein, dass dies nicht auf Kosten der KleinproduzentInnen sein wird. Der Vorrang für KleinproduzentInnen hat vor allem entwicklungspolitische Gründe. Der Besitz von Land und das Eigentum an den Produktionsmitteln sind einer langfristigen Entwicklung förderlicher als der bloße Verkauf der eigenen Arbeitskraft. Die Einbeziehung von Plantagen in den Fairen Handel würde sich in einigen Bereichen, z.B. bei Kaffee, katastrophal für Kleinbauern-Kooperativen auswirken. In anderen Berei226 Portraits der Teilfelder chen aber wäre sie durchaus auch unter entwicklungspolitischen Gesichtspunkten möglich und sinnvoll, z.B. bei Mangos aus Südafrika – dies sollten die Standards zukünftig auch zulassen. Das Beispiel Rooibos-Tee zeigt, dass die Einbeziehung von Plantagen auch wieder zurückgenommen werden kann. Rooibos wurde in den Teestandard integriert, was es ermöglichte, auch Rooibos-Plantagen zu zertifizieren. Diese Einordnung war möglicherweise ein Fehler, die Bedingungen bei der Rooibos-Produktion sind andere als bei Tee. Rooibos gehört als nicht-fermentiertes Getränk zu den Kräutergetränken. Der Standard wird gegenwärtig überprüft und vermutlich geändert.“ (Tagungsdokumentation S.6) Demgegenüber plädiert der Vertreter von BanaFair am Beispiel Bananen für einen differenzierteren Umgang mit der Unterscheidung zwischen Kleinproduktion und Plantagenwirtschaft, der eine entsprechende Gestaltung der Standards über die Frage 'produktspezifische Standards für Plantagen ja oder nein' hinaus implizieren könnte: „Bananen-Produktion: Plantagen oder kleinbäuerlich? Das Verhältnis von Plantagen und Kleinbauern in der Bananenproduktion muss differenziert betrachtet werden. Bananenproduktion findet – von wenigen Ausnahmen abgesehen - überwiegend in Plantagen statt. Dabei kontrollieren nur fünf Transnationale Unternehmen 80% der weltweiten Produktion und Vermarktung. Das Hauptproblem für KleinproduzentInnen ist oft der fehlende Marktzugang. Die größeren arbeits- und menschenrechtlichen sowie ökologischen Probleme jedoch existieren in der Plantagenproduktion. Der Faire Handel kann sich bei Bananen deshalb nicht auf Kleinbauern beschränken, sondern muss sich auch um die Beschäftigten von privaten Plantagen kümmern. Aus meiner Sicht ist allerdings eine klare Trennlinie zu Transnationalen Konzernen zu ziehen, die letztlich ja genau für die Zustände verantwortlich sind, die der Faire Handel überwinden will. Fairer Handel ist kein geeignetes Instrument zur Verbesserung von Multis. Es kommt einem Missbrauch gleich, über Fairtrade das erreichen zu wollen, was eigentlich ohnehin die Aufgabe der Multis wäre, z.B. angemessene Löhne zu bezahlen. Eine Benachteiligung im Sinne der ursprünglichen Definition von Fairem Handel, also etwa durch „ungerechte Handelsbedingungen“, kann ich bei einem TNC wahrhaftig nicht konstatieren. Im Bananen-Produzentenregister von FLO sind zurzeit 29 ‚producer’. Zwei Drittel davon sind gemeinschaftlich organisierte Produzentengruppen, zum Teil recht kleine und schwache, aber auch einige große und sehr leistungsfähige. Ein Drittel sind private Plantagenbetriebe, mit teilweise mehreren hundert ha Größe und mehreren hundert Beschäftigten.“ (Tagungsdokumentation S.8) Die Frage der Zertifizierung von Konzernen und der Zusammenarbeit mit den Discountern begegnet der BanaFair-Vertreter explizit mit einem Appell, die Standards differenzierter zu gestalten, Konfliktpotential zwischen unterschiedlichen Produktionsformen ('negative Wechselwirkungen') zu benennen, das in der Öffentlichkeit platzierte „'Kleinbauern'-Image“ zu überdenken und nicht nur auf das Vermarktungsargument zu setzen: „Die Platzierung von TransFair-gesiegelten Produkten im Discount sowie die angestrebte FLO-Zertifizierung von Produktionseinheiten multinationaler Konzerne sind Fragen, an denen sich in der Fair Handels-Bewegung die Geister scheiden. Darin liegt zumindest die Chance einer notwendigen Diskussion über Ziele und Strategien und die Grundprinzipien des Fairen Handels. Drei Punkte will ich nennen, die aus meiner Sicht in dieser Diskussion wichtig sind: • Klärung und Präzisierung von Begriffen (z.B. ‚die Produzenten’: ist das wirklich eine homogene Gruppe oder gibt es nicht vielmehr auch Interessenskonflikte, die zu benennen wären?, Vermarktung des ‚Kleinbauern’-Images muss hinterfragt werden, u. a.); • Neue Akteure erfordern neue Kriterien: es darf sich nicht jeder mit dem Fairtrade-Image schmücken; not- 227 Kapitel 3 wendig sind Standards auch für den Handel!; • Keine Reduzierung von Fairtrade allein auf Umsatzziele und Marktorientierung: der Faire Handel ist auch eine bildungs- und entwicklungspolitische Bewegung.“ (Tagungsdokumentation S.9) Während solche Dokumente des Forum Fairer Handel einige der wenigen Lichtblicke darstellen, die die Positionierungen zwischen 'movement actors' und 'market actors'149 als gelebte Praxis offenbaren, fällt der Zugang zu Debatten im Bio-Bereich ein wenig leichter, zumindest was die Stellungsnahmen und internen Auseinandersetzungen der Bio-Bewegung rund um die IFOAM und ihre Mitgliedsverbände angeht. Dies kann u.a. darauf zurückgeführt werden, dass zum einen die Auseinandersetzungen zwischen der Organisation, die die Mindeststandards setzt (die EU), und den Organisationen, die für weiterreichende Regelungen eintreten (IFOAM und ihre Mitglieder) stärker institutionalisiert und in staatlich einerseits, zivilgesellschaftlich andererseits unterteilt sind. Dies führt zu offiziellen bzw. öffentlichen Stellungsnahmen (z.B. Presseerklärungen oder Veröffentlichungen wie die bereits zitierte der IFOAM EU Group), deren Entsprechungen im Bereich des Fairen Handels tendenziell eher intern verhandelt werden. Zum anderen ist die Bio-Bewegung was die Ressourcen angeht breiter aufgestellt, sodass z.B. die IFOAM mit 'Ecology & Farming' (E&F) ihre eigene Fachzeitschrift herausgibt, die einen durchaus facettenreichen Einblick in die Debatten der letzten Jahrzehnte bietet. In E&F finden sich (hier im Zeitraum von 1999 bis 2006) 'special feature' zu Themen wie „Trade in organic produce“ (E&F 22) mit einem Beitrag zum Verhältnis zum fairen Handel („Organic farming and fair trade. 'What belongs together belongs together'“); „Local markets“ (E&F 26) mit Beiträgen wie „Regional and Seasonal“, „Global organic trade and the buy local objective. Is there room for both?“ oder „The first IFOAM Latin American local and regional organic markets conference“; „Animals“ (E&F 27) mit einem – von Naturland beigetragenen – Artikel zu „Organic shrimp production“ (BERGLEITER 2001) „Social Responsibility“ (E&F 30) mit Artikeln wie „A social agenda for organic agriculture?“, „Internal Control Systems. A chance for smallholder groups“ oder „Organic and fair trade growing together“ „Organic trade and marketing“ (E&F 34), darunter die Beiträge „Trade and marketing. No simple solution“, „Friend and foe in organic supermarketing“, „Organic and fair. Two different philosophies or just two sides of the same coin?“ und „Agroecology. Rescuing organic agriculture from a specialized industrial model of production and distribution“ „Aquaculture“ (E&F 35) mit dem Beitrag von Naturland: „Organic standards in shrimp farming“ (BERGLEITER 2004) „IFOAM´s projects“ (E&F 37), dabei u.a. „Strengthening organic agriculture in developing countries. IFOAM´s programme 'I-GO'“, „Internal Control Systems for smallholder producers in developing countries“ und „Training farmers in developing countries. The IFOAM Training Manual for Organic Agriculture in the Tropics“ „Principles of organic agriculture“ (E&F 36), darunter u.a. „The history of organic standards“, „Principles of Organic Agriculture. History and Process of rewriting“ und „Why have basic principles for organic agriculture?…and what kind of principles should they be?“ „Internal Control Systems“ (E&F 39), u.a. mit regionalen Erfahrungsberichten zu den ICS. 149 vgl. Kapitel 1.2.3 228 Portraits der Teilfelder Diese selektive Übersicht deutet zum einen an, dass hier grundsätzliche Fragen und Kontroversen diskutiert werden (wie z.B. Spannungen durch die Globalisierung der Bewegung, durch eine zunehmende 'industrielle Koordination' und eine damit verbundene Abkehr von einem agrarökologischen Modell; oder Spannungen bei der Vermarktung von Bio-Produkten oder der Formulierung von Standards), dass soziale Aspekte und insbesondere 'Bio + Fair' immer wieder aufgegriffen werden und dass entwicklungspolitische Fragen in Verbindung mit praktischen Lösungsansätzen (z.B. Ausbildung von und Ausbildungsmaterialien für LandwirtInnen in den Tropen) auf der Agenda stehen. Dabei lässt allein manche Überschrift darauf schließen, dass diese Diskussionen durchaus reflektiert und kritisch ausfallen, so z.B. die „Rettung“ der Agrarökologie ( z.B. Mischkultur und Agroforstsysteme) vor „industriellen Modellen der Pro- duktion und Vermarktung“ ( Bio auch für Monokulturplantagen?). Zum anderen kommen mit (1) den Bio-Garnelen und (2) dem Internen Kontrollsystem (ICS) zwei Themen mehrfach zur Sprache, die für unseren bisherigen Fokus auf Bio + Fair bei Garnelen und Bananen aus Ecuador von besonderem Interesse sind. (1) Einführung von Bio-Standards für Garnelenzucht: Das Konzept und Projekt für die Formulierung von Standards für eine Bio-Zertifizierung von Garnelen aus Aquakultur wird in zwei Artikeln (BERGLEITER 2001, 2004) vorgestellt. Dabei wird zum einen der institutionelle Zusammenhang deutlich. Aus Kontakten zwischen ecuadorianischen Garnelenzuchtfirmen und Naturland entstand zur Jahrtausendwende die Idee einer gemeinschaftlichen Initiative zur Entwicklung von Biogarnelen, die in einem von der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) finanzierten und von der Consulting-Firma WECO begleiteten Public Private Partnership-Projekt (PPP) mündete: „The project´s central objective is the adjustment of requirements for organic production to the special conditions of shrimp culture and, therefore, to develop a special set of standards as a base for future certification“150. Runde Tische mit verschiedenen Stakeholdern („shrimp farmers, scientists, Ecuadorian authorities and personnel involved in local development programmes as well as NGOs active in the field of coastal ebvironment/mangrove protection“151) werden – zusammen mit der Konsultation 'internationaler Experten' – als das zentrale Instrument bei der Festlegung der Standards ausgewiesen. Zum anderen stellen die Ergebnisse des Projekts – erstmalige Bio-Standards und die erste Bio-zertifizierte Garnelenfarm weltweit – aus der hier vertretenen Sicht einen Erfolg dar, der zeigt, dass eine nachhaltige Garnelen-Aquakultur möglich ist und durch eine unabhängige Zertifizierung gewährleistet werden kann: „Shrimp farming is a highly profitable industry, but carried out irresponsibly can be socially and environmentally devastating. The rise of organic methods have shown it is possible to have financially successful operations that are sensitive to their surrounding social and physical environments.“ (BERGLEITER 2004:24) Mögliche negative Auswirkungen der Garnelenzucht auf die natürliche Umwelt sowie die BewohnerInnen und NutzerInnen dieser werden einerseits wahr-, andererseits als durch BioGarnelenzucht vermeidbar bzw. auch umkehrbar angenommen. Es werden 150 BERGLEITER 2001:22 151 BERGLEITER 2001:22 229 Kapitel 3 „five of the more difficult topics that are vital to any serious approach towards organic shrimp farming“ (BERGLEITER 2004:24, Hervorhebungen SD) angesprochen: eine Politik bezüglich des Umgangs mit Mangroven, der Einsatz von Antibiotika und Pestiziden, Futtermittel, das Management der Brut-Laboratorien für Larven und soziale Aspekte (ArbeiterInnen, umliegende Gemeinden). Die Ansprüche, die an Bio-Standards für Garnelenzucht hierbei formuliert werden, sind hoch. Zu einer Politik des Umgangs mit Mangroven wird die Notwendigkeit einer 'historischen Dimension' erläutert: „There must be a policy regarding choice of production site and interaction of the farm with the sensitive mangrove girdle. It is not enough for standards just to state that 'no mangrove should be destroyed by the farm'. There are many farms that in minor parts were built on mangrove areas, sometimes decades ago, and it must be clear what should happen to these ex-mangrove part during the conversion to organic farming. […] in Ecuador, due to geographical and social conditions, the strategy is […] directed towards the protection of the ancient mangrove stands, leaving them untouched or, if need be, restored as traditional fishing grounds.“ (BERGLEITER 2004:24, Hervorhebungen SD) Die Verknüpfung der Wiederaufforstung mit der Wiederherstellung traditioneller Territorien für Fischerei verweist darauf, dass die Situation der Gemeinden und NutzerInnen der Umgebung miteinbezogen werden soll. Dieser Anspruch wird beim Thema 'soziale Aspekte' weiter vertieft und betont, wobei neben dem Grundsätzlichen auch auf die Einbeziehung der betroffenen Stakeholder durch verschiedene Instrumente (von runden Tischen und Seminaren bis hin zu formalisierten Partizipationsprozessen) hingewiesen wird: „A permanent task for programmes active in the certification of shrimp is to follow-up the social and political context of shrimp aquaculture in the respective countries. The issues may vary considerably, but are likely to include dealing with labour conditions, land rights, conflicts between shrimp companies and artisanal fishermen and integrating within big scale coastal zone management programmes. Adequate tools for achieving this sort of communication with stakeholders and obtaining their input on a regular basis, usually are round-table meetings, workshops and seminars. In special cases, even a formal 'stakeholder process', such as that operated in Forest Stewardship Council (FSC) certification, should be considered. In any case, taking into account issues 'beyond the single farm´s fence' is necessary for maintaining relevance and credibility of every organic shrimp initiative.“ (BERGLEITER 2004:25, Hervorhebungen SD) Dieser hohe und umfassende Anspruch erinnert an die Botschaft der Pizzapackung sowie an die dazu in Kontrast stehenden anklagenden Worte aus dem Interview mit einem der Vertreter des ecuadorianischen Mangrovenschutznetzwerks C-Condem. (2) Internes Kontrollsystem (ICS):Mit den intensiven Bemühungen um die Entwicklung eines Internen Kontrollsystems für KleinproduzentInnen-Organisationen (Workshops zur Harmonisierung des Systems; Ausarbeitung von Handbüchern für Organisationen und BeraterInnen in Kooperation mit IMO, aufbauend u.a. auf Erfahrungen von Naturland) wurde in den vergangenen Jahren seitens der IFOAM auf die internationale Anerkennung eines Instruments hingearbeitet, das in seinem Kern die Probleme ('negativen Wechselwirkungen') von KleinproduzentInnen-Organisationen aufgreift, wenn sie – wie in diesem Fall im Bio-Sektor – im Wettbewerb 230 Portraits der Teilfelder zu großen Produktionseinheiten stehen. Durch eine organisationsinterne Regelung, durch die Beschäftigung von qualifiziertem Personal und durch interne Kontrollen sollen nicht nur Qualität und Kompetenzen der angeschlossenen Betriebe und der Organisation als Ganzes verbessert werden, sondern v.a. auch die Kosten einer Zertifizierung reduziert werden können. Die Grundidee ist, dass bei einer Organisation, die ein funktionierendes ICS vorweisen kann, nicht mehr alle Mitgliedsbetriebe im Rahmen einer Bio-Zertifizierung inspiziert werden müssen, sondern nur eine Stichprobe, wodurch die Inspektionskosten geringer ausfallen. So können bezüglich der Zertifizierungskosten bestehende Wettbewerbsnachteile der Kleinen – mühevolle und oft jahrelange Aufbauarbeit eines ICS vorausgesetzt – langfristig zwar nicht vollständig behoben, aber doch gemindert werden. Dabei können bei der Konkretisierung der Grundidee Streitpunkte zwischen den InteressenvertreterInnen der KleinproduzentInnen und der Standard setzenden Organisationen (z.B. der EU) auftreten, (z.B. in der Frage, ob die Stichprobe nun 5% oder 10% der Mitgliedsbetriebe umfassen soll), die auf die tatsächliche Wirkung des Instruments erheblichen Einfluss haben können. Allgemein wird das ICS, von dem Naturland nach jahrelanger Praxiserfahrung sagt, es sei „one of the most important prequisites for a successful development in the international certification of smallholder organisations producing organically“ (E&F 30/2002:23), als zentral für die Stärkung von KleinproduzentInnen angesehen. Dem ICS werden dabei auch Synergieeffekte zwischen Bio + Fair zugetraut, indem als künftige Herausforderung angeführt wird, „[to] [h]armonize fair trade and organic certification by using ICS as a part of a general management system for producer groups“ (E&F 37/2004:30). Die beiden aus 'Ecology&Farming' ausgewählten Themen als Beispiele für interne Aushandlungsprozesse der IFOAM und ihrer Mitglieder als die zivilgesellschaftlichen 'Bio-Standard-Setzer' veranschaulichen deren Innovationskraft in der Entwicklung von Standards und Instrumenten verbunden mit hohen Ansprüchen hinsichtlich ökologischer und sozialer Tiefenwirkung. Dies kommt auch in externen Positionierungen gegenüber der EU zum Ausdruck, die die gesetzlichen (Mindest)Standards definiert. Ein erneuter Blick in die von der IFOAM EU Group publizierten Kommentare zur neuen EU-Verordnung kann zeigen, wie diese Themen und die damit verbundene Positionierung als innovativ und streng darin aufgegriffen werden. So wird es als bedeutender Verhandlungserfolg der IFOAM dargestellt, dass entgegen ursprünglicher Entwürfe der EU die Koexistenz der privaten Verbandszertifizierungen bzw. deren Kenntlichmachung mittels der Siegel beibehalten wird, was deren Innovationskraft und Einfluss auf die Gewährleistung strenger Qualität aufrecht erhält: „Private Richtlinien und das EU-Logo: Ein Ziel der neuen EU-Öko-Verordnung war, den Einfluss derjenigen Kontrollstellen einzuschränken, die nach privaten Standards arbeiten. Durch anhaltende Lobbyarbeit ist es gelungen, dass die diesbezüglichen Passagen aus dem Verordnungsentwurf gestrichen wurden. Stattdessen wurde ein vorgeschriebenes EU-Logo eingeführt. Dieses stand von Anfang an unter einem schlechten Stern, und es muss sich erst noch zeigen, wie es sich in der Praxis bewährt. Es ist unerlässlich, noch einmal die bedeutende Rolle der Verbände mit privaten Richtlinien zu betonen: Sie spielen eine Vorreiterrolle, indem sie Quellen der Erneuerung und Ursprung für lokale Identität, Erzeuger- und Verbraucheraufklärung, 231 Kapitel 3 verstärktes öffentliches Vertrauen und die Entwicklung des Marktes sind. All dies ist wesentlich für eine weitere dynamische Ausbreitung der biologischen Land- und Lebensmittelwirtschaft. Sie sind integraler Bestandteil der 'Gans, die goldene Eier legt'. Der EU-Öko-Verordnung kommt die wichtige Aufgabe zu, eine Grundlage bereitzustellen, die die Qualität und Seriosität der gesamten Bio-Produktion und -Verarbeitung garantiert. Dagegen sorgen private Richtlinien kontinuierlich für Verbesserung und ermöglichen es dem Bio-Sektor, seinen Anwendungsbereich auszudehnen. Die Beteiligung der Akteure bei der Entwicklung von privaten Richtlinien ist groß, was auch zur Vertrauensbildung beiträgt, da so auf lokale und regionale Bedürfnisse eingegangen und die Verbraucherbindung gefestigt werden kann.“ (IFOAM 2009:19, Hervorhebungen SD) Ein weiterer Erfolg der Aushandlungsprozesse um die neue EU-Verordnung wird in der Akzeptanz der Gruppenzertifizierung basierend auf dem ICS, dem „Haupterfolg der frühen Jahre dieses [des letzten; SD] Jahrzehnts“ gesehen: „Begleitdokument für Importe und Gruppenzertifizierung: Das Begleitdokument für Importe der Kommission soll für noch mehr Klarheit in dem komplizierten Bereich der Importregeln und Durchführungsvorschriften sorgen. Eins der Prinzipien der Kommission ist hierbei die 'Vereinfachung der Anerkennung'. […] Das vielleicht wichtigste Element in diesem Begleitdokument (insbesondere für Tausende von Kleinbauern, von denen auch viele Händler des Fairen Handels-Sektors Bio-Produkte kaufen) ist, dass es ‚Richtlinien für die Evaluation der Gleichwertigkeit von Zertifizierungs-Systemen, die auf biologischer Erzeugergruppen in Entwicklungsländern angewandt werden’ gibt. Die Gruppenzertifizierung, die sich aufs Interne Kontrollsystem stützt, kann als ein Haupterfolg der frühen Jahre dieses Jahrzehnts betrachtet werden. Damals kamen Hunderte von Interessensvertreter aller Sparten zusammen, um sich über die Glaubwürdigkeit dieses Zertifizierungstypes und seiner Anwendung zu einigen. Aus Sicht des Fairen Handels war es von außerordentlicher Wichtigkeit, dass die Kommission sich in ihrem Begleitdokument auf die Gruppenzertifizierung beziehen würde – und sie hat es getan!“ (IFOAM 2009:46, Hervorhebungen SD) Andersherum sind die Positionierungen der staatlichen Einrichtungen hinsichtlich der Aushandlungsprozesse in der Standardentwicklung schwerer zu fassen. Die Entstehung der Standards für Bio-Garnelen im Rahmen eines GTZ-finanzierten PPP-Projekts zeigt, dass staatliche Einrichtungen nicht nur gesetzgebend und in der Öffentlichkeitsarbeit tätig sind, sondern auch förderpolitisch zur Entwicklung neuer Standards beitragen. Die Ausrichtung solcher Förderpolitik erfordert dabei auch Richtungsentscheidungen für die ein oder andere Position bzw. die Berücksichtigung von zentralen Fragenkomplexen und Spannungsfeldern wie dem zwischen Tiefen- und Breitenwirkung. Insbesondere das BMZ und die GIZ152 wirken aktiv an der Entwicklung und Einführung freiwilliger Umwelt- und Sozialstandards in 'Entwicklungsländern' mit. Dabei beschränkt sich das Engagement nicht nur auf Initiativen im Bereich Bio + Fair (wie im Beispiel der Bio-Garnelen), es werden auch breiter angelegte Ansätze des ethischen Handels unterstützt. So präsentiert die GIZ z.B. die maßgeblich vom BMZ und seinem ausführenden Unternehmen (GTZ/GIZ) aufgebaute 4C-Initiative als „Erfolgsgeschichte“153: „Eine der Standardentwicklungen, die die GIZ im Auftrag des BMZs begleitet hat, ist eine wahre Erfolgsgeschichte mit breiter Wirkung: der Common Code for the Coffee Community (4C). Was als privat-öffentliche Partnerschaft zwischen GIZ im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und 152 in der die GTZ mittlerweile aufgegangen ist 153 vgl. dazu Kapitel 1.2.4 232 Portraits der Teilfelder Entwicklung (BMZ) und dem deutschen Kaffeeverband begann, ist mittlerweile eine eigenständige Organisation, die den Kaffeesektor verändert hat. Industrie und Handel, Kaffeeproduzenten und Zivilgesellschaft haben gemeinsam einen Basisstandard für Kaffeeanbau und Verarbeitung entwickelt. Dieser wurde ergänzt durch Verpflichtungen für Industrie und Handel und ein weitreichendes Unterstützungsprogramm für die Produzenten, das von der Kaffeeindustrie im Norden finanziert wird. Durch die nachhaltigen Anbaumethoden und Trainings können die Bauern umweltschonender produzieren, ihre Produktivität erhöhen, Kosten sparen und in einen direkten Dialog mit den Kaffeehändlern treten.“ (http://www.giz.de/Themen/de/28536.htm [26.03.13]) Aufschlussreicher als solche Selbstdarstellungen können im Auftrag der staatlichen Einrichtungen erstellte Studien sein. So eröffnet der in der Reihe „Evaluierungsberichte“ des BMZ veröffentlichte Synthesebericht „Einführung freiwilliger sozialer und ökologischer Standards in Entwicklungsländern“154 die – vom BMZ im Wesentlichen begrüßten155 – Ergebnisse und Empfehlungen einer Evaluierung des staatlichen Engagements im Bereich der Zertifizierungsinitiativen und gibt auch Einblick in die Förderverfahren und Instrumente, die bei diesem Engagement angewandt werden156. Als zentrale Herausforderungen in der Standardförderung werden 'Breitenwirksamkeit', 'Nachhaltigkeit' und 'Standardvielfalt und Kosten der Zertifizierung' genannt. Während der erste Punkt die Unterstützung möglichst breit angelegter Initiativen (ethischer Handel) bevorzugt, greifen die anderen beiden u.a. auch mögliche Benachteiligungen für KleinproduzentInnen als eine der Zielgruppen auf. Einige der strategischen Handlungsempfehlungen verdeutlichen, dass dadurch einerseits die im Feld von Bio + Fair kontrovers diskutierte Position nahegelegt wird, möglichst jegliche Akteurstypen in breit angelegten Standardinitiativen zu berücksichtigen: „[...] 3. Der Fokus der Entwicklungspolitik bei der Förderung freiwilliger Standardinitiativen muss dabei konsequent auf Breitenwirksamkeit ausgerichtet werden. Dies beinhaltet die vordringliche Förderung der „Mainstreamstandards“ 4C im Kaffeesektor, Cotton made in Africa (CmiA) im Baumwollsektor in Afrika, Forest Stewardship Council (FSC) im Forstsektor, Round Table on Responsible Soy (RTRS) für Soja und Round Table Sustainable Palm Oil (RSPO) für Palmöl, die ein hohes Potenzial zur Breitenwirksamkeit aufweisen. […] 5. Die Konkurrenz unter den Standardinitiativen kommt weder den Produzenten noch den Konsumenten zugute und hat eher negative Wirkungen im Textil- und Blumenmarkt gezeigt. Deshalb sollten von der deutschen EZ nur solche Standardinitiativen gefördert werden, die zur Kooperation mit anderen Initiativen bereit sind und das Konzept der Kooperation auch in ihrem Standard verankert haben […]“ (RAMM et al. 2008:15f, Hervorhebungen im Original) Andererseits werden in den Empfehlungen die Nachteile ('negative Wechselwirkungen') für KleinproduzentInnen (eingeschränkte Kompetenzen und Kapazitäten, hohe Zertifizierungskosten) erkannt und als Herausforderung bzw. zu lösendes Problem benannt: 154 Kurzfassung unter: http://www.bmz.de/de/publikationen/reihen/evaluierungen/evaluierungsberichte_ab_2006/EvalBericht042.pdf [26.03.13]; Langfassung (RAMM et al. 2008) auf Anfrage erhältlich 155 vgl. Seite 22 der Kurzfassung 156 v.a. übergreifendes Sektorvorhaben bzw. Programm; Mehrebenenansatz, Finanzierungshilfen für neue Standardinitiativen, Begleitung/Beratung etablierter Initiativen, bilaterales Mainstreaming, Public Private Partnership, Wissensmanagement, Kooperationen mit staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren, Multi-Stakeholder-Prozesse, StakeholderAnalyseverfahren, Aufbau von Verifizierungsmechanismen, Dialog 233 Kapitel 3 „[...] 8. Das Thema Capacity Building bei den Kleinbauern, Produzenten und Arbeitern sowie im Management ist und bleibt ein zentraler Engpass im Zusammenhang mit der Einführung und Umsetzung von freiwilligen Standards. Hier ist die EZ kurzfristig noch direkt gefordert, die Anstrengungen sollten jedoch darauf konzentriert werden, die lokale Infrastruktur für die Erbringung dieser Dienstleistungen weiter auszubauen. 9. Im Rahmen von Vorhaben zum Aufbau von Qualitätsinfrastruktur in Entwicklungs- und Schwellenländern sollte auch der Aufbau von lokalen Zertifizierern und die Stärkung von nationalen Akkreditierungssystemen gefördert werden, um die Zertifizierungskosten besonders für kleine Erzeuger zu senken und so den Zugang zu Standards zu erleichtern […]. In Zusammenarbeit mit Fachexperten und bestehenden Standardinitiativen sollten insbesondere Ansätze geprüft und getestet werden, die die Zertifizierungskosten für Kleinproduzenten entweder minimal halten oder innerhalb der WSK [Wertschöpfungskette; SD] weiter oben lokalisieren […]“ (RAMM et al. 2008:16, fette Hervorhebungen im Original, kursive SD) Bio + Fair werden als Alternativmärkte wegen ihrer Tiefenwirkung und weil sie komplementär zu den Massenmärkten keine Konkurrenz zu diesen darstellen, als ebenfalls förderungswürdig eingestuft. Das „Fazit der Auswertung“ von Bio + Fair „aus entwicklungspolitischer Sicht“: „Durch die Förderung von Alternativmärkten wie Fairtrade und Ökolandbau157 wird für eine kleinere Gruppe von Nutznießern Tiefenwirksamkeit sichergestellt. Beide Standards zeichnen sich zudem durch eine hohe Integrationsfunktion von Kleinbauern aus. Ferner haben die Märkte noch ein hohes Zukunftspotential und wachsen gegenwärtig sehr dynamisch. […] Die Standards sind in Lateinamerika (Brasilien, Ekuador, Peru, Costa Rica) in der Produktion, dem Export und in geringerem Maße in dem einheimischen Konsum bereits etabliert. Hier sollte die EZ im Rahmen von bilateralen Projekten selektiv Fairtrade und Ökolandbau fördern und stärker lokales Know-how für die Unterstützung der Zertifizierung aufbauen. […]“ (RAMM et al. 2008:94f, Hervorhebungen im Original) Solche – hier von einem externen Gutachterteam an das Ministerium herangetragene – Bausteine von Wissen zeigen auf, dass auch innerhalb der (ähnlich wie bei den anderen Akteursgebilden) heterogenen internen Aushandlungsprozesse staatlicher Einrichtungen, die im Bereich der Standardsetzung aktiv sind, vergleichbare Fragenkomplexe hinsichtlich der Ausrichtung der mitgestalteten Zertifizierungssysteme präsent sind. Verfahren: die Zertifizierungsfirmen Voranstehende Ausführungen lassen die Komplexität der Ebene der Programme erahnen und machen sowohl einige der Herausforderungen und Schwierigkeiten deutlich, die insbesondere dann auftreten, wenn man in Details wie z.B. die Festlegung bestimmter Werte oder die Abgrenzung der Reichweite der Standards geht; als auch eröffnen sie einen Einblick in einige der Debatten, die im Kontext der Festlegungen von Programmen geführt werden. Wenn wir uns abschließend den Zertifizierungsfirmen zuwenden, verspricht dies einen ersten Schritt von der Programmebene hin zu den Praktiken, durch die die Programme zur Anwendung kommen. Während sich die meisten dieser Firmen online in erster Linie als Dienstleisterinnen präsentieren, die eine Schlüsselfunktion in der Umsetzung einer gesellschaftlich erwünschten, nachhaltigeren Wirtschaftsweise einnehmen, wobei sie ihre Kompetenz in der 157 diese Förderung „ist ökonomisch durchaus sinnvoll, weil sie [die Alternativmärkte; SD] Marktsegmente bedienen, die nicht in direkter Konkurrenz zum Massenmarkt stehen“ (RAMM et al. 2008:59) 234 Portraits der Teilfelder Zertifizierung (fast) aller Standards betonen und sich dabei primär an potentielle Kundinnen, nämlich an einer Zertifizierung interessierte Firmen und Organisationen, richten, sollte dabei eines nicht übersehen werden: die Zertifizierungsfirmen sind vollziehen durch ihre Tätigkeit einen weiteren Übersetzungsschritt (von den Programmen in die Zertifizierungspraktiken), der sie nicht frei macht von einem machtvollen, gestalterischen Einfluss auf das, was die Standards ( = die Übersetzungen der Grundsätze und Ziele) 'tatsächlich' bedeuten. Zwischen den Standard setzenden Organisationen und der Ebene der Praktiken von Produktion und Handel erfolgt hier eine gestalterische Tätigkeit, in deren Rahmen die formalen und die Praxis anleitenden Rahmenbedingungen geschaffen werden, die eine Zertifizierung überhaupt erst möglich machen. Dies betrifft z.T. die Bestimmung der Mess- und Überprüfbarkeit der formulierten Standards. Verfahren und Instrumente (wie z.B. Prüfbögen, Beobachtungsanweisungen) sowie die Auswahl, Ausbildung und Anleitung der PrüferInnen bestimmen das 'Wie' der Zertifizierungspraktiken mit. Dabei kann es zu zusätzlichen Differenzierungen kommen, die u.U. weiter über die Zertifzierbarkeit entscheiden. Es finden sich zum einen formale Festlegungen wie z.B. die genaue ('quantitative') Definition von KleinproduzentInnen im Rahmen der „Compliance Criteria“ der FLO Cert GmbH. So übersetzt sich die Teilbestimmung der Definition von Bananen-KleinproduzentInnen auf Programmebene – „The land they cultivate is equal to or below the average of the region, as defined by the certification body.“ (vgl. oben) – im Fall von Ecuador in die Flächenobergrenzen „10 ha (Monocultivo), 20 ha (Agroforestería)“158. Dieses Beispiel offenbart zudem, dass hier nochmals zwischen Betriebstypen, in diesem Fall zwischen Mono- und Mischkultur, unterschieden wird und (bei sonst gleichen Kriterien) den in Mischkultur anbauenden Betrieben zumindest eine höhere Mindestbetriebsgröße eingeräumt wird. Zum anderen sind mit den formalen Festlegungen auch auf dieser Ebene oft kompetenzund kapazitätsgebundene Zugangsvoraussetzungen verbunden. So können z.B. die genaueren Bestimmungen der Anforderungen, wie die Einhaltung eines Kriteriums zu dokumentieren (und durch die Dokumentation nachzuweisen) ist, Einfluss auf den Dokumentationsaufwand und damit auf die für eine Zertifizierung erforderlichen Kompetenzen und Kapazitäten haben. Last but not least bestehen selbstverständlich auch für Zertifizierungsfirmen Steuerungsprogramme, gemäß denen sie – in der Regel in Form einer gesetzlich vorgeschriebenen Akkreditierung (ISO 65/EN 45011) – überhaupt erst als solche zugelassen werden. Eine solche Akkreditierung erhalten und in das Zertifizierungsgeschäft einsteigen zu können, ist entsprechend wiederum an Ressourcen wie z.B. Know-How oder Nähe zu EntscheidungsträgerInnen wie den Standard setzenden Organisation gebunden, was u.a. den „Aufbau von lokalen Zertifizierern und die Stärkung von nationalen Akkreditierungssystemen“ (s.o.) zu entwicklungspolitischen Themen werden lassen kann. 158 http://www.flo-cert.net/flo-cert/fileadmin/user_upload/certification/requirements/en/Current_CC/PC_SmallProducerDefinitionSPO_ED_14_en.pdf [26.03.13] 235 Kapitel 3 Der Einkauf der besiegelten Bananen und Garnelen hat uns noch nicht sonderlich weit vor die Haustüre geführt. Die 'Reise' durch die Bilder, Themen und Programme von Bio + Fair und darum herum war bislang eine rein virtuelle. Alle eingesehenen Dokumente sind – abgesehen von den Mitbringseln vom Einkauf – von zu Hause aus zugänglich (vorausgesetzt man hat Internet, spricht/liest deutsch und ein bisschen englisch). Lassen sich auf dem hier gegangenen und anderen, ähnlichen Wegen schon viele Zusammenhänge erschließen, so soll der gewonnene (oder verlorene?) Durchblick nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir bislang noch sehr wenig über die Praktiken erfahren haben, die die betrachteten Bilder, Themen und Programme an verschiedenen Orten entlang der durch sie verflochtenen Warenketten mit beeinflussen. Um nun also den gekauften Produkten nicht mehr nur virtuell zu folgen, machen wir uns auf den Weg, zunächst auf die Biofach-Messe, zu einer Vortragsveranstaltung der Fairen Woche und zu einem Besuch des Verwaltungssitzes einer Standard setzenden Organisation und anschließend nach Ecuador. 236 An diese Stelle sollte zur Auflockerung und als symbolisches Bild der Scan eines Faltblattes mit der Zeichnung eines Kindes, einer Lupe und der Frage: „Hast Du den Durchblick?“, das sich in meiner Materialsammlung befand und das auf die Kinderseite des BMELV verweist (http://www.bmelv-durchblicker.de/[26.03.13]). Leider wurde der Abdruck nicht genehmigt. Abbildung 27: Durchblick gewonnen oder verloren? (gescannter Auszug eines auf der Grünen Woche ausgelegten Faltblattes des BMELV) Portraits der Teilfelder 3.1.6 Bio + Fair auf Messen und öffentlichen Veranstaltungen Mit die ersten Orte der Praktiken von Bio + Fair, die im Rahmen dieser Studie besucht wurden, waren Messen (Bio-Süd, September 2009; BioFach, Februar 2010; Grüne Woche 2009) und ein Vortrag im Rahmen der Fairen Woche (September 2008); Orte, an denen sich einige der für die Untersuchung relevanten Akteure präsentieren und miteinander interagieren. Messebesuche Ein Messebesuch verspricht, VertreterInnen einer Vielzahl der Akteure von Bio + Fair an einem Ort zu begegnen und sie gleichzeitig bei einer ihrer Praktiken beobachten zu können. Neben der wenngleich noch zarten Präsenz des Sektors auf allgemeinen Landwirtschaftsmessen wie der Grünen Woche bestehen mittlerweile mehrere Spezialmessen zu Bio + Fair. Im Bio-Bereich sind dies verschiedene Fachmessen, wie z.B. die regionalen Bio-Messen der vier Haupthimmelsrichtungen (Bio-Süd in Augsburg, Bio-Nord in Hannover, Bio-West in Düsseldorf, Bio-Ost in Berlin) oder die BioFach in Nürnberg als die größte und die „Weltleitmesse für Bio-Produkte“159. Sind auf diesen auch Akteure des Fairen Handels vertreten, gibt es inzwischen außerdem speziell auf diesen ausgerichtete Messen wie z.B. die bundesweite FAIR HANDELN Messe in Stuttgart (seit 2009 mit Vorläufermessen seit 2005160), die im Gegensatz zu den Bio-Messen nicht nur Fach-, sondern auch Verbrauchermessen sind. Besonders vielversprechend als Ausgangspunkt für das Folgen der Produkte erschien die unter dem Motto „Organic + Fair. Ein Traumpaar“ stehende BioFach 2010. Zum einen fand dort die „Sonderschau Organic + Fair“ in Halle 5 statt, wo mit BanaFair, el puente, FLO-I, FLOCert GmbH, Forum Fairer Handel, gepa, Naturland, Fairtrade Deutschland u.a. viele der ATOs, Standard setzenden Organisationen und Zertifizierungsfirmen mit Bezug zum Fairen Handel ausstellten. Zusammen mit den ohnehin vertretenen ProtagonistInnen aus dem BioBereich dürfte es dort viel zu beobachten, Kontakte zu knüpfen und Informationen zu sammeln geben, sofern es gelingen sollte, eine Akkreditierung als Fachbesucher zu erhalten. Zum anderen beschränkt sich die BioFach nicht nur auf das Ausstellen und Anbandeln zwischen potentiellen GeschäftspartnerInnen, sondern sie preist sich mit ihrem parallel stattfindenden „Kongress“ und weiteren Veranstaltungshighlights auch als „Wissensplattform für die internationale Bio-Branche“161 und Ort der politischen und öffentlichen Meinungsbildung162 – wobei der Kongress 2010 mit dem „Fair & Ethical Trade Trade Forum“ mit verheißungsvollen Themen zu Bio + Fair aufwartete. Ein von IMO Switzerland organisiertes Panel mit dem Titel „From Fair Trade to Ethical Cooperation. Is the traditional interpretation of fair trade still up-todate?“ und ein Vortrag von BanaFair im Panel „One fair idea – competing standards. Is harmonization possible?“ ließen auf Ereignisse hoffen, in denen die bei der Internetrecherche mehr 159 http://www.biofach.de/de/messeinfo/messeprofil/ [28.03.13] 160 http://www.sez.de/themen/fairer-handel/messe-fair-handeln/ [28.03.13] 161 http://oneco.biofach.de/de/news/kongress-highlights-der-biofach-2013-im-videomitschnitt--focus--dfe60059-efd0-4d6eb816-7d368cee4cd6/?fromnewsletter=true [28.03.13] 162 vgl. hierzu: http://www.biofach.de/de/messeinfo/messeprofil/ [28.03.13] 237 Kapitel 3 oder weniger zu Tage getretenen Spannungsfelder diskutiert und dabei unterschiedliche Positionen vertreten werden. Auf den ersten Blick dürften Messebesuche wie jener am 18.2.2010 in Nürnberg eher enttäuschend verlaufen. An den Ausstellungsständen kann man neben dem ein oder anderen leckeren Häppchen zwar jede Menge Infomaterialien einsammeln, die sich für die Analyse der Selbstdarstellungen der Akteure nutzbar machen lassen. Doch abgesehen davon, dass vielleicht einige Materialien so leichter zugänglich sind (z.B. Ausgaben von 'Ecology&Farming' gratis zum Mitnehmen anstatt sie kostenpflichtig im Internet zu bestellen), erfährt man darin in der Regel nichts, was man sich nicht auch online erschließen könnte. Eine theoretische Sättigung der Botschaften der Akteure von Bio + Fair lässt sich auch ohne Messebesuche erzielen und am Schleppen der im Laufe des Tages schwerer werdenden Stofftasche zweifeln. Kurze Gespräche163 an den Ständen helfen beim Kontakte knüpfen für spätere Interviews, geben inhaltlich jedoch meistens das wieder, was man selbst nachlesen kann. GesprächsparternInnen mit Praxiserfahrung in den Bereichen, in die das Folgen der Produkte und Programme uns führen soll, haben Seltenheitswert. Und auch die Vorträge der Panels hinterlassen zunächst das Gefühl von Oberflächlichkeit und geschäftsfördernder Selbstdarstellung. Standard setzende Organisation – wie die Soil Association in ihrem Vortrag „Putting Principles Into Practice“ im Rahmen des Panels zur Frage, ob die ursprüngliche Interpretation von Fairem Handel noch zeitgemäß ist – untermauern ihre Kompetenz in der Entwicklung von Standards und der dadurch erzielten Gewährleistung von Qualität. „The Academic Perspective“ zeigt im Rahmen derselben Veranstaltung, „what kind of ethical attributes organic consumers in five European countries are interested in and which conclusions for communication concepts of food suppliers can be drawn“164. Auf den zweiten Blick führen die Beobachtungen jedoch vor Augen, dass hierzulande – jedenfalls in diesem als Marktplatz und Imageschmiede fungierenden Umfeld einer Messe165 – zwei eng miteinander verknüpfte Phänomene bei der Art und Weise, in der Bio + Fair präsentiert und diskutiert werden, dominant zu sein scheinen. Zum einen stehen Stimmen im Vordergrund, die die Wichtigkeit und Möglichkeit betonen, möglichst in allen Bereichen für ein nachhaltigeres Wirtschaften einzustehen und dies durch Zertifizierungssysteme umzusetzen. Mit dem Argument, man dürfe nicht nur für ausgewählte Personengruppen wie KleinproduzentInnen etwas tun, sondern müsse sich um alle Benachteiligten wie z.B. die ArbeiterInnen großer Betriebe kümmern, wird eine Entwicklung von Bio + Fair befürwortet, in deren Zuge Programme für verschiedenste Betriebstypen entstehen und möglichst alle Akteurstypen in die Zertifizierungssysteme integriert werden sollen. Mit ebenjenem Argument untermauerte z.B. ein Vertreter von IMO bei besagtem Panel den Standpunkt, die 'Interpretation von Fair Trade' durch neue Standards für alle Bereiche 'up-to-date' zu bringen. Da im Rahmen dieses Kon163 wobei Kürze vielleicht aus dem allgemeinen Andrang und der geringen Geschäftsrelevanz eines Doktoranden resultieren mag 164 Abstract zum Vortrag „Consumers´ Interest in Additional Ethical Attributes of Organic Products“ von Ulrich Hamm und Katrin Zander (University of Kassel, Germany) im Rahmen des von IMO Switzerland organisierten Panels „From Fair Trade to Ethical Consumption. Is the traditional interpretation of fair trade still up-to-date?“, von der IMO bereitgestelltes Handout zur Veranstaltung 165 So ist die „Weltleitmesse“ ihrem eigenen Profil gemäß nicht nur „die jährliche Plattform“ für „Inhalt und Wissen“ und „Politik und öffentliche Meinung“, sondern auch für „Branche und Personen“, „Markt und Produkte“ sowie „Image und PR“ (http://www.biofach.de/de/messeinfo/messeprofil/ [29.03.13]) 238 Portraits der Teilfelder zepts üblicherweise Standards für unterschiedliche Betriebstypen mit der impliziten Annahme 'nebeneinandergestellt' werden, dass, wenn ein Standard die Lage der KleinproduzentInnen verbessert und ein anderer Standard ArbeiterInnen hilft, die Anwendung beider gleichzeitig sowohl Verbesserungen für KleinproduzentInnen, als auch Hilfe für ArbeiterInnen ergeben, soll die Position, die dieses Konzept vertritt, im Folgenden 'Additivthese' genannt werden: die positiven Wirkungen zweier Standards addieren sich zu einer doppelt positiven Wirkung, ohne dass 'negative Wechselwirkungen' bei den einen durch die Zertifizierung der anderen auftreten. Das zweite Phänomen, dass sich beobachten lässt, ist, dass Unterschiede zwischen Programmen – wie schon bei der Mehrheit der Darbietungen auf den besuchten Internetpräsenzen der Akteure – vorwiegend durch das Herausstellen der eigenen positiven (strengeren, weiter reichenden) Merkmale artikuliert werden, ohne die anderen Programme wegen ihre niedrige(re)n Messlatte direkt zu kritisieren. So wurden meine (vielleicht naiven) Erwartungen enttäuscht, auf einem Vortrag von BanaFair im Rahmen einer Veranstaltung, die unter dem Titel „One fair idea – competing standards. Is harmonization possible?“ stand, etwas von den kritischen Stimmen zu hören, die – der 'Additivthese' entgegenstehend – dafür plädieren, auch mögliche 'Wechselwirkungen' zwischen einer Zertifizierung der einen und einer der anderen zu bedenken und konzeptionell in die Programme aufzunehmen. Stattdessen präsentierte der Vortrag schlicht das, was BanaFair macht und was daran besonders gut ist, ohne das Weniger anderer Programme zu kritisieren bzw. ein Mehr von anderen Programmen im Rahmen einer Harmonisierung zu fordern. Im Einzelnen wurde aufgeführt, dass BanaFair neben dem einen USD Fair Trade-Prämie pro Bananenkiste, den die ProduzentInnen für Projekte einsetzen können, einen zusätzlichen USD pro Kiste zahlt, um die politische Arbeit der Organisation UROCAL zu unterstützen; dass BanaFair auch die Arbeit von Gewerkschaften in Zentralamerika unterstützt; dass die KleinproduzentInnen von UROCAL in Mischkultur anbauen und dadurch nicht nur auf chemische Pestizide und Düngung verzichten, sondern einen weiter reichenden Beitrag zum Erhalt der Böden, des Wasserhaushalts und der Biodiversität leisten; und dass BanaFair nicht nur Handel unter fairen Rahmenbedingungen betreibt, sondern auch Bildungs-, Öffentlichkeits-, Kampagnen- und Lobbyarbeit leistet, um (z.B. durch die Kampagne 'make fruit fair!') auf die schwierigen sozialen und ökologischen Bedingungen der konventionellen Bananenwarenketten aufmerksam zu machen und diesen entgegenzuwirken. Damit reihte sich – jedenfalls im hier beobachteten Ereignis – auch ein traditioneller, kritischer Akteur von der Struktur seiner Botschaft her in die verbreiteten 'Nebeneinanderstellungen' mit ein. Vortrag von BanaFair und UROCAL im Rahmen der Fairen Woche 2008 Ein anderes Vortragsereignis mit Beteiligung von BanaFair, das sich im September 2008 im Weltladen Mannheim zutrug, war im Rahmen der Fairen Woche der Öffentlichkeit zugänglich und an InteressentInnen und KonsumentInnen des Fairen Handels gerichtet. Der Geschäftsführer von BanaFair, Rudi Pfeifer, und der Präsident der ecuadorianischen Organisation UROCAL, Joaquín Vásquez, berichteten über den Anbau von fair gehandelten Bananen in Misch239 Kapitel 3 kultur-Fincas durch KleinproduzentInnen und darüber, welche Vorteile der Bio-Mischkultur-Anbau durch Erhaltung der Biodiversität und des ökologischen Gleichgewichts sowie der Faire Handel durch Unterstützung von Projekten (z.B. Förderung der Schulbildung, Gesundheitsversorgung) und der politischen Arbeit von UROCAL bringen. Steht auch hier die Betonung und Veranschaulichung der positiven Charakteristika im Vordergrund, ist die Funktion der Veranstaltung angesichts der Zielgruppe eine andere. KonsumentInnen, die den fairen Handel durch ihren Einkauf unterstützen, wird anhand eines konkreten Beispiels und durch die persönliche Begegnung mit einem der Protagonisten der Zielgruppe die Wirkung des Konzepts Bio + Fair ( = nachhaltig!) näher gebracht und erlebbar gemacht. Dankbarkeit und Bestärkung der Notwendigkeit dieser Unterstützung verbinden sich mit dem Appell, noch mehr Gleichgesinnte zu mobilisieren, damit noch mehr KleinproduzentInnen gefördert werden können. So fasst es auch die offizielle Dokumentation der Fairen Woche 2008 zusammen: „Zur Fairen Woche 2008 reisten so viele Gäste von Partnerorganisationen durch Deutschland wie noch nie zuvor. Elf Produzentenvertreter nahmen an über 120 vielfältigen Veranstaltungen u. a. in Weltläden, Kirchengemeinden und Schulen teil. Mit konkreten Beispielen aus ihrer Arbeit, authentischen Berichten über die positiven Effekte des Fairen Handels und des nachhaltigen Schutzes ihrer Umwelt brachten die Produzenten den interessierten Verbrauchern das Anliegen der Fairen Woche 2008 näher. Die Produzentenvertreter resümierten nach ihrem Deutschlandbesuch, dass sie nach zahlreichen Gesprächen und Kontakten das in Deutschland vorhandene Potenzial des Fairen Handels sowie die Anforderungen der Kunden an ihre Produkte viel besser einschätzen können.“ (Faire Woche 2008. Menschen, Aktion, Fakten. Seite 9 166, Hervorhebung SD) In dieser Dokumentation kommt auch Joaquín Vásquez zu Wort. Seine abschließende „Botschaft“ an die KonsumentInnen verbindet den Schulterschluss mit diesen mit dem Hinweis, darauf zu achten, dass mit der Vermarktungs- und Wachstumsdynamik vorsichtig umgegangen werden sollte: „Die Botschaft an die deutschen Konsumenten ist, dass wir sehr zufrieden sind und dass wir hoffen, dass die Verbindung zwischen Produzent und Konsument weiter wächst, da wir nur so Arbeit für eine bessere Zukunft aufbauen können. Bezüglich der neuen Dynamik im Fairen Handel ist die Einheit zwischen Produzent und Konsument die Alternative, die wir suchen. Der Mensch sollte im Zentrum der Entwicklung stehen und nicht der Markt. Wenn dies der Fall ist, glaube ich, dass der Markt die Entwicklung der Menschen fördert.“ (Faire Woche 2008. Menschen, Aktion, Fakten. Seite 8, Hervorhebung SD) Begegnungen mit ProduzentInnen auf Messen und öffentlichen Veranstaltungen Auch auf der Bio-Süd 2009, die in den Zeitraum der Fairen Woche dieses Jahres fiel, waren zwei ProduzentInnen von UROCAL am Stand von BanaFair zugegen. Zu ihnen wie zu den wenigen VertreterInnen von Bio-Garnelenfirmen, die im Rahmen des Naturland-Stands (kleinere Firma) oder des Ausstellungsabschnitts Ecuadors (größere Firma) auf der BioFach-Messe präsent waren, ließen sich erste Kontakte für den Forschungsaufenthalt in Ecua166 http://www.faire-woche.de/fileadmin/user_upload/media/die_faire_woche/dokumentation2008/ fairewoche_doku_2008_FINAL.pdf [29.03.13] 240 Portraits der Teilfelder dor knüpfen. Die beiden Zitate aus der Kurzdokumentation der Fairen Woche 2008 verdeutlichen drei bedeutende Aspekte hinsichtlich der Gegenwart von ProduzentInnen auf solchen Veranstaltungsereignissen von Bio + Fair. Erstens stellen solche Besuche für die ProduzentInnen eine Möglichkeit dar, über die Landschaft des Sektors hier in Deutschland sowie über die Anforderungen an ihre Produkte zu lernen. Zweitens können sie durch die direkte Interaktion mit Handelsfirmen und KonsumentInnen geschäftliche bzw. ideelle Allianzen, auf die die Umsetzung des Konzepts des alternativen Handels von Bio + Fair angewiesen ist, stärken und erweitern. Drittens deutet die mahnende Schlussbemerkung von Joaquín Vásquez, mit der er sich gegen eine ausschließliche Ausrichtung der Initiativen auf Vermarktungsmechanismen und für eine Bewahrung von Grundsätzen positioniert, auf eine weitere Dimension hin. Mit ihren anschaulichen Berichten von den positiven Wirkungen und ihren persönlichen Appellen für mehr Unterstützung von Bio + Fair tragen die BesucherInnen aus den 'Produktionsländern' zur Legitimation und Wachstumsförderung des gesamten Netzwerks bei. Dies kann aber nur solange in ihrem Sinne sein, solange die Gesamtentwicklung des Netzwerkes keine 'negativen Wechselwirkungen' hervorbringt, durch die die Vorteile für KleinproduzentInnen als die Zielgruppe, die in der Imageproduktion der Initiativen eine zentrale Stellung einnimmt, erodieren. Das gilt insbesondere, da die Wiedergabe solcher Positionierungen wie der von Joaquín Vásquez eher selten sind und in der Regel Berichte von ProduzentInnenbesuchen – ähnlich der mit Positivzitaten unterlegten Photos in Broschüren über Fair Trade – reine frohe Botschaften zur Bekräftigung des Konzepts darstellen (vgl. das Interview mit einer UROCAL-Produzentin in der Weltladen-Zeitschrift Welt & Laden). 241 Kapitel 3 Abbildung 28: „Frauenpower mit Bio & Fair“ (Weltladen-Dachverband e.V., Scan aus "Welt & Laden", Das Weltladenmagazin, Winter 2009) 242 Portraits der Teilfelder 3.1.7 Im Verwaltungssitz einer Standard setzenden Organisation Den Verwaltungssitz einer Standard setzenden Organisation zu besuchen, um Gespräche und Interviews mit deren MitarbeiterInnen zu führen, bietet eine gute Gelegenheit, vor der Reise nach Ecuador das eigene Vorhaben vorzustellen und einige Fragen loszuwerden, die sich aus den ersten Recherchen ergeben haben und sich nicht beim Smalltalk auf Messen mangels Zeit oder Zuständigkeit der dort vertretenen RepräsentantInnen klären ließen. Naturland vereinigt viele Aspekte, die mit dieser Studie verknüpft sind, und wird dadurch zur Organisation mit der vielleicht höchsten Relevanz für den weiteren Verlauf. Als international agierender Pionier auf vielen Gebieten ist der Verband maßgeblicher Akteur im Bereich der Biogarnelen-Zertifizierung, mit eigenen Fair-Richtlinien ist er gleichzeitig auch im Bereich des Fairen Handels und dessen zunehmender Symbiose mit Bio aktiv. In Ecuador arbeitet Naturland – mit einer eigenen Mitarbeiterin vor Ort – nicht nur mit verschiedenen Biogarnelen-Firmen zusammen, sondern auch mit den Biobananen-Fincas der Organisation UROCAL. Offen und interessiert an einer Following-Studie wie dieser kommt es im Vorfeld meiner Ecuador-Aufenthalte sowie danach zu mehreren Treffen in Gräfelfing bei München, dem Standort des Vereins, von denen einige Stimmen hier gebündelt wiedergegeben werden sollen. Dabei werden in Anbetracht voranstehender Ausführungen zwei Aspekte aufgegriffen. Zum einen stellt sich die Frage nach der Einschätzung der Unterschiede zwischen dem eigenen, strengeren Programm und den weniger strengen EU-Richtlinien. Zum anderen interessiert die Wahrnehmung der kritischen Stimmen gegenüber der Zertifizierung von Garnelen. Konkurrenz durch weniger strenge Standards? Vertrauen in die eigenen Stärken und in die Regulierung des Marktes Bestehen durch die EU-Verordnung bzw. entstehen durch deren Neuformulierung Richtlinien, die – wie oben exemplarisch aufgezeigt – weniger streng sind als die von Naturland, drängt sich die Frage auf, ob dies nicht mittel- oder langfristig dazu führen könnte, dass die Betriebe, die nach Naturland-Richtlinien produzieren, sich künftig auf die weniger strengen EU-Bestimmungen beschränken werden, um Kosten und Mühen zu sparen, und dadurch die Tiefenwirkung von Bio eingeschränkt wird. Diese Gefahr wird von den interviewten MitarbeiterInnen eher nicht gesehen. Ein zentraler Aspekt, der sie gelassen mit dem Thema umgehen lässt, ist die Betonung des Gesamtkontextes, des Gesamtpakets, das Naturland in der Kooperation mit seinen Mitgliedsbetrieben bietet, das sich nicht allein auf eine Richtlinie und die mit dieser verbundenen Anforderungen reduzieren lässt, sondern diese um eine umfangreiche Beratung und Betreuung ergänzt: „[...] es ist auch nicht nur die Richtlinie. Natürlich, eine Richtlinie ist schon wichtig, aber auch wenn ich eine Richtlinie habe, brauche ich immer noch einen Partner in dem Ganzen, also, sowohl der Handel als auch 243 Kapitel 3 die Betriebe vor Ort. Das ist mit einer reinen Kontrolle nicht getan. Also das ist eben eine Art Servicepaket, wenn ich so will, oder ein 'Package', was Naturland liefert, als Gesamtkonstrukt, mit seinen verschiedenen Untergliederungen: die Naturland-Zeichen GmbH, Naturland e.V. und die Zertifizierung eben, dann die Anerkennungskommission, die Berater, dann jemand wie die Mitarbeiterin vor Ort... Also das ist halt einfach irgendwie doch ein schlagkräftiges Serviceteam, nenn ichs jetzt mal. Und klar, ich kann sagen, nee, brauch ich alles nicht. Aber die Erfahrung zeigt, dass es eigentlich schon geschätzt wird, weil sonst muss ich mir diese Kapazität und irgendwie auch die Kompetenz anders ins Haus holen. Dann muss ich halt jemanden anstellen, der das dann macht für mich. Der Chef kann es nicht selbst machen, weil der hat keine Zeit […]“ (Interview MitarbeiterIn Standard setzende Organisation) Neben dieser engen Zusammenarbeit mit den zertifizierten Produktionsbetrieben wird dem strengen Ruf Naturlands eine große Bedeutung hinsichtlich der Präferenzen des Handels zugeschrieben. Letzterer entscheide letztlich als einflussreicher 'Käufer' darüber, nach welchen Standards produziert werden soll. Wie das Beispiel REWE zeige, sei zu beobachten, dass sich die Anbauverbände mit ihrem guten Namen hier durchaus gegenüber einer EU-BioKonkurrenz behaupten können, was indirekt wiederum ein Anreiz für die Produktion darstelle, nach strengeren Naturland-Standards zu arbeiten: „[...] das ist natürlich auch so, dass die Motivation vom Handel oft kommt. Gut, die Betriebe, für die ist das schon auch schön, dass sie diese Anbindung an Naturland haben. Wir bieten einen gewissen Service, das ist klar. Aber oft ist die Motivation vom Handel aus, dass der Handel sagt, okay, er legt Wert auf diese zusätzliche Qualitätssicherung, die wir bieten. Da weiß er genau, unsere Betriebe, bei denen schauen wir auch nochmal drauf, das ist nicht nur die Kontrolle durch die Inspektionsstelle, die da hinschaut, sondern wir eben auch nochmal. Wir kennen alle unsere Betriebe persönlich, das ist dem Handel einfach oft wichtig; oft auch nicht, also ich mein, es gibt auch Handelspartner, denen das jetzt nicht so wichtig ist, aber REWE setzt da jetzt schon stark auf Naturland, zum Beispiel. Die stellen ihr komplettes Biosortiment jetzt nach und nach auf Naturland um, das gilt natürlich auch für die Aquakulturprodukte, und da kommt dann natürlich Motivation auch für die Betriebe: die erwarten sich so einen entsprechenden Mehrwert von dem Naturland-Logo “ (Interview MitarbeiterIn Standard setzende Organisation) Dabei werden schwächere Standards nicht nur nicht als Bedrohung wahrgenommen, sondern auch als Chance, sich als strenger Verband neu bzw. weiter zu profilieren. Darüber hinaus bestehen diese Gelassenheit und dieses Vertrauen in die Wertschätzung durch die anderen Akteure der Warenkette nicht nur bezüglich der Einführung schwächerer Richtlinien anderer, sondern auch bei der Formulierung eigener Standards für neue Bereiche. So bekräftigt die Aussage einer/s MitarbeiterIn die oben vermutete, strenge Ausrichtung künftiger, produktspezifischer Bestimmungen für den Bananenanbau. Wenngleich nicht alle dem aus Sicht der ökologischen Landwirtschaft „paradiesischen Charakter“ der Produktion von UROCAL entsprechen könnten und man „die ökologische Messlatte zwar hochhalten, aber doch die Produktivität berücksichtigen"167 müsse, sollen künftige Naturland-Richtlinien für Bananen nicht so locker sein, wie es die EU-Verordnung derzeit möglich macht: „[...]da gibts natürlich erhebliche Unterschiede: […] Naturland hat ja RichtlinienTropische Dauerkulturen, die finden Sie in der EU-Verordnung nicht. Die sind schon weitergehender, fordern mehr als die EU-Ökoverordnung, die sind schon recht spezifisch […]. Wir werden […] die Richtlinien Tropische Dauerkulturen erwei167 Zitate Naturland-MitarbeiterIn aus meinen Feldnotizen 244 Portraits der Teilfelder tern, auch im Bereich Bananen und im Bereich Tee, das heißt auch da werden die Anforderungen andere sein als in der EU-Verordnung. Das heißt dann in der Praxis, nicht jedes EU-zertifizierte Bananenprojekt in Ecuador wird zukünftig Naturland-zertifizierbar sein, das ist übrigens bereits heute der Fall... […] Und das ist natürlich eine Möglichkeit, sich auch im Markt zu differenzieren, zu zeigen, wir haben dann doch eine andere Ökoqualität als... [...]“ (Interview MitarbeiterIn Standard setzende Organisation) 'Paradiesischen' Kooperativen wie den ProduzentInnen um UROCAL wird in diesem Zusammenhang durchaus eine Chance eingeräumt, sofern die KonsumentInnen eine Nachfrage für diese Qualität und ihren Preis an den Tag legen: „[…] letztendlich bestimmt es dann [...] schon die Nachfrage und der Preis. Also wenn sich das für so ne Kooperative auszahlt, mit entsprechender Nachfrage, Kunde, Preis... Wenn nicht, wird sie sagen, schön, aber, was will ich ein Naturland-Zertifikat, wenn ich nicht den entsprechenden Markt dafür habe? Also letztendlich entscheidet es natürlich irgendwo die Kundennachfrage, weil, es gibt schon welche, die es auch aus purer Überzeugung machen, aber klar, die Betriebe wollen natürlich auch einen entsprechenden Markt haben, völlig legitimerweise. Weil so eine zusätzliche Zertifizierung bedeutet auch letztendlich mehr Kosten und das muss sich ja irgendwo auch wieder bezahlt machen. Der Handel hat da eine Schlüsselposition. Da bin ich aber bisher optimistisch, also da tut sich was in die Richtung […]“ (Interview MitarbeiterIn Standard setzende Organisation) Probleme bei Bio-Garnelen? Bekenntnis zu den eigenen Standards, Reflexion eigener Stärken und Schwächen Die Bekenntnis zur Strenge findet sich auch bei den Standards zu Biogarnelen wieder, wie schon die Artikel in 'Ecology & Farming' deutlich werden ließen. In den Themen zur eigentlichen Zucht der Garnelen inklusive der Problematiken bei den nicht aus innerbetrieblicher Kreislaufwirtschaft stammenden Betriebsmitteln zur Fütterung und Krankheitsbekämpfung vereint sich diese Strenge mit einer hohen Fachkompetenz, die sich aus den formalen Qualifikationen der MitarbeiterInnen mit naturwissenschaftlich-technischen Schwerpunkten und eingehenden Erfahrungen in der Praxis zusammensetzt. Die kritischen Stimmen gegenüber einer Biozertifizierung von Garnelenzucht in Ecuador liegen schwerpunktmäßig v.a. auf den sozialen und ökologischen Wechselwirkungen der Produktionsstätten mit ihrer Umgebung, den Mangrovengebieten. Wie schätzt man nun bei einer der Standard setzenden Organisationen die erhobenen Vorwürfe ein? Allgemein sind die Schwierigkeiten in Zusammenhang mit den MangrovenbewohnerInnen und die ablehnenden Haltung von NROs, die für diese eintreten, bekannt. Mangroven werden als „heikles Thema“ benannt, im sozialen Bereich bestehe ein „Gefälle“ zwischen „armen Fischern“ und „reichen Farmen“, das manchmal zu Konflikten mit „Diebstählen“ einerseits, mit „Fällen, wo Leute erschossen werden“ andererseits führe; mit den NROs bestehe seit vielen Jahren ein „Clinch“168. Im Rahmen dieses Clinches sei es zu „nicht unbedingt sanften Begegnungen“ gekommen, bei denen die NROs aus Ecuador eine Pauschalkritik erhoben hatten, die einerseits von ihren „Counterparts des Nordens“ (z.B. Menschenrechtsgruppen) oft unhinterfragt 168 Zitate Naturland-MitarbeiterInnen aus meinen Feldnotizen 245 Kapitel 3 übernommen würde, andererseits in vielen Punkten inhaltlich leicht zu entkräften sei169. Die Problematik selbst wird vielschichtig interpretiert. Dadurch, dass als Ursache des Konflikts das soziale Gefälle Ecuadors als 'Entwicklungsland' ausgemacht wird, entfällt die Behebung dieses Konflikts bis zu einem gewissen Grad der eigenen Zuständigkeit: „[…] das wird man natürlich auch über eine Ökozertifizierung in einem Land wie Ecuador nicht auflösen können. Das ist eine politische Frage, in Deutschland auch im Prinzip, wie man Einkommensscheren, und wie man dieses Empowerment der Fischer zum Beispiel, wie man das auffangen und vielleicht verbessern kann. Da sind sicher die Erwartungen an eine Ökozertifizierung auch total überzogene Erwartungen, hier, sagen wir, Sozialreformen zu erwarten […], eine Einkommensumverteilung dadurch zu erwarten, das findet natürlich nicht statt. Wir stehen eben für klare Richtlinien, also dass der Kunde oder der Käufer von zertifizierten Produkten weiß, gut, die und die Kriterien sind eingehalten. Und in diesen Kriterien [zur Konfliktvermeidung, SD] versucht man, ist bestrebt, ist auch bereit, öffentliche Impulse wahrzunehmen, und da versucht man eben, ein gerechtes oder sagen wir mal funktionierendes Miteinander, oder Nebeneinander in dem Fall, von Shrimpsfarmen und Fischern zu gestalten […]“ (Interview MitarbeiterIn Standard setzende Organisation) Mit den „öffentlichen Impulsen“ wird darauf angespielt, dass man, sollten diese Konflikte bei einem Naturland-zertifizierten Betrieb entgegen der eigenen Richtlinie gewaltsam zu Tage treten, dem nachgehen und gegebenenfalls Konsequenzen bis hin zu einer Aberkennung des Zertifikats ziehen würde, sofern eine konkrete, nicht nur als Pauschalanschuldigung formulierte Meldung eines Vorfalls aus der Öffentlichkeit bzw. von VertreterInnen der Betroffenen an den Verband herangetragen wird – sollte sich der Vorfall der Wahrnehmung der gängigen Inspektionspraxisentzogen haben: „[...] die Vermeidung von Konflikten […] der Shrimpsbetriebe mit anderen Stakeholdern ist ein Richtlinieninhalt. Das heißt, wenn wir im Rahmen der jährlichen Kontrolle oder sonst wie durch sagen wir mal Informationen von dritter Stelle Hinweise bekommen, dass es da irgendwo Schwierigkeiten gibt, dann gehen wir denen nach. Wenn diese Schwierigkeiten nicht ausgeräumt werden können, dann hat das halt Konsequenzen für die Zertifizierung von den Betrieben, also das wird dann sanktioniert, oder eben bis hin zu ner Aberkennung, wenn es eben ein ganz krasser Fall ist. Also insofern ist das genauso Gegenstand der Zertifizierung wie der Einsatz von unerlaubten Mitteln oder von ökologisch erzeugtem Futter oder sonst was, das ist einfach der Zertifizierungsstand […]. Also wir haben unseren Kontrollleitfaden, das heißt der Kontrolleur ist im Prinzip informiert, was er tun soll, um diesen Punkt abzuklären: erst mal die Situation erfassen, wo sind überhaupt Gemeinden, also wo könnte es Konflikte geben, dann erfassen, was findet aktiv statt, um diese Konflikte zu vermeiden, also Treffen mit den Leuten zum Beispiel, dann eben diese Standardfrage, wie verhält sich das mit den Fischereigebieten, also kommen die Fischer da hin, wo sie hin wollen oder liegt da irgend eine Farm im Weg. Also dies ist denke ich ein ganz wichtiger Aspekt, bis hin eben zu positiven Aspekten, dass man sagt, in dem Dorf zum Beispiel gibts keine Transportmöglichkeiten oder keine medizinische Versorgung oder so was, inwieweit kann da ein Betrieb, der da ansässig ist, Unterstützung leisten, das wäre dann eine positive Interaktion.“ (Interview MitarbeiterIn Standard setzende Organisation) Dieser prinzipiellen Auffassung vom Umgang mit solchen Problemen stehe wenig Praxisrelevanz gegenüber, insofern dass Regelverstöße durch die Farmen bislang nicht zu Tage getreten sind. Dagegen wird – neben der Annahme, dass ein gewisses Konfliktpotential gegenüber 169 Zitate von Naturland-MitarbeiterInnen aus meinen Feldnotizen 246 Portraits der Teilfelder landwirtschaftlichen Betrieben normal sei – ein Bild von den „Fischern“ in Armut formuliert, die sie manchmal zu Diebstählen auf den Farmen verleite oder Mangroven illegal nutzen lasse: „ […] Es wird relativ viel geklaut, die Shrimps werden aus Teichen geklaut, oder irgendwelches Inventar wird mitgenommen, all so was. Und je nach dem beklagen sich dann die Betriebe. Das andere ist, dass die Farmen normalerweise ein relativ starkes Auge auf die Mangroven um sie herum haben, und natürlich in die Gemeinden, die da wohnen. Die sind zu einem gewissen Teil damit beschäftigt, Mangrove zu schneiden, also das ist so ein Spannungsfeld. Das kann man dann bewerten wie man möchte, aber da ist es eher so, dass eine Shrimpsfarm in Ecuador eher keine Mangrove schneiden wird, weil sie sie einfach nicht braucht oder kein Wirtschaftsmodell hat, wo Mangrove eine Rolle spielt. Jetzt diese Dörfer sind es zum Teil gewohnt eben Mangrove zu verkaufen, auch Holzkohle draus zu machen und zu verkaufen. Da ist ein Konfliktpotential. Das ist natürlich ein bisschen schwierig, weil diese Mangrovenfällerei sich natürlich auch im illegalen Bereich bewegt, ich mein Ecuador ist ein armes Land, im Prinzip, die Lebenssituation in den Dörfern ist nicht schön […], ich sag mal Ecuador ist zum Teil krass, Ecuador: man denkt nördliches Südamerika, ja wird schon nicht so schlimm sein, aber es ist zum Teil schon ganz heftig...Und natürlich so eine Farm stellt immer eine gewisse Akkumulation von Produkten und Geld und Kapital, wenn man so möchte, dar, und dieser Grundkonflikt in Anführungszeichen, also das ist ein Arm-Reich-Thema, und da ist eine Versuchung zu klauen auf der einen Seite […]“ (Interview MitarbeiterIn Standard setzende Organisation) Dass Naturland-zertifizierte Farmen solch armutsbedingter Kriminalität mit Gewalt begegnen könnten, wird als unwahrscheinlich erachtet, da diesen zum einen die Standards von Naturland und die Bedürfnisse der KonsumentInnen bewusst seien, zum anderen ein Konflikt mit Nachbarn zusätzliche Kosten für Wachpersonal bedeuten würde: „[...] ich denke jetzt mal, dass man durchaus sagen kann, dass die ökozertifizierten Farmen ja Sozialstandards haben, eben auch in unserer Zertifizierung. Die sind sich bewusst, dass uns dieses Thema wichtig ist, also da würde sich das Wachpersonal jetzt keine Brutalitäten einfallen lassen. Sie wissen, dass das ein Inhalt ist, der durchaus auch die Zertifizierung betrifft oder der auch die [...] europäischen Kunden sagen wir mal durchaus tangiert. Wenn es da Konflikte gibt, also, ich denk schon, dass es das Bewusstsein schärft, aber auch wenn das Verhalten sagen wir mal im weitesten Sinne relaxed oder korrekt ist, bleibt natürlich dieser Besitz, dieser Einkommens- oder Sozialunterschied, der bleibt einfach bestehen. […] Also kein Betrieb würde sagen, ja, diese Sozialstandards, die regen mich total auf, ich will eigentlich die Fischer drum rum platt machen am liebsten, und deswegen renne ich jetzt dem niedrigsten Standard da nach, sowas findet nicht statt...Das ist ja für die Betriebe auch wichtig, die wollen ja irgendwie sinnvoll eingebunden sein in das Land, in die Bevölkerung. Mit einem Konflikt können die am schlechtesten selbst umgehen, weil es einfach teuer ist. Wenn ich einen Konflikt hab mit meinen ganzen Nachbarn, kann ich da noch 20 Wachen mehr hinstellen und muss mit allem Möglichen rechnen, also das geht einfach nicht...“ (Interview MitarbeiterIn Standard setzende Organisation) Demgegenüber dürfte nach der persönlichen Einschätzung einer/s MitarbeiterIn auch die Haltung der armen „Fischer“ gegenüber den Farmen nicht nur negativ sein, da letztere die Infrastruktur der Region verbessern und eine mögliche Alternative zum Fischerdasein, das die Fischer selbst überwinden wollen, bieten können: MitarbeiterIn: „[...] eine sehr häufig gehörte Aussage von Fischern ist dann auch wieder dieses 'ja, ich will mal nicht, dass meine Kinder auch als Fischer arbeiten müssen', das ist finde ich immer ein recht typisches Statement. Wenn man fragt, 'ja wie gehts denn so, wie läuft das Geschäft so?', da heißt es dann 'das ist 247 Kapitel 3 nix, und hoffentlich müssen meine Kinder nicht diese […] Arbeit da jetzt auch machen', viele sehen, die Erträge gehen zurück, es ist eine Plackerei, also dieses Muschelsammeln ist ja auch grässlich in der Mangrove. […] Es ist ein Aspekt natürlich von den Shrimpsfarmen, dass man sagt, okay, dadurch wird ein Devisenbringer geschaffen in dem Land, es werden Arbeitsplätze in gewissem Umfang geschaffen, in der Verarbeitung besonders. Deshalb denk ich mal, ist auch der Blick der Fischer selbst auf die Industrie so ein bisschen zwiegespalten vielleicht....manchmal [ist] einfach diese Infrastruktur, die durch die Existenz von einem Betrieb in irgendeinem abgelegenen Teil des Landes geschaffen wird, nicht schlecht. Also die sagen dann, gut, was weiß ich, vor 40 Jahren gabs da keine Straße, kein Wasser, kein Nix, und heute, gut, jetzt ist was da, es ist eine Transportmöglichkeit vorhanden, es ist ein Wasser vielleicht da, es ist was auch immer entstanden... SD: „Das heißt, dass es durchaus auch Synergieeffekte gibt, von denen beiden Seiten...? MitarbeiterIn: „Ja, ich denke, wenn ich ein Fischer wäre, muss ich ganz ehrlich [sagen] […] ich wäre lieber ein Fischer in einem Dorf, wo in der Nähe eine Shrimpsfarm ist, als ein Fischer in einem Dorf, wo in der Nähe gar nichts ist, also hundertmal, also rein aus Lebensqualitätsgründen […].“ (Interview MitarbeiterIn Standard setzende Organisation) Gleichzeitig werden solche Einschätzungen über die Situation vor Ort und insbesondere über die MangrovenbewohnerInnen durchaus in dem Bewusstsein getroffen, dass es sich dabei um Halbwissen handelt, das man gerne auf eine besser fundierte Grundlage stellen würde. Zum einen liegt die Problematik nicht innerhalb der Kernkompetenzen der meisten MitarbeiterInnen, zum anderen ist ein Erfahrungsaustausch durch die 'Clinch'-Beziehung mit wichtigen Stakeholdern oft einseitig auf die Garnelenzuchtfirmen beschränkt. Anstelle eines permanenten ideologischen Konflikts mit den NROs der FischerInnen würde man sich einen konstruktiveren Austausch bis hin zu einer Zusammenarbeit wünschen, um die konflikthaften Bereiche – soweit wie im Rahmen einer Zertifizierungspraxis möglich – aktiv aufzugreifen. Auf meine Frage, was man sich denn von einer Forschungsarbeit wir der meinen erwarte, wird als erster Punkt genannt, dass man gerne mehr über die Situation der MangrovenbewohnerInnen im Allgemeinen und die Konflikte zwischen diesen und den Garnelenzuchtfarmen im Besonderen erfahren würde. Aufbruch nach Ecuador Das in den Büros einer Standard setzenden Organisation geäußerte Anliegen, mehr über bestimmte Zusammenhänge vor Ort zu erfahren, und die vielschichtigen Positionierungen, Argumentationslinien, Themenbereiche, Fragestellungen und Überlegungen, die beim Einkauf in verschiedenen Ladentypen, bei einer Internetrecherche zu Bildern und Themen von Bio + Fair, durch einen Blick in die verschiedenen Programme und ihre Grundsätze, Standards und Verfahren, sowie bei Besuchen von Messen und Vorträgen zur Sprache gekommen sind, motivieren und machen neugierig, nun (endlich) zu den Orten aufzubrechen, an denen die 'hier bei uns' formulierten Zertifizierungsprogramme in der Praxis angewendet werden; zu den biologisch hergestellten und fair gehandelten Garnelen und Bananen aus Ecuador. 248 Portraits der Teilfelder 249 Kapitel 3 3.2 Bananenproduktion in Ecuador Wenn wir nun in Ecuador ankommen, um biologisch hergestellten und fair gehandelten Garnelen und Bananen zu folgen, haben wir es nicht mehr nur mit Bio + Fair im Allgemeinen zu tun, sondern mit „camarones y bananos orgánicos y del comercio justo“, eingebettet in einen ganz bestimmte geographische und historische Zusammenhänge. Im Fokus liegt dabei unsere Untersuchungsregion, das Küstentiefland im Südwesten Ecuadors, das mit den Garnelenfarmen im Golf von Guayaquil und den Bananenplantagen zwischen Guayaquil und Machala/Puerto Bolívar auf engstem Raum die Hauptproduktionsregion für Garnelen in Ecuador und eines der produktivsten Bananenanbaugebiete der Erde vereinigt. 3.2.1 Ankunft in Ecuador Auch bei erstmaliger Ankunft in Ecuador können wir einiges an Vorwissen (und Vorannahmen) mitbringen, falls wir entsprechende Lexika-Einträge, Reiseführer und Fachliteratur studiert haben – erstes, meist 'makroskopisches' Vorwissen, das uns einerseits helfen kann, eine Einordnung der geographischen und historischen Zusammenhänge vorzunehmen, in die die Orte, Begegnungen und Ereignisse eingebettet sind, zu denen uns unser Folgen innerhalb des in der Karte eingerahmten Untersuchungsgebiets (Karte 1) führen wird; ein Vorwissen, das andererseits um 'mikroskopische' Details ergänzt werden muss, die uns diese Orte, Begegnungen und Ereignisse eröffnen werden. Wenn wir in Ecuador ankommen, betreten wir mit der República del Ecuador das viertkleinste Land Südamerikas, das sich zwischen Kolumbien und Perú entlang der Pazifikküste, zwischen 1°25'N und 5°00'S erstreckt (LANFER 1995:16). Wir betreten ein Land, das mit gut 280.000 km² Fläche etwa dreiviertel so groß ist wie Deutschland und ungefähr 15 Millionen EinwohnerInnen hat170. Ein Land, dass sich durch eine hohe Vielfalt und große Gegensätze auf engstem Raum auszeichnet und einige Superlative sein eigen nennen darf. Neben den etwa 1000km westlich im Pazifik gelegenen Galápagos-Inseln (ein evolutionsgeschichtlicher Superlativ, der unter dem Gegensatz von Bemühungen um Schutz und Bewahrung und zivilisatorischer wie touristischer Übernutzung leidet) wird der Festlandbereich üblicherweise in drei Großräume gegliedert: das Küstentiefland (Costa) und das andine Hochland (Sierra), in denen etwa zu gleichen Teilen die Mehrheit der EcuadorianerInnen lebt, sowie das dünn besiedelte östliche Regenwaldgebiet als kleiner Randteil des großen Amazonastieflandes (Oriente). Der Oriente weckt Assoziationen mit indigenen Lebensräumen und artenreichen tropischen Regenwäldern, die von extraktiven Tätigkeiten (Erdölförderung seit den späten 1960er-Jahren, neuerdings auch Bergbau) und ungeplanter, oft agrarökologisch nicht angepasster Kolonisation durch MigrantInnen aus den anderen Landesteilen bedroht sind (vgl. 170 https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/ec.html [Zugriff: 01.04.13] 250 Portraits der Teilfelder LANFER 2003). Die Sierra lässt an die zwei Hauptkordilleren mit schneebedeckten und teilweise sehr aktiven Vulkanen denken, zwischen denen das in mehrere Becken gegliederte Andenlängstal mit großen Siedlungen inklusive der Hauptstadt Quito und meist kleinteiliger, vorwiegend der Subsistenz und der lokalen Versorgung dienender Landwirtschaft liegt, wobei der exportorientierte Anbau von Schnittblumen die vielleicht auffälligste Ausnahme darstellt. In der Costa schließlich finden sich – neben zahlreichen Badeorten – nicht nur mehrere Hafenstädte, über die u.a. das Hauptexportprodukt Erdöl (knapp 60% der Ausfuhren) das Land verlässt, sondern auch die Produktionsstätten für die wichtigsten landwirtschaftlichen Produkte für den Export (v.a. Bananen, Garnelen; auch: Kakao, Kaffee) sowie für den lokalen Markt (Reis, Bohnen). Dabei hat Ecuador nicht nur seine vier Exportschlager Öl (Oriente), Bananen, Garnelen (Costa) und Blumen (Sierra) für den Weltmarkt und 'hauseigene' Nahrungsproduktion zu bieten, sondern auch eine mehr oder weniger unveräußerliche klimatische, landschaftliche, biologische und kulturelle Vielfalt, die das Land attraktiv und interessant macht und die sich auch im Zentrum aktueller politischer Debatten wiederfindet. Vom Meeresniveau der Costa über die bis zu mehr als 6000m aufragenden Andengipfel (der Vulkan Chimborazo ist mit 6.310m als höchster Berg des Landes und am weitesten vom Erdmittelpunkt entfernter Ort der Erde ein weiterer Superlativ) wieder abwärts auf wenige hundert Meter über NN im Oriente durchläuft Ecuador im Querschnitt von West nach Ost sämtliche Höhenstufen der tropischen Anden (vgl. Abb. 29). Abbildung 29: Höhenprofil von Ecuador (West-Ost-Querschnitt) Kartographie: Achim Engelhardt nach Carl Troll (abgedruckt aus ENGELHARDT 2000:10) 251 Kapitel 3 Zusammen mit regionalklimatischen Besonderheiten, insbesondere der südlichen Costa, ergibt sich dadurch eine landschaftliche Heterogenität, durch die Ecuador nicht nur ein allzeit beliebtes Reiseland ist, sondern eine außerordentliche Biodiversität mit einem hohen Anteil endemischer Arten beherbergt Die 'Yasuni-ITT-Initiative' geht auf einen Vorschlag der ecuadorianische Regierung aus dem Jahr 2007 zurückgeht, die Vorkommen des unter dem artenreichen Nationalpark Yasuní im Oriente gelegenen Erdölfeldes namens ITT zum Erhalt der Biodiversität, dem Schutz der dort ansässigen Indigenen und zur Vermeidung von CO²-Emissionen im Boden zu belassen, wenn Ecuador von der internationalen Gemeinschaft im Gegenzug mindestens die Hälfte der aus der Förderung zu erzielenden Einnahmen als Kompensationszahlung erhält, um in ökologische und soziale Projekte investieren zu können. Mit ihr hat Ecuador einen konzeptionell neuartigen Vorschlag zum Umgang mit natürlichen Ressourcen in 'Entwicklungsländern' im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung in internationale Debatten um Ressourcen-, Arten- und Klimaschutz eingebracht. Eine im Jahr 2009 per Volksabstimmung verabschiedete, ebenfalls neuartige, innovative wie umstrittene Verfassung der Präsidialrepublik verschreibt sich mit den indigenen Leitbildern der 'Pachamama' („Mutter Erde“) und des 'Sumak Kawsay/Buen Vivir' („gutes Leben“) einer nachhaltigen Entwicklung und einer „sozialen und solidarischen Wirtschaftsform“, möchte die Privatisierung öffentlicher Güter ausschließen, erweitert erstmals weltweit die Grundrechte um die 'Rechte der Natur' und möchte mit der BürgerInnenbeteiligung als vierte und dem Wahlrecht als fünfte Gewalt im Staat eine partizipative Demokratie fördern171. Vor dem Hintergrund solch immenser Vielfalt und solch ehrgeiziger Ziele und mutiger Alternativvorschläge eines Landes, das in hohem Maße und in vielen Bereichen (z.B. Schuldentilgung, Sicherung der Grundbedürfnisse wie Bildung und Gesundheit durch staatliche Programme gemäß der neuen Verfassung) von den Einnahmen aus dem Export von Rohstoffen und landwirtschaftlichen Erzeugnissen abhängt, erscheint die in unserem Fokus liegende Frage nach der (Un)Möglichkeit nachhaltiger Garnelenzucht und Bananenproduktion als nicht nur für die KonsumentInnen der Importländer interessant. Um möglichst schnell in unsere Untersuchungsregion zu gelangen, fällt die Wahl des Zielflughafens auf Guayaquil. Damit landen wir – an einem Morgen im Juli, pünktlich zum Sonnenaufgang gegen halb sieben – in der mit über drei Millionen EinwohnerInnen (Großraum Guayaquil) größten Stadt Ecuadors. Wer z.B. die stadtgeographischen Arbeiten von Herbert Wilhelmy und Axel Borsdorf (1984, 1985) gelesen hat, wundert sich nicht über die Existenz einer Metropole wie Guayaquil, die die in der Sierra gelegene Hauptstadt Quito (ca. 2 Millionen EinwohnerInnen im Großraum) in ihrer Größe und wirtschaftlichen Bedeutung überbietet. Errichtete das spanische Kolonialreich seine Verwaltungszentren als Machtdemonstration in den eroberten Städten der Inkas im Hochland (Cusco, Quito), entwickelten sich in einer auf Rohstoffausbeutung ausgerichteten kolonialen Ökonomie gleichzeitig Hafenstädte (Callao, Guayaquil), über die die frühen Kolonialwaren nach Europa transportiert wurden. So ist Guayaquil in 171 http://www.asambleanacional.gov.ec/biblioteca/biblioteca/constituciones-del-ecuador.html [01.06.13], vgl. http://library.fes.de/pdf-files/iez/05723.pdf [01.04.13] 252 Portraits der Teilfelder der geschützten Lage der Mündung des Río Guayas als einem der wenigen geeigneten Hafenstandorte der südamerikanischen Pazifikküste eine spanische Gründung aus den 1530er Jahren, die zwar bis 1778 im Schatten des Handelsmonopols von Callao stand, durch die jedoch früh der Grundstein für die Entwicklung eines bedeutenden Exporthafens gelegt wurde. Mit der Auflösung des Monopols von Callao zur Kolonialzeit und v.a. durch den Einstieg des zwischen 1820 und 1830 unabhängig gewordenen Ecuadors in den Welthandel Ende des 19. Jahrhunderts bildeten sich in Guayaquil der größte Hafen sowie das Handelsund wirtschaftliche Zentrum des Landes heraus, während Quito damals wie heute den Mittelpunkt des politischen, administrativen und kulturellen Lebens darstellt. Heute haben u.a. die wichtigsten Garnelenzuchtfirmen ihren Sitz in Guayaquil und für viele, die vom Land (oder aus den Mangroven) abwandern, beginnt hier der oft mühevolle Einstieg ins städtische Leben. Wer statt W ILHEMLY/BORSDORF Reiseführer gewälzt hat, wird – angesichts der wenigen Sehenswürdigkeiten und der Warnungen vor der den extremen sozialen Disparitäten zugeschriebenen hohen Kriminalität – nichts dagegen haben, wenn wir die Stadt – vorerst – gleich hinter uns lassen, die Nachbarschaft von Flughafen und Busbahnhof nutzen und uns direkt auf den Weg nach Machala machen, um zunächst die Welt der Bananenproduktion in Ecuador näher kennenzulernen. Auf der knapp fünfstündigen Busfahrt, die mit Guayas, einem kleinen Stück Azuay und El Oro durch drei der insgesamt 24 Provinzen Ecuadors führt, ignorieren wir den in den Bussen obligatorisch gezeigten Spielfilm und richten unseren entweder geographisch geschulten oder zumindest um ein wenig Lektüre (ENGELHARDT 2000:10ff, LANFER 1995) erweiterten Blick aus dem Fenster, um uns einige der Merkmale und Besonderheiten der Untersuchungsregion vor Augen zu führen. Der Bus verlässt die Stadt über zwei unmittelbar aufeinander folgende Brücken, die kurz vor der Stelle über den Río Daule und den Río Babahoyo führen, an der sich diese zum Río Guayas vereinen, um wenige Kilometer weiter südlich unter Bildung eines Deltas in den Golf von Guayaquil zu münden. Damit entwässern sie das nördlich der Stadt zwischen der Küstenkordillere und dem Andenwesthang gelegene, etwa 300 km lange und bis zu 100 km breite Guayasbecken in den Pazifik (ENGELHARDT 2000:10). Nach Überquerung der Flüsse durchfährt der Bus eine von Industriebetrieben gesäumte Ausfallstraße der Stadt Durán, um den Agglomerationsraum von Guayaquil schon bald auf der Panamericana Richtung Süden hinter sich zu lassen. Anders als im Norden, wo sich die Costa in die vorgelagerte Küstenebene, die Küstenkordillere und das Guayasbecken gliedert172, ist das Küstentiefland hier schon bald nicht viel mehr als eine schmale Schwemmlandebene zwischen Andenwesthang und Pazifik. Die zu unserer Linken steil aufragenden, meist waldbewachsenen, mal mehr mal weniger in die Ebene hineinragenden Hänge der Westkordillere, die in seltenen, meist durch Hochnebel (genannt 'Garúa') oder Bewölkung verwehrten Momenten klarer Sicht auch den Blick auf den ein oder anderen Vulkangipfel preisgeben könnten, lassen die hohe tektonisch-morphogenetische Dynamik einer Subduktionszone erahnen. In der Ebene selbst dominiert der Anblick kilometerweiter Bananenplantagen zu beiden Seiten der Straße. Schilder an 172 Das Guayasbecken ist ein spätkreidezeitlich-tertiäres Becken, das sich im Rahmen der Orogenese der Anden zwischen der Westkordillere und einem – heute als Küstenkordillere herausgehobenen – Inselbogen entwickelt hat (vgl. LANFER 1995:26ff). 253 Kapitel 3 Abzweigungen zu Verwaltungsgebäuden oder Packstationen lassen einige bekannte Namen und Symbole wie 'DOLE', 'BONITA', 'RAINFOREST ALLIANCE' oder '100 % ORGÁNICO' wiedererkennen. Seltener entdeckt man einen der Ceibos, jener seltsam geformten 'Flaschenbäume' (Ceiba trischistandra), die die natürliche Vegetation dieses Küstenteils symbolisieren: den in gängigen vegetationsgeographischen Klassifikationen meist als Trocken- oder Dornsavanne kategorisierten tropischen Trockenwald (vgl. LANFER 1995:29f). Zusammen mit breiten und geröllreichen, jedoch nur von schmalen Wasserläufen bis hin zu mickrigen Rinnsalen durchflossenen Flussbetten, die in unregelmäßigen Abständen die Straße kreuzen, bilden sie Indizien für die klimatische Situation des Küstenstreifens, die einerseits einige für die Tropen typischen Merkmale, andererseits einige bemerkenswerte regionale Besonderheiten aufweist. Typisch ist, dass in diesen Breiten, in denen die Sonne mittags immer hoch und zweimal jährlich im Zenit steht, Jahreszeiten nicht aufgrund der Temperatur, sondern nach dem Niederschlagsregime unterschieden werden. Temperaturschwankungen im Laufe des Tages sind in der Regel größer als innerhalb eines Jahres. Jahresdurchschnittstemperaturen an der Costa schwanken mit Werten zwischen 21,6°C und 26,5°C genauso um ca. 4,5°C wie die Monatsmitteltemperaturen im Jahresverlauf, auch wenn der klimatisierte Bus im Moment die Wärmegunst nicht nachfühlen lässt (vgl. LANFER 1995:49ff). Besonders ist, dass anstelle eines immerfeuchten Klimas mit relativen Niederschlagsspitzen, die z.B. bimodal kurz nach den beiden Sonnenhöchststände zu den Äquinoktien folgen, wie man es aufgrund der Breitenlage von nur zwei bis drei Grad Süd erwarten könnte und in Ansätzen im nördlich des Äquators gelegenen Teil der Costa vorfindet (vgl. LANFER 1995:43), im mittleren und südlichen Teil der Costa in der Regel eine ausgeprägte Trockenzeit von Mai bis Dezember (oder auch länger) den Jahresgang prägt. Ein langer Sommer ( = Trockenzeit) und ein kurzer Winter ( = Regenzeit) führen zur Einstufung des regionalen Klimas nach Köppen als Savannen- oder gar Steppen- oder Wüstenklima mit einer Trockenzeit (also dem Sommer) im astronomischen Winter der Südhalbkugel (Awh, BSh, BWh; vgl. LANFER 1995:32 und Karte 7 im Anhang). Theoretisch wissen wir, dass diese Besonderheit der Costa, von einem extrem steilen Niederschlagsgradienten geprägt zu sein, durch den sich auf engstem Raum ein mehr oder weniger kontinuierlicher Übergang vom 'Immerfeuchten' im Süden Kolumbiens zur Küstenwüste im Norden Perús vollzieht (mit Jahresniederschlagswerten zwischen 3780mm und 100mm, vgl. ENGELHARDT 2000:12; vgl. Karte 8 im Anhang), sehr eng mit dem vom Jahresgang der Sonne abhängigen Wechselspiel zweier küstenparallel verlaufender Meeresströme und deren ozeanographisch-atmosphärischen Effekte verbunden ist – dem von Süden kommenden kalten Humboldt- bzw. Perústrom einerseits, dem aus Norden kommenden warmen Äquatorial- oder El Niño-Strom andererseits. Der die meiste Zeit der Küste vorgelagerte Humboldtstrom und die mit ihm vorherrschende Passat-Inversion173 lässt wenig Verdunstung und Konvektion zu, es fällt kaum Niederschlag, abgesehen von den Stellen an denen der in der Höhe ausgebildete Garúa-Nebel auf küstennah steil aufragendes Festland trifft. Einzig im Laufe des Südsommers gelingt es der mit dem Lauf des Sonnenzenits nach Süden drängenden ITC, den 173 als Resultat des Zusammenspiels der gleichsam stark ausgeprägten Walker- und Hadley-Zelle über dem Südost-Pazifik 254 Portraits der Teilfelder Humboldtstrom ein Stück weit zurück und durch den warmen Äquatorialstrom (aufgrund seines Vordringens zur Weihnachtszeit auch El Niño genannt) zu verdrängen. Durch die Erwärmung des Wassers und der Luft wird die Inversion labilisiert, es kommt zu Verdunstung, Wolkenbildung und Advektionsniederschlägen, kurz: zur Regenzeit an der Costa. Dabei ist die Variabilität der tatsächlichen Niederschläge in der Regel umso höher, je kürzer die durchschnittliche Regenzeit- und menge ist (LANFER 1995:43ff). Wir wissen auch, dass die an den an diesem Julitag beobachteten Indizien erkennbare Trockenzeit den zu erwartenden Normalfall darstellt, der in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen174 von einer mehr oder weniger stark ausgeprägten Anomalie unterbrochen wird, die eine deutlich verlängerte und mit heftigen Niederschlägen und Überschwemmungen verstärkte Regenzeit mit sich bringt; zuletzt 1983 (sehr starke Ausprägung) und 1998. Bei dieser als 'El-Niño-Phänomen' oder 'ENSO' (El-Niño-Southern-Oscillation) bekannten Anomalie brechen die sonst stabilen, in sogenannten 'La-Niña'-Jahren sehr stabilen ozeano- graphisch-meteorologischen Gleichgewichte im Südpazifik zusammen oder kehren sich sogar um. Es kommt nicht nur zur gewohnten Schwächung der Passate und einem Vordringen des El-Niño-Stroms nach Süden von Weihnachten bis Mitte März, vielmehr fällt der Luftdruck im südlichen Ostpazifik bzw. steigt er im südlichen Westpazifik ( Southern Oscillation) derma- ßen, dass die Passatwinde deutlicher und über einen längeren Zeitraum abflachen oder gar zum erliegen kommen. Der durch sie angetriebene Transport von warmem Oberflächenwasser Richtung Westen und der dadurch bewirkte Auftrieb kalten, den Humboldtstrom antreibenden Wassers bleibt aus, vielmehr 'schwappt' das warme Wasser zurück vor die Küste. Die über mehrere Monate erhöhten Wassertemperaturen vor Ecuador und Perú führen zu einer ausgedehnten Regenzeit mit heftigen Niederschlägen und Überschwemmungen (mit vergleichbaren inversen Effekten wie Trockenheit und Waldbränden in Indonesien). Praktisch können diese makroskopischen physisch-geographischen Charakteristika unterschiedlichste Auswirkungen auf die Ressourcennutzung und das alltägliche Leben haben. So bedeutet die lange Trockenzeit mit einer hohen Niederschlags-Variabilität an vielen Orten, dass landwirtschaftliche Nutzung nicht ohne Bewässerung auskommt und dass die Trinkwasserversorgung für viele Städte und Dörfer eine zentrale Problematik darstellt. Transformationen der natürlichen, an die klimatischen Verhältnisse angepassten und zur Regulation des Wasserhaushalts sowie zum Schutz der Böden beitragenden Vegetation können Probleme der Landwirtschaft und der allgemeinen Grundversorgung verschärfen. Beeinträchtigungen der direkten Sonneneinstrahlung durch den Garúa-Nebel wirken sich auf so unterschiedliche Praktiken wie die Garnelenzucht (geringeres Algenwachstum zur Alimentation der Garnelen) oder den Tourismus (Attraktivität von Badeorten) aus. Veränderungen der Wassertemperatur des Meeres beeinflussen nicht nur das Vorkommen von Fischen in Quantität (Fischreichtum in kühleren Gewässern) und Qualität (unterschiedliche Arten), sondern auch das von Garnelenlarven (nur in warmem Wasser). Eine Absenkung der Salinität während der Regenzeit, z.B. durch verstärkten Süßwasserzufluss in den Golf von Guayaquil, kann die Garnelenzucht beeinträchtigen, wenn dadurch die erforderliche Mindestkonzentration unterschritten wird (vgl. 174 von statistisch ca. 7 Jahren (vgl. LANFER 1995:40) 255 Kapitel 3 ENGELHARDT 2000:21). Extreme El-Niño-Ereignisse können durch starke Niederschläge und Überschwemmungen und dadurch resultierende Erosion oder Zerstörung von Ernten und Infrastruktur sowie durch eine Reduktion der Fischvorkommen zu großen volkswirtschaftlichen Schäden führen. Für landwirtschaftliche Praktiken wie den Bananenanbau sind zusätzlich zu den klimatischen Rahmenbedingungen auch die Verbreitung der Bodentypen (im trockenen Süden der Costa v.a. Vertisole, aber mit z.T. großen Unterschieden auf lokaler Ebene) und deren Eigenschaften (insbesondere die Wasseraufnahme- und Speicherkapazität) von Bedeutung. Diese werden neben dem Klima und dem jeweils anstehenden oder herantransportierten Ausgangsmaterial auch entscheidend durch die jeweils praktizierten Nutzungsformen (z.B. Monokulturanbau) und aus diesen resultierenden Folgewirkungen (z.B. Nährstoffverarmung, Denudation/Erosion) beeinflusst (vgl. LANFER 1995). Beobachtungen auf einer Busfahrt nach Machala stimulieren eine solche gedankliche Zusammenfassung des physisch-geographischen Kontextes der Untersuchungsregion. Es darf die eine oder andere praktische Relevanz dieser Gegebenheiten sowie weiterer mikroskopischer Details, die solch allgemeinen Zusammenfassungen entgegenstehen oder sie ergänzen, für die im Fokus der Forschung liegenden Praktiken erwartet werden. Welche dies sein bzw. zur Sprache kommen werden, wird das weitere Folgen der Verflechtungen um Bio + Fair bei Garnelen und Bananen hier in Ecuador ergeben. Dieses Folgen knüpft zunächst an die in Deutschland geknüpften Kontakte an. Nach Ankunft in Machala, der etwa 230.000 Einwohner zählenden Provinzhauptstadt von El Oro, einem Wirtschafts- und Kompetenzzentrum für Agrarwirtschaft mit angegliedertem Exporthafen (Puerto Bolívar), treffen wir am Nachmittag Joaquín Vásquez und dessen Stellvertreter David Romero in den im Stadtzentrum Nahe der plaza im sechsten und obersten Stock eines Bürogebäudes gelegenen Räumlichkeiten von UROCAL. Um einen Einblick in den Alltag und die Praktiken der KleinproduzentInnen zu gewinnen, möchte ich zunächst eine Woche auf einer Finca verbringen, um anschließend die Arbeit der Organisation UROCAL und weiterer ProtagonistInnen in der Stadt kennenzulernen. Schnell und gerne ist ein einwöchiger Aufenthalt bei José*175, einem der in Mischkultur produzierenden KleinproduzentInnen von UROCAL, vereinbart. David wird mich am nächsten Morgen auf die etwa 1,5 Autostunden entfernte Finca bringen. Nun kommt es also zu ersten Begegnungen in situ mit verschiedenen Akteurstypen: Funktionäre der ProduzentInnen-Organisationen wie Joaquín oder David, KleinproduzentInnen wie José; später auch Plantagenbesitzer wir Jorge oder ArbeiterInnen wie Carlos. Hier treffen wir (und treffen die Standard setzenden Organisationen!) auf diejenigen, die die Kategorisierungen der Standards mit Leben füllen. Auf wen aber treffen wir, wenn wir es mit Kleinbauer José, Arbeiter Carlos und Plantagenbesitzer Jorge zu tun haben? Was macht einen Kleinbauern wie José aus, außer dass er und seine KollegInnen der FLO-I-Definition von „small producers“ (vgl. 3.1.5) gerecht werden und vom Fairen Handel eine Alternative zur für sie als Schwache sonst so bedrohlichen Welt offeriert bekommen? Zur Erinnerung: 175 die Namen der nur mit Vornamen bezeichneten Personen sind geändert 256 Portraits der Teilfelder „[...] They hire less than a maximum number of permanent workers as defined by the certification body. The land they cultivate is equal to or below the average of the region, as defined by the certification body. They spend most of their working time doing agricultural work on their farm. Most of their income comes from their farm. […]“. (Auszug aus der FLO-I-Definition für „small producers“, vgl. Kapitel 3.1.5) Doch wie kommt es, dass sie hier und heute anzutreffen sind und als KleinproduzentInnen Bio + Fair-Bananen für den europäischen Markt produzieren? Und wie tun sie dies, wie und unter welchen Rahmenbedingungen leben sie und wie ist ihre Perspektive auf die Zusammenhänge, in die sie eingebettet sind? 3.2.2 Geschichte der Bananenproduktion in Ecuador Auf der Autofahrt zur zwischen Machala und Guayaquil gelegenen Finca Josés, die uns am nächsten Morgen zunächst einen Teil der gestrigen Busstrecke zurückführt und durch einen Stopp zum Eisessen in einer großen, am Stadtrand von Machala gelegenen Shopping-Mall unterbrochen wird, erzählt David. Seine Erzählungen lassen die am Tag zuvor unter Gesichtspunkten des Reliefs, des Klimas, der Vegetation und der Landnutzung beobachtete Küstenebene aus einer anderen Perspektive betrachten. Mit Blick auf die Plantagen und (mal mehr, mal weniger) bewaldeten Berghänge zu unserer Rechten erzählt er von der Wasserknappheit als einem zentralen Problem für die Landwirtschaft. Als Ursache benennt er Entwaldung, nicht zuletzt durch den von Glücksrittern betriebenen Goldbergbau in den nahegelegenen Bergen. Als Problem führt er auf, dass Großgrundbesitzer oft mehr Wasser abzweigen würden, als ihnen zustehe, und damit den Kleinen weniger bleibe. Und dass Bemühungen um Regulation wie durch das von der neuen Regierung geplante ley de agua wegen verbreiteter Korruption wenig Erfolg versprechen würden. Korruption sei nicht nur eine hohe Hürde, um gegen solche Verstöße im Bereich der Ressourcennutzung vorzugehen. Seit jeher behindere sie im Allgemeinen, Veränderungsprozesse gegen die großen Plantagen durchzusetzen, wofür er die Korrumpierbarkeit vieler Gewerkschaften, in der Vergangenheit wie heute, als Beispiel anbringt. Mit den Gewerkschaften und den durch sie betrogenen ArbeiterInnen wendet sich seine Erzählung sozialen Aspekten zu. Ortschaften, bei denen uns bei der Durchfahrt am Vortag vielleicht nur die auf Landwirtschaft und Dienstleistungen kurzfristigen Bedarfs ausgerichteten Läden sowie die schlichte, funktionale Bauweise der längs der Panamericana aneinandergereihten Häuser aufgefallen ist, werden zu Arbeitersiedlungen, denen Probleme wie Kriminalität, Drogen, Alkohol, Prostitution und ein nicht funktionierendes Gemeinwesen zugeschrieben werden. Die Arbeiter der großen Plantagen litten unter schlechter Bezahlung und der Willkür der Aufseher, die auf jeden erdenklichen Fehler lauerten, um einen halben Tageslohn streichen zu können. Unter den Jugendlichen herrsche Perspektivlosigkeit, schon als Kinder würden sie als Tagelöhner in den Plantagen beginnen, die gerne die Arbeitskraft von drei Kindern zum Preis eines Erwachsenen vorziehen würden. Vor dem Hintergrund dieser Erzählung, die an die von Fairtrade Deutschland geschilderte bedrohlichen Negativspirale erinnert, zeichnet 257 Kapitel 3 er den Weg und die Vision von UROCAL als eine regionale Bewegung der KleinproduzentInnen, die sich für eine nachhaltige Entwicklung von unten einsetze und deren Wurzeln bis in die Zeit zurückreichten, als man den großen Multi Chiquita aus dem Land drängen konnte und nach einem alternativen Weg jenseits korrumpierbarer Organisationen suchte. Während es heute solche und solche KleinproduzentInnen gebe, einerseits diejenigen, die erst in jüngerer Zeit als Bio + Fair-Betriebe dazugekommen sind und aus verschiedensten Kontexten kommen, und andererseits diejenigen, die von Anfang an dabei sind und deren Existenz und Lebensweise auf engste mit ihrem Dasein als KleinproduzentInnen verknüpft ist, sei UROCAL das Produkt eines langen Weges im Kampf um bessere Lebensverhältnisse für die Landbevölkerung. Wenn wir Persönlichkeiten wie David lauschen dürfen, wie sie den Werdegang von UROCAL erzählen, so hören wir Zeitzeugen einer bewegten Geschichte dieses Teils der Costa, deren Kenntnis unerlässlich sein dürfte, um die Einbettung der heutigen Akteurstypen (KleinproduzentInnen, deren Kooperativen und politische Organisationen, PlantagenbesitzerInnen, ArbeiterInnen, staatliche Einrichtungen) zu verstehen. Die Lektüre von Steve Striffler´s Ethnographie zu den sozialen Auseinandersetzungen in der Agrargeschichte der südlichen Costa des letzten Jahrhunderts (STRIFFLER 2002) sowie Javier Ponce´s Chronik von UROCAL (PONCE 2007), in denen viele der einstigen und heutigen ProtagonistInnen – inklusive David und Joaquín – zu Wort kommen, vertiefen und verdichten derlei Erzählungen. Während ich den weiteren Ausführungen Davids lausche, sei hier ein Exkurs in die Agrargeschichte der Region der Ankunft auf Josés Finca vorangestellt: 258 Portraits der Teilfelder Karte 2: Bananenanbau-Gebiet Tenguel-Balao zwischen Guayaquil und Machala Übersichtskarte aus Steve Striffler´s Buch: „The region that I call Tenguel-Balao. It is not drawn exactly to scale but does show the relative position of towns, haciendas, and other markers. The map covers an area that is roughly 100 kilometers in length and 25 kilometers in width.“ (STRIFFLER 2002:12) Die Küstenregion Ecuadors kann auf eine bewegte Agrargeschichte zurückblicken. Nach dem Kakao-Boom Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts ist diese auf Produktebene geprägt vom Bananenanbau, der als Nachfolger des Kakaos Ecuador zum Exportweltmeister der krummen Frucht machte. Der Bananenanbau dominiert das Landschaftsbild und die Wirtschaftsstruktur insbesondere in der südlichen Küstenregion bis heute, zu ihm gesellt sich seit den 1970er Jahren als jüngeres Phänomen die Garnelenzucht. Während der Kakaoanbau heute hauptsächlich durch Kleinbauern in den agrarwirtschaftlich suboptimalen Randzonen des extrem produktiven Küstentieflandes zwischen Guayaquil und 259 Kapitel 3 Machala stattfindet176, entwickelte er sich als das Produkt immenser Großplantagen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum ersten großen Exportschlager und somit zur Eintrittskarte des jungen ecuadorianischen Staates in den Weltmarkt (vgl. STRIFFLER 2002:21ff). Auch wenn der Kakao-Boom (genannt „El Gran Cacao“ oder „la pepa de oro“, PONCE 2007:5f) eine erste Erschließung des Küstenlandes bedeutete, so vollzog sich diese jedoch nur entlang der Flussläufe, über die die Ware in den Exporthafen von Guayaquil gebracht werden konnte. Straßenbau und die Entwicklung der heutigen Bevölkerungs- und Siedlungsstruktur mit einer massiven Zuwanderung aus dem Hochland erfolgten erst mit dem Bananenboom ab den 1950er Jahren (vgl. STRIFFLER 2002:22). Nichtsdestotrotz zogen einzelne Produktionsstandorte, allen voran die schon damals größte und modernste Plantage in Tenguel, Arbeiter aus ganz Ecuador an (STRIFFLER 2002:25). Um die Arbeiterschaft zu kontrollieren, wurden in der damaligen Zeit allerlei Zwangsmaßnahmen in alle Lebensbereiche der Arbeiter hinein angewandt, weswegen die Zeit von den Tengueleños mitunter als „the time of slavery“ erinnert wird (STRIFFLER 2002:25). Dies hing damit zusammen, dass zum einen die Arbeiter hauptsächlich in Subsistenzwirtschaft von ihren eigenen kleinen Fincas leben konnten und angesichts der Abgeschiedenheit der Zone von den Städten sowie dem Nichtvorhandensein lokaler Märkte nicht tagtäglich auf Lohnarbeit angewiesen waren, zum anderen aufgrund der Abgeschiedenheit keine staatliche Gewalt präsent war, um physischer Gewalt Einhalt zu gewähren (vgl. STRIFFLER 2002:25). So wurden die Arbeiter durch Bestrafung und totalitäre Kontrolle zu Arbeiten gezwungen, für die sie selbst nicht immer eine ökonomische Notwendigkeit gesehen haben dürften. Neben dieser archaischen Form der Arbeiterkontrolle gab es damals auch schon eine Vorform des heutigen contract farming. Der sogenannte „sembrador“ wurde von den Plantagenbesitzern eingesetzt, um die Plantagen urbar zu machen: „In general, the sembrador (subcontractor) would clear, plant and then care for cacao trees while planting food crops on the same or nearby lands. Upon termination of the contract (generally four to six years), the sembrador would turn over the planted area to the landowner who would pay a cash sum for each tree. The landowner would then work the plantation with hacienda peons who were paid in a combination of cash, access to land, and other benefits. This system not only allowed landowners to plant their land with relatively little capital, but shifted all the production risks to the sembrador; if the trees died or were of poor quality, the sembrador could loose all or part of his investment“ (STRIFFLER 2002:24f; vgl. auch CRAWFORD DE ROBERTS 1980). Die Landbesitzenden177 selbst bildeten eine relativ homogene nationale Elite, die den ecuadorianischen Staat zu jener Zeit dominierte: „From 1895 and Eloy Alfaro´s 'Liberal Revolution' until the end of the cacao boom in the early 1920s, the national government was a relatively coherent instrument of class rule under the control of a landowning export elite based in the coast“ (STRIFFLER 2002:22; vgl. auch CUEVA 1982). Das Ende des Kakao-Booms und der Niedergang der exportorientierten Kakaoproduktion in Ecuador, ausgelöst durch ausufernde Pflanzenkrankheiten178, konkurrierende Anbaugebiete in Brasilien und Westafrika und einen Rückgang des Kakaohandels als Folge des ersten Weltkriegs, verschob das herrschende Gleichgewicht in Ecuador. Die geschwächte Agrarelite verlor ihren uneingeschränkten Einfluss auf den Staat. Bis zum Beginn des Bananenbooms 1948 „no 176 wiedereingeführt in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg, vgl. STRIFFLER 2002:26,184 177 reiche Familien mit einer Vorliebe für das Frankreich jener Zeit 178 Hexenbesen - „Whitch´s Broom“, vgl. STRIFFLER 2002:23 260 Portraits der Teilfelder single group (from either the sierra or the coast) could maintain control over a central government that changed hands over twenty times. Crisis and instability became institutionalized. […] [This] represented the beginning of a political period in which popular classes had to be taken into account by those who ruled. The cacao boom had generated enough wealth and expanded the government sufficiently to create a growing middle class of professionals, bureaucrats, and intellectuals. A small proletariat also emerged around public services, small industry and Guayaquil´s port. By challenging the landed elite´s monopoly over political power, these groups transformed and complicated the political terrain in which United Fruit found itself in the 1930s and 1940s“ (STRIFFLER 2002:23f, vgl. auch CUEVA 1982). Mit dem Einzug der United Fruit Company (UFC; heute Chiquita), erst explorativ in den 1930er Jahren, dann produktiv v.a. ab der Zeit nach dem 2. Weltkrieg, begann die Ära der Bananen, wiederum mit der Hacienda Tenguel als eines der Zentren, diesmal in Form einer typischen UFC-Großplantagen-Enklave. Der größte Fruchtkonzern der Welt hatte seine Gründe, in Ecuador zu investieren. Zu jener Zeit (der Bananensorte Gros Michel) war die Bananenproduktion eine Art Wanderfeldbau, der riesige Flächen verbrauchte und dabei nicht nur vor der sogenannten Panama-Krankheit179 davon zog, die ganze Anbaugebiete nieder raffte, sondern auch vor sich regendem Arbeiterwiderstand in verschiedenen Anbauländern Zentralamerikas (vgl. HERNÁNDEZ 2003). Ein Engagement in Ecuador war also sowohl der Suche nach Anbauland geschuldet, in dem die Panama-Krankheit noch nicht grassierte, als auch eingebettet in die Risikostreuungsstrategie der Fruchtmultis: Diese kontrollierten nicht nur bereits damals die gesamte, im Bananenhandel sehr kapitalintensive Logistik (Eisenbahnen, Kühlschiffe), sondern verfügten auch einerseits über eigene, riesige Produktionsstätten in mehreren Ländern und unterhielten andererseits Verträge mit jeweils lokalen Produzenten, die ihrerseits wiederum in vielen Belangen (Betriebsmittel, Knowhow, Absatz) von den 'Drivers' der 'Banana-Chain' abhängig waren. Ecuador schien auf den ersten Blick besonders geeignet, da es zum einen das höchst produktive, von der Panama-Krankheit weitestgehend verschonte Küstentiefland, zum anderen billige und 'gefügige' Arbeitskräfte180 aufbot (STRIFFLER 2002:33). Jedoch hatte die UFC von Anfang an Mühe mit der innenpolitischen Situation Ecuadors, die sich als „complicated political terrain“ herausstellte, „characterized by general economic crisis, a politically bankrupt elite, the growing political activity of popular classes, and the fracturing of an already fragmented state“ (STRIFFLER 2002:27). Dies sollte sich insbesondere später, in den Krisenzeiten der damaligen Organisationsform der Bananenwarenkette Ende der 1950er/Anfang der 1960er Jahre bemerkbar machen. Am Anfang jedoch installierte die UFC, neben dem auch schon damals vorhandenen contract farming mit nationalen Produzenten, in Tenguel eine eigene Großplantage mit vielen typischen Merkmalen von UFC-Enklaven (vgl. NUHN 2003a). Die Firma verfügte über die komplette Infrastruktur und kontrollierte zumindest im Kern der Plantage alle Lebensbereiche (STRIFFLER 2002:43ff): Hafen, Eisenbahn, sonstige Verkehrsmittel, Telekommunikation, Wohnhäuser für Arbeiterfamilien, Elektrizität, Wasser, Läden, Schulen, Kirchen, Krankenhaus (das beste des Landes), Kantinen (mit bestem Essen, z.B. regelmäßig Milch und frisches Fleisch), eigene Polizei, etc.181 Trotz des Enklaven-Charakters war die Plantage jedoch 179 eine Pilzkrankheit 180 mit geringem Organisationsgrad, wenig Erfahrung im Umgang mit Bananenfirmen und auf der Suche nach Alternativen zum geschwundenen Kakao 181 irgendwann auch eine eigene Gewerkschaft, die von außen wenig beeinflusst werden konnte und deren ZweiParteien-Struktur lange Zeit ein von der Firma inszeniertes Theater war ("pro-managment workers´ union", als Prä261 Kapitel 3 durchaus auch ein Motor für die Regionalentwicklung, durch dessen Versorgungsbedarf sich erste lokale/regionale Märkte entwickelten. Die Organisation und Kontrolle der Arbeiterschaft setzte auf die Förderung von Kernfamilien mit fester Rollenverteilung. Alle bezahlten Arbeiten wurden von Männern verrichtet, neben der eigentlichen Plantagenarbeit z.B. auch der Verkauf in den Lebensmittelläden. Die Firma zahlte hohe Löhne und bot zahlreiche Extraleistungen (wie z.B. Erholungsurlaub, gesponserte Arbeiterclubs und Sportmannschaften182). Die Frauen kümmerten sich um die (gut ausgestatteten) Haushalte und um die Erziehung der Kinder. Ein Mann brauchte eine Frau/Familie, um langfristig auf der Plantage arbeiten zu können, deren Arbeitsplätze u.a. auch deshalb so attraktiv waren, weil hier die Frau nicht aus ökonomischen Gründen zusätzlich arbeiten gehen musste. Viele Familien migrierten zu dieser Zeit nach Tenguel und in den erfolgreichen Anfangszeiten brachte dies ihnen einen gewissen Lebensstandard, der für sie weder in der Zeit davor noch danach erreichbar war; weswegen die Erinnerung an „paradiesische Zeiten“ nicht selten anzutreffen ist (STRIFFLER 2002:47). Diese Ausrichtung auf ein Kernfamilien-Konzept und eine 'väterliche' Behandlung der Arbeiterschaft183 – anstelle eines Komplexes von alleinstehenden jungen Männern, schlechter Bezahlung, fehlender Absicherung sowie viel Alkohol und Prostitution – kann auf die Erfahrungen vorangegangener Jahrzehnte in Zentralamerika, die geringen Lohnkosten sowie „popular-nationalist forces“ im Ecuador jener Zeit zurückgeführt werden (STRIFFLER 2002:48). Ecuador blieb jedoch von der Panama-Krankheit nicht lange verschont. Als sich neben den ökologischen auch die wirtschaftlichen und politischen184 Rahmenbedingungen für die Bananenproduktion verschlechterten, gab es neben der Ausweitung des contract farming, das sich schlussendlich durchsetzen sollte, für die UFC prinzipiell zwei weitere Handlungsoptionen: zum einen die Expansion des Grundbesitzes bzw. die Verlegung des Produktionsstandorts im Sinne des oben skizzierten 'Wanderfeldbaus', zum anderen Kürzungen bei den Sozialleistungen sowie Entlassungen. Beide Optionen erwiesen sich in der Umsetzung als problematisch. Eine Expansion des Grundbesitzes bzw. die Nutzung der peripheren, bis dato von der Firma nicht bewirtschafteten Flächen des bereits erworbenen Besitzes war im Wesentlichen nur Richtung Osten denkbar. Neben dem Pazifik im Westen war die Hacienda nördlich und südlich begrenzt durch Plantagen anderer (nationaler oder internationaler) Firmen. An der östlichen Peripherie ihrer eigenen Hacienda stieß die Firma jedoch auf unerwartet potenten Widerstand durch SiedlerInnen und entlassene Arbeiterfamilien, die sich dort als KleinbproduzentInnen eine eigene Existenz aufzubauen versuchten. Mit ihrer Geschichte beginnt im Grunde die von UROCAL und die der heutigen Bio+Fair-Bananen in Ecuador. Einschnitte in das von der UFC selbst aufgebaute Lebensmodell der eigenen Arbeiterfamilien bedeuteten für diese einen Angriff auf das eben erst Gewonnene: nicht nur auf den Lebensstandard, gleichzeitig auch auf die Lebensform der Plantagenarbeit, mit der sie sich identifizierten und in der sie zu ihrem bescheidenen Wohlstand gekommen waren. So wurden die Familien und die Arbeiterclubs zu wichtigen Voraussetzungen für Widerstand im Kern der Plantage, der letztventivmaßnahme gegenüber dem Einfluss von Bauern- und Arbeiterorganisationen von außerhalb, s. STRIFFLER 2002:51) 182 stets getrennt je nach Stellung in der Hierarchie der Arbeitsorganisation, so hatten z.B. die Eisenbahnarbeiter ihren eigenen Club, die Elektriker, usw. 183 in deren Genuss allerdings nur diejenigen kamen, die konform und unpolitisch genug waren und sich der hierarchischen Struktur des Betriebs unterordneten 184 Instabilität, öffentlicher Diskurs über eine mögliche Agrarreform (STRIFFLER 2002:55) 262 Portraits der Teilfelder endlich zur Vertreibung der UFC aus Ecuador führte: „The nuclear family, as sustained and supported by the company, was a form of labor control that was integral both to the hacienda´s profitability during the 1940s and 1950s and the workers´ invasion in 1962“ (STRIFFLER 2002:45, Hervorhebung im Original). „As sociocultural creations, the clubs, like the nuclear family, were simultaneously a source of company control and worker autonomy. The clubs, regardless of their form – as company creations, workers´ organizations, or, later, state cooperatives – were simultaneously a source of worker resistance and the framework through which workers were incorporated and controlled by state and capital“ (STRIFFLER 2002:51, Hervorhebung im Original). An den Randzonen der Hacienda fanden Konflikte um Land zwischen der UFC und der Comuna Mollepongo (SiedlerInnen; schon ab den 1930er bis in die 1950er Jahre) und der Colonia Agrícola Shumiral (ehemalige, entlassene Arbeiterfamilien; ab den 1950er Jahren) statt (STRIFFLER 2002:61ff und 83ff). Auch ohne auf die z.T. kuriosen Details dieser Auseinandersetzungen einzugehen, sind einige Aspekte erwähnenswert: Nämlich erstens, dass es der UFC nicht gelang, sich bei einem Konflikt mit einer Handvoll Bauernfamilien zu behaupten und diese von dem besetzten/beanspruchten Land zu vertreiben. Zwar konnte die UFC in der Regel ihre rechtmäßigen Ansprüche, nicht aber deren Umsetzung durchsetzen. Während die Firma auf den von ihr erworbenen Besitz verwies ('ownership through property'), beharrten die Kleinbauern auf ihre Leistung, ungenutztes Land urbar gemacht zu haben ('ownership through possession'). War der ecuadorianische Staat zu Zeiten des 'Gran Cacao' im ländlichen Raum des Küstentieflands noch abwesend gewesen, so erhielt er in der ersten Zeit der Bananenära Einzug. Jedoch war er physisch vor Ort kaum vertreten, oft nur durch eine Person (el teniente político), die unterschiedlichste Anordnungen verschiedenster staatlicher Einrichtungen (z.B. verschiedener Ministerien) umsetzen sollte und (nach Belieben) konnte (STRIFFLER 2002:67). Durch in der Regel gute Beziehungen zur personifizierten Vertretung des Staates vor Ort (und dem 'Faktenschaffen' durch Besetzung des Landes und Zerstörung von UFC-Bananenpflanzen) sowie ein wachsendes Geschick darin, die konkurrierenden Interessenvertretungen innerhalb des fragmentierten Staates durch die verschiedenen Institutionen hindurch185 gegeneinander auszuspielen, gelang den organisierten Kleinbauern ein Katz und Maus-Spiel, dass den Multi in die Verzweiflung trieb. Zweitens bekamen die Kleinbauern – trotz gelegentlicher Rückschläge, Betrügereien und Vertrauensbrüche – Hilfestellung von zivilgesellschaftlichen Einrichtungen wie Arbeiterorganisationen und Einzelpersonen wie Anwälten. Zwar hatten Arbeiterorganisationen oder Gewerkschaften genauso wie der ecuadorianische Staat so gut wie keine Präsenz im ländlichen Raum, konnten ihre potentiellen Zielgruppen jedoch zumindest mit manchmal ausschlaggebenden Informationen und juristischem Beistand unterstützen (STRIFFLER 2002:68). Drittens führten die Auseinandersetzungen mit der Firma im Kampf um ein eigenes Stück Land dazu, dass die Bauernfamilien sich organisierten und – gefördert durch den Rat der sympathisierenden NROs und Juristen – von der Gesetzgebung bereitgestellte juristische Figuren annahmen. So bemühten sich die Siedler von Mollepongo um die Bildung einer Comuna (basierend auf dem Ley de Comunas von 1937), um ihrem Anliegen mehr Durchschlagskraft und Legitimation zu verleihen (STRIFFLER 2002:66ff). Dies bedeutete jedoch gleichzeitig den Anfang einer Eingliederung in den Staat (z.B. als comuneros, die in einer konzentrierten Siedlung leben und Service-Empfänger des Staates geworden sind), deren Folgen erst mit der Expansion desselben 185 vgl. STRIFFLER 2002:79f 263 Kapitel 3 (finanzierbar durch den Öl- und Bananenboom ab den 1970er Jahren) spürbar werden sollten. Viertens wurde die Geschichte der Colonia Agrícola Shumiral zu einer Art Ursprung und Modell für eine breite soziale Bewegung, bei der der Zugang zu eigenem Land im Mittelpunkt stand und aus der UROCAL hervorging: „The […] conflict […] was exceptionally important for a number of reasons: First, the laid-off workers consciously invaded an uncultivated portion of Hacienda Tenguel. Unlike the peasants in Mollepongo […], the ex-workers in Shumiral never justified their actions in terms of a legal claim to the land. Although the term 'invasion' was not yet part of their political language, the ex-workers nonetheless inserted themselves into an emerging discourse surrounding agrarian reform, justifying what in essence was an invasion through the moralnationalist argument that as Ecuadorian peasants they had the right to occupy uncultivated land owned by a foreign company. As one of the more open land invasions during the period immediately preceding agrarian reform, the conflict in Shumiral – and what it foreshadowed – posed a much greater symbolic threat to the company´s enterprise. The invasion was a sign of things to come. Second, in 1960, after five years of struggle, the Colonia Agrícola Shumiral could claim victory against a major multinational186. Forced to sell over 2500 hectares for a token price, the United Fruit Company was one step closer to abandoning direct production. Third, because it was orchestrated by a small group of ex-workers and a rentless lawyer, the victory in Shumiral provided workers at the core of the hacienda with a dramatic example of the possibilities opened up by organization and unity. No one had ever imagined that the company could be beaten by workers; Shumiral demonstrated otherwise. Encouraged by the example of Shumiral, workers in Tenguel would invade the heart of the hacienda less than two years later. Finally […] members of the Colonia Agrícola Shumiral, in alliance with compañeros from the Mollepongo Commune, continued to struggle long after their initial victories. Motivated by their own success, the peasants and their descendants not only established alliances with sympathetic clergy and national-level popular organizations, but became regional-national leaders themselves. To a greater extent than in any other community, the colonos (settlers) of Shumiral developed a consciousness of themselves as peasants involved in a broader struggle against both the state and the agrarian oligarchy. By the mid-1970s, the very same leaders involved in the conflict with United Fruit formed UROCAL, a regional peasant organization that assisted other peasant groups in their struggles to obtain land and form communities. The formation of Shumiral, then, would not only provide a model and stimulus for the formation of other peasant communities and organizations, but represented the beginning of a broader process. Due to a variety of factors, including successful histories of union struggle, the disintegration of large haciendas, and the growing pressure for agrarian reform, groups of peasants began in the late 1960s to invade marginal sectors of large haciendas and form independent communities. Shumiral, as well es Mollepongo […], were early manifestations of a process that was just beginning to transform Ecuador on a 186 "The last meeting with the company was a real triumph. A bunch of gringos came to Shumiral to negotiate. Yes, here. Our lawyer, Dr. Gordillo, wouldn´t go to Tenguel. They all sat down and started talking. Dr. Gordillo never sat, he just paced. They talked for a bit and then Dr. Gordillo said he was leaving. He said he was a busy man with people waiting. Can you imagine? The gringos got real nervous. They wanted to end this matter and didn´t like being in Shumiral. They would offer a price and he would reject it and say he was leaving. He said it was an insult that Ecuadorians were paying for our own land. Finally they agreed on a price and asked where they could write up the contract. Dr. Gordillo said he would have to go to Tenguel because we were only poor people here and didn´t even have a typewriter. So we walked a bit and then got in the trucks with the gringos. Everyone came. The arrendatarios were following on their horses. That was a sight. We got to Tenguel and a gringo began to write up the agreement but Dr. Gordillo disagreed with every sentence. Finally they just gave him the typewriter and he typed it out in five minutes. The gringos signed and we had won. We left the offices and no one in Tenguel could believe us. They thought they had brought us here to put us in jail. And there we were leaving as landowners. That was a great day. (R.L. 1996)" (STRIFFLER 2002:92) 264 Portraits der Teilfelder national level.” (STRIFFLER 2002:84f, Hervorhebungen im Original). Im Kern der UFC-Plantage kam es 1962 schließlich zur Übernahme der Kontrolle durch die Arbeiter; der Moment, in dem die Firma aus der direkten Produktion in Ecuador vertrieben wurde. Dabei ging es nicht mehr gegen Entlassungen oder für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen bzw. deren Erhalt: „The conflict was not about wages, the labor code, or working conditions. It was first and foremost about land. In this sense, the invasion of the Hacienda Tenguel – foreshadowed by events in Mollepongo and Shumiral – signaled the gradual shift away from labor conflicts and the beginning of a period characterized by land struggles. It also represented the definitive end of enclave-style production, the beginning of agrarian reform, and the slow emergence of contract farming in Ecuador“ (STRIFFLER 2002:95). Diese Periode der Landkämpfe, begleitet von zwei Agrarreformen (Mitte der 1960er und Anfang der 1970er Jahre) lief alles andere als geradlinig und überschaubar ab. Auch wenn der Aufstand der Arbeiter in Tenguel, des größten Plantagenkomplexes des Landes, ein Sonderfall darstellt, so zeigen sich in dessen öffentlich-medialer Verarbeitung, seiner Zerschlagung durch das Militär, anhand der weiteren Entwicklung der Hacienda insbesondere im Zuge der zweiten Agrarreform, im Rahmen derer sie einmal mehr zum Modell für ganz Ecuador werden sollte, und am Vergleich mit mit eher peripher gelegenen Beispielen einige typische Merkmale der ecuadorianischen Agrarreformen. Das Bild von der kommunistischen Gefahr, die aus dem Ausland hereingetragen worden sei und die an und für sich passiven, unpolitischen Arbeiter angestiftet habe, entsprach zwar nicht im Entferntesten der Rekonstruktion der Geschehnisse vor Ort (vgl. STRIFFLER 2002:96ff), wurde jedoch zum Leitmotiv eines militärischen Eingriffs – so wie die gesamte erste Agrarreform unter einer kurz zuvor errichteten Militärdiktatur nicht das Ziel einer Landumverteilung verfolgte, sondern eine Neuordnung im Interesse klarer Eigentumsverhältnisse und Produktionssteigerungen durchsetzte: „[...] the emphases and priorities had shifted away from the politically popular to the bureaucratically pragmatic. Rhetoric about delivering the hacienda to the workers was now replaced by a 'colonization plan' that would 'respect private property', 'reestablish order on Hacienda Tenguel,' and consider giving land to both cooperatives and private cultivators. From this point on, the related themes of private property, order, and increased production would remain unquestioned and serve as a driving force behind the agrarian reform program in Tenguel and Ecuador as a whole“ (STRIFFLER 2002:106). So war der Weg zu privaten nationalen Produzenten187 und staatlich gesteuerten Kooperativenprojekten für ehemalige Arbeiter bereits in den Anfängen der Reformperiode vorgezeichnet. Letztere würden ebenso wie die landbesitzenden Kleinbauern in den Randzonen wie Mollepongo oder Shumiral nicht selten erfolglos damit zu kämpfen haben, dass eine nachhaltige Teilhabe am Agrarexportgeschäft auf mehr Kapital angewiesen war als auf ein eigenes Stückchen Land. In den 1960er Jahren kam es zudem zu einer Innovation in der Bananenproduktion, durch die sich neben dem skizzierten Wandel der politischen Rahmenbedingungen auch die wirtschaftlichen Umstände grundlegend änderten. Die bislang vorherrschende Varietät Gros Michel wurde durch die neue Sorte Cavendish ersetzt (vgl. STRIFFLER 2002:117ff). Diese war resistent gegen die Panama-Krankheit, wies eine bis zu viermal höhere Produktivität auf und konnte für unbe187 die auch Teile der Hacienda Tenguel von der UFC abkauften 265 Kapitel 3 stimmte Zeit auf dem selben Stück Land angebaut werden: „Banana production was no longer a semimigratory enterprise that required large quantities of reserve land“ (STRIFFLER 2002:117). Dadurch konnte sich der Anbau für den Export auf kleinere Kerngebiete mit optimalen Anbaubedingungen konzentrieren. Dies bedeutete für Ecuador insofern einen Nachteil im internationalen Bananengeschäft, dass es zwar nach dem zweiten Weltkrieg zum größten Bananenexporteur weltweit aufgestiegen war, jedoch als Ausweichstandort für die angeschlagenen Produktionen in Zentralamerika. Die neue Sorte erlaubte es den Fruchtkonzernen, wieder verstärkt auf ihre alten Anbaugebiete in Costa Rica oder Panamá zu setzen und offenbarte Ecuadors zweitrangige Stellung im internationalen Produktionsnetzwerk. Gleichzeitig wurde der Anbau von Bananen wesentlich kapitalintensiver. Neben der genannten Vorteile verfügte die neue Sorte auch über problematische Eigenschaften (STRIFFLER 2002:117). So war sie anfälliger im Anbau (konstante Wasserversorgung über Bewässerungskanäle erlangte eine größere Bedeutung, regelmäßige Anwendung von Düngemitteln und Pestiziden wurde erforderlich) sowie empfindlicher beim Transport (Bedarf an gut ausgebauten Straßen). Um die schwereren Stauden innerhalb der Plantage zu transportieren, war die Investition in ein teures Seilzugsystem von Nöten. Dies erschwerte die Situation von KleinproduzentInnen: „With the switch in variety, it became immediately clear that the importance of peasant producers would be reduced. The Cavendish requires a level of investment well beyond the reach of most smallholders. Systems of canals and transportation make little sense on plots of only five or ten hectares; a contiguous holding of at least twenty hectares was and is essential“ (STRIFFLER 2002:118, Hervorhebung im Original). Zusammen mit den teuren technologischen Paketen (Düngemittel, Pestizide, etc.) war das künftige Geschäft größeren Betrieben vorbehalten. So konnten die Fruchtkonzerne, allen voran nun Dole, das bis heute vorherrschende System des contract farming etablieren, bei dem sie auf Vertragsbasis mit nationalen Produzenten („associated producers“, Mindestgröße 50 ha) zusammenarbeiten, die sie mit Knowhow und technologischen Paketen ausstatten und für die sie in der Regel als einziger Abnehmer auftreten, ohne die Risiken der Produktion tragen zu müssen (STRIFFLER 2002:118). Durch die neuen produktspezifischen Anbaubedingungen fiel nun die Wahl auf die fruchtbare Zone zwischen Guayaquil und Machala als Hauptanbaugebiet. Neben den günstigen ökologischen Voraussetzungen befand sich hier die beste Infrastruktur in Form von gut ausgebauten Straßen und Nähe zu den Exporthäfen (STRIFFLER 2002:119, vgl. auch LARREA 1987). Eine zweite, etwas weiter reichende Agrarreform (1970-1976 unter einer nationalistisch-reformistischen Militärregierung) wurde mitunter erst durch den Einstieg Ecuadors ins Ölgeschäft möglich. Dadurch waren nun zum einen Geldmittel vorhanden, um die staatliche Präsenz und Wirkungssphäre signifikant auszuweiten, zum anderen erwuchs daraus eine größere Unabhängigkeit von den großen Landbesitzern (STRIFFLER 2002:120). Wurden während der ersten Agrarreform Landkämpfe noch konsequent unterdrückt, so traten sie während der zweiten Reform wenn auch nicht in den Mittelpunkt, so zumindest in Erscheinung. Wie schon bei der ersten Agrarreform lagen jedoch auch bei der zweiten die Ziele im Vordergrund, politische Stabilität zu gewährleisten und die Produktion für den Export zu modernisieren und zu steigern. Landkämpfe hatten in der Regel nur dort Erfolg, wo sie gut organisiert und vernetzt waren und nicht den vorrangigen Zielen im Weg standen, also v.a. in den für die Exportproduktion suboptimalen Zonen am Rand der Anden. „Ideally, capitalist farmers would work high-quality land while peasants brought mar- 266 Portraits der Teilfelder ginal properties into cultivation. A state-organized class of agricultural laborers would be turned into landowning peasants, production would increase, and the growing urban middle class would receive a steady supply of cheap food. Or so was the plan“ (STRIFFLER 2002:119). Die sichtbaren Resultate des Reformprozesses waren dann auch, dass erstens die ausländischen Investoren ihr Land verkauften und sich aus der Produktionsebene zurückzogen, zweitens nationale Großproduzenten sich die fruchtbarsten Anbauflächen des südlichen Küstenlandes sicherten und Verträge mit den ausländischen Exporteuren schlossen, drittens die Zahl der landbesitzenden KleinproduzentInnen anstieg, aber sie von nun an hart zu kämpfen hatten, um ihr Stück Land zu bestellen188, und viertens sich eine jüngere Generation von PlantagenarbeiterInnen herausbildete, die schlecht bezahlt und ohne Jobsicherheit und Gewerkschaften arbeiten müssen (STRIFFLER 2002:121). Während es in der Phase vor den Agrarreformen den Bauern oft gelang, die lokale Ebene zu kontrollieren, drehte sich das Kräfteverhältnis nun um: „Local authorities were 'local' in a way that they had not been in the 1930s and 1940s. They were physically present in rural hamlets with greater consistency, in larger numbers, and almost always under the control of large landowners“ (STRIFFLER 2002:122). Auch wenn die Rhetorik der Regierung die KleinproduzentInnen unterstützte und stimulierte, erreichte sie in der Regel die lokale Ebene nicht. Nur in den peripheren Bereichen, wo die Landbesitzer nicht so einflussreich waren, waren die Bauern erfolgreicher, dabei aber gleichzeitig auch angewiesen auf die Unterstützung des überlasteten 189 Instituto Ecuatoriano de Reforma Agraria y Colonización (IERAC). Bauern- und Arbeiterorganisationen hatten – noch weniger als der gewachsene ecuadorianischen Staat – nach wie vor nicht die Ressourcen, um einen Vor-Ort-Support zu ermöglichen. Obwohl oder gerade weil die ehemalige Hacienda Tenguel als ein Modellprojekt im Kerngebiet der Anbauregion gedacht war und besondere Aufmerksamkeit durch das ansonsten überforderte IERAC erlangte, ist sie bezeichnend für die Entwicklungen im Gunstraum der Bananenproduktion (vgl. STRIFFLER 2002:129ff). Teile der Großplantage wurden zunächst in staatlich kontrollierte/finanzierte Kooperativen der ehemaligen Arbeiterfamilien aufgeteilt190, die verschiedene Produkte (u.a. Mais, Bohnen, Reis; auch Weideland) anbauten. Dieser erste Anlauf scheiterte, nicht zuletzt aus Mangel an Ressourcen191. Ein zweiter Versuch, das sogenannte 'Repobladora'Projekt, wurde zusammen mit einem privaten Plantagenbesitzer unternommen, mit dessen Finanzierungs- und Planungshilfe (als Kredit an die Kooperativen) 1000 ha innerhalb von sieben Jahren in rentable Cavendish-Produktion gebracht werden sollten, die darauf hin von den Kooperativen übernommen werden sollte. Aufgrund von Misswirtschaft und Korruption scheiterte das anfangs vielversprechende Vorhaben auf halbem Weg. Zwar wurden einige der korrupten Protagonisten bestraft (Gefängnisstrafen, Entlassungen beim IERAC), wesentliches Ergebnis für die Kooperativen war jedoch, dass sie nicht nur mit weiteren Schulden zurückgelassen wur188 "[...] they could and did acquire significant quantities of land. That they then had no resources to work the land is one of the principal legacies of agrarian reform" (STRIFFLER 2002:121) 189 s.a. STRIFFLER 202:157f 190 wobei nicht erwünschte Personen ausgeschlossen wurden und die Zusammensetzung der Kooperativen den Trennlinien der ehemaligen Arbeiterclubs der UFC-Plantage entsprach (STRIFFLER 2002:130,134) 191 Nach dem Niedergang der Hacienda waren viele abgewandert, sodass nicht mehr genügend Arbeitskräfte zur Verfügung standen, die Mitglieder der Kooperativen mussten sich finanziell beteiligen, IERAC selbst war nicht mit ausreichend Budget ausgestattet, die vorhandenen Infrastruktur war teuer in Instandsetzung und – haltung. Nichtsdestotrotz schob das IERAC das Scheitern des Vorhabens auf die "worker mentality" and "hostility towards the cooperative method", ohne die eigenen (hauptsächlich ressourcenbedingten) Defizite zu reflektieren; ein ehemaliges Kooperativenmitglied bemerkte dazu trocken: "There was no project. [...]" (STRIFFLER 2002:133ff). 267 Kapitel 3 den192, sondern auch mit einem unvollendeten Projekt: die Bananen wuchsen bereits, eine Vermarktungsstruktur aber fehlte noch, sodass die Kooperativen keine Möglichkeit hatten, ihre Schulden an den Staat und den privaten Financier zurückzuzahlen (vgl. STRIFFLER 2002:136ff). Die Kooperativen zerfielen Stück für Stück und ihr Land sowie der individuelle Besitz ihrer Mitglieder landeten meist in den Händen einer der nationalen Großbetriebe193. In ihrem ursprünglichen Streben nach mehr Unabhängigkeit waren die ehemaligen Arbeiter und frischgebackenen KleinproduzentInnen in staatliche gesteuerte Kooperativenprojekte gedrängt worden, da diese die einzige Möglichkeit darstellten, an das Kapital zu kommen, das sie für die erfolgreiche Bewirtschaftung ihres Landes benötigten. Neben diesem Abhängigkeitsverhältnis blieb als zweiter Weg die Lohnarbeit auf den großen Plantagen, um unabhängiger zu werden. So sind heute viele aus den Kooperativenprojekten bzw. deren Nachkommen, wenn sie keine um Ressourcen kämpfende KleinproduzentInnen mehr sind, wieder ArbeiterInnen auf einer der Bananenplantagen. Die meisten sehen dies als eine vorübergehende Tätigkeit, verbunden mit der Hoffnung, eines Tages soweit zu sein, einen alternativen Weg (eigenes Geschäft, andere Arbeit in der Stadt nach verbesserter Ausbildung) einschlagen zu können; eine Alternative, die oft eine Illusion bleibt (vgl. STRIFFLER 2002:148,193ff). In den Randzonen der Anbauregionen fanden im Zuge der zweiten Agrarreform mehrere mehr oder weniger erfolgreiche Landinvasionen durch KleinproduzentInnen statt. Die ersten Invasionen wurden v.a. durch ehemalige Arbeiter der Plantagen durchgeführt, die im Gegensatz zu den nun zahlreich aus dem Hochland auf der Suche nach einer neuen Existenz einwandernden Bauernfamilien über eine gewisse Vorerfahrung in Selbstorganisation und Widerstand verfügten. Wichtig für die Entstehung einer breiteren Bewegung war die Invasion der Kooperative Luz y Guía in den Randbereichen der Hacienda Balao-Chico. Durch eine öffentlichkeits- und medienwirksame Aktion erlangte sie Unterstützung verschiedenster Personen und Gruppen: die gesamte Kooperative194 marschierte von Balao nach Guayaquil und errichtete für längere Zeit ein Camp in einem Park in der Innenstadt Guayaquils, um zu protestieren und Verbündete zu gewinnen – was schließlich zu einer erfolgreichen Aneignung von Land führte (vgl. STRIFFLER 2002:158ff). Während der Invasion von Luz y Guía traten auch erstmals zentrale Akteure der neuen Landrechtebewegung auf den Plan, so die Aktivisten der künftigen UROCAL und Padre Hernán, ein geistlicher aus Cuenca, der zusammen mit befreiungstheologischen Aktivisten aus Spanien die Bewegung über Jahre maßgeblich unterstützen und prägen sollte195. Auch wenn sich das Zentrum des Widerstands (u.a. aufgrund radikaler Ansichten bei Luz y Guía) anschließend nach Shumiral verschob, so lieferte dieses Ereignis „a key stimulant to peasant political activity“ und „the groundwork for establishing links between often isolated conflicts“ (STRIFFLER 2002:163). Viele der ProtagonistInnen kleinerer Konflikte, wie z.B. die Guaman-Brüder Mitte der 1970er Jahre, fanden bald Unterstützung in Shumiral, einem „hervidero de iniciativas, […] en cada iniciativa una experiencia de democracia estaba en juego“ (PONCE 2007:12): „By the time 192 nachdem sie bereits bei dem ersten, staatlich gesteuerten Vorhaben Kredite u.a. für die Häuser und das Land hatten aufnehmen müssen 193 manchmal als Kooperative getarnt, um das Land zu übernehmen 194 Im Allgemeinen zeichneten sich die Invasionen und sonstigen Aktivitäten in den 1970er Jahren durch eine (im Gegensatz zu den 1950er Jahren) intensivierte Teilnahme von Frauen aus, die jedoch in Organisationen wie UROCAL oder den Kooperativen unterrepräsentiert blieben – weswegen sich im Anschluss an die Invasions-Ära u.a. verschiedene Frauengruppen / -organisationen herausbildeten, welche wiederum einen Teil der Mitgliedsorganisationen bei UROCAL ausmachen (vgl. auch STRIFFLER 2002:172). 195 organisiert als Centro de Educación y Capacitación Campesina del Azuay (CECCA), s. PONCE 2007:10 268 Portraits der Teilfelder the Guaman brothers went to Shumiral, UROCAL was within months of forming and all key organizers were already working with Padre Hernán and his group of Spanish activists. Some from this group […] had worked for and later confronted United Fruit in the 1950s. As founders of the Colonia Agrícola Shumiral and the Mollepongo Commune, they were no strangers to political conflict and peasant organization. At the same time, there was also a younger, post-United Fruit generation of leaders, including Joaquín Vásquez, Julio Coyago, and David Romero, that provided a key force behind UROCAL. In their twenties, they identified with and were influenced by Padre Hernán and the Spanish activists. As a group, Padre Hernán, the Spanish, and the younger generation of local peasant-activists were strongly influenced by the revolutionary ideas that were circulating in Ecuador, Spain, and the world at large during the late 1960s and early 1970s. Those that not were committed to a broader socialist revolution were at least dedicated to the political struggle that was emerging in their part of the world. More important, this younger generation was forced to take up the same struggle for land – albeit in an entirely different political-economic context – that their parents had begun over twenty years earlier“ (STRIFFLER 2002:168f, Hervorhebungen SD). Personen wie die Guaman-Brüder „could now count on the support of a regional network of organizers that had emerged from earlier struggles. Peasant struggles beginning after 1973 benefited from an almost institutionalized and formulaic method of creating organizations, invading marginal lands, and pushing through agrarian reform. Peasants now knew the procedures for forming cooperatives and workers´ associations, or at the very least were able to quickly contact an emerging group of professional activists who would guide them through the process. Land invasions were anything but routine, but they did follow a fairly predictable pattern after 1973. This did not insure that all peasants in all places would be successful, but it did, at least for a moment, alter the balance of forces“ (STRIFFLER 2002:169). Die Vernetzung auf regionaler Ebene und mit nationalen Akteuren stärkte die Bewegung, war jedoch oft nicht besonders nachhaltig: „In most cases, however, peasant relationships with outside allies remained instrumental, allowing numerous cooperatives and workers´ associations to take better advantage of existing opportunities and gain access to state bureaucracies and resources. It was only in a very limited way that alliances between local cooperatives and national organizations […] strengthened the peasantry´s collective capacity to exert political pressure on the state and expand the range of opportunities to them. For most peasants, [these national organizations] were faceless (and largely urban) entities whose political projects were less important than their capacities to provide legal aid or access to state bureaucracies“ (STRIFFLER 2002:173f, Hervorhebung im Original). Die formale Gründung UROCALs 1976 erfolgte zu einem Zeitpunkt, zu dem der Zenit der Landinvasionen bereits überschritten war (STRIFFLER 2002:175). Sie fiel in eine Zeit, in der die reformistische Regierung Rodriguéz Laras durch ein Triumvirat ersetzt wurde, das die Agrarreform repressiv beendete und von nun an eine andere 'Entwicklungspolitik' für den ländlichen Raum verfolgte (vgl. STRIFFLER 2002:178f). Unter den neuen Rahmenbedingungen begann nun v.a. Dole, das bis heute dominante System des contract farming zu etablieren. Die Resultate der Agrarreform (stabile Landverteilung mit großen Bananenproduzenten in den fruchtbarsten Anbauzonen, eine nach wie vor große Gruppe landloser PlantagenarbeiterInnen) boten optimale Voraussetzungen dafür. Die einst bei den Invasionen direkt miteinander konfrontierten Plantagen 269 Kapitel 3 und KleinproduzentInnen (in spe) verwandelten sich in ungleiche Wettbewerber um staatliche Ressourcen: „agrarian reform encouraged (or forced) large landowners to modernize the most fertile sections of their properties while turning over the more marginal lands to peasant-workers. In so doing, this struggle-filled process helped generate a landowning peasantry and a capitalist class of banana producers. Once constituted, each group of landowners confronted a number of problems with respect to production and marketing, but these problems were not seen as a product of conflicting interests between the two groups. By the 1980s, then, the state´s development apparatus was (unequally) serving the needs of two seemingly disconnected sectors. Capitalist planters and peasant producers both made quite harsh criticisms of the state´s understanding and implementation of development, but they rarely came into contact or conflict with each other. Rather they competed for the few state resources that were destined for agriculture – a clientalistic competition that was decidedly unequal“ (STRIFFLER 2002:183, Hervorhebung im Original) Somit fiel der Konsolidierung der regionalen Bewegung in Form von UROCAL in eine Zäsur, die eine Neuorientierung aufzwang, die auch zu internen Spannungen führen musste. Während manche die Auffassung vertraten, man müsse sich für die Gewinnung weiteren Landes einsetzen, setzte sich als neuer Schwerpunkt durch, sich um die Bestellung des erlangten Landes zu bemühen. Dies führte von einem „struggle to acquire land“ zu einem „struggle to acquire resources from the state“ (STRIFFLER 2002:180). Zum einen brachte dies Spannungen für den Repräsentationsanspruch der Organisation: „after the military triumvirate of 1976 removed the peasantry´s most dramatic form of political activity (invasion) and made it nearly impossible for landless groups to acquire property, it became extremely difficult for UROCAL to maintain ties between the landed and the landless. Within a relatively short period after its formation, UROCAL was consolidated into a regional peasant organization by, and largely for, smallholders“ (STRIFFLER 2002:179f). Zum anderen ergaben sich Veränderungen in der Funktion und Arbeitsweise der Organisation. Lag die Erfahrung und Expertise ihrer Lideres in der Organisation der Landkämpfe, gewann nun eine 'unternehmerische', ökonomische Komponente an Bedeutung, mit all den Schwierigkeiten, die einen solchen Funktionswandel begleiten. Im Anbau konzentrierten sich die KleinproduzentInnen hauptsächlich auf Kakao. Er stellte oft die einzige Alternative am Exportmarkt dar, war weniger arbeits- und kapitalintensiv als Bananen und wurde meist kombiniert mit dem Anbau anderer Produkte (z.B. Bohnen, Kochbananen) zur Selbstversorgung und für lokale/regionale Märkte (vgl. STRIFFLER 2002:184). Auf politischer Ebene bedeutete dies für UROCAL eine Positionierung als Kämpferin gegen den Zwischenhandel und andere Ungerechtigkeiten gegenüber den KleinproduzentInnen. Anfang der 1980er wurde die Organisation zur Hauptprotagonistin eines Kakaostreiks, der landesweit Aufsehen erregte und bewies, dass UROCAL immer noch fähig war, große Massen auf einer politischen Bühne zu mobilisieren (vgl. STRIFFLER 2002:185ff). Gleichzeitig begann UROCAL jedoch auch, sich um 'Entwicklungsprojekte' (neben dem kommunalen v.a. im produktiven Bereich) zu bemühen. Neben Ausbildungsprogrammen, Dorfläden, Kulturzentren, Gesundheitsprojekten und Projekten für die Frauengruppen (vgl. auch PONCE 2007:10) konzentrierten sich diese v.a. auf die Produktion und die Vermarktung des Kakaos. Insbesondere durch das staatliche Programm FODERUMA (Fondo de Desarrollo Rural Marginado), aber auch durch sonstige Unterstützung von außen wurde UROCAL zur Kreditgeberin für viele KleinproduzentInnen(organisationen): „FODERUMA was a fund of money that either financed small projects or was loaned directly to 270 Portraits der Teilfelder peasants in order to stimulate production and facilitate marketing“ (STRIFFLER 2002:181, Hervorhebung im Original). Nicht nur wurde UROCAL gerade durch seine Rolle im Zusammenhang mit dem FODERUMA immer mehr zu einem „agent of the state“ (STRIFFLER 2002:182). Auch stellte das Engagement im Bereich der Produktion und Vermarktung, in dem es UROCAL u.a. auch selbst als 'Zwischenhändlerin' mit einem eigenen Kakao-Trocknungs-Betrieb versuchte, neue Herausforderungen196 an Kompetenzen und Organisationsstrukturen197: „Esta modificación profunda de la misión de las federaciones campesinas convertidas, de líderes de la lucha por la tierra en organizaciones de servicios, fue la salida que encontraron ante la ausencia estatal, cuando había culminando una etapa de conflictos agrarios y comenzaban a implantarse, en el sector rural del país, políticas conservadoras como reacción a la reforma agraria. Sin embargo, y más allá del debate, se abría un peligroso escenario para el proyecto campesino. Sus líderes, probados en la lucha, no necesariamente se convertían, de la noche a la mañana, en eficientes administradores de empresas. Éstas, además, se fueron tornando en un espejismo sostenido por los recursos económicos de las agencias de cooperación“ (PONCE 2007:14). Zusätzlich zu den neuen Kompetenzen, die gefordert waren, entstand die Rolle als Aufseherin und Kontrolleurin, z.B. um Kreditrückzahlungen einzufordern („dirigentes, convertidos en cobradores de deudas“, PONCE 2007:22) oder die Qualität des zu vermarktenden Kakaos zu überwachen (PONCE 2007:16f). Schwierigkeiten gab es an allen Ecken und Enden. Qualität und Quantität waren oft nicht ausreichend, um am Markt zu bestehen, die über die Kreditprogramme entstehende Schuldenlast wuchs immer weiter an. Eine spätere Auswertung des FODERUMA ergab, dass der Kreditvergabe oft weder eine genügende Prüfung der Motivation der KreditnehmerInnen, noch deren Sicherheiten voranging: „los programas de comercialización o crédito se originaban en lo que algunos autores llaman una 'hipótesis social' y no en un estudio realista del mercado agrícola o financiero“ (PONCE 2007:23) Die konfliktive Doppelrolle der dirigentes als demokratische Repräsentanten und Manager führte zu inneren Spannungen, ebenso die zunehmende schwierige wirtschaftliche Situation. Hinzu kam der Beginn des Goldbergbaus 1983, der viele Bauern in die nahegelegenen Berge abwandern ließ, um dort unter meist prekären Umständen ihr Glück zu versuchen (vgl. PONCE 2007:25). Das Kreditgeschäft als 'Boomerang' und der 'Boom' der Minería brachten UROCAL in eine Schieflage(PONCE 2007:23,25). Ein weiteres äußeres Ereignis begünstigte einerseits die Abwanderung in die Berge, festigte jedoch andererseits den internen Zusammenhalt und die Solidarität: die heftigen Überschwemmungen durch das El-Niño-Ereignis 1982/1983, das UROCAL zu einer der wichtigsten HelferInnen in der Not machte, die durch ihre Verbundenheit und Vernetzung mit der Basis (nicht zuletzt auch aufgrund der jahrelangen Erfahrungen und Bemühungen um Partizipation) für eines der seltenen positiven Beispiele dafür sorgte, dass Katastrophenhilfe auch wirklich gleichzeitig sinnvoll und dort, wo sie hin soll, eingesetzt werden kann (vgl. PONCE 2007:18ff). UROCAL gelang es, die fundamentalen Schwierigkeiten zu überwinden. Eine wichtige Rolle spielte dabei die formale Trennung des sozialpolitischen Teils vom Kreditgeschäft und der Projektadministration (in Form der Cooperativa de Ahorro y Crédito de la Pequeña Empresa 196 "dos procesos que parecían incompatibles: la organización social y política y la organización empresarial" (PONCE 2007:14) 197 denen viele Organisationen aus der Zeit der Landkämpfe nicht gewachsen waren (s. PONCE 2007) 271 Kapitel 3 CACPE- UROCAL198). V.a. aber fand sich durch eine 'agrarökologische Wende' und den Einstieg in den Bioanbau sowie den Fairen Handel eine neue Perspektive. „Pero no todo estaba perdido en 1992. Cerca de dos décadas de educación, de toma de conciencia, de acción mancomunada, habían dejado sembrada en el espíritu campesino la convicción de que sólo podrían enfrentar su relación con el contorno manteniéndose unidos. El asunto residía en encontrar alternativas concretas y en colectivo, que les permitieran reflotar de la crisis provocada por las políticas neoliberales de ajuste, la contrareforma conservadora instalada en el campo luego de los procesos de reforma agraria“ (PONCE 2007:28): „A patir del congreso de 1992, los que quedábamos en la organización hicimos una evaluación de lo que había ocurrido: habíamos pasado por varias etapas: la lucha por la tierra, las experiencias de comercialización, la emergencia del fenómeno de El Niño. Los proyectos con el Estado. Nos propusimos buscar nuevas alternativas de sostenibilidad de la agricultura campesina. En la búsqueda de esas alternativas, es cuando aceptamos que era necesario impulsar el desarrollo humano, en el marco de una agricultura sostenible, y en concreto trabajar en la agricultura ecológica y dentro de ella el banano, que era un rubro con el que estábamos involucrados, juntamente con el cacao, con el proyecto de renovación de cacaotales. Nosotros vimos que lo más factible era también trabajar en banano. La gente que quedamos, tratamos de ubicar una estrategia sostenible que tuviera que ver con la economía de las familias, sin descuidar el aspecto social y político, pero concentrándonos en el diario: lo economía“ (Joaquín Vásquez, zitiert in PONCE 2007:28) Mit diesem Zitat des heutigen UROCAL-Präsidenten endet der historische Exkurs, der die Hintergründe von UROCAL und der heutigen Koexistenz von KleinproduzentInnen, Plantagen und landlosen ArbeiterInnen aufzeigt. Die bewegte Geschichte der Anbauregion und der Rolle von UROCAL darin macht deutlich, wo der Bioanbau und der Faire Handel anknüpften, als sie in den 1990er Jahren in der Region eingeführt worden sind und sich seither immer weiter ausbreiten. Die Nachfrage nach Bio + Fair Bananen in einem Alternativmarkt erlaubten UROCAL und den dahinter stehenden KleinproduzentInnen (als der erfolgreich aus der Landrechte-Bewegung hervorgegangene Teil der Landbevölkerung, die die Organisation insgesamt vertreten möchte) zusammen mit der partnerschaftlichen Kooperation mit BanaFair, ihr einst erkämpftes Land jenseits einer Konkurrenz zu den großen Plantagen durch eine neue Schwerpunktsetzung (von der Kakao- zur Bananenproduktion) auf eine Art und Weise zu bestellen, die eine Existenz ihrer Familien ohne größere Verschuldung und unabhängig von zusätzlicher Lohnarbeit auf den Plantagen ermöglichte. Mit der Betonung, dass sie als UROCAL entscheidend an Innovationen mitwirkten, die eine Bio-Produktion von Bananen in der Praxis erst ermöglichten, enden Davids Ausführungen über Geschichte, Mission und Vision der von ihm mit geprägten Bewegung mit der Ankunft in José Finca, zu der uns die Fahrt über mehrere Kilometer auf einer landeinwärts führenden, nicht mehr asphaltieren Querstraße der Panamericana geführt hat. Dort empfängt uns einer der Kleinproduzenten, der den Weg von UROCAL durch Bio + Fair von Beginn an mitgegangen ist. 198 vgl. PONCE 2007:29f. 272 Portraits der Teilfelder 3.2.3 Eine Woche auf der Finca José wohnt mit seiner Frau Carla (beide Mitte 40), seinem 22jährigen Sohn und seiner 10jährigen Tochter in einem einstöckigen Haus direkt an der Straße. Etwas zurückgesetzt befindet sich das Haus seiner Eltern. Sein Vater, seine Frau, sein Sohn und er bewirtschaften das etwa 9 ha große Grundstück. Auf einer kleineren Parzelle von rund 2 ha direkt hinter den Wohngebäuden baut sein 83jähriger Vater Kakao an. Kakao ist weit weniger arbeitsintensiv als Bananen, braucht weniger Pflege (z.B. Bewässerung nur einmal monatlich statt wöchentlich) und wird nur saisonal statt wöchentlich geerntet. Das ist einer der Gründe, warum sein Vater angesichts seines hohen Alters sich auf diesen beschränkt. Gemeinsam mit seiner Frau und seinem Sohn bestellt José die übrigen rund 7 ha mit Bio-Bananen und Kakao als Mischkultur-Finca, die mit verschiedenen Frucht-, Nutz- und sonstigen Baumarten zwischen den beiden Hauptkulturen ein Agroforstsystem darstellt. Die Tochter besucht die Grundschule des nahegelegenen Dorfes. Eine Woche bin ich nun Gast der Familie und erhalte dafür das Zimmer der Tochter, die solange ins Zimmer ihrer Eltern zieht. Ich bin nicht der erste Besucher. Wie in vielen anderen Familien, die UROCAL angeschlossen sind, waren auch hier schon unterschiedlichste Gäste, darunter (potentielle) GeschäftspartnerInnen, JournalistInnen, Studierende und WissenschaftlerInnen, denen man gerne eine Einblick in die eigene Arbeits- und Lebensweise bietet. Bei den vielen Gesprächen mit den Mitgliedsfamilien von UROCAL wird immer wieder deutlich, dass es ein Teil ihres Selbstverständnisses und ihrer Strategie ist, ihre Geschichte, ihre aktuelle Lage und ihre 'Botschaft' (mensaje) zu erzählen und dadurch bei anderen, insbesondere bei ProtagonistInnen und SympathisantInnen des Fairen Handels, bekannt zu machen. Aufenthalte wie der meine werden als Chance wahrgenommen, die eigene Situation zu vermitteln und sie in andere Zusammenhänge weiter transportieren zu lassen. Nach den ersten beiden Tagen kam von José die besorgte – und angesichts des Umstands, dass ich meine Feldnotizen bislang vor seiner Wahrnehmung verborgen in 'meinem' Zimmer niedergeschrieben hatte, berechtigte – Frage, ob ich mir denn auch alles merken könne, was er mir zeige und erzähle, nicht dass ich etwas Wichtiges vergesse. Auszüge aus den gewissenhaft ausgeführten dokumentierenden Tätigkeiten können einen Eindruck und Überblick über die Geschichten, Tätigkeiten, Positionierungen und Strategien auf Ebene der Produktion der KleinproduzentInnen vermitteln. Montag ist Erntetag, der sog. día de embarque (Tag der Verschiffung), an dem die Bananen geerntet, gewaschen, nach Qualität und Größe aussortiert, an den offenen Schnittstellen konserviert, mit Aufklebern beklebt und in Kisten verpackt, kurz: reisefertig gemacht werden, um am Abend die Finca in Richtung Hafen zu verlassen. Der erste Tag der Woche steht damit sozusagen am Ende des Produktionsprozesses. Deshalb lassen wir die exemplarische Woche auf Josés Finca mit einem Dienstag, dem ersten 'normalen' Arbeitstag beginnen. Jeder Arbeitstag startet sehr früh mit einem kräftigen Frühstück (desayuno) gegen halb sechs Uhr morgens, um mit dem ersten Tageslicht mit den Arbeiten auf der Finca beginnen zu können. Entsprechend gibt es schon gegen elf Uhr Mittagessen (almuerzo), das die Frau in der Küche 273 Kapitel 3 des Hauses zubereitet und zur mitten in der Finca gelegenen Packstation bringt, wo – neben sanitären Einrichtungen (Toilette, Waschbecken zum Händewaschen) – auch ein unter einem Wellblechdach geschützter, steinerner Essenstisch steht. Nach getaner Arbeit und einer erfrischenden kalten Dusche wird das Abendessen (merienda) gegen fünf Uhr nachmittags wieder im Wohnhaus eingenommen. Die Mahlzeiten sind reichlich, mit einem Berg Reis als Grundlage, dazu oft Gemüse aus dem eigenen Garten (Zwiebeln, Tomaten, Knoblauch, Ají, Kochbananen, Yuca), manchmal Eier, etwas Fleisch oder Fisch vom Markt, außerdem Säfte aus selbst angebauten Früchten. Insbesondere in Anbetracht der großen, auch schon zum desayuno servierten Reismengen betonen José und seine Frau mehrfach, dass die schwere körperliche Arbeit auf dem Land (campo) – im Gegensatz zum Leben in der Stadt – eine solche Ernährung erforderlich mache. Als José vor ein paar Jahren als einer der RepräsentantInnen von UROCAL zur Fairen Woche für 18 Tage in Deutschland war, sei er „ganz dünn“ zurückgekommen, weil er dort auf die gewohnten Reisrationen schmerzlich hatte verzichten müssen. Auf diese Weise gestärkt werden tagsüber die Arbeiten in der Finca verrichtet. Zwischen 7 und 11 und 12 und 16 Uhr, bei Bedarf auch länger. Grundsätzlich weist der Biobananenanbau die typischen Merkmale von Sonderkulturanbau auf199, insbesondere erfordert er einen hohen Arbeitsaufwand mit einer erhöhten Sorgfalt gegenüber der Einzelpflanze. Die Einzelpflanzen sind in mehreren 'Generationen' vertreten, bereits abgeerntete 'Großmütter' (abuelas), die bald entfernt werden, in Blüte stehende oder bereits Früchte tragende 'Mütter' (madres) sowie die neuen Sprösslinge (nietos), die neben ihren madres einen neuen, neunmonatigen Wachstumszyklus beginnen. Dadurch, dass jede Pflanze nur einen Zyklus erlebt und permanent neue nietos nachwachsen müssen, ist der Bewuchs der Hauptkultur der Finca ständig 'in Bewegung'. Eine Sorgfaltspflicht gegenüber den einzelnen Pflanzen besteht deshalb darin, darauf zu achten, dass einerseits die nachwachsenden nietos und die erntebringenden madres genügend Platz haben und nicht zu stark um Licht, Wasser und Nährstoffe konkurrieren müssen, andererseits die zur Verfügung stehende Fläche möglichst produktiv genutzt wird und die Abstände nicht zu groß werden. Der Wachstumsprozess vom nieto bis zur Ernte unterliegt einem wochengenauen Monitoring. Pflanzen gleichen Alters sind mit Etiketten gleicher Farbe markiert, wodurch das jeweilige Entwicklungsstadium leichter erkannt und entsprechende Arbeiten wie das Anbringen von Schutzfolien (zur Bewahrung der äußeren Qualität vor Insekten) oder die Prüfung der Größe und des Reifestadiums zur rechten Zeit durchgeführt werden können. Neben den je nach Entwicklungsstand spezifischen Arbeiten an einzelnen Pflanzen fallen jede Woche Tätigkeiten an, die die gesamte Finca betreffen. Dazu gehören insbesondere die wöchentliche Bewässerung und die mechanische Beseitigung von Pilzbefall und Unkräutern. Bei einer Mischkultur-Finca kommt zusätzlich noch die Pflege der weiteren Kulturen, in diesem Fall v.a. des Kakaos, hinzu. So stehen auch in dieser Woche typische Arbeiten im Mittelpunkt. Am Dienstag ernten wir den ganzen Tag Kakao. José holt die reifen Früchte von den Sträuchern, seine Frau öffnet sie mit der Machete und ich trenne die einzelnen, von einem weißlichen, süß schmeckenden Frucht199 GLASER 1967:20f, PEZ 1989:2ff , VOTH 2002:19ff; vgl. DIETRICH 2008b:19ff 274 Portraits der Teilfelder fleisch umgebenen Bohnen heraus. Am Abend haben wir zu dritt sieben Eimer gefüllt, die an einen für den nationalen Markt produzierenden Kakao-Trocknungs-Betrieb (secadora) verkauft und etwa 130 USD einbringen werden. Am Mittwoch betreiben wir 'Chirurgie' (cirugía). Dies bezeichnet die Tätigkeit, mit einer an einem langen Stab angebrachten Sichel oder Schere die Blätter aus den Bananenpflanzen herauszuschneiden, die von dem Blattpilz Sigatoka Negra befallen sind. Diese Krankheit wird von hoher Feuchtigkeit begünstigt, tritt von daher v.a. im Winter verstärkt auf und kann dann die ganze Finca bedrohen, wenn sie nicht eingedämmt werden kann. Im Bio-Anbau stehen keine effektiven Spritzmittel zur Verfügung, weswegen das regelmäßige manuelle Herausschneiden die einzige, wenngleich sehr aufwendige Lösung darstellt. Am Donnerstag schließlich bewässern wir die Finca. Dabei teilt sich Josés Finca in 3 ha, die seit kurzem mit einer Bewässerungsanlage ausgestattet sind (riego), und 4 ha, in denen nur punktuell an den höher gelegenen Stellen bewässert wird und das Wasser dem Gefälle folgend abfließt (gravedad). Durch eine Bewässerungsanlage kann die Produktivität (gemessen in wöchentlich geernteten Kisten pro ha) gesteigert und können außerdem Ressourcen geschont werden. „Durch Rohre verbundene Sprenkler, die vor dem Bewässerungsvorgang aufgeschraubt werden müssen, sind in regelmäßigen Abständen in den Bananen verteilt. Eine dieselbetriebene Pumpe befördert das Wasser aus einem die Finca durchfließenden Bach in das System. Bewässert wird in zwei Phasen á 3 Stunden. Eine bessere Pumpe würde das in einem schaffen und neben der Zeit auch noch Wasser sparen. Der Unterschied zwischen der Sprenklerbewässerung und den Sektoren, die per gravedad bewässert werden, ist eindrücklich. Weniger Wasser wird effektiver verteilt. Der um die Stauden aufgeschüttete Kompost wird nicht weggeschwemmt, der Boden nicht ausgewaschen. Die Pflanzen bekommen ausreichend Wasser.“ (Feldtagebuch) Dass José auf einem Teil seiner Finca ein solches riego installieren konnte, hat ihm ein Kredit ermöglicht, den UROCAL von einer Organisation der EZ erhalten hat. Ohne Kredit sei eine solche Anschaffung (Kostenpunkt: ca. 1200 USD/ha) nicht möglich; dessen Rückzahlung könne er durch die mit dem riego erzielte Produktivitätssteigerung leisten. Ziel sei es, eines Tages die ganze Finca mit riego auszustatten. Dafür müsse jedoch ein weiterer Kreditgeber gefunden werden. Eine andere Perspektive, die Wettbewerbsfähigkeit des Betriebs zu erhalten, sei die eigene Herstellung von Kompost. Bisher müsse er diesen teuer einkaufen, sein Nachbar aber habe – ebenfalls Dank eines Kredits – in eine kleine Anlage zur Kompostproduktion investieren können, durch die die in seiner Finca anfallenden organischen Abfälle effektiver genutzt werden können. Am Freitag wird deutlich, welchen Stellenwert die Arbeit in der Finca im Leben der Familie einnimmt. Normalerweise fährt José freitags nach Machala. Dort versammelt sich einmal im Monat die Kooperative Nuevo Mundo, der alle produzierenden UROCAL-Mitglieder angehören, zu ihren Besprechungen in den Räumlichkeiten von UROCAL, außerdem können die ProduzentInnen jede Woche den Scheck entgegennehmen, der ihnen durch die zuletzt exportierten Bananen zusteht, und ihn bei der Bank einzahlen oder einlösen lassen. Diesen Freitag hätte José neben dem einzulösenden Scheck zudem einen Arzttermin, um sich wegen einer Augenkrankheit behandeln zu lassen, unter der er schon seit Wochen leidet. Am Vortag wurde 275 Kapitel 3 jedoch beobachtet, dass ein für die Bananenpflanzen gefährliches, weil Wasser und Nährstoffe entziehendes Unkraut sich in einem Teil der Finca sehr stark ausgebreitet hat. Um größeren Schaden abzuwenden, müssen die betroffenen Stellen zwei Tage lang mit der Machete von der Plage befreit werden. Die Teilnahme am politischen Leben der Kooperative, die Entgegennahme des Wochenverdienstes sowie die eigene Gesundheit müssen in einem solchen Fall zurückgestellt werden. Die Tage in der Finca eröffnen nicht nur die Möglichkeit, den Arbeits- und Lebensalltag zu beobachten. Während der täglichen Arbeiten und in den Stunden nach dem Abendessen ergeben viele Gespräche einen tieferen Einblick in die Geschichte, den Alltag, die Herausforderungen, die Positionierungen und die Strategien des Familienbetriebs. Gespräche über die Finca selbst zeigen zusätzliche Details auf und lassen weitere Strategien und Haltungen des Besitzers im Bereich der Produktion erkennen. Im Allgemeinen zeigt sich Josés Hingabe und Leidenschaft gegenüber seines Berufes, mit der er zum einen versucht, wirtschaftlich möglichst optimale Resultate (Produktivität) zu erzielen, zum anderen um die Befolgung und Umsetzung agrarökologischer Prinzipien (Nachhaltigkeit) bemüht ist. Erfolg lasse sich einerseits dadurch beeinflussen, wie gewissenhaft und intensiv man die Pflege der Finca betreibe. Auf einen Arztbesuch zu verzichten, um das Risiko eines Ernteausfalls zu reduzieren, stelle für ihn zwar eine Notwendigkeit, gleichzeitig jedoch auch eine persönliche Entscheidung dar, die im Ermessen des Produzenten liege. Andererseits sieht er seinen Erfolg auch an die Rahmenbedingungen seiner Finca geknüpft, die er nur zu Teilen selbst gestalten kann. So stelle der Kakao eine zusätzliche Einnahmequelle dar, allerdings sei der Erlös sehr gering, auch deswegen, weil er ihn unverarbeitet an einen Zwischenhändler für den nationalen Markt weiterverkaufe. Andere Kooperativen, die über eine eigene secadora verfügen oder sogar im Bio- und Fair TradeSektor exportieren können, würden für ihre Nebenkultur wesentlich bessere Preise erzielen. Beim Herausschneiden der Sigatoka-befallenen Blätter reflektiert er den hohen Arbeitsaufwand, mindestens einmal pro Woche in der gesamten Finca von Pflanze zu Pflanze zu gehen. Sein konventionell wirtschaftender Nachbar, der gegen die Pilzkrankheit Spritzmittel einsetzen kann, müsse nicht so viele Arbeitsstunden für diese Problematik aufbringen. Im Übrigen gelte das auch für die vielen Bio-Bananenbetriebe im Norden Perús, wo aufgrund des dort noch trockeneren Klimas ein wesentlich geringerer Krankheitsdruck herrsche. Andererseits könne er sich noch glücklich schätzen, dass seine Finca eher am Rand des Bananenanbaugebiets nahe der Berge liegt, wo sich um sie herum hauptsächlich ebenfalls Kleinbetriebe befinden. So verwende einer seiner Nachbarn zwar Spritzmittel, die im Bioanbau verboten sind, setze diese aber am Boden ein, indem er oder seine Angestellten Pflanze für Pflanze besprühen. Keiner der konventionell wirtschaftenden Betriebe in der näheren Umgebung spritze mit dem Flugzeug, weswegen es hier keine Schwierigkeiten mit Verunreinigung durch vom Wind in die Finca eingetragene Fungizide gebe – eine Problematik, die anderen UROCAL-ProduzentInnen, deren Fincas zentraler bzw. in der Nähe von großen Plantagen gelegen sind, die Gewährleistung ihrer Bioqualität inzwischen beinahe unmöglich mache. So genüge ihm der schmale Saum an Bäumen, den er als Pufferzone entlang der Grundstücksgrenze gepflanzt hat. 276 Portraits der Teilfelder Die verschiedenen Baumarten, die seine Finca zu einem Agroforstsystem (producción en biodiversidad) machen, thematisiert José insbesondere im Zusammenhang mit der Bewässerung. So sind diese nicht wahllos auf der Finca verteilt, sondern befinden sich – neben dem Puffer zum Nachbargrundstück – v.a. entlang der Bachläufe (esteros), die die Finca durchfließen. Bei der Auswahl der dort gepflanzten Bäume habe er sich bevorzugt für solche Arten entschieden, die über eine hohe Wasserspeicherkapazität verfügen. Auch wenn das Holz einiger dieser Bäume gutes Geld einbringt, möchte er dieses erst dann verkaufen, wenn der den Wasserhaushalt regulierende Bestand nachhaltig gesichert ist. Sein Vater oder manche Nachbarn könnten oft nicht verstehen, warum er auf das derzeit in seiner Finca stehende 'Geld' verzichtet. Allerdings profitiere auch sein Vater von diesem Management, da der Grundwasserspiegel und der Brunnen, aus dem sein Vater seinen Kakao bewässert, deutlich höher liege als bei den Nachbarn, die alle Bäume abgeholzt hätten. Auch zeige das Beispiel der Bäume, dass er (wie andere Bio-KleinproduzentInnen) eine nachhaltige Philosophie verfolge, die sich insbesondere von den Großen und Zugezogenen unterscheide, die anstelle eines nachhaltigen Betriebs vorrangig daran interessiert seien, möglichst viel Geld in kürzester Zeit aus ihrem Land zu erwirtschaften. Gerne betont er die ökologische Bedeutung seiner Anbauweise als besonderes Qualitätsmerkmal. Beobachten wir während der circurgía den ein oder anderen Vogel, wird stets darauf hingewiesen, dass dieser nur hier, beim Anbau in biodiversidad, zu finden sei und bei den konventionellen Nachbarn nicht angetroffen werden könne200. Die kurzsichtigen und profitorientierten Praktiken der Nachbarn würden sich jedoch im Zusammenhang mit der Bewässerung manchmal durchaus negativ auf seine Finca auswirken. So sei es in der Vergangenheit öfter vorgekommen, dass einer der größeren Grundbesitzer, dessen Plantage sich oberhalb der Bäche befindet, die Josés Finca durchfließen, mehr Wasser entnommen habe, als ihm zustehe, und José mit Trockenheit zu kämpfen hatte. In der Frage, ob man dagegen vorgehen könne, teilt er Davids Einschätzung, dass „[...] , man sich zwar beschweren könne, aber die Beschwerde zu viel koste und die Richter sich schlussendlich (so wie im Fall eines geschädigten Nachbarn) korrumpieren ließen. Das neue Ley de Agua und Initiativen gegen die Korruption gäben zwar Hoffnung auf Besserung, aber es sei eben schwer eine Mentalität zu ändern“ (Feldtagebuch). Ein immer wiederkehrendes Thema ist die Abgrenzung von großen, konventionellen Plantagen und die eigene Positionierung als einerseits arme, benachteiligte Gruppe, die andererseits einen qualitativ hochwertigen Beitrag zu einer agrarökologisch und sozial nachhaltigen Produktionsweise von Bananen leiste. So werden die Plantagen nicht nur als Bedrohung im Zugang zu wichtigen Ressourcen wahrgenommen, wie es das Beispiel des ungleichen Zugangs zu und des verschwenderischen Umgangs mit Wasser zeigt. Auch sehen sich José und andere KleinproduzentInnen gegenüber den großen Plantagen in doppelter Hinsicht benachteiligt. Zum einen würden ihre Fincas zum Erhalt der Biodiversität, zum Schutz der Böden und zur Regulierung des Wasserhaushalts sowie zur Existenzsicherung ihrer Familien im Gegensatz zu den Monokulturplantagen einen positiven Beitrag leisten. Zum anderen 200 etwa so, wie man in einer Chiquita-Plantage auch lange nach einem grünen Frosch suchen müsste (Anmerkung SD) 277 Kapitel 3 ergebe ihre nachhaltige Produktionsweise eine systembedingt geringere Produktivität (mehr Arbeitsaufwand, geringere Flächenerträge), wodurch sie weniger Einkommen generieren können als ihre ressourcenraubenden Gegenspieler. Dies werde umso mehr zum Problem, je mehr Monokulturplantagen ebenfalls eine Bio- oder Fair Trade-Zertifizierung erhalten würden. So trete man in direkte Konkurrenz zueinander, ohne dass die ökologischen und sozialen Besonderheiten ihrer Anbauweise ausreichend honoriert bzw. die durch diese bedingte geringere Produktivität kompensiert würden. Neben den genannten, immer wieder betonten ökologischen Vorteilen der producción en biodiversidad wird von der Lebensform als KleinproduzentInnen ein Bild gezeichnet, dass einerseits Armut, harte Arbeit und Benachteiligung gegenüber den Großen pointiert, andererseits die Vorteile eines eigenen Betriebs gegenüber der Lohnarbeit auf Plantagen anführt. Geben die reichhaltigen Mahlzeiten José und seiner Frau wiederholten Anlass, auf die harte körperliche Arbeit im campo zu verweisen, werden Einschränkungen bei der Infrastruktur – z.B. dass es nur kaltes Wasser oder Handyempfang nur an der Straße gibt oder während eines stundenlangen Stromausfalls kein Wasser aus dem Brunnen gepumpt und der Handyakku nicht aufgeladen werden kann – als Beleg für ihre ländliche Armut aufgeführt: „Das Motiv der Armut wird gerne betont bzw. als mensaje mit auf den Weg gegeben. Heute griff José es wieder auf, als wir gesprochen haben darüber, dass schon seit fast 20 h der Strom weg sei. Sodass bald das Wasser im Tank über dem Haus zu neige ginge und ohne Pumpe man es mit Eimern schüpfen müsste. Da sehe man mal wieder, wie es den Armen hier gehe, meinte José.“ (Feldtagebuch) Dabei wird deutlich, dass solche Bemerkungen weniger darauf abzielen, einem empfundenen Leiden Ausdruck zu verleihen, sondern sich an mich als einen Adressaten richten, der die mensaje mitnehmen kann, dass hier diejenigen sind, die mit Berechtigung Zielgruppe des Fairen Handels sind. Dies zeigt sich auch in Gesprächen über andere Kooperativen, bei denen auch größere ProduzentInnen mitwirken, die viel mehr verdienen und über sichtbar mehr Besitz (z.B. große Häuser, neue Autos, ein Vielfaches an Anbaufläche) verfügen. Diesen gegenüber wird eine höhere Legitimation empfunden, am Fairen Handel zu partizipieren. Gleichzeitig wird der Umstand, als Landbesitzer eine eigene Finca betreiben zu können, von José als großer Vorteil gegenüber den vielen landlosen ArbeiterInnen erachtet – und damit stets implizit als eine durch Initiativen wie Bio + Fair besonders förderungswürdige Lebensform dargestellt. Seine Familie habe das Glück, dass sein Großvater sich während der zweiten Agrarreform ein eigenes Stück Land sichern konnte und dass seine Geschwister es geschafft haben, sich von der Landwirtschaft unabhängig zu machen. Nur so sei es möglich, dass seiner Familie nun eine Finca zur Verfügung stünde, die gerade so die Mindestgröße aufweise, um davon leben zu können. Dieses Leben auf einer eigenen Finca habe den Vorteil, dass man einen festes zu Hause habe und nicht dem jeweiligen Angebot an Arbeitsmöglichkeiten auf der einen oder anderen Plantage hinterher ziehen müsse. Das Arbeiten auf den Plantagen biete keine langfristige Perspektive und wenn man älter werde oder sich bei einem Unfall verletze, stünde man ohne Absicherung und Einkommen da. Zumal jüngere ArbeiterInnen und sogar Kinder bevorzugt würden. Die Finca dagegen produziere in der Regel perma- 278 Portraits der Teilfelder nent, auch wenn man aus gesundheitlichen Gründen manchmal nicht hundert Prozent seiner Arbeitskraft investieren könne. Darüber hinaus sei die Bezahlung auf den Plantagen nicht nur schlecht, auch könne es einen den halben Tageslohn kosten, wenn man auch nur den kleinsten Fehler mache, der von den Aufsehern beobachtet und gerne sanktioniert würde. Alternativen zur Arbeit in der Landwirtschaft würden sich grundsätzlich nur dann eröffnen, wenn man eine weiterführende Ausbildung erlange, um in den Städten einer qualifizierten Beschäftigung nachzugehen. Träume vieler ArbeiterInnen, einmal ein eigenes Geschäft eröffnen zu können, blieben meist unerfüllt und sie blieben ein Leben lang ArbeiterInnen, obwohl sie diese Tätigkeit nur als eine vorübergehende ansehen, bis sich eine Alternative eröffnen würde. Deshalb würden sich viele Familien wie die seine, die ihre eigene Finca als Existenzgrundlage haben, darum bemühen, das wenige, was an Einkommen übrig bleibt, in die Ausbildung ihrer Kinder zu investieren. Dafür sei jedoch ein perspektivisches Denken erforderlich, das der Ausbildung einen entsprechenden Wert zuschreibe; ein Denken, das nicht alle Familien verinnerlicht hätten und das oft leider besonders den Jugendlichen fehle. So bedrückt José, „[...] dass sein Sohn partout nicht das colegio (Sekundarschule) beenden wollte, obwohl sie als Eltern darauf gedrängt haben, Gespräche mit Schuldirektor, Schulpsychologe o.ä. geführt haben. Er hat sich einfach geweigert und möchte nur auf der Finca arbeiten. Das hat die Eltern wohl schon betroffen. Die Schwester von seiner Frau hat bachillerato (Abitur) und die Mutter war sehr zornig, als sie kurz danach gleich geheiratet hat und nicht zur Uni gegangen ist. Sein Bruder dagegen hat ein licenciado (Bachelorabschluss) in Physik und Mathe und ist nun Lehrer an einem colegio. Er wollte es unbedingt durchziehen, obwohl er schon zwei Kinder zu versorgen und noch drei oder vier Jahre an der Uni vor sich hatte. Als er sich es nicht mehr leisten konnte, die Kinder durchzufüttern, hat José sie solange bei sich aufgenommen. Der Bruder dankt es ihm heute noch und gibt ihm immer einen Teil seines 'Weihnachtsgelds'". (Feldtagebuch) Bei der jüngeren Tochter sei man nun darum bemüht, dass sie einen guten Abschluss machen und daraufhin studieren könne. Welche Rolle spielen nun Bio + Fair in einem solchen Familienbetrieb? Und wo werden die Zertifizierungsprogramme im Lebens- und Arbeitsalltag sichtbar? Bei der Arbeit in der Finca erzählt José: „[...] Es waren wohl mal ein paar Professoren (oder Studenten, da war er sich nicht mehr sicher) aus Deutschland da. Die hätten ihn gefragt, ob der Bioanbau rentabel sei. Er meinte nein, rentabel sei das nicht, aber es reiche zum Überleben. Und um sich poco a poco voranzubringen, wie z.B. die Ausbildung der Kinder zu finanzieren. (Feldtagebuch) Diese Einschätzung bringt die Einordnung von Bio + Fair aus Sicht vieler KleinproduzentInnen auf den Punkt. Einerseits stellt die Teilnahme an der biologischen Produktion und am Fairen Handel eine wichtige Stütze bei der Sicherung der kleinbäuerlichen Existenz dar. Insbesondere in den Anfangsjahren wurde so vielen KleinproduzentInnen ein Zugang zu einem Exportmarkt eröffnet, der ihnen jenseits der ungleichen Konkurrenz zu den Großplantagen im konventionellen Sektor erlaubte, das Überleben ihrer Betriebe zu sichern. Dabei habe man selbst 279 Kapitel 3 viele Innovationen beigetragen, z.B. in der ökologischen Behandlung der Schnittstellen der geernteten Bananen mit einer Limetten-Knoblauch-Mischung, um sie für den Transport haltbar zu machen. Heute fürchte man um den durch Bio + Fair geschaffenen geschützten Rahmen aufgrund der Integration großer Monokulturbetriebe, mit denen man nun innerhalb von Bio + Fair wieder in Konkurrenz treten müsse und die zudem von der Aufbauarbeit profitieren würden, die sie als 'Kleine' geleistet haben. Durch die Fair Trade-Prämie werden sie in alltäglichen Herausforderungen unterstützt. Finanzielle Hilfe bei krankheits- oder unfallbedingten ärztlichen Behandlungen oder für regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen verbessern die Lebensqualität. Stipendien für den Schulbesuch erleichtern die Strategie vieler Familien, durch eine bessere Ausbildung ihrer Kinder langfristig Perspektiven zu schaffen. Dies gilt nicht nur für die finanziellen Hürden, die durch Fahrt- oder Materialkosten bestehen, sondern auch für ideelle Hürden, indem eine formale Förderung der Ausbildung deren Wertschätzung innerhalb der Familien stärken kann. Der Fair Trade Mindestpreis und die Prämie für Bio-Qualität eröffnen eine Planungssicherheit, indem – das Ausbleiben von Ernteausfällen vorausgesetzt – die Produktionskosten gedeckt sind und ein Absatz der Ernte gesichert wird. Reisen nach Deutschland, wie José und andere sie bereits antreten durften, eröffnen Einblicke in sonst verborgene Teile der Warenkette. So konnte José nicht nur erfahren, wie der Markt und die KonsumentInnen in Deutschland 'ticken'. Der Zufall, dass beim Besuch des Hamburger Hafens ausgerechnet seine Bananenkisten verfault eingetroffen sind und aussortiert werden mussten, war ein prägender Moment auf einer Reise, während der er einen Einblick erhielt, was sich hinter manchen Qualitätsanforderungen verbirgt. Andererseits dürfe dieses, die Darstellungen von Bio + Fair in Deutschland bekräftigende Bild nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei den Leistungen von Bio + Fair um einer Stütze handele, die die Situation zwar erleichtere, nicht aber alle Probleme lösen könne. So hänge der Erfolg zum einen auch stark von der Performance und den weiter reichenden Aktivitäten der ProduzentInnen und ihrer Organisationen ab, seien es die eigenen Geschicke und Mühen in der Anbaupraxis oder die Gewinnung von neuen Handelspartnern (für sicheren Absatz der Produktion aller Mitglieder) oder Kreditgebern (für riego oder Kompostierung); wobei bei letzterem eine vorhandene Bio- und Fair-Zertifizierung natürlich ein durchaus ausschlaggebendes Entscheidungskriterium für die neuen Partner sein könne. Zum anderen stelle die Unterstützung des Fairen Handels einen Beitrag unter vielen dar, um die – genuin in der Familie verankerten und manchmal durch Organisationen wie UROCAL oder staatliche Einrichtungen geförderten – Bestrebungen wie die um eine bessere Ausbildung des Nachwuchses zu verwirklichen. Neben dieser Bewertung von Bio + Fair im Gesamtkontext der KleinproduzentInnen macht sich die Partizipation in einem zertifizierten Bio- und Fair Trade-System auch im Arbeitsalltag bemerkbar. Während die meisten KleinproduzentInnen ExpertInnen in Fragen des biologischen Anbaus sind, stellen die administrativen Anforderungen eine große Herausforderung dar, die angesichts eines geringen formalen Bildungsniveaus und mangelnder Erfahrung mit buchhalterischen Tätigkeiten für viele eine hohe, für manche eine unüberwindbare Hürde sind. 280 Portraits der Teilfelder „ […] Heute morgen zeigte José mir sein 'registro'-Buch, in dem er sämtliche Aspekte für die producción orgánica dokumentieren muss. Er meinte, das sei sehr kompliziert, das müsse man erst lernen. Und jeder Fehler werde bestraft. Es habe vier capacitaciones (Fortbildungen) dafür gegeben. Selbst er als Mitt40er müsse das erst lernen, es sei schwierig, das einem beizubringen, wenn man jahrzehntelang nur auf dem Feld gearbeitet habe. Für jemanden wie seinen Vater sei das keine Perspektive, er sei dafür zu alt. Wenn er selbst das für ihn nicht übernehmen könnte, habe er keine Chance in diesem neuen Bio+Fair. Auch für die Jungen hier sei das schwierig. Die Mentalität sei, in den Tag hinein zu leben. Er selbst habe erst mit 25 Jahren angefangen, etwas zu sparen und an die Zukunft zu denken. Davor, als junger Mann, lebe man in den Tag hinein, selbst wenn man zwei Jobs an einem Tag mache und relativ viel verdiene, gebe man es auch gleich wieder aus, für Vergnügungen [...]“ (Feldtagebuch) Diese Dokumentationsarbeit auf Ebene des eigenen Betriebs, die noch nicht die koordinierenden Arbeiten im Rahmen der Kooperative umfasst, muss zusätzlich zur achtstündigen Feldarbeit geleistet werden. Um für Kontrollen gewappnet zu sein, müsse man v.a. die verwendeten Produkte lückenlos dokumentiert werden. Für Josés Vater liege hierin ein weiterer Grund dafür, dass er nur noch Kakao anbaut und nicht am Bio-Anbau teilhaben könne. Am Samstag erlaube ich mir den Luxus, den mein Besucherstatus mit sich bringt, José und seine Familie bei der Fortsetzung der Unkrautbekämpfung alleine zu lassen und einige der weiteren KleinproduzentInnen im nahe gelegenen Dorf zu besuchen. William, den ich schon auf der Bio-Süd Messe in Augsburg kennengelernt habe, nimmt sich einen Tag Zeit, mich durch das Dorf, seine eigene sowie die Fincas seiner KollegInnen Juanjo, Enrique und Maria zu führen. Im Dorf befinden sich neben den Wohnhäusern der KleinproduzentInnen mehrere Gemeinschaftsgebäude, u.a. eine katholische Kirche, eine öffentliche Gesundheitsstation, eine staatliche Grundschule, eine Kindertagesstätte und ein Büro der Kooperative Guabo, der größten KleinproduzentInnen-Organisation im Bereich fairer Bananen und fairen Kakaos in Ecuador. Die BewohnerInnen des Dorfes sind zu etwa zwei Dritteln Mitglieder von Guabo und zu einem Drittel von UROCAL/Nuevo Mundo. Der Unterschied bestehe laut William darin, dass Guabo eben insgesamt größer sei und deshalb größere Projekte aus der Fair Trade-Prämie verwirklicht habe, z.B. verfügen sie über eine eigene secadora für Kakao und eine eigene Kompostierungsanlage hier im Dorf. Auch liege ihr Fokus hauptsächlich auf dem Fairen Handel, unter den Mitgliedern befänden sich einige, die in Monokultur oder auch konventionell anbauen. Aber insgesamt betrachte man sich nicht als Konkurrenz und alle befänden sich mehr oder weniger in der gleichen Situation. Die Grundschullehrerin zeigt uns den Schulgarten, der aus der Fair Trade-Prämie von Nuevo Mundo/UROCAL finanziert wurde. In Kooperation dem Instituto de la Niñez y la Familia (INFA), einer staatlichen Einrichtung zur Förderung von Kindern, Jugendlichen und Familien, betreibe Nuevo Mundo/UROCAL außerdem die Kindertagesstätte für Kinder im Vorschulalter. William erzählt, dass seine jüngste Tochter hier zur Grundschule geht, die mittlere besucht die weiterführende Schule eine halbe Stunde Busfahrt von hier und die älteste hat bereits ein Studium in Machala begonnen. Die Familie unterstützt die Ausbildung nach Kräften und zusammen mit eigenen Nebenjobs in der Stadt lässt sich während des Semesters ein kleines Zimmer dort finanzieren. Auf Ebene dieser Gemeinde stellen sich die 281 Kapitel 3 Bemühungen um bessere Bildung als Zusammenspiel zwischen Initiativen der Familien, staatlichen Einrichtungen und über die Kooperativen organisierte Unterstützungsleistungen aus dem Fairen Handel dar. Die besuchten Fincas von William, Enrique, Juanjo und Maria bieten ein ähnliches Bild wie die von José. Mit Größen zwischen 4 ha und 12 ha ermöglichen sie jeweils zwei oder drei Generationen einer Familie, davon zu leben. Während Enriques, Juanjos und Marias Familien wie bei José seit der Landkämpfe zur Zeit der Agrarreform in Besitz ihres Grundstücks sind, ist William erst Mitte der 1990er aus der Sierra zugezogen. Alle produzieren sie Bananen und Kakao in biodiversidad. Die Produktivität ist zum einen gebunden an Größe und natürliche Ausstattung ihrer Fincas, zum anderen abhängig von der jeweils vorhandenen Infrastruktur. So verfügen drei der vier Fincas über ein riego, das über den gleichen Kredit wie bei José finanziert wurde und jeweils nur einen Teil der Gesamtfläche abdeckt, während der Rest bzw. die gesamte Finca von Juanjo nur per gravedad bewässert werden können. Keine der Fincas besitzt eine eigene Kompostieranlage. Alle haben eine eigene kleine Packstation mit überdachten Becken, in denen die geernteten Bananen gewaschen werden, und langen Tischen, auf denen die den Vorgaben für Größe und äußere Qualität genügenden Früchte an den Schnittstellen mit der Limetten-Knoblauch-Mischung konserviert, mit Aufklebern beklebt (v.a. Naturland + BanaFair) und abgewogen in gut 18kg schwere Kisten verpackt werden. Unterschiede bestehen in den zur Verfügung stehenden Transportmöglichkeiten der geernteten Büschel von der Pflanze zur Packstation. Während Juanjo nur Tragehilfen (vacas) besitzt, mit denen die Erntehelfer die Früchte schultern können, haben die anderen in ein Seilzugsystem (cable) investiert. Die Bananen können an an einem Drahtseil angebrachten Haken aufgehängt und zur Station gezogen werden. Bei den Führungen über die Fincas geben alle BesitzerInnen an, mehr oder weniger gut über die Runden zu kommen, allerdings noch einiges – von Finanzierung abhängiges – Potential für Verbesserungen zu sehen, da die Fincas noch nicht optimal ausgestattet seien. Maria zeigt zum Vergleich Pflanzen, die mit riego bewässert werden und von feuchtem Kompost umgeben sind, und solche, die per gravedad bewässert werden und bei denen der aufgetragene Kompost bereits weggespült worden ist. Enrique geht mit uns von Baumart zu Baumart und beschreibt die unterschiedlichen Blüten und Früchte, die diese tragen. Auch erzählt er von den verschiedenen seltenen Vögeln, die man insbesondere in der Morgendämmerung in seiner Finca beobachten könne. Bei William und Juanjo drehen sich die Gespräche während der Finca-Besichtigung v.a. um das Anliegen meines Besuchs. Es sei wichtig, dass mehr Menschen von außerhalb, besonders aus den Konsumländern zu ihnen kommen würden, um die Realität vor Ort kennenzulernen und davon berichten zu können. Am Ende des Tages versammeln wir uns vor dem Haus von William, in dem dessen Frau Carola als Zusatzverdienst einen kleinen Lebensmittelladen betreibt, aus dem unsere Gesprächsrunde mit Getränken versorgt wird. Neben William, Enrique, Juanjo und Maria ist auch José zugegen, der sich nach Feierabend auf den Weg gemacht hat, um an der Gruppendiskussion teilzunehmen. Drei Themen beherrschen den Verlauf der Diskussion: die Unterschiede zwischen KleinproduzentInnen in biodiversidad und großen Plantagen in monocultivo, 282 Portraits der Teilfelder das Verhältnis zur FLO-I, das als zunehmend einseitig fordernd wahrgenommen wird, sowie mögliche Strategien, um die aktuelle Situation zu verbessern, in die meine Gegenwart aktiv mit einbezogen wird. Auch in dieser Runde sehen sie es trotz aller Mühen als Vorteil an, als Familie von einem eigenen Stück Land leben zu können. Maria: „[...] Es un trabajo propio, no es como ir a aventurar a donde lo lleven a trabajar y puede ser mal o buen remunerado, pero tiene que alejarse de la familia muchas veces. Lo bueno de nosotros es que pasamos aquí en la misma comunidad, con la familia, trabajando juntos. Esa es una de las ventajas aquí“ (Gruppendiskussion mit KleinproduzentInnen) Jedoch sehen sie sich gegenüber den großen Plantagen benachteiligt. Diese Benachteiligung wird auf verschiedenen Ebenen ausgemacht. Zum einen stehen ihnen die Plantagen in monocultivo mit einer geringeren ökologischen Qualität einerseits, einer damit verknüpften höheren Produktivität andererseits gegenüber. Juanjo: „[...] las bananeras, las empresas grandes, […] nadie sabe la realidad de ellas. Ellas te producen orgánico pero ellas son monocultivo. Donde tú entras a esa plantación, tú no ves ni un árbol. Ellos quieren es producir, ganar, como empresa quieren ganar, rentabilidad. […] Ellos tienen un rendimiento de 70, 80 cajas por hectárea. Yo como productor yo tengo 4 hectáreas en biodiversidad, 4 hectáreas, que soy un pequeño productor. [...] El [dueño de una empresa grande] con 3 hectáreas te hace 210 cajas, son orgánicas, son monocultivo, a diferencia de que yo tengo 4, hago 50, 60 cajas. ¿Pero que pasa? Yo tengo la diferencia que soy biodiversidad, tengo arborización por donde tu miras, tu miras allá arborización, miras acá también, ahora he sembrado […] 170 árboles para mejorar el medio ambiente, cuidar el medio ambiente, entonces...“ (Gruppendiskussion mit KleinproduzentInnen) Dabei besteht der Vorteil der Plantagen nicht nur in den höheren Mengen, die sie produzieren. Durch den ökologisch nachteiligen Monokulturanbau erlangen mehr Früchte die geforderte äußere Qualität, da weniger Tiere vorhanden sind, die die Unversehrtheit der Bananenschalen beeinträchtigen können, wenngleich die innere Qualität der optisch einwandfreien Früchte in Frage gestellt wird: José: „[...] ¿Entonces, qué hace la competencia? En este caso, las empresas grandes, ellos agarran y te derriban todos los árboles, y ellos, para que no aparezca ni un pájaro, ni un murciélago, derriban todito, entonces ellos sacan una fruta de excelente calidad. En cambio al nosotros no hacer eso, tener biodiversidad, de todas maneras si tenemos desperfectos, porque de todas maneras hay pájaros, murciélagos que te reúnan, y de pronto se va una rayita de eso y allá no te compran. Entonces ese es la desventaja de nosotros […] en biodiversidad. Que la competencia te produce [...], tu coges una fruta y la ves amarillita, ella madura, es impecable, por fuera, pero no sabes por dentro. En cambio, una rayita y ya no te lo compran que por esa rayita. ¿Y que pasa? Que por dentro lo que es la comida no tiene nada, es sana, es sanita […]. Dijo un amigo que a veces tu ves bonito por fuera pero no sabes por dentro […]“ (Gruppendiskussion mit KleinproduzentInnen) Zu den Unterschieden in der Produktivität und hinsichtlich der inneren und äußeren Qualität kommen erhöhte Kosten beim Einsatz von ArbeiterInnen, auf die auch kleine Fincas zu den 283 Kapitel 3 Arbeitsspitzen an Erntetagen angewiesen sind. Juanjo: „[...] muchas de las veces los pequeños productores no alcanzan, los costos son demasiado caros...“ Wiliam: „También se dice que no alcanzan es por el volumen, nosotros no podemos hacer volumen de cajas. Usted haciendo volumen de cajas por ejemplo, 100, 200 cajas, o 500, ocupa por ejemplo 10 personas. Pero en cambio para hacer unas 20 cajas Usted tiene que ocupar mínimo de 3 a 4, póngale 3 en 20 cajas, ya en 60 cajas tendría que ocupar 9 personas, pero con esas 9 personas Usted tranquilamente puede hacer 200 o 300 cajas. En cambio nosotros tenemos que invertir más para hacer poco, eso también influye bastante, pero en cambio si hiciéramos buen volumen de cajas sale más barato el costo del proceso.“ Enrique: „Hay una ventaja grande por el lado del productor pequeño y el productor grande.“ (Gruppendiskussion mit KleinproduzentInnen) Diese auf der Größe und der Anbauweise beruhenden Unterschiede machen sich auch im Bereich gesetzlicher Anforderungen oder privater, von den Handelsfirmen geforderten Zertifizierungen (wie z.B. Globalgap201) bemerkbar. So seien für die großen Plantagen viele der Anforderungen im Bereich der Ausstattung der Produktionsstätte in Hinblick auf die ArbeiterInnen, z.B. das Vorhandensein von Essensräumen und sanitären Einrichtungen, oder bezügliche Bezahlung von ArbeiterInnen viel leichter zu erfüllen wie für sie als KleinproduzentInnen. William: „ […] a ellos [los dueños de las bananeras grandes] por ejemplo les piden que hagan comedores y baños, departamentos para la gente, entonces ellos tienen toda la facilidad y lo hacen. Por ejemplo nosotros ahorita tenemos un grande problema, que a nosotros nos obliga [el gobierno] que tenemos que tener un trabajador estable. Y al trabajador estable – en la oficina hicimos un balance más o menos – nosotros tenemos que pagar como 2500 dólares en el año, a un sólo trabajador estable[ …]. Entonces nosotros no podemos porque la producción, la cantidad de cajas que nosotros hacemos no da para cumplir eso, no alcanza, no se puede. Para el trabajador es ventajoso porque él va a tener obviamente, en cambio para el productor no. Nosotros a la final tendríamos que salir vendiendo la finca para poder pagar al trabajador.“ Juanjo: „Quedarse sin nada...“ William: „Así es. Por eso nosotros como somos pequeños nosotros hacemos trabajos familiares, trabajamos con la familia. Pero sin embargo el gobierno obliga que tenemos que tener de ley un trabajador estable, y eso no se puede, o sea la situación económica de nosotros no nos permite, no nos da la cantidad. Aquí tenemos productores que hacemos 10 cajas [por semana], en 10 cajas estamos hablando de 70 dólares.“ Enrique: „Los grandes […] hacen bastantes cajas, tienen buena rentabilidad.“ William: „Ellos es más fácil todo, por ejemplo a un grande le piden las normas Globalgap, toda la infraestructura de la empacadora: ellos de la noche a la mañana la hacen rápido, en cambio nosotros tenemos que ir paso a paso, con nuestro esfuerzo, metiéndole ñeque y demoramos más. Pero no es que tampoco estamos quedado en esas normas, vamos cumpliendo, pero poco a poco.“ (Gruppendiskussion mit KleinproduzentInnen) Auch die Anforderungen der Fairtrade-Zertifizierung der FLO-I, die als immer fordernder wahr201 vgl. www.globalgap.org/de/ [01.06.13] 284 Portraits der Teilfelder genommen werden, seien zunehmend schwerer zu erfüllen, da selbst der gezahlte Mindestpreis nicht die Produktionskosten kompensiere. Dadurch habe man als KleinproduzentIn z.B. Probleme, die Bedingungen für die angestellten ErntehelferInnen einzuhalten. Enrique: „La FLO, ellos ponen lo que haya que cumplir y es con un determinado plazo y hay que hacerlo. La mayoría de los productores de nosotros tenemos todos...“ William: „Y un trabajador gana sus 70 dólares a la semana, y él no tiene nada que hacer que no hayan botado las cajas, que no hayan cortado, el cumple con su trabajo, ahí, y el productor tendrá que ver si roba, mata, saca o de donde saca la plata para pagar a la gente. Ese es, claro que hay temporadas que el tiempo se pone bonito y hay buena cosecha pero hay temporadas duras, que legalmente el productor tiene grandes problemas. Muchas de las veces ya hasta la señoras quieren mandarse yendo de la casa, por lo que no se aporta con dinero, con la comida.“ Enrique: „Y es una gran verdad eso, porque en realidad no alcanza.“ William: „Año a año la exigencia es mayor, por ejemplo en este caso nos están exigiendo lo que es asegurar el seguro social [para los trabajadores]. Pero ya le estamos contando la realidad, como vivimos y que es lo que se le paga al productor y que es lo que cobra el productor comparando con el trabajador, comparando, el trabajador vive mejor que el productor. En realidad con las cajas que se procesan no se puede asegurar al trabajador porque ellos mensualmente hay que aportar, hay que darle derecho de ir al médico, compensación de todo eso. En realidad ese criterio está bastante pesado porque no podemos cumplir, pero los grandes sí tienen la posibilidad porque hacen 2, 3 mil, 4 mil cajas y esas pues les dan bueno, a esa relación que ellos tienen todo a la mano, tienen camión, todo, su gente para trabajar. En cambio uno como productor pequeño no puede hacer ese cumplimiento con base en lo que nos pide FLO del seguro social.“ Maria: „FLO obliga que tenemos que asegurar a los trabajadores, eso es una ley, pero en realidad no da para poder pagar, o sea, de lo poco que se cobra no cubre ese gasto. Nosotros los pequeños no se puede. No sé que irá a pasar a la final con esto del seguro social.“ (Gruppendiskussion mit KleinproduzentInnen) Die – kommerziellen Interessen zugeschriebene – Tendenz der FLO-I, zunehmend auch die großen Betriebe zu zertifizieren, wird daher als Nachteil für die KleinproduzentInnen als der ursprüngliche Zielgruppe wahrgenommen, solange ihre besondere Situation nicht berücksichtigt würde. William: „Por eso es la problemática y lo que discutíamos sobre FLO, que lo ha visto más bien como comercio la certificación a los grandes y no a los pequeños. Y nos mide con la misma vara, chico y grandes los mismos criterios, y en realidad estamos en desventaja, los grandes tienen ventaja.“ (Gruppendiskussion mit KleinproduzentInnen) William, der wie José und Maria bereits bei der Fairen Woche in Deutschland war, sieht es in diesem Zusammenhang als Problem an, dass die KonsumentInnen diese Unterschiede zwischen monocultivo und biodiversidad sowie zwischen Plantagen und KleinproduzentInnen nicht kennen: William: „[...] La gente sólo ve a los sellos y no puede diferenciar que tipo de orgánico es y que tipo de comercio justo.“ (Gruppendiskussion mit KleinproduzentInnen) 285 Kapitel 3 Damit der Faire Handel und auch der Bio-Sektor fair bleibe, bedürfe es einer Differenzierung der verschiedenen Betriebs- und Anbauformen, um der jeweils spezifische Situation gerecht zu werden und dies für die KonsumentInnen auch unterscheidbar zu machen. Solange die Mehrheit der KonsumentInnen die Unterschiede nicht kennen würden (sondern nur die KundInnen der von BanaFair belieferten Welt- und Bioläden), würden sie wohl stets nach der billigeren, äußerlich schöneren, aber dafür weniger ökologischen Banane der monocultivos greifen. William „[...] en la realidad debería de tener otro precio, pero el negocio es así, no sé como le explicaría yo, por ejemplo en los grandes mercados Usted va y encuentra una caja también orgánica y a menos precio. ¿Qué puede saber el consumidor allá, de como le trabajan la caja de allí y como le trabajan la caja de allá? Usted va y encuentra un banano mejor que el de acá, como este guineo está más bonito y también es orgánico y está más barato, yo me llevo el de acá porque en cualquier parte del mundo siempre buscamos la economía. Por ejemplo cuando nosotros recién iniciamos las cajas, llevaban por ejemplo, el racimo cuando recién está saliendo bota una flor y el colibrí va y se prende ahí a chupar esa miel y lo raspa, al inicio se llevaba eso, es un pájaro que no afecta en nada, pero en cambio para el mercado ya es una falla, ya no está tan presentable, cada año la calidad es mayor, ese es el problema también […]“ Enrique: „¿O detrás de esa fruta que tipo de familia está trabajando en eso? Puede ser de un hacendado, o puede ser de un pequeño productor, eso no se lo sabe. Pero en cambio, eso es lo bueno que en BanaFair, si dicen que saben que va de los pequeños productores, por eso viene ese premio también, como para incentivar al pequeño productor, porque si no ya estuviéramos quebrados también.“ (Gruppendiskussion mit KleinproduzentInnen) Eine mögliche Lösung könne vielleicht ein Extra-Siegel für Bananen von KleinproduzentInnen und aus biodiversidad sein, das nicht nur die unterschiedliche Herkunft sichtbar macht, sondern auch einen höheren Preis für die höhere ökologische Qualität und die spezielle soziale Situation möglich macht. José: “El comercio justo como […] ya no es justo, sino es bastante injusto porque ellos certifican empresas grandes, transnacionales. […] Yo digo siempre, no sé si alguien...bueno en Alemania ya debe haber gente que si conoce de banano también, porque hay gente que se ha venido. Pero yo me pregunto y digo hermano, y así no habría alguien que se le ocurra diferenciar algo que es biodiversidad y monocultivo. Yo creo que la diferencia tiene que ser mejor pagado. Honestamente, yo como pequeño productor digo mejor pagado, toda la producción que tengo en biodiversidad. ¿Por qué razón? Tu ves a una finca en biodiversidad, tú ves de todo, tú ves naranja, ves cacao, ves aguacate, ves toronja, ves limón, ves café, y tú vas a una finca monocultivo y tu no ves ni un arbolito de esos. Entonces yo digo, tiene, para mí – tu vas a pre sentar eso – para mí como productor sería la idea que debe diferenciarse: correcto, esta es una finca orgánica, monocultivo. Yo creo que sería diferenciarlo por otro precio, produce más. Finca biodiversidad, más inversión, más cuidado, mas remunerable la materia prima que es el banano. Yo creo, o sea, esa es mi idea, porque también producen menos. Pero eso, yo creo, que de pronto puede también ser, que sea, vengan sellos diferenciales..“ Stefan: „¿Un sello para biodiversidad...?“ José: „Biodiversidad, porque esa es la verdadera caja biológica...“ (Gruppendiskussion mit KleinproduzentInnen) 286 Portraits der Teilfelder Diese Idee – formuliert angesichts der als bedrohlich wahrgenommenen Konkurrenz mit den großen monocultivos und der gefühlten Benachteiligung durch eine zunehmend fordernde und mit diesen Großen kooperierende FLO-I – steht nicht nur am Ende dieser mehr oder weniger einstimmigen Gesprächsrunde. Sie wird mir auch – in Anbetracht der Schwierigkeiten, sich Gehör zu verschaffen, sowie der Feststellung, dass noch nie jemand von der FLO-I in ihrem Dorf gewesen sei – als mensaje mitgegeben, um sie anderswo bekannt zu machen: William: „Porque es la primera vez digamos que así una persona de allá venga y converse directamente con los productores y les pueda explicar. Porque muchas de las veces cuando va una persona de aquí [a Alemania] es difícil también la comunicación con esa gente. No puede decir uno todo lo que siente. Por el idioma claro que es difícil, claro que hay traductores y todo, pero no es como estar hablando así directamente, es otra cosa. Y Usted ha recorrido el campo y todo lo que se procesa, las plantas de procesamiento, Usted ya lleva otra imagen, otra idea. Usted ha estado justamente en el lugar de los hechos como se dice, en el lugar de la batalla. Claro, mucha gente allá piensa que el banano es como hacer una mata de naranja, que está así como coger una naranja. Claro, no saben que necesita mucho cuidado“ José: „[...] ahorita con la certificación que hacen a las grandes empresas ahí nos fregamos los pequeños, por eso es que muchas reuniones que han tenido la discusión ha sido de no certificar a las grandes empresas. Pero eso también es una política, eso ya sería a nivel mundial, prácticamente. Nosotros no somos nada en esa situación, hay grandes poderes que están de por medio. Esa es la situación. Ahí va, gente de distintos países a la semana de comercio justo a Alemania.“ William: „Quiero saber que dirán los representantes de la FLO, de las ceritficadoras...“ (Gruppendiskussion mit KleinproduzentInnen) Día de embarque Nach einem sonntäglichen Ausflug mit Josés Familie in die nahegelegenen Berge, bei dem wir die vielen kleinen Tunneleingänge der Goldsucher gesehen und ein Bergdorf besucht haben, steht am Montag der día de embarque an. José hat an Nuevo Mundo/UROCAL gemeldet, dass er diese Woche 40 Kisten ernten würde. Heute geht es in allen Fincas darum, die prognostizierte Menge zu erfüllen und nicht zu 'versagen' (fallar). Die ganze Familie ist im Einsatz, zusätzlich arbeiten drei HelferInnen aus der Nachbarschaft mit. Die beiden männlichen Helfer und Josés Sohn schleppen die von ihnen geernteten Bananenbüschel auf vacas zur Packstation, José trennt mit der Machete die einzelnen Hände202 (manos) heraus und legt sie zum Waschen in die Becken. Diejenigen Früchte, die nicht die Qualitätsanforderungen erfüllen (zu klein, zu groß, Schale beschädigt, etc.) werden aussortiert und in Säcke gefüllt. Sie werden – zu einem wesentlich geringeren Preis – zur Weiterverarbeitung zu Bananenmus (puré) verkauft. Die gewaschenen Früchte werden anschließend von Josés Frau und der dritten Helferin an den Schnittstellen mit einem Pinsel mit der Konservierungsflüssigkeit bestrichen, mit Aufklebern von BanaFair und Equicosta (eine weitere Importfirma aus Kanada, die UROCAL/Nuevo Mundo nach bei einem Vor202 der Bananenbüschel! 287 Kapitel 3 Ort-Besuch für sich gewinnen konnte, bei dem man mit der Nuevo Mundo/UROCAL-mensaje zu überzeugen wusste) beklebt, auf Paletten zu je gut 18 kg verteilt (wobei auf ein ausgewogenes Verhältnis kleinerer, mittlerer und größerer Früchte geachtet wird) und schließlich in BanaFair- oder Equicosta-Kisten verpackt. Die fertigen Kisten werden am Rand der Packstation gestapelt, wo sie am Abend von einem LKW abgeholt werden sollen. Das Arbeitstempo ist noch höher als an den anderen Tagen, der Druck rechtzeitig ausreichend Kisten geerntet und gepackt zu haben, ist spürbar. Bis zum Mittagessen ist noch nicht ganz die Hälfte geschafft. Am día de embarque wird deutlich, dass der sonst ein wenig überdimensioniert wirkende Esstisch der empacadora seine Sitzplatzkapazität zurecht aufweist. Um halb zwölf kommt der Jeep mit den zwei Technikern, die im Rahmen des Internen Kontrollsystems bei Nuevo Mundo/UROCAL angestellt sind. Sie prüfen die Qualität der Bananen, geben Hinweise insbesondere bei der Aussortierung der Früchte und erkundigen sich nach der wichtigsten Frage des Tages: Wird die angekündigte Menge erreicht oder kann sie sogar um einige Kisten überboten werden? Ich verlasse die Finca zusammen mit den Techniker Erasmo León und Miguel Aguilar, um weitere Fincas der Umgebung abzuklappern. Auf den Fahrten zwischen den einzelnen Fincas erzählt Ersamo mehr über die jüngere Geschichte UROCALs. Er habe von Anfang an daran mitgewirkt, eine Bio-Produktion von Bananen möglich zu machen. Während seines Studiums in Machala hätten ihn seine KommilitonInnen immer ausgelacht, wenn er von Biobananen sprach, und gemeint, ohne Chemie ginge nichts. Mit UROCAL habe man entscheidend dazu beigetragen, dass Biobananen keine Träumerei geblieben sind. Erasmo stammt aus Shumiral, dem 'Geburtsort' von UROCAL. Da sein Vater Rinder züchtete, ist Erasmo von Haus aus Veterinär geworden. Dass er und UROCAL bei den Bananen gelandet sind, habe mit einem Besuch David Romeros auf einer Kakao-Messe in den Niederlanden Anfang der 1990er Jahre zu tun. Ohne jegliches Marketing- und Distributionskonzept sei David damals auf die Messe geschickt worden, mit 'selbstgebastelten', in Plastikfolie verpackten Kakao-Mustern, für die sich aber niemand interessiert habe. Am vorletzten Tag habe er bei einer Veranstaltung auf Nachfrage eher beiläufig erwähnt, dass in ihren Fincas auch Bananen wachsen. Das habe bei einigen so reges Interesse erregt, dass sie ihm seinen Aufenthalt verlängerten, um einen möglichen Export von fairen Bananen zu besprechen. Da UROCAL zu jener Zeit weder über ein Büro, noch über einen Telefonanschluss verfügte, behauptete er, sie würden gerade ein Büro eröffnen wollen und gab als provisorischen Kontakt den eines Bekannten in Machala an. Zurück in Ecuador begann UROCAL, seine Mitglieder anzuregen, mehr Bananen anzubauen. Um möglichst bald ausreichende Mengen für einen Export zu haben, wurden die kleinen und mittleren ProduzentInnen aus dem Ort Guabo mit einbezogen, die bereits auf Bananen ausgerichtet waren. Zwar trennten sich schon bald die Wege von UROCAL und der Asociación Guabo. Während Guabo sich auf den fairen Handel unter den Rahmenbedingungen der Vorgängerorganisationen der heutigen FLO-I konzentrierte, spezialisierte UROCAL sich in Kooperation mit BanaFair auf die Entwicklung von Bio-Bananenanbau in Agroforstsystemen sowie auf eine Fortsetzung der politischen Arbeit zur nachhaltigen Entwicklung des ländlichen Raums im südlichen Küstentiefland. Die Besuche der einzelnen Fincas lassen erahnen, dass UROCAL bemüht ist, auch die kleins288 Portraits der Teilfelder ten der Kleinen zu integrieren, manche der Betriebe sind nur 2 oder 3 ha groß, einige von ihnen haben Guabo verlassen, weil sie zu klein waren, um noch mithalten zu können. Der Fokus auf biodiversidad und die Wertschätzung dieses Differenzierungsmerkmals durch Organisationen wie BanaFair oder neuerdings Equicosta scheinen jedoch eine Nische eröffnet zu haben, um auch denjenigen Betrieben eine Existenzgrundlage zu ermöglichen, die für die Produktion im konventionellen Fair Trade- oder Monokultur-Bio-Sektor nicht mehr wettbewerbsfähig sind. Trotz des geschützten Rahmens, den verlässliche und solidarische Partner mit sich bringen, scheint der Wettbewerbsdruck größer geworden zu sein. Bei der Qualitätskontrolle der Bananen, die in den empacadoras für den Export ausgewählt werden, fallen immer mehr Früchte durch, die vor einigen Jahren noch akzeptiert worden wären. Unschädliche, aber optisch unschöne Flecken auf der Schale können angesichts der 'Hochglanz'-Ware der neuen Bio-Konkurrenz nicht mehr verkauft werden. Einige der ProduzentInnen stellen mir Fragen – wie z.B. warum wir denn nur grüne und fleckenlose Bananen essen würden, wo die gelben und gefleckten doch viel besser schmecken würden. Nach solchen kurzen Gesprächssequenzen (mehr Austausch erlaubt die Hektik des día de embarque nicht) bemerkt Erasmo, dass die ProduzentInnenbesuche in Deutschland sehr hilfreich seien, da die Reisenden so die Hintergründe der hier vor Ort manchmal absurd erscheinenden Qualitätsanforderungen verstehen lernen würden und ihren KollegInnen nach ihrer Rückkehr davon berichten könnten. Am Abend treffen wir alle ProduzentInnen in einer neu angelegten Sammelstelle in einem der Dörfer wieder. Die Dezentralisierung der Sammelstellen stellt eine Arbeitserleichterung dar, früher musste man noch zwei Stunden zu einem zentralen Sammelpunkt fahren. Es findet eine stichprobenartige Vorabkontrolle durch einen von Nuevo Mundo/UROCAL finanzierten Inspekteur statt. Die akzeptierten Kisten werden genau gezählt. Die angestrebte Gesamtkistenzahl, die für die Befüllung der bestellten Fracht-Container und die zufriedenstellende Belieferung der Importfirmen ausschlaggebend ist, kann heute nicht erreicht werden. Gesprächsthema Nummer eins ist, wer heute alles 'versagt' hat und was dies mit der zurzeit trotz der Jahreszeit sehr aktiven Sigatoka zu tun hat. Es bleibt zu hoffen, dass die anderen Sammelstellen das heutige Defizit werden kompensieren können. Nach stundenlangem Warten machen sich die meisten mit ihrer Quittung über die abgelieferte Ware auf den Heimweg. Viele können mehr oder weniger zufrieden sein. Für diejenigen, deren Ware aufgrund von Qualitätsmängel abgelehnt werden musste, war der heutige día de embarque ein Verlustgeschäft. José ist statt der angekündigten 40 nur auf 34 Kisten gekommen, aber immerhin wurden diese akzeptiert. Wir nehmen in einem der LKWs Platz und fahren zwei Stunden über die Panamericana durch die Dunkelheit Richtung Süden, bis wir gegen halb elf Uhr abends in einer Lagerhalle von Puerto Bolivar ankommen. Abermals heißt es warten, bis kurz vor Mitternacht 'unsere' LKW-Ladung an der Reihe ist. Diesmal unterzieht ein offizieller Inspekteur einige der Kisten einer Qualitätskontrolle (insbesondere auf Krankheiten und mögliche Schäden), eine Auflage, die für den Export in die EU erfüllt werden muss. Gegen halb ein Uhr ist es schließlich geschafft, die Kisten werden vom LKW in einen der bereit stehenden Kühlcontainer verladen, um sich am nächsten Morgen auf die Reise nach Europa zu machen. Während sich José auf den Heimweg begibt, um im Morgengrauen eine neue 289 Kapitel 3 Arbeitswoche zu beginnen, nehme ich ein Taxi in die Innenstadt von Machala, wo ich ein Hotel beziehe, um den Rest der Woche bei Nuevo Mundo/UROCAL zu verbringen und weitere ProtagonistInnen von Bio + Fair-Bananen der Region kennenzulernen. 3.2.4 Eine Woche im Büro von UROCAL/Nuevo Mundo Am Dienstag Vormittag finde ich mich erneut in den Räumlichkeiten von UROCAL und Nuevo Mundo ein. Hier laufen die Fäden der Aktivitäten der beiden Organisationen und ihrer Mitglieder zusammen. Neben einem großen Versammlungsraum haben die fest angestellten Beschäftigten – die beiden Techniker, die Buchhaltung, die BeraterInnen für Zertifizierungsangelegenheiten sowie der Präsident von UROCAL – jeweils ihr eigenes Büro. UROCAL und Nuevo Mundo betrachten sich als eine Einheit, deren formale Trennung durch die Regularien der FLO-I erforderlich wurde, da UROCAL als Exporteur agiert und diesem eine eigenständige, formal unabhängige ProduzentInnen-Kooperative gegenüber stehen muss. Allerdings, so erfahre ich im Laufe der Woche, hätten sich in den letzten Jahren viele ProduzentInnen von UROCAL losgesagt, um mit eigenen Kooperativen im Fairen Handel ihr Glück zu suchen. Diese Entwicklung sehe man als durch die FLO-I-Regularien induziert und als problematisch an, da so die mühsam aufgebaute Einheit und Zusammenarbeit der KleinproduzentInnen der Region geschwächt würde. Hier in den Büroräumen gehen die Bestellungen der Importfirmen ebenso ein wie die wöchentlichen Ernteprognosen der ProduzentInnen, hier werden die Tätigkeiten der Organisationen und ihrer Mitglieder dokumentiert und verwaltet, insbesondere hinsichtlich der Bio + Fair-Zertifizierungen, hier erfolgt die Korrespondenz mit GeschäftspartnerInnen, Standard setzenden Organisationen und Zertifizierungsfirmen, hier werden politische Veranstaltungen geplant, hier finden die monatlichen Mitgliedsversammlungen statt und hier werden jeden Freitag die Schecks für erfolgreiche Ernteerträge ausgegeben. Während der eine Dollar Fair Trade-Prämie (FLO-I/BanaFair) von Nuevo Mundo verwaltet wird, wobei man von BanaFair mehr Freiheiten habe dabei, wofür genau die Prämie verwendet werden dürfe, erhält UROCAL von BanaFair einen zusätzlichen USD zur Finanzierung ihrer Arbeit. Eine der Buchhalterinnen zeigt mir am ersten Tag, wie dieser Dollar für UROCAL verteilt und die Ausgaben dokumentiert werden. „Er verteilt sich auf die Sektoren certificación (0,25 USD, Bezahlung v.a. der beiden Techniker, mit denen ich am Montag unterwegs war), Unterstützung der politischen Arbeit (ebenfalls 0,25 USD), weiterführende technische Beratung (asesoría técnica, 0,25 USD), programa para niños (als contraparte zur Finanzierung der Kindertagesstätten in den Gemeinden gemeinsam mit dem INFA; 0,15 USD); 0,10 USD gehen in capitalización, als Rücklagen oder falls laufende Kosten gedeckt werden müssen.“ (Feldtagebuch) Es steht eine ereignisreiche Woche bevor, am Donnerstag hat sich ein Besuch des beratenden Mitarbeiters der FLO-I (oficial enlace del FLO) inklusive einer Inspektion in einigen der 290 Portraits der Teilfelder Fincas angekündigt, am Freitag ist nicht nur Zahltag, sondern auch die monatliche Mitgliederversammlung von Nuevo Mundo, und am Samstag organisiert UROCAL ein Bananenforum, zu dem neben den verschiedenen regionalen Akteuren auch der Landwirtschaftsminister Ecuadors erwartet wird. Für Mittwoch hilft mir UROCAL-Präsident Joaquín Vásquez, den Besuch einer größeren, Bio + Fair zertifizierten Monokulturplantage zu arrangieren, dessen Besitzer Jorge sofort einwilligt. Ein Mittagessen mit Joaquín und ein anschließendes Interview in seinem Büro eröffnen Einblicke in die politischen Positionierungen und die strategische Ausrichtung von UROCAL. Im Mittelpunkt der alltäglichen Arbeit steht die Förderung der produzierenden Mitglieder durch die Steigerung der Produktivität sowie den Kampf um Anerkennung in einem ungleichen Wettbewerb: „Nach dem Essen haben wir uns unterhalten. Er betonte, dass es ein zentraler Punkt bei der Arbeit von UROCAL sei, dass die kleinen Betriebe wettbewerbsfähig bleiben und das ginge schlussendlich nur, indem die derzeit sehr geringe Produktivität (15-20 cajas/ha) gesteigert würde (auf mindestens 25 cajas/ha). Für Produktivitätssteigerungen gebe es bei der Bio-Bananenproduktion in biodiversidad zwei Schlüsselpunkte: zum einen die Bewässerung, zum anderen die Kompostherstellung. Bei beidem bemühe man sich um Kredite. Das sei ein wesentlicher Bestandteil der Arbeit. Die Problematik des wachsenden Marktes und der damit wachsenden Konkurrenz bei Bio + Fair durch die ins Geschäft einsteigenden Großen sieht auch er als große Gefahr. Was man dagegen tun könne sei zum einen die angesprochene Produktivitätssteigerung, zum anderen eine gerechtere Politik/Gesetzgebung/ein gerechteres Reglement (z.B. ley banano), das besagte Unterschiede berücksichtige und z.B. auch die Leistung für die Biodiversität in Wert setze.“ (Feldtagebuch) Angesichts aktueller Entwicklungen benennt er zum einen eine zunehmende Benachteiligung der KleinproduzentInnen aufgrund der Hinwendung der Standard setzenden Organisationen und Zertifizierungsfirmen zu den großen Firmen: „[...] los chicos somos cada vez más empujados a la pared, mientras que el comercio justo ha crecido. Pero la gran mayoría de productos ya no son de los pequeños. Hay también gran cantidad de productos de los grandes, entonces ahí hay una dificultad de crecer y de sobrevivir. Entonces son cosas que el comercio justo [...] de alguna forma ha perdido su razón de ser, más que todo con la certificación FLO en este caso […]“ (Interview Joaquín Vásquez) Zum anderen stellt er dabei weniger die grundsätzliche Unterscheidung von 'Großen' und 'Kleinen', als vielmehr die Unterschiede der Anbauformen monocultivo und biodiversidad in Form einer ökonomischen Benachteiligung der ökologisch besseren ProduzentInnen in den Vordergrund: „[...] es una competencia porque puede ser por un lado tener mayor productividad y dar un producto limpio, por supuesto orgánico, que deja mayor ingreso económico, y por su nivel de productividad es una competencia, también porque un tipo de monocultivo puede producir 30, 40 cajas por hectárea, mientras que en fincas diversificadas la producción baja, baja en 15, 20 cajas por hectárea, 25 cajas por hectárea semanal. Entonces si uno compara que el que está en monocultivo tiene una mayor productividad y eso implica también de que tiene mayor ingresos, mientras que una finca con producción diversificada tiene menores ingresos porque los árboles, las plantas de cacao no dan el mismo rendimiento. Sin embargo en términos 291 Kapitel 3 ambientales es más sostenible y es más saludable, entonces ahí no hay una diferencia en el consumidor: eso es orgánico y de hecho hay una diferencia, o hay un producto orgánico que sale más caro u otro producto orgánico que es más barato. Eso lo puede calcular en los costos de producción, y el de monocultivo va a salir siempre con un sistema más barato y el de producción diversificada su costo es más alto, pero eso en el mercado no se reconoce. Por lo tanto si es una competencia muy grande.“ (Interview Joaquín Vásquez) Die ökologischen Nachteile der Monokulturproduktion und die mit ihr verknüpfte ökonomische Benachteiligung der Mischkulturproduktion wird als Symptom einer zweischneidigen Entwicklung gesehen, bei der ein Teil von Bio + Fair die Initiativen hauptsächlich als Geschäft begreife, von dem man in erster Linie ökonomisch profitieren könne, der andere Teil dagegen darum bemüht sei, an den ursprünglichen, ganzheitlichen und auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Grundsätzen festzuhalten. Die Konstatierung einer solchen Entwicklung mündet jedoch nicht in Forderungen, das Wachstum des Bio-Sektors oder auch des Fairen Handels an sich zu bremsen. Vielmehr versuche UROCAL, sich auf verschiedenen Ebenen dafür einzusetzen, dass die agrarökologische Produktionsweise der KleinproduzentInnen besonders gefördert und gestärkt wird. Eine Ebene ist die Forderung nach mehr Wachstum im Fairen Handel nach dem Motto 'mehr KonsumentInnen für mehr Produktion durch KleinproduzentInnen', sofern dies über intensivere Direktverbindungen zwischen ProduzentInnen und KonsumentInnen erfolge, durch die verhindert werden könne, dass ein Wachstum die Bevorzugung der Großen auf Kosten der Kleinen (und nachhaltiger produzierenden) zur Folge hat. Joaquín: „Pero a la larga esto se diluye y pierde fuerza y entonces hay un desafío del mundo, de los consumidores más que todo digo yo, y también de los productores de como trabajar alianzas mucho más directas. Y eso es un problema que no se ha logrado todavía. Y lo que se ha logrado es demasiado pequeño para poder avanzar, por ejemplo nuestra relación con BanaFair es eso, una alianza de ellos y nosotros, y ellos con los consumidores y nosotros con los productores, pero esa alianza es demasiado pequeña, no suficientemente fuerte para ir avanzando, se hace pero estamos en un nivel de estancamiento. […] Entonces queremos que crezca el mercado, o queremos fortalecerlo nosotros, va a ser posible si también hay crecimiento en el mercado justo, o sea, son dos cosas paralelas: nosotros podemos tener más productores, todos los productores podrán organizarse, tenemos bastante producción orgánica y para el comercio justo. Pero no hay la demanda suficiente no tendría sentido, entonces es algo que está limitado por las dos partes, la producción y el consumidor, son como dos elementos claves en este proceso. Los dos tienen que ir juntos, caminar juntos, sino no va a ser posible [...]“ Stefan: „¿Pero para que crezca en el sentido de que crezcan estas alianzas directos que hay y no sólo la comercialización del comercio justo que van a aprovechar los más grandes...?“ Joaquín: „Claro, ahí para fortalecer este tipo de alianzas, tal vez se requiera un programa mucho mayor de intercambio de consumidores y productores. Nosotros siempre vamos a Alemania, pero sería bueno...también va a comenzar ahora en noviembre con un grupo de compañeros de Alemania para visitar a productores. Entonces creo que eso es parte de lo que se puede hacer pero no es suficiente, entonces siempre va a ser algo pequeño, […] porque sino llegamos a los niveles masivos de comunicación para concienciar a las poblaciones, es limitado. Siempre tenemos una propaganda de consumo en general, tienen ciertos marketing de información a la comunidad que entra por los ojos, luego encuentra ese producto en el mer- 292 Portraits der Teilfelder cado, en el caso del comercio justo pues no tenemos ese tipo de capacidades de llegar masivamente o periódicamente al consumidor masivo, a la población general, mientras que otros productos si le llegan, porque son estrategias comerciales. Entonces quizás ahí los compañeros que están en el comercio justo tal vez tengan que trabajar ahí, en el caso de Europa es la cuestión de estrategias comerciales, porque hay veces nos movemos como es criterio de lo justo no hace falta meterse en la dinámica del mercado, pero el mercado es el mercado, y el comercio justo está en el mercado.“ (Interview Joaquín Vásquez) Dabei würde man nicht nur von ihnen als ProduzentInnen, sondern auch auf Seite der KonsumentInnen mehr Initiative erwarten, die Dinge ( = den Handel) selbst in die Hand zu nehmen. So wie von ihnen erwartet würde, Kooperativen zu bilden, müsse dies auch auf Seite des Einkaufs in den Konsumländern geschehen. „¿Entonces, cómo hacer? ¿Cómo romper esa barrera de estancamiento? Una forma es organizar a los consumidores. Hay experiencia en otros países que se forman grandes cooperativas de consumidores y son las cooperativas de consumidores las que comienzan, ya no las tiendas comercializan eso a la población, sino que los mismos consumidores se organizan para poner sus propios supermercados. Entonces no sólo para el banano sino para el conjunto de productos que necesitan pero a través de cooperativas de consumidores: yo soy un consumidor, por lo tanto me comprometo a consumir, es mi tienda, claro que no la manejo yo, pero se forma a través de un sistema administrativo, operacional, de que como tienda pueda competir con el mercado. Pero bajo una lógica diferente, atender requerimientos de un sistema de comercio más equitativo, y ahí la relación va a ser entre tiendas de productores, y las mismas tiendas tendrán que generar sus empresas de importación, sus empresas de comercialización, para proceder a la distribución de los diferentes mercados, supermercados. Por que lo otro es quedarnos en eso y lo otro es entrar al mercado como tal, entonces ahí tenemos nosotros los pequeños grandes desventajas, va a ser difícil competir con ellos y peor si no hay una política de gobiernos que puedan favorecer políticas para los pequeños productores. Entonces el panorama no es como tan halagador a futuro para los pequeños, más bien eso requiere aquí mayor esfuerzo y de fortalecer en una estrategia de alianza con los consumidores, y de eso hay que convencer también a nuestros compañeros de Europa de que se replantee el sistema.“ (Interview Joaquín Vásquez) Eine solche Mobilisierung der KonsumentInnen müsse dabei weit über das hinaus gehen, was bei der Fairen Woche geleistet würde. Da diese hauptsächlich in den Weltläden agiere, komme es ihm so vor, als könne man da nur die bei der Stange halten, die ohnehin schon dabei sind, jedoch nicht eine signifikante Anzahl neuer UnterstützerInnen finden. Neben einer wachsenden direkten Vernetzung zwischen ProduzentInnen und KonsumentInnen, wie sie das stets zu klein gebliebene Beispiel von UROCAL und BanaFair vorlebe, setze man sich aber auch für Veränderungen in den bestehenden Regulierungen des Marktes ein; Veränderungen, die von den Standard setzenden Organisationen, insbesondere der Politik, vorgenommen werden müssten. Dafür versuche UROCAL, auf Entscheidungsträger im Inland (aktuelle Regierung Ecuadors) wie im Ausland (Welt-Bananenforum; CLAC) einzuwirken. Entsprechend der Schwerpunktsetzung auf den Anbau in biodiversidad stelle eine kategorische Bevorzugung der agrarökologischen Produktion die Kernforderung der Organisation dar. Stefan: „Entonces se debería valorizar más este que es la producción diversificada.“ Joaquín: „Efectivamente, porque se entiende que una producción orgánica con cultivos diversificados ten- 293 Kapitel 3 dría doble propósito, proteger el medio ambiente y producir un producto sano. Y esto de cuidar el medio ambiente no está siendo reconocido. Hay políticas mundiales que reconocen otro aspecto de la política ambiental pero en este caso no se aplica. Sería importante trabajar sobre políticas públicas o políticas de estado que puedan valorizar o dar incentivos para que este sistema de producción diversificada que tiene doble propósito pueda ser apoyado también, tenga cierta diferenciación de apoyo. A ver, producción orgánico con estas condiciones de producción, tienen estas consideraciones, productores con estas condiciones tendrían otras condiciones, por lo tanto si sería necesario de que haya reconocimiento a esa labor que tiene doble propósito o doble beneficio como para el ser humano como para el medio ambiente.“ Stefan: „¿Y hay iniciativas para promover eso, o también es parte de trabajo de UROCAL promover un cambio de este tipo?“ Joaquín: „Bueno en el caso nuestro estamos planteando aquí a nivel del país que eso sea reconocido, pero va a requerir también de que otros productores se sumen a esta propuesta, que sean partícipes de una propuesta mucho más técnica, mucho más consciente. Y por otro lado también nosotros decimos que es posible que a nivel de los gobiernos pueda trabajarse legislaciones o políticas públicas con relación a este aspecto productivo. Nuestra presencia y también participación en el foro mundial bananero también nos da ese espacio para poder establecer propuestas, ideas, que ha futuro puedan convertirse inicialmente en proyectos piloto. Porque muchas veces la gente no cree si no ve algo concreto, entonces es difícil trabajar políticas macro si no ve los resultados. Entonces si queremos bien de cara a trabajar sobre políticas públicas a nivel nacional o internacional, también se plantea generar proyectos piloto donde se pueda demostrar efectivamente eso del doble propósito de que una producción sostenible y orgánica es conveniente para el mundo y para la vida.“ (Interview Joaquín Vásquez) Eine differenzierte Behandlung von Anbausystemen und Organisationsformen würden sie insbesondere auch von der FLO-I und der EU fordern. Die FLO-I behandele UROCAL, gemäß FLO-I-Kategorisierung eine Handelsfirma, nach den gleichen Kriterien wie große Fruchtkonzerne, obgleich der Hintergrund und der Aktionsradius von UROCAL als eine aus der Landrechtebewegung hervorgegangene, basisnahe Organisation ein ganz anderer sei. Die EU behandele alle importierten Bananen gleich. Um Organisationen wie UROCAL und von diesen unterstützte Anbauformen wie Agroforstsysteme zu stärken, sollten diese großen Standard setzenden Organisationen ihre Steuerungsmöglichkeiten nutzen und gezielte Unterstützung bereit stellen. Allein eine Förderung in Form von Krediten zur Verbesserung der Produktivität wäre schon eine große Hilfe. Trotz des Schwerpunktes auf der Produktion der Mitglieder und wie diese sich in den Verflechtungen der biofairen Bananenwarenketten vernetzt, sei diese und das Instrument der Bio- und Fair Trade-Zertifizierung nur ein Aspekt. Im Gegensatz zu anderen Kooperativen und Organisationen, die sich ausschließlich auf Bio oder den Fairen Handel ausgerichtet haben, wolle man bei UROCAL nicht aus den Augen verlieren, dass es um eine nachhaltige Entwicklung der ganzen Region gehe, wofür Bio + Fair nur eines von mehreren Instrumenten sei und alle gesellschaftlichen Gruppen einzubeziehen seien. „[...] una diferencia que tenemos con otro grupo es que la mayoría de grupos que se crearon a partir de esta propuesta orgánica y comercio justo es con una inclinación más sobre lo económico: bueno, vamos a trabajar orgánicamente porque tenemos beneficio, nos metemos al comercio justo porque hay más benefi294 Portraits der Teilfelder cio. Nosotros decimos que es cierto que hay más beneficio, que hay ventajas, pero que eso no resuelve un problema del conjunto de los productores agrícolas del país o de la región porque el comercio justo está un porcentaje pequeñito, que se benefician de esas políticas. Entonces por lo tanto el comercio justo tiene que cumplir un porcentaje mayor para que más productores, más familias, más trabajadores se puedan beneficiar. Pero eso va a necesitar de que se pueda trabajar también en otros aspectos. Si el comercio justo es una iniciativa desde abajo, pero que como ahora, como es desde abajo, tiene su nivel de crecimiento muy pequeño, y como que se estanca, no crece, nosotros no crecemos ahora porque la demanda de comercio a nivel internacional no crece. No crece en la medida de esta dirección, porque a nivel de los importadores u operadores comerciales en el mundo, también está mirando el comercio justo no como una alternativa ambiental y sostenible, sino lo están viendo como un negocio, entonces ahí hay situaciones que complican la situación. Entonces para nosotros es importante trabajar comercio justo como una posibilidad de impulsar políticas agrarias sostenibles. Impulsar políticas que tienen que ver con el mejoramiento de los ingresos, el mejoramiento del sistema ambiental, el mejoramiento de las condiciones de vida, y eso requiere de una activa participación de los productores pero también del estado y de la sociedad.“ (Interview Joaquín Vásquez) Dieser umfassende Ansatz getreu dem UROCAL-Motto „por la vida“ zeigt sich darin, dass sich die Tätigkeiten der Organisation nicht nur auf die Durchführung von Bio + Fair-Zertifizierungen beschränken. Neben der aktiven Teilnahme an internationalen Zusammenschlüssen und Zusammenkünften wie dem Welt-Bananenforum engagiert sich UROCAL auch in Initiativen auf nationaler oder regionaler Ebene. Dazu gehören Lobbyarbeit bezüglich der Gestaltung der nationalen Agrarpolitik und die Beteiligung am Aufbau einer nationalen (und international vernetzten) Koordinierungsstelle für KleinproduzentInnen im Fairen Handel (Coordinadora Ecuatoriana de Pequeños Productores en el Comercio Justo) zur Einflussnahme auf die FLO-I genauso wie die Unterstützung einer Initiative auf kantonaler Ebene in Guabo, wo sich verschiedene zivilgesellschaftliche Akteure zusammengeschlossen haben, um sich für strengere Kontrollen des Fungizidspritzens durch Flugzeuge einsetzen, durch die sich viele in ihrer gesundheitlichen Unversehrtheit bedroht sehen. Die Problematik des Fungizidspritzens durch Flugzeuge macht an diesem Nachmittag auch auf den Fluren von UROCAL/Nuevo Mundo die Runde, da dieses nicht nur als für die Gesundheit, sondern auch für die Ökonomie und den Ruf der Organisation als bedrohlich wahrgenommen wird. Bei einigen der ProduzentInnen, deren Fincas in der Nähe großer Plantagen liegen, sind in den letzten Wochen bei Kontrollen der Biobananen verbotene Rückstände festgestellt worden. Dies führt man auf die Verunreinigung durch von Wind in die Finca gewehte Pestizide zurück. Besuch einer größeren Plantage Schutz vor Nachbarn, die ihre Fungizide per Flugzeug über ihre Plantagen sprühen, braucht auch Jorge, der Besitzer eines der wenigen größeren, insgesamt gut 300 ha (verteilt auf mehrere Einzelgrundstücke) umfassenden Betriebe, die in Monokultur anbauen und sowohl Bioals auch Fair Trade-zertifiziert sind. Um Verunreinigungen seiner Biobananen vorzubeugen, 295 Kapitel 3 hat er – neben hohen Bäumen als Schutzwall – die äußeren 100m seiner Produktionsstätten als Pufferzone definiert. Die dort stehenden Pflanzen sind gesondert markiert und ihre Früchte werden im konventionellen Markt verkauft, was zwar finanzielle Einbußen darstelle, für ihn aber im Gegensatz zu kleinen Betrieben tragbar sei. Dabei sei es noch ein Vorteil, dass sich sein Betrieb nicht in der Kernzone der ganz großen Plantagen befinde, nichtsdestotrotz ein großer Nachteil gegenüber den trockeneren Anbaugebieten im Norden Perús, die allein aufgrund der natürlichen Rahmenbedingungen ohne größeren Einsatz von Chemikalien auskommen. Sagt Jorge, als ich ihn am Mittwoch Vormittag in seinem Büro in Machala treffe, von wo aus wir zu seinen Plantagen und in die diesen am nächsten gelegene Gemeinde fahren, in der gut 70 seiner ungefähr 300 ArbeiterInnen leben. In einem Gebäude am Rand der Siedlung befinden sich die Räumlichkeiten der ArbeiterInnen-Vertretung, die gemeinsam mit der Firma über die Verwendung der Fairtrade-Prämie entscheidet. Unterstützt werden die ArbeiterInnen in den Bereichen Bildung (Stipendien und Schulmaterialien für die ArbeiterInnenkinder, Alphabetisierung der ArbeiterInnen, Bezahlung einer Lehrerin), Gesundheit (Krankenversicherung für die ArbeiterInnen; Arztpraxis mit Apotheke, Behandlungsraum und einer Ärztin, die mehrmals pro Woche vor Ort ist; eigene Zahnarztpraxis), Ernährung (eigener Laden für ArbeiterInnen, in denen sie zu vergünstigten Preisen Lebensmittel, z.T. aus firmeneigener Herstellung, einkaufen können) sowie Sport und Kultur (Theater für die ArbeiterInnenkinder, jeden Samstag stattfindende Fußballturniere der Angestellten, bei denen Jorge auch selbst mitspielt). Als besondere Maßnahme sei hervorzuheben, das die ArbeiterInnen einen – in der Höhe von der Dauer ihrer Anstellung abhängige – finanzielle Bezuschussung erhalten, um sich eigene Häuser zu bauen bzw. vorhandene zu renovieren oder besser auszustatten. Neben dem Fairen Handel und den durch diesen finanzierten Projekten gebe es weitere Initiativen mit der Stadtverwaltung und im Rahmen von PPP-Projekten der deutschen EZ. So habe man zusätzlich zu den Anforderungen des Bioanbaus (v.a. organische Düngung, mechanische Unkraut- und Krankheitsbekämpfung, Verzicht auf Fungizide) eine kleine Recyclingfirma aufgebaut, die die in der Produktion zum Schutz der Früchte vor Insekten verwendeten Plastikfolien wiederverwerte, sowie eine Kompostieranlage. In beiden Unternehmen fänden Frauen aus der Gemeinde, die in einer Frauengruppen zusammengeschlossen sind, Arbeit. Bei dem Entschluss, seine Firma Ende der 1990er Jahre auf Bio + Fair auszurichten, sei er dem Vorbild seines Vaters gefolgt, der sehr naturverbunden und sehr betroffen gewesen sein muss, als einige seiner ArbeiterInnen als Folge der früher in der Produktion eingesetzten Chemikalien ins Krankenhaus mussten. Außerdem habe man sich im Management seiner Firma mit der Frage befasst, warum die meisten ArbeiterInnen keine Motivation zeigten und geringe Leistungen erbrachten. Heute engagiere er sich aus Überzeugung, könne auch gut von seiner Firma leben, wenngleich ein im konventionellen Anbau mehr Profit erzielen würde. Herausforderungen bei der Umstellung waren aus seiner Sicht zum einen, dass in den ersten Jahren kaum Produkte oder Methoden bekannt waren, die im Bioanbau angewandt werden durften, um den Verzicht auf chemische Pflanzenschutz- und Düngemittel zu kompensieren. Erst durch jahrelange Erfahrungen in der Anbaupraxis konnten er und andere als PionierInnen von Biobananen ein ver296 Portraits der Teilfelder lässliches und funktionierendes System aufbauen. Das Verhältnis zu den Organisationen der KleinproduzentInnen, die ebenfalls entscheidend zu dieser Pionierleistung beigetragen haben, sieht er als solidarisch und harmonisch. Eine direkte Konkurrenz könne er nicht erkennen, da sie unterschiedliche Märkte (sie Fachgeschäfte, er Supermärkte) bedienen würden, in denen alle ihren Platz hätten. Die fast noch größere Herausforderung sei aber die Einführung der Prinzipien des Fairen Handels gewesen. Weniger aus finanziellen Gründen, als vielmehr, dass es jahrelange Aufbauarbeit erfordere, eine Vertrauensbasis zwischen der Firma und ihren ArbeiterInnen aufzubauen. Dies führt er darauf zurück, dass das Verhältnis zwischen Plantagen und ihren Angestellten üblicherweise eines sei, das von Misstrauen und Ausbeutung geprägt ist. Die meisten großen Plantagen würden zu verhindern versuchen, dass ihre Angestellten sich organisieren, und würden sie als bloßen Kostenfaktor ansehen, den es so gering wie möglich zu halten gelte. Andererseits würden die ArbeiterInnen die Plantage als eher feindlich gesinnten Ort betrachten, an dem sie aus Mangel an Alternativen ihre Arbeit verrichten, ohne sich mit dem Betrieb zu identifizieren. Damit, Verantwortung zu übernehmen oder eigenständig Projekte zu organisieren, hätten sie keinerlei Erfahrung. In einem solchen Kontext sei es ein Geduldspiel und erfordere soziales Geschick, die Vorstellungen einer Fair Trade Plantage umzusetzen. Die Einführung der gemeinsamen Fußballturniere sei ein erster und wichtiger Schritt für die gegenseitige Annäherung gewesen. Nach all der Aufbauarbeit sei man heute gut aufgestellt. Allerdings sehe er die Perspektiven und neuere Entwicklungen im Bereich Bio + Fair mit Sorge. Zum einen bräuchte es andere politische Rahmenbedingungen, um den Bioanbau von Bananen weiter zu bringen. Dadurch, dass es keine Raumplanung mit ausgewiesenen Zonen für Bioanbau gebe und die Kontrolle des massiven Pesitizideinsatzes der konventionellen Betriebe mehr als unzureichend sei, könne die biologische Landwirtschaft nicht nur nicht expandieren, vielmehr seien viele der KleinproduzentInnen bereits suspendiert worden und müssten ihre Bioproduktion einstellen, weil sie sich nicht vor den Verunreinigungen durch spritzende Nachbarn schützen können. Zum anderen nehme auch er die Anforderungen der FLO-I als zunehmend fordernd und einseitig wahr, da sie – bemüht um Gewährleistung der Kriterienkonformität gegenüber den KonsumentInnen bzw. dem Handel – den ProduzentInnen immer strengere und damit oft auch kostenintensive Regeln auferlege, wohingegen andere Kettenglieder, insbesondere die großen Einzelhandelsketten, große Freiheiten genießen und nicht an den durch die von ihnen induzierte Regulierungswut steigenden Produktionskosten beteiligt würden. „Pero lo que nos preocupa a nosotros estando bajo un sistema de comercio justo es que siempre las reglas que nos imponen que cada día son más severas de cumplir, o los requisitos, el sinnúmero de requisitos. Pero son muy fuertes con la parte más débil de la cadena yo diría que es con los productores y obviamente con las exigencias que les hacen tanto a pequeños como a plantaciones, sobre todo, plantaciones. Son muy exigentes, las reglas son muy severas, y de repente se necesita hasta inversión, de mejoramiento de infraestructura para cumplir con todos los estándares tanto sociales como de seguridad y salud ocupacional. Pero sin embargo no vemos la misma fuerza, los actores de la cadena más fuerte, es decir, los importadores y los supermercados, con ellos no hay contratos, con ellos se les deja un poco a la libertad de elegir, muchas cosas. Entonces eso si nos ocasiona a nosotros un problema, porque nosotros 297 Kapitel 3 cada vez nos es más costoso producir una caja orgánica y de comercio justo, pero los precios a veces no reflejan el esfuerzo que uno hace. Y sin embargo el precio que Usted ve en la percha es un precio altísimo, entonces de ese porcentaje de caja lo que uno recibe es una mínima parte, y los costos acá suben de una manera desproporcional porque todos estamos organizados. Entonces ese es el miedo y el riesgo que yo veo a mediano y corto plazo de que si no existe un estándar que sea realmente exigente y fuerte con los que tienen mayor poder de comercialización, y mayor poder adquisitivo, realmente va a ser complicado mantener la certificación orgánica y de comercio justo. [...] Ellos dicen, esto es lo polémico del asunto, ellos dicen que son exigencias que los supermercados, y a través de los supermercados los clientes quieren saber o quieren pagar por esta fruta más dinero pero sabiendo que realmente es un programa serio de comercio justo y que sí está beneficiando a personas desfavorecidas. Entonces mientras más le demuestren al consumidor en el supermercado de que es un programa serio, de que en base de comprar este banano se está ayudando a gente que es de escasos recursos, entonces piden más exigencias a nivel de la cadena productores, exportadores y también trabajadores. Por eso le digo que es polémico porque ellos los clientes con justa razón exigen más, los supermercados también, pero yo no pienso que los clientes deben de pagar más, el consumidor debe de pagar más. El problema esta es que los supermercados mantienen su marca, pero si no son capaces de compartir algo de eso a cambio de las exigencias en la cadena, sobre todo en la parte nuestra, me parece insólito que exijan más y que paguen igual y que paguen cada vez menos, no tiene relación...Eso es lo ilógico del sistema.“ (Interview Plantagenbesitzer) Wenn sie als ProduzentInnen – ob 'Kleine' oder 'Große' – dieses Thema gegenüber der FLO-I zur Sprache bringen würden, habe er das Gefühl, dass es sich um einen wunden Punkt handele, da man bei der FLO-I aus Furcht, man können große Abnehmer verlieren, sich nicht traue, die einflussreichen 'Käufer' wirklich in die Pflicht zu nehmen. „[...] yo siento que cuando topamos estos temas comercio justo es muy delicado: 'no perturbemos al importador, no perturbemos al supermercado, sino hagamos todo lo que ellos nos dicen, pero cuando tenemos que exigirles tengamos mucho cuidado porque lo podemos perder como comprador'. Entonces hay mucho temor y ese temor hace que sea muy exigente con nosotros y poco exigente con ellos. Entonces como tú dices hay en la cadena se rompe. Comercio justo está bien, es de aquí, aquí en Ecuador mismo todo bien, los trabajadores se les respeta su derechos laborales, sistemas ambiental, todo bien, pero allá sigue siendo un cuestionamiento que sea comercio justo realmente.[...]“ (Interview Plantagenbesitzer) Ein weiteres Problem sei, dass die einflussreichen Käufer zunehmend alternative, weniger strenge Siegel aus dem Bereich des ethischen Handels (z.B. Rainforest Alliance) aufgreifen würden, die zentrale Aspekte wie z.B. einen Mindestpreis für die ProduzentInnen und ausreichende Begünstigungen für die ArbeiterInnen nicht berücksichtigen würden. Jorge: „[...] ellos [los supermercados] simplemente ponen en su percha porque el cliente lo pide, pero poco les interesa de realmente saber a quién se ayuda, cómo se ayuda y por qué se ayuda.“ Stefan: „Sólo con los sellos es muy difícil para los clientes diferenciar cuáles son los criterios....“ Jorge: „Exactamente, por eso es que ellos aspiran es que aparezca otro sello y diga yo te vendo más barato, eso es todo. Tu citaste el caso del supermercado, aquí viene un certificado que me habla también de la parte social, que me habla de la parte ambiental, no tiene precios mínimos, puedo negociar, puedo comprar más barato, entonces viene la gente que compra de afuera y dice es lo mismo pero no es lo mismo. Ese es un problema de las certificaciones.“ (Interview Plantagenbesitzer) 298 Portraits der Teilfelder Auf einer der Plantagen spreche ich den 55jährigen Pedro, der schon seit über 30 Jahren für den Betrieb arbeitet und den Übergang zu Bio + Fair miterlebt hat. Auch er beschreibt die Umstellung auf Bio + Fair als einen langen Prozess, bei dem alle Beteiligten viel lernen und einbringen mussten. Dabei sieht er den Lernprozess bei Bio v.a. von der praktischen Seite der alltäglichen Arbeit, insofern, dass man Erfahrungen sammeln musste, wie man trotz der Einschränkungen eine erfolgreiche Produktion erbringen konnte. Auf den Fairen Handel angesprochen, sieht er in erster Linie die materiellen Vorzüge, die dieser für sie als ArbeiterInnen gebracht habe. So würden die meisten, so auch er, nun in einem Haus aus Stein (casa de cemento) wohnen und nicht mehr in Häusern aus Bambus (casa de caña). Eine Hilfe seien auch die Stipendien. Dies sei ein Beitrag dazu, dass sein Sohn nun in Guayaquil studieren können. Das decke zwar die Kosten nicht „cien por ciento, pero es algo“ (Interview Plantagenarbeiter), und zusammen mit dem regelmäßig geschickten Geld und der in Guayaquil leerstehenden Wohnung einer in die USA emigrierten Tante sei diese Ausbildung möglich. Diese und weitere Begünstigungen wie die Versicherung oder die Gesundheitsversorgung würden von der Vereinigung (asociación) der ArbeiterInnen gemanagt, deren ehrenamtlich arbeitende RepräsentantInnen sie aus ihrem Kreis wählen. Diese erhielten aber freie Zeit, um ihren Aufgaben nachgehen zu können. Die asociación habe sich Stück für Stück durch die Einführung des Fairen Handels entwickelt. Zunächst wurden einige vereinzelte Maßnahmen durch die Firma eingeführt, wie z.B. die ärztliche Behandlung der ArbeiterInnen oder die Eröffnung des Ladens. Poco a poco seien dann von den ArbeiterInnen mit gestalteten Projekte dazugekommen. Im Grunde sei die asociación ähnlich einer Gewerkschaft, nur konstruktiver, da durch die Prämie Projekte verwirklicht würden. Denn die Gewerkschaften würden Geld von den ArbeiterInnen verlangen und nur streiken, was meist beiden Seiten nichts bringe und oft auch zu Entlassungen führe. Außer den Auswirkungen auf sich und seine KollegInnen wisse er wenig vom fairen Handel, „no tengo idea como se maneja el comercio justo allá“(Interview Plantagenarbeiter). Die wenigen Kontakte zu dessen VertreterInnen beschränken sich auf die ein oder andere Inspektion, wenn sie einen fragen, ob die Prämie auch ankomme und ob man zufrieden sei. Auf Nachfrage ist seine mensaje an den comercio justo und die consumidores, „que nos siguan apoyando al final, nosotros seguiremos mandando nuestra fruta [...] que sigua la demanda“ (Interview Plantagenarbeiter). Die politische Dimensionen und aktuelle Entwicklungen, die von den anderen ProtagonistInnen wie José, Joaquín oder Jorge kontrovers diskutiert werden, kommen nicht zur Sprache und scheinen außerhalb der Wahrnehmung Pedros zu liegen. Beratung durch eine Standard setzende Organisation Am Donnerstag kommt der oficial enlace del FLO, ein offizieller, in beratender Funktion agierender Vertreter der bislang eher gescholtenen Standard setzenden Organisation FLO-I, zu Nuevo Mundo. Am Vormittag besucht er gemeinsam mit den dirigentes von Nuevo Mundo 299 Kapitel 3 mehrere Fincas, um sich ein Bild zu machen und anschließend Ratschläge geben zu können, nicht zuletzt in Hinblick auf die Inspektionen, die von der FLO Cert GmbH durchgeführt werden. Die 'begutachteten' Familien wirken aufgeregt, manche ein wenig eingeschüchtert. Die Fragen, die ihnen der enlace während der maximal halbstündigen Finca-Visiten stellt, dürften in eine ähnliche Richtung gehen wie die, auf die Pedro in Jorges Plantage den Inspektoren geantwortet hat, und zielen in erster Linie darauf, zu erfahren, ob sie sich als Mitglieder von Nuevo Mundo aktiv beteiligen (können) und ob sie auch wirklich in den Genuss der Vorteile kommen, mit denen der Faire Handel sie begünstigt. „Erzähl mir was aus Deinem/Eurem Leben? Von der Finca? Wie lange seid Ihr schon bei der Asociación Nuevo Mundo? Was hat es Euch gebracht? Was sind die Leistungen (beneficios), die Ihr bekommt? Seid Ihr schon mal nach Deutschland gereist? Ob sie mit Überzeugung dabei sind? Welche Projekte aus der Prämie (prima) wurden realisiert? Ob sie an den Versammlungen (reuniones) teilnehmen? Wie hoch ist die Strafe bei Nichtteilnahme? Seid Ihr schon mal dirigentes gewesen? Was bedeutet die Mitgliedschaft in der Organisation für die Familie? (Antwort: v.a. salud)“ (Feldtagebuch) Auch Punkte, die von Seiten der Standard setzenden Organisation kritisch gesehen werden, werden abgeklopft, v.a. der Aspekt der Arbeitskräfte (Problematik ausreichender Bezahlung und Kinderarbeit von Familienmitgliedern). „Wie groß ist die Finca? Wie viele Arbeiter? Was kriegen die? (-> Antwort: Familienarbeit) Gehen die Kinder auch zur Schule?“ (Feldtagebuch) Die besuchten ProduzentInnen werden aufgefordert, ihrerseits Fragen oder Anregungen hervorzubringen. Einige sprechen die Nachteile der Bewässerung per gravedad oder die geringere Produktivität gegenüber den konventionell produzierenden Nachbarn an, andere wissen nicht so recht, was sie sagen sollen, bzw. trauen sich nicht. Nach einem gemeinsamen Mittagessen findet am Nachmittag eine reunión im Versammlungsraum von Nuevo Mundo/UROCAL statt. In Rückschau auf die besuchten Fincas findet der enlace im Großen und Ganzen lobende Worte, gibt Verbesserungsvorschläge zu den ein oder anderen Details und spricht kritische Punkte im Allgemeinen und mahnend an, v.a. dass ihm zu wenig Rückmeldungen der besuchten ProduzentInnen hinsichtlich der beneficios durch Nuevo Mundo gekommen seien. Anschließend hält er einen Vortrag über Grundsätzliches der FLO-I, über die Fairtrade Prämie, die Bedeutung von Partizipation und einiges mehr. Das Programm der FLO-I, in den beiden den Vortrag begleitenden ppt-Präsentationen untertitelt als „la organización del sello del comercio justo“, sei das einer nachhaltigen Entwicklung (desarrollo sostenible) und der Befähigung und Stärkung der Selbstorganisation der Kooperativen (empoderamiento). Um dieses Programm möglich zu machen, sei es wichtig, dass die Prozesse innerhalb der Kooperative transparent und demokratisch ablaufen und die Investitionen der Prämie unter einer langfristigen und umfassenden Perspektive („valor a largo plazo“) getätigt werden. Zur Umsetzung gehöre zum einen, dass alle Mitglieder vollständig informiert werden, aktiv an den Versammlungen und Aktivitäten (von der Planung bis zur Durchführung) teilnehmen und alle Entscheidungen von der Vollversammlung getroffen werden. Zum anderen müssten die aktuelle Situation analysiert, zentrale Probleme identifiziert und Prioritäten bei 300 Portraits der Teilfelder den umzusetzenden Tätigkeiten festgelegt werden. Die Prämie dürfe allerdings nur gemeinnützige Projekte verwendet werden, „no debe cubrir costos de producción ni gastos operativos de la organización!" (Feldtagebuch). Darüber hinaus sei es für die FLO-I essentiell, dass all diese partizipativen Prozesse wie z.B. die Beschlüsse der Vollversammlungen gut dokumentiert werden, um sie für Außenstehende, insbesondere für die Inspektoren, nachvollziehbar zu machen. Der am Anfang als „offenes Gespräch“ intendierte Vortrag nimmt eher monologische Züge einer Unterrichtsstunde an. Um zur Umsetzung dieser grundsätzlichen Punkte Hilfestellung zu leisten, führt der enlace einerseits zahlreiche Negativbeispiele aus seiner Arbeit mit anderen Kooperativen an, andererseits schlägt er verschiedene Instrumente vor, die man nutzen könne. Zu den Negativbeispielen zählen – nicht namentlich genannte – Organisationen, die so gut wie nichts dokumentiert haben, deren Mitglieder kaum informiert waren, bei denen selbst die dirigentes ihre eigene Satzung nicht gekannt oder sogar Gelder veruntreut haben. Als Instrumente werden z.B. das Erstellen eines Plans (mit entsprechenden Leitfragen), die Anstellung professioneller Berater (etwa für die Ausarbeitung solcher Pläne oder konkreter Projektvorschläge) oder die Einführung eines offenen Briefkastens für Vorschläge der Mitglieder (buzón de sugerencias) genannt. Im Anschluss an den Vortrag folgt eine kontroverse und etwas hitzige Diskussion. Zum einen beteuern die Anwesenden, dass hier alle mitwirken, man viele Gremien habe, die man eigenständig aufgebaut habe und alles basisdemokratisch entschieden würde. Deswegen sei die unterschwellige Kritik nicht angebracht und die vorgeschlagenen Instrumente wie einen professionellen Berater oder einen offenen Briefkasten brauche man nicht. Mit Nachdruck wird darauf verwiesen, dass mit Equicosta sich vor kurzem erst eine Importfirma für Nuevo Mundo/UROCAL als Geschäftspartnerin entschieden habe, gerade weil sie hier ein hohes Maß an Partizipation und Eigeninitiative aufgebaut hätten. Zum anderen kommen einige der Punkte zur Sprache, die weniger mit dem Vortrag, als mit der allgemeinen Unzufriedenheit mit der FLO-I zu tun haben, die auch ein Auslöser dafür seien, dass man die Coordinadora Ecuatoriana de Pequeños Productores en el Comercio Justo mit aufbaue. Hauptkritikpunkte sind die zunehmende Kooperation der FLO-I mit den großen Firmen, wobei man sich gleichzeitig doch mehr Unterstützung bei der Suche nach mehr Absatzmärkten für KleinproduzentInnen wünschen würde, die Gleichbehandlung von Großen und Kleinen (und von monocultivo und biodiversidad), die zunehmenden und nicht transparenten Regularien der FLO-I203 sowie der Wunsch nach finanzieller Hilfe bei den Bemühungen um Produktivitätssteigerung. Der enlace greift seine Rolle als 'Verbindungsmann' dabei auf, indem er zusagt, vorgebrachte Kritik weiter zu geben nach Europa. Darüber hinaus macht er Vorschläge, wie man die Suche nach Unterstützung für neue Absatzmärkte und nach Krediten für Bewässerungssysteme oder Kompostieranlagen – Probleme, die er auch von anderen Kooperativen kenne – bündeln könne, um internationale Organisationen zu finden, die bereit sind, sich in diesen Bereichen einzubringen; um Wege zu finden, die über das hinaus gehen, was der Faire Handel im Rahmen seines Beitrags zum desarrollo sostenible leisten kann. 203 so verwunderte es z.B. den secretario der Coordinadora Ecuatoriana de Pequeños Productores en el Comercio Justo, dass der Standard für „Vertragsanbau“ (vgl. Kapitel 3.1.5) nur für bestimmte Produkte aus Indien und Pakistan gilt 301 Kapitel 3 Mitgliederversammlung von Nuevo Mundo Am Freitag macht die Beobachtung der Vollversammlung von Nuevo Mundo deutlich, warum einige der am Vortag dem Vortrag des enlace lauschenden Mitglieder ein wenig erbost waren, als sie die gut gemeinten, für viele Organisationen wahrscheinlich auch hilfreichen, aber hier ein wenig belehrend wirkenden Ratschläge zur Verbesserung der Selbstorganisation gehört haben. War es am Vortag nur eine relativ kleine Gruppe, da die meisten ihrer Arbeit in den Fincas nachgehen mussten, sind heute fast alle Mitglieder, gut hundert Männer und Frauen, zugegen. Der Versammlungsraum ist bis auf den letzten Stuhl besetzt. Auch José hat sein Unkrautproblem mittlerweile im Griff und konnte nach Machala kommen. 'Formal' gesehen gibt es positive wie negative Anreize, an der Mitgliederversammlung teilzunehmen. Wer unentschuldigt fehlt, muss eine gemeinsam festgelegte Buße zahlen. Wer da ist, erhält ein Joghurt und später ein Mittagessen, wer pünktlich kommt, zusätzlich Schokolade, Mitwirkende in Kommissionen bekommen dafür zudem eine Aufwandsentschädigung. Doch auch von diesen Formalitäten abgesehen herrscht eine rege Beteiligung an den langen Diskussionen. Bis in den Nachmittag hinein wird Punkt für Punkt gründlich durchgesprochen (und protokolliert). Auf der Tagesordnung stehen Angelegenheiten, die das Alltagsgeschäft betreffen, aktuelle Probleme und Grundsatzfragen. Zum Alltagsgeschäft gehören Mitteilungen über die erreichte Kistenzahl der vergangenen Woche (inklusive der Nennung derjenigen, die es nicht geschafft haben), die eingegangenen Bestellungen für den anstehenden día de embarque oder Informationen über laufende Projekte (z.B. mit dem Landwirtschaftsministerium Ecuadors oder mit Brot für die Welt) und geplante Veranstaltungen (wie das morgige Bananenforum). Mit den Analyseergebnissen von Bodenproben, die sie auf verschiedenen Fincas entnommen haben, offenbaren die beiden von UROCAL angestellten Techniker einen weiteren Teil ihrer Tätigkeit. Durch solche Kenntnisse über die Standorte der einzelnen Fincas können sie gezielt hinsichtlich Düngung und Bewässerung beraten. Die VertreterInnen der verschiedenen Kommissionen berichten über Neuigkeiten aus ihrem Bereich, so z.B. zum Stand der Gesundheitsprojekte, zu Fortbildungsangeboten oder zu Vorschlägen der comisión de cupo, die sich damit beschäftigt, wie mit Mitgliedern umgegangen wird, die in der Hochsaison, wenn die konventionellen Preise über dem Fair Trade-Preis liegen, verbotenerweise den Verlockungen anderer Händler nicht widerstehen können. Aktuelle Probleme sind vor allem der hohe Krankheitsdruck in den Pflanzungen (Sigatoka Negra, Unkräuter) und die von Pestizidrückständen Betroffenen, die suspendiert sind und vermutlich auch langfristig aus der Bioproduktion ausgeschlossen werden müssen, um nicht die Organisation als Ganze zu gefährden. Um den eigenen Ruf zu bewahren, hat man sich dazu entschlossen, statt der sonst üblichen Stichproben alle Fincas einer Rückstandkontrolle zu unterziehen. Die dafür anfallenden Kosten wird man selbst tragen. An Grundsätzlichem werden hauptsächlich zwei Punkte intensiv besprochen. Zum einen wird Satz für Satz die Satzung von Nuevo Mundo vorgelesen (über einen Beamer an die Wand projiziert). Dabei werden Aufgaben, Rechte und Pflichten der einzelnen Institutionen, z.B. des Vorstands und der Mitgliederversammlung, erklärt. Es fällt auf, dass einige schon über lang302 Portraits der Teilfelder jährige Erfahrungen verfügen (so z.B. auch José, der einige Jahre Schatzmeister war) und diese an die anderen weiterzugeben versuchen. Für die meisten sind dies in der Praxis erlernte Erfahrungen, die wenigsten der älteren Mitglieder verfügen über einen höheren formalen Bildungsabschluss204. Zum anderen geht es heute darum, die Verwendung der Fair TradePrämie fürs kommende Jahr festzulegen. Es bestehen verschieden Säulen wie z.B. Gesundheit oder Bildung, in die zu bestimmender Anteil der Einnahmen aus der Prämie investiert werden sollen. Während die FLO-I hierfür Rahmenbedingungen festlegt (z.B. Gemeinnützigkeit, keine laufenden Kosten), besteht innerhalb dieser Grenzen ein gewisser Handlungsspielraum. Dieser führt in einzelnen Fällen nicht immer unumstrittenen Aushandlungsprozessen. So besteht z.B. bislang ein Umwelt-Fördertopf (bono ambiental), aus dem diejenigen ProduzentInnen Zusatzzahlungen erhalten, die eine Mindestanzahl von Bäumen pro ha auf ihrer Finca gepflanzt haben. Der Präsident von Nuevo Mundo und William machen den Vorschlag, diesen umzuwandeln in einen Fördertopf für Kompost, aus dem alle Mitglieder gleichviel für den Einkauf von Kompost erhalten sollen. Es entsteht eine lebhafte Diskussion. Dem Argument der Gerechtigkeit, die entstehe, wenn alle gleichermaßen etwas erhalten würden, wird (u.a. von David und Maria) entgegengehalten, dass der Biodiversitätsaspekt für Nuevo Mundo/UROCAL von strategischer Bedeutung und einen Schlüsselpunkt in der Positionierung für eine nachhaltige, agrarökologisch ausgerichtete Landwirtschaft sei. BanaFair als wichtigste Handelspartnerin lege hierauf großen Wert (worauf insbesondere diejenigen hinweisen, die schon mal bei der Fairen Woche waren), und Equicosta habe sich nicht zuletzt auch wegen der Fincas in biodiversidad dazu entschlossen, künftig Bananen von Nuevo Mundo zu kaufen. Ein bono nach dem Motto „Kompost für alle“ statt dem bono ambiental werfe die Gefahr auf, die Artenvielfalt der Fincas zu reduzieren und sich Richtung monocultivo zu bewegen. Diese Gegenrede findet schließlich eine Mehrheit. Und um der Profilierung des Mischkultur-Anbaus stärker Ausdruck zu verleihen, wird der bono ambiental umbenannt in bono de biodiversidad. Als Kompromiss für die Kompost-Fraktion soll eine neue Säule installiert werden, mit der – dem Vorschlag eines der Techniker folgend – für ein Grundstück gespart werden soll, um eines Tages auf Ebene der Kooperative eigenen Kompost herstellen zu können. Auch sollen mit UROCAL weitere Finanzierungsmöglichkeiten diesbezüglich erörtert werden. Nach dieser und weiteren Diskussionen bleibt am Ende der Veranstaltung gerade noch Zeit, um die in der Mittagspause erhaltenen Schecks zur Bank zu bringen – jedenfalls für diejenigen, die am Montag nicht 'versagt' hatten. Bananenforum Auf dem Bananenforum am Samstag, veranstaltet Räumlichkeiten der Provinzregierung, finden sich neben UROCAL und dem Landwirtschaftsminister verschiedenste Akteure der Region ein, darunter auch Jorge und VertreterInnen der Asociación Guabo, der größten Fair 204 selbst Joaquín hat keinen Sekundarschulabschluss, studiert aber derzeit Soziologie an der Universität in Machala, eine Möglichkeit, die Menschen mit großer Berufserfahrung auch ohne formalen Abschluss offen steht 303 Kapitel 3 Trade-Kooperative für Bananen und Kakao. Im Großen und Ganzen werden in mehreren Redebeiträgen Vorschläge für Verbesserungen für die KleinproduzentInnen und den Bioanbau formuliert, die große Hoffnung in die neue Verfassung und die Regierung legen und die vom Minister höflich und mit dem Versprechen, darauf zurückzukommen, aufgenommen werden. Ohne auf die Details eingehen zu müssen, veranschaulicht die Teilnahme an dieser Veranstaltung, dass UROCAL nach wie vor ein integrierendes Potential aufweist, etwas für die Region als Ganzes zu bewegen; wenngleich wesentlich moderater und diplomatischer, als dies noch während der Zeit der Agrarreformen oder des großen Kakaostreiks gewesen sein muss. Am Rande der Veranstaltung unterhalte ich mich mit einem Techniker der Asociación Guabo über dessen Perspektive auf Bio + Fair am Beispiel der Bananen hier aus Ecuador. Zum einen betont und bestätigt bereits Bekanntes mit Parallelen zu den Aussagen von José, Joaquín, Jorge und den anderen hinsichtlich der zentralen Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft (unausgeschöpftes Potential bei der Produktivität der Kleinen, derzeitige Benachteiligung der Agrofrostsysteme, Wunsch nach Zonierung zum Schutz der Biobetriebe, einseitig fordernde Haltung der FLO-I), zum anderen stellt er die Faktoren heraus, die zum außerordentlichen Erfolg von Guabo geführt haben. Eine entscheidende Komponente sei gewesen, dass man von Anfang an eine verlässliche Importfirma (importadora) in den Niederlanden gehabt habe, der an einer positiven Entwicklung der Kooperative gelegen war. Durch den Erfolg über die Jahre konnte Guabo mittlerweile sogar selbst zum Aktionär werden und sei heute Teilhaber eben jener importadora. Darüber hinaus sei mit dem kontinuierlichen Wachstum auch ein erfolgreicher Professionalisierungsprozess gelungen, sodass man heute über eigene Abteilungen z.B. zur Qualitätsentwicklung, zur technischen Beratung oder zum Projektmanagement der Fair Trade-Prämie verfüge. Dass dieser Prozess so erfolgreich verlief, sei zum einen engagierten und kompetenten Führungskräften (darunter auch Fachleute aus Europa), zum anderen Unterstützung aus EZ-Projekten zu verdanken. Aus diesen Gründen sei Guabo heute so gut aufgestellt und in seiner Größe und Professionalisierung so stark, dass es nicht wie die vielen kleinen Kooperativen mit existentiellen Problemen zu kämpfen habe. Der feuchtfröhliche Ausklang, dem einige der Teilnehmenden des Bananenforums anschließend im Büro von UROCAL beiwohnen, wobei sich die Gäste aus Mitgliedern der verschiedenen Kooperativen und Organisationen zusammensetzen, eröffnet einen kurzen Einblick in die gemeinsam gelebte Geschichte und Gegenwart der KleinproduzentInnen und eine darauf aufbauende Verbundenheit, der erahnen lässt, dass angesichts der relativ hohen Fragmentierung in unterschiedliche Organisationen ein gewisses Potential hinsichtlich der Vertretung gemeinsamer Interessen unausgeschöpft bleibt. 304 Portraits der Teilfelder Abbildung 30: mit 'riego' ausgestattete Finca (eigenes Photo) Abbildung 31: Kakaoernte in einer Mischkulturfinca (eigenes Photo) Abbildung 33: Día de embarque (eigenes Photo) Abbildung 32: Technikerbesuch, aussortierte Früchte (eigenes Photo) Abbildung 34: Fußballturnier für PlantagenarbeiterInnen (eigenes Photo) Abbildung 35: Seilzugsystem in einer größeren Finca (eigenes Photo) 305 Kapitel 3 3.2.5 Die lokale Perspektive der Standard setzenden Organisationen Nach zwei komprimierten Wochen in der südlichen Costa führt unser Weg zunächst ins Hochland, um VertreterInnen der Standard setzenden Organisation zu treffen. Nach Cuenca, der drittgrößten Stadt Ecuadors, sind es von Machala nur wenige Busstunden. Am Busbahnhof empfängt mich der oficial enlace del FLO, den wir bei seine Besuch von Nuevo Mundo bereits bei einer seiner Praktiken beobachten durften. In einem Café an der plaza der kolonialen Altstadt gibt er einen Einblick in seine Arbeit und seine Perspektive auf den Fairen Handel in Ecuador. Dass dieser Gesprächstermin erst Monate später zustande kommt, mag auch daran liegen, dass er als einziger Mitarbeiter vor Ort viel beschäftigt ist. Auf regionaler und nationaler Ebene gibt es Institutionen der FLO-I, die als beratende Ansprechpartnerinnen für die zertifizierten Kooperationspartner fungieren, so VertreterInnen der Producers Service and Relations Unit oder die 'offizielle Verbindungsperson' (oficial enlace de FLO). Der enlace, selbst Ecuadorianer und seit vielen Jahren in der EZ tätig, arbeitet seit knapp zwei Jahren in seiner heutigen Funktion. Er hat einen Vertrag als professioneller Berater (consultoría profesional). Seine Aufgabe ist es, die in Ecuador Faitrade-zertifizierten Organisationen zu unterstützen, zu beraten und zu begleiten. Dies bedeutet zum einen, dass er ihnen zur Seite steht, damit sie die Anforderungen des Zertifizierungs-Systems erfüllen können. Auch sieht er sich als Berater und Ausbilder in Fragen der "Philosophie, der Prinzipien und der Standards des comercio justo" (Interview Mitarbeiter Standardsetzende Organsiation). Zum anderen ist er darum bemüht, für die zertifizierten Organisationen Kontakte zu vermitteln. Das meint nicht nur seine eigentliche Funktion als 'Verbindungsperson', in der er die Anliegen der Organisationen an seine Chefs bei der FLO-I kommunizieren soll, sondern auch die Vermittlung zu NROs, Regierungsstellen und EZ-Organisationen, durch die die ProduzentInnenorganisationen Projekt-Unterstützung oder auch fachlichen Rat in Fragen, für die er kein Experte ist, erhalten können. So habe er z.B. mitgeholfen, eine Englandreise für einen Vertreter einer kleinen Bananen-Kooperative zu organisieren, mit dem Ziel, neue GeschäftspartnerInnen zu gewinnen. Die gleiche Kooperative habe er bei der Personalpolitik und darin beraten, anstelle von 3000 USD Monatsmiete für ihre Räumlichkeiten (Büros, Lager) eine eigene Immobilie zu kaufen, um damit langfristig unabhängiger zu werden. Er mache damit mehr, als sein Vertrag verlangen würde, gleichzeitig scheint er damit aber auch überlastet, da er auf sich allein gestellt für knapp vierzig Organisationen (zertifizierte und solche, die sich gerade zertifizieren lassen) zuständig ist. Bei dem Gespräch wird der Hintergrund seines Vortrags bei Nuevo Mundo, der durch die vielen Tipps und Negativbeispiele ein wenig deplatziert gewirkt hatte, nachvollziehbar. Bei seiner Arbeit überblicke er das gesamte Spektrum der Organisationen und Firmen, die in Ecuador Fairtrade-zertifiziert sind. Unter diesen bestünden große Unterschiede. Die wenigsten seien so gut aufgestellt wie Guabo (Größe, professionelles Team an der Spitze): hier ginge es v.a. 306 Portraits der Teilfelder darum, das auf einem langen Weg Erreichte zu bewahren, weshalb u.a. ein plan de capacitación verankert werden solle, um das vorhandene Fach- und Erfahrungswissen noch mehr innerhalb der Organisation zu festigen und weiterzugeben. Neben Guabo habe auch der Komplex Nuevo Mundo/UROCAL eine lange Geschichte und einen hohen Erfahrungsschatz in der Selbstorganisation. Sorge bereite ihm hier, dass zwar Autonomie, Eigenständig und Partizipation sehr hoch seien, es aber an fachlicher Kompetenz besonders im ökonomischen Bereich fehle. Und dieser sei schlussendlich ausschlaggebend für langfristigen Erfolg. Bei den meisten anderen Kooperativen sehe er jedoch noch große Schwächen sowohl im Organisatorischen, als auch im Ökonomischen. Wesentlicher Bestandteil seiner Arbeit sei die Teilnahme an Versammlungen der zertifizierten Organisationen. Dabei beobachte er, dass der für ihn entscheidende Beitrag des Fairen Handels darin liege, dass die Organisationen 'gezwungen' werden, sich mit ihren Statuten auseinanderzusetzen und sie auch tatsächlich anzuwenden. So würde sichtbar, dass oftmals nicht einmal die dirigentes ihre eigenen normas kennen, der Organisationsstatus bislang eher ein Kapital nach außen hin darstellte, um sagen zu können 'somos organización, somos juridicos, reconocidos por el estado', ohne aber die eigenen Statuten, besonders die demokratischen Aspekte darin, auch wirklich zu erfüllen. Im Bereich der Produktivität und der Vermarktung mangele es dagegen v.a. an fachlicher Kompetenz, die in den eigenen Reihen der Organisationen meist nicht vorhandenen sei, weswegen dies mittelfristig nur dadurch kompensiert werden könne, dass man von außen kommende Fachkräfte anstelle. Langfristig müsse die Arbeit aber auch darauf ausgerichtet werden, dass der Nachwuchs der Organisationen entsprechend ausgebildet wird und die Fachleute aus den eigenen Reihen gestellt werden können. Für ihn ist die ökonomische Komponente, also zu wachsen, immer mehr volumenes an Bananen in den Markt einfließen zu lassen, eine Schlüsselkategorie für den Erfolg der einzelnen Organisationen, wofür die dirigentes auch eine „visión de repente un poco más moderna del desarrollo“ (Interview Mitarbeiter Standard setzende Organisation) und ein gewisses Geschäftsverständnis bräuchten. Gerade in diesem Bereich bestehe bei einigen dirigentes dann Nachholbedarf, um weiter Erfolg zu haben: „Pero en ocasiones tampoco no están preparados para esa cuestión, de buscar un mercado, de ver como son las cosas, sino lo hacen muy empiricamente...“(Interview Mitarbeiter Standard setzende Organisation). Vor diesem Hintergrund unterscheidet er Organisationen, die auf einem guten Weg sind („bastante bién“), solche, die sich auf einem gewissen Niveau eingependelt haben („término medio“), und solche die sich nicht weiter entwickeln bzw. sogar zurückentwickeln werden („bastante debiles“): Als Gründe für die Gruppen, die mittelmäßig oder schwach sind, sieht er ideologische Barrieren (z.B. gegen Transnationale), geringe Größe und geringes Wachstumspotential, mangelnde Fähigkeiten und Kenntnisse der dirigentes, und überholte Konzepte und Einstellungen der dirigentes (u.a.: paternalismo). Eine Rolle spiele auch die Geschichte, also der Weg (trayectoria), den die Organisationen schon hinter sich haben, was die Beispiele Guabo und UROCAL belegen. In diesem Setting hat er für sich verschiedene Herausforderungen bei der Umsetzung des comercio justo identifiziert. Dabei bewegen sich diese in einem grundsätzlichen Spannungs307 Kapitel 3 feld dahingehend, dass er einerseits betont, wie wichtig kontinuierliche Fortbildungen und weitere Maßnahmen zur Stärkung der Handlungsfähigkeit der einzelnen Organisationen seien, dass er andererseits im System des Fairen Handels auch eine Siebfunktion (sedazo) ausmacht, durch die nur diejenigen weiterkommen, die die Aufgaben ihrer Kooperative in organisatorisch-partizipativer wie ökonomischer Sicht ernst nehmen. Ein 'Aussieben' sollte nach seinem Verständnis über die Einstellung der Beteiligten erfolgen, indem für die 'Willigen', aber vielleicht noch nicht 'Fähigen' eine Spielraum gewährt wird, um sich entwickeln zu können (flexibilidad; 'enge Maschen'), den reinen Opportunisten, die nur profitieren wollen, aber keine Chance gegeben wird (facilidad; 'weite Maschen'). „Les he dicho: analicemos, pero compañeros, que no pongamos a pensar en la facilidad o en la flexibilidad que Ustedes dicen – yo no creo que es flexibilidad, es facilidad, que ser flexible es adaptarse a las realidades, facilidad es decir: te dejo entrar, verás después que haces [...]“ (Interview Mitarbeiter Standard setzende Organisation) Doch auch wenn es gelinge, die 'Trittbrettfahrer' durch das Sieb fallen zu lassen, blieben eine ganze Reihe an Schwierigkeiten für die ProduzentInnen und ihre Organisationen bestehen, mit denen man einen Umgang finden müsse: manche Anforderungen (exigencias) des comercio justo, einzelne Organisationen überfordern, etwa wenn eine Personalpolitik (política de personal) erstellt werden soll und die Organisation zwei Angestellte hat, oder ein Entwicklungsplan (plan de desarrollo) zur Verwendung der Prämie erstellt werden soll bei einer kleinen Organisation, die noch kaum Prämieneinnahmen erzielt und wenig Erfahrung bei der Erstellung und Umsetzung solcher Pläne hat; der Aufwand für viele ProduzentInnen, an all den Versammlungen und Treffen teilzunehmen, ohne dass dieser Aufwand 'in-Wert-gesetzt' ist; die Notwendigkeit der Gewöhnung an administrative Prozesse (sichtbar daran, dass z.B. Probleme auftreten, wenn bei Beschlüssen, selbst wenn sie ordnungsgemäß gefasst worden sind, vergessen wird, sie ordnungsgemäß zu dokumentieren); die Notwendigkeit, immer wieder vor Ort zu sein, capacitaciones durchzuführen und zu unterstützen (sowohl zu zertifizierungsrelevanten Themen als auch darüber hinaus), auch weil oft das Personal bzw. die Posten in den Organisationen wechseln und man bei manchen Leuten dann wieder von vorne anfangen muss; vereinzelt Schwierigkeiten bei den Verträgen mit den Aufkäufern (Exporteure bzw. Importeure), wenn diese z.B. Qualitätsmängel reklamieren, deren Echtheit für die ProduzentInnen nicht überprüfbar sind, oder wenn sie Zahlungen verzögern, auf die die ProduzentInnen angewiesen sind und wodurch diese gezwungen werden, Kredite aufzunehmen (eine Problematik, die er an FLO-I kommuniziert habe, als er in Bonn war – und bei der viel Unterstützung durch mehrere nationale FLOs zugesagt worden sei; ein Beispiel, bei dem er die Funktion des enlace als erfolgreich bestätigt sehe) Zu einem gewissen Grad sei es seine Aufgabe, an diesen Schwierigkeiten zu arbeiten. Da sei die Übersetzungsarbeit, geforderte Instrumente wie eine política de personal oder einen plan de desarrollo angepasst an die jeweilige Organisation zu gestalten; und zwar nicht um einen Haufen Papier zu produzieren (was durch die Beauftragung des den Plan erstellenden Technikers zudem viel Geld koste), mit dem niemand etwas anfangen könne (außer man bezahle 308 Portraits der Teilfelder nochmals einen Techniker, der dann den von dem ersten Techniker erstellten Plan überhaupt umsetzen kann) und was nur Ressourcen verschwende. Durch solche Hilfestellungen und die vielen capacitaciones könne man zu einer nachhaltigen Entwicklung der Organisationen beitragen. Viele der Standards würden seiner Einschätzung nach als lästige exigencias der FLO-I fehlinterpretiert, man müsse sie vielmehr als Hilfsmittel sehen, um sich als Organisation weiterzuentwickeln. Was als zusätzliche Last empfunden würde, sei oft allein der Tatsache geschuldet, dass die Organisationen noch nicht entsprechend ihrer eigenen Normen aufgestellt seien. "[…] De repente, el sistema fue cambiando porque también hay una exigencia de quien consume los productos, quien es el mercado. El mercado quiere claridad, quiere transparencia en el sistema, y yo lo que siempre digo: yo creo que el sistema se vuelve exigente y eso ha representado de repente algunos costos. ¿Pero porque ha representado costos? Porque ha habido muchas organizaciones que tienen su normatividad, tienen su estatuto, tienen su reglamento, y no lo aplican..." (Interview Mitarbeiter Standard setzende Organisation) Genau hier habe aus seiner Sicht der Faire Handel angesetzt und einen positiven Wandel bewirkt, was er (mit 28 Jahren Erfahrung in der EZ) sehr hoch schätze: er habe die Organisationen dazu gebracht, die organisatorischen Errungenschaften, die sie auf dem Papier schon hatten und die oft nur als repräsentatives, nach außen gerichtetes Kapital funktionierten, auch tatsächlich anzuwenden und umzusetzen. Kontrolle durch Inspektionen sei dabei notwendig, auch wenn sie ihrem Wesen nach etwas unangenehmes für beide Seiten sei. Andererseits dürfe man nicht vergessen, dass eine solche Entwicklung auch Zeit und Hinwendung brauche. Hierin sieht er ein Problem bezüglich des raschen Wachstums und der offensiven Vermarktungsstrategie, die von der FLO-I und ihren Mitgliedern betrieben werde. Die Stärke des Fairen Handels seien seine Philosophie und die Übersetzung dieser Prinzipien in die Standards des Systems. Schlüssel zum Erfolg jedoch sei schlussendlich, diese Prinzipien und Standards an der Basis der ProduzentInnen in die Praxis umzusetzen. „FLO sí tiene que pensar en el mercado, en los volúmenes, en toda la cosa, en la promoción en Europa, todo eso. Pero FLO [también] tiene que pensar abajo, entonces. FLO tiene una misión clarita [...], la visión de FLO dice vamos a tratar de cambiar estructuras comerciales; la estructura comercial no es solamente el mercado en Europa, en EEUU, en Canadá, la estructura está desde abajo, desde donde producimos. Entonces FLO tiene que ser fiel a su visión y cumplir con eso. [...] Hay un peligro porque de repente estamos preocupados por los volumenes y no estamos preocupados por lo que pasa abajo, para mi el tema de estructuras es clave […].“ (Interview Mitarbeiter Standard setzende Organisation) Dabei scheint er ein wenig allein auf weiter Flur zu stehen, als einziger Mitarbeiter zuständig für zig verschiedenste Organisationen und mit so unterschiedlichen Produkten wie Bananen, Kakao oder Kaffee. Nach bestem Wissen und Gewissen versuche er diese zu beraten und zu unterstützen. Neben 'Nachhilfe' in Anwendung der normas und Erfüllung der estandardes gehe es dabei vor allem darum, Professionalität intern aufzubauen und von außen hereinzuholen. Neben Kenntnissen des Marktes und Vernetzung mit nationalen und internationalen Geberorganisationen, die für für viele Kooperativen, die noch am Anfang stünden, unerlässlich 309 Kapitel 3 seien und die er aufzubauen helfe, sehe er insbesondere auch in der technischen Beratung beim Anbau eine Schlüsselrolle. Er rate den Organisationen z.B., ihre Techniker innerhalb des ICS ordentlich zu bezahlen, dafür aber auch Ergebnisse zu verlangen (z.B. angestrebte Produktionssteigerungen, die nach Erfolg vergütet werden), die u.a. dadurch erzielt werden könnten, dass ein individualisiertes, an die lokalen Bedingungen angepasstes Beratungsverfahren (z.B. Bodenproben von jeder Finca) angewandt würde („un sistema de asistencia técnica casi individualizada“). Dabei solle langfristig (nachhaltig) gedacht werden, z.B. durch gezielte Stärkung der Bodenfruchtbarkeit. Neben der Forderung, solche Freiräume und Kapazitäten für die Arbeit mit der Basis zu bewahren und auszuweiten, stellt er auch einige Vorschläge in den Raum, wie das System und seine Standards und Verfahren weiterentwickelt werden müssten. Diese Vorschläge beziehen sich zum einen auf Details. Es bräuchte z.B. noch ein Konzept dafür, wie die Schadensmeldungen der Importeure verifiziert werden können. Zum anderen gebe es einige grundsätzliche Fragen, die überdacht werden sollten. Langfristig sollten neue Komponenten wie z.B. die CO²-Bilanz integriert werden. Auch wenn er den Markt für Faire Produkte in Ecuador weitestgehend als gesättigt ansieht und nicht damit rechnet, dass viele neue ProduzentInnen dazukommen werden, sieht auch er Hürden für bestimmte Akteure, insbesondere im Bereich der Bananen. Innerhalb von Fair Trade wäre es wünschenswert, wenn neben den Kategorien pequeño productor und producción orgánica mit producción en biodiversidad/agroforestal eine neue Kategorie geschaffen würde, um die Leistung für die Umwelt, die diese Systeme über die Monokultur-Bioplantagen hinaus erbringen, wertzuschätzen und auch, um zu verhindern, dass einzelne ProduzentInnen aus Rentabilitätsgründen auf monocultivo umstellen. Er könne sich durchaus vorstellen, dass man dafür einen neuen Nischenmarkt schaffen könne. Sollte der Markt den erforderlichen Mehrpreis nicht erbringen können, wäre auch an Unterstützung im Rahmen internationaler Kooperation zu denken, um diese Anbauform zu erhalten und zu stärken. Darüber hinaus gebe es auch Regulierungsbedarf jenseits des Einflusses der FLO-I. Eine Zonierung der Anbauzonen und eine schärfere Kontrolle der fumigación aerea wäre dringend notwendig, um die Bio-Betriebe zu schützen. Allerdings sei er hier skeptisch, das neue ley de banano verspreche keine dahingehenden Verbesserungen. An einer Zonierung des Bananenanbaus, um sichere Flächen für die Bio- und Kleinproduktion zu schaffen, bestehe kein Interesse. Immerhin gebe es Ansätze zur Stärkung der ArbeiterInnen in den Plantagen, was eine Verbesserung wäre, sofern es sich auch umsetzen lasse. Abschließend spreche ich ihn auf eine Fair-Zertifizierung von Garnelenfarmen (camaroneras) an, wie sie durch fair for life möglich geworden ist. Er sehe das Auftreten neuer Siegel kritisch, da er Bedenken habe, ob zentrale Qualitätskriterien eingehalten würden, was er z.B. dadurch beobachte, dass manche Organisationen, die bereits ein anderes Siegel haben, bei einer anstehenden FLO-I-Zertifizierung oft noch nachbessern müssten. Dabei sehe er eine Stärke der FLO-I gegenüber neuen Siegeln auch in ihrer langjährigen Erfahrung und in dem gewachsenen Vertrauen des Handels und der KonsumentInnen, dass es zu bewahren gelte. 310 Portraits der Teilfelder Weiterfahrt zur Garnelenzucht Die Reise hat uns in zwei intensiven Wochen durch das Feld der Bananenproduktion in Ecuador geführt. Wenngleich der Ablauf zu Darstellungszwecken für die LeserInnen zeitlich komprimiert und inhaltlich verdichtet wurde, liegt ein solcher Schnelldurchlauf durchaus im Bereich dessen, was tatsächlich erlebbar ist – auch wenn nicht in jeder Woche eine Vollversammlung, ein Besuch des enlace und eine politische Veranstaltung wie das Bananenforum stattfinden. Durch die Offenheit der Akteure und die von vielen in ähnlicher Weise vertretene mensaje ist der Zugang in dieses Feld relativ leicht zu bewerkstelligen. Wenn wir nun zur Garnelenzucht in Ecuador übergehen, wird sich zeigen, dass hier die Hürden ein wenig höher liegen, um an 'relevante' Orte zu gelangen, 'bedeutenden' Ereignissen beizuwohnen und die 'richtigen' Leute zu treffen. Das soll auch ein Grund dafür sein, weshalb im Bereich der Garnelenzucht zwei getrennte Teilfelder, nämlich die Garnelenzucht und die MangrovenbewohnerInnen, vorgestellt werden, die eng miteinander verwoben sind und doch zwei sehr unterschiedliche und kaum bewusst miteinander interagierende Welten darstellen, die beide auf ihre Weise nicht leicht von außen zugänglich sind. Unser Blick richtet sich zunächst auf die Garnelenzucht, verstanden als diejenigen Akteursgebilde, die die (hier Bio-zertifizierte) Zucht und den Export der Meeres- (bzw. hier Teich-) Tiere betreiben. 311 Kapitel 3 3.3 Garnelenzucht in Ecuador Die Garnelenzucht in Aquakultur wird in verschiedenen Regionen der Costa betrieben, v.a. an den Ufern von Flussmündungsgebieten und auf diesen vorgelagerten oder in deren Deltas befindlichen Inseln; in Bereichen, die dem Einfluss von Meerwasser unterliegen und eine ausreichende Salinität des Wassers aufweisen. Erste Beobachtungen der Landschaft vorzunehmen, ist nicht so bequem möglich, wie es die Fahrt im klimatisierten Bus über die Panamericana im Fall der Bananenplantagen erlaubte. Wer nicht einen touristischen Ausflug in die Mangroven unternimmt oder bereits Zugang entweder zu einer der Garnelenzuchtfarmen (camaroneras) oder der Mangrovendörfer in den Flussmündungsbereichen hat, muss sich zunächst auf Informationen aus der Literatur beschränken oder sich mit einem Blick auf Satellitenaufnahmen im Internet begnügen. Aus einer derartigen Vorbereitung können wir erfahren, dass der Golf von Guayaquil (Golfo) von seiner naturräumlichen Ausstattung her beste Voraussetzungen für Garnelenzucht bietet und das Hauptproduktionsgebiet des Landes mit den meisten und durchschnittlich größten camaroneras darstellt (ENGELHARDT 2000:57ff). Satellitenaufnahmen veranschaulichen eindrucksvoll die vielen Becken, die in die Inseln des Golfo eingelassen und meist von Mangroven umsäumt sind. Neben der – abgesehen von Zeiten heftigen Niederschlags und entsprechend hohem Süßwassereintrag durch den Río Guayas in manchen El-Niño-Jahren – optimalen Salinität tragen folgende Faktoren zur natürlichen Gunst bei (vgl. ENGELHARDT 2001:138ff): Durch die durchweg hohen Lufttemperaturen und geringen Schwankungen ist eine Garnelenzucht im Golfo ganzjährig möglich. Da der Golfo, insbesondere in seinem Inneren, vor dem kälteren Wasser des Humboldtstroms abschirmt und zudem mit wärmerem Wasser aus den Flüssen gespeist wird, begünstigen die relativ hohen Wassertemperaturen das Garnelenwachstum. Auf dieses wirkt sich auch die Anzahl der Sonnenstunden positiv aus, die in weiten Teilen des Golfo höher liegt als z.B. im nördlichen Bereich der Costa. Von Vorteil ist schließlich auch der schnelle Wasseraustausch im Golfo durch den Guayas-Fluss, der negative Auswirkungen durch Gewässerverunreinigungen – bedingt durch die Landwirtschaft im Guayas-Becken, die Abwässer der Städte und die Garnelenzucht selbst – reduziert. Darüber hinaus bieten die vielen Inseln und langgestreckten Uferlinien des Golfo ausreichend Platz, um Zuchtbecken anzulegen. Ein Blick auf das Satellitenbild (Abb. 36) bestätigt, dass dieser Platz des Gunstraums in den vergangenen Jahrzehnten ausgiebig in Anspruch genommen worden ist. Auf ökonomischer Ebene wird die Nutzung dieses natürlichen Potentials in Kombination mit „dem kaufmännischen Geschick der vorwiegend ecuadorianischen Investoren“ bisweilen als eine „success story“ bezeichnet (ENGELHARDT 2001:142; AIKEN 1990). Dies nicht nur, weil sie Ecuador als drittstärkster Exportsektor signifikante Deviseneinnahmen beschert, sondern auch, weil durch die Zucht und die ihr angeschlossene Zuliefer- und Verarbeitungsindustrien um die 200.000 teils qualifizierte, hauptsächlich jedoch unqualifizierte Arbeitsplätze entstanden sind (vgl. z.B. ENGELDINGER/JORDAN 2003:302f). Im Fokus einer kritischen Betrachtung dieses jungen land312 Portraits der Teilfelder wirtschaftlichen Industriezweigs stehen hauptsächlich die ökologischen Folgen der massiven Ausbreitung der camaroneras. Neben Gewässerverunreinigungen durch in die Flüsse und Ästuare (esteros) abgeleitete Abwässer geht es dabei v.a. um die Umwandlung von zuvor anderweitig genutzten oder 'naturbelassenen' Flächen in Zuchtbecken. Von dieser Umwandlung waren teilweise natürliche Vegetation, teilweise bereits landwirtschaftlich genutzte oder punktuell auch Siedlungsflächen betroffen. Abbildung 36: Satellitenaufnahme vom Inneren Golf von Guayaquil (aufgenommen am 23.11.2000 von Landsat 7; Quelle: http://glcf.umiacs.umd.edu) Die natürliche Vegetation im Golfo weist Besonderheiten auf, die sich z.T. nicht durch klimatologisch begründete zonale Klassifikationen ableiten lassen. So sind die Uferbereiche, die im Einflussbereich der Gezeiten liegen (mit einem bis zu 5m hohen Tidenhub im Golfo), mit Mangrovenwäldern bewachsen. Diese azonalen, weil nicht auf Niederschlag angewiesenen, suptropisch-tropischen, weil mangels Frostresistenz von gleichmäßig hohen, nur geringfügig schwankenden Luft- und Wassertemperaturen abhängigen, salzverträglichen „Gezeitenwäl313 Kapitel 3 der“ (ENGELDINGER/JORDAN 2003:276) finden im Golfo ihrerseits einen Gunstraum. Neben den klimatischen Rahmenbedingungen schützen der Golfo und die anderen Ästuargebiete der ecuadorianischen Küste vor zu starkem Welleneinschlag und starken Strömungen, sodass sich die – meist auf der Mutterpflanze gekeimten205 – Sämlinge der Mangrovenbäume, die durch den Strom der Gezeiten ausgebreitet werden, zur Reproduktion der Pflanzen im Boden verankern können (ENGELDINGER/JORDAN 2003:275,277). Die Flüsse wiederum versorgen die Pflanzen mit nährstoffreichem Süßwasser (ENGELHARDT 2000:28). Grundsätzlich sind Mangroven nicht auf Salzwasser angewiesen, ihr Vorkommen beschränkt sich aber auf Brackwasserzonen, da sie sich im Süßwasserbereich meist nicht gegen konkurrierende Pflanzen durchsetzen können (ENGELDINGER/JORDAN 2003:276). Die Wurzeln der Mangroven206, ihr optisch vielleicht auffälligste Merkmal, gewährleisten mit ihren Lentizellen die Versorgung mit Sauerstoff . Ein erhöhter osmotischer Druck in den Blättern, Ultrafiltrierungsmechanismen und bei manchen Arten auch Drüsen zur Salzausscheidung ermöglichen das Überleben im Salzwasser (vgl. ENGELDINGER/JORDAN 2003:277). Die Vegetation der Mangroven ist im Allgemeinen sowie besonders in Südamerika (hier mit nur vier bzw. fünf Spezies) relativ artenarm, insbesondere im Vergleich zu terrestrischen tropischen Regenwäldern (ENGELDINGER/JORDAN 2003:276). Allerdings nehmen sie als Zwischenform zwischen aquatischen und terrestrischen Ökosystemen als solches sowohl wichtige ökologische Funktionen wahr (v.a. Nährstoffexport in die terrestrischen Ökosysteme), als auch erbringen sie bedeutende Leistungen207. Dazu gehören der Küstenschutz vor Wind und Wellen, der besonders bei Sturmfluten oder in El-Niño-Jahren zur Geltung kommt, aber auch allgemein Erosion/Denudation vorbeugt und Anker für Sedimentationsprozesse ist; die Nährstofffilterung, die – zusammen mit dem im Golfo schnellen Wasseraustausch – einer Eutrophierung der Gewässer entgegenwirkt; die Bereitstellung von Lebensraum für viele Tierarten, darunter insbesondere Vogelarten und Meerestiere (wie z.B. Garnelen), für letztere v.a. als geschütztes und Nahrung bietendes Reproduktionsgebiet; und nicht zuletzt die Primärproduktion von Biomasse zur Fixierung von CO² (vgl. ENGELHARDT 2000:29f, ENGELDINGER/JORDAN 2003:279ff). Durch die mehrmonatige Trockenzeit bildet sich im Golfo in der Regel ein spezieller Übergang von den Mangroven zur terrestrischen Vegetation des tropischen Trockenwaldes aus 208. Während im humiden nördlichen Teil der Costa ein fließender Übergang von den Mangroven- zu den terrestrischen, erstere verdrängenden (Regen)Wäldern stattfindet, kommt es im Süden durch die Trockenheit und hohe Verdunstung oft zur Ausbildung von weitestgehend vegetationslosen Salzflächen (salitrales) zwischen den Mangroven und der Trockenwaldvegetation (vgl. ENGELDINGER/JORDAN 2003:283, ENGELHARDT 2000:26). So bestanden insbesondere große Flächen der Inseln des Golfo – neben einigen bewaldeten Hügeln – ursprünglich aus salitrales. 205 206 207 208 314 Viviparie je nach Art Luftwurzeln, Stelzwurzeln oder Atemwurzeln (Pneumatophoren) „ecosystem services“ (vgl. COSTANZA et al. 1997) obgleich viele durch die Geographie des jeweiligen Küstenabschnitts bedingte Ausnahmen bestehen, z.B. die Ausbildung von feuchten Wäldern im (Süßwasser)Einflussbereich von Flüssen oder an den feuchten Hängen küstennaher Hügel Portraits der Teilfelder Abbildung 37: Vegetationsgürtel im Bereich des Golfes von Guayaquil Entwurf und Darstellung: Achim Engelhardt (abgedruckt aus ENGELHARDT 2000:26) Diese salitrales stellten die günstigsten Standorte dar, um Garnelenzuchtbecken anzulegen, da sie nicht gerodet werden mussten und meist keiner konkurrierenden Nutzung unterlagen. Zudem stellte ihre Umwandlung – wenngleich diese Erwägung in den Anfängen und während der Boomphase der Garnelenzucht keine große Rolle gespielt haben dürfte – den geringsten ökologischen Schaden dar (ENGELHARDT 2001:146). Für die profitable Expansion der Garnelenzucht reichten die salitrales jedoch nicht aus, sodass auch landwirtschaftliche Nutzfläche (der zuvor der Trockenwald weichen musste), Siedlungen und nicht zuletzt Mangroven in camaroneras umgewandelt wurden. So hat z.B. Achim Engelhardt (2000:93ff; vgl. Karte 3) berechnet, dass im Zeitraum von 1987 – 1995 im inneren Golf von Guayaquil die in Zuchtbecken umgewandelten Flächen davor zu 40% Ackerland, zu 27% Mangroven, zu 22% salitrales und zu 11% Trockenwald waren, im äußeren/südlichen Golfo 69% Mangroven, 24% Ackerland und 7% salitrales. Sascha Engeldinger und Ekkehard Jordan (2003:286) geben an, dass seit Beginn der Garnelenzucht in den 1970er Jahren die Gesamtmangrovenfläche Ecuadors um 25% abgenommen haben, bis zu etwa 30% der camaroneras auf ehemaliger Mangrovenfläche stehen und die Garnelenzuchtindustrie damit – neben anderen Ursachen wie die Ausweitung von Siedlungsfläche und forstwirtschaftlicher Rodung – entscheidend zum Rückgang der Mangroven beigetragen hat. Das ecuadorianische Mangrovenschutznetzwerk C-Condem gibt sogar an, die industrá camaronera habe als „la principal causante de la destrucción“ zur Zerstörung von 70% des ursprünglichen Ökosystems beigetragen (C-CONDEM 2007:2, vgl. den Auszug aus dem Interview in der ila in 3.1.4). Unabhängig von den genauen Quantitäten und auch bei differenzierter Betrachtung gilt der Zusammenhang zwischen Ausweitung der Garnelenzuchtfläche und Abnahme der Mangrovenfläche heute als unbestritten und wird in der Regel als das Hauptproblem der jungen Exportindustrie aufgeführt. aneben werden auch soziale Probleme in Form negativer Auswirkungen auf die traditionellen NutzerInnen und BewohnerInnen des Ökosystems ausgemacht. Diese beziehen sich hauptsächlich auf die Verschmutzung und die flächenmäßige Reduktion der ursprünglich für traditionelle Fisch- und Sammeltätigkeiten (Fische, Garnelen, Muscheln, Austern, Krebse) zur Verfügung stehenden Mangroven. Teilweise wird auch thematisiert, dass die neu geschaffenen Arbeitsmöglichkeiten in den camaroneras diese Nachteile nicht kompensiere, mitunter auch, weil der lokalen Bevölkerung der Zugang zu diesen verwehrt wird, z.B.: 315 Kapitel 3 „In den Zuchtregionen Jama, Bahía de Caráquez und Pedernales (Provinz Manabí) werden in den Garnelenzuchtbetrieben hauptsächlich lokale Arbeitskräfte beschäftigt, während in den Provinzen Guayas, El Oro und Esmeraldas die Arbeitskräfte (Wanderarbeiter) in ihrer großen Mehrheit aus den wirtschaftlich benachteiligten Andenprovinzen stammen. […] Als Grund für diese Unterschiede geben die Garnelenzüchter aus Guayas, El Oro und Esmeraldas an, daß die Arbeiter aus den Anden ehrlicher seien und besser arbeiteten, als die Lokalbevölkerung. Außerdem könne man der Lokalbevölkerung nicht trauen, da sie wiederholt für illegales Abfischen von Garnelenzuchtteichen verantwortlich gemacht wurde. Für auswärtige Arbeiter seien diese Praktiken in einer fremden Umgebung weniger einfach.“ (ENGELHARDT 2000:146f) Solche Sequenzen deuten einen problematischen Zusammenhang zwischen Garnelenzucht und MangrovenbewohnerInnen an, der jedoch oft nur oberflächlich behandelt wird und gegenüber der ökonomischen 'Erfolgsgeschichte' und der ökologischen Problematik im Hintergrund bleibt (z.B. ENGELHARDT 2003; vgl. allgemein MÜLLER 2013:4). 316 Portraits der Teilfelder Karte 3: Landnutzungswandel durch die Expansion der Garnelenzucht im Golf von Guayaquil 1987 – 1995 (Kartographie: Achim Engelhardt, s. ENGELHARDT 2000:100) 317 Kapitel 3 3.3.1 Die Geschichte der Garnelenzucht in Ecuador Ein Literatur-basierter Einstieg in die Geschichte der Garnelenzucht liest sich entsprechend dieser Zustandsbeschreibungen der Gegenwart oft kurz und bündig mit Fokus auf die makroökonomischen Veränderungen und ökologischen Auswirkungen. Die Garnelenzucht in Ecuador weist eine deutlich jüngere Geschichte als die der Bananenproduktion des Landes auf. „Die Garnelen-Aquakultur ist ein junger Wirtschaftszweig in Ecuador, der auf Zuchtversuche von Bananenzüchtern an der Südküste (Provinz El Oro) im Jahre 1969 zurückgeht. Seitdem hat die Zucht von Garnelen einen raschen Aufschwung erfahren und gegenwärtig sind Garnelen das drittwichtigste Exportprodukt Ecuadors.“ (ENGELHARDT 2000:57) Dieser rasche Aufschwung, der ein neues und gewinnträchtiges Aktionsfeld für die ecuadorianische Agrarelite bedeutete, vollzog sich nach den experimentellen Anfängen im südlichen Teil der Costa, von wo aus er sich nach Norden ausbreitete, mit einigen Höhen und Tiefen kontinuierlich, ungebremst und unreguliert bis zu vermehrten Krisenerscheinungen Ende der 1990er Jahre. Dabei entwickelte sich der Golfo zum Hauptproduktionsgebiet mit phasenweise über 80% der landesweiten Zuchtfläche (vgl. ENGELHARDT 2000:88ff). Für Schwankungen in der Entwicklung sorgte u.a. die unterschiedliche Verfügbarkeit von Garnelenlarven. Diese wurden Anfangs wild gefischt, was – neben negativen Auswirkungen auf die Reproduktion der wilden Beständen – eine attraktive neue Einkommensquelle für viele FischerInnen entlang der gesamten Küste darstellte (vgl. KOELLE 1997). Da die Garnelenlarven warmes Wasser zur Entwicklung benötigen, beschränkte sich die Larvenfischerei an der südlichen Küste in der Regel auf die Wintermonate. Der stark ausgeprägte El-Niño 1982/83 sorgte durch die über viele Monate 'winterlichen' Verhältnisse für einen sprunghaften Anstieg der Garnelenproduktion und des Exports, insbesondere im Golfo. Stimuliert wurde die Expansion der camaroneras zusätzlich durch hohe Weltmarktpreise. Angesichts der Ernteschwankungen und des insgesamt immer größer werdenden Bedarfs entstanden Anfang der 1990er Jahre verstärkt Laboratorien, in denen die Larven gezüchtet wurden (vgl. ENGELHARDT 2000:88). Mit dem ungezügelten Wachstum der camaroneras, bei dem auch bezogen auf die einzelnen Produktionsstätten v.a. auf Massenproduktion mit hohen Besatzdichten und massivem Einsatz von Futtermitteln und Medikamenten gesetzt wurde, vergrößerten sich die ökologischen Belastungen in Form von Gewässerverunreinigung, Mangrovenschwund und Krankheitsdruck auf die Zuchttiere. Auftretende Epidemien, zunächst das Taura-Syndrom Anfang der 1990er Jahre, dann das White Spot Virus (mancha blanca) 1999, sind zwar in ihrer Ursache umstritten, werden jedoch u.a. auch mit der mangelnden Nachhaltigkeit der Produktionsweise in Verbindung gebracht (vgl. ENGELHARDT 2000:81ff). Jedenfalls waren die verheerenden Effekte dieser Krankheiten – die mancha blanca legte weite Teile der Produktion lahm, was zu finanziellen Einbußen und zum Verlust vieler Arbeitsplätze führte – mit ein Auslöser für ab etwa dem 318 Portraits der Teilfelder Jahr 2000 einsetzende Veränderungsprozesse. Zum einen stellten die wilden Larven ein erhöhtes Risiko dar, weil sie Krankheiten in einen Betrieb einschleppen konnten. Wurden sie im Sinne einer kontinuierlichen Belieferung ohnehin schon zunehmend in den Laboratorien aufgezogen, führte die mancha blanca zu einem endgültigen Verbot der Larvenfischerei, wodurch für viele der MangrovenbewohnerInnen eine bedeutend gewordene Einkommensquelle wegbrach. Zum anderen verstärkten sich nun – aus der Not heraus und auch angesichts verschärfter (Rückstand)Kontrollen durch die Importländer, v.a. durch die EU – die Bemühungen, den Sektor zu regulieren und nachhaltigere Produktionsmethoden einzuführen. Schon zuvor war bezüglich der Mangroven eine sich schrittweise verschärfende Gesetzgebung zu beobachten, durch die man der rapiden Zerstörung des Ökosystems Einhalt zu gebieten versuchte. Während sich die Situation für die Mangroven zumindest vorübergehend entspannte, da durch die mancha blanca viele Zuchtbecken brach gefallen waren und keine Neuerrichtungen mehr stattfanden, richtete sich die Aufmerksamkeit nun auch auf die Prozesse innerhalb der camaroneras selbst. So ist es kein Zufall, sondern u.a. diesem Kontext einer ökonomisch-ökologischen Krise eines für viele Akteure unverzichtbar gewordenen Exportsektor geschuldet, dass es Anfang des neuen Jahrtausends zu dem PPP-Pilot-Projekt kam, bei dem sich Naturland in Kooperation mit einigen camaroneras um die Einführung einer Bio-Garnelenzucht bemühte und wovon wir bereits in 'Ecology & Farming' lesen durften. Karte 4: Mangrovenfläche und Ausdehnung der camaroneras in Ecuador (Kartographie: Achim Engelhardt, s. ENGELHARDT 2000:27,90) 319 Kapitel 3 3.3.2 Die lokale Perspektive einer Standard setzenden Organisation In Quito (von Cuenca weitere zehn Busstunden durch die Sierra gen Norden) treffe ich die aus Deutschland stammende Mitarbeiterin Naturlands für und in Ecuador. Die Betreuung der Naturland-zertifizierten Garnelenzuchtbetriebe, von denen es heute – etwa 10 Jahre nach dem Pilotprojekt – fünf Stück in Ecuador gibt (plus sechs Laboratorien; Stand: 19.10.2009), stellt einen Schwerpunkt ihrer Arbeit dar. Mit ihrer beratenden Tätigkeit ist sie ein Bestandteil des von ihren KollegInnen in Gräfelfing als Vorteil des Verbandes angeführten „Servicepaketes“. Wir sprechen über die Entwicklung, die sich seit der Einführung der Biozertifizierung für Garnelenzucht vollzogen hat, über Unterschiede zwischen Bananen und Garnelen, über aktuelle Herausforderungen, nicht zuletzt in Bezug auf die Spannungsfelder zwischen Garnelenzucht und Mangroven/MangrovernbewohnerInnen, und über allgemeine Trends im Bereich Bio + Fair. Als Einstieg in die Welt der Garnelenzucht fokussiert die Darstellung des Gesprächs v.a. auf die auf die camaroneras bezogenen Themen. Durch ihre Arbeit, seit neun Jahren ist sie für Naturland in Ecuador tätig, kennt sie alle Mitgliedsbetriebe aus eigener Anschauung und konnte deren Entwicklung im Laufe der Jahre verfolgen. Zwischen der Bananenproduktion und der Garnelenzucht bestehe zunächst ein grundlegender struktureller Unterschied. Während im Bereich der Bananen viele kleine und mittlere Betriebe beschränkt auf die Ebene der Produktion bestünden, seien die meisten Garnelenzuchtfirmen größer und vertikal integriert, mit assoziierten Larvenlaboratorien, mehreren eigenen Produktionsstätten und unabhängigen, sie beliefernden camaroneras, sowie eigenen Verpackungsbetrieben; eine Firma stelle gar das Bio-Futtermittel (für sich und die anderen) selbst her. Dass sich v.a. die großen Betrieb behaupten könnten, sei einerseits nicht ganz in ihrem Sinne. Schon ihre KollegInnen hatten bemerkt, dass man eigentlich lieber kleine und mittlere Betriebe und extensivere Produktionsweisen fördern würde. Andererseits zeige die Erfahrung, dass die großen, vertikal integrierten Firmen eine deutlich bessere Position am Markt hätten, ihre Preise besser verhandeln könnten, auch schwierige Phasen leichter überstehen und über die besten Leute in eigenen Abteilungen für Qualitätsmanagement und Zertifizierungen verfügen würden. Unter den Betrieben gebe es solche, die bereits „seit der mancha blanca“ (Interview Mitarbeiterin Standard setzende Organisation) dabei seien und alle ihre Produktionsstätten als grundsätzliche strategische Ausrichtung ihres Unternehmens umgestellt hätten, und solche, bei denen die Impulse erst in den letzten Jahren von ihren Klienten (dem Handel) gekommen seien und die jetzt, aufgrund steigender Nachfrage, immer mehr ihrer camaroneras in Biobetriebe umwandeln würden. Neben den großen hätten sich allerdings auch einige wenige kleinere Betriebe in Ecuador und Perú behaupten können. Diese seien besonders um Nachhaltigkeit bemüht, z.B. bei der Wiederaufforstung von Mangroven oder in der Unterstützung sozialer Projekte für ArbeiterInnen und umliegende Gemeinden, wodurch sie Handelsfirmen für sich gewinnen konnten, denen die Nachhaltigkeit der Produkte besonders wichtig ist und die sich die Betriebe vor Ort angesehen haben. Man müsse einerseits berücksichtigen, dass die ökonomische Situation für die Biogarnelenbe- 320 Portraits der Teilfelder triebe nicht immer einfach sei. Der Nachfrage sei längst nicht so groß wie bei anderen Bioprodukten im Fischbereich. Manchmal könne nur die Hälfte der ökologisch hergestellten Garnelen auch als solche verkauft werden. Wenn man sich mal etabliert habe, was v.a. für die 'Kleinen' sehr schwer sei, sei der Markt allerdings stabiler als im konventionellen Sektor. Diese Schwierigkeiten müsse man bei der Kooperation mit den Betrieben berücksichtigen. Zum einen hieße das für die Beratung von InteressentInnen, offen zu erörtern, ob sich eine Bioproduktion überhaupt lohne. Zum anderen versuche man, mit den bereits zertifizierten Betrieben bei Engpässen flexibel umzugehen. Eine Firma habe z.B. „auch ein paar Shrimpsfarmen aus ihrer Ökoproduktion raus genommen, wo wir dann gesagt haben, ja gut, definitiv, Ihr könnt nicht weiter das teure Biofutter nehmen, wenn Ihr keinen Markt dafür habt. Das ist gegen unsere Prinzipien, da jemanden auf Teufel komm raus zu verdonnern, dass er Bio machen muss. Also dann haben sie ein paar Farmen für eine gewisse Zeit raus genommen aus ihrem System, das hat sich jetzt aber langsam wieder verbessert.“ (Interview MitarbeiterIn Standard setzende Organisation) Gerade das Futtermittel sei ein großes Problem. Die Bestandteile müssten mangels Angebot auf nationaler Ebene hauptsächlich importiert werden, was sowohl vom Nachhaltigkeitsgedanken her suboptimal, als auch teuer sei, und wodurch das Futtermittel – mit einem Anteil an den Produktionskosten bis zu 60% – zum ausschlaggebenden Faktoren werde, der über die Rentabilität von Bio entscheide. „Das ist der kritische Punkt für jeden, der organisch produzieren will: einfach, wie füttere ich meine Tiere. Gut, es gibt biologisches Futtermittel von [einer der Firmen], das ist um einiges teurer: die Soja wird importiert, der Weizen wird importiert, der Mais wird importiert, weil das alles Bio sein [muss] und weil aus was für Gründen auch immer sie nicht in der Lage sind, das vor Ort zu kriegen, obwohl Naturland definitiv die Prämisse der Regionalität hat. Aber sie schaffen es nicht, auch auf nationaler Ebene die entsprechende Biomengen zu bekommen und ja gut, dass das Futtermittel, das Fertigfutter, dass das einfach teurer ist, das ist einer der kritischen Punkte, wo ich dann eben jedem Betrieb sagen muss: ja guck erst mal, ob das für Dich rentabel ist, mit Deiner Produktionsweise wirklich Bio zu machen.“ (Interview MitarbeiterIn Standard setzende Organisation) Dass der Fischmehlanteil im Futtermittel aus ökologischen Gründen von Naturland aus auf 20% beschränkt sei und dieser aus nachweislich nachhaltiger Fischerei stammen müsse, mache die Sache aus ökonomischer Sicht nicht leichter. In diesem ökologisch-ökonomischen Spannungsverhältnis sieht sie die neue EU-Richtlinie zur ökologischen Aquakultur kritisch. Auf der einen Seite sei diese für einige Betriebe sicherlich interessant, weil die weniger strengen Anforderungen die Produktionskosten reduzieren könnten. Darüber hinaus würden so Betriebe Bio-zertifizierbar, die aufgrund des Mangrovenaspekts durch das Raster von Naturland fallen. Auf der anderen Seite müsse man sich fragen, ob man eine solche Form von Bio wolle. „Also [die neue EU-VO] ist für Naturland sehr gemischt. Es ist gut für einige Betriebe, weil Naturland hat sehr strenge Richtlinien, gerade mit der Mangrovenaufforstung, wo wir eben zu Betrieben sagen müssen, wir können euch nicht nehmen, weil auf Eurer Fläche zu viel Mangrove vorher gestanden hat. Das ist dann eben eine Chance für andere Betriebe. Aber gleichzeitig gibt es Teile in der EU-Richtlinie, wo Du denkst, ja 321 Kapitel 3 gut, das ist intensive Shrimpsproduktion, möglichst umweltverträglich gemacht, also mit hohen Besatzdichten und Zulassung von diversen Stoffen, wo Naturland sagen würde, nee, machen wir nicht. Wo Du gucken musst, was dann dabei rauskommt, ob dann da viele sagen, ja super, toll, wir machen EU, und dass dann in alle Supermärkte Billigware kommt, das ist eigentlich von Naturland aus nicht die Idee […]. Das siehst Du ja bei vielen anderen organischen [Produkten] jetzt auch am Verbraucherverhalten: was Du da siehst in den letzten ein, zwei, drei Jahren, dass eben verstärkt auch wieder von EU-zertifizierten Produkten die Vertrauenswürdigkeit abnimmt und na gut, das ist dann dahingestellt, was dann mit EU und Shrimps passiert, oder Aquakultur generell, mal gucken...“ (Interview MitarbeiterIn Standard setzende Organisation) Dabei sei gerade der Mangrovenaspekt ein problematischer Punkt, in dem sie auch einen Teil der Zurückhaltung des Marktes gegenüber Biogarnelen begründet sehe. Kampagnen von NROs hätten die KonsumentInnen skeptisch gegenüber diesem Produkt werden lassen. Deshalb sei es wichtig, neben all der Berücksichtigung ökonomischer Anpassungsfähigkeit der Betriebe die Qualitätsmaßstäbe im ökologischen Bereich hochzuhalten. Bei Naturland sehe man sich dabei – gerade auch bei den Mangroven – auf einem guten Weg und gerüstet, offensiv mit dem Thema umzugehen. Neben der allgemeinen Strenge – die sich nicht nur in den Richtlinien, sondern z.B. auch darin äußere, dass man nur mit verlässlichen und ebenfalls als streng geltenden Zertifizierungsfirmen209 arbeite – habe man nicht nur schon bei der Ausarbeitung der Richtlinie, die in einem partizipativen Verfahren unter Beteiligung verschiedenster Stakeholdergruppen stattgefunden habe, die Standards dazu strikt gefasst, z.B. durch die im Vergleich zu anderen Richtlinien einzigartige Berücksichtigung einer 'historischen Dimension' der Mangrovenproblematik. Auch in der Umsetzung zeige sich, dass die betroffenen Betriebe bei der Aufforstung sehr engagiert seien und man sichtbare Erfolge dabei präsentieren könne, die Hälfte der ehemals gerodeten Fläche wieder herzustellen und an das noch vorhandene natürliche Ökosystem anzuschließen. „Das ist schön anzusehen, wenn Du auf die Farmen kommst und siehst, die Shrimpsbecken, die müssen halt wirklich auch in der Farm selbst aufforsten. Also nicht […] irgendwo anders Ausgleichsflächen schaffen, sondern wirklich sagen, okay, die und die Becken, die sind vielleicht nicht so produktiv oder hier war vorher Mangrove, da kann ich relativ sicher gehen, dass meine Mangrovenaufforstung da funktioniert, und da lassen sie die dann eben aus der Produktion raus. Und da hat [eine der Firmen z.B.] über 100 ha wirklich Shrimpsbecken stillgelegt und die wieder den Gezeiten zugänglich gemacht. […] Das ist schöne Arbeit, und eben auch inzwischen wieder dem Staat zurückgegeben, sozusagen, die ehemalige Shrimpsfarm ist jetzt um ungefähr 100 ha kleiner.“ (Interview MitarbeiterIn Standard setzende Organisation) Während solche Wiederaufforstungsmaßnahmen den erwünschten Effekt brächten, sei die – gemäß der Richtlinie ebenfalls geforderte – Gestaltung eines positiven Verhältnisses mit den Anliegergemeinden der MangrovenbewohnerInnen viel schwieriger in die Tat umzusetzen. Hier sehe sie noch weiteren Handlungsbedarf seitens Naturland. „Also gerade die Sozialaspekte sind ein Teil, der in den Naturland-Richtlinien verankert ist, zum Beispiel ein freier Zugang zu den Fischbeständen, wo sie eben ihre Muscheln und Krebse und ich weiß nicht was fangen. So rein theoretisch müssten die die Möglichkeit haben, über eine Shrimpsfarm drüber gehen zu kön209 Von einer dieser Firmen konnte ich mir bei einem Zwischenstopp in Riobamba ein Bild machen und von einem Inspekteur u.a. erfahren, mit welchen geschickten (oder je nach Standpunkt: gemeinen) Fragen man wichtige Aspekte wie z.B. den Einsatz verbotener Mittel überprüfen könne. 322 Portraits der Teilfelder nen, wenn sie in dem Bereich immer gefischt haben oder Muscheln gefangen und gesammelt haben, dass sie das dann weiterhin machen können. In der Praxis sieht es nicht ganz so schön aus. Es ist relativ schwierig das umzusetzen, und das ist auch ein Punkt, wo wir von Naturland eigentlich noch verstärkt an dem Thema arbeiten müssen.“ (Interview MitarbeiterIn Standard setzende Organisation) Mit der Kriminalität in Form von Raubüberfällen und Diebstählen, von denen die Farmen regelmäßig betroffen sind, spricht sie einen der beiden Kernpunkte an, die die Umsetzung dieses Richtlinieninhalts erschweren, insofern, dass die Garnelenfarmen den MangrovenbewohnerInnen misstrauen und ihnen stets eine Komplizenschaft mit Diebes- und Piratenbanden unterstellen. „Ein Kritikpunkt ist, dass die Farmen nicht die umliegenden Anwohner beschäftigen, sondern Leute von ich weiß nicht woher holen. Wenn Du dann mit den entsprechenden Farmern sprichst, die sagen, wenn ich hier hin gehe und […] die Leute aus den umliegenden Gemeinden [unter Vertrag nehme], dann sprechen die per Handy mit anderen Nachbarn und sagen: ja hier, das und das Shrimpsbecken wird übermorgen geerntet und jetzt gilt es, einen Diebstahl [durchzuführen]. Also Diebstahl ist ein absolut heißes Eisen, da gibt es immer mal wieder Überfälle, die schieben Wache ohne Ende auf den Betrieben, dann gibt es immer mal wieder Tote, entweder bei den guardias oder bei den pescadores, ziemlich schwierig. Und gerade bei [einer der Firmen], ich weiß nicht ob Du da um die Farm herum gefahren bist, mit den Stacheldrähten da ohne Ende, ist schon beeindruckend...“ (Interview MitarbeiterIn Standard setzende Organisation) Als zweiten Kernpunkt nennt sie auch die grundsätzliche Ablehnung durch die Umwelt-NROs, die für die MangrovenbewohnerInnen eintreten und die die Legitimität der camaroneras aufgrund der angerichteten Zerstörung der Mangroven per se ablehnen. Diese Haltung empfinde sie jedoch als sehr destruktiv und Naturland habe mit dem Richtlinien-immanenten Aufforstungsprogramm einen konstruktiven Weg eingeschlagen, mit dem man auch einen Teil dieser 'historischen Schuld' wieder begleichen könne. „Ein starker Kritikpunkt ist einfach, dass Mangroven zerstört worden sind für die Herstellung der Shrimpsbecken. Gut, aber, ich mein, da können wir nichts mehr dran machen, und ich glaub, mit dem Programm, was wir jetzt gestartet haben von Aufforstung, ist das eine ganz gute Alternative eigentlich, oder ein ganz guter Ansatz, wieder was wett zu machen.“ (Interview MitarbeiterIn Standard setzende Organisation) Was den Handlungsbedarf hinsichtlich des gestörten Verhältnisses zwischen Farmen und Gemeinden angeht, bemerkt sie, dass man die Zertifizierung in der Praxis nur Schritt für Schritt verbessern könne. Irgendwo habe man anfangen müssen, nämlich mit Fragen der eigentlichen Produktion innerhalb der Farmen. Dann habe man sich erst der Larvenproduktion, anschließend dem Mangroventhema zugewandt und die Auseinandersetzung mit den sozialen Problemen mit den Gemeinden könne nun der nächste Schritt sein. „Wenn Du die ganze Entwicklung von Naturland-zertifizierten Bioshrimps siehst, dann kannst Du sagen: gut, am Anfang haben wir erst mal geguckt, wie [...] kann die Shrimpsproduktion im Bereich Farm ökologisch sein. [...] Zwei, drei Jahre, dann war das relativ etabliert. Dann haben wir [...] das Thema Larvenproduktion vertieft, haben [...] ein paar Richtlinien gemacht und die ersten […] Larvenproduktionen zertifiziert. Dann haben wir 2005/2006 extrem das Thema Mangroven angegangen, also wirklich geguckt; gut am Anfang haben wir mehr oder weniger geguckt, ja gut, die und die Luftbilder [stehen] zur Verfügung, die und 323 Kapitel 3 die Satellitenaufnahmen, ja und Pi mal Daumen passt das so. 2005/2006 haben wir wirklich intensiv mit den Betrieben gearbeitet, haben wir das System der […] ersten Mangrovenevaluierung um einiges verfeinert. Jetzt wissen wir, was brauchen wir alles für Dokumente, zumindest hier in Ecuador, um sicherzustellen, dass die Betriebe da die entsprechenden Informationen liefern können, und wirklich auch gute Informationen, oder glaubwürdige, sichere, also wirklich Daten, dass Du auch davon ausgehen kannst dass das Daten [sind], die stimmen oder die allgemein nicht anfechtbar [sind]. Das haben wir dann vor Ort auf den Shrimpsfarmen mit GPS eben nachgeprüft, welche Flächen haben sie an Mangroven. Das war halt früher in den Inspektionen, ja gut, guck mal hier, das haben wir aufgeforstet, da das Becken ist ungefähr 3 ha [groß], dann ist das auch ungefähr 3 ha. Dann sind wir halt mit GPS hingegangen und haben wirklich nachgeprüft. Und ja, jetzt als nächstes Thema müssten […] eigentlich diese ganzen Sozialaspekte mal angegangen werden.“ (Interview MitarbeiterIn Standard setzende Organisation) Mit dem eigentlich deutet sie an, dass dieses Unterfangen einerseits von Naturland gewollt ist, andererseits jedoch zum einen an Ressourcen gebunden ist, die seitens des Verbands und seiner Mitgliedsbetriebe nur eingeschränkt zur Verfügung stünden, zum anderen einen schwierigen Prozess darstellt, bei dem man neben der Überwindung der angesprochenen ideologischen und 'kriminalistischen' Hürden viele Jahre an Aufbauarbeit verwenden müsse, um sinnvolle Resultate zu erzielen. Mitarbeiterin: „[…] Zum einen musst du ja dieses ganze Monitoring machen, dafür brauchst Du Geld, dazu müssen die Betriebe bereit sein, auch wieder zusätzlich eine Finanzierung rauszugeben, und gut: erst mal um einen Status quo zu bekommen, welche umliegenden Gemeinden hat es, haben die umliegenden Gemeinden überhaupt früher hier gefischt oder nicht, oder fischen sie heute hier, und diese ganze Entwicklung, das musst Du darstellen. Und dann musst Du irgendwie noch sozusagen [ein] Programm fahren, ja, und wie kommen die Leute jetzt wieder zusammen, und das ist halt schon schwieriger.“ Stefan: „Gibt es da schon Konzepte oder ist das noch ganz am Anfang?“ Mitarbeiterin: „Also bei Naturland selbst haben wir das Thema ehrlich gesagt nicht weiter verfolgt. Je nach dem was für eine Farm Du auch hast, gucken wir halt schon ein bisschen, ja wie sieht das Umfeld aus? Von [einer Firma] wissen wir halt, dass sie diverse Arbeiten mit den umliegenden Gemeinden machen. Also gerade wenn Du Betriebe hast, die […] in bestimmten Gebieten [liegen], dann weißt Du, gut Du musst gucken, wie ist das Verhältnis mit den umliegenden Gemeinden, da guckst Du schon, ob sie da irgendwas Positives machen, sei es mit Wasser, sei es mit Schulbildung, sei es mit ich weiß nicht was. Aber dieses Thema mit dem freien Zugang, das ist sehr umfangreich. Und was dann eben auch die Umweltverbände kritisieren, ist, dass wir keine entsprechenden Stakeholder-Audits machen, in diesem Sinne, also bevor eine Farm neu zertifiziert wird, einfach alle umliegenden oder alle beteiligten Akteure da zur Sprache kommen können. Das haben wer schon öfters angedacht, das müsste einfach mal umgesetzt werden. Also möglich ist das, eigentlich eine Idee, die wir aufgreifen müssen, aber das dauert halt immer... [Ein Beispiel eines Betriebs in El Oro:] die haben eben dieses Problem, so nach dem Motto, 'die Leute rauben meine Shrimps, wenn sie kurz vor der Ernte sind', so angepackt, dass sie mit den umliegenden Gemeinden gearbeitet haben, und haben eine asociación […] gegründet, haben sich regelmäßig mit denen zusammengesetzt, und haben eben gesagt: okay, jeder von Euch kriegt einen Ausweis, Ihr könnt hier bei uns übers Grundstück gehen, die einen Ausweis haben, und so nach dem Motto, Ihr könnt da fischen und Muscheln sammeln und gleichzeitig könnt ihr eben auch gucken, ob da Leute kommen, die […] hier nicht hingehören. Ja und die haben glaube ich über 10 Jahre gebraucht in diesem Prozess und jetzt funktioniert es, aber jetzt gibt es die Shrimpsfarm nicht mehr...[...] Wenn wir jetzt dann langsam mal anfangen mit diesen ganzen Sozial[aspekten], das ein bisschen intensiver zu machen, dann können wir ja in 10 Jahren mal weiter 324 Portraits der Teilfelder gucken, wie das dann aussieht... Ich würde gern mal so ein Pilotprojekt machen, aber, wie gesagt, da brauchst Du Geld für, da brauchst Du Zeit für, extra nochmal wieder […]. Ich hab einen 12-Stunden-Job, wobei, wenn ich dann mal unterwegs, ich betreue jetzt eben auch noch andere Betriebe in Südamerika mit, da hab ich selbst dann nicht die Zeit zu. Und Naturland hat eben auch nicht die Möglichkeiten, einfach zu sagen, jetzt stellen wir mal jemand anderes einfach noch an, […] um die Sozialrichtlinien sicherzustellen, zu hinterfragen, oder zu verbessern“ (Interview MitarbeiterIn Standard setzende Organisation) Ob eine Fair-Zertifizierung von Garnelen, an der einige Betriebe durchaus Interesse hätten, hier mehr Bewegung reinbringen könnte, bleibe abzuwarten. Begrüßenswert hinsichtlich einer Verbesserung der sozialen und ökologischen Performance der camaroneras, bei denen es große Unterschiede z.B. mit vielen illegalen und problematischen Farmen im Norden (Provinz Esmeraldas) und legalen und gut organisierten Farmen im Süden (v.a. Golfo) gebe, seien die Bemühungen der neuen Regierung, durch ein Dekret den Sektor zu regulieren, laut dem Umweltverträglichkeitsprüfungen durchgeführt, hohe Sozialauflagen eingehalten und illegal angelegte Zuchtbecken an den Staat zurückgegeben werden müssten. Auf Druck der EU müssten zudem inzwischen alle eingesetzten Betriebsmittel beim nationalen Fischereiinstitut (Instituto Nacional de Pesca, INP) registriert und zugelassen werden. Dies seien Verbesserungen auf nationaler Ebene, die einige Probleme entschärfen könnten, die auch den konventionellen Sektor betreffen und ihr bei ihrer täglichen Arbeit mit dem Bio-Sektor helfen würden. Man müsse jedoch erst abwarten, wie sich solche politischen Vorhaben dann in die Praxis umsetzen würden. Mit nunmehr etwa einem Jahrzehnt Zertifizierungspraxis in der ecuadorianischen Garnelenzucht b