V. Die Vaterbücher – Peter Härtling, Elisabeth Plessen 1. Peter

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V. Die Vaterbücher – Peter Härtling, Elisabeth Plessen 1. Peter
V. Die Vaterbücher – Peter Härtling, Elisabeth Plessen
1. Peter Härtling
Leben
-
geb. 1933 in Chemnitz (Sachsen)
-
geprägt von der NS-Zeit und ihren Folgen:
1. Sohn eines Rechtsanwalts, der aus Brünn stammte und seit 1941 in Olmütz arbeitete, 1945
Flucht der Familie nach Zwettl (Niederösterreich)
2. Tod des Vaters in einem sowjetischen Kriegsgefangenenlager, Vergewaltigung der Mutter,
später Niederlassung in Schwaben, Depressionen und Selbstmord der Mutter
-
die 50er Jahre: Journalist, debütierte als Lyriker
-
1965 Mitglied der Gruppe 47, Mitarbeiter im Wahlkontor deutscher Schriftsteller,
1967 – 1973 in der Geschäftsführung des S. Fischer-Verlags tätig
-
danach freier Schriftsteller, politisch engagierter Demokrat, der an Demonstrationen
teilnimmt (Umweltschutz, Friedensbewegung)
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80er Jahre: vertieftes Interesse an Franz Schubert – Seminare und Vorträge über den
Komponisten und verschiedene Liedtexte, Lesungen mit Musikern nach dem Vorbild
der Schubertiaden
-
viele literarische und gesellschaftliche Ehrungen
Allgemeine Charakteristik des Werks
-
Lyrik, Erzählprosa, Drama, Kinderbücher (besonders erfolgreich und anerkannt),
Essays, Publizistik
a) Treffende Charakteristik seines Schreibens anhand von Zitaten
-
Titel der Dresdner Poetik-Vorlesungen Erinnerte Wirklichkeit – Erzählte Wahrheit
(2007)
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„Ich zitiere Welten, die scheinbar vergangen sind, ich hole sie mir zurück, ich räume
Schutt beiseite, und was ich finde, ist das entstellte, aufgerissene Gesicht des
Menschen, der auf der Suche nach seiner Wirklichkeit war, einer Wirklichkeit, die ihm
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eingeredet wurde und die ihn, am Ende, ausstieß.“ (Brief an den Studienrat Dr. S., im
Roman Niembsch)
-
„Härtling tut, was er immer getan hat. Er erfindet, um die Wirklichkeit zu finden.“
(Ludwig Harig zur Novelle Božena)
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„Authentizität ist für mich in gewisser Hinsicht Rekonstruktion, aber eine fiktive.“
(Härtling: Dante war nicht in der Hölle)
b) Zeit und Raum als wichtige Koordinaten des Finden und Erfindens
1. zwei Zeitpunkte, „an denen mir Erinnerung, Verdrängung, Neuerzählung,
Umerzählung extrem klar wurden. Zum einem das Jahr 1945/46, als meine Väter sich
vergaßen und eine neue Geschichte erfanden, zum anderen das Jahr 1989/90, in dem
es wieder so war. Beide Male gab es diesen Druck, die Wahrheit zu erzählen, ob nun
‘45 von außen durch die Besatzungsmächte oder ‘89 von innen. Wenn man aber
aufgefordert wird, die Wahrheit zu sagen, fängt man sofort an zu lügen.“ (Härtling:
Dante war nicht in der Hölle)
2. Heimatsuche des früh verwaisten und vertriebenen Härtling: verlorene Heimat als
Identität von Landschaft, Kulturkreis und Familie: Landschaftskreise des Vaters
(Mähren und Zwettl) und der Mutter (Schwaben)
c) Gliederung der Prosawerke für Erwachsene
-
in den Gesammelten Werken (1993 – 2010), herausgegeben von Klaus Siblewski
1.
Lebensläufe von Dichtern – Niembsch, Hölderlin, Die dreifache Maria
2.
Lebensläufe von Zeitgenossen – z. B. Janek, Eine Frau, Hubert, Felix
Guttmann
3.
Autobiographische Romane – Zwettl, Nachgetragene Liebe, Der Wanderer,
Herzwand
- umstritten, weil:
1. die späteren Musiker-Romane nicht berücksichtigt
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2. die Grenze zwischen fiktionalem (2) und faktualem (1, 3) Erzählen und die Grenze
zwischen biographischem (1, 2) und autobiographischem Erzählen (3) künstlich
konstruiert; Härtling verwischt diese Grenzen immer wieder
3. keine Arbeit mit der Kategorie der Autofiktion
- eine eigene Gliederung
1. biographische Romane, Autobiographik und Autofiktion (darunter Vaterbücher) =
exemplarische Lebensgeschichten aus der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts
2. biographische Künstlerromane über Dichter und Komponisten v. a. aus dem
ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert
Biographische Romane, Autobiographik und Autofiktion (darunter Vaterbücher)
Janek. Porträt einer Erinnerung (1966)
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biographischer Roman
-
Identitätssuche eines entwurzelten böhmisch-jüdischen Knaben aus Brünn, der seinen
Vater nie kannte
-
Ersatzvater = jüdischer Coupletsänger, den im Protektorat Böhmen und Mähren die
Besatzungsmächte und die Gestapo bedrohen
-
Folge: Janeks Widerstand zerbricht, er endet im Wahnsinn
Die Väter. Berichte und Geschichten (1968)
-
Härtling = Herausgeber des Bandes
-
das Bild des Vaters zieht sich wie ein roter Faden durch Härtlings Werk, typisch v. a.
für: Janek, Zwettl, Hubert oder Die Rückkehr nach Casablanca, Nachgetragene Liebe,
Božena
Zwettl. Nachprüfung einer Erinnerung (1973)
-
Report über die Suche nach dem vergangenen Ich und zugleich Dokumentation der
Unmöglichkeit einer wahrheitsgetreuen Autobiographie
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-
ein Text zwischen biographischer und reflexiver Autofiktion
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Flucht der sechsköpfigen Familie Härtling (Vater, Mutter, der zwölfjährige Sohn,
Tochter, Großmutter, Tante) aus Olmütz in die niederösterreichsiche Kleinstadt Zwettl
– der Aufenthalt in Zwettl – Einmarsch der sowjetischen Truppen –
Kriegsgefangenschaft und Tod des Vaters – Faszination des Sohnes von Sitten und
Bräuchen der Russen (Trinken, Tanz, Gesang) –Weiterziehen der Familie
-
das Schlusskapitel Gruppenbild: Biographie der beteiligten Personen, Vorbereitung
des Stoffs für Nachgetragene Liebe, die mit den Ereignissen in Zwettl endet
-
1970 Publikation der Erzählung Zwettl im Waldviertel: Reaktion der Verwandten und
der Bewohner Zwettls = Ergänzung und Widerspruch
-
Folge: noch größeres Misstrauen Härtling in ein Erinnerungsvermögen, das früheres
Geschehen objektiv sehen will; der Versuch, seine eigenen Erinnerungen mit allen nur
erreichbaren amtlichen und privaten Mitteilungen zu konfrontieren und verschüttete
Details ans Licht zu bringen
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Nachprüfung einer Erinnerung aus drei Perspektiven:
1. Perspektive des Kindes – die dritte Person, ein Knaben-„Er“
2. Außenperspektive der befragten Zeugen und Dokumente
3. Perspektive des erwachsenen Autobiographen, der den Ort besichtigt
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Komposition:
1. Verzicht auf chronologische Zeitkonzeption
2. konzentrisch angelegte Rekonstruktion = Abfragung aller drei Perspektiven jeweils zu
derselben Situation, Überbrückung der Lücken durch (gekennzeichnete) fiktive
Passagen
3. Montage: vielfältiger Wechsel von Dialog, Monolog, Dokumentation, Essay und
Nacherzählung
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negativ: zu exakt und zu nüchtern, erschwerte Lesbarkeit, „Proust, aber zu trocken“
(W. Ross)
Eine Frau. Der Roman einer Generation (1974)
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biographischer Familienroman mit realistischen Zügen
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nach den experimentellen Texten (v. a. Zwettl) jetzt die psychische Einheit der Person
an der historischen und sozialen Umwelt entwickelt
-
der Autor verarbeitet z. T. die Biographie seiner Mutter
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-
die Hauptfigur: Katharina Perchtmann, Fabrikantenfrau aus Brünn, findet die andere
Katharina in sich, die Proletin, ihre eigene Geschichte
-
ein metonymischer Titel und Untertitel: eine konkrete Frau steht für eine ganze
Generation
-
mit Heinrich Bölls Roman Gruppenbild mit Dame (1971) vergleichbar
Hubert oder Die Rückkehr nach Casablanca (1978)
-
biographischer Roman, wie in Eine Frau auch hier die psychische Einheit der
Hauptfigur an der historischen und sozialen Umwelt entwickelt
-
die Hauptfigur Hubert: Sohn des SS-Obersturmbannführers Windisch, verleugnet
seinen Vater, lässt sich vom Aufschwung des Wirtschaftswunders nach oben treiben;
Fixierung auf das Männlichkeitsideal, sein Idol = der US-amerikanische Schauspieler
Humphrey Bogart, dessen Filme er nachlebt und der Außenseiter der Gesellschaft
spielt; Ende seines Erfolgs durch den rapiden technischen Fortschritt, sein LebenslaufPlagiat ist funktionslos, der alternde, heruntergekommene Hubert ist unterwegs zu
einem neuen Anfang
-
Huberts Vater = Kollektivfigur für die nicht bewältigte deutsche NS-Vergangenheit
-
Huberts Identitätslosigkeit = Identitätslosigkeit einer ganzen Generation
Nachgetragene Liebe (1980)
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ein Text zwischen biographischer Autofiktion und Autobiographie: „Roman“ (der
Untertitel) – „autobiographischer Bericht“ (Rüdiger Bolz, Walter Schmitz)
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wie in Eine Frau und Hubert auch hier die psychische Einheit der Hauptfigur an der
historischen und sozialen Umwelt entwickelt
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Darstellung der Kindheit bis zum frühen Tod des Vaters, Aufarbeitung der
traumatischen Beziehung: „Er [der Vater] hinterließ mich mit einer Geschichte, die ich
seit dreißig Jahren nicht zu Ende schreiben kann. Ich habe über ihn geschrieben, doch
nie von ihm sprechen können.“ (Nachgetragene Liebe)
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Zeit: 1938 – 1945, Raum: Chemnitz, Brünn, Olmütz, Zwettl
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drei Perspektiven:
1. Vergangenheitshandlung, das erzählte Ich, die Kinderperspektive – Rekapitulation der
wenigen bewusst erlebten Jahre mit dem Vater
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2. Gegenwartshandlung, das erzählende Ich – Aufarbeitung der Kindheitserlebnisse, die
er als Erwachsener versteht
3.
-
Gegenwartshandlung, Du-Form – postume Anreden an den Vater
der Vater Rudolf Härtling: Rechtsanwalt, kunstsinnig, in sich gekehrt; Mühe, die
Familie über Wasser zu halten, Hilfe des Großvaters;
-
das Bild des Vaters in der Erinnerung des Kindes:
1. der Vater als Strafender: Kauf der Mundharmonika mit gestohlenem Geld –
tagelanges Schweigen des Vaters
2. der Vater als Nicht-Verstehender: der Fünfjährige will zum Vater auf dem Dreirad
fahren, er versteht das nicht
3. der Vater als Arbeitender: zwischen schwarzen Aktenschränken eingemauert
-
die zwiespältige Rolle des Vaters in der NS-Zeit – ein differenziertes Bild des Vaters
1. nach Möglichkeite Hilfe für Tschechen und Juden gegen die deutschen Besatzer,
Verteidiger der Opfer der NS-Herrschaft
2.
-
sein Widerstand ist passiv und stumm, loyaler Mitläufer des Regimes
Entwicklung der Beziehung des Sohnes zum Vaters
1. Jugend – vaterfeindlicher Hitler-Junge und Familien-Ekel
2. Gegenwart – langsame Entdeckung der verletzlichen Ohnmacht des nur scheinbar
mächtigen Vaters
-
Interpretation des Titels: Annäherung an den Vater, das Verstehen des Vaters, Suche
nach Harmonie, Suchen und Finden der Sprache über und für den Vater und seine Zeit
-
Härtling widmete sein Buch seinen Kindern
Der Wanderer (1988)
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autobiographische Prosa
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Ausgangspunkt = Franz Schuberts Liederzyklus Winterreise: das lyrische Ich der
vertonten Gedichte Wilhelm Müllers – ein Wanderer, der durch die Winterlandschaft
zieht; Zentralthema – die existentielle Einsamkeit, Schmerz und Leiden
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Härtlings Text = weltgeschichtliches Panorama von Flucht und Vertreibung, Parallele
– existentielle Heimatlosigkeit des Künstlers und das Kollektivschicksal der
Verfolgten in der NS-Zeit und nach dem 2. Weltkrieg (Juden, Vertriebene)
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Felix Guttmann (1985)
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biographischer Roman
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Hauptfigur: jüdischer Rechtsanwalt Felix Guttmann, der im Berlin der 20er Jahre lebt
und sich unter dem Druck der Zeitereignisse für die Auswanderung nach Palästina
entscheidet
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zwei parallele Geschichten:
1. Guttmanns Freund Casimir: als Parabel des Widerstands angelegt
2. die eigene Geschichte des Autors: Suche nach einem Vater und seiner
eigenen Geschichte
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negativ: das humanistisch-moralisch motivierte Geschichtsbild des Autors ist „auf eine
peinlich konventionelle Weise ‚gut gemeint‘“ (Peter Mohr)
Herzwand. Mein Roman (1990)
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ein Text zwischen Autobiographie und biographischer Autofiktion: ein Versuch, „sich
in allen Schichten und Geschichten, in allen Lebensaltern so deutlich
wieder[zu]erkennen“ – „Solange ich mich erfinden kann, gehe ich euch nicht
verloren.“ (Herzwand)
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Gegenwartshandlung = Rahmen: der Ich-Erzähler muss sich einer
Katheteruntersuchung seines Herzens unterziehen, die Behandlung dauert 14 Tage
lang; der Bericht beginnt am 13. Tag, rekapituliert die vorigen und endet mit dem 14.
Tag
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Vergangenheitshandlung = eingeschaltete chronologische Folge der Erinnerungen:
Selbstmord der Mutter, Aufenthalt des Flüchtlings Härtling in der deutschen
Provinzstadt Nürtingen, Schulbesuch, Volontariat bei einer Lokalzeitung, Verfassen
der Heidenheimer Novelle
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Heidenheimer Novelle = komplementäre Geschichte zur Geschichte der Mutter: die
Nachkriegskomplizenschaft zweier SS-Mörder, der eine wurde Kriminalpolizist, der
andere wieder Mörder
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Interpretation des Titels: wie die medizinische Sonde an die Herzwand rührt und das
Innere auf den Monitoren der Ärzte zu sehen ist, so sollen die früher verzweifelt im
Herzen abgewehrten Erinnerungen im Text sichtbar werden
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Božena. Eine Novelle (1994)
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im Mittelpunkt wiederum die autobiographisch motivierte Suche nach der eigenen
Vergangenheit verbunden mit einer fiktiven Geschichte
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1992 der erste Besuch Härtlings in Olmütz seit 1945 – aufmerksam auf das Schicksal
der tschechischen Sekretärin seines Vaters gemacht
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Schließung der tschechischen Universitäten im Protektorat, Boženas Abbruch des
Jurastudiums, verehrende, unbemerkte Liebe zu ihrem Chef, dem deutschen Anwalt
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Boženas Treue auch nach seiner Flucht nach dem Krieg, ihre Ächtung im Sozialismus
als „Deutschenhure“ und Kollaborateurin
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Božena = Opfer der Geschichte der Sieger, ihre Briefe an den „liebsten Herrn Doktor“
(Božena), allmähliches Verstummen
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Boženas nicht abgesandter Abschiedsbrief nach dreißig Jahren an ihn: Erstarren der
Liebe – die politische Macht und die politische Geschichte zerstören die Utopie der
Liebe, Stereotype vom „Deutschen“ und der „Tschechin“ – keine Kommunikation
mehr möglich
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das Thema: nicht ein Hohelied der Treue, sondern der Liebesverzicht Boženas und der
Liebesverrat des Mannes
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Motto aus Jan Skácels Gedicht: „Selbst die Liebe wird gegen uns verwendet“
Leben lernen. Erinnerungen (2003)
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die autobiographische Dominante = die fast verlorene mitteleuropäische Stimme:
Härtlings Suche danach
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die prägende Erfahrung in Härtlings Leben = der Krieg: „Der Krieg raubte mir meine
Eltern und schenkte mir die Gabe, mit den Toten zu sprechen.“ „Ich rede mich zurück
und zugleich heraus, denn nichts wird mir unheimlicher und lästiger als das erinnernde
Kind.“ (Leben lernen)
Die Lebenslinie. Eine Erfahrung (2005)
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eine Antwort auf Herzwand: der Erzähler streift erneut die Todesgrenze, die
Gegenwart des Alterns und der Todesangst
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2. Elisabeth Plessen
Leben
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geb. 1944 in Neustadt (Holstein)
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Gräfin von Plessen, die sich von ihrer adligen Herkunft distanzierte und ihr eigenes
Leben realisiert
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Studium der Philosophie, Germanistik und Geschichte in Paris und West-Berlin –
Kontakt zur APO und zur Studentenbewegung
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Schriftstellerin – Journalistin – Übersetzerin
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seit Anfang der 80er Jahre Lebensgefährtin des Theaterregisseurs Peter Zadek (1926 –
2009): Übersetzung und Bearbeitung v. a. klassischer Theaterstücke für seine
Inszenierungen (u. a. von William Shakespeare, Henrik Ibsen, Anton Pawlowitsch
Tschechow, Luigi Pirandello, Harold Pinter, Sarah Kane)
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lebt in Berlin und der Toskana
Werk
Fakten und Erfindungen. Zeitgenössische Epik im Grenzgebiet von „fiction“ und
„nonfiction“ (1971)
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Dissertation
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das Thema past genau zu ihrem eigenen Schreiben, das sich zwischen Autobiographik
und Autofiktion bewegt
Katia Mann: Meine ungeschriebenen Memoiren (1974)
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Katia Mann = Ehefrau von Thomas Mann
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Plessen = Herausgeberin, zusammen mit Michael Mann (dem jüngsten Sohn Thomas
Manns)
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die Herausgabe der Memoiren beruht auf einer Folge von Gesprächen mit Katia Mann
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Mitteilung an den Adel (1976)
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autobiographisch gefärbter Erstlingsroman, Vaterbuch
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Hauptfigur Augusta = autobiographische Spiegelungsfigur der Autorin: Augusta –
einer der Vornamen der Autorin, auch Journalistin, aus Holstein, Distanzierung von
ihrer adligen Herkunft, Kontakte zur APO und zur Studentenbewegung
-
Handlung: telefonische Nachricht vom plötzlichen Herztod des Vaters und der brüske
Vorwurf der Schwester, Augusta habe ihn auf dem Gewissen; Augustas Schock und
spontane Autofahrt aus München zum Begräbnis nach Holstein; Rückreise =
Erinnerungsreise und Reflexion über die fragwürdige Autorität ihres Vaters und ihre
Trennung von ihm; Schluss = an der Lübecker Bucht, den Familienbesitz fast schon
im Blick, kehrt sie um – endgültige Trennung vom Vater und Entschluss, am
Begräbnis nicht teilzunehmen
-
die Komposition des Textes = 4 Kapitel:
1. Unter dem Glassturz = Erinnerungen an die strenge, unpersönliche Kindheit und
Jugendzeit auf dem gräflichen Gut: der Vater (im Roman distanziert als „C. A.“
bezeichnet) = ein adliger, konservativer Gutsherr, privilegierte anachronistische
Lebensweise, blind gegen alle gesellschaftlichen Umwälzungen, die sich bereits
vollzogen haben, für seine Kinder war er „nicht da“, die siebzehnjährige Augusta
erklärt dem Vater, er „kotze sie an“ (Mitteilung an den Adel)
2.
Post festum = Auseinandersetzung mit der Rolle des Vaters in der NS-Zeit: Vater –
ein Hitler-Gegner, trotzdem Anpassung und kein Widerstand; unmittelbare
Nachkriegszeit – Verfassen eines Rechenschaftsberichts, den er der Tochter als
Beweis seines Vetrauens zu lesen gibt, Augustas Reaktion – „Ausreden“, keine
Annäherung, sondern weitere Entfernung
3. Lokaltermin: Augustas Ausbruch aus dem Elternhaus – eine Art „Emigration“ nach
West-Berlin – Studium – Anschluss an die Protestbewegung 1967/68; der Vater
bemüht sich um Verständnis – auf einem seiner West-Berlin-Besuche Besichtigung
des APO-Milieus in der Begleitung der Tochter – sein Schock und seine Drohung,
Augusta mit ihren Freunden niederzuschießen, falls sie in deren Begleitung zu Besuch
nach Hause kommt; der Abbruch der Kontakte
4. Im Kaleidoskop = die verfremdende Perspektive von Freunden, bei denen Augusta auf
ihrem Weg nach Hause Station macht: Augustas Fazit: „Dann hat er sich selbst auf
dem Gewissen.“; die Überzeugung des Vaters, die Tochter könne wiederkommen,
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„wenn sie wolle“, nur „den ersten Schritt“ (Mitteilung an den Adel) müsse sie tun, das
will sie aber auch nach seinem Tod nicht tun – Abbruch der Reise, Augusta
telegraphiert der Familie, dass sie dem „Ritual“ (dem Begräbnis) fernbleiben will, d.
h. Augusta = stur und unnachgiebig wie ihr Vater, keine strahlende, von einem
autoritären Vater emanzipierte Siegerin
-
Mittelpunkt des Textes = der Vater-Tochter-Konflikt: nicht nur auf der persönlichen,
sondern auf der gesellschaftlichen Ebene: auswegloser Generationskoflikt = beide
stehen zueinander „wie die Hirsche mit dem ineinadner verhakten Geweih“
(Mitteilung an den Adel); C. A. – Verkörperung der ideologischen Borniertheit,
machthabender Repräsentant des ständischen Rollensystems, Augusta – Rebellin, die
innerhalb dieses Systems nicht zur Verwirklichung ihrer selbst gelangen kann
-
keine Schwarz-Weiß-Schilderung der beiden Hauptfiguren: C. A. und Augsta = keine
vereinfachten Typen, sondern komplizierte Charaktere
-
andere Figuren = die Mutter, die Verwandten, die Kinderfrau: treffend gesehen und
fixiert, z. B. ein Münchner Freund = kein wirklicher Partner Augustas, sondern
skeptisch bedachte Wunschvorstellung einer ersehnten neuen Bezugsperson
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Form: Montage von Erinnerungen, Träumen, Gesprächen und Aufzeichnungen
-
durch diese Form ein hoher Grad der Objektivation erreicht: Plessens subjektiver Ansatz
führt zur Erhellung objektiv-gesellschaftlicher Gegebeheiten
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zumeist positive Aufnahme in der Literaturkritik
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unmittelbare Rezeption bei den Lesern: Breitenwirkung (bemerkenswerter
Verkaufserfolg) – Gründe:
1. der Aufstand einer jungen Aristokratin gegen ihre Herkunft = ein exklusiver Spezialfall der
jugendlichen Revolte
2. verkürzte autobiographische Lektüre des Texte im Sinne des DokumentarischAuthentischen
3. die Radikalität und das konsequente Handeln der Hauptfigur erweckten Sympathie
4. die rekapitulierende Selbstvergewisserung im Rückblick auf die Studentenbewegung und
die APO entsprach der Situation der ehemaligen Rebellen, die ihren Protest nicht vergessen
und nicht widerrrufen wollten
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Kohlhaas (1979)
-
s. nächstes Kapitel
Der Knick (1997)
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Roman, ein vielbeachtetes Comeback der Autorin nach literarisch nicht überzeugenden
Texten in der Nachfolge von Kohlhaas
-
die Hauptfigur = gefeierte Schauspielerin Vera Miller: Ende vierzig, egoman –
hypochondrisch – sehr sensibel – unter Leistungsdruck (Publikum, Kritiker);
Tablettensucht – die steigernden Symptome der Abhängigkeit = Anlass zu noch stärkerem
Pillenkonsum, keiner der Leibärzte der prominenten und zahlungskräftigen Patientin sagt
ihr die Wahrheit, niemand verweigert ihr weitere Verschreibungen
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Nicolas = Veras Eheman: Rundfunkredakteur und Chef einer Hörspielabteilung, steht
Vera zur Seite, obwohl ihr Verhältnis problematisch ist
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der Kurzurlaub des Paars in Italien: Veras Zusammenbruch und radikaler Entzug in einem
abgelegenen alten Pfarrhaus zehn Tage lang; sie sieht in dem sich aufopfernden Partner
den Feind, der ihr Tabletten verweigert, Nicolas - unbefristet beurlaubt, Verzweiflung,
doch Vera scheint gerettet; Sich-Wiederfinden des Paars
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offener Schluss – Wird es ihr gelingen, auch ohne Medikamente das frühere Niveau zu
erreichen?
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nicht nur eine Liebesgeschichte mit HappyEnd, sondern vielmehr eine präzise, fast
protokollarische Darstellung der Tablettensucht und exemplarische Behandlung des
Leistungsdrucks, eines typischen Phänomens der Gegenwart
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negativ = zu vordergründige Parallelisierung der persönlichen Geschichte Veras mit dem
Zeitgeschehen: die Stagnation in der Ehe – die bleierne Zeit der 80er Jahre, Ende von
Veras Leiden – der Fall der Berliner Mauer
Das Kavalierhaus (2004)
-
autobiographisch gefärbter Roman, der uns zeitlich vor die Handlung in Mitteilung an den
Adel führt: Adenauerzeit der 50er Jahre
-
die Hautptfigur = Teenager Elisabeth, von ihren adligen Eltern in ein Internat für „höhere
Töchter“ geschickt, nach den unbeschwerten Tagen auf dem Gutshof ihrer Eltern
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Hilflosigkeit gegenüber der Kontrolle der Erzieherinnen, kindlich-naive Rebellionen
(Fluchtversuche, Essensverweigerung)
-
der Aufenthalt im Internat = die bleierne Wartezeit auf das Leben
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das Bild des Internats (ein Teil davon ist das Kavalierhaus): eine teils sehr düstere Welt
für sich, in der die NS-Vergangenheit des Landes ausgeblendet wird, obwohl Lehrer,
Erzieher, die Eltern der Schülerinnen direkt damit zu tun hatten oder indirekt betroffen
waren; einerseits Gefängnis, andererseits aber auch ein Ort, von dem man sich
wegträumte – mit Hilfe von Kunst, Dichtung und Musik
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das Buch schlägt zugleich heitere und komische Töne an und erinnert vom Aufbau her „an
eine Sonate“ (Paul Michael Lützeler)
-
meisterhafte Verknüpfung des Autobiographischen und der Zeitgeschichte
Literaturhinweise
Best, Otto F.: Elisabeth Plessen: Mitteilung an den Adel. In: Jens, Walter (Hrsg.): Kindlers
neues Literatur-Lexikon. Studienausgabe. 21 Bde. Bd. 13. Pa-Re. München: Kindler, 1996. S.
449-450.
Bolz, Rüdiger: Peter Härtling: Nachgetragene Liebe. In: Jens, Walter (Hrsg.), Bd. 7. Gs-Ho.
München: Kindler, 1996. S. 156.
Bolz, Rüdiger: Peter Härtling: Zwettl. Nachprüfung einer Erinnerung. In: Ebd., S. 157-158.
Durzak, Manfred: Authentizitätsliteratur: Die Vaterbücher. In: Barner, Wilfried (Hrsg.):
Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. 2., erw. Aufl. München:
Beck, 2006. S. 617-620.
Durzak, Manfred: Erzählen im Kontext der Frauenliteratur. In: Ebd., S. 609-617.
Kurzke, Hermann: Orientierungen der Prosa. In: Žmegač, Viktor (Hrsg.): Geschichte der
deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Band III/2. 1945 – 1980. 2. Aufl.
Weinheim: Beltz Athenäum, 1994. S. 556-573.
Lüdke, Martin: Härtling, Peter. In: Killy, Walther (Hrsg.): Literaturlexikon. Autoren und
Werke deutscher Sprache. Berlin: Directmedia Publishing, 2005. Bd. 4, S. 459-460. [= CDRom.]
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Puknus, Heinz: Elisabeth Plessen. In: Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.): Kritisches Lexikon der
deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Ordner 10. O-Rot. 4/2001. S. 1-11 und A-E.
Schmitz, Walter: Peter Härtling. In: Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.), Ordner 5. Gr-Hep.
1/2008. S. 1-24 und A-V.
www.härtling.de
http://www.perlentaucher.de/autor/elisabeth-plessen.html
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