Dana und Jana
Transcription
Dana und Jana
Simon Anatol Weber Dana und Jana Simon Anatol Weber Dana und Jana Ein Brief wird geschrieben, nachdem der Zeitpunkt, ihn abzuschicken, verpasst wurde, und auch, weil die vorausgegangene Korrespondenz nie wirklich zustande kam. Er gibt dem Absender die Gelegenheit, die ihm der Adressat verwehrte. Der Brief rechtfertigt sich aus der Vergangenheit, in deren Gegenwart er einzig noch sein Recht hätte, nachdem die Zukunft sich in der Aussicht bereits vergangen fühlt. Er steht ein für ein Ziel, das ihm nie wirklich bevorstand: er vergrößerte die Distanz gar, die er aufrichtig überwinden wollte, so wie viele Menschen insgesamt ihre einmal eingenommene Distanz nur dadurch zu bewältigen scheinen, dass sie sie noch vergrößern. Darum distanziert sich nun auch der Autor nachträglich, zumindest von der Erstgenannten: einzig als literarische Studie soll der Brief noch etwas gelten. ERSTER TEIL Liebe Dana, ich sehe Dich noch immer vor mir: Dein dunkelblondes Haar fiel in leichten Wellen an Dir herab – Du hast es später nie mehr so offen getragen; nur einmal oben im Restaurant, das war Ende August, hast Du es zur Hälfte offen gelassen, die vordere Partie abgeteilt und mit einem Reif aus der Stirn gehalten, die übrigen Haare nach hinten zu einem kessen Pferdeschwänzchen zusammengezogen: das hat Dir fast noch besser gestanden -, Du hattest für ein paar Minuten keinen Tisch zu bedienen, es war ja auch erst später Nachmittag, und so bist Du in den Eingang getreten, wo ich an der einen Seite angelehnt stand, weil ich schon wieder den ganzen Nachmittag an der Bar saß und mal stehen musste, und vielleicht auch, weil ich wusste, dass Du ja gleich wieder vorbeikommen würdest – ich weiß nicht mehr, ob ich es bewusst gemacht habe, und Du hast Dich mir gegenüber an das furnierte Eichenholz angelehnt, tief durchgeatmet und Deinen Kopf etwas seitlich leicht nach oben geworfen, und ein bloßes „Na?“ war erfüllt von einem Ton von Weltgewandtheit und Unvoreingenommenheit, von Aufgeschlossenheit, ein bloßes „Na?“ wandte sich der Welt, wandte sich mir zu, drang in gefestigtem Ton zu mir herüber, durchdrang die stehende Luft, aufgehellt von dunkelblondem Haar, das von der Juliluft mit jeder Brise leise angehoben wurde und wieder herabfiel, ungezwungen offen herabfiel, weltgewandt gewellt im Widerschein von dunkelblondem Glanz, bei jedem Wehen wieder, wider und wieder, als ob Deine Haare die Welt umwehten; in ihrem Wehen, in jeder Welle, in jeder Strähne lag die Weitläufigkeit der Welt, je höher der Wind sie anhob, als ob ihre Spitzen die Welt umschlossen; cremeweißes Licht fiel ein in den braunen Schatten des Eichenholz, hellte die braunen Halbschatten auf Deiner Stirn und Deinen Wangen auf, und in dem bloßen Wort verbarg sich respektvolle Neugierde als der jüngeren von uns beiden, gefärbt von der Dankbarkeit, dass uns die Zufälligkeit des Augenblicks die Gelegenheit gab, uns zum ersten Mal überhaupt richtig zu unterhalten, oder wenigstens in der Kürze des Augenblicks ein paar Worte miteinander zu wechseln. (Oder hab nur ich das so empfunden?) Und es gab mir die Gelegenheit, Dich zu fragen, was Du denn gemacht hast, und Du hast mir, nicht ohne einen entschlossenen Stolz, und doch mit einer liebenswürdigen Bescheidenheit, geantwortet und Deine Stimme wurde getragen von der Gewissheit über das in Deinen jungen Jahren bereits erreichte - in jungen Jahren warst Du in die große Stadt gezogen und hattest, ganz auf Dich allein gestellt, Deine Ausbildung dort abgeschlossen und Dich im Anschluss daran selbst belohnt mit einer ausgedehnten Reise, mit der Du Dir einen langgehegten Traum erfüllt hast -, getragen von gewachsenem Selbstgefühl und dem hart erarbeiteten Vertrauen in die Zukunft. Es war dieses eine Wort, das ja eigentlich nur eine Berufsbezeichnung ist, aber so wie es Deine Lippen formten, erhielt es in meinen Ohren einen ganz einzigartigen Klang. „Hotelfachfrau!“ Und so, wie Deine Lippen die Laute formten, formten auch die Laute Deine Lippen, formte Dein Atem Deine Lippen: in der atemschweren Schwüle gewährte Dein Atem mir die einzigen Luftzüge, hauchte Dein Atem das Wort in die laue Luft, umschlossen von der kaum zu durchdringenden gestauchten Hitze, und mit einem Male erhielten Deine Gesichtszüge für mich etwas Sinniges, etwas ganz für sich Stehendes; denn ich hatte Dich bislang nur von der Seite betrachten können, da ich ja meist an der langen Seite der Bar saß und Du immer nur seitlich zu mir standest, wenn Du die Getränke abholtest. Und ich muss Dir gestehen, dass ich anfänglich mit Deinen etwas scharfen Gesichtszügen nichts anfangen konnte, und ich immer, wenn ich versuchte, das Besondere, Vollkommene in Deinem Gesicht zu finden, ich ausgerechnet in Deinem Lächeln eine Schärfe empfand, die die einzelnen Züge nicht recht zusammenfinden ließ; Deine Haare schnitten im Profil Deine vordere Gesichtshälfte aus Deinem Antlitz heraus, während schon die Wangen und erst recht alles, was dahinter liegt, für meine Blicke unerreichbar im Verborgenen blieben. So war es mir unmöglich, Dein Gesicht in seiner Vollkommenheit zu entdecken. Aber ich möchte Dich mit solchen Worten nicht verletzen. Vielleicht hätte ich das jetzt nicht schreiben dürfen. Es lag ja an mir, an meiner ganz persönlichen Wahrnehmung; und natürlich auch daran, dass ich nicht zu offensichtlich schauen wollte; denn ich spürte durchaus, dass ich mich von etwas angezogen fühlte: etwas, das sich mir aber nicht gleich erschloss und von dem ich mich doch angezogen fühlte, und nach dem ich bei jedem Blick suchte. Mit jedem Gang, wenn Du wieder Getränke abholen kamst, näherten sich mir Deine Züge durch den Schatten Deiner Haare, durch den Schatten des Unbewussten, Unvermuteten. Ich spreche es nur aus, damit Du verstehst, wie sich in jenem Moment, als wir uns im Eingang gegenüberstanden, meine Lunge aus der Tiefe heraus plötzlich dehnte, mein Brustkorb von einer entspannenden Wärme durchflossen wurde, wie sich die Enge, die ich zwischen meinen Schläfen empfand, für einen Augenblick wenigstens weitete, der Druck sich löste. Dein Gesicht reflektierte das cremeweiße Licht, und das lichtblaue Leuchten Deiner Blicke drang durch meine trüben Pupillen und hellte die dunkle Tiefe auf: die weißblauen Schatten mischten das Schwarz aus und zerflossen an den Rändern – doch es blieb ein cremeweißblaues Loch in unendlichem Schwarz, in der Unendlichkeit meines inneren Raumes. Ich spreche es nur aus, damit Du erfährst, wie weit auseinander die beiden Eindrücke lagen. Und heute, nachdem ich an jenem Tag im Juli zum ersten Mal die innere Logik Deiner Züge begriff und sie sich an diesem Tag in ihrer einmaligen und seltenen, aber aus solcher Seltenheit erwachsenden Vollkommenheit mir ins Gedächtnis einschrieben, lassen sie mich nicht mehr los: ich trage sie seitdem mit mir herum, als ob Du sie mir als Andenken überlassen hättest; und in der Tat wirst Du sie, wenn Du bald wieder zurück in die große Stadt ziehen wirst, mir ohne Dein Zutun zurücklassen, wie etwas, das sich von Dir gelöst hat und doch unablösbar bleibt von Dir; mit dem ich Dich in meiner Vorstellung festhalten kann, auch wenn Du schon lange fort sein wirst. So gibst Du mir etwas von Dir, ohne dass Du Dich mir hergibst, auch wenn ich alles dafür geben würde; aber so vergibst Du Dir doch nichts. Ist das nicht für beide Seiten O.K.? Ich nehme mir ein Stück von Dir, ohne dass ich Dich dafür einnehme, und Du lässt mir etwas, ohne Dich mir zu überlassen. Deine Züge jedenfalls haben ihre Eigenwilligkeit für mich behalten, aber im eigentlichen und positiven Sinn des Wortes: aus jedem Deiner Züge, aus jeder einzelnen Bewegung Deines Gesichtes oder einzelner Partien spricht ein ganz eigener Wille, der Ausdruck einer starken Persönlichkeit, und ich möchte Dich nochmals um Nachsicht bitten, wenn ich Deine Züge nicht gleich mochte, weil ich sie nicht begriff, weil ich sie nicht verstand – verstehst Du mich? -, und heute schätze ich Dich genau dafür, und ich schätze Dich insbesondere für das, was Du mit Johannes Brahms gemeinsam hast. Brahms schämte sich eine Leben lang dafür, und er glaubte, es verstecken zu können, indem er sich in späteren Jahren einen Bart wachsen ließ, was damals durchaus nicht unüblich war, weshalb es auch kaum jemand durchschaute - was Du natürlich nicht kannst. Aber Du brauchst Dich ja eben auch nicht dafür zu schämen. Nun hab ich genau genommen wieder so eine Unbedachtheit begangen; denn in dem Moment, wo ich Dir gestehe, wie sehr ich mich davon angezogen fühle, habe ich Dich eben auch darauf angesprochen und vielleicht Deine Gefühle eher verletzt als bestärkt, und wohlmöglich fühlst Du Dich jetzt noch beschämter? Wie gerne würde ich sie berühren, und Du brauchst sie auch nicht immerzu zurückzuziehen – Dana. Darf ich Dich, um Dir mein ganz ehrliches Entzücken zu bezeugen und als Ausdruck meiner aufrichtigen Zuneigung zu Dir, in Zukunft ganz liebevoll Dana Brahms nennen? Aber eben nicht zum Spott, sondern in ganz inniger und tief empfundener Zuneigung und in vollem Respekt vor Deiner Person. Ja, so war das bei Dir. Bei Jana war das anders. Jana, liest Du überhaupt mit? Der Brief ist doch auch an Dich gerichtet, auch wenn ich mich zuerst an Dana wende. Aber das liegt nur daran, dass Du schon so lange weg bist, weggezogen in die große Stadt, in der Dana schon mal war, in der Du jetzt lebst, und in die Dana bald wieder zurückkommen wird, und in der Ihr dann beide studieren werdet. Deshalb habe ich mich zuerst an Dana gewendet. Ich komme gleich zu Dir. Dana, Deine Blicke stehen noch immer vor mir, aufgehangen in der Tiefe des Raumes, sie scheinen sich aus Deinen Augen zu lösen und durchdringen das gelblich schimmernde Dunkel, das der Rauch gerade noch durchlässt, sie eilen Dir voraus, sie durchbrechen die dicht zusammenstehenden Gäste, sie erreichen mich, noch bevor ich ihrer gewahr werde. Ich suche sie, bewusst, aber noch bevor Du die Stufen hinauf zum Bistro in eilig routinierten Schritten nimmst, nehme ich sie wahr, ohne sie zu sehen, ich erfasse sie, sie ergreifen mich, die überlegene Kraft dessen, der seinen Beruf gelernt hat, durchdringt mich, der Strahl erhabener Gewichtigkeit, der Deinen Pupillen entfährt, umgeben von der unendlichen Tiefe Deiner Augäpfel. Der Glanz Deiner Augen hebt sich allmählich vom Dunst des stehenden Rauches ab und durchdringt ihn, strahlt durch ihn hindurch, begrenzt durch Deine scharfen Augenbrauen; sie konturieren die Tiefe Deiner Haut, die im Widerschein der bräunlich gelben Wände an Deinen Schläfen und Wangen verfließt, und spiegeln die Stärke einer jungen und dabei so souveränen Frau, auf deren Stirn der Schweiß ihres Selbstvertrauens schimmert, getragen von der bedeutungsvollen Schwere ihrer Schritte. Sie dringen in mich ein, Deine Blicke. Im goldgelben Licht, das die Torblenden der kleinen Scheinwerfer streuen, werden sie durchbrochen, aber sie brechen zugleich den gelblich braunen Dunst des Raumes auf, sie bahnen sich ihren Weg durch die Tiefe des Raumes, im goldgelben, safrangelben Licht werden die Grenzen Deines Gesichtes unscharf, das Licht legt sich auf Deine Haut, sättigt sie, über Deine Wangen und Deine Stirn fließen Halbschatten, eilig wechselnd mit Deinen Schritten, Deine Haut saugt das Gelb in sich auf, unscharf, goldgelb, gelb, aber aus dieser gesättigten Unschärfe treten Deine Züge um so kräftiger hervor; Deine Augenbrauen kontrastieren nicht nur den Glanz Deiner Haut, sie kontrastieren den ganzen Raum, die gelbbraun gehaltenen Wände, die vom Goldgelb verblendeten Bilder, sie kontrastieren selbst die Gäste, und aus der Tiefe der Sättigung strahlen Deine Augen, Deine Blicke durchstreifen die Räume, das Bistro, das Parterre, aber auch, wenn Du einen Tisch verlässt, auch dort Du, wo schon nicht mehr bist, stehen sie weiter im Raum, Deine Blicke, wie in den Raum geheftet, sie stehen, selbst wenn Du Dich umdrehst, noch vor mir, stehen hinter Dir – Du gehörst zu den Menschen, die auch hinten Augen haben: ich sehe Dich auf und ab gehen, bald wirst Du nicht mehr da sein, wieder zurück in die große Stadt gehen, ich sehe Dich auf und ab gehen, schaue Dir nach, sehe Dich eintauchen in das goldgelbe Licht, auf und ab gehen, in das goldgelbe – gelbe Licht – goldgelbe Licht – Deine Blicke kommen auf mich zu, meine Blicke verlieren Dich – bald wirst Du - ich sehe Dich auf und ab gehen – nicht mehr da sein –nicht mehr –in der großen Stadt – nicht mehr sa sein - ich schaue Dir nach, wie Du die Stufen zum Bistro – eingetaucht in das goldgelbe - ocker – braun – erdbraun - Kaffee – dunkel – sehe Dich eintauchen in das goldgelbschwarze – ich höre Stimmen – mein Blick wird immer enger, dunkle Schatten drängen den Raum zusammen, die Wände entfernen sich, treten auseinander, Deine Blicke werden in der Entfernung nicht mehr greifbar, die Räume brechen auf; obwohl Du die Stufen runterkommst, trittst Du auf der Stelle, zwischen uns schiebt sich die Unendlichkeit der Räume, die keine mehr sind, weil die Wände auseinandertreten, Deine Blicke stehen zwischen uns, Deine Augen trennen sich von Deinen Blicken, die Tiefe Deines Gesichtes wird unendlich, ich schaue durch Deine Augen hindurch, Deine Blicke lösen sich auf, ich sehe Dich die Stufen herunterkommen, ich sehe Dich die Stufen herunterkommen –die Stufen herunterkommen – sehe Dich – die Stufen – sehe Dich herunter – die Stufen herunter – die Stufen – sehe Dich herunter – runter – in der Ferne ruft jemand „Aufzug!“ - mein Kopf nickt nach unten weg, ich bekomme einen seitlichen Schlag, jemand drückt meinen Kopf unter Wasser... So saß ich oft da. Habt Ihr es eigentlich von Euch aus bemerkt? Ich weiß nur, dass ich es Dir, Jana, schon bald, nachdem Du Dich die ersten Male zu mir an die Bar gesetzt hast, gesagt habe. Und Dana? Sie wird es vielleicht von selbst bemerkt haben, oder Du hast es ihr erzählt. Irgendwann später, im Innenhof, als ich glaubte, mich rechtfertigen zu müssen, weil ich nicht von eigenem Geld lebe – ich weiß, dass Du, Dana, das niemals von mir verlangt hättest, Du hättest mich auch niemals darauf angesprochen, aber ich wollte mich erklären – habe ich es Dir dann selbst gesagt. Aber ich habe in Deinen Augen gesehen, dass Du es Dir nicht wirklich vorstellen konntest. In Deinen Augen lag der Ausdruck ehrlichen Bemühens und die Bereitschaft, mir zu glauben: geglaubt hast Du es vielleicht auch, sogar ganz bestimmt, weil auch Du in jungen Jahren schon einiges erfahren musstest und Dich diese Erfahrung auch meine Leiden erfahren lässt. Du kannst es Dir vielleicht vorstellen, aber nicht wirklich wissen, einfach, weil das niemand kann. Ich konnte es auch nicht – vorher. Ich hatte gewiss schon davon gehört, von anderen. Ich hatte vielleicht eine Vorstellung davon, aber ich hätte mir niemals vorstellen können, dass es mich selbst betreffen würde. Und deshalb, Dana, sehe ich Dich auch nur noch ungenau vor mir, wie Du mir damals, im Juli, im Eingang gegenüberstandest. Und das liegt nicht in der normalen Erscheinung begründet, dass sich jede Erinnerung irgendwann auflöst; sondern weil ich seit vier Jahren alles nur noch durch ein Guckloch sehe und die Welt nur noch wie eine Guckkastenbühne wahrnehme, auf der Szenen sich in der räumlichen Tiefe grauschwarzer Wände abspielen, umgeben von unendlichem, drückenden, bedrängenden Dunkel, aber ich selbst kein Teil mehr davon bin. Meine Wahrnehmungen sind ständig umgeben von dunklen Schatten, mein Kopf fühlt sich an wie in einen Rahmen gepreßt, der auf die Schläfen drückt. Alles, was ich höre, klingt weit entfernt, und was ich sehe, sehe ich wie jemand, der morgens aus einem abgedunkelten Zimmer ins Tageslicht hinausschaut; oder vielleicht hilft Dir die Vorstellung, wenn nach anhaltendem, starken Regen endlich die Wolkendecke aufreißt und von gleißend gelblich, weißem Licht durchbrochen wird, und die feuchte Luft und die nassen Wege und Straßen das gleißende Gelbweiß grünlich reflektieren und die Wahrnehmung unwirklich erscheinen lassen, weil die Atmosphären nicht zu einander passen: auslaufende gelbweiße Lachen auf dunkelblau-grauem Asphalt, scharfe Linien trennen den rot, blau und gelb aufleuchtenden Anstrich von Häusermauern von den übrigen Fassaden, die im grau abgemischten roten, blauen und gelben Schatten der Wolken verdeckt bleiben. Deine Züge blieben vor meinen Linsen getrübt, und auf Deinem Gesicht lagen dunkle Flecken. Das cremeweiße Licht an jenem Julitag erleuchtete Dich, aber es drang nicht durch meine verengten Pupillen in das Dunkel zwischen den Schädelwänden, und alles Licht, was mich erreichte, war indirekt und remittiert; aber eben remittiert von Dir. So kannst Du vielleicht ermessen, wie sehr mich Deine Erscheinung berührte, wie sehr Deine Blicke meine Blicke fesselten - Dana! Und doch, meine Arme spannten, verkrampften sich von innen her zu einem kaum mehr auszuhaltenden Druck, der außen, an der Haut, in ein Gefühl von Taubheit überging, taub gegen jede Temperaturempfindung, unempfindlich gegen die flaue Brise der Juliluft, in jenem Augenblick: sie umweht meine Haut, aber sie kühlt mich nicht. Ich sehe sie, aber ich fühle sie nicht, fühle keine Kühle, kühle mich stattdessen an Deiner Bluse, unter die die flaue Juliluft sich legt, sie durchflutet und sie immer wieder leicht anhebt und aufwallen lässt, sie flattern lässt, sie in Falten legt. Ich kühle mich an Deiner Kühlung, aber nur mit meinen Augen. Gegen meine Gefühlstaubheit kommt die Brise nicht an, käme sie auch noch so kraftvoll. Und selbst jener Moment, als mich Deine Erscheinung zum ersten mal so stark anzog, dass die Kraft Deiner Blicke und Nahbarkeit Deiner Stimme mich für diesen einen, kurzen Moment von Wärme durchströmen ließen, blieb die Wärme aufgestaut, zurückgestaut in der verkrampften Muskulatur, durch den nicht nachlassenden Druck, der sich zwar verschiebt, aber nicht weicht: sie sperrt sich der Wärme, so wie sich meine Gedanken mir sperren, so wie ich in der Tiefe meines inneren Raumes nicht mehr auf meine Worte zugreifen kann, die hinter einer unsichtbaren Wand hinunterfallen, hinter der sich meine Gedanken verlieren, hängen bleiben, entgleiten: unterbrochene Gedanken, unfertige Sätze, Teile von Worten, Silben, die ich suche, von denen mir nur noch ihr ungefährer Klang vor meinen Augen steht, aber sie selbst mir nicht mehr geläufig sind, an denen meine Gedanken hängen bleiben, sich stauen: aufgehangen, synkopiert wie der Ausschnitt einer Melodie, die immer aufs Neue ansetzt und doch an derselben Stelle hängenbleibt – so wie mich so manche Melodie in diesen Tagen verfolgte: sie folgen mir überall hin. Aber die Phrasen finden in meinem Inneren keine Fortführung, sie begehren immer wieder auf und brechen jäh ein: sie setzen immer wieder neu ein, noch bevor sie ausklingen, sie überholen sich selbst, so wie meine Atmung immer aufs Neue in sich zusammenfällt und mein Kopf unter der Last der durch das Netz meiner Intention durchschlüpfenden, wegbrechenden Gedanken einbricht, sie werden ein ums andere Mal von einer undurchdringbaren Wand abgelenkt, wie von einem Magneten weggelenkt, versinken in der Tiefe des Dunkels und verlieren sich hinter der Wand, einem bedrängenden Druck, der die Gedanken nicht mehr durchlässt, ehe sie aus einer Kreisbewegung wieder auftauchen und wiederum auf jene Wand zu drängen, gegen sie anrennen, abprallen, wieder auftauchen und wieder auf jene Wand zu drängen, abprallen - wieder – wieder zu drängen, abprallen, auftauchen, abprallen, wieder – wieder – eine Wand, an der meine Gedanken abbrechen, die meinen Willen nicht mehr durchlässt, hinter der die Worte, die meine Gedanken leiten sollten, verloren gehen; je mehr ich versuche, die Gedanken festzuhalten, verlieren sie sich in ihren eigenen Gängen, und die Worte, die ich erwische, sind andere, und sobald ich meine Gedanken an ihnen aufbaue, ist der Raum wieder leer: ich kann sie nicht mehr nachvollziehen, ich kann meine Gedanken nicht mehr nachvollziehen: meine Gedanken verlieren sich in sich selbst. Liebe Jana, nun komme ich endlich zu Dir. Vielleicht bist Du jetzt enttäuscht, weil ich mich so lange mit Dana aufhalte, und vielleicht glaubst Du mir jetzt nicht mehr, dass die Wertschätzung, die ich Dir gegenüber so oft bekundet habe, aufrichtig war, dass sie von wirklichem Respekt getragen war, dass ich Dir echte Gefühle entgegengebracht habe, dass sie ganz tief empfunden waren, aus meinem Innersten heraus, dass sie überhaupt empfunden waren, dass es überhaupt Gefühle waren – und dabei weiß ich noch nicht einmal, ob Du diesen Brief überhaupt jemals in Deinen Händen halten wirst, ob ihr beide ihn jemals vor Euch liegen haben werdet. Dann jedenfalls würden sich meine Gefühle für Dich, und auch die Aufrichtigkeit der Worte, die ich immerzu für Dich fand, aus dem, was ich Dir schreibe, so hoffe ich jedenfalls, ergeben. Jedes einzelne Wort, das ich jetzt, im Nachhinein, Monate danach für Deine Person finde, versuche ich aus der Erinnerung an das, was ich Dir damals über Dich gesagt habe, wiederzufinden, oder, sofern meine Erinnerung nicht mehr an meine Worte zurückreicht, neu zu finden, und doch fällt es mir schwer, mich in meiner Erinnerung an Dich zurechtzufinden. Sie sind zerfressen, angenagt, wie Bilder, auf feinem Stoff gedruckt, der von Motten zerfressen ist, dunkle Löcher, die zu den Rändern hin ausgefranst, angezackt sind. Und dann sind es umgekehrt wieder die fortwährenden diffusen Flecken, die sich über die Bilder legen, sie ins grauschwarze abblenden, bis sie schließlich die Erinnerungen ganz eintrüben. Dazwischen blinken die Momente auf, in denen ich Dich erleben konnte: wie Lichtflecken blenden sie die Trübung ins Gelbweiße, Zitronengelbe auf, sie brechen den Gesichtskreis, der durch den Druck in meinem Kopf immer weiter eingeengt wird, heute noch mehr als damals zusammengedrückt wird, auf, Momente, in die sich Deine Blicke eindrücken und mich ergreifen, tiefe, einstige Blicke, die den dunklen Raum weiten, Blicke, die aus der Tiefe, aus der unendlichen, fernen Weite, weiten Ferne das Grauschwarze aufdunkeln, eine Schicht gelbweißer Leere liegt auf dem dunkelrotem, weinroten Glanz Deiner Haut, eine Schicht gelben Weißes deckt das Weinrote zu zartem rosa, lilarosa ab; am Ende eines tiefen, steilwändigen Tales ahne ich die Weite der Ebene, von der mich die unendliche Tiefe des Tales trennt, eingetaucht im Licht der Sonne, die nur als Lichtkegel in das Tal hineinragt, ohne die Wände zu erhellen; am Ende des Tales spähe ich in das Lokal, auf die Bar, durch die offene, angelehnte Glastür auf den Marktplatz, erspähe ich Deine Blicke. Was mir bleibt, sind all die Worte, die ich für Dich fand, und Du für mich: meine eigenen Worte, eingetaucht in die Wärme meiner Gefühle, die an ihnen haften, und mit ihnen gelingt es mir, auch Deine Worte aus dem beständigen Raunen und Wispern herauszulösen, sie aus dem unendlichen silbrig quirlenden Gewirr gedämpfter, bedrängender Stimmen zu isolieren und festzuhalten, sie in ihrem Ton von lila zart gehauchter Fülle klar hervortreten zu lassen und durch die Kraft meines Bewusstseins das Dunkle zu durchstoßen und Dich vor dem gelblichen Licht der fernen, entschwundenen Tage vor mich hintreten zu lassen. In Deinen Blicken klingen Deine Worte nach, Deine Blicke umschließen Deine Silben, aus Deinen Augäpfeln strahlt das lilazarte Hauchen Deiner Worte, so wie Deine Stimme aus Deinen Blicken äugt, strahlt, sie haucht den Ton Deiner Haut. In meiner Erinnerung steht Dein Gesicht vor mir, aufgehangen im unendlichen schwarzen Raum, auf Deiner Stirn liegt der Schatten meiner Trübung, durch die schwarze Scheibe der Erinnerung drückt sich Dein Gesicht, in dessen Augen die Erinnerungen an jene Tage von Juli bis September festgehalten sind, deren Pupillen wie Blenden den Blick auf Dich freigeben. Sie geben den Blick frei auf die Bilder, auf die im fahl gelben Licht der weiß-pastellenen Stengelfassaden grün beschatteten Pflaster, das vom Eingang, jenem Eingang mit dem furnierten Eichenholz, an dem Dana, weil die Tür nach innen aufstand, sich anlehnen konnte, als ich sie zum ersten Mal bewusst wahrnahm - das von jenem Eingang zum Marktplatz hin abfällt; sie geben den Blick frei auf die Weite des Platzes, auf dessen gegenüberliegende Seite mein Blick, jedesmal, wenn ich auf Dich wartete, als erstes fiel, bei der alten Kastanie, vor allem in jener Woche, als mir der Weg nach Hause mir beinah unmöglich wurde, weil ich Dir nahe bleiben wollte, und nur die vielen Ecken und Winkel des Lokals, über die sich die Erinnerungen an Dich gelegt hatten, mir Deine Nähe gewährten, während Du weit weg in der großen Stadt warst und letzte Vorbereitungen trafst dafür, dass Du vier Wochen später endgültig dorthin ziehen würdest. Sie allein gewährten mir Deine Nähe, je länger Du in der großen Stadt weiltest, um so näher wurdest Du mir; in meinen Gedanken, die an Deinen Bewegungen, Deinen Schritten, an jedem Deiner Arbeitsschritte hingen, fand ich in der Erinnerung an die zurückliegenden Situationen, in der ich sechs Tage lang verharrte, immer näher zu Dir; ich verinnerte Dich, Du warst mir mit einem Mal so nahe, näher als vorher, wenn Du an der Theke neben mir saßt, oder wenn ich beim Polieren der Bestecke zu Dir rauf ins Restaurant kam. All diese Bilder traten mir damals vor meine nach innen gerichteten Blicke, wo Deine Blicke noch immer vor mir stehen, und nun sehe ich mich selbst in Deinen Blicken dort sitzen; sie geben den Blick frei auf die mal sandig-ockern, mal schattig grünen grauen Pflaster, frei auf die Ecke an der gegenüberliegenden Seite, wo die Seitengasse einmündet, die von der Alten Brücke auf den Markt führt, frei auf die Kastanie, unter dessen Schatten Du Dein Fahrrad immer festgemacht hast. Ich sehe noch heute Deine Füße über die Pflaster auf mich zukommen, nur, dass ich inzwischen nicht mehr auf Dich warte wie damals in jener Woche, als Du schon einmal in der großen Stadt warst, und auch schon am letzten Tag davor – Du hattest Dir schon einen Tag vorher freigenommen, als ich schon am frühen Mittag an der Bar saß und Dich immer wieder, unendlich oft auf mich zukommen sah, Dich immer wieder über den Marktplatz kommen sah, so dass mich, als Du endlich über die Pflastersteine durch den Eingang tratest, Dein Erscheinen verwirrte; als Du eingetreten bist, wirkte Deine Anwesenheit so unwirklich, weil Du doch in meiner Vorstellung zuvor schon immer wieder und wieder eingetreten warst, und Deine jetzige Gegenwart die längst schon liebgewonnene, gegenwärtig gewordene, vorgestellte Nähe aufhob und durch eine ungewisse Distanz beiseite geschoben wurde: für einen Augenblick durchdrang mich ein Gefühl des Befremdens, weil Dein immer neuerliches Schreiten über das Pflaster und Betreten des Lokals zuvor in meiner Vorstellung bereits so gegenwärtig geworden war, weil Du mir in jener Einbildung so nahe geworden warst, dass ich in diesen Vorstellungen bereits zu leben begann, die jedoch von einer anderen Empfindung waren, die nun, da Du tatsächlich zur Tür hereinkamst, vor der Wirklichkeit zurückweichen mussten, gleichsam bloßgestellt wurden, von Deiner Gegenwart zurückgedrängt, durchdrängt, von Deinen Bewegungen und Regungen durchflutet wurden: wie die in die Leere des Raumes hineingeschauten Bilder, wie die von feinen Luftzügen durchwehten, in den vom Abend vorher noch immer im Raum stehenden Rauch hineingefühlten Erinnerungen durch Deine Wärme gedehnt und zugleich aufgelöst wurden, wie das unaufhörliche Raunen fremder Silben, die sich in die Tiefe des Raumes ausbreiteten, hinter der Theke aufstiegen, die Tiefe des Raumes durchbrachen und sich zugleich über alle anderen Stimmen legten, über die Theke, über die Kaffeemaschine, Fetzen Genueser Dialektes und marokkanischen Akzentes, deren Hall die Tiefe des Raumes von innen sprengten, deren Hall auf die Wände drückte: wie dieses Raunen mit einem Mal von einem sanften Strich lila zart gehauchter Töne gedämpft wurde. Und gleich darauf hast Du Dich dann wieder neben mich an die Bar gesetzt, ein Duft von Lavendelblüten erweckte in mir die beklemmende Freude unerreichbarer Erfüllung, erfüllte mich mit Zuneigung für Dich, die von der Enttäuschung zurückgestaut wurde: das Glück noch einmal neben Dir sitzen zu können, eh Du in die große Stadt wegziehen würdest, wurde von der Einsicht in die Unerreichbarkeit auf Distanz gehalten; und doch war da das Bedürfnis, Dich auch weiterhin meine Zuneigung spüren zu lassen, obwohl es sich doch schon jetzt nicht mehr lohnte, aber vielleicht gerade auch deswegen interessant wurde, weil ich Dich nun ungezwungener ergründen konnte, ohne an jedem Wort von Dir unbedingt Gefallen finden zu müssen, aber gerade dadurch erst zu dem wahren Wert Deiner Worte vordringen konnte. Du konntest ja nicht wissen, dass ich es längst schon wusste, und ich konnte nicht wissen, ob Du wusstest, dass ich es wusste. Erfahren habe ich es erst am anderen Morgen von der Chefin, aber eben etwas, was ich längst schon spürte oder eigentlich sogar sicher wusste. Es war dieser auffällige Bruch in Deinem Verhalten mir gegenüber zwischen Dienstagabend und Donnerstagabend. Dazwischen muss es gewesen sein, und als ich Samstag ausnahmsweise mal mit Karte bezahlen musste, winkte die Chefin ausgerechnet (oder vielleicht auch doch nicht zufällig) Dich herbei, um die Kartenzahlung abzuwickeln. Im ersten Moment, als Du hinter die Theke kamst, hast Du, wohl weil Du bei dem Dröhnen der Bässe und Beats kaum genau hören konntest, was sie Dir zugerufen hatte, zunächst nur die Karte gesehen und hast dann fragend, abwechselnd zur Chefin und dann in die Gäste geschaut, wer da bezahlen wollte. Aber als Du dann die Karte in Deiner Hand hieltest und meinen Namen gelesen hast, hafteten Deine Blicke erst fest an meiner Karte, ehe Du sie dann von der Karte gelöst und zu mir aufgerichtet hast, worauf Deine Blicke endgültig in der Kürze des Raumes, der uns durch die Theke, durch die Kaffeemaschine, durch die leeren Tassen und Gläser trennte, erstarrten, und wo sie sonst das spärlich gedimmte Licht aufhellten, nun die Theke noch verdunkelten. Und so folgte ich Dir, und doch durch das Unausgesprochene von Dir getrennt, und Du versuchtest, Dich hinter dem Tonfall des korrekten Service zu verstecken, aber das ersparte Dir nicht die Verlegenheit, dass Du plötzlich nicht mehr wusstest, welche der Belege für mich und welche für Euch waren. Am anderen Tag, also an jenem Sonntag, bevor Du in die große Stadt geflogen bist, hast Du mich dann am frühen Abend, als ich gehen wollte, gefragt, ob ich noch mal wiederkomme, und als ich antwortete, dass es sich nur lohne, wenn Du auch Zeit hättest, Dich mit mir zu unterhalten, hast Du mir dann vorgehalten, dass Du ja eigentlich nie Zeit gehabt hättest. Auch nicht, als ich zu Dir ins Restaurant raufkam, als Du zum Ende der Schicht noch die Spülmaschine ausräumen musstest, und Du meintest, ich bräuchte Dir nicht zu helfen, aber ich könne gerne dableiben: Du würdest Dich gerne mit mir unterhalten? Aber das war ja auch noch deutlich vor jenem Mittwoch, an dem Du erst donnerstags wieder zum Dienst kamst. Ich kam dann abends noch mal wieder, und saß dann bis zum Schluss da – später, Ende September, als Dana ihre letze Schicht machte, bevor sie mit Dir den Umzug in die große Stadt machte, wiederholte sich diese Szene, weil ich spürte, dass auch sie nicht mehr lange dort arbeiten würde, auch wenn sie ja zunächst mal Mitte Oktober noch mal zurückkam -, und als ich dann gehen musste, habe ich den Hinterausgang genommen, weil ich Dich kurz vorher zur Mülltonne gehen sah, und als ich mich von Dir verabschieden wollte und Deine Hand drücken wollte, hast Du sie wegzogen. Am anderen Morgen hab ich dann von der Chefin erfahren, dass Du Dich bei ihr erkundigt hast, warum ich bis zum Schluß an der Theke gesessen hatte. Es war nicht nur Deinetwegen. Ich hatte an diesem Morgen einen schweren Gang zu Bank vor mir, aber sobald ich diesen Gang erledigt hatte, füllte die Sehnsucht nach Dir den nun freien Raum in meinem Bewusstsein um so mehr aus und besetzte, noch bevor ich am Markt ankam, schon in dem Moment, wo ich aus der Bank herauskam, mein ganzes Denken. Und nun saß ich wieder an der langen Seite der Theke, nahm Platz auf dem Hocker, von dem ich am Abend vorher aufgestanden war und schaute zum Eingang, immer wieder, und wieder ließen meine Gedanken Deine Füße über das Pflaster auf mich zu kommen und Dich durch die Glastür eintreten, ließen sie Dich wieder oben im Restaurant am Tisch sitzen, im Wechsel blickte ich dann von der Tür rauf zu jenem Tisch am Fenster, so wie ich vorher immer zu Dir raufblickte, wenn ich überlegte, ob ich wieder raufkommen sollte und den richtigen Augenblick abwartete, bis der Genueser und der Marokkaner mich nicht im Auge hätten; dann wechselten die Blicke zwischen der Tür und der Aussicht auf den Marktplatz und dem kleinen Tisch, dann blickte ich rüber zum Fahrstuhl, dann sah ich Dich hinter Theke mit Tablett in der Hand, ich versuchte auszuweichen und schaute in den Hof, aber da sah ich Dich, wie Du Sonntags noch das Laub zusammenfegen musstest, ich wich zur Kaffeemaschine aus, aber dann standest auf einmal auch hinter Maschine, mit offenem Haar, so wie Du an einem der späten, trüben, schwülen, grauwarmen, luftfeuchten Augusttage irgendwann nach Mittag hinter der Kaffemaschine hervorgeäugt hast und mir Deinen ersten Kaffe gepreßt hast („Du bist heute mein Versuchskaninchen“), später ging ich dann nach oben und stand vor dem kleinen Tisch, sah Dich die Bestecke polieren, schaute von der Tischplatte auf durch das Fenster auf den Markt, sah im Licht der Sonne das nächtliche Neon der Schaufenster, so wie ich sie sah, wenn ich bei Dir saß, wenn Du die Bestecke poliertest. Dann ging ich wieder runter, hatte plötzlich das Bedürfnis, die Räume zu verlassen, ohne mich von ihnen zu trennen, ohne dass ich mich hätte vom Lokal entfernen wollen, und setzte mich an den ersten Tisch links auf Terrasse. Aber die inzwischen schon wieder hochstehende Sonne drückte auf meinen Kopf, drückte den Ausblick auf das Pflaster zusammen, drückte auf die Bilder, unter denen ich mich wegzutauchen versuchte, die ich aus dem goldgelben Licht, den grünen Laubschatten der Robinie zu lösen, herauszulösen versuchte; der noch immer schwelende September drängte die Bilder zwischen die Gäste, die an Tischen auf der Terrasse saßen, ich versuchte meine Aufmerksamkeit an die Leute zu heften, an das braunlackierte Holz der Tische, aber die Farben und die Menschen, die Atmosphäre verloren ihre Kraft; ich wehrte mich gegen die Bilder, die beständig auf mich eindrangen, in mich eindrangen, gab nach, die Gedanken, die ich dagegen aufbrachte, rutschten ab in die Rillen zwischen den Teakholzleisten der Terrassentische, die Rillen zwischen den Leisten verschwommen, öffneten sich zu großen dunkelbraunen Flecken, aus denen graue Dunstschleier herausflossen, die Flecken ränderten aus, der goldgrelle Nachmittag brannte ein Loch hinein, durch das weißlich-gelbe Bilder hindurch strahlten, von laubschattigem Grün gesäumt: die Bilder von der alten Kastanie, zu der ich durch den abgewendeten Blick hindurchschaute, die Bilder der Bestecke, die von weißem Küchentuch umschlossen sich von Deiner Hand geführt hin- und her bewegten, auf dem der Hauch roten Weinlaubs lag. Und auch das Brahmssche Quintett verfloss in dem Septembernachmittag und floss unter den Bildern durch, ohne sie mit sich reißen zu können, die Melodie vom g aufwärts zum c lehnte sich gegen die Bilder auf, konnte sie nicht durchdringen, glitt an den Bildern ab, nach oben weg. Irgendwann, so gegen Mittag, hab ich mich an den Tisch gesetzt, meinen angestammten Tisch – genau genommen wurde er so überhaupt erst zu meinem festen Platz; ohne Dich, Jana, hätte ich diesen Tisch vielleicht nie für mich entdeckt: heute sitze ich oft in der nachtblauen Wärme und blase den Rauch meiner Zigarren und Rillos und meiner Pfeife in die Tiefe des Platzes, blase mit dem Rauch ferne, entrückte Bilder in die Wärme, die über den Pflastersteinen steht und meinen Rauch über sie hinweg trägt; es ist der erste links neben dem Eingang, wenn man rausgeht - und da blieb ich dann sitzen: den ganzen Tag, und auch den nächsten Tag, den ganzen Dienstag, den ganzen Mittwoch, den ganzen Donnerstag, den ganzen Freitag. Dana wird sich sicher noch daran erinnern, obwohl sie es ja selbst kaum miterlebt hat; denn sie musste erst mal ihre Bronchien ausheilen, die seit ihrer Fahrt in die andere, nicht ganz so große Stadt, zu der es sie auch immer wieder hinzieht, beinahe übergangen hätte. Montags kam sie noch, zur Spätschicht, die sie aber nicht mehr antreten musste. Da habe ich sie gefragt, ob ich sie etwas fragen dürfe. Irgendwann kamen dann Danas Füße mit ihren Sandalen in der Hand von hinten, aus der Gasse über das Kopfsteinpflaster in den Innenhof, ihre Füße trugen ihren sandfarbigen Sweatrock aus dem Septemberhellen, trockenen Schatten unter den Deckenbalken des Fachwerks der Hinterhoffassaden in die leichte, gelbliche, kühlende Spätsommerwärme, und ihr Rock trug seinen eigenen, sandfarbigen Schatten über ihre Knie und ihre Waden, trug ihn in den vom frühen Nachmittag erfüllten Innenhof, trug seine sandfarbenen Schatten auf ihre olivgelbe Haut auf; noch bevor Dana in den Innenhof eintrat, eilten ihre Beine ihr unter den Zweigen des Olivenbaums und den Blättern des Kirschlorbeers voraus, und mit jedem Blick, den Olivenblätter und Kirschlorbeer auf ihr Gesicht freigaben, sah ich sie schon auf mich zukommen: zwischen den Ästen des Lorbeer kamen ihre dunkelblonden Haare, ihre Stirn, ihre Unterlippe, ihre Schultern, ihre Bluse, ihr Rock, ihre Waden auf mich zu, zwischen jedem Ast sah ich sie vor mir stehen, zwischen jedem Ast erlebte ich bangend ihre Reaktion voraus, bis in der Weite des Hofes zwischen den septemberwarmen weißverputzten, hochstehenden Gefächern sich Füße, Sandalen und Sweatrock mit den etwas scharfen Augenbrauen und dem Olivgelb zusammenfügten, und mit einem Male saßen mir ihre Blicke gegenüber: Blicke, die sich meiner Frage schon sicher glaubten, und doch nicht wissen konnten, ob es auch die von ihr erwartete sein würde, und in denen ich nicht erkennen konnte, ob sie nicht vielleicht eine andere Frage vermuteten, unterlegt mit einem fast mütterlichen Ton, in dem Fürsorglichkeit und Neugier die Grenzen zwischen beiden verwischten, einer Neugier, die von einem ahnungslos ahnungsvollen, tiefen Aufatmen unterstrichen und doch zugleich des insgeheimen Wissens um die Situation überführt wurde: „Was möchtest du mich denn fragen?“… Das war montags. Aber als ich dann freitags, an dem nun schon früher einbrechenden Abend Ende September wiederkam, warst Du nicht da. Und so musste ich bis Samstag warten. Und es war keineswegs leichter geworden, an Dich heranzukommen. Verlegenheit traf auf Verlegenheit. Du solltest die Tageskarten in die Speisekarten einlegen, und kaum, dass ich auf den dicken, roten, weinroten Träger zukam, in dessen Anstrich Du Dich heute noch spiegelst, wurden die noch kaum gewechselten Worte schon jäh unterbrochen von dem Genueser, der seine Eifersucht hinter seiner vorgeblichen Verantwortlichkeit als Schichtleiter verbergen zu können glaubte: „Viene pagata per lavorare, non per parlare.“ Als Du dann aber die Pappe, mit denen der Fußboden hinter der Theke ausgelegt wird, entsorgen und austauschen musstest, folgte ich Dir in den weit nach Mittag im warmgrauen Dunst versunkenen September, durch Blauregen und Olivenbäume in den Innenhof. Aus dem Keller leuchtete muffiges Gelb die Stufen hinauf, die es nach draußen in den Durchgang zum Hof in das dunstige Grau zwischen Olivenblättern und Blauregen drückten. Aufgeschaut zu mir hast Du aber erst, als ich Dir versicherte, dass ich bei allem, was je über Dich und zu Dir gesagt habe, auch bleiben werde. Das heißt, eigentlich hoben sich Deine Blicke über die Stufen hinweg zum Treppenabsatz erst, als ich Dir sagte, dass ich mich für Dich freue; und dass so wenigstens einer von uns beiden glücklich geworden war. Da erst hast Du Deine Augendeckel ganz aufgeschlagen, jetzt erst fanden Deine Blicke den Weg in meine Augen, jetzt erst standen sich unsere Blicke aufrichtig gegenüber, trafen aufeinander, ohne sich doch zu treffen, und doch nahmen mich Deine Blicke beim Wort, für einen Augenblick lang ungläubig: „Das ist absolut selbstlos.“ So nett das natürlich gemeint war, Jana: Es war nicht selbstlos, jedenfalls nicht in dem Sinne, dass ich mich selbst in dem Moment aufgegeben hätte. Wenn man sich einem Menschen wirklich nahe fühlt, muss es doch einem doch möglich sein, sich auch für dessen Glück zu freuen. Das, was man an einem Menschen schätzt, darf sich doch nicht aus der Wahrnehmung für den anderen lösen; es wird so viel von Gefühlen geredet, aber wenn man etwas wirklich fühlt, wenn man den anderen wirklich so wahrnimmt, wie man es ihn hat fühlen lassen, wenn man jedes Wort der Anerkennung, das man für den anderen vorher immer gerne gefunden hat, nicht auf den Moment hin berechnet war, sondern tiefer Überzeugung entsprach und völlig zwanglos so empfunden war, dann muss es einem doch auch möglich sein, sich auch hinterher weiterhin dazu zu bekennen. Und Du darfst mir ruhig glauben, dass ich mir bei jedem Wort zu Deiner Person, bei dem, was ich zu Dir gesagt habe und auch jetzt noch über Dich schreibe, mir, noch bevor ich es ausspreche, die Tragweite meiner Worte vor Augen führe und mich frage, ob ich das unter veränderten Bedingungen auch vertreten könnte. Ich habe mich immer gefragt, ob ich von denselben Eigenschaften auch überzeugt wäre, wenn ich sie an einer anderen Person entdeckt hätte. Jana, ich fälle keine Gefälligkeitsurteile, weil ich damit niemandem einen Gefallen tue. Auch Dir nicht, und auch mir selbst nicht; denn dann käme auch für mich der Tag, an dem ich das Bedürfnis hätte, mich von meinen eigenen Worten zu distanzieren. Das hat Überzeugung, das haben aufrichtige Worte berechneten Worten voll des falschen Lobes voraus, dass man sie auch dann noch empfinden kann, wenn der andere sich jenem Empfinden entzieht, dass man sie auch dann noch als angemessen aufrechterhalten kann, wenn man die Person aus der Distanz abgeklärter Zurückgezogenheit überprüft, wenn man sie an der betrachteten Person ohne Ansehung der Person misst und so auf seine eigenen Gefühle zurückschaut und mit Genugtuung erkennt, dass man sich auf seine Gefühle verlassen kann. Jana, die Worte die ich für Dich fand, fandest Du selbst für Dich und damit auch für mich, eben dadurch, dass mir so begegnet bist, wie Du mir begegnet bist. Ich habe sie nur auf Dich bezogen, weil Du sie durch Deine Art selbst auf Dich bezogen hast, Du selbst hast es bewirkt, dass sie in Deinem Wesen aufgehen, dass sie in dem, wie Du mit mir umgegangen bist, ihren wahren Sinn entfalteten; so gesehen hast Du sie mir in den Mund gelegt: ich brauchte sie nur noch auszusprechen. Dieser Samstag war dann auch schon der letzte; noch einmal kam ich Abend für Abend, immer in der Hoffnung, Dich noch einmal sehen zu können, noch einmal jeden Wochentag in seiner ganz unverwechselbaren Stimmung durch Deine Nähe hindurch erleben zu können, und doch zu wissen, dass die Theke, die Kaffeemaschine, die Treppe hinauf zu Restaurant zum letzten Mal unter dem Hauch von weinroten, zarten Lila schimmerten, und bei jedem Betrachten sah ich durch die weinzartroten Schatten hindurch, wie dahinter all das Messing, die roten und braunen Wandelemente wieder ihren reinen Glanz annahmen, ihre weinrote Tönung an Dich zurückgaben, von Dir mitgezogen wurde, wenn Du die Stufen hinauf zum Bistro oder zum Restaurant hinter den Wänden verschwandest, und in ihrem metallenen Glanz gleichzeitig verklärten, abgetönt durch die vage Trübung der Leere, die Du zurücklassen würdest: ständige kleinen Momente des Glückes, das von der drückenden, schnürenden Enge der Entsagung zusammengedrängt, von enttäuschten Gefühlen, die ich mir bewahren wollte, beiseite gedrängt wurde, die sich zwischen die Momente des unwirklichen Glücks, zwischen die immer längeren Augenblicke der unerfüllten Leere, der nicht erwiderten Zuneigung schoben, während sich die Stunden neigten: der Versuch, den Blick auf die grün rot braun schimmernden Flaschen der zahllosen Aperitifs und Digestifs zu befreien von den Bildern, die sich zwischen die Regale und mich schoben, die den Raum hinter der Theke erfüllten, in denen ich unbestimmte dunkle Bewegungen sah, von Deinem Gang geprägt; und jedes Mal, wenn Du wirklich wieder zurückkamst, um neue Getränke abzuholen, versuchte ich Deine Blicke einzufangen und zurück zu einer Normalität, frei von zurückgewiesenen Gefühlen, zurückzufinden, die so nun nicht mehr gegeben war, um mich wenigstens Deiner grundsätzlichen Wertschätzung versichern zu können. Irgendwann an einem der letzten Tage gelang es mir dann doch nochmal, zu Dir ins Restaurant raufzukommen, wo das weiße Geschirrtuch im weinrotem Glanz, auch das zum letzten Mal, die Bestecke umschloß, geführt von Deinen Händen, die sie anschließend in Papierservietten einrollten; im richtigen Augenblick, als der Genueser und der Marokkaner mich ein Moment lang nicht im Blick behalten konnten, stand ich von meinem Barhocker auf, deutete an, nach unten in den Keller zu gehen, bog dann scharf um das Treppengeländer, um im toten Winkel zu bleiben, und nahm dann oben den Weg auf der zur Küche führenden Seite der Galerie, also dem Teil, der genau über Theke lag, so dass ich von unten nicht zu sehen war. Dort haben wir dann verabredet, wie wir uns bei Deiner letzten Schicht freitags verabschieden würden, ohne dass der Genueser oder der Marokkaner uns diesen Moment hätten nehmen können. Um halb elf kam ich an jenem Freitag rauf ins Restaurant, aber dieses Mal nicht verstohlen, sondern so, dass es jeder, vor allen aber die beiden Schichtleiter, mitbekämen, immer noch in der Ungewissheit, ob Du unsere Verabredung auch einhalten würdest; in der Aufregung hab ich Dich dann erst mal gar nicht gesehen. Ich hab dann Dana nach Dir gefragt, die mit einem Lächeln antwortete, mit dem sie mir bedeutete, dass sie uns beiden das Arrangement gönnte, zugleich ein eingeweihtes Lächeln: „Da ist sie doch!“ Plötzlich kamst Du von hinten auf mich zu, vermutlich warst Du grade in der Küche gewesen und bogst nun um die Ecke. Eine flüchtige Geste der Verabschiedung, die den anderen zeigen sollte, dass wir uns nichts weiter zu sagen hätten. Dann ging ich wieder runter, winkte den anderen in meinem marineblauen Trenchcoat zu, der ihnen automatisch signalisieren würde, dass ich für diesen Abend das Lokal verlassen würde, und ging, wie ausgemacht, nach vorne auf den Markt hinaus – und bog durch Hintergasse wieder in den Innenhof ein, wo ich die Minuten zählte und damit zubrachte, mir selbst die Ungewissheit darüber, ob Du Dich an unsere Abmachung halten würdest, zu nehmen, indem ich mir abwechselnd Deine Zuverlässigkeit und Deine Unzuverlässigkeit zur Gewissheit einredete, indem ich aus jedem Deiner Worte, aus den vielen Situationen, in denen Du mir begegnet warst, aus jeder noch so schwachen Schattierung Deiner Stimme Gewissheit für oder gegen Deine Zuverlässigkeit suchte, indem ich jedem Deiner Worte Gewissheit zu entnehmen versuchte, indem ich, um die Enttäuschung, falls ich vergeblich warten würde, von vorneherein zu bannen, mir die Annahme Deines Erscheinens als naiv auslegte, und schon im nächsten Moment Deinen Charakter mir als über jeden Zweifel erhaben hinstellte, und in der Annahme Deines Erscheinens Stolz empfand, meiner Menschenkenntnis vertrauen zu können, und in dem sicheren Wissen um Deine Rechtschaffenheit und Ehrbarkeit mir zur Gewissheit einredete, dass Du das Vertrauen rechtfertigen würdest, dass ich so gerne ich Dich setzen wollte, und mir doch nicht gewiss genug meiner selbst war, ob ich es auch in Dich setzen sollte; und während ich noch mit mir selbst haderte, weil mir doch immer aufs Neue die Willenskraft versagte und mich die Gewissheit meiner Argumente verließ, wurde die Tür zum Innenhof durch die Kraft Deiner Redlichkeit, durch die Aufrichtigkeit Deiner Worte, mit der Du mir unsere geheime Verabschiedung zugesagt hattest, aufgedrückt, wurde durch die Eleganz Deiner Schritte die Türfalle aus der Falz herausgedrückt, und ihr vertrautes Herausschnappen lenkte meine Gedanken von ihrer bangen Ungewissheit weg zu Deinen Schritten, die unter der milden Nacht, die sich gerade noch gegen die bald schon einbrechende Herbstluft behauptete, hindurchschritten und auf mich zukamen. Zum letzten Mal nahm das nachtdunkle Blau im Schein der gelbspendenden Wandlaternen das Rot des Weinlaubes an, schimmerte das Grün des Olivenstockes rosasilbrig in der Tiefe der Nacht auf, zum letzten Mal trugen Deine Füße Deine Blicke zu mir herüber, als ob Deine Blicke in meinen aufgingen und ich Dich mit meinen Blicken zu mir hinziehen könnte, zum letzten Mal spendete Deine Haut der dunklen Kühle ihren Duft, erfüllte Dein Duft den Kaminrauch der ersten Herbstnächte; Dein Körper zog sich, getragenen von Deinen Füßen, die sanft von einem Kopfstein zum nächsten gehoben wurden und Dich durch die Kamin rauchende Kühle trugen, durch das verrauchte Gelb, das durch die Bodenfenster aus der Lounge heraus in den blaudunklen, Kaminfeuerkühlen September schummerte. Blicke, die sich behutsam auf unsere Verabschiedung zubewegten, sich zum letzten Mal mit uns befassten, Blicke, die aus dem Lokal heraus auf ihre Schritte gerichtet waren und erst allmählich zu mir aufschauten, Schritte, die mit ihren Gedanken auf mich zu eilten, Schritte, die Deine Blicke zu mir neigten, die ein inniges Einverständnis verrieten. Schritte, die sich zu der Peron bekannten, auf die sie zugingen. Und schon im nächsten Augenblick fülltest Du die Leere aus, die meine Verlegenheit zwischen den geweißten, verputzten Mauern des Eingang zum Innenhof gelassen hatte, unter dem Deckenbalken der alten Weinprobierstube, zwischen den Müllcontainern und dem angelehnten Eisengatterflügel. Wie oft hatte ich mir, seit wir unsere Verabredung getroffen hatten, und eigentlich schon sogar vorher, meine Formulierungen zurechtgelegt, immer wieder umformuliert, gekürzt und wieder erweitert, um die wenigen Minuten, die uns gegeben sein würden, auszunutzen, um Dir nochmals das zu sagen, was ich Dir in der Flüchtigkeit früherer Gelegenheiten noch nicht oder jedenfalls nicht genau genug sagen konnte, und all das, was ich Dir darüber hinaus noch gerne gesagt hätte; doch je mehr mir einfiel, um so weniger vermochte ich in der voraussehbaren Kürze unserer Verabschiedung unterzubringen; immer wenn ich mir meine Formulierungen gerade zurechtgelegt hatte, fiel mir schon wieder etwas Neues ein, das mir genauso wichtig erschien; dann nahm ich wieder etwas weg, aber sobald ich meine neuen Gedanken eingefügt hatte und mit der Konzepierung zufrieden war, fehlte mir das Ausgesparte, das mir plötzlich noch wichtiger erschien als das Hinzugefügte, das seinerseits schon wieder durch neue Gedanken beiseite geschoben wurde, an denen mir genau so viel lag; doch dann versuchte ich alle Überlegungen wieder zu unterdrücken, weil ich eigentlich doch am besten bin, wenn ich spontan rede; in der Unendlichkeit dieser Gedanken standest Du schließlich vor mir. Noch während Du auf mich zukamst, entwarf und verwarf ich meine Sätze, wurde mir, was mir eben noch wichtig war, wieder unwichtig, mit jeder Bewegung, die Du auf mich zumachtest, wurden die Gedanken gehetzter, mit jedem Fuß, den Du vor den anderen setztest, ersetzte ein Gedanke den anderen, so wie Dein Duft auf mich zutrieb, trieben die Gedanken, die ich eben noch festhalten wollte, ab, rutschten nach hinten weg, und hinterließen eine bedrückende Leere, von allen Seiten drängten Gedanken auf sie ein, ohne wirklich in sie eindringen zu können: in diese Leere drang schließlich zart gehauchtes Lila. Ich reichte Dir die Tüte mit den beiden Büchern, von denen Du ja schon wusstest, und noch ein, zwei Beigaben, und da Du es ja schon wusstest und auch schnell wieder nach oben ins Restaurant musstest, hast Du Dich dann entschuldigt, dass Du erst später reinschauen würdest, während Dein Gesicht von den Sätzen, die ich mir für Dich zurechtgelegt hatte, umkreist wurde, während ich in Deinen Blicken, in der Betonung und im Fluß Deiner Worte die Bestätigung, Dein Einverständnis suchte für die Worte, die ich in meiner inneren Vorstellung zu Dir sprach, während Du durch meine inneren Blicke hindurch zu mir sprachst: durch meine Pupillen drangen Deine Worte in die dunkle Tiefe ein, die ich im Marineblau meines Trenchcoates empfand, wurde das marineblaue Dunkel lila aufgehellt und zu weinrot ausgemischt; während wir miteinander redeten, redete ich mit Dir in meiner inneren Vorstellung, probierte ich wie unter Zwang, in dem Bewusstsein, dass die Gelegenheit für meine Worte jeden Moment vorüber sein könnte, gegen die Zeit, die ich gerne so lange wie möglich hinausgezögert hätte, immer aufs Neue dieselben Sätze aus und suchte von dem Schmerz darüber, dass es meine letzte Gelegenheit war, immer ängstlicher in Deinen Worten, in den Schattierungen der lila gehauchten Zärte die Reaktion aufzuspüren auf die Worte, die noch immer in meiner Vorstellung vor Deinem lilazarten Hauchen vorbeizogen; auch dann noch, als das zarte Lila verstummte, mischte sich in das stumme Hauchen das innere Raunen der unendlichen, sich einander bedrängenden und verdrängenden Gedanken, „..dass ich mich für dich freue, dass du glücklich geworden bist, dir alles Gute wünsche, privat und beruflich…“, die unsicher in das stumme Hauchen einbrachen: ein wenig verlegen schautest Du wie immer unter Deinen eigenen Blicken hindurch zu Deinen Augenbrauen auf, in Deine eigenen Augenhöhlen hinein, zu mir auf, und in das in das stumme Wippen Deines Körpers schaute ich meine Worte hinein, „…und mach was aus dir, dass du nicht eines Tages als Stammgast hier endest…“ – auf einmal ließ das Brennen und Ziehen in meinen Armen und Beinen nach. „Wie lange hast du jetzt eigentlich hier gearbeitet? Ich weiß nur noch, dass ihr beide mehr oder weniger gleichzeitig angefangen habt…“ „Nein, Dana war schon hier. Ich hab genau am 15. Juli angefangen.“ „Du wirst hier fehlen, du hast dem Lokal dein Gesicht verliehen.“ Und in meinem Innern wuchs die Bedrängung durch meine eigenen Worte wieder an, schlängelten sich hinter Deinem Rücken durch das angelehnte Eisengattertor; der nachtschattige Putz warf weiße Schatten auf meinen marineblauen Trenchcoat, und ich wurde immer mehr durch meine eigenen Worte bedrängt, bis ich sie endlich mit einem beschämten „ja“ begann; und doch, während die Bedrängung mit jedem Wort, das ich nun aussprach, wich, wuchs mit jedem Wort die Unentschiedenheit, da sich mit jedem Wort die Zweifel über die richtige Wahl der Worte nur erhöhte und damit auch das Bedauern darüber, dass mit jedem weiteren Wort die Gelegenheit für die Worte, die ich wegließ, unwiderruflich dahin war; und so hetzte ich über meine eigenen Worte hinweg, mit jedem Wort, das ich ausließ, brachen meine Sätze immer weiter ein; aber in Deinen Blicken konnte ich das, was ich nicht auszusprechen wagte oder in der drängenden Zeit nicht mehr ausdrücken konnte, mitlesen: Deine Augen als Archiv meiner Kladden, Dein Lächeln ergänzte sie und führte meine Sätze zu Ende, vollendete sie, stimmte ihnen zu, Deine Rührung ergriff meine Worte, sie fanden ihre Bestimmung in ihr: eine Rührung, die Ausdruck von Dankbarkeit war, die sich gleichwohl nicht von dem Gefühl des Gerührtseins mitreißen ließ, sondern sich stattdessen hinter Deine Bescheidenheit zurückzog, die jedem meiner Worte ihre dankbare Anerkennung beschied, an der ich mich festhielt, die ich mit meinen Worten festzuhalten versuchte, weil sie mir in diesem Moment zum letzten Mal zuteil wurde, die durch mein unerfülltes Verlangen überbeansprucht wurde, weil sie mir als Ersatz für die Zuneigung diente, die Du mir nicht entgegenbringen konntest. „Ja, nun ist ist es also so weit.“ Die Zeit, die in der Ewigkeit, die ich mit dem Verzögern jedes meiner Worte zu bewirken suchte, mit jedem Deiner Atemzüge immer unaufhaltsamer wurde, die meine Worte im selben Moment immer gedrängter, undeutlicher werden ließ, löste sich in Deinen Blicken auf, die Angst, die Zeit in jedem Moment zu verlieren, ließ sie immer bedrohlicher werden, meine Worte versuchten die Leere der Zeit zu bewältigen – „Ich möchte dir gerne sagen, dass ich mich für dich freue…,“ – die Zeit löste sich Deiner Liebenswürdigkeit auf – „dass du glücklich geworden bist:“ – Blicke erwartungsvoller Ungläubigkeit und dankbarer Annahme drückten sich durch die putzschattige, marinblaue Feuchtigkeit, die an Deinen Linsen verdunstete und Deiner Verlegenheit vornehmen Glanz verlieh – „so ist wenigstens einer von uns beiden glücklich geworden.“ – Deine Blicke zogen sich in sich selbst zurück, als ob ich durch Deine Augen in Dich hineinsehen und in der Unendlichkeit des Schädelraumes die vornehm sanfte Weite Deiner edlen Gesinnung erschauen könnte… Gerne würde ich jetzt wieder durch Deine Augen in Dein Wesen schauen, aber Du weißt ja gar nichts davon, dass ich diesen Brief an Dich schreibe, und wahrscheinlich wirst Du auch, selbst wenn Du ihn jemals erhalten solltest, gar nicht so weit lesen, Jana! „…und wenn man jemand wirkliche Wertschätzung entgegenbringt, dann sollte es doch auch möglich sein, sich für das Glück des anderen zu freuen, selbst wenn man selbst…“ – an dieser Doppelung blieb ich jedes Mal hängen, so oft ich Dir diesen Satz im Stillen vorsprach; noch wenige Minuten vorher, als ich unter den Deckenbalken des Fachwerkes auf Dich wartete, noch als ich den Abend über im Innenhof saß und über einem Weizenbier auf halb elf abwartete – noch während ich es zu Dir sagte, blieb ich, während ich im Innern meine eigenen Worte mitsprach, beinahe hängen – „also, dann sollte es doch auch möglich sein, sich für das Glück des anderen zu freuen, auch wenn man selbst kein Teil des Glück ist“. Die Fairness, für die Dein frisch gefundenes Glück so rücksichtsvoll Raum ließ, führte Deine Hand zu meiner Schulter, legte sie auf sie und – anders als bei früheren Gelegenheiten, wenn ich an der Bar saß und Du mir den Kaffee von außen brachtest, statt ihn mir über die Theke zu reichen, und Deine Hand freundschaftlich auf meine Schulter legtest – bewegten Deine… – Gefühle, das hattest Du mir ja versichert, hättest Du keine für mich – bewegte Deine mitfühlende Hand sich über meine Schulterklappe, versuchte, meine Enttäuschung zwischen ihrer Innenseite und meiner Schulterklappe zu zerreiben, und teilte doch die Verlegenheit in immer kleinere Augenblicke auf, die zugleich etwas drängend-unentschlossen-Eiliges hatten, die für einen Moment unser gegenseitiges Einverständnis festhielten und doch zugleich über sich hinaus wiesen und daran mahnten, dass die Zeit ablief, während sich mein ganzes Bewusstsein darauf richtete, meine Arme unbewegt an mir herabhängen zu lassen, auch weil meine schwerfühligen Arme unter ihrer von außen brennenden, von innen spannenden Haut die Berührung Deiner Schultern gar nicht hätten empfinden können; aber eben auch, weil ich Deine Gefühle nicht beanspruchen wollte, sie nicht gegen Deinen Willen auf mich richten wollte. So behielt ich sie, scheinbar unberührt von Deiner Berührung, eng an mir herabhängend, während Deine Hand durch immer zarteres Berühren die Zeit unter ihren Fingern auf meinen Schultern feststrich und den Moment des Abschieds hinauszuzögern versuchte; meine Schulter gab Deiner Hand durch leichtes Anheben Deine Neigung zurück, während ich Deine Schulter nur mit Blicken streifte: zart gehauchtes Lila erfüllte die Herbstluft: „Du bist ein guter Mensch!“, bemüht, mir mit diesen Worten das zu geben, was mir Du mir nicht geben konntest oder zumindest nicht zugeben wolltest, während meine Selbstzweifel Deine Worte zurückholten, die sich mir gleichwohl sperrten, und durch das weinrote Dunkel sah ich Deine Blicke, sah in Deinen Augen die Blicke meines Vaters aufleuchten, dessen Stimme das lilazarte Hauchen durchbrach: „Du wolltest das nie! Das bist du selbst schuld! Weil du deine Mitmenschen immer bevormundest und sie nicht ernst nimmst!“, und mein innerer, halbrunder Raum öffnete sich wieder in die Unendlichkeit des Raums, die mich bedrohte, Dein Gesicht verschob sich, teilte sich, Deine Worte prallten an meiner inneren Halbkugel ab und glitten unter den Bildern vergangener Tage hindurch, Deine Stimme legte sich, auf meine Ohren, auf meine Haut, aber von innen drückten die Bilder vergangener Tage gegen die Schläfen und die Stirn, die Stimme meines Vaters verzerrte das lila Hauchen, seine Augen stachen einzelne Deiner Worte aus Deinen Sätzen heraus, mein Stolz wurde zusammengedrückt und brach nach vorne in die tiefe des Raumes ein, für einen Moment lösten sich in der Unendlichkeit der zurückliegenden Jahre Deine Worte auf: ich spürte, wie mein Vater sie mir wegnahm, wie sie in den Zweifeln, die sein wütendes Grinsen in mir schürte, versanken, wie er mich von ihnen ablenkte, bis ich sie beinahe ganz verpasst und mich auch für diesen Verlust wieder schuldig gefühlt hätte; ich spürte, wie mein Weinen von damals unter den verdrängten Bildern wieder durchkam; aber es half nichts: ich musste es wie all die Jahre unterdrücken, und Dein Arm streckte sich zum zweiten Mal nach meiner Schulter aus, die weißverputzten Wände und die Decke mit den Fachwerkbalken traten hinter Dir wieder vor der unendlichen, tiefen Schwärze der Erinnerungen zusammen, gaben mir wieder halt, und in diesem Moment vernahm ich wieder Deine Worte, und sie erinnerten mich daran, dass ich vom ersten Tag an in ihnen Verständnis fand, das inzwischen, nachdem Du mich schon zuvor, als wir zuletzt oben an dem kleinen Tisch saßen, an dem Du immer die Bestecke poliert hast, danach gefragt hattest, zu einem tiefen, mitfühlenden Verständnis sich entwickelt hatte; und in diesem Moment wusste ich, was ich an Dir habe, Jana, und für einen Augenblick überwand ich unter Deiner Hand meine Scham, Deine Hand wertete mich für einen Augenblick auf. Zwischendrin hast Du dann noch meine Idefix-Krawatte kurz angehoben – um die Verlegenheit aufzuheben. „Ich danke dir, dass du so fair mit mir umgegangen bist“. Du hast noch schnell etwas geantwortet, und dann nochmal um Verständnis gebeten, dass Du erst später in die Geschenke schauen würdest, und zum letzten Mal trugen Deine Füße Dich über die Kleinsteinpflaster, und Dein Gang zog den lilazarten Hauch und den silbrig, weinroten Glanz mit sich, zog ihn vom Kirschlorbeer, Blauregen und dem Olivenbäumchen ab, die einschnappende Tür nahm das zarte Lila und das Weinrot mit sich in den Barraum, und von Blauregen, Kirschlorbeer und Olivenbäumchen blieben nur noch die dunklen Blätter, die von dem ockergelben Schummer unscharf umflissen wurden. Aber immer, wenn ich heute durch den Hintereingang über den Innenhof komme, und wenn ich mich dann genau drauf konzentriere, auf den Kirschlorbeer, auf den Blauregen und das Olivenbäumchen, dann schimmert das Oliv wieder lilasilbrig auf, Deine Hüften rühren die Äste des Lorbeers zart beiseite, und die Blätter des Blauregens werden von dem zarten Hauch lilaröslicher Fülle angehoben und wehen Deine Blicke aus der Tiefe Deiner Augenhöhlen zu mir herüber, fächern Deine Stimme sanft in das Rauschen des Weinlaubes, das sich später im Herbst rot in die Neigung des Tages sehnen wird; manchmal, wenn ich heute wieder dort sitze und den Rauch meiner Zigarren, Rillos und Pfeife in das lilazarte Hauchen blase, das unter den blauregenen Blättern zurückblieb und dort den Winter überdauerte, ist es mir, als winkten sie mir entgegen, und manchmal, wenn ich durch den Hintereingang komme, spüre ich, wie sich der Ast des Olivenbäumchen auf meine Schulter legt – er ist jetzt schon fast so groß wie Du; dann schnappt die Türfalz wieder aus der Falle, und ich sehe Dich durch die Tische wieder auf mich zukommen, und oft, wenn ich durch den Hintereingang rausgehe, bleibe ich vor dem Eisengattertor stehen, wenn es nur halb offen steht, und lehne ich es wieder an den weißen Putz an; die Zeit, die ich damals nicht aufhalten konnte, ist unter den Deckenbalken des Fachwerks stehengeblieben. Dann verabschieden wir uns wieder, und vielleicht beobachten mich die anderen und fragen sich, warum ich jedes Mal ausgerechnet bei den Mülltonnen stehen bleibe. Aber sie stehen ja dann hinter mir, und der Duft Deiner Haut und der Glanz Deiner Augen legen sich um mich und lassen alles andere nur im lilazarten Hauch weinroter Zärte spüren. Aber wenn ich mich nun frage, wie ich Dich eigentlich kennengelernt habe? Nun, Du warst halt einfach plötzlich da, aber so behutsam, dass Du Dich aus dem lauen Kommen und Gehen der Gäste, aus der schattigen Juliluft, die über der Theke, der Zapfstation und der Kaffeemaschine lag, aus dem stetigen Bringen und Abholen der Tablette, mit denen Ihr bei jedem Gang ein Stück malzig, würzige Frische und den Duft dampfgepreßter Röstbohnen mit auf die Terrasse und die Insel nahmt und jedesmal, wenn Ihr wieder reinkamt, ein Stück lauer Juliluft, die im Schein cremeweißer Lichtflecken auf den schwarzen Tabletten lag, mit hereinbrachtet, nur nach und nach herausgebildet hast: wie allmählich zu Deinem eng nach hinten zusammengezogenen umbrabraunen Haar Deine Augen hinzutraten, die leicht ungläubig, aber unbeirrbar aus der verständnisvollen Tiefe Deiner Augenhöhlen schauten und immer zunächst Vertrauen vorschossen! Unbemerkte, unvermutete zarte Schatten lösten sich aus dem schattigen Nachmittag, nahmen Deinen Duft an, behutsam bedächtige Bewegungen nahmen Deine Gestalt an. Damit hast Du Dich mir irgendwann – heute weiß ich, dass es nach dem 15. Juli gewesen sein muss – aus den vielen Händen, die stets die Tabletts leer räumten und wieder füllten, aus den schwarzen Bacardihemden und weißen Bacardiblusen, dem beständigen Ausklopfen der Siebträger, den wechselnden zusammengesteckten Frisuren und mehr oder weniger füllig anliegenden Haaren – nur Dana hat sie noch offen getragen - heraus empfohlen. Die Augen, die jede Beobachtung kommentarlos kommentierten, mit dem untrüglichen Gespür und dem sicheren Blick für die Verläßlichkeit und die Glaubhaftigkeit dessen, was Deine Augen erspürten und Deine Blicke erfassten: mit ihnen hast Du jedes meiner Worte mit prüfender Strenge unter Deinen Augenliedern hindurch zu Dir in Deine Augenhöhlen gezogen, sie von rechts nach links gedreht, in Dich hineingeschaut und mit Deinen Augen schließlich nach unten, seitlich weg in den Winkel der Selbstvergewisserung geblickt, worauf Du auch mit Deinen Lippen meine Worte nachvollzogen hast, die sogleich ein Lächeln freigaben, das einem Intellekt entstieg, der sich bestätigt fühlte, und das den Weg erleuchtete, auf dem Deine Antworten zu mir fanden. Und wenn ich sie dann aufgriff und meinerseits Worte zurückgab, mit denen ich Dir zu verstehen gab, dass ich jene Unbeirrbarkeit und jenes untrügliche Gespür erkannt hatte, hast Du Deine Blicke wieder von rechts nach links gedreht, und dabei mit einer seitlichen Bewegung Deinen Körper gegen die Richtung Deiner Blicke rausgedreht und noch tiefer in Dich hineingeschaut und –gehört, dann hast Du Dich mit einem Bein schon dem nächsten Gang zugewendet, Deinen Fuß einen Schritt zurück in die Deckung Deiner Skepsis gesetzt, in deren Schutz sich Deine Ungläubigkeit ihre Unbeirrbarkeit bewahren konnte, und ich sah Deinen Blicken und Deinen Lippen, die Du halb offen stehen gelassen hast, an, dass Deine Unbeirrbarkeit und Dein Intellekt sich austauschten und verständigten, die Ungläubigkeit ablegten, und in dem Bewusstsein, erkannt worden zu sein, vom Anspruch an sich selbst getrieben, sich ihre Erwiderung zurechtlegten, und wenn Du dann wieder zurückkamst, lag die fertige Antwort auf dem leeren Tablett in Glanz Deiner Augen und dem Schein Deines Lächelns. Du gehörst zu den Menschen, die noch gelernt haben, mit den Augen zu hören und mit den Ohren zu denken. Und manchmal, wenn Du nicht gleich die Zeit hattest, um unsere Worte zu vertiefen, hast Du gesagt: „Oh! Da muss ich später noch mal drauf zurückkommen!“ Und, Jana, wenngleich wir uns vielleicht nie so in die Augen geschaut haben, wie mir das später so sehr gewünscht hätte, so haben wir uns doch stets auf gleicher Augenhöhe bewegt. So hast Du Dich mir, wie gesagt, empfohlen. Die Formulierung mag archaisch klingen, aber vielleicht erinnerst Du Dich noch an sie: sie stammt von Dir. In der Erinnerung an Dich bewahrt sie sich das Ehrwürdige an ihrem Klang und legt doch zugleich das Unterwürfige, den Tonfall unverbindlicher Höflichkeit, ab. Von Dir gesprochen, nahmen sie jenen Wohlklang an, mit dem sich Deine ganze Vornehmheit verbindet – von Dir gehaucht nahmen sie ihre lila Zärte an. Aber diese Vornehmheit nahmen sie nicht allein Kraft des Respekts an, der durch den Klang, den Du ihnen gabst, zu ihnen hinzutrat, der sie trug; Eleganz hast Du Deinen Worten immer auch durch jede Deiner Bewegungen verliehen, deren Eleganz auf sie überging: das zögerlich ungläubige Zurücksetzen des Fußes, mit dem Du sogleich jede Scheu, vielleicht auch Zweifel ausgetreten hast und so den Raum freigabst für Deine Worte, die stets guten Glaubens waren, ohne je für leichtgläubig genommen werden zu können. So saß ich auch Anfang August morgens rechts auf der Terrasse, im graublauen Schatten der Sonne, die hinter dem tief auf dem bleichen Pflaster liegenden Morgendunst aufging, als aus dem Dunst allmählich ein Schopf umbrabraunen Haares, das nach hinten in den Dunst zusammengezogen war, hervortrat, als ich in dem Schatten, der sich auf mich zu bewegte, allmählich Dein Gesicht wahrnahm, das von Deinen Füßen auf mich zugetragen wurde, die ihrerseits von den graubleichen Pflastersteinen zart und ehrerbietig angehoben und nach vorne geneigt wurden, von einem zum nächsten weitergereicht wurden; so rollten sie von einem Pflasterstein zum nächsten ab und jedem Schritt, den sie zurücklegten, wohnte etwas abgeklärt-Besonnenes inne, von jedem Stein, den sie berührten, hoben sie die graubleiche Leere, die alltägliche Öde, die bleichgraue Trostlosigkeit ab, hoben sie die stumme, unsichtbare Geschäftigkeit, die der Dunst zudeckte, auf, und so, wie sie den Schwung der Pflastersteine an Deine Beine weiterreichten, durchschritten Deine Beine den Dunst, der sich an den Nähten Deiner Jeans auflöste und von tiefen Blau durchsetzt wurde, während Deine Haut ihren weinroten Glanz an den Dunst abgab; etwas abenteuerlustiges, unternehmenslustiges lag in Deinem Gang, so wie Du mit Deinem Rucksack, den Du mit nur einem Träger geschultert hattest, auf mich zukamst, so als ob er mit Dir und Du mit ihm die Welt umreist hättest – hattet ihr beide ja auch, gestützt auf Deine Füße, die auf den hunderten kleinen Pflastersteinen verläßlich den richtigen Pfad fanden. „Bist du jetzt morgens auch schon hier?“ Und nachdem Deine Augen wieder kurz in sich hineingeschaut hatten und aus der Tiefe ihrer Höhlen die Gedanken empfingen, die Dein untrüglicher Sinn ihnen anvertraute, hast Du Dich Deinen eigenen Worten angeschlossen und mich gefragt, warum ich eigentlich immer Mohrenköpfe mitbringe. Ich habe Dir geantwortet, dass ich, wenn ich schon von fremdem Geld lebe, Euch, die Ihr ja dieses Geld auch erarbeitet, davon wenigstens was zuteil werden lassen möchte. Und dass ich auch meinen Teil zu beitragen möchte, Euch Eure Arbeit wenigstens etwas erträglicher zu machen. Auch diese Worte hast Du dann wieder im Winkel der Selbstvergewisserung beäugt, nur das dieses Mal das Ungläubige nicht dem guten Glauben wich. Vielleicht hast Du insgeheim die Mohrenköpfe auf Dich bezogen, vielleicht auch auf Dana. Nur warum eigentlich? Dieses Mal mussten sich Deine Unbeirrbarkeit und Dein Intellekt länger austauschen, und sie erbaten sich Bedenkzeit: Ob Du wirklich in diesem Moment gebraucht wurdest, konnte ich von draußen nicht hören; einem tatsächlichen oder auch nur vorgegebenen Ruf folgend hast Du Dich dann aus unserem Gespräch gelöst und Dich mir empfohlen: „Ich empfehle mich!“ Und die ungläubigen Augen drehten sich zur Tür, und das eng anliegende, nach hinten zusammengezogene Haar löste sich aus dem Morgendunst und zog sich hinter dem Türrahmen zurück. Über dem Pfad, den Deine Schritte gefunden hatten, trat die unsichtbare, zunehmend entstummende Geschäftigkeit wieder zusammen, aber die alltägliche Öde bliebt gebannt. Und der weinrote Glanz blieb im Dunst vor der Tür stehen, und der umbradunkle Schimmer durchdrang die Luft des frühen Morgens, der durch die allmählich aufsteigende Sonne zum Mittag gedrängt wurde. Jana: Weiß ich, ob Du diesen Brief überhaupt jemals erhalten wirst? Da Du mir ja Deine Adresse nicht hinterlassen hast, weiß ich nicht, wie ich Dich erreichen könnte. Und an Dana kann ich mich auch nicht wenden, weil ich ihre Adresse ja auch nicht hab. Aber vielleicht schreibe ich einfach nur drauf: „An Dana und Jana in der großen Stadt“ – dann müsste der Briefträger Euch doch finden. Jana, was machst Du inzwischen so? Vielleicht schreibst Du gerade wieder an einer Kurzgeschichte, während Dana die „Gala“ blättert oder bei einem Glas Rotwein ihren Simon Beckett wälzt. Aber vielleicht hast Du den Brief auch schon längst aus der Hand gelegt und gehst mit Dana shoppen – in der großen Stadt. Nun, Jana, wenn Du unsere Geschichte erzählen solltest, würdest Du sie vermutlich als Kurzgeschichte schreiben wollen; nur dass das ja der Gattung widerspricht. Eine Handlung, die der ihr angelegten Form zuwiderläuft; ich meine allein schon, weil doch die Zeit, die dieser Brief umspannt, sich klar dem Anspruch verweigert, sich auf wenige Augenblicke und Momente eines Lebens zu beschränken. Kaum eines der gängigen Merkmale würde erfüllt. Nicht anders steht es mit den Mitteln, denen sich meine Sprache bedient. So stehen meine Metaphern keinesfalls im Dienste der Strukturierung oder sprachlichen Verdichtung. Es sind schlichtweg keine. Ich habe sie Dir abgewonnen. Weinrot und zart gehauchtes Lila sind mehr als bloß metaphorisches Zierwerk, denn sie treten ja nicht einfach an die Stelle Deiner Erscheinung, sondern geben die unmittelbare Wahrnehmung wider, die ich von Dir habe. Sie sind kein sprachlicher Ersatz, um die drohende Gleichförmigkeit abzuwenden, um zu verhindern, dass sich Sprache schon nach wenigen Seiten in sich erschöpfen würde; sie treten aber auch nicht als bloßes Kolorit hinzu: würden sie die Ausdrucksmöglichkeiten einfach nur erweitern, ohne in Deiner Person, in Deiner Erscheinung selbst begründet zu sein, würden sie die drohende Kapitulation des Schreibenden vor der buchstäblichen Sprachlosigkeit nur immer wieder aufs Neue um ein paar Seiten hinauszögern. Oft scheint es, als trügen Metaphern nur noch über die Zeilen und ihre Brüche hinweg, wenn diese sich selbst schon längst nicht mehr tragen können; als ob sich ihr Sinn allein in ihrer Setzung erschöpfe. Der Verdacht liegt nahe, dass dem Unvermögen des Lesers nachgegeben werden solle, dass nämlich einzig die Metapher dem Leser noch erlaube, seine geistige Nichtteilhabe hinter der bildhaften Abstraktion dankbar zu verstecken, in deren Schutz er sein Unverständnis als Kennerschaft bekunden kann, während ihm konkrete, idiomatisch verbindliche und semantisch schlüssige Sprache jenen Ort der scheinintellektuellen Zuflucht vorenthält. So kann er über das, was er nicht begreift, reden, indem er es außer Acht lässt und sein Textverständnis dem Einspruch Dritter entziehen. So kann er sich bei seiner Kritik allein auf die Metapher stützen und seine Kritik doch summarisch auf den gesamten Text beziehen. Doch die Metapher kommt auch dem entgegen, der sie setzt. Mittels der Metapher kann sich auch der Schreibende nicht weniger als seine Leser von den Anforderungen konkreter Sprache lösen und sich gelöst, unverbindlich über sie hinwegsetzen. Was sich von unmittelbar-konkretem Sprechen löst, soll sich den Maßstäben entziehen, nach denen es insgeheim gerne sein Wert zugemessen bekommen möchte. Mit der Metapher will sich der Schreibende seinen Zuspruch sichern. So hofft er von seiner Leserschaft geachtet zu werden, während diese die Metapher ihrerseits in Zweifel ziehen kann, ohne ihr verbindliche Kritik entgegenhalten zu müssen, für die sie einstehen müsste und die ihr nach ihrem eigenen Maß wohl auch mißlingen würde; denn die Kritik am Abstrakten verbleibt selbst im Abstrakten. Etwaige Kritik wahrt so den Schein ihrer selbst nicht weniger als den Schein der metaphorischen Sprachgewalt, deren unmittelbare Einsichtigkeit sie ihr eigentlich absprechen will. Sie lässt die Metapher stehen, wenn auch nach denselben Maßstäben des VorläufigUntenscheidbaren, nach denen sich zuvor auch schon der Schreibende für sie entschieden hatte, und bestätigt ihr so letztlich den Anspruch, den sie ihr nehmen will. So bleibt die Metapher im Raum stehen, ohne dass sie für sich einstehen muss. Die Metapher ist die verbale Flucht vor der Sprache, an der indes nicht die Sprache schuld ist, sondern die, die verlernt haben, sie zu Wort kommen zu lassen sowie der gesellschaftliche Zustand insgesamt. Der Setzung der Metapher haftet etwas Unantastbares von abstrakter Kunst ganz allgemein an. Bildlich ist nicht zwangsläufig anschaulicher. Oft hört man bei denen, die ihren Autoren so begierig jede Metapher abnehmen, den Ausspruch: „Darunter kann ich mir etwas vorstellen!“ Damit geben indes sie mehr zu, als ihnen lieb sein dürfte. Denn in der Tat können sie sich darunter, und zwar nur noch darunter, etwas vorstellen, weil ihnen die durch die humanistische Tradition verbürgte korrekte Sprache nicht mehr zugänglich ist: unter ihr können sie sich in der Tat nichts mehr vorstellen. So verkommt die Metapher in letzter Konsequenz zur bloßen Geste der Verständigung zwischen dem Schreibenden und seiner Leserschaft, der, indem er sich auf sein Publikum zubewegt, sich immer weiter von dem entfernt, was einzig seinen Gedanken einen adäquaten Ausdruck verleihen würde. So durchziehen Metaphern als sprachbehaftete Attraktionen die misslungene Sprache und genügen einzig noch dazu, die Phantasie des Lesers von einem Auftreten zum nächsten zu beflügeln, damit dessen Aufmerksamkeit bewusst abgelenkt werde von dem, was der Text nicht leisten kann, und sich vom Text weg allein der Betrachtung und Bewertung der Metaphern zuwenden möge. Im Nu lässt sich die Phantasie des Lesers so dazu verleiten, sich nur noch mit sich selbst zu beschäftigen. Dann nämlich beschäftigt er sich nicht mehr mit dem Text. Noch so lyrisches Ansprechen der Phantasie kann aber nicht darüber hinweghelfen, dass die Phantasie des Lesers nun einmal nicht identisch ist mit der des Schreibenden und mit ihr allenfalls das Abstraktionsvermögen und eine ungefähre Vorstellungskraft teilt, ohne dass der Leser jemals die eigene Phantasie der Phantasie des Schreibenden entlang nachbilden könnte, die er in der Wortwahl des Schreibenden zwar ausgedrückt findet, aber dabei doch nur ihren Ausdruck vor sich hat, nicht sie selbst. Mag der Leser sich auch noch so sicher sein, sie verstanden zu haben, so ist es gleichwohl vermessen, sie für sich selbst zu beanspruchen. Die sprachliche Anstrengung, die die Metapher bezeugen soll, ist zugleich Indiz dafür, die wirkliche sprachliche Anstrengung, die korrekt-konkrete Sprache erfordert, nicht leisten zu können. In ihr bezeugen sich der Schreibende und seine Leser gegenseitig Respekt, in dem sie sich in Wahrheit gegenseitig in ihrer geistigen Trägheit respektieren: mittels der Metapher können sie sich verständigen: allein dazu dient sie am Ende, nicht etwa dazu, sich über den Text und die Aussageabsicht des Autors zu verständigen. Weinrot und zart gehauchtes Lila hingegen entspringen zunächst ganz konkret meiner Veranlagung, zu Tönen immer auch Farben zu sehen und umgekehrt. Ich versuche lediglich, meine Eindrücke, die Wahrnehmung meiner Sinne in Worte zu fassen. Solche Metaphern – sollten sie dennoch als solche zu begreifen sein – sind nicht an den Erinnerungen entlang konstruiert, sie tragen auch nicht ein etwaiges Geltungsbedürfnis des Autors zur Schau. Allzu oft erweist sich in der vorherrschenden Mode das, was an ihnen originell dünkt, als sorgfältig geplante Berechnung, die ihre ganze Kraft darauf verwendet, den Leser durch unerwartete Wortsetzungen zu verblüffen und aufhorchen zu lassen und so elitär zur Geltung zu drängen; gleichsam, als ob der Schreibende mit jeder neuen Setzung seine Erfindungsgabe zu Schau tragen wolle, die sich indes in solcher Beflissenheit erschöpft und kaum über sich hinausweisen kann. Allenfalls weist sie auf das Unvermögen hin, die Dinge konkret zu benennen. Fast scheint es, als falle es manchem Schreibenden leichter, sich in Metaphern zu ergehen, die ihn immerhin vor der Verlegenheit bewahren, sich konkret festlegen zu müssen, als schlichtweg gut zu formulieren. Solche Ausdrücke drücken lediglich sich selbst aus. Jede Metapher ist immer nur ein Versuch, ihr haftet stets das Moment des nicht Endgültigen an; sie wirken nur vorläufig. Sie befriedigen allenfalls das Verlangen der zur literarischen Szene Zugehörigen, intellektuell herausgefordert zu werden. Für den Unvoreingenommen werfen sie stets die Frage nach dem besseren Einfall auf, der dem Autor nicht beschieden war: So lässt die Metapher das metaphorisch Beabsichtigte letztlich offen, so wie sie das literarisch Intendierte insgesamt sprachlich offen lässt; als ob der Schreibende bildliche Ausdrücke aufbiete, um seine Leser, vor allem aber sich selbst dafür zu entschädigen, dass er sich schlichtweg in seiner Sprache nicht zurechtfindet; idiomatisches Gespür und semantischer Sinn sind ihm nicht zugänglich: Weder verfügt er über das Wisssen um die einzig richtige Fortführung einmal begonnener, aus dem diffusen Sprachschatz hervorgeholter einst aufgegriffener aber nie wirklich begriffener Wendungen, noch macht er sich die Mühe, die Worte genau auszuhören. Er traut den Worten nicht mehr zu, was bereits in ihnen steckt, und deshalb traut er sich selbst nicht mehr über den Weg. Idiomatische Unsicherheit und mangelndes semantisches Gespür machen gegen die konkrete, unmissverständliche Sprache misstrauisch und diffamieren sie darum als zu einfach. Bequemste und zugleich feigeste Ausrede ist die, den Einwand gegen die über die Ufer tretende Metaphorik und das Einfordern gediegener, verbürgter Sprache als der jeweiligen Textsorte unangemessen zurückzuweisen. Mal gilt letztere als nicht ausdrucksstark genug, mal als wissenschaftlich ungenügend, je nach Standpunkt, den es zu verteidigen gilt. Die Metapher ist der Elfenbeinturm des Zwerges, der die Musen gerne anrufen möchte, ohne je den Turm ersteigen zu können. Weinrot und zart gehauchtes Lila hingegen sind Dir, Jana, Deinen Bewegungen, Deinem ganzen Ausdruck, Deiner Liebenswürdigkeit und er der so tief von Dir für mich empfundenen Güte abgewonnen. Sie sind Ausdruck meiner konkret-subjektiven Wahrnehmung Deiner Person. Deine Bewegungen, der Duft Deiner Haut, das Leuchten Deiner Augen sind selbst Metaphern Deiner Liebenswürdigkeit und Deiner Fairness. Wollte man je meine Metaphern ihrer inneren Logik und ihrer Glaubhaftigkeit wegen anzweifeln, so könnte ich sie doch stets rechtfertigen mit dem Hinweis darauf, dass sie ohne jedes konstruktive Bemühen der Wirklichkeit nachgebildet sind. In ihnen drückst Du Dich selbst aus. Dasselbe gilt natürlich auch für Dana Damit überträgt man den Worten indes ein hohes Maß an Verantwortung. So erliegt der Schreibende stets der Versuchung, in Worte zu fassen, was die Worte selbst kaum fassen können. Kann man selbst im Augenblick des Geschehens das Erlebte kaum je wirklich erfassen, so sollen die Worte dieses intellektuelle und psychologische Defizit rückschauend kompensieren und das Versäumte nachholen. Die Worte sollen einstehen für das, was sie schon zuvor, als man sich in der dem Leser mitgeteilten Situation ihrer zu bedienen versuchte, nicht zu sagen vermochten; als sie sich dem versagten, was sie sagen sollten. Die sprichwörtliche Sprachlosigkeit soll bewältigt werden, indem man sich wortreich, mit lyrischer Eleganz und metaphorischer Beredsamkeit über sie hinwegsetzt. So zwingt man die Worte, deren man sich bemächtigt, sich selbst über ihre eigene Ohnmacht hinwegzuhelfen. Metaphern sollen Plastizität bewirken inmitten der sprachlich kaum greifbaren Botschaften des Schreibenden. Sie sollen an der Oberfläche der Sprache in die Handlung die Struktur bringen, die ihr unter dieser Oberfläche fehlt. Mit Poesie versucht der Schreibende zudem das in der zurückliegenden Situation Misslungene nachzuholen, immer in dem Glauben, endlich aus den Worten das herausholen zu können, was sie zuvor nicht hergaben. Was allgemeinsprachlich als Scheitern und Versagen bezeichnet wird, ist lediglich Ausdruck des ängstlichen Festhaltens an der Illusion von der Perfektion, der sprachlichen Zulänglichkeit. Die Annahme, man könne rückschauend, auch mit, wie man so sagt, Abstand zu dem Erlebten, das Erlebte durch die Mittel der Poesie einsichtiger vor Augen führen und gar nachtragen, was einem in der Situation selbst verwehrt bliebt, rückt die Poesie immer in die Nähe von Tagträumerei und ist in letzter Konsequenz Betrug: am Leser nicht weniger als an sich selbst; Literatur haftet immer der Verdacht an, das Ungeschehene geschehen machen zu wollen: Der Versuch, das Geschehene verbindlich festzuhalten, geht immer einher mit der Gefahr, in das Geschehene korrigierend einzugreifen. Vor der schwärmerischen Fülle des großen Romans suchten die Autoren des Nachkriegsdeutschland in der Kürze des Augenblicks Zuflucht, in Abkehr von der ausschweifenden Länge suchten sie das Heil in der sprachlichen Verkürzung. Indem sie buchstäblich einzelne Augenblicke aus dem langen Leben eines Menschen herausschnitten, schnitten sie zugleich den Lesser vom dem langen Leben ihrer Helden ab und glaubten, durch strukturelle Verkürzung und metaphorische Verdichtung der Sprache der Schicksalshaftigkeit mehr Nachdruck verleihen zu können. Die lyrische Ausschweifung wich einer zunehmenden Komplexität der Sprache, die die Komplexität des Lebens indes nicht besser bewältigte, sondern sie nur sprachlich vor sich hertrieb und den Leser von einer Kurzgeschichte, also einer Augenblicksschilderung, auf die nächste vertröstete. Die Abkehr von der Illusion des großen Romans mündete in die Hingabe an die Unmittelbarkeit des Augenblick, die nicht weniger illusorisch war. Aber vielleicht findest Du trotz aller formimmanenten Widrigkeiten, die durch die Textsorte schon vorab bedingt sind, eine geeignete Form, eine, die geeigneter wäre, als das bloße Aufschreiben von Erinnerungen, das Schreiben eines Briefes, den Du wohl ohnehin niemals lesen wirst. Aber ich weiß ja nicht, wie Du mit all diesen Fragestellungen umgehst. Vielleicht befindest Du Dich ja schon mittendrin, vielleicht hast Du längst schon die exemplarischen Lösungen gefunden und lässt mich hier weiter mit den alt hergebrachten, längst überholten Mitteln arbeiten, anstatt mich an Deinen Lösungen teilhaben zu lassen. Nun, Jana, das ist eigentlich der einzige Vorwurf, den ich Dir machen muss, sofern nicht das Wort zu groß gewählt ist, weil es in dem Verdacht steht, all die anerkennenden Worte, die ich zuvor für Dich gefunden habe, zurücknehmen oder doch zumindest relativieren zu wollen. Aber natürlich weißt Du, dass es nur augenzwinkernd gemeint ist. Natürlich mache ich Dir keinen Vorwurf; vielmehr bedauere ich ganz ehrlich, Deine Kurzgeschichten nie gesehen zu haben. Gezeigt hast Du mir nur Dein Tagebuch. Das Tagebuch, das Dich schließlich zu dem Entschluss geführt hat, in die große Stadt zu ziehen, mit der Überlegung, vielleicht auch einmal in den Journalismus zu wechseln oder gar gezielt daraufhinzuarbeiten, den Weg des kritischen Weltbegleiters zu gehen: das Tagebuch, das Dich von den Aufzeichnungen über viele andere kleinere und größere Städte der einen großen Stadt zugeführt. Hast Du nun diesen Weg eingeschlagen? Ich hatte Dir vorgeschlagen, Dich bei den dortigen Zeitungen, da sie auch überregionale Bedeutung besitzen und auch jenseits der großen Stadt erscheinen, vorzustellen. Immerhin wäre es nicht so mühselig, wie Tag ein, Tag aus Service in der Gastronomie zu machen; zudem wäre es ja auch viel lohnender. Und dann musst Du ja auch sehen, auch das habe ich Dir an jenem Abend gesagt, als ich zum zweiten Mal zu Dir raufkam – beim ersten Mal hatte ich Dich an der kleinen Bar aufgesucht, während Du die Spülmaschine ausräumen musstest; beim zweiten Mal nun saßt Du an dem kleinen Tisch am Fenster – jedenfalls musst Du ja auch sehen, dass Du zur jeweiligen Veranstaltung freien Eintritt hast, und das musst Du ja dem Honorar hinzurechnen, und so gesehen liegt die Verdienstaussicht an einem Abend, je nachdem, was Du nun als Eintrittspreis zugrundelegst, auch schon mal bei sechzig, siebzig Euro und mehr. Natürlich würdest Du nicht gleich zu den großen Terminen geschickt, aber das ändert nichts an der Honorierung und zudem würde man Dir Dein Engagement bei der Redaktion sicher auch schnell honorieren; allerdings solltest Du dabei stets Deine Karriere im Auge behalten und Dich nicht allzu lange immer nur zu den Terminen schicken lassen, die sonst keiner machen will und zudem für die Redaktion, wenn sie einen ihrer langjährigen Mitarbeiter schicken würde, wegen der höheren Forderungen, auch zu teuer würden. Sonst wird die stets wieder bekundete Wertschätzung für Deine Arbeit zum Vorwand, Dir die Anerkennung, die Du Dir mit steigender Zahl der Artikel tatsächlich erarbeitet hast, nicht zuteil werden lassen zu müssen. Die Bitte um Geduld gerät so zur ewigen Vertröstung, der redaktionelle Einwand gegen Deine Texte zum schlechten Vorwand für die niedere Absicht, Dir die wohlverdiente Anerkennung niemals zuteil werden zu lassen: die Bitte um Geduld soll Dir die Vergeblichkeit Deiner Bemühungen als bloß vorläufig vor Augen führen und Dich auf eine spätere Würdigung hoffen lassen, damit Du schließlich an jener hoffnungsvollen Aussichtslosigkeit zerbrichst; damit Dein Selbstbewusstsein an jener Vergeblichkeit schwindet: wann immer Du mehr einforderst, wird man Dir das als vermessen auslegen und so gezielt Selbstzweifel streuen. Lässt Du diese Zweifel in Dir aufkommen, garantieren diese Zweifel denen, die über Deine Zukunft zu entscheiden haben, dass sie auch weiterhin unwidersprochen bleiben. Überwindest Du aber diese gezielt gegen Dich, in Dich gestreuten und doch Deiner unwürdigen Zweifel und versuchst sie auf ihre eigenen Worte, Worte der stets beteuerten Wertschätzung festzulegen, werden sie Dir das erst recht als vermessen auslegen. Nun, bist Du also zu den Zeitungen in der großen Stadt gegangen? Ich warte noch immer darauf, mir eines Morgens, hier in der Passage in der kleinen Stadt eine Zeitung aus der großen Stadt zu kaufen, und ich stelle mir vor, wie ich sie auf der Suche nach einem Artikel von Dir durchblättere, wie plötzlich, noch ehe Dich Deinen Namen entdecke, das Weiß zwischen den Zeilen weinrot silbrig aufschimmert, wie sich die Schwärze der Buchstaben plötzlich aus der Tiefe des Papiers weinrot dehnt und die Zellulose jedes einzelne Wort, das sie trägt, lila zart aus ihren Fasern haucht. Jedenfalls hatte ich Dir vorgeschlagen Dich in der kurzen Zeit, die vor Deinem Wegzug in die große Stadt noch verblieb, bei unserer Zeitung hier vorzustellen. Das war an jenem Abend, als Du Dein Tiramisu mit mir gegabelt hast. Mit zögernden Füßen kam ich an diesem Abend, nachdem ich in einem unbeachteten Moment zu Dir ins Restaurant hinaufzögerte, auf den kleinen Tisch zu, an dem Du die Bestecke polieren musstest. Mit bedächtigen Schritten, die die Zufälligkeit bedenken, die sie vorzugeben versuchen, stets darauf bedacht, jene Zufälligkeit von einem Schritt zum anderen abzulegen und sich zu der Zuneigung, die sie trägt, zu bekennen und aufrechten Gangs auf Dich zuzuschreiten. Stets bemüht, der Situation eine Selbstverständlichkeit zu verleihen, die auch Dich die Situation als selbstverständlich empfinden lassen sollte. „Du kannst ja noch mal drüber nachdenken, aber es würde natürlich gut aussehen, wenn du dich später dort vorstellst und wenigstens ein, zwei Artikel vorweisen könntest.“ Da kannte ich schon Dein Tagebuch. Als wir dann später unten an der langen Seite der Bar saßen – als Du Dich dann zu mir gesetzt hast - und Du Dein Tiramisu mit mir geteilt hast, hast Du ungläubig kalkulierend die Aufrichtigkeit meiner Worte zu ergründen versucht, indem Du sie durch das Bekunden von Selbstzweifeln ein zweites Mal herausgefordert hast: „Du überhöhst mich!“ Aber Jana, keinesfalls habe ich Dich je überhöht, wenngleich ich Dich damals wie heute sehr hoch halte. „Ich muss mal ein, zwei Nächte darüber schlafen.“ Als ich an diesem Abend das Lokal nach vorne, durch den offenen Samtvorhang verließ und schon alle GutenAbend-Wünsche hinter mir gelassen hatte, die letzten Zurufe noch im Rücken spürte, hast Du mir noch ein „Schlaf gut!“ nachgerufen – so wie ich es Dir ein paar Tage vorher, freitags oder samstags, durch das späte, verrauchte Schummern, durch die Schatten, den die Gäste in der neonroten Flut des Drehstrahlers auf sich selbst und in die stehende Wärme warfen, durch die wie so oft viel zu drückende Musik zugerufen hatte: Deine nach hinten zusammengezogenen Haare schimmerten im Glanz von Whiskey, Cognac und Grappa Flaschen, in deren Schatten Deine Augen ungläubig ruhten, die ihrerseits meinen Gute-NachtGruß hinter dem Dunst der späten Stunde unverdächtig, scheinbar arglos zu mir zurückspiegelten: dieses Mal hast Du meine Worte mit Deinen Blicken an Dir herabgesenkt und dann fragend, deutend zu Deinen Mitarbeitern zur Seite geschaut. Doch während Du meine Worte scheinbar vor Dir, an Dir herabschauend im Raum stehen gelassen hast, nicht zurückgewiesen, aber auch nicht angenommen, hast Du sie dann doch wieder in Dich hineingeschaut - und hast sie Dir gemerkt. Ja, Jana, Deine Augen haben sich meine Worte gemerkt. Stets haben sie sich in Deinen Blicken weiter bewegt, stets haben Deine Blicke sie fortgeführt, Deine Augen bewahrten sie sich, trugen sie mit sich rum; in Deinen Augen horchten meine Worte auf, in Deinen Blicken wurden sie immer wohl bedacht. Deine Augen eilten meinen Worten voraus und dachten jeden Satz, den ich zaghaft begann, für mich zu Ende. Sie beobachten mich noch immer durch die Schatten der Erinnerung. Und wenn ich nun meine Erinnerungen an Dich aufschreibe, so führen sie meine Gedanken: ich versuche, vor Deinen Augen zu bestehen. Ich meine, ich möchte natürlich auch vor Danas Urteil bestehen – falls Ihr überhaupt so weit lest. Jetzt hab ich mich so lange mit Jana aufgehalten, dass ich wiederum Dana um Verständnis bitten muss. Aber es ist halt schwer, einen Brief an zwei Personen gleichzeitig zu schreiben. Es ist inzwischen wieder nach neun, der August drängt die Sonne, die tagsüber den Rasen ausbrennt und selbst Salbei und Thymian vertrocknen, beinahe absterben lässt, mit jedem Abend schon wieder merklich früher unter den Horizont. Ich habe noch bis in die ersten hölzernen Schatten, die der einzige Kirschbaum, die Rotbuche und die Tränenzypresse auf den unteren moosbedeckten, von Steinbrechbrech überwachsenen und von Walderdbeeren durchzogenen Hang werfen, dem der allmählich sich neigende August sein leuchtend sattes Grün und den goldgelben Glanz entzogen hat und der nun in der sich darüberlegenden feuchtwarmen Dämmrung, die im August nie richtig Nacht wird, ruht, aus dem Weißdorn die Wassertriebe herausgeschnitten. Bei allmählicher Nacht schneide ich mir, wie jeden Abend, meine Tomaten auf: gesalzen, gepfeffert, Olivenöl, Basilikum, bedeckt mit einem Daumenbreit Käse. Dazu Gurkensalat, ohne Soße, nur mit Zitrone und Öl und der Petersilie aus dem seit kurzem am mittleren Hang, auf der Wiese, unter der Linde angelegten Rundbeet. Mit der Leichtigkeit des Magens, der sich ohne ein Gefühl von Fülle gesättigt fühlt, ziehe ich mir wieder eines meiner farbenfrohen, kurzärmeligen Hemden über und laufe zum Busbahnhof hinunter… In der feuchtwarmen Milde der Nacht, die sich auf die Fachwerkverstrebungen und die weißverputzte Gefächer gelegt hat, auch über Kirschlorbeer, Blauregen und das Olivenbäumchen, die ihrerseits ihr Grün an die Nacht, an den späten Augustabend abgegeben haben, da, wo im schummrigen Gelb der Wandlaternen die tagdunkle, feuchtwarme Luft aufleuchtet, und die Laternen ihr goldgelb in die blaudunkle Nacht streuen und das schon zwei, drei Stunden vorher untergegangene Sonnenlicht in die nachtdunkle Wärme verlängern, unter dem die Köpfe der Gäste glänzen; da, wo sich die zahllosen Stimmen aus der Mühe und Anstrengung des zurückliegenden Tag zu später Heiterkeit und bierseliger Ausgelassenheit erheben: dort, im Hinterhof sitzt die Chefin mit zwei, drei Mitarbeitern; die Tür des Hintereingangs steht im Türschnapper fest an die Bodenfenster angelehnt. Neben dem Aufzug werden Essensreste von Teller gekratzt, und noch ehe ich die grüne Kontrollampe sehe, ruft schon jemand „Aufzug!“; es ist meistens dieselbe Stimme, die mit dem marokkanischen Akzent. Eine Serverin eilt herbei, und zieht die Schachttüren nach oben und unten auf, ernüchtert von den unzähligen Speisen, die sie erst mal zwischen den Armen der anderen, die das vorgesäuberte Geschirr in den Aufzug schiebt, heraushebt - viel zu schwer für sie allein, und, während sie die angerichteten Teller und Schüsseln erst mal auf das Silber der Theke abstellt, verzweifelt nach Hilfe ruft, dabei die Bons ordnet; wieder ertönt der Ruf „Aufzug!“, durch die Gäste beeilt sich die nächste Serverin: zwei müssen erst mal reichen, weil sonst die Getränke vorne wieder nicht abgeholt werden können. Noch erlebt das Lokal einen Sommer, in dem die Gäste genügend Geld haben, das Lokal zu füllen. Selbst die Schmale mit der Brille, die Kärntnerin, muss an diesem Freitag noch aushelfen, obwohl sie schon morgens um neun angefangen hat. Ich setze mich an die Theke, an die lange Seite. Auf den Salaten liegt auch noch nach zehn, halb elf das Licht des bereits zur Neige gegangen Augusttages, in den grünen Blättern der Salate, den roten Paprikastreifen und den knusprig gebratenen Putenstreifen leuchtet das heiße, fahle Gelb des August weiter, in ihnen bündelt sich das Licht der Regal- und Thekenbeleuchtung und wirft es als Erinnerung an das bereits untergegangene Licht in den Raum hinein; der Widerschein der grün rot gelb braunen Aperitifs und Digestifs hält die Helle des zur Neige gegangenen Tages im Raum fest und spiegelt sie über die Theke in den Raum zurück, hellt das Parterre auf und wirft sein eigenes Licht hinaus, durch die offene Tür auf das nachtblaue Pflaster, das im vorderen Bereich, direkt vor den Bodenfenstern, von den Wärmestrahlern gelbrötlich aufgehellt wird: in die Dunkelheit des Marktes sehe ich das Licht des schon seit ein, zwei Stunden untergegangenen Augusttages hinein. Auch das Duckstein, das vor mir gezapft wird, hält das goldweiße Licht fest: unter dem Schaum perlt die goldbraune Würze, in der die bereits vor Stunden untergegangene Augustsonne weiterglüht, halten die aufsteigenden Perlen, hält die kühle Frische der Malzwürze die Hitze des vergangenen Tages fest. Die Große, die ich schon aus dem Ecklokal am anderen Ende des Marktes kannte, stellt mir vom Gang aus einen Salat hin, den ich gar nicht bestellt habe: die Chefin hat ihn mir an diesem Tag angeboten. Er war falsch geordert worden, und ich erkundige mich bei der Großen, ob das nicht zu Lasten von ihr gehe, weil ich nicht möchte, dass sie meinen Salat zahlen muss. Eine Likörflasche schlägt am Boden auf: der Italiener hat mal wieder zu viel jongliert; der Marokkaner holt Besen und Aufwischer herbei, dreht ihn aber nur zischen seinen Fingern auf dem Boden, während er mit dem Italiener jetzt erst recht erheitert und angeregt diskutiert, aber bestimmt nicht über den Service – den Besen drückt er dann einer Serverin in die Hand. Immer wieder winkt er ab, als er von einer anderen Serverin gerufen wird, er kommandiert sie mit seinem Rücken, wirft ihr irgendeine Antwort hin, von der sich die Serverin aber missverstanden fühlt und mit der sie sich nicht zufrieden geben kann. Es geht um ein Glas Weißwein, das die Serverin wiederholt verlangt, das sie endlich an den Tisch bringen will, der es bestellt hat. Der Schichtleiter behauptet, ihr den Wein schon herausgegeben zu haben. Sie bleibt ruhig, aber in ihrem Ton entschieden und doch von vornehmer, besänftigender Eleganz, von der er sich jedoch kein Zögern lang besänftigen lässt. Sie stellt sich seinen Anschuldigungen entgegen, in dem sie ihren Kopf leicht, aber erkennbar über seine Unterstellungen hinweghebt, mit einer leicht hinausschwingenden Bewegung ihres Oberkörpers den persönlichen Ton abschüttelt und mit scharf leuchtenden, fest entschlossenen Blicken, die ihm zu erkennen geben sollen, dass ihre Berufserfahrung seine Äußerungen durschaut und sie sich auch nicht einschüchtern lassen wird, auf dem Glas Weißwein beharrt. Dann fällt ein Wort, aus dem Munde des Schichtleiters, das ich nicht hören kann: daraufhin eskaliert die Situation. Die Serverin behauptet sich, indem sie ihm klipp und klar sagt, was sie von ihm hält. Sie streckt sich aus ihrer eigenen Größe heraus, ihre Brüste heben ihre Bluse leicht, aber erkennbar an, zum Zeichen der Größe, die sie für sich selbst fühlt, zum Schutz vor dem unberechtigten Geifern, aber unter ihr atmet ihre zarte Verletzlichkeit durch. Und sie bleibt hartnäckig, bis sie ihr Glas Weißwein doch noch bekommt: aber nicht von ihm. Er zieht, wie so oft, die Arme, mit ausladenden, nach oben offenen Händen, eng an seinem Körper geführt nach hinten weg, mit denen er ihre Einwände an die Anonymität des Raumes abgibt und sich zugleich mit Ahnungslosigkeit und Arglosigkeit wappnet – er will sich von ihr nicht angesprochen fühlen, aber sie soll sich von ihm angesprochen fühlen -, weicht mit den Blicken über ihren Kopf hinweg aus und sucht die Flucht aus seiner Verlegenheit, in dem er einer anderen Serverin neue Anweisungen erteilt. Mag er sich auch noch so unschuldig geben, der Serverin kann er ihren unbezwingbaren Blick auf seine zur Schau gestellte Ahnungslosigkeit nicht verstellen. Den Weißwein muss sich die Serverin selbst ausschenken. Aber sie hat sich ihren Stolz bewahrt. Das warst Du, Dana. Aber nahegegangen ist es Dir natürlich schon. Ich bin dann kurz darauf, mit einem gewissen Abstand zu dem Wortwechsel, damit er keinen Zusammenhang herstellen konnte, aufgestanden und ins Bistro gegangen, aber so kalkuliert, dass Du gerade herauskamst, damit er nicht auf die Idee käme, dass ich Deinetwegen hineinging, und habe gewartet, bis Du beim nächsten Gang wieder um die Ecke ins Bistro zurückkamst. „Wenn du hier weiter arbeiten willst, musst dir über eins im klaren sein: er hat immer Recht und weiß immer alles besser!“ Deiner Selbständigkeit bewusst, hast Du meine Worte dankend angenommen und mir zugleich zu verstehen gegeben, dass Du Dir über Deine untergeordnete Position, aus der allein heraus Du ihm gegenübertreten konnest, längst im klaren warst. Auf Deiner Haut lag der Widerschein des goldgelben Anstrichs, das schwarze Licht, das die Torblenden der kleinen Deckenlampen auf Dich warfen, der Halbschatten des dunkelbraunen Luftabzugskanals; obwohl Du kaum stehen bleiben konntest, blieb mein Blick auf Dir ruhen: auf Deinem Gesicht, das sich von Dir abgelöst hatte. In diesem Moment erlebte ich zum ersten Mal, wie Deine Blicke im Raum stehen blieben. Die samtige Fülle Deiner Haut sog alles Licht in sich auf und gab es aus Tiefe ihrer Poren wieder an das Bistro zurück: in der geschmeidigen Tiefe Deiner Haut verband es sich zu einem olivgelben Ton, der in einem feuchten Schimmer Deine Haut glättete und an ihrem Rand den schummrigen Dunst aufsog und ihn olivgelb aufglühen ließ. Deine Haut trug ihren marzipanen Glanz in das spärliche Licht, das die Torblenden schwarz an die ockerfarbenen Wände warfen; alles Licht, auch das matte Braun der Bilderrahmen, wurde, wo immer ich nun hinschaute, von innen, aus der ungreifbaren Tiefe des Raumes olivgelb aufgehellt; aufgehellt von Deinem Gesicht, von Deinen Blicken, die von diesem Moment an im Raum standen. Obwohl das Bistro auch weiterhin nur im spärlichen Licht, das der Rauch gerade noch durchließ, schummerte, glänzte es aus der schummrigen Tiefe auf in Deinem Glanz, und das gelbblasse Licht färbte sich olivgelb. Selbst auf das Gesicht des Mönchs, der mit beiden Armen umschlossen die erste Flasche Fernet Branca fest an sich drückt, legte sich an diesem Abend der olivgelbe Glanz Deiner Haut, aus seinen Augen schauten Deine Blicke zu mir: auf seinen Wangen lag das kleine, bescheidene Glück und der leise Stolz über den Erfolg, den seine Kräuterrezeptur hatte: das Glück, seinen eigenen Magenbitter in den Händen zu halten, verwandelte sich zu dem jenem Stolz, den Du Dir vorher, an der Theke, bei dem heftigen Wortwechsel bewahrt hattest, und den Du jetzt in das Bistro und unter die Gäste trugst. Auf seinen Wangen lag der bescheidene Stolz und der kühle Glanz Deines unbeugsamen Willens, auf seiner Stirn der Schweiß Deines gewachsenen Selbstvertrauens; und doch atmete unter dem leicht wippenden seitlichen Rausdrehen Deines Oberkörpers noch ein Rest von Verletzlichkeit: dieselbe Sensibilität, die Dich zuvor die Situation erfassen und den Wortwechsel durchstehen ließ, machte Dich im selben Moment eben doch auch verletzbar. Nach und nach nahm auch der rötlichbraune Lack der hinteren Tische, nach der Stufe, das Olivgelbe in sich auf, während sie ihren rötlichbraunen Glanz auf Deine Stirn und Deine Wangen auftrugen; das Holz der Bilderrahmen tupfte sich wie Bronzer auf sie: je weiter Du nach hinten ins Bistro gingst, um so dunkler mischten sich die Schatten in das Olivgelb ein, um so wärmer wurde der Glanz Deiner Haut, der auch in der hintersten, rauchigsten Ecke stets die Atmosphäre erfüllte, und aus diesem warm schimmernden Ton leuchteten Dein Stolz, Deine weitsichtige Nachsicht, die Deinem Gang ihren Stolz verlieh, und Deine Füße trugen sie mit festen, sicheren, bedeutungsschweren Schritten durch die Gäste, durch die Tische und Stühle, trugen sie in das Bistro und wieder heraus. Mit einem Mal verbanden sich Deine Augenbrauen, jene etwas scharfgezogenen Brauen, mit dem Holz der Bilderrahmen, und selbst wenn Du wieder zurück an die Theke musstest, hing der braune Luftkanal an ihrer Stelle unter der Decke und lag über den Köpfen der Gäste. An diesem Abend blieb ich zum ersten Mal, gedankenvergessen, zwischen den Tischen und Stühlen, zwischen den Gästen stehen und schaute immerzu in Deine Blicke, die sich im Innern meiner eigenen Blicke dehnten, und auch dann nicht wichen, wenn Du wieder ins Bistro zurückkamst: Deine Blicke traten dann in die Blicke, die vor mir im Raum standen, und je näher Du kamst, um so mehr füllten sie die Blicke, die vor mir im Raum standen, von hinten aus der Tiefe des Bistros, bis die Blicke, die Du zu mir trugst, schließlich über die kleine Stufe im rustikalen Parkett zu den hinteren Stühlen an den rotbraunen Lederbänken an sie herankamen, sich von innen auf sie legten, sie sich von innen deckten, sie sich überlagerten, bis schließlich die Blicke, die noch im Raum standen, durchsichtig wurden, schließlich nach hinten, in die Tiefe aufrissen, aus der dann die Blicke, die Du zu mir trugst, aus der Tiefe heraustraten, von innen die imaginären Blicke füllten und in tiefem Blau aus dem Olivgelb durch das schummrige bräunliche Licht in mich eindrangen. Noch zog doch die feuchtwarme Luft der ausklingenden Augustnächte durch das Bistro und zog durch die offene Hintertür, über die mancher Gast so gerne das Lokal über den Hinterhof verließ, nachdem er oft genug den Tisch gewechselt oder seine Bestellungen immer wieder berichtigt oder zurückgenommen hatte, wieder in die späten nachtblauen Stunden hinaus; noch lag auf dem Weiß Deiner Bluse jenes cremeweiße Licht, in dem Du mir im Eingang, vor dem furnierten Eichenholz gegenübergestanden hattest, und in ihren Falten lagen die lichtblauen Schatten der drückenden Augustsonne – jener Augustsonne, die täglich durch die vielen Beine der kommenden und gehenden Gäste hindurch unbeteiligt hindurch schien und von den Köpfen des Pflasters graugelb durch den Eingang auf das rustikalbraune Parkett ihre Schatten warf; in ihrem Schein und in ihren warmen Luftzügen saß ich am frühen Abend stets auf einem der vorderen Plätze an der Bar und fühlte ein Warten, empfand ein Fehlen, schon lange, bevor es mir zu Bewusstsein kam, bis mich Deine Stimme aus der Schwere meiner in der Rückschau auf ein vertanes Leben und der Aussicht auf eine aussichtslose Zukunft gefangenen Gedanken löste, bis mir Deine Stimme schließlich die Erfüllung des Abends gewährte – bis ich schließlich den ganzen Tag schon in der Erwartung zubrachte, bis ich schließlich auf dem Weg zum Busbahnhof und während der etwa viertelstündigen Fahrt in die Stadt es immer wieder zu mir selbst sagte, es Dich zu mir sagen ließ, es Deine Stimme zu mir sagen ließ: es hatte so etwas ungezwungenes, herzhaftes. Und doch lag immer auch etwas Absichtsvolles in Deiner Stimme. (Oder hab nur ich das so empfunden?). Und in dieser Stimme hörte ich jenen goldgelben Ton, den auch der Raum angenommen hatte, der sich mit den ockergelben Wänden des Bistros deckte, der in dem olivgelben Glanz Deiner Haut aufging und sie zugleich noch anmutiger atmen ließ: ein Ton, so wie ihn eine Oboe etwa zischen a und b in der mittleren Lage hervorbringen würde: diese Stimme, mit der Du jenen Ton von Fürsorglichkeit aus dem Innersten Deines Wesens bezogst, begleitet von einem Hauch von Neugierde: diese unverwechselbare Farbe; wenn Deine Stimme anhob, hob sie den ganzen Oberkörper mit an, und so wie Deine Lippen die Silben formten, formten die Silben auch Deine Lippen; die Brahmssche trug sie in der Tiefe ihrer Rundung nach außen: auf der Brahmsschen lagen die Silben in der Rundung schüchterner Verlegenheit, von der sie von der oberen herzhaft angehoben und von Deinen erwartungsvollen Blicken ihre Anmut erhielten; so wie Du Dich über jeden Zweifel hinausgestreckt hast und zugleich fest entschlossen an die Theke getreten bist: weltoffen und weltgewandt zugleich; ganz kurz, zwischen zwei Tabletten, mit einer gezielten Kürze, die Beiläufigkeit bedeuten sollte, hast Du mich dann gefragt: „Hallo Simon, wie geht es dir?“ Und je mehr ich es erwartete, um so ungeduldiger übereilte ich meine Erwiderung. „Hallo Dana, wie geht es dir!“; mit der Betonung auf „dir“, um die Unmittelbarkeit und die Rückbezüglichkeit der Erwiderung auszudrücken. Ich habe nie herausfinden können, warum Du es immer zu mir gesagt hast: Später, als ich es immer häufiger aufgriff, als ich es dann in der Erwartung Deiner Frage Dir vorweggenommen habe, hast Du es zunehmend unbeachtet belassen; dann hast Du meine Frage mit einem drehenden Wippen Deines Oberkörpers von Dir abgewendet. Die untere hast Du dann abweisend zurückgezogen, die obere zum Schutze vor der eigenen Verlegenheit und auch vor der eigenen Scham zum Ausdruck des Unbehagens nach innen eingerollt. Die wippend drehende Bewegung verriet Deine Verlegenheit, dass Du an Deine eigenen Worte nicht mehr gern erinnert werden wolltest; und doch lag selbst in jenem Wippen, lag in diesem scheinbaren Abwehren, lag im lichtdunklen Schatten in jeder Falte Deiner Bluse noch immer jene Herzhaftigkeit verborgen, während durch das lichtgelbe Weiß des Blusenstoffs auf ihren Umbiegungen noch immer eine wenngleich unterdrückte Rührung drang. Ich habe jene Worte, zum Gruß stilisiert, beibehalten, habe es mir als Teil von Dir bewahrt: es gewährte mir jene Vertrautheit, die Du mir nie so recht zugestanden hast; je weniger ich sie in Deinem Verhalten spürte, um so mehr hörte ich sie in Deinen Tonfall hinein und aus Deinen Worten wieder heraus. In ihnen hielt ich jenen Ton vorsichtiger Vertrautheit fest, vom dem Du Dich später zunehmend bestimmter entfernt hast. Darum griff ich es auch auf, als ich Dir irgendwann meine erste Mail schrieb, und hielt dann um so nachdrücklicher daran fest, je öfter ich versuchte, Dir in zunehmend längeren Mails das mitzuteilen, was ich in Dir in der Kürze der vielen kleinen Momente vor Ort, im Lokal, nicht sagen konnte: die vielen kleinen Gelegenheiten, die ich schon als verpasst empfand, noch bevor sie sich ergaben und Du ihnen aus dem Weg gingst. So begann ich jedes Mal aufs Neue unsere Korrespondenz: jene Korrespondenz, die diesem Brief vorausging, ohne je wirklich zustande gekommen zu sein. Aber ich habe in jener Anrede nicht nur versucht, eine Vertrautheit festzuhalten, die nie wirklich bestand, und sie dadurch überhaupt erst herzustellen, sondern mir zunächst nur mein kleines, in der Betriebsamkeit des Lokals beinahe nicht wahrgenommenes, beinahe verpasstes und von Euch wohl kaum bemerktes Glück bewahrt; wenngleich ein Glück, dass ich nur theoretisch empfand, ohne es unter dem täglichen Ziehen und Brennen in meinen Armen und Beinen und der dumpfen Ferne, aus der ich Euch nur jäh wahrnehmen konnte, wirklich erleben und es in der Tiefe meines Inneren wirklich spüren zu können. Ich wusste aus der Erinnerung an früher, als die Diagnose noch nicht gestellt worden war, wie es sich anfühlen müsste; aber ich fühlte es nicht. Was ich empfand, war mein Entzücken, aber nur geistig, allein aus dem Anblick heraus: ich begriff mein Entzücken, aber es erfüllte mich nicht. Euer Anblick entspannte mich nicht. Ich genoß ihn, er berührte mich, aber nur rein ästhetisch; er berührte nur meinen Verstand. Hinter Eurer Wahrnehmung war kein Fühlen. Jana hat mich damals als "selbstlos" bezeichnet, weil ich bereit war, auf sie zu verzichten, ohne ihr deshalb böse zu sein. Das war natürlich sehr lieb gemeint von ihr. Aber es war nicht einfach aus Fairness, obwohl ich die natürlich gerne für mich in Anspruch nehmen möchte, sondern weil das, was ich erlebt habe, es mir vielleicht gar nicht möglich gemacht hätte; selbst wenn Jana sich für mich entschieden hätte. So saß ich jeden Abend da: Ich schaute Euch, aber empfand Euch nicht; ich schaute Euch an und schaute doch einfach nur drein. Ich sitze im Innenhof. In der abendlauen Augustluft atmen Blauregen und der noch tiefgrüne Wein warmblaue Nacht: der Wein klammert sich schweigend an den weißen Putz der Gefächer und spendet den Gästen grün reifende Geborgenheit: die Zweige des Blauregens ragen müde lauschend in die Tiefe des Hofes. Unter ihnen, nach innen gegen den weißen Putz gerichtet, hellen die Wandlaternen das grünreife Weinlaub gelbweiß auf, und auch in der hinteren Ecke, außen am Bistro, verlängert der Lichtstrahl des Bodenscheinwerfers das cremewarme Licht des längst schon untergegangenen Tages in die Nacht hinein, die sich gefangen zwischen dem Fachwerk und den Laternen über die Köpfe der Gäste gelegt hat: unter dem grünreifen Weinlaub, dessen Grün außen von der Nacht um so tiefer aufgesogen wird, je heller es von innen angeleuchtet wird, unter dem Weinlaub scheint die schon untergegangene Sonne in die Nacht hinein, verborgen unter den schweigend gezackten Blättern: die Laternen geben der Nacht jene warme Helligkeit, die die Nacht unverkennbar als Augustnacht empfinden lässt, während ihr Licht doch zugleich durch die späte Luft zu einer nicht mehr wiederkehrenden Erinnerung verklärt wird; sie halten mir den vergangenen Tag wach, so wie er im Innern meines Sichtfeldes noch immer scheint. In ihrem Licht sehe den vergangenen Tag. Vorher hab ich noch, innen vor der Tür zum Hof, bei Dana einen Elbling bestellt, dann hab ich mich wieder in den Innenhof gesetzt, zunächst an die zusammengestellten Tische, mit dem Rücken zu den offen stehenden Bodenfenstern zur Lounch. Der Innenhof wird an diesem Abend nur von Euch beiden bewirtet. Über die Köpfe der um die Tische eng zusammengerückten Gäste legen sich die Stimmen, die aus der Erschöpfung des zurückliegenden Tages sich in Heiterkeit lösen und in die nachtlaue Wärme aufsteigen und mit zunehmender Nacht zu bierseliger Ausgelassenheit anwachsen: sie werden getragen von der Stimme einer jungen Frau, ihrem bescheidenen Selbstvertrauen, von der bedeutungsvollen Schwere ihrer Schritte über den Bodenziegeln, eingefasst von den kleinen, grauen Pflastern, die ihrerseits die Füße, die den bedeutungsschweren Schritten behutsam folgen, zart anheben und von einem Kopf zum nächsten tragen; die Gesichter der Gäste erhellen sich im warmen Glanz der Stirn der älteren von beiden, auf der der Schweiß ihres Selbstvertrauens liegt; im Widerschein der olivgelben Tiefe ihrer Haut glänzen auch die Gesichter der Gäste auf; und um die in ihrer Routine ruhende Stirn regt sich die verständnisvolle Hingabe der jüngeren, die sich mit jeder feinsten Regung in die Wünsche der Gäste einfühlt: mit jedem Augenaufschlag bist Du, Jana, den Gästen in ihren Anliegen und Bitten entgegengekommen, Deine Lippen haben sie an ihren abgelesen, und in jedem Deiner Worte lag nicht nur der bloße Ausdruck redlichen Bemühens, sondern stets der Ton aufrichtigen Verständnisses, von Fürsorglichkeit, die Du mit jedem Deiner Worte innigst, herzigst lilazart in die nachtlaue Wärme gehaucht hast: wie sich auf die herzhaft aufgeschlosse Stimme Danas, die stets mit beiden Füßen fest entschlossen auf den Bodenziegeln ruhte, stets der Hauch Deines ehrlichen Verstehens legte; wie die bedeutungsschweren routinierten Schritte Danas stets von Deinen Füßen gefolgt wurden, von den Pflastern angehoben und über die Bodenziegeln zart hinweggetragen wurden; wie sie leichten Fußes dem gemessenen, bedachten Stolz Danas, die mit jedem Schritt bescheiden gefestigt auf die Gäste zuging, nachfolgten und sich stets der älteren von beiden, die ihren Beruf gelernt hat, zur Seite stellten und doch in deren Licht aus ihrem Schatten heraustraten kraft ihres eigenen unzweifelbaren tiefen Verständnisses, kraft ihrer stets von ihrem Urvertrauen geleiteten Unbeirrbarkeit; wie die nachtblaue, luftwarme Geselligkeit, wie die zu Geräuschen verzerrten Stimmen, das beständige Aufschreien und Lachen der gedämften Fülle einen Abend lang von eurer Liebenswürdigkeit getragen wurden, wie aus bierseligen Ausgelassenheit allmählich jene Liebenswürdigkeit emporstieg und sich besänftigend über sie legte: eine Liebenswürdigkeit, in der beherzter Stolz und zartfühlige Fürsorglichkeit sich zu einem gemeinsamen Wesen verbinden, in der zwei junge Frauen aus ihrer je eigenen Erfahrung zueinanderfinden, in der sie sich in der unbezwingbaren, ganz zwanglosen Abstimmung ihres Services vor den Augen der Gäste auch untereinander ihre Wertschätzung offenbaren, in der sie sich ihre Freundschaft bezeugen, in der jener so genau abgestimmte Service mit jedem Gang wächst, so wie er umgekehrt durch jene von Fairness und äußerster Umsicht getragene Abstimmung überhaupt erst möglich wird: würde man eine von beiden nur für einen Augenblick wegrufen, wäre er augenblicklich aufgehoben, würde sich jene Liebenswürdigkeit auflösen, würde sie zerfallen, so dass wieder die beiden einzelnen Personen aus ihr heraustreten würden, die erst in ihrer Ergänzung zu jener Vollkommenheit gelangen, die wiederum nur in der Zusammenarbeit dieser beiden Frauen aus dem mit jedem Tag festeren und doch in jedem Moment stets wieder spontanen Einverständnis die Gäste durch die nachtblaue Kühle hindurch berührt; wie Eure Blicke Euch gegenseitig respektieren und achten und für einander und auch für die Gäste einstehen, Eure Frisuren, die beiden nach hinten zusammengezogenen Haare, dunkelblond und umbrabraun, im dunkelgelblichen Licht, das von den Weinblättern grünlich in den nachtblauen Hof schimmert, denselben tiefen, reinen Glanz annehmen; wie zwei weiße Blusen, auf denen sich in jeder Falte die nachtblauen Schatten unter dem ockergelblichen Dämmer durch den augustwarmen, langsam abkühlenden Abend bewegen, wie diese beiden Blusen bei jedem Gehen dem Wirren der Stimmen ihre Unruhe entziehen, und mir persönlich immer auch ein Stück Geborgenheit geben, und wie sie bei jedem Mal, wenn sie mit neuen Tellern in den Hof eilen, scheinbar noch mehr Wärme unter Gäste tragen: die Speisen auf den Tabletts erleuchten im Schein ihrer Größe. Mit jedem Schritt gehen sie nicht nur immer verständnisvoller auf die Gäste, sondern auch auf einander zu; wie jede kleinste Geste zwischen ihnen genau auf die Bedürfnisse der Gäste abgestimmt ist, aber auch auf sie selbst, wie die beiden zusammengezogenen Frisuren beinahe nicht mehr auseinanderzuhalten sind, umbradunkelblond, und dabei doch die etwas fülligeren Haare stets von bedeutungsschweren Schritten getragen werden, während die etwas enger zusammengezogenen Haare stets leicht von einer Bodenziegel zur nächsten gehoben werden. Eure Fürsorglichkeit erfüllt die Wärme der Augustnacht, es ist eigentlich Eure Wärme, die die allmählich abkühlende Nacht erfüllt, die von der lauen, spätabendlichen Luft umweht wird. So wie Eure Liebenswürdigkeit durch die allmählich abkühlende Augustnacht zieht, atmet die allmählich leichter werdende Luft Eure Weltgewandtheit, indem sich zwei junge Frauen Schulter an Schulter zur Seite stehen: jene Schultern, die zuvor ihre Rucksäcke durch die Welt trugen. Nun tragen sie die Tabletts durch den Innenhof, Dana stets am Rand greifend, Jana auf gespreizten Fingern tragend. Und während ich Euch beobachte, genieße ich nicht nur mein eigenes, kleines Glück, Euch begegnet zu sein, sondern auch, wie ihr beide Euch mit jedem Gang, mit jedem Tisch, dessen Bestellung ihr aufnehmt, begegnet, mit jedem Tisch, den ihr bedient, immer mehr zueinander findet: ich genieße Eure Bekanntschaft, ich genieße Eure Freundschaft. Dann kommt Jana von rechts aus der Tür und serviert mir einen Kaffee; aber weil ich ihn nicht bestellt habe, geht sie zu Dana rüber, die eigentlich gerade einen anderen Tisch bedient. Dann steht sie unschlüssig vor mir, noch immer den Kaffee in der Hand. Dana kommt von ihrem Tisch herüber. Es stellt sich heraus, dass sie einen Kaffe boniert hat anstatt des Elbling. Jana will schon den Kaffe zurückbringen, aber ich versichere ihr, dass es mir eigentlich egal ist, während ich im selben Moment versuche, Danas Worte der Entschuldigung durch Worte der Anerkennung aufzuheben, und so ihr aufrichtiges Bedürfnis, sich zu entschuldigen, in meinen Worten des Verständnisses und der Beteuerung, dass ich den Kaffee genau so gerne trinke, aufgehen zu lassen, während ich versuche, ihr ihr Bemühen mit meinen Blicken in ihren Blicken zu danken, ihre Blicke mit meinen aufzuhellen; und während auf Danas Unterlippe das Lächeln bescheidener Rührung liegt, gelingt es Jana, jene Worte zu finden, in denen sie sich Dana als ihrer besten Freundin und mir als Gast gleichermaßen verpflichtet, und mit denen sie mir jene Worte in den Mund legt, mit denen sie selbst Danas Professionalität würdigt und ihre Arbeit jeden Zweifels enthebt und mir, an Danas Stelle, aber lila zart gehaucht, zugleich zu verstehen gibt, dass ich stets auf Danas Erfahrung rechnen darf und mich in ihrem Bemühen verstanden fühlen kann: „Aber vielleicht lag das mit dem Kaffee ja nur daran, dass du der Gast bist, der immer sagt: Dana, wie immer bitte!“ Bei diesen Worten hast Du mir den Kaffe dann hingestellt: von vorne, über den Tisch! Sonst, wenn ich an der Bar saß, hast Du, obwohl Du ja keinen (eigentlich nie) Thekenservice hattest – den hatte ja meist der Marokkaner, den auf meinen Tisch bonierten Kaffee genommen - den Thekern weggenommen - und ihn mir von außen gebracht, mit der linken Hand hingestellt – und dabei Deine rechte Hand auf meine linke Schulter gelegt, mit Deiner rechten Hand mich für einen Augenblick lang ein tiefes Einverständnis spüren lassen; ein Einverständnis über etwas, worüber wie nie gesprochen hatten: das Auflegen hatte etwas Fragendes und Wissendes zugleich. Und Du hast sie auch nicht einfach nur kurz aufgelegt, sondern sie kurz auf meiner Schulter ruhen lassen: ganz ruhig, zart und doch fest angedrückt: eine umsorgende Wärme, die mich durch meinen Rücken Deine Blicke spüren ließ; die mich überhaupt erst begreifen ließ, dass es Deine Hand wahr, die Du dann ebenso behutsam wieder aufgehoben hast; wenn ich mich dann zu Dir rumgedreht habe, hast Du Deiner Geste im Weggehen Blicke nachgereicht, die dem Auflegen Deiner Hand Selbstverständlichkeit verleihen sollten, um mich wissen zu lassen, dass die Geste über reine Kameradschaftlichkeit nicht hinausgehen würde. Nur warum war es Dir so wichtig, das zu betonen? Jetzt aber saß ich in der abendkühlen Wärme des sich neigenden August im Innenhof, mit jeder Stunde wurden die Tische voller, wurden die Stühle von den gehenden den wartenden Gästen überlassen: an den weißverputzten Wänden belauscht das Laub der Weinstöcke, dem die Nacht sein tiefes Grün entzogen hat, schweigend aufhorchend die Stimmen unter der abendkühlen Wärme, die sich unter dem dämmriggelben Leuchten der Wandlaternen erregen und erst allmählich ihre Aufgeregtheit an die über ihnen ruhende kühlende Wärme abgeben; und aus den Ecken leuchten die Bodenstrahler und die Laternen unter dem Wein das Laub von innen hellgrün auf, gefangen unter dem Laub steigt der Tag in die Nacht auf, ruht der Tag, der sich schon lange geneigt hat, unter dem grünschwindenen Weinlaub fort, auf dessen Glanz sich von außen die nachtblaue Tiefe des Hofes gelegt hat, und verfolgt, was über ihn erzählt wird: was die Menschen sich dort zu erzählen haben, erzählen sie in den gelben Dämmer der Laternen, die ihnen ihre Erinnerungen an den längst schon zur Neige gegangenen Tag wach halten. Unter dem gelblichen Dämmer der Laternen bewegen sich Köpfe jeder Frisur, werfen in die Stirn geschobene Brillen das Licht der Laternen spärlich in die nachtblaue Wärme zurück, bewegen sich Köpfe und Kappen freudigerregt, in rastloser Erschöpfung des hinter ihnen liegenden Tages, werden Köpfe lachend aufgeworfen: geborgen werden sie von den immer wiederkehrenden, von feinem Instinkt durch sie hindurch gelenkten, nach hinten zusammengezogenen dunkelblonden und umbrabraunen Haaren, durch die stets wiederkehrenden bedeutungsschweren Schritte, die ihrem müden Körpern Halt geben, und den leichtfüßigen Tritten, die sich geschmeidig zart durch die Tische rühren und ihre Ecken abrunden: auf den Gesichtern der Gäste liegt olivgelber Glanz, und über den Duft der Speisen neigt sich zartgehauchtes Lila, das sich über die Stimmen legt und sie abrundet zart gehauchtes Lila, das sich auf meine Ohren legt, während olivgelber Teint in meinen Augen glänzt; ich kühle mich an der der Feuchtigkeit, die Danas Haut der nachtblauen, allmählich luftigeren Kühle spendet, der Schweiß auf Deiner Stirn, Dana, leuchtet, dunstet in die Nacht hinein und schimmert hellgrün dunkelblau auf Deiner olivgelben Haut und legt sich auf meine Stirn, ich kühle meine Stirn an Deinem Schweiß, aber unter der Stirn brennt es: ein fließendes Brennen, als ob in meinem Kopf etwas ausläuft, als ob jemand mein Hirn mit den Fingern unablässig durchknetet, ständige Druckknoten, tiefe Löcher, die sich von außen nach innen bohren, von Fingern immer wieder und jedesmal kräftiger eingedrückt, die sich in mein Hirn bohren, ohne es doch zu durchstoßen; Kopfschmerzen verzerren das zart gehauchte Lila, in der nachtblauen, allmählich luftigeren Wärme brennen meine Arme von außen nach innen, und mit äußerster Anstrengung stemme ich kraftlos meine schweren Beine gegen die Bodenziegeln: unter meinem Tisch fühlen sich meine Beine kalt an. In Eurer Wärme, die mich jedes Mal, wenn ihr an meinem Tisch vorübergeht, umfließt, empfinde ich eine kühle Schwäche: Eure Liebenswürdigkeit nähert und entfernt Euch mir zugleich. Je weniger Ihr mich beachtet, um so mehr wünsche ich es mir, und je mehr Ihr Euch um mich kümmert, um so unerreichbarer empfinde ich Eure Nähe. Dann bleiben meine Augen wieder an Danas Unterlippe hängen: sie erweckt bei jedem Vorübergehen die Melodien und Akkorde, die ich aus der nachtblauen Wärme und den lichtgrünen Blättern heraushöre und sie zugleich in sie hineinsehe: die blaue ansteigende Linie, deren Baß nachtblau vom Cello repetiert wird, die nach oben, über die aufsteigende Melodik hinweg in den Geigen immer heller wird; das dunkel, feuchtgrüne es, das plötzlich lichtgrün in der nachtdunklen Wärme steht und sich dann doch wieder seiner dunklen Herkunft erinnert; das wechselnde nachtblaue Moll auf dem c und das ziegelrote Dur auf dem des: Danas Unterlippe ruft sie mir ein ums andere Mal in mein inneres Gehör, von wo aus sie in die in nachtwarme Kühle getauchte Bierseligkeit hineinklingen. Später setze ich mich um, an den kleinen, meist allein stehenden Tisch an der Wand zum Hinterausgang, kurz vor den Deckenbalken, der sich auf dem an dieser Seite stark abfallenden Pflaster nach innen in den Hof neigt; meinen vorherigen Tisch habe ich für andere Gäste freigegeben. Dann kommt Jana auf mich zu: „Hast du deinen Kaffee schon?“ In dem Bemühen, das neuerliche Missverständnis zu nutzen, mir für diesen Abend wenigstens ein, zwei persönliche Worte zu sichern, mir in dem korrekten Tonfall Deines Services einen Augenblick lang Deine Zuneigung versichern zu können, versagen meine eigenen Worte in meiner Verlegenheit. Es bleibt beim bloßen „Ja“. Ich weiß nicht, ob Du als Runnerin auch das Bistro noch mit zu bedienen hattest, oder ob Du auf dem direkten Weg zwischen der Theke und der Blende, die die Lounch von ihr trennt, durch die dicht stehenden Gäste mit den Tellern schlecht durchkamst: jedenfalls kamst Du zum Bringen immer aus dem Bistro die Eisentreppe in den Innenhof runter. So hab ich mir also von dem Moment an, wo ich meinen Kaffe bei Dir bestellt hatte, ohne die Blicke auch nur für einen Moment – außer für Dana natürlich – von der Tür zu lösen, die aus dem Bistro die Stufen der Eisentreppe hinunter in den Hof führt, immer neue Worte zurechtgelegt. Immer, wenn ich glaubte, die geeigneten Worte gefunden zu haben, drängten sich mir neue in mein Bewusstsein vor, aber sobald ich die eben noch geschätzten Worte verworfen hatte, bereute ich sie auch schon wieder, und je länger ich darüber sann, um so mehr drängte sich mir die Kürze des Augenblicks, falls Du ihn mir überhaupt gewähren würdest, zu Bewusstsein, und um so dichter wurden die Worte, die sich aus dem unbedingten Bedürfnis, keines auszulassen, zu überlagern begannen, die ich in meinem Gedächtnis kaum noch halten konnte; je kürzer mir die ausstehende Gelegenheit vorkam, um so länger wurde mir die Zeit, die ich auf Dich warten musste, und je länger ich wartete, auf die Tür starrte, um so aussichtlos kürzer erschien mir der Moment, in dem Du mir den Kaffee hinstellen würdest, und den ich mit meinen Worten kaum würde festhalten können. Je weniger ich daran glaubte, dass Du mir die Gelegenheit gewähren würdest, um so ungezwungener trug mir mein Warten die Worte zu, und je mehr ich daran glaubte, um so weniger konnte ich mich für sie entscheiden: ich würde sie ohnehin hinter Dir her in die nachtblaue Tiefe des Hofes sprechen, würde sie immer unsicherer versagend in die Falten Deiner Bluse sprechen, die Dein Rücken in die Lounch wegtrug, während Du Dich unter dem Vorwand der Eile verleugnen - empfehlen würdest. In diese Zweifel tratest Du aus der Tür des Bistros in den Hof, Deine Füße trugen, von den Bodenziegeln zart angehoben, Deine Augen, eingefasst von den eng nach hinten gezogenen Haaren, zu mir herüber, über das umbrabraune Haare zogen gelbliche Halbschatten im Wechsel der Decken- und Wandlaternen hinweg, und Deine Wangen wurden von den Bodenstrahlern lila zart berührt; in der nachtblauen Tiefe des Hofes lag auf Deiner Stirn weinroter Glanz: hier hatte ich eigentlich zum ersten Mal so richtig diese Wahrnehmung. „Ich hatte mich vorhin nur gewundert, dass du mich nach dem Kaffee gefragt hattest, obwohl ich ja gar keinen bestellt hatte… Aber du hast es so bestimmt gefragt, als ob du es gewusst hättest…deswegen war ich so irritiert, weil ich mich nämlich wirklich gerade dazu entschlossen hatte, mir noch einen zu bestellen…Aber das konntest du ja nicht wissen…deshalb war ich so verwundert, weil ich dachte… nicht dass du nachher zwei gebucht hättest…War einfach ein Missverständnis…“ „Oh, ich liebe Missverständnisse!“ Wie wunderbar Du die Situation aufgefangen hast, ohne die Verlegenheit aufzuheben: mit einem einzigen Satz meine Worte gewürdigt hast, ohne auf sie einzugehen; mir Deine Aufmerksamkeit geschenkt hast, ohne sie mir wirklich zu gewähren. Erleuchtet von Blicken, die meine eigene Verlegenheit mit betonter Rührseligkeit erwiderten und mir genau die Gerührtheit vorführten, die meine Hoffnungen präzise erfüllen sollten, ohne sich mir verpflichten zu müssen; eine Rührseligkeit, deren Hingabe einzig dem Intellekt galt, die einzig meinen Worten galt, nicht aber ihrer Absicht. Wieder ein Moment, den ich für meine Erinnerung festhalten konnte, ohne Dich aufhalten zu können, ohne Dich auf Deine Worte festlegen zu können; wieder eine Gelegenheit, in der Du mir durch Deine vornehme Art Halt gegeben hast, ohne dass ich mich an Deine Worte halten konnte: verbindlich und unverbindlich zugleich. Verbunden hast Du Dich meinen Worten, indem Du sie genau dort aufgegriffen hast, wo ich sie hingesprochen hatte: in der unbefangenen nachtkühlen Wärme; indes hast Du sie scheinbar naiv arglos wörtlich genommen und rein gedanklich zu Ende geführt, ohne Deine Gefühle durch sie zu offenbaren. Durch Deine Stimme nahmen auch meine Worte in der nachtblauen Kühle nachklingend eine lilazarte Wärme an. Aber hinter der Begeisterung für die Situation hast Du Deine Neigung zu mir geschickt verborgen – Deine Neigung, die Du mich eben dadurch hast vermuten lassen. Bezahlt habe ich dann bei Dana und noch einmal den Blick auf ihre Unterlippe genossen, auf der wie immer ihr bescheidener Stolz lag, überrundet von einer beherzten Rührung, durch der der Ton des Behagens drang und sich mir, dem Lokal zuwandte; der Ton einer jungen Frau, die sich ihres Könnens bescheiden bewusst ist. Sie konnte sich meiner Wertschätzung sicher sein: sie wusste, dass ich sie als Mensch schätze, aber natürlich auch ihre Arbeit zu schätzen wusste. In dieses stolze, behagliche Lächeln hinein habe ich ihr noch ein Trinkgeld in die Hand gedrückt. Endlich, zum ersten Mal nach zwei Monaten, konnte ich bei ihr bezahlen: „Für eine arme arme Studentin!“ „Ich bin keine arme Studentin!“ „Aber bald!“ Dana, Du weißt, das es halb ernst und halb im Scherz gemeint war. Ich sitze im Zapfen des Bieres, im Ausklopfen des Kaffeesiebes an der langen Seite der Bar, in der malzigen Kühle frisch gezapfter, überschäumender Gläser; unter der Würze liegt die Säure des Übergelaufenen - liegt die Würze des Übergelaufenen – fenen - „Aufzug!“ – ich sitze an der langen Seite, neben der Thekenöffnung und schaue auf - auf die übergelaufenen Gläser - auf die übergelaufenen Gläser – auf - aus der schummrigen Tiefe des Raumes – Tabletts füllen sich – aus der dunklen Wärme, die hinter der malzig-würzigen Frische steht – aus der übergelaufenen schummrigen Tiefe – Thekenöffnung – um die Kaffeemaschine herum winken mir zwei Augen zu – aus der Tiefe des Raumes - es sind Deine Augen, Dana. Duftende Wärme umfließt mich, stützt mich, durchfließt meine Arme: Ich sitze an der kurzen Seite der Bar. Zwei Augen, die sich durch die dämmrigen Schatten hindurch bewegen, umschlossen von glatt nach innen gekämmten dunkelblonden Haaren: die Augen berühren sich Seite an Seite im Schatten mit meinen, sie starren verstohlen nebeneinander durch den rötlich warmdunklen Schummer, der in der Tiefe der Bar durch das Licht, das das Rückbuffet in den Raum hält, grün-gelb-rot-braun aufgebrochen wird: es bleiben getrennte Blicke, aber sie gelten derselben Person. Jana hat Geburtstag, ab Mitternacht. Aber Jana schaut unschlüssig an sich herab und macht einen Schritt nach hinten, mit dem sie ihre Scheu austritt: Sie traut sich nicht, sich schon abzumelden. Aber Dana drängt sie: „Du bist doch schon lang genug da.“ Ich beobachte, wie Janas Mimik und Gestik in viele kleine Bewegungen zerfallen, unschlüssig zerrissen zwischen gutem und schlechtem Gewissen. Dann spüre ich, wie sich ihre Bewegungen zur Entschlossenheit vereinen: Sie wird sich gleich abmelden. Mein Atem verengt sich: wenn sie geht, wird auch Dana mit ihr gehen. Noch umschließt mich Danas Wärme, noch atme ich in ihrem Puls. Von der Seite spüre ich zwei Augen: Danas Haut amtet olivgelbe Wärme in die späte Stunde; sie glänzt warm in meine Augen. Der Raum atmet Deine Wärme: ich atme tief ein und lass mich in die Wärme sinken, die Dein Körper, Deine Haut atmen; ich lehne mich an Deine Wärme an: sie gibt mir Halt, den Halt Deines Körpers, von dem mich nur der Abstand unserer Barstühle trennt: die Wärme, die zwischen uns pocht, gewährt mir Deine Nähe, und doch kann ich Dich nicht spüren: ich spüre Dich nur mit meinen Augen: ich schaufühle Deinen Körper unter Deiner Bluse, fühlschaue meinen Arm um Deine Schulter. Ich atme Deine Haut: ihr Duft legt sich auf meine Haut, mein Gesicht, meine Augen: unter einer flüchtigen, stets wieder aufsteigenden Orangenfrische Nuancen von Estragon, getragen von der geatmeten Wärme, die aus den Poren Deiner Haut, unter Deiner Bluse hindurch Deinen Duft dehnt und wärmend färbt. Ich sitze in der wolligen Zärte Deiner Wärme, geborgen in Deiner atmenden Wärme: Deinen warmen Atem unter meiner Nase, auf meinen Lippen: er bringt Dich mir näher, er steht zwischen uns, meine Worte können ihn durchdringen, aber nicht überbrücken. Dein Atem bedeutet mir Deine Nähe und Deine Distanz zugleich. Eine warme Distanz, erfüllt von geborgener Nähe – eine Nähe, die Du mir durch jede Deiner Silben, die Du in die Wärme atmest, gewährst: eine warme Geborgenheit. In jedem Deiner Worte empfinde ich das freudige Verlangen des Unerreichbaren, in jeder Deiner Silben fühle die von keiner Aussicht getragene Hoffnung, jedes Deiner Worte rührt in mir die Empfindung eigenen Verschuldens – so jedenfalls hat man es später immer eingeredet – Deine Worte fallen auseinander; in die Pausen, die in der Unendlichkeit meines inneren Raumes entstehen, aus der Tiefe des Hinterhauptslochs zwängen sich die bedrängenden Worte meiner Mutter: „Ich habe das jetzt das Fleisch schon aufgetaut. Ich kann doch wohl erwarten, dass du zum Abendessen nachhause kommst! Dann hättest du mir vorher bescheid sagen müssen. Dann musst du rechtzeitig anrufen.“ – „Aber werde mich doch mit über zwanzig auch mal spontan verabreden dürfen.“ – „Wenn du nicht zum Essen kommst, brauchst nie wieder zum Essen zu kommen.“ Und später hat mein Vater, unter den Weinkrämpfen meiner Mutter, den ganzen Abend wieder auf mich eingeschrien: „Du nimmst keine Rücksicht auf uns!…“ Und seine Worte fallen auseinander und drängen in der unendlich dunklen Tiefe meines inneren Raumes von einer Seite zur anderen, tauchen unter sich, schlüpfen untereinander durch; die Stimmen reden immer wieder auf mich ein, heben immer wider von einem unbestimmten Punkt aus an und rutschen zur Seite weg, und mit ihnen mein Kopf - irgendwann überkam mich dann immer der Schlaf, aber sobald ich mich dem Schlaf hingab, redeten die Stimmen immer hallender, immer schärfer auf mich ein; dann stützte ich mich wieder mit meinen Armen im Bett auf, und am anderen Morgen hab ich dann wieder gesagt bekommen, dass ich keine Rücksicht nehme, weil doch die ganze Nacht Laute von mir gegeben habe, von meinem Vater, mit einem bloßstellenden Lächeln, mit zynischen Blicken bedrängend: „Wie ein Schaf! Du kannst dich einfach nicht beherrschen.“- Ich merke, dass mein Kopf in der Geborgenheit Deiner Wärme durchhängt; und ich merke, dass Du es gemerkt hast. Durch die dunkel geatmete Wärme glitzern feine Punkte silbrig feucht auf Deiner Haut im Glanz Deiner Augen. Auf der samtig weichen Haut ruht der Widerschein des rötlichdunklen späten Abends, gesättigt von dunklem Lila: statt des sandfarbenen Sweatrock umschließt an diesem Abend ein etwas engerer lila Wollrock elegant Deine Hüften und Deine Schenkel. Eine warme Geborgenheit umgreift meine Seite, pulsiert um meine Seite, meine Schultern, wärmt mein Gesicht; meine Haut atmet Deine Feuchtigkeit, meine Worte atmen Deinen Atmen, und für einen Augenblick Deine Worte auch meinen, Dana. (Oder hab nur ich das so empfunden?) In Deinen Augen spüre ich die Blicke Janas, die von innen auf die Theke zukommt; ich wende mich ihnen in die dunkle Tiefe der Bar zu: in Janas Augen sehe ich Deine Blicke, für einen Moment fast unbemerkt auch meine eigenen, aber die hat sie dann wieder an sich herabgelenkt und dann in Deine Augen weitergereicht: meine Blicke in Deine Augen, aber verlegen, unschlüssig, der eigenen Gefühle nicht ganz sicher: ein bisschen schien es so, als ob ihr hinter den Blicken, die Ihr ausgetauscht habt, voreinander und dann auch vor mir Eure Verlegenheit verbergen wolltet. Natürlich habt ihr Euch auch über Deinen Geburtstag, Jana, verständigt. Ja, eigentlich saß Dana ja überhaupt nur da, weil sie auf Dich gewartet hat. Sie war erst kurz vorher gekommen, um Dich abzuholen. Später habe ich dann, von der langen Seite aus, verdeckt durch die Kaffeemaschine, vergeblich versucht, durch Zuflüstern und Zublicken dem Marokkaner dazu zu veranlassen, dass er mir Deinen Cocktail auf meinen Tisch rüberzieht. Weil er wieder einmal glaubte, mir voraus zu sein, hat er mir erst gar nicht zugehört, immer nur herablassend das wiederholt, womit er glaubte, meinen Gedanken voraus zu sein. Je mehr ich meine Worte vom Flüstern abhob, um so widerwilliger und abweisender, gleichgültiger gab er sich. Je mehr ich sie abhob, um von der Bar aus, am Durchgang stehend, seine Worte zu ersticken, fasste er das als Zustimmung für sich auf, noch ungehaltener, lauter zu antworten. Ich spürte, wie der Moment immer näher kam, in dem Du es mitbekommen hättest, Dana; wie sich mein Brustkorb zusammenzog. Als ob er es auch gespürt und es mir nicht gegönnt hatte. Nur wenn Du es nicht mitbekommen würdest, würdest Du es auch von mir annehmen müssen. Weil er dann aber auch noch das Wechselgeld absichtsvoll in die Länge zog, hast Du mir dann, nachdem sich der Samtvorhang schon fast über meinem Rücken geschlossen hatte, doch noch nachgerufen: „Du bist blöd! Aber danke trotzdem!“ Und in der dunklen Wärme, die Deinen Körper, Dein Gesicht umschloß, trug Deine Stimme jene gefärbte Wärme, die ich durch den nachtdunklen Raum nicht mehr spüren konnte, lag in Deinen Augen die Rührung bescheidener Dankbarkeit, in deren Blicken Dein Atem, dessen Nuancen ich nicht mehr wahrnehmen konnte, glänzte: ungezwungen liebenswürdig glänzte, in die Wärme, die Dein Körper dem nachdunklen Augustwarmen Raum spendete, aufstieg: jene Wärme, die sich in atemfeuchten Schatten auf Dein Gesicht legte: olivgelbe, nachtdunkle Schatten. Und mit einem Handgruß, der in seiner Bewegung jene Absichtsfülle leugnete, die ihn anhob, und sie zur Bedeutungslosigkeit herunterspielte und den Cocktail zur völlig unverbindlichen Geste herabsetzen und jeden Verdachts entheben sollte, entzog ich mich Deines Dankes, aus Angst, dass Du Dich ihm selbst entziehen würdest, dass Du ihn zurücknehmen würdest, wenn ich mich Deiner Worte verbunden zeigen würde. Nur solange ich die Gewissheit meiner Absichten von Dir fernhielt, würde es Dir möglich sein, den Cocktail anzunehmen. Nur die Ungewissheit würde es Dir ermöglichen, Dich mir völlig unverbindlich verbunden zu zeigen. Nur solange es unausgesprochen blieb, würde es Dir möglich sein, Dich gerührt zu zeigen von dem, was die Geste bekundete. Aber als Du dann am anderen Tag, noch während Du mit Deinem Tablett hinter die Theke zurückkamst, zugeflüstert hast: „Ich komme gleich zu dir!“, da wusste ich schon, dass es Dir die Gewissheit über meine Absicht nicht länger ermöglichte, Dich mir geneigt zu zeigen, und dass Du Deinen Dank, der am Abend zuvor noch spontaner Rührung entsprungen war, hinter das Bedürfnis nach Unverbindlichkeit zurücknehmen und ihn damit nachträglich zur bloßen Geste der Höflichkeit umdeuten würdest. Dann bist Du um die Theke herumgekommen und hast mir gesagt, dass Du keinen Cocktail mehr von mir annehmen möchtest. Begründet hast Du das dann mit Rücksicht auf meine Verhältnisse; ja Du hast mir die Rücksichtnahme auf mich selbst geradezu anempfohlen, weil Du nicht den Mut aufgebracht hast… die Ablehnung aus Dir selbst heraus zu begründen? Warum bist Du nicht dabei geblieben, Dana? Später hast Du dann auch kein Trinkgeld mehr angenommen, und als ich das Trinkgeld zum zweiten Mal in die Worte fasste: „Für eine arme Studentin!“, hast Du mit einer verlegenen Entschiedenheit geantwortet: „Ich bin keine arme Studentin. Ich hab‘ mehr als Du!“ Später habe ich Dir dann folgende Zeilen gemailt: „Hallo Dana! Wie geht es Dir? ;-) Ich möchte Dir gerne (noch mal) ein paar Worte schreiben wegen dem Trinkgeld. Einerseits ehrt es Dich und weiß ich es auch zu schätzen, dass Du Rücksicht auf meine Situation nimmst und mich wohl auch nicht ausnutzen willst. Andererseits besteht ja gerade darin das Dilemma. Wer von so wenig Geld leben muss wie ich derzeit (das war übrigens längst nicht immer so), hat zunächst das Problem, dass er, wann immer er einer Person zum ersten Mal gegenübertritt, jedes Mal aufs Neue die Entscheidung treffen muss, ob er seine Situation preisgibt oder nicht; sofern man sich bei längerer Bekanntschaft nicht ohnehin früher oder später dazu bekennen muss. Sagt man nichts, wird einem die Zurückhaltung beim Trinkgeld als Geiz ausgelegt und als gesellschaftlich und dem jeweiligen Rahmen oder Ambiente schlichtweg unangemessen. In dem Moment aber, wo man sich dazu bekennt, wenden sich die Leute entweder ab oder aber man trifft auf Leute, die es gut mit einem meinen. Aber gerade diese Rücksichtnahme, auch wenn sie noch so edler Gesinnung folgt, erinnert mich eben einmal mehr an meine Situation und daran, dass ich in der Tat kaum auch mal jemanden etwas gönnen kann. Das verletzt aber gerade jemanden wie mich, der von jeher anderen immer gerne gegeben hat (und das zu anderen Zeiten ja auch konnte), um so mehr.“ Nun kann ich Dir kein Trinkgeld mehr geben… Ich sitze an der langen Seite der Bar. Aus dem Kommen und Gehen der Serverinnen tauchen die eng nach hinten zusammengezogenen Haare auf. Du biegst um den Thekeneingang herum und kommst von außen auf mich zu: Jana. Deine Augen führen Deine Hand auf meine Schulter und Deine Blicke in den Winkel der Selbstvergewisserung, aus dem Du Deine Blicke zu mir aufrichtest und meine Blicke vom Silber der Theke löst, die Theke, die meinen Blicken die Enttäuschung ersparen soll, falls Du an mir vorübergehen würdest, falls meine Blicke in Deinen enttäuscht würden, und die meiner Erwartung jene Tarnung gewährt, die meinen starren Blicken auf ihr Silber jene Bedeutungslosigkeit gibt, die die Blicke, mit denen ich mich dann über meine Schulter zu Dir gedreht habe, Deinen Worten um so ahnungsloser entgegnen ließen und sie um so unvermuteter in Deine Blicke treffen ließ. So hast Du also Deine Hand auf meine Schulter aufgelegt, zart angedrückt, um Deinen Worten den Halt zu geben, den Du ihnen durch sie selbst, durch Einbekennen Deiner Gefühle nicht geben konntest – Du wirst jetzt einwenden, dass Du ja auch keine Gefühle für mich hattest – und ihnen zugleich jenen zarten Andruck, jenen scheuen Nachdruck verliehen, der vorsichtig bedacht die Neigung ergänzte, hinter der Deine Worte bewusst zurückblieben: jener scheinbar zufällige Unterschied zwischen Geneigtheit und Zuneigung; jener Unterschied, den Deine Worte präzise berücksichtigten, weshalb Deine Hand sie mit zarter Neigung bedachte, um mich das spüren zu lassen, was ich nicht endgültig erfahren sollte. So hast Du Dich dann für die Lindt-Pralinen bedankt, die ich Dir zum Geburtstag mitgebracht hatte. Etwas später bist Du dann von innen, neben der Zapfstation an die Bar getreten: „Stell dir vor, meine Mutter hat mich gefragt, von wem die Pralinen sind!“ Nur warum sollte das für mich von Bedeutung sein, während es für Deine Mutter auf keinen Fall von Bedeutung sein durfte? So hast Du beide im Zweifel der Vermutung zurückgelassen, ohne eine Vermutung zuzulassen. Ich sitze im Innenhof. Dana spricht mich unter dunkelgrünblauem hellen c-Moll hindurch an, weil sie die Abrechnung machen möchte und ich, wie so oft, der letzte Gast bin. „Ich bin dann jetzt erst mal eine Woche weg!“ Ein stolzes Behagen liegt auf ihrer Brahmsschen, mit bedeutungsschweren ermüdeten Schritten tritt sie auf meinen Tisch zu, in ihrer Stimme liegt die Müdigkeit, die der Erleichterung folgt, in ihren Augen die zufriedene Genugtuung darüber, dass sie ihre Schicht zu Ende gebracht hat: mit einem freudig erregten Glanz in den Augen, deren Blicke in die nachtblaue Tiefe des Hofes hinein in die ferne Stadt schauen, in denen sie zwei Tage später ihre Freunde aus alten Tagen treffen wird: in der anderen, nicht ganz so großen Stadt, wo sie auch schon einmal gewohnt hat. „Dann wünsche ich dir eine gute Fahrt und ein paar schöne Tage. Und erhol‘ dich gut…“ „Ja, wird bestimmt toll. Hab die Leute dort lang‘ nicht mehr gesehen.“ Die freudige Erwartung hob Deinen Kopf leicht seitlich an, auf Deiner Unterlippe lag wie so oft jener Glanz verschämter Rührung, während Deine Augen freudig und verlegen zugleich auf sie herabschauten und Du mit Deiner Lippe in Dich, in die Tage, die Du vor Dir sahst, hinein gelächelt hast und zugleich in die Tiefe des nachtblauen Innenhofes, während Dein Lächeln unter Deinen Blicken die nachtkühle Luft in dem dämmrig gelben Licht der Laternen immer tiefer aufhellte; ein Lächeln, das Du mit einem beherzten, tiefen Atemzug über Dich hinausgehoben hast, das sich auf eine aufgerichtete, über sich selbst hinausgestreckte Bluse stützte, das mit beiden Füßen von Stolz gefestigt auf den Bodenziegeln stand, Füße, die ihrerseits von der langen Schicht schwer geworden waren; ein Lächeln, das Deine Worte von seiner Rührung wegführen sollten: sie sollten Dein Lächeln nur in der freudigen Erregung über die Tage in der fernen Stadt begründen: je gerührter, je ergriffener Deine Stimme sich verlegen in die Stille tastete, um so tiefer hast Du Deine Blicke in Dich, in Tage, die vor Dir lagen, gerichtet, damit ich Deine Rührung nur als Wiedersehensfreude begreifen, aber nicht auf mich beziehen sollte. In der Tiefe Deiner Blicke suchte ich, erspürte, erfühlte, empfand ich, sah ich eine verschämte Neigung, die Du hinter der freudigen Erregung über das Wiedersehen mit Deinen Freunden zurückgehalten, unterdrückt hast. (Oder hab nur ich das so empfunden?) Aber als Du reingegangen bist, atmete ich wieder mit engen Zügen, immer geschnürter, immer kürzer, immer tiefer in mich hinein, Deine Wärme in mich hinein; während die Lunge nur immer kurz nachgab, spannte sie sich, zog sie sich immer weiter nach oben zusammen: die Enttäuschung darüber, dass ich Dich nicht weiter aufhalten konnte, hob den Atem immer wieder an, bis er dann in der Einsicht in die verpasste Chance kraftlos kurz in sich zusammenfiel: die Lunge von Vergeblichkeit gepreßt, gepreßt auch von den Zweifeln des Verlangens, das vergeblich seine Erfüllung in Deinen Blicken suchte, die vor mir in nachtdunklen Kühle stehen blieben, die ich in dem schummrigen gelb der Laternen verlängert sah, während sich in der nachtblauen Tiefe Deine Blicke immer weiter dehnten, immer tiefer, heller leuchteten, immer wärmer, bis die späte Augustnacht olivgelb erfüllt wurde, Deine Blicke nach hinten aufrissen und das helle Licht im Glanz Deiner Haut ausbrach, wo es schließlich von der nachtblauen Tiefe wieder aufgesogen wurde. Als Du ins Lokal gegangen bist, hast Du Deine Wärme der Nacht entzogen, und doch spürte ich sie in meiner Brust, sie gab mir das Bedürfnis, noch tiefer, zuversichtlicher zu atmen, und ließ jeden Atemzug zugleich scharf schneiden, Deine Wärme umschloß den Strahl nachtblauer Kühle und drückte ihn im selben Moment zu; in Deiner Wärme verkrampfte sich meine Lunge noch mehr, bis sie schließlich in sich zusammenfiel, um danach nur um so gespannter wieder anzuheben, während ich mir abwechselnd ein- und wieder ausredete, mich nochmal bei Dir zu verabschieden: wie das unbedingte Verlangen, Dir nochmal gegenüberzustehen, meinen Kopf kurz anhob, wie dann die Ernüchterung und Aussichtslosigkeit, bei der zweiten Verabschiedung über die Wiederholung des bereits Gesprochenen hinauszugelangen – „und pass gut auf dich auf!“ - , meinen Kopf seitlich nach unten wegdrückte und meine Lunge einfallen ließ, in der luftentleerten Spannung meinen Kopf unkontrolliert nicken ließ – „du hast es dir ja schließlich auch verdient!“ -, wie das unbedingte Sehnen danach, die Situation wiederherstellen zu können, den Atem immer wieder kurz anhob; wie sich die Worte, die ihre Chance verpasst hatten, sich zwischen die tatsächlich Gesprochenen schoben, wie ich Dich in meinen nach innen vertieften Blicken in den Hof zurückholte, wie Du immer, wenn Du Dich gerade zu Hineingehen umgedreht hattest, wieder auf mich zukamst, immer wirklicher, wie Du jedesmal herzlicher, geneigter mit mir geredet hast, mir die Antworten gabst, die ich Dich sprechen ließ, von denen ich glaubte, dass ich sie in Deinen Regungen unterdrückt sah; und doch ohne, dass ich sie wirklich widergeben könnte: gehört hab ich immer nur meine eigenen Worte… dann wieder die Worte, die ich wirklich zu Dir sagte, mit denen ich auf Deine ausweichenden Worte einging, weil ich glaubte, so wenigstens im Gespräch über das, was nicht mein Verlangen berührte, Einverständnis empfinden zu können und mich so von meinem Verlangen selbst ablenken zu können – „du freust dich bestimmt…“ – so könnte ich mich wenigstens an Deiner Wiedersehensfreude, die nicht mir galt, erfreuen; womit ich mich genau damit zufrieden geben würde, was Du mir mehr auch nicht zugestehen wolltest – „ich freue mich für dich“ - in der nüchternen Einsicht in die Aussichtslosigkeit verharrte der Brustkorb in einem warmen, gestauten Atem, in dem ich Unzufriedenheit empfand über unsere Verabschiedung, während sich die Hoffnung, bei einer zweiten Verabschiedung könnte ich mir Deiner Zuneigung sicherer sein, sich gegenseitig durchdrängte mit der Angst, dass die neuerliche Verabschiedung noch unbefriedigender ausgehen könnte - „dann wünsch‘ ich dir eine gute Fahrt“ – während sich die Wärme, Deine Wärme zu einem Knoten verdichtete: im Magen spürte ich die Angst vor der Zurückweisung. Ich hab dann erst mal meine Lederjacke angezogen, aber so kalkuliert, dass Du gerade ins Bistro gegangen sein würdest. Dort bist Du mir dann, ziemlich weit vorne, in dem breiteren Bereich, entgegengekommen, wie Du gerade die Aschenbecher eingesammelt hast. „Und pass gut auf auf dich!“ Aber auf Deiner Unterlippe lag wieder jenes verschämt gerührte Lächeln, das nicht mehr Geneigtheit erkennen ließ, als ich erfahren durfte, gerade so, dass ich es nie wirklich erfahren konnte. Aus lauter Verlegenheit habe ich mich dann bei den anderen nochmal verabschiedet, und selbst in dem Moment, als ich die Stufen des Bistros hinabstieg, schoben sich die Zweifel und die Gewissheit über Deine Neigung gegenseitig beiseite, und ich zögerte die Schritte die Stufen hinunter und meine Beine versuchten, noch im Weggehen, wieder ins Bistro zurückzugehen - und doch würde ich nur wieder die Worte versäumen, die ich nicht finden konnte, und die, die ich für Dich finden wollte und längst gefunden hatte, scheuen, um mir wenigstens an Deiner freudigen Erregung, die nicht mir galt, Deiner Neigung sicher sein zu können. Das Gefühl, die Verabschiedung nicht genügend genutzt zu haben, trieb mich gegen meine Schritte in meiner Vorstellung immer wieder zurück – „und pass gut auf dich auf und … „ – ich verharrte auf dem Treppenantritt in Deinen Worten, in meinen Worten, in Deinen Blicken, in meinem kurzen, unentschlossenen Atemzügen: während mein Körper in meine Gedanken versank, führte ich mit meinem Kopf die Drehbewegung aus, mit der ich gerne wieder zu Dir umgekehrt wäre, während er in meine Unentschlossenheit nach unten wegknickte – „wir brauchen dich noch…“ - immer wieder wiederholte ich in meinem Innern Deine Worte, je öfter ich sie mir vorsagte, um so mehr traten sie auseinander, und je mehr sie auseinandertraten, um so mehr Bedeutung legte ich in jedes Deiner Worte, wobei ich mir abwechselnd die Gewissheit über Deine Geneigtheit und die hoffenden, von Verlangen schweren Zweifel als jeweils wahrscheinlicher vor Augen führte, indem ich mir abwechselnd Deine Zuneigung und Deine Abneigung als Gewissheit hinstellte. Und mit jeder Stufe, die ich nach unten nahm, wurde die Überwindung, von den aufgesparten Worten, von denen ich ja gar nicht genau wusste, welche es noch hätten sein können, Abstand zu nehmen, schwerer, drängte das Bedürfnis, die Gelegenheit doch noch nicht als verpasst zu geben, meine Schritte immer wieder ins Bistro zurück. Und doch empfand ich mit jedem Schritt immer mehr Ernüchterung und Vergeblichkeit und richtete meinen Gang zugleich an den Gefühlen auf, die ich mir für Dich bewahrte hatte, indem ich sie ängstlich zurückgehalten hatte – da ich sie nicht ausgesprochen hatte, konntest Du sie auch nicht zurückweisen, und so lange brauchte ich auch nicht Abstand zu nehmen von ihnen, so lange brauchte ich mir auch nicht einzugestehen, was ich längst empfand: meine verhaltenen Gefühle sicherten mir die Zuflucht in die Ungewissheit: als Hoffnung; und auch noch auf dem Weg zum Bus blieb ich immer wieder stehen und schaute mit verlorenen Blicken unsere Verabschiedung in die dunklen Schaufenster, auf das nachtgraue Pflaster an mir herunter… aber noch konnte ich mir sicher sein, dass Du wieder zurückkommen würdest. Ich stehe im Innenhof, in der morgenkühlen Frühe eines Septembertages, dessen leichtes Licht allmählich die über Dächer steigt und dessen morgenfrische Kühle allmählich von oben erwärmt. Ich schaue auf die weißverputzten Gefächer, auf die sich spätsommerliche Wärme legt, auf denen sich wärmendes Gelb ausdehnt und den weißen Putz in sich aufnimmt: an den Gefächern haftet warmes Licht, aber zwischen uns steht die Kühle: es ist ein fernes Licht, es fällt von oben wie von meinem Erleben getrennt in den Innenhof, fahl entfernt und grell bedrängend zugleich, das Licht, das wie vom Abend vorher aufgehoben scheint, in dem die Wandlaternen, in dem der Glanz Deiner Augen und der bescheidene Stolz, die verschämte Rührung und die Wiedersehensfreude leuchten, das Licht, das wie aus der Nacht des vorherigen Abends hereinbricht, das Dunkel überflutet und warm überstrahlt, so wie unendliches warmes Licht aus dumpfen Schwarz fließt; ich starre auf den Tisch, an dem ich am Abend vorher saß, vor dem Du standest: ich starre auf Dich, ich starre auf den leeren Stuhl, auf dem ich selbst saß, ich starre auf mich selbst; ich schaue in die Tage, von denen mich die letzten Stunden, auch schon dieser Moment, trennen, die ich in diesem Moment, da sie vorüber sind, zum ersten Mal wahrnehme: je mehr ich auf sie schaue, um so schwerer sind sie zu überblicken, um so schwerer sind sie zurückzuholen, um so bedrängender wird das Gefühl, die Zeit verloren zu haben, ohne sie genügend erlebt zu haben: die Enttäuschung, Wochen hindurch nur im Gefühl der einen Empfindung durchlebt zu haben, die ich in diesem Moment als umsonst fühle, während ich die Wochen eigentlich verpasst habe. Ich setze mich auf den Stuhl und schaue Dich mir gegenüber in die allmählich hellere, wärmere Septembersonne hinein; und das gelbe Licht wärmt sich in wolligem lila, mischt sich olivgelb in das Lila, das sich in dem olivhellen Morgen auflöst und plötzlich den Ton f annimmt, aus dem sich allmählich der zweite Satz löst, dem die Violine ihr olivgelbes, klärliches a aufsetzt und es in die allmählich immer tiefer in den Hof einfallende Septembersonne anhebt und das f von der ungewissen Hoffnung mit einem Glissando in Deinen Namen hinabrutscht; das verklärt entfernte Des-Dur, mit der lilaseidenen, wollig warmen Oktave; etwas später dann die Rückung von As nach C, sowie ich aus der dumpfen Versunkenheit in die entglittenen Tage plötzlich aufschaue in das hellere, gleißende Septemberlicht, das zugleich der Hoffnung eine Wärme von unbestimmter Gewissheit spendet, die Quinte nach unten zum g und nach oben zum e aufreißt. In Deiner Abwesenheit steht Deine Wärme, steht meine unerfüllte Seligkeit in Deiner Wärme in mir an, drückt von innen gegen meinen Brustkorb: ich sitze an der lange Seite der Bar, ich sitze in Deiner Wärme an der Bar, versunken in einem unerfüllten Glück, dass mich von innen wärmt, das meine Gedanken in sich hinein zieht, gegen ihre Kraft in unbestimmte Tiefe ablenkt, in Deine Wärme hinein. Ich sitze in dumpfer nicht erwiderter Zuneigung: eine selige Wärme, in der ich Deine Blicke zurückhole, die sich in dem gelbtrüben Glanz auf der silbernen Theke auflösen, von denen nur ein helles Licht, ein olivgelbes Licht bleibt, das sich auf den gelbtrübten Silberglanz legt, aber deren unendliche Tiefe hinter die Wandregale reicht und deren unendliche Weite außerhalb meiner Blicke liegt, wie eine Blende immer weiter aufreißt, in deren Tiefe Du wieder auf mich zukommst, in denen ich Deine Lippen die Worte sprechen sehe, die Du am Abend vorher, im Hof, gesagt hast und auch die, die Du nicht gesagt hast, in denen ich anfange, mich an Dich zu gewöhnen –je länger Du weg bist, um so mehr gewöhne ich mich an Dich -, in denen sich unsere Begegnungen so oft wiederholen, bis ich in ihnen zu leben anfange, bis ich mich an mein Glück, mein so tief empfundenes, aber unerreichbares Glück gewöhne, bis ich Deinen Blicken, in Deinen Schritten, in dem seitlichen Aufwerfen Deines Kopfes mein eigenes Glück erwidert sehe, bis ich mein Glück auch als Dein Glück empfinde, annehme; ich sitze an der Bar, in unerfüllter Nähe, in unserem innegefühlten Glück, das wir in meiner inneren Wärme, in Deiner Wärme teilen, als ob wir sie seit Jahren teilten: ich schaue auf Dich zurück wie auf alte Tage: ich sehe auf mich, empfinde mich als alten Mann, der auf sein Leben zurückschaut aus der Erfüllung langer Jahre. Ich sitze an der Bar, ich sitze in unserer Verabschiedung – je länger Du weg bist, um so mehr versuche ich die unerfüllte Sehnsucht durch ein Gefühl von Fürsorglichkeit, mein Verlangen durch bloße Anteilnahme an Deinem Leben zu ersetzen, und aus dem Verlangen, für Dich da zu sein, wird eine fürsorgliche Wahrnehmung, ein Gefühl der Verantwortlichkeit – während Du in der anderen, nicht ganz so großen Stadt bist – je länger Du weg bist, jede Minute, die ich an diesem Abend wieder an Theke sitze – ich sitze an der Bar – wird jede Minute, wird jede Minute wird – jede – wird jede Minute – je länger Du weg bist, um so weiter weg verdränge ich Deine Wärme, um so weiter entfernt sich mein unerfülltes Verlangen: es steht außen vor den Bodenfenstern in der Kühle der Septembernacht – je länger Du weg bist, um so mehr gewöhne ich mich - ohne Dich – je länger Du weg bist, um so weiter entfernt sich, entzieht sich Deine Wärme meinem Körper - je länger Du - nimmt meine Wärme eine nüchterne Kühle an, wird mein Verlangen luftiger, und sorgsam aufbewahrt unter der Einsicht in die Aussichtslosigkeit, eingeschlossen im Stolz auf die eigene Zuneigung, von seligem Stolz behütet… in die Leere, die zwischen den außen vor der Fensterscheibe ruhenden Gefühlen und der Empfindung lieblicher Ernüchterung, wohliger Entsagung entsteht, in die sich schon jenes Gefühl abgeklärter Entsagung mischt, in dem ich auf mich selbst schaue, zurückschaue, herabschaue - in diese Leere hole ich die Begegnungen, meine Nähe mit Jana zurück, die mit ihr gewechselten Worte, weil in der gleichermaßen Unerfülltheit meiner Gefühle auch zu ihr, in der gleichen Unwirklichkeit meiner Wirklichkeit zumindest die Hoffnung an Kraft, an emsiger, engagierter Wärme gewinnt… „Jana arbeitet heute abend nicht.“ Ich frage die Chefin über die Kaffeemaschine zur kurzen Seite der Theke hinweg, wo sie sitzt, ob Du tagsüber schon da warst. Und frage nochmal nach. „Ja, sie arbeitet morgen.“ Am anderen Abend - das war dann schon der Dienstag vor dem Mittwoch, wo es gewesen sein muss, an dem Du erst donnerstags wiederkamst – war dann schon jener Abend, an dem wir nach Deiner Schicht zusammen an der Theke saßen – an dem Du Dich nach Deiner Schicht zu mir an die Theke gesetzt hast – und Dein Tiramisu zusammen gegabelt haben, und an dem Du mir, nachdem ich das Lokal fast schon nach vorne, durch den offenen Samtvorhang verlassen und schon alle Guten-Abend-Wünsche hinter mir gelassen hatte, die letzten Zurufe noch im Rücken spürte, noch ein „Schlaf gut!“ nachgerufen hast. Ich sitze an der kurzen Seite der Bar. Ich sitze in der Ahnung, die die Einsicht in die Gewissheit hinter einem diffusen Schummer, hinter unscharfen Lichtflecken zurückhält, an der mein Atmen Halt findet, an der er sich sich stützen kann, die Ahnung, die vor der Haltlosigkeit, der Unerreichbarkeit schützt, die das Eingeständnis auf Distanz hält, hinter der Ungewissheit zurückhält, der Schutz der Ungewissheit, hinter der ich mir meine Gefühle bewahren kann – für mich selbst -, die Ahnung, die, so lange sie nicht zur Gewissheit wird, bis auf weiteres den Glauben an das eigentlich schon Verlorene nicht gefährdet, die den eigenen Stolz nicht antastet, eine Ahnung, die es zuläßt, den Augenblick, der eigentlich schon hinter dem Geschehenen liegt, in einen Moment vor dem Geschehen umzudeuten, eine Ahnung, die um ihre eigene Selbsttäuschung weiß, Gefühle, deren Zurückweisung zurückgehalten wird, solange sie nur als Ahnung zugelassen wird, eine Ahnung, die es ermöglicht, die eigene Verletztheit in Stolz umzuempfinden, in Glück: in ein Glück, das zwar mit der Person, für die das Glück empfunden wird, nicht geteilt werden kann, von dem sie auch gar nichts weiß, und das sie doch durch jede ihrer Bewegungen immer wieder erregt; ein insgeheimes Glück, das das in der Wirklichkeit nicht gefundene Glück mit jedem weiteren Atemzug und jedem neuerlichen in sich selbst Versinken heimlich atmet; ein Glück, das parallel zu dem entsagten Glück atmet, wärmt, in dem ich jedes zuvor so oft so zart beobachtete Anheben Deiner Füße, jedes stets unbeirrte und doch so gutgläubige Drehen Deiner Blicke in das eng nach hinten zusammengezogene Haar in mich selbst, nach innen schaue, in die gemeinsam vor uns liegende Zeit schaue, in der Du mit jeder Deiner Bewegungen mit mir die Zeit teilst – ich fange an, mit Dir zu leben -, während all die Anmut, die Eleganz Deiner Schritte, die Redlichkeit Deiner Worte, auch wo sie an mich gerichtet sind, in Deinen Blicken durch mich hindurch für jemand anderes empfunden sind; ein Glück, das für mich nur solange währen kann, wie Du nichts davon weißt, weil Du Dich ihm sonst entziehen würdest; ein Glück, das die Ungewissheit als Erleichterung vor der Schwere der Gewißheit empfinden lässt, ein Glück, das ich beflissen hüte, indem ich jeden freundlichen Blick von Dir als Bestätigung annehme und jedes bloße mich nicht beachtende Vorübergehen mit starren Blicken mir als unbeabsichtigt, zufällig auslege, bedingt durch Deine starke Beanspruchung an diesem Abend. Das zart gehauchte lila verdunkelt sich in der Unverständlichkeit der immer gedrängter stehenden Gäste, wird zusammengedrückt, gerät in den Sog der immer drängenderen Stimmen der Gäste - es ist inzwischen Mitte September, und sie drängen sich wieder, wie in der dunklen Jahreszeit, in das Innere des Lokals - es verdunkelt sich, und wo Deine Blicke das rauchige Dämmerlicht sonst aufhellten, verdunkeln sie sich im Rauch, in der Tiefe des Raumes; Deine Blicke werfen dunkle Flecken auf das Silber der Theke; und während Du die Stufen zum Restaurant hinaufgehst, vorbei an dem weinroten Träger, im Widerschein der ocker-rosa Glasschirme des Mobile, das sich von der Galerie auf das Parterre herabbewegt, deren ockerrosa Schatten über das umbrabraune Haar streifen, hinwegziehen, dann auch wieder auf ihm ruhen, während Du die Treppe zu Restaurant hinaufeilst, vor der weinroten Tapete in die Flucht des Treppenaufgangs entschwindest, bleibt Dein Gesicht auf der Wand ruhen, kehrt Dein Gesicht zurück auf den weinroten Träger, ruht der Glanz Deiner Augen auf dem Träger, sich mit den ocker-rosa Schatten durchdringend, und das Thema aus dem Violinkonzert, das rote D, das lila, dunkellila fis, in der dunklen-satten Fülle der Hörner, die zu der erhabenbreiten Würde der Celli hinzutreten, legt sich auf Deine Stirn, auf Deine Wangen, die Sologeige streicht über Deine Stirn, wiegend zwischen dem hohen und dem tiefen a; je ferner Du mir bist, um so näher wirst Du mir, wird mir Deine Person; die Melodie taucht die Stimmen der Gäste in zartes, aus Hörnern gehauchtes, weinrotes d und lila fis, sie hebt Deine Stimme wieder aus den dichtgedrängten Gästen heraus, obwohl Du gar nicht sprichst; der Hauch Deiner Stimme liegt über dem schattigen, dunstigen, schweißigen rauchigen Schummer, der unter Decke hängt; der Glanz der Trägersäule schimmert weinrot in den rauchigen Dunst; wenn Du die Treppe aus dem Restaurant wieder runterkommst, durchschreitest Du den weinroten Glanz, durchschreitest Du Deinen eigenen Glanz, spiegelst Du Dich in Dir selbst. Und wenn Du dann doch mal Deine Augen seitlich nach unten in Dich hineindrehst und von dort unter Deinen eigenen Blick hindurch zu mir rüberschaust und Deine Oberlippe zart anziehst, lebt wieder die Vornehmheit Deines Lächelns in Deinen Augen zwischen den eng nach hinten zusammengezogenen umbrabraunen Haaren auf. So wie Du sie zuvor im Dunst, über, hinter der Theke zurückgelassen hast, legen sich Deine Blicke über Deine ganze Erscheinung: dann lächelst Du mit Deinen Blicken, wobei in dem augenblicklichen Leuchten Deiner Augen immer auch Deine Verlegenheit unter den von Dir abgelösten, abgeklärten, edlen, reinen Blicken hindurch aufblickt – „Bist bestimmt müde… Musst du noch lange arbeiten?... Wann hast du denn angefangen… ?“„Schon um zwölf…“ „Dann wünsche ich dir noch einen guten Abend!“ Das „gut“ hast Du dann wieder so aufgegriffen, dass Du zwar seine Betonung übernommen hast, ihm aber meine Absicht, seine Verbindlichkeit entzogen hast. Du hast es von meiner Empfindung für Dich getrennt, Du hast es den Gefühlen enthoben, die es trugen. Das Wort führte nicht mehr zu Dir: stattdessen hast Du zu einer Redensart gegriffen, die Dir mit ihrem Wort zu Hilfe kam, die zufällig das Wort enthielt, dem Du seine Bedeutung nehmen wolltest, von dem Du Dich nicht angesprochen fühlen wolltest, das nun ganz allgemein der Situation galt, nicht mehr Dir, nicht mehr meinen Gefühlen für Dich. „Das Gute kommt immer zum Schluss!“ Da hatte ich wieder einen Satz, an den ich anknüpfen konnte, ohne damit etwas an Dich knüpfen zu können, wieder so ein Satz, mit dem ich mich auf Dich berufen konnte, mich Dir nah fühlen konnte, ohne Dir wirklich näher zu kommen; mit dem ich das Glück, das ich in meiner Vorstellungen mit Dir durchlebte, verlängern konnte, ohne es je mit Dir teilen zu können, ohne es je zu erleben. Ich habe dann bei der Chefin einen Cocktail für Dich geordert, und dann hab ich noch einen Zettel vorbereitet, den sie Dir dazugeben sollte: „Das Gute kommt immer zum Schluss!“ Aber am anderen Abend hast Du dann gar nicht davon geredet. „Hast du den Zettel nicht bekommen?“ „Ja, also wenn der Cocktail von dir war, dann…“ Die Worte, mit denen Du den Satz vermutlich zu Ende führen wolltest, drehten Deine Blicke seitlich in Dich hinein, zur anderen Seite als ich saß, in Dein eigenes Glück, dem diese Worte jetzt vorbehalten waren. Von der Seite spüre ich, wie sich jemand nach dem Besteckkasten reckt und verzweifelt nach den wenigen noch ordentlich gedrehten Bestecken wühlt: Dana ist wieder zurück. Ich versuche aus ihren Blicken die Erwiderung zu finden, die Jana mir verwehrt. Ich pumpe Glück in meine Lungen. „Hallo Dana, wie geht es dir!“ Aber mein hoffender Ton findet keine Erwiderung. „Ja, ja…!“ „Hast du zu viel ausgegeben? Musst du jetzt erst mal wieder arbeiten…“ „Ja, jetzt muss ich arbeiten…“ Am anderen Tag, sonntags, saß ich dann schon um ein Uhr Mittags an der langen Seite der Bar – und habe auf Dich, Jana, gewartet: es war Dein vorläufig letzter Tag: am anderen Tag bist Du dann zum ersten Mal in die große Stadt geflogen. Irgendwann nach zwei, vielleicht auch halb drei bist Du dann gekommen, hast Dich zu mir an die Theke gesetzt. „Kannst du kurz mal ein Auge auf meine Sachen werfen?“ „Wenn ich es hinterher wiederbekomme?“ „Ja, bekommst du!“ Das wohl banalste, abgegriffenste aller Wortspiele – gab Dir Gelegenheit, meine Worte mit Deinen Blicken wie so oft wie in Dich hineinzuziehen und sie dort kurz zu verzögern – gab Dir, gab uns die Gelegenheit, uns ein tiefes gegenseitiges Einverständnis spüren zu lassen – jenes in all den verpassten Momenten, durch all die unausgesprochenen oder abgebrochenen, missverstandenen Worte gewachsene Einverständnis: dieses Wortspiel gab Dir die Gelegenheit, mir Deine durch alle die Worte gewachsene Zuneigung zu offenbaren, ohne sich dazu bekennen zu müssen; gab Dir die Gelegenheit, diese Zuneigung wie schon zuvor hinter einem rein intellektuellen Interesse zu verstecken. Später habe ich Dir dann noch geholfen, im Innenhof das erste Herbstlaub zusammenzufegen. Da hast Du Dich dann zum ersten Mal bei mir bedankt – um meine Hilfe abzulehnen. Später am Abend hab ich dann bezahlt. „Kommst du später noch mal wieder?“ „Nur, wenn du auch Zeit hast, das wir uns noch etwas unterhalten können.“ „Eigentlich hab ich die ganze Zeit nie Zeit gehabt!“ Auch nicht, als ich zu Dir ins Restaurant raufkam, und Du die Bestecke polieren musstest? Auch nicht, als Du Dich zu mir an die Bar gesetzt hast und mit mir Dein Tiramisu geteilt hast? (Erst später, als ich Dir versicherte, dass ich bei jedem Wort, dass ich je über Dich und zu Dir gesagt habe, bleiben würde, konntest Du Dir sicher sein, dass ich Deine Zeit, Deine Aufmerksamkeit beanspruchen würde, ohne deswegen auch Deine Gefühle zu beanspruchen.) Ich bin dann nochmal wieder gekommen, von Deinen Augen den ganzen Abend über ungläubig beobachtet, bis Du schließlich die Kerzengläser und die Aschenbecher zum Aufzug bringen musstest, die Aschenbecher von Deinen Füßen zart angehoben und über das dunkle Parkett gehoben wurden, und ich, nachdem ich mich mit einem fragenden Nicken kurz bei der Chefin rückversichert hatte, Deinem Rücken, Deiner Bluse die restlichen Gläser hintertrug. Die entsagende Enttäuschung nahm plötzlich freudige Erregung an, meine Gefühle des Verlustes und des Verzichtes nahmen etwas von Deiner Aufbruchsstimmung an, die ernüchternde Spannung löste sich auf in Anteilnahme, in mitfühlende Freude, und meine Getrübtheit nahm ich nicht mehr als Bedauern war, sondern als Besorgtheit. Schließlich hab ich mich dann verabschiedet, bei den anderen, immer wieder, und bin immer wieder unschlüssig stehen geblieben, bist Du die Müllsäcke in den Hof tragen musstest. Dann erst habe ich das Lokal durch den Hintereingang – durch den Innenhof – verlassen und Dir zum Abschied meine Hand ausgetreckt – versucht, Deine Hand zu greifen: aber Du hast sie zurückgezogen. Ich sitze an der langen Seite der Bar. Am anderen Tag bin ich schon morgens früh aufgetaucht und hab dann den ganzen Tag dort gesessen. Erst an der Theke, dann auf der Terrasse. Zwischendurch bin ich dann in den Hof gegangen. Dort hast Du dann das rosaweinrote Laub zusammengefegt _ „Danke, Simon!“ – dann saß ich wieder an der langen Seite der Theke und sah Dich über die Kaffeemaschine äugen und Deinen ersten Kaffee pressen – „Du bist heute mein Versuchskaninchen“ – sah Dich vor mir stehen und Bier zapfen – „Heute mit Krawatte?...“ - sah Dich mit dem Tablett in der Hand im Thekendurchgang auf neue Getränke warten… sah Dich die Treppe zum Restaurant herunterkommen… sah Dich von der Terrasse hereinkommen… sehe Dich… Ich sitze an der langen Seite der Bar und schaue zum Thekendurchgang. Es ist der Morgen danach. Das weiche Licht des noch frühen September legt sich über die Theke. Es füllt den Raum, den meine Gefühle nicht mehr füllen können; es legt sich über meine Gefühle. Deine Augen drehen sich ungläubig von mir weg in Dich selbst, in die insgeheime Tiefe Deiner Unbeirrbarkeit, und ich versuche unter Deinen Blicken hindurch in die Tiefe Deines Intellekts zu blicken, ein verstohlenes Blicken, vor jedem Verdacht sicher, unbemerkt in Deinen Intellekt hineinblickend, dort, wo ich Deine Blicke mit meinen treffen will, versteckt in der Tiefe Deines Wesens – ich sehe durch die Holzstäbe der Galerie zu dem kleinen Tisch hinauf, sehe Dich die Bestecke polieren, sehe in das weiche Septemberlicht, das sich allmählich über den Tisch legt, das Holz verblassen lässt und weiche, verstaubte Streifen in den Raum senkt, dem die Kraft des Augustlichtes zusehens schwindet, sehe Dich die Bestecke polieren, sehe Dich durch die weiche, verstaubte morgendliche Sonnenflut im dämmrigen, von Alabaster durchhauchten schwachen Licht später Augustabende vor dem Sprossenfenster, sehe Dich durch die morgendliche Sonnenflut vor der tiefen Nacht, aus der durch die Sprossenfenster nur die Leuchtreklame der Geschäfte flimmert, sehe Dich… Dein Gesicht versinkt in dunklen Schatten, Dein Gesicht verliert seine Schärfe in der morgendlichen Sonnenflut… ich sehe Deine Augen, immer wieder, wie sie ihre Blicke unbeirrt, niemals leichtgläubig, und doch stets guten Glaubens in sich hineindrehen, vielleicht auch skeptischen Glaubens, dem Deine Gutmütigkeit, Deine Unbeirrbarkeit doch stets jeden Zweifel ausräumen; zart gehauchtes Lila liegt über dem Geländer, liegt über dem Tisch, steht im Raum, zart gehauchte, lila morgenscheinende Flut von warmen, trüben Streifen, die das Restaurant aus seiner Müdigkeit erwecken und zugleich verklären – mein Kopf wird zur Seite weggedrückt, ich schaue in den Hof, ich gehe in den Hof, Du schaust vom Besen und dem Laub, das Du zusammenkehrst, zu mir auf – „Danke, Simon!“ – ich stehe im Hof – „Danke, Simon!“ – Du hältst bei dem Laub inne und schaust zu mir auf, und jedes Mal versuche ich aus dem gewiss als Ablehnung gemeinten Dank Deine Zuneigung für mich herauszuhören; immer wieder lasse ich Dich Deine Worte sagen, immer wieder lasse ich sie Dich mit meinem Empfinden für Dich sagen – ich höre aus meinem Empfinden Dein Empfinden heraus. Ich empfinde Deine Worte mit meinem Hoffen – unsicher, von einbekennenden Zweifeln getrieben versuche ich mich gegen die ernüchternde Einsicht zu stemmen, Deine Zuneigung anzunehmen, mit der ungewissen Hoffnung auf Deine Zuneigung mich gegen meine Zweifel aufzurichten, Deine erhoffte Zuneigung gegen sie zu aufzurichten; aber in dem ich mir Deine Worte immer wieder vorsage, brechen sie unter der Ernüchterung der Einsicht in Deine Zurückweisung ein, unter das Laub: das Laub häuft sich über Deinen Worten an und bedeutet mir die Unbezwingbarkeit Deiner Gefühle; unter dem weinroten Laub erstickt das lilazarte Hauchen – Ich sitze an der Bar, ich warte auf Dich, schaue Dich auf den Platz hinaus, schaue Dich in den Eingang, das Pflaster hebt Deine Füße zart an und trägt sie über den Marktplatz hinweg auf den Eingang zu, Du trittst ein, setzt Dich neben mich – „Kannst du kurz mal ein Auge auf meine Sachen werfen“ – Deine abwesende Nähe wird unerträglich, die Gewöhnung an Deine Nähe macht das Verlangen nach Deiner Nähe immer unerträglicher, weil doch diese liebliche Wärme von einer wallenden Hitze umfangen und erdrückt wird; das Verlangen nach Deiner Nähe drängt meine wohlige Wärme immer mehr zusammen - „eigentlich hab ich die ganze Zeit nie Zeit gehabt“ – mein Verlangen versagend ziehen Deine Worte die Bilder vom Tag vorher, Dein immer neuerliches Eintreten, hinter sich runter, vergeblich versuche ich die Bilder, in den Du auf mich zutrittst, in denen ich Dich auf mich zutreten lasse, aus den Augenblicken des wirklichen Geschehens herauszuziehen, aufzurichten, sich vor mir bewegen zu lassen, immer wieder werden sie von der Einsicht ins Versagen vereinnahmt und dunkel getönt, sie verschwimmen zwischen den Worten der Distanz, der Zurückweisung; die Einsicht in die Gewissheit zieht sie nach unten weg; immer wieder versuche ich mir jene liebgewonnene, zur Wirklichkeit gewordene Geborgenheit, in der ich mit Dir zu leben begann, zurückzuholen, zurückzufühlen, während doch jene Geborgenheit immer wieder in ein befremdendes Entbehren aufbricht und meine Geborgenheit - „eigentlich hab ich ja die ganze Zeit keine Zeit gehabt“ – um die Worte vom Tag vorher betrogen wird – „eigentlich hab ich ja“ – ich sehe Dich über das Pflaster eintreten – „eigentlich“ – entsagend zieht mein Verlangen Deine Worte in sich hinein, nach hinten weg – meine Gewöhnung an Dich – durch die Worte vom Tag vorher betrogen – „Danke, Simon!“ - „eigentlich hab ich ja die ganze Zeit keine Zeit gehabt!“ - Ich setze mich auf die Terrasse, an den ersten Tisch links neben dem Eingang. Für einen Moment erleichtert mich das allmählich zum Mittag drängende Morgenlicht, aber immer wieder sinke ich darunter zusammen, sacke ich in mich selbst, in die geflochtene, Rückenlehne, während ich mich mit meinen kraftlosen Beinen gegen die Pflaster stemme; doch ich kann mich mit ihnen nicht mehr wirklich abstützen, während ich mich um so verkrampfter, um so schwächer an den Armlehnen festhalte. Ich gehe wieder rein, setze mich wieder an die Bar. „Sie sollten mal an die Saar spazieren gehen!“ Als ich wiederkomme, reicht mir die Chefin einen Kaffee: „Der ist übriggeblieben!“ Ich sitze den ganzen Tag dort, bis in den Abend, bis zum Schließen. Im Laufe des Abends bleiben dann noch mehrere Kaffee übrig, und der Italiener macht mir sogar noch einen Cocktail. Durch das rötlich, grüngelbbraune Licht sehe ich in der nun schon frühen Septembernacht von Schatten gedeckt und doch in fürsorglich klarem Schein das Lächeln der Chefin, in ihrem Lächeln sehe ich Verständnis, Anteilnahme, ich sehe Janas Gesicht in ihrem, ich suche ihr Verständnis, ihre Anteilnahme durch ihr Gesicht in Janas Gesicht; in ihrem Gesicht finde ich die Entgegnung für meine Gefühle, durch sie erfahre ich in diesem Moment die vergeblich erhoffte Erwiderung meiner Zuneigung, in ihrer Güte findet meine Zuneigung ihr Ziel, in dem vor mir aufsteigenden Röstdampf ruhen von zufriedener Erfüllung beseelt meine Gefühle, geborgen im Kaffeearoma, während sich meine Gefühle für Dich, Jana, in freundschaftliche Gefühle umfühlen, während ich jeden Krampf unterdrückter Enttäuschung in freundschaftliche Anteilnahme an Deine Reise in die große Stadt neufühle, während ich Dir meine Gefühle allmählich gönne, obwohl sie nicht erwidert wurden, während ich meine entbehrende Erregung als Anteilnahme umfühle, während mir der Verzicht auf einmal Stolz bereitet: der Stolz darauf, Dir meine Gefühle zu gönnen, obwohl Du sie nicht erwidert hast – in dem Bewusstsein, dass ich mich von der Chefin verstanden fühle. Ihr Verständnis heilt meine Zurückweisung. „Danke, dass Sie heute Abend für mich da waren!“ – „Ich sehe das als meine Aufgabe an!“ Das war der Montag, an dem ich nachmittags Dana, bevor sie ihre Schicht nicht anzutreten brauchte, weil sie ja ihre Bronchitis auskurieren musste, gefragt habe, ob ich sie etwas fragen dürfte. „Was willst du mich denn fragen?“ – „Hat Jana sich über mich geäußert… ich meine, habt ihr mal über mich geredet, weil…“ „Eigentlich nicht…“ – „Also doch!...“ – „Ja, aber wir haben eigentlich nicht über dich geredet…“ „Es ist halt, weil ich ihr zum Abschied was schenken möchte…“ – „Ich glaube nicht, dass sie das annimmt… sie weiß ja auch, dass du nicht so viel hast…“ „Also habt ihr doch über mich geredet!..“ „Ja, aber sonst eigentlich nicht viel…“ „…abgesehen davon hab ich die beiden Bücher ja auch schon gekauft…“ „Das musst du wissen…ich glaube, dass es ihr nicht recht ist…“ „Ich weiß nicht, ob es mir recht sein kann. Ich möchte nicht, dass du für mich Geld ausgibst.“ „Weil du nichts annehmen möchtest von mir?“ „Nein, aber wenn ich mir überlege, dass du schon am Anfang des Monats überziehen musst…“ „Aber Jana, soll ich dir jetzt noch sagen, was die beiden Bücher gekostet haben?“ „Zwei Bücher?“ „Ja, von Adorno die „Minima Moralia“ und dann noch ein Buch zur Einführung in den Journalismus.“ „Also, wenn sie ja nicht viel gekostet haben, dann freue ich mich.“ „Und wenn sie doch viel gekostet hätten, dann nicht?“ „Also, wenn sie von dir kommen, freue ich mich auf jeden Fall. - Und wann kriege ich sie?“ „Ja, das ist das Problem, wie wir das machen…ich meine, ich würde mich gerne in Ruhe von dir verabschieden, aber nicht hier. Vielleicht…“ Wir haben dann verabredet, dass ich, wenn ich an Deinem letzten Abend nach Hause gehen wollte, mich nur kurz bei Dir verabschieden würde, zum Schein vor den anderen, dass ich dann das Lokal nach vorne zum Markt hin verlassen würde und von hinten durch die Gasse in den Innenhof zurückkäme und dort auf Dich warten würde: du würdest Dich dann unter irgendeinem Vorwand entschuldigen: „Ich sag dann, dass mir nicht gut ist und ich mal kurz frische Luft brauche: da fällt mir schon was ein … übrigens: Dana hilft mir beim Umzug. Sie fährt zwei Wochen mit mir: Ist das nicht total lieb von ihr?“ In Deinen Worten sanken meine Blicke an Dir herab nach rechts durch das Geländer der Galerie hinunter auf die Theke, und ich sah mich schon wieder dort sitzen, sah die zwei Wochen vor mir, sah zwei Wochen leere Tage vor mir, wenn Dana weg sein würde, die ich wieder nicht zu füllen wusste, da ich ja keine Beschäftigung hatte, zwei Wochen, die ich nicht beschleunigen konnte, vor denen wieder Angst in mir aufstieg, weil ich mich darauf verlassen hatte, meine Gefühle, gleich nach dem Du in die große Stadt abgereist wärst, auf sie zu richten und in ihrer Nähe mein unerreichbares Begehren weiterempfinden zu können, mich in ihrer Nähe von Dir zu entwöhnen, mich in ihrer Gegenwart wieder an meine Gefühle für sie gewöhnen zu können, mich in meinen Gefühlen für Dich an sie gewöhnen zu können. In Deinen Augen verloren sich meine Blicke, die Deine Worte mitdachten, in Danas Blicke, deren Glanz in Deinen Blicken aufleuchtete, die ich durch Dich hindurch sah, hinter Dir sah; auf Deine Stirn fiel ihr Glanz. Und ich drehte mich zum Restaurant um, und ich verlor mich im Übergang zwischen den ockerfarbenen Rauhputz und der dunkelroten Laibung der Bögen, die den Durchgang zu den hinteren Tischen bilden: halbschattiges, seidiges, olivgelbes Schimmern in der Tiefe des ockerfarbenen Rauhputz und die dunkelschattige, weinrote Laibung der Gewölbe im Widerschein. „Dann ist Dana also auch zwei Wochen nicht da?...“ Zum letzten Mal führten Deine Hände die Bestecke durch das weiße Geschirrtuch, eingetaucht in den weinroten Glanz, aus dessen Falten in der Tiefe der Septembernacht zart gehauchtes Lila aufstieg, während die Bestecke silbrigrot schimmerten. Deine Hände führten Deine Blicke zu Ende, die ihre Reaktion verleugneten. Spätestens jetzt musste Dir klargeworden sein, dass mir auch an Dana etwas lag. „Ich glaube, du gehst jetzt besser runter, eh sie was merken.“ Ich habe dann an der Seite, die für die Theke unten im toten Winkel liegt, die Galerie umlaufen, und habe dann gleich, nachdem ich unbemerkt wieder unten war, das Lokal verlassen. Aber in jedem meiner Schritte lag ein Zögern, doch wieder zurückzukehren und Dir nochmal eine Gute Nacht zu wünschen; jeder Schritt, den ich vor den anderen anderen setze, zog mich in meinem Willen immer stärker wieder zu Dir zurück, die Zweifel, ob ich nochmal zurückgehen sollte, trugen meine Füße immer weiter von der Möglichkeit weg, nochmal umzukehren, mit jedem Schritt verstrich ein Moment mehr, der mein Verlangen unerfüllter und zugleich unerfüllbarer werden ließ, der mich von der verpassten Situation immer weiter wegtrug und mich in meinem Innern immer aufs Neue zurückgehen ließ; meine Schritte bewegten sich gleichzeitig vorwärts und rückwärts, meinen Schritten fehlte jene entschlossene Schwere, die das zweifelnd verlangende Zögern ihnen entzog; während meine Beine mit jedem Schritt die Einsicht in die Aussichtlosigkeit in das Pflaster traten, gaben meine Füße unter ihrer Last doch stets dem hoffenden Zweifeln nach: das zweifelnde Verlangen zog mir die Füße unter den Beinen weg. Ich zögerte vor und wieder zurück, blieb stehen, schaute über den Markt zu der alten Kastanie, wo Du immer Dein Fahrrad abgestellt hast, und je wahrscheinlicher ich den Zeitpunkt, an dem Du das Lokal verlassen würdest und ich Dich an der Kastanie noch antreffen könnte, verpasst hatte, je länger mein zögerndes Zweifeln gegen meine Füße ankämpfte, um so mehr erzwang die verpasste Zeit, in der Du längst schon weg sein konntest, neue Zweifel. Aber die Angst, dass jede neuerliche Begegnung die Gewissheit bringen könnte, die ich scheute, hielt mich dann doch davon ab: nur so lange Du es nicht ausgesprochen hattest, konnte ich in der vorgestellten Nähe mit Dir mein nie zuvor erfahrenes Glück bewahren; nur solange Du es nicht ausgesprochen hattest, brauchte ich es mir auch nicht auszureden; nur solange ich weiterging, konnte ich in Gedanken zu Dir zurückgehen und mit Dir reden; solange ich Deine Antworten nur vermuten musste, konnte ich sie übergehen; solange ich Deine Worte nur in meinem Innern hörte, lagen in ihnen meine Empfindungen, sprach aus ihnen mein Verlangen; nur solange ich sie in meinem Innern hörte, konnte ich selbst aus den Worten, denen ich unbedingt entgehen wollte, sogar noch ein freundschaftliches Entzücken empfinden, konnte ich sie annehmen, konnte ich mich für Deine Worte freuen, konnte ich mich durch Deine Worte hindurch für Dich freuen: ich sah Dich über den Marktplatz gehen, auf Dein Fahrrad steigen, durch die wartenden Fahrgäste hindurch, in den vorfahrenden Bus hinein; in der Windschutzscheibe sah ich Dich in die große Stadt fliegen, sah ich Dich, sah ich Dich in ferner Zukunft … Freitags haben wir uns dann unter den Deckenbalken des Fachwerks am Hintereingang verabschiedet, samstags hat dann schon nur noch Dana gearbeitet, da hab ich dann auch schon zum ersten Mal die weißen Mohrenköpfe aussortiert und ihr unauffällig, unbemerkt auf die Waitress-Station im Bistro gestellt. Sonntags hat sie dann abends auch ihre vorerst letzte Schicht gemacht. „Ach ja, jetzt hab erst mal zwei Wochen frei, und wenn ich dann wiederkomme, arbeitete ich ja nur noch am Wochenende, weil ich dann ja studiere…“ „Dann wünsche ich dir jetzt erst mal eine schöne Zeit…“ Ein, zwei Stunden später saß ich doch wieder an der langen Seite der Theke; irgendwann standen Deine Blicke, Dana, mir von der Innenseite der Theke gegenüber. Du hast Bier gezapft, was Du, glaube ich, in der ganzen Zeit sonst nie getan hast. „Hat Jana was zu dir gesagt?“ „Nein, warum?“ „Na ja, wegen der Geschenke… ich meine, hat sie sie schon ausgepackt?“ „Ja, sie hat sie ausgepackt.“ „Ja, hat sie sie hier noch ausgepackt?“ „Ja, sie hat sie hier noch ausgepackt.“ „Ja, und hat sie was gesagt?“ „Ich weiß nicht…halt die beiden Bücher…“ Auf Deiner Unterlippe lag der Glanz Deines blaugrünen Tuchschals, umführt von dem tiefschwarzen Schalkragen Deines Pullis, in dessen Tiefe sich der olivgelbe Teint Deiner Haut noch mehr sättigte als sonst, in dessen Geborgenheit Deine Haut noch voller atmete, sich noch tiefer, noch wärmer dehnte, aber die verschämte Rührung und der unbeugsame Stolz zogen sich von Deiner Unterlippe zurück in die Mundwinkel, Deine Unterlippe trug aus ihrer Mitte ein gewisses Unbehagen unter Deinen Blicken in mein Gesicht, die Du unter meinen Blicken hindurch in das Silber der Theke, in den pilsenen Glanz des einlaufenden Bieres gesenkt hast: das Bier, in Deinem olivgelben Teint perlend, vor dem tiefschwarzen Pulli, in dessen Ausschnitt sich das blaugrüne Tuch um Deinen Hals legte, im Widerschein der braunrotgrünen Flaschen hinter Dir, im Wandregal. Zuerst hatte ich das Gefühl, das Deine Blicke mich fragend anschauten, aber als ich Dich dann nach Jana gefragt habe, schauten sie gleichgültig, vielleicht auch abweisend unter meinen Worten hindurch: meine Frage fand in Deinen Blicken kein Interesse. Hast Du es mir nicht gegönnt, dass ich Jana doch was geschenkt hatte? Hast Du mich in diesem Moment die Ablehnung spüren lassen, die Du mir damals, im Innenhof, für Jana vorhergesagt hattest, die nun ausgeblieben war, nachdem Jana die Geschenke doch angenommen hatte? Dienstags bin ich dann erst spät abends gekommen und habe meine Pfeife geraucht. Ich sitze im Bistro und rauche Deine Blicke in den Virginia Flake. Dana. Nun bist Du also mit Jana in die große Stadt aufgebrochen. Deine Blicke umgeben mich, durch Deine Blicke, Deine olivgelbe Haut hindurch versinke ich in der geborgenen, verrauchten Wärme des ockerfarbenen Rauhputz, aber je allgegenwärtiger Deine Blicke werden, um so entfernter wird mir Deine Nähe, mal berührt sie mich angenehmen und mal fast befremdend, kompromittierend: die Blicke, die ich vor mir sehe, stellen meine Empfindungen bloß: Du bist durch die empfundene Nähe hindurch abwesend: der Raum verliert Deine Gegenwart. Das Licht verliert Dein Leuchten. Ich lerne den Raum neu kennen. Unter einer beschäftigten, anstrengenden Wärme empfinde ich befreiende, unbeteiligte Ruhe; Deine Ferne geht mich an und geht mich wieder nicht an. In diese ferne Nähe komme ich aus dem Bistro herunter und nehme in der schummrigen, Septemberdunklen Tiefe des Raumes Deine Blicke an der kurzen Seite der Bar wahr: Ihr seid also doch nochmal vorbeigekommen. Jana wollte sich noch bei der Chefin verabschieden. „Hallo Simon…Ich bin müde, ich will nach Hause… ich weiß nicht, was Jana noch macht…sie muss da irgendwo rumlaufen… ich glaube sie ist nochmal raufgegangen..“ In diesem Moment treten von der anderen Seite auch schon Janas Augen zu mir, um die sich die umbrabraunen Haare im Halbglanz der rosa-goldenen Lampengläser des Mobiles legen, in dem von kühler Septembernacht erfüllten Raum fast schwarz, unscharf zusammengezogen. „Hast du die Bücher schon ausgepackt?...“ „Ja, und ich hab sie auch schon gut verpackt…“ „Dann…Jana, ich möchte dir nochmal sagen, dass ich dir alles Gute wünsche…privat und beruflich!“ Deine Blicke unterdrückten die Erinnerung des schon Gehörten, irritiert hast Du sie an mir, an Dir herabgeschaut, in der Tiefe Deiner Augenhöhlen nahmen sie Zuflucht vor Dir selbst, vor Deiner eigenen Verlegenheit, „Ich möchte dir gern noch sagen…“, aber Dana drängt schon zum Gehen, drückt drängend die Glastür zum Marktplatz auf, während Du Deine Blicke über Deine linke Schulter nachholst: für einen Augenblick ruhen sie noch auf mir, aber hinter dem Glanz, der auf ihnen liegt, folgen sie schon Dana; zum letzten Mal spiegele ich mich in ihnen, aber in ihnen spiegele ich mich in der freudigen Ungeduld, mit der Du durch mich hindurch die große Stadt vor Dir siehst; und ich finde in Deinen Blicken, verborgen hinter beschämter Betroffenheit Dein frisch gefundenes Glück, das aber nicht mir gilt, „… und schreib‘ mir mal!...“ zum letzten Mal geht Ihr, zusammen, durch den Samtvorhang, durch die Glastür, die ich Euch aufhalte, auf den Marktplatz hinaus: die bedeutungsschweren Schritte, die etwas drängender rechts kaum vorausschreiten, und die leichten Schritte, die vom Pflaster zart angehoben werden, die von den bedeutungsschweren Schritten mitgenommen werden, die ihnen links nebenher folgen, sich über sie heben, sich über ihnen bewegen: Danas Schritte ziehen Janas mit sich, in die Weite des Marktes, in die feuchtkühle Tiefe der Septembernacht, „…und schreib mir mal!..“ und zum letzten Mal drehen sich die fest zusammengezogenen in der abenddunklen Tiefe des Marktplatzes nachtbraunen Haare zu mir über Deine rechte Schulter zurück: aber über ihnen liegt ein Schimmer von fremdem Glück, in Deinen Blicken aber auch ein Hauch von Einverständnis, vielleicht aus Dank dafür, dass ich Dir Dein Glück aufrichtig gönne; vielleicht auch aus Erleichterung… zum letzten Mal lösen sich Deine Blicke von mir, zum letzten Mal holst Du sie in die nachtdunkle Ebene des Marktes nach, sie folgen Dana in der Schwere ihrer Schritte: Danas Schritte drängen nach Hause, rechts kaum vorausschreitend, beherzt, geneigt von bescheidenem Stolz: jeder Schritt gedrängt von der am Ende des Umzugs erschöpften Wiedersehensfreude mit der großen Stadt. Zwei Schöpfe werden von ihren Füßen in die feuchtkühle Septembernacht getragen, werden von der kühlen Nacht aufgesogen, in die dunkle Tiefe des Marktplatzes hineingezogen; zwei Blusen verschwimmen in tiefer Freundschaft, eng verschlungen, in ihren Falten ruht ihre Gewissheit, ihre Zuversicht, getragen von bedeutungsschweren Schritten und leichten, vom Pflaster über sie hinweggehobenen; immer tiefer schreiten Danas Schritte rechts kaum voraus in die Weite des Platzes, immer weicher in der Unschärfe der Dunkelheit, immer leichter werden ihre, immer weicher, immer… und Janas Füße werden leicht vom Pflaster im Fluß der schwebenden Synkopen der Klarinetten getragen, in der Tiefe des Marktplatzes legt sich das in der Höhe gehaltene b über Eure Köpfe; Danas Kopf auf bedeutungsschweren Schritten ruhend, durch die feuchte Kühle getragen, Janas Schritte sich anlehnend und sie beschützend zugleich, das Bassetthorn legt sich über die Oboe, die Oboe über das Bassetthorn, Danas Stimme über Janas, Janas über Danas, obwohl der Oboenton näher an Danas Stimme ist, höre ich ihn als Janas Stimme, weil er die größere Verheißung trägt, und das tiefere Bassetthorn löst sich in Danas tieferer Stimme auf, der Oboenton, der so lang und zart in die Nacht strahlt, strahlt durch die nachtdunkle Septemberkühle, strahlt durch sie hindurch in die große Stadt; Danas Schritte ziehen Janas Schritte mit sich, bis sie beide hinter der Einbiegung der Gasse hinter dem Eckhaus verschwinden; bis ihr Euch plötzlich umdreht, bis Jana zu mir aus der Tiefe ihres Verständnisses, für das ihr frisch gefundenes Glück so mitfühlend Raum lässt, zurückschaut, bis ihre Blicke wieder unter den Deckenbalken vor mir stehen; ich drehe mich zum Eingang um und schaue wieder zurück, und Jana dreht sich wieder um; ich gehe rein und schaue wieder zurück, durch die Glastür hinaus in die Tiefe des nachtdunklen Marktplatzes bis zur Einbiegung der Gasse, bis zu der alten Kastanie, Danas Schritte ziehen Janas Schritte mit sich um die Ecke in die Gasse, Janas Schritte heben Danas Schritte sanft über das Pflaster, Ihr tretet durch den Eingang hinaus auf den Marktplatz, Jana schaut sich noch einmal nach mir um, Ihr biegt in die Gasse ein und verschwindet hinter den Häusern, die bedeutungsschweren Schritte schreiten rechts kaum voran, die leichten, eleganten Schritte werden von ihnen über das Pflaster sanft hinweg gezogen, Ihr tretet durch den Eingang hinaus, Ihr biegt – Ihr tretet – um die Ecke – biegt – auf den Marktplatz hinaus – in die Gasse – durch die selige Weite, in die nachtschattige Tiefe der „Gran Partita“ in kühler Septembernacht, in der Weite des Platzes saugen die nachtschattigen Falten Eurer Blusen den kühlen Septemberabend immer tiefer in sich ein, saugt sich die Nacht immer tiefer in die kühlen Falten– Ihr tretet – ich trete wieder ein, setze mich an die kurze Seite der Bar, und schaue wieder durch die Bodenfenster hinaus, und Jana schaut sich wieder nach mir um, und ich drehe mich wieder zur Bar um und schaue Euch, schaue Eure Schritte in den Raum, und Jana dreht sich wieder nach mir um, und die Chefin dreht sich nach mir um und ich sehe in ihren Augen Janas Blicke, in ihrem Lächeln finde ich Verständnis, finde ich Anteilnahme, ich sehe Janas Gesicht in ihrem, ihr Gesicht löst zu Janas auf, ihr Verständnis, ihre Anteilnahme blickt aus Janas Gesicht; in ihrem Gesicht finde ich die Entgegnung für meine Gefühle, durch die Chefin erfahre ich in diesem Moment die vergeblich erhoffte Erwiderung meiner Gefühle, in ihrer Güte findet meine Zuneigung ihr Ziel, in dem vor mir aufsteigenden Röstdampf ruhen von zufriedener Erfüllung beseelt meine Gefühle, geborgen im Kaffeearoma, während ich meine Gefühle für Dich, Jana, in freundschaftliche Gefühle umfühle, während ich jenen Krampf unterdrückter Enttäuschung in freundschaftliche Anteilnahme an Deiner Reise in die große Stadt neufühle, während ich Dir meine Gefühle allmählich gönne, obwohl Du sie nicht erwidert hast, während ich meinen Verzicht als Anteilnahme umfühle, während mir der Verzicht auf einmal Stolz bereitet: der Stolz, Dir meine Gefühle zu gönnen, obwohl Deine Gefühle jemand anderes gelten – in dem Bewusstsein, dass ich mich von der Chefin verstanden fühle. In ihrem Verständnis heilt meine Zurückweisung, in ihrer Zuneigung erlebe ich meinen Verzicht als Gewinn. Ich fühle mich erleichtert: wieder brauche ich mich nicht näher zu erklären. Die Vertrautheit, die Du mir vorenthalten hast, hat mich vor der Verlegenheit bewahrt, mich Dir rechtfertigen zu müssen, … Als Du mir damals, auf der Kellertreppe, als Du die Pappen austauschen musstest, gesagt hast, dass es absolut selbstlos war, konntest Du nicht wissen, dass ich mir der schmerzende Verzicht leichter war als das Glück, anzunehmen; wie unglücklich froh ich war… Jana, es war nicht selbstlos, jedenfalls nicht in dem Sinne, wie Du es gemeint hast, auch wenn ich das, ohne eitel zu wirken, natürlich gerne für mich Anspruch nähme; aber hättest Du auch Verständnis für mich aufgebracht, wenn Du es nicht nur für die noch verbleibenden Tage hättest aufbringen müssen, anders als jetzt, in dem Bewusstsein, dass Du wir uns über diese Tage hinaus so schnell nicht wieder begegnen würden? ENTR’ACTE I Kühl trägt der Morgen die Blätter zu Boden, mit jeder Bewegung der Äste reißen sich die Blätter los, der Wind weht warm durch die Robinie vor dem Lokal, der Oktober weht mild in den Frühnebel hinein, Morgenluft hebt sich warm unter das Laub, das sich zart auf den Boden legt, das sich von milder Wärme getragen über die Pflastersteine hebt; der alte Baum wirft seinen Sommer auf den Marktplatz herab; die Milde eines luftigen Oktobermorgens zieht durch die lichter werdenden Äste; unten stehen die Tische auf dem Marktplatz vor den Bodenfenstern, auch der kleine neben dem Eingang; die Bilder schwanken, werden lichter: die Wärme eines aufsteigenden Oktobermorgens zieht durch sie hindurch. Der weiße Putz des Lokals, das Grau der Pflaster, das Grün der Blätter wirken schwach, fremd: unbeteiligt fällt das Laub auf die Tische, unbeteiligt steht die Robinie vor dem Lokal und lässt ihr Laub in den milden Oktobermorgen wehen, der es nur allmählich lautlos zu Boden trägt. Dem Rauschen fehlen Eure Schritte, den Stimmen der Gäste fehlen Eure Stimmen, Ihr entzieht dem Anstrich sein Weiß, seiner Tiefe fehlt Eure Nähe, Eure Ferne entzieht den Pflastern und dem Laub ihre Farbe – gibt dem Anstrich, dem Pflaster und dem Laub ihre matte Reinheit zurück: sie leuchten zart hell, unberührt warm in der Milde des Oktobermorgens, der Wind befreit sie von der Last der vergangenen Wochen, die Farben öffnen sich wieder in die Sinne, der Wind entzieht den Farben ihre schwere Tiefe, die Tiefe, die von Enttäuschung getränkt und zugleich verdunkelt war: nach drei Monaten nehme ich die Farben wieder wahr, wie sie sind: sie sind nicht länger eingenommen von meinen Gefühlen. Mild leuchten sie durch die Wärme eines des aufsteigenden Morgens, hell reflektieren sie die aufsteigende Sonne, in ihnen wacht die Erleichterung auf, in ihnen wächst die Distanz meiner Gefühle. In die Schwere Eurer Ferne fällt die Erleichterung Eurer Ferne und der Stolz, den ich mir in der aufgehenden Sonne für Euch bewahre. Grün, gelbverblichen fällt das Laub auf die Tische, vom Herbst gebleichtes Licht streift durch die Äste der Robinie über die Pflaster, leicht. Kühl trägt der Morgen die Blätter zu Boden, mit jeder Bewegung der Äste reißen sich die Blätter los, der Wind weht warm durch die Robinie, der Oktober weht mild in den aufsteigenden Kaffee hinein, Morgenluft hebt sich unter den Duft frisch gerösteten Kaffees, der von milder Wärme getragen aus der Tasse in den Oktobermorgen, in die aufsteigende Sonne steigt. Ich sitze an dem kleinen Tisch neben dem Eingang und schaue durch das Laub der Robinie hinüber zu der alten Kastanie: grünes, gelbverblichenes Laub fällt durch die Bilder, durch die das vom Herbst verblichene Licht streift: grüne, gelbverblichene Blätter fallen dunkel auf Dein Fahrrad, liegen lautlos auf Deinem Fahrrad – vom Herbst gebleichtes Licht wirft Streifen auf dem Boden, wo kein Fahrrad mehr steht – grüne, gelbverblichene Blätter fallen lautlos dunkel auf Deine Bluse, auf die Pflaster: gelbverblichenes Licht hebt Deine Füße sanft an und trägt sie über die Pflaster hinweg: unter ihnen weht der Oktober die Blätter durch den Morgen – weht der Oktober über den leeren Platz – in den Falten Deiner Bluse dämmert das Grau des Pflasters, ihre Umbiegungen leuchten in dem im Herbst erblichenen Licht: leichte Streifen bleichen Deine Bluse auf – leichte Streifen legen sich auf den leeren Marktplatz; unbeteiligt wirft die alte Kastanie ihren grüngrauen Schatten über die leeren Fahrradständer, die in der aufsteigenden Sonne silbrig schimmern, leer schimmern – grün verblichen fallen die Blätter durch Deine Schritte, heben die Pflastersteine Deine Füße über das vom Wind getragene Laub hinweg, tragen Deine Füße Dich durch das fallende Laub hindurch, aber es fehlt die Unmittelbarkeit, die die einzelnen Schritte zwischen dem Herbstlaub zusammenzufügt – gelbverblichenes Laub fällt auf den Marktplatz, fällt unter die Leute, fällt auf die Tische und Stühle. Deine Bilder verlieren ihre Wärme, ihre Bewegungen; ich sehe Dich über den Platz auf mich zukommen, Jana, vielleicht ein Jahr später, vielleicht zehn, zwanzig Jahre später. Ich sehe Dich wieder auf mich zukommen, schon bald: Du bist wieder aus der großen Stadt zurückgekommen: aus dem milden Frühnebel löst sich in zart angehobenen Schritten umbrabraunes Haar, bis es sich klar erkennbar eng nach hinten zusammenzieht: es atmet die Wärme des Oktobermorgens: das aufsteigende herbsterblichene Licht streift von hinten über Dein Haar, Deine Füße tragen Deine Beine zart durch die morgenmüde Geschäftigkeit auf mich zu, die blauen Nähte Deiner Jeans durchschreiten die Morgenmüdigkeit: mit einer Hand untergreifst Du den Träger Deines Rucksackes, den Du nur über eine Schulter trägst… unter meinem Schmerz freue ich mich für Dich. Der Wind trägt das Laub über den leeren Platz, die unangenehme, sehnsüchtige Enge weicht der entsagenden Einkehr, die sich in Erleichterung läutert, weil sie von dem Stolz getragen wird, den ich mir für Dich bewahrt habe, der mich den Verzicht angenehmer empfinden lässt als die Erfüllung… erleichternde Besinnung… über meinem Schmerz freue ich mich für Dich… Die Dämmerung zieht in das Lokal ein, die Oktobernacht breitet sich über der Bar und in den übrigen Räumen aus. Die Tische sind abgebaut, ich sitze an der kurzen Seite der Bar: ich sitze im Bringen und Abholen der Tabletts, zwischen gefüllten und leeren Tabletts, zwischen vollen und leeren Gläsern, zwischen weißen Barcadiblusen und schwarzen Barcadihemden, zwischen mehr oder weniger eng nach hinten zusammengezogenen Haaren, zwischen aufgesteckten Frisuren und Pferdeschwänzchen; nur, dass das Ausschlagen der Kaffeesiebe wärmer, gedämpfter wirkt, ihr Schlag wird nicht mehr, wie noch ein, zwei Wochen vorher, durch die laue, bald ins Kühle kippende Luft durch das Lokal getragen; über den Schritten, die die Tabletts machen, liegen nicht mehr die Stimmen, die von der Terrasse hereinziehen; die Haarschöpfe wirken gesättigt in der Tiefe der beheizten Räume, deren Wärme sich an den Bodenfenstern gegen die feuchte Kühle absetzt, die vom Markt aufsteigt, die die Luft beschwert, von unten schwer auf den Pflastern liegt; die Frisuren wirken wärmer und in der Wärme schwerer und zugleich angestrengter, von schwerer Eile getrieben, die Schritte werden enger und kürzer zwischen den immer dichter stehenden Gästen, ich versinke in der schweren, getriebenen Eile, kleine, kurze, kräftige, eilige Schritte umsorgen mich, die getriebene, emsige, eilige Wärme beruhigt mich, die Schritte bergen mich in warmer, schwerer Geborgenheit, eiliger Ruhe; ich schaue auf den roten, weinroten Deckenträger, auf dem Deine Blicke ruhen, Jana, von dem sich der Glanz Deiner Haut ablöst und in die dunkle, schwere Geborgenheit schummert; der Bogen der Sologeige streicht um die Rundung des Trägers, die aufgesteckten Frisuren und Pferdeschwänzchen tauchen in die weinrote Wärme ein und wieder aus ihr auf, sie steigen die Treppen hinauf zum Bistro, und ihre weißen Barcadiblusen treten ein in den dämmrigen Rauch, der das ocker der Tapeten verzieht: die Tapete dehnt sich in der Tiefe ihrer Farbe, sie wird immer tiefer, gibt nach hinten nach, gibt ins olivgelbe nach, satter, geschmeidig feuchter Glanz, Danas Glanz, steigt aus ihrer Tiefe auf, legt sich auf die Blusen: dunkle, verrauchte Wärme legt sich auf die weißen Blusen; in der Tiefe ihrer Falten schimmert die samtige Tiefe von Danas Haut durch; sie tragen Deinen Glanz, Dana, im Schein von Alabaster und Teelichtern zwischen den Gästen hindurch, sie tragen Deinen Duft unter die Gäste, und wenn sie wieder die Stufen des Bistros herunterkommen, treten sie in den weinroten Glanz des Deckenträgers ein, in Janas Glanz; über sie ziehen im Wechsel lilarote und olivgelbe Schatten des Mobilie, das sich sanft über ihre Köpfe senkt und sich wieder in die Höhe der Galerie zieht; ich sitze in der Geborgenheit der Eurer Farben, in den Schritten der wechselnden Frisuren suche ich Eure Schritte, ich spüre Eure Schritte, ich atme Eure Bewegungen. In der schweren, getriebenen Wärme brobachte ich das Bringen und Holen der Tabletts, höre ich das Ausklopfen der Kaffeesiebe; in die schwere, getriebene Wärme schaue ich Euch, eilige, emsige, kräftige Schritte umsorgen mich, drängen sich durch die immer enger stehenden Gäste; in den eiligen schweren Schritten finde ich Ruhe, aber ich es sind nicht mehr Eure Schritte; sie umsorgen mich warm, aber unter dieser Wärme fühle ich kühle, leere Ferne; ich sitze im Ausklopfen der Siebe, im Kommen und Gehen der weißen Barcardiblusen; dämmrig schwere Wärme; eilige Ruhe umfließt mich… „Lass das! Meld‘ mich bitte an!...“ „Lass das!... Meld‘ mich jetzt bitte an!“ Eine Serverin hebt bewehrend ihre Hände, aber sie bewähren sich nicht. „Nein!.. Meld‘ mich jetzt an!“ Ein zugestehendes Lächeln, in dessen Ton ihre Wehrlosigkeit resigniert, eine Geste, die versucht, durch Einbekennen ihrer Unterlegenheit den Schichtleiter zu besänftigen, sein Begehren zu beschwichtigen, ein Lächeln, das hofft, seine Zudringlichkeit abwehren zu können, was er aber als Zustimmung aufasst, auffassen will, als ob sie sich bloß ziere; immer fester greift der Schichtleiter in ihre Schultern, drückt seine Hände fordernd in sie, erzwingt die Nähe ihres Atems, drückt sie rückwärts in die Wandregale, je näher er ihrem Gesicht kommt, um so enger muss sie ausweichen, bis sie sich losreißen kann, einmal! Aber fatalerweise weicht sie nach hinten aus und läuft in das geschlossene Ende der Theke, wo er sie einholt und… „Lass das bitte!..Ich will das nicht!“ … sie so lange zwingt, bis sie ihm gegen ihren Willen einen kräftigen Kuss auf den Mund gibt: sie küsst sich frei! Dann lässt er sie entkommen, wieder zum Anmelde-Terminal, aber er dreht sich zum Italiener und gestikuliert zufrieden erregt, sie lachen beide laut und sprechen sich gegenseitig zu; sie verspotten sie, in der fremden Sprache, aber sie spürt es trotzdem, sie tun sich gegenseitig genug: sie fühlt, das man über sie lacht, sie fühlt sich bloßgestellt; sie presst ihre Arme fest nach innen an ihren Körper: sie geben ihr den Halt, den ihr Empfinden in diesem Moment verloren hat, den ihr ihr Urvertrauen nicht mehr geben kann; sie halten ihre Versehrtheit zusammen, ihre Unterlegenheit, die ihre Lippen nicht mehr zusammenpressen können; ihre Lippen haben ihre Willenskraft verloren, Lippen, die ihren Willen nicht mehr selbst bestimmen können; sie ertasten zaghaft den Ekel, der noch immer auf ihnen liegt. Sie sucht noch einmal die Ausflucht in einem Lächeln, mit dem sie ihren Mut, ihre liebenswürdige Unbezwingbarkeit zurückholen will, mit dem sie sich selbst ihrer Unerschrockenheit versichern und zugleich den Schichtleiter dazu bringen will, auf ihr Anliegen einzugehen, Blicke, in denen sie versucht, ihre übergangen Gefühle zu vergessen, Blicke, in denen ihr noch immer ihre Überwältigung vor Augen steht, in denen ich die Bilder der zurückliegenden Situation sehen kann; Blicke, die dem Schichtleiter nicht mehr begegnen wollen und sich doch an ihn richten, richten müssen, Blicke, die aus ihrer Verbundenheit zur Natur in diesem Augenblick nicht mehr zurück zur Situation finden und doch weiter an sie, an ihr eigenes Vertrauen glauben möchten; immer tiefer zieht sie ihren Kopf in ihre Schultern und drückt zugleich ihren Kopf kraftlos-energisch nach vorne. „Meld‘ mich jetzt bitte an!...“ Aber ihr Kopf bleibt gefangen in ihrem Ekel, in ihrer Wehrlosigkeit, gefangen in der Erregung ihres Körpers, die die hochgezogenen Schultern nicht verdecken können. „Meld‘ mich jetzt bitte an!...“, aber er lässt sich noch lange bitten, zu sehr ergeht er sich darin, ihren Kuss erzwungen zu haben: er erstrahlt in ihrem Kuss: ihr Ekel, ihr Unbehagen ersticken in seinem selbstzufriedenen Grinsen: er hat es genossen, und er genießt es noch immer: so lange muss sie noch warten… Aber ich kann nicht einschreiten, es hat sich ja hinter der Theke zugetragen, und ich weiß nicht, ob ich mein Jedermannsrecht über das Hausrecht stellen kann. Dann umfließt mich wieder eilige Ruhe. Ich sehe Dana vor mir, und ich denke mir: Dir wäre das nicht passiert: entschlossen und beherzt hättest Du Dich seinen Griffen entwunden und hättest Deinen Kopf über seine auffordernden Worte hinweggehoben, ruhig, aber entschieden und dabei doch von besänftigender Eleganz: stolz hättest Du Dich über Deine Größe hinausgestreckt und Dich seinen Zudringlichkeiten entgegengestellt. Ich sehe Dich vor mir, hinter der Theke stehen. Ich bin stolz auf Dich. Ich bin stolz auf mich, auf meine Gewissheit, die ich mir über Dich bewahrt habe, und diese Gewissheit bringt Dich mir aus der großen Stadt wieder zurück, in der Gewissheit kann ich die Zeit vorausleben, die noch vor mir liegt, bis Du wieder da sein wirst: die Gewissheit über Deine Souveränität wird zur Gewissheit über mein Glück – für einen Moment: mein Glück atmet in eiliger Ruhe, in der schweren, getriebenen Wärme atme ich mein kleines Glück: Du drehst Dich wieder um, greifst ein volles Tablett und trägst es raus – es ist eine andere Serverin, der olivgelbe Glanz auf ihr löst sich auf. „Hast du Tisch 45?“-„Tisch 3 will zahlen“-„Kannst du übernehmen?“„Ich bekomme noch ein Bier“ – „Da muss nochmal draufgezapft werden“-„Hast du …?“-„Aufzug!...“ Eilige Ruhe umfließt mich… ZWEITER TEIL Im graublauen Annorak von der Kälte gedrückt kommen mir Deine Blicke unter dem Rathaus entgegen; in der warmen Geborgenheit Deines Anoraks glühen Deine Wangen in die kühle Oktobernacht, gewärmt von Deinem blaugrünen Tuchschal; unter der kühlen Oktobernacht atmet Deine Haut warm umschützt: aus der unbeachteten Leere des Platzes bewegt sich Dein Anorak auf mich zu: ich laufe in frische Orangen, aus der Tiefe des Platzes steigt olivgelber, feuchtwarmer Glanz auf: eine warme Erregung, langsam steigen gerade erst überwundene Gefühle aus der Unendlichkeit des Wartens, aus der Tiefe des Entbehrens wieder auf: Gefühle, von denen ich mich schon getrennt hatte. Langsam löst sich aus der Verklärung Deine Gegenwart; sofort bedrückt mich die Vergänglichkeit des Augenblicks, die Vergänglichkeit, die das überwundene, in den vergangenen Wochen zurückgelassene Begehren, die das stille, wartende Glück, das sich nicht bewähren muss, nicht kannten. Meine Gefühle gehören Deiner Ferne: Deine Nähe wirkt befremdend… Deine Nähe wirkt beruhigend… wieder vertrauter… Deine Nähe setzt sich gegen meine seitigen Gefühle durch… Plötzlich kommen Deine Blicke auf mich zu. Dana. Dein Anorak löst sich aus der Ferne zurückliegender Tage: der Platz hatte Deine Nähe an die windig-kühle Leere der zurückliegenden drei Wochen verloren: jetzt füllst Du die frische Oktoberluft wieder mit Deiner Wärme: auf Deinem Anorak liegt der glücklich-zufriedene Schatten Deiner Tage in der großen Stadt, unter dessen Last Deine Füße doch unentschlossen schwer tragen: schwerer als sonst. Deine Augen leuchten erfüllt von stillem Glück, aber tief in ihnen spüre ich die Unzufriedenheit, die es Dir bereitet, sie wieder verlassen zu müssen. In den Falten Deines Anoraks nagen Kummer, Lustlosigkeit, Resignation. Ich spreche in den Stolz, der auf Deiner Unterlippe liegt, aber es ist ein lustloser, unentschlossener Stolz, ein verblichener Stolz: verdrossen-verlegene Rührung. Du bist zwar zurückgekommen, aber in Deinen Blicken liegt schon der Abschied, in Deinen Schritten regt sich schon der Gedanke, die kleine Stadt so bald wie möglich wieder zu verlassen. „Hat sich Jana gut eingelebt?... Geht es ihr gut?“ Ich spreche in die Gewissheit Deines Lächelns… „Und dir? Hat dein Studium gut begonnen?...“ Ich blicke in Deine Blicke, ich suche die Erwiderung meiner Gefühle für Dich in dem Behagen, das auf Deiner Unterlippe atmet. „Ich treff mich jetzt noch mit ein paar Freunden. Muss auch mal sein… Wir sehen uns dann morgen!..“ Du gehst an mir vorüber. Ich gehe durch Deine Wärme. Eine Serverin stellt den Kaffee vor mir auf einen der kleinen runden Tische, ganz hinten im Bistro, in der Ecke, an den Sprossenfenstern, die auf den Hof hinausgehen. „War Dana schon da?“ „Sie hat vorhin kurz an der Bar gesessen. Ich weiß nicht…“ Enttäuschung wärmt mich, ich fühle unbewegt warme Luft; das wenige Licht, das der Rauch noch durchlässt, wirkt zu hell und zu dunkel zugleich: ich spüre ein unüberwindbares Drängen, die Zeit zu überwinden, ich fühle mich in den nächsten Abend; mit jedem Zug meiner Brasil genieße ich die schützende Distanz der Zeit und versuche darunter, der Zeit, die mich vom nächsten Abend trennt, zu entkommen: ich versuche mich aus der Zeit zu lösen und in der Zeit die vorgefühlte zu erleben: ich fühle mich in den nächsten Abend: unter der warmen Ruhe, versunken im Rauch, der das dämmrige Alabaster durchstreift, empfühle ich eine ängstliche Unruhe: getrieben von dem Verlangen nach Deiner Nähe, bedrückt von der Angst, Dich wieder nicht anzutreffen: unter der warmen Tiefe, unter dem beruhigenden Spärlicht der Alabasterleuchten, das der Rauch durchzieht, wirkt der Raum zu hell und zu dunkel: dem leeren Licht fehlt Deine Wärme und dem braunen Rauch fehlt der olivgelbe Glanz: das entfärbte Licht wirkt im einen Moment bedrängend, in dem entsättigten Licht fühle ich Deinen Verlust voraus: für einen Augenblick drängt sich die Einsicht, die noch keine ist, ins Bewusstsein, dass ich so noch oft dasitzen und auf Dich warten werde. Das entfärbte Licht wirkt im einen Moment befreiend, ich genieße die Zeit, die mir bis zum nächsten Abend bleibt, die Zeit, in der ich nicht unsicher bangend Dir begegnen muss, in der ich nicht von unsicherem Hoffen befangen, vor Zurückweisung angstvoll bangend jedem Deiner Worte und Deiner Blicke entgegenfühle: aus solcher Befreiung heraus gewinne ich neue Zuversicht und plane schon freudig erregt den nächsten Abend. In einem Moment wirkt das Licht tröstend-verklärend, in seiner Helligkeit liegt die Aussicht auf den nächsten Abend, von dem mich sehnend die Zeit trennt, die ich überwinden möchte, die ich vorausplane, den nächsten Abend. Ich sortiere die weißen Mohrenköpfe aus, unten an der Bar habe ich mir eine etwas größere Untertasse geben lassen, eine Cappuccino-Untertasse, auf der ich sie Dir in die Waitress-Station im Bistro stelle. Ich setze mich an einen der mittleren Tische, in dem durch eine Stufe erhöhten Teil des Bistros, ganz hinten, auf der weinroten Lederbank. Im Widerschein der ockergelben Wände rauche ich mein beklommenes Bangen, rauche ich die noch nicht zurückgewiesene Hoffnung in den Raum; brauner Rauch, der Duft meiner Brasil zieht unter den Abzug, mischt sich braun unter die Verkleidung, hinter dem in seinem Widerschein der ockerfarbene Rauhputz schamottrot, weinrot aufleuchtet, scharf geschnitten von der feuchtkühlen Nacht, die an den Sprossenfenstern ansteht. In der Tiefe des Oktoberdunklen Hofes leuchten die Bodenstrahler das Weinlaub an, helles grün in dunklem, kühlen Oktober, aber es lauscht nur noch der Nacht, Tische und Stühle sind gestapelt, auch die von der Terrasse: hinter den Sprossenscheiben liegen in der dunkelkalten Nacht die Augustnächste verborgen. Verstohlen beobachte ich, ob Du die Mohrenköpfe entdeckt hast, angstvoll fürchte ich Deine Gleichgültigkeit: Du bonierst an der Waitress-Station, Du musst sie gesehen haben, Du gehst wieder zurück, aber Deine Blicke, die ich nur spüren kann, von der Seite, die genüßlich über Deiner Unterlippe liegen, bleiben im Raum stehen. Ich schaue auf die Glastür, die nach innen ins Bistro geöffnet steht, ich schauwarte auf die Tür, aber noch bevor Du wieder die Stufen zum Bistro, schweren ruhigen Schrittes hinaufeilst, noch bevor Du wieder in das spärliche Licht eintrittst, das der Rauch zwischen den dicht sitzenden Köpfen und Hemden und den zwischen den Tischen stehenden, weilenden Mänteln gerade noch durchlässt, sehe ich Dich schon wieder um die Ecke biegen, Deine Blicke eilen Dir voraus, der Glanz Deiner Blicke liegt auf dem Glas der Bistrotür, sie durchdringen die Wärme des Raumes, der ockergelbe Rauhputz, das spärliche Licht der Wandlaternen, der Alabasterschein, der das Bistro erfüllt, leuchten in der Tiefe des Raumes mit der Kraft Deiner Augen auf; Deine Blicke stehen vor mir, und als Du wieder um die Ecke biegst, mit eilig routinierten Schritten die Stufen zu Bistro nimmst, führen sie mich von den Blicken, die vor meinem Tisch auf der Nacht hinter den Sprossenfesntern ruhen, weg, ziehen sie mich in sich hinein, Blicke, die mit der bedeutungsschweren Tiefe, die in ihnen ruht, auf mich zu schreiten, bis sie schließlich hinter den Blicken, die noch immer auf der kühlen Oktobernacht ruhend schimmern, stehen bleiben: die Blicke, die eben noch auf den Sprossenfenstern lagen, dehnen sich, reißen nach hinten auf, aus der Tiefe ihres Grundes leuchten die Blicke, die Du mitgebracht hast, auf Deiner Stirn liegt bedeutungsvoll der Schweiß einer jungen Frau, die ihren Beruf erlernt hat. „Wie geht es dir, Dana?“ „Ach ja…“ „Was macht Jana?“ „Der geht es gut, die genießt die große Stadt… da wär ich jetzt auch gerne…“ Auf dem rotbraunen Lack meines Tischen sehnen sich Deine Blicke nach der großen Stadt. Ich sitze auf der Terrasse, sanft trägt der Wind den Sommer zu Boden, durch die warmumwehten leeren Äste neigt sich die Sonne des späten Oktobersonntags, die Sonne glänzt schwarzsilbrig auf den Ästen, die Äste glänzen schwarzsilbrig vor tiefem Blau: aus meiner Vauen steigt dunkelblauer Stanwell in die nun schon frühabendliche Dämmerung, ich fühle warm die aufsteigende feuchte Kühle, ich ziehe die warme Kühle durch meinen Stanwell: zwischen den immer tiefer in der dunkelblauen Wärme versinkenden braunschwarzen Ästen steigt mein Stanwell in die langsame Dämmerung. Zwischen den Tischen, unscharf in der Dämmerung, die Beine und Tischbeine in sich aufsaugt, bewegen sich sicher routiniert Deine Schritte, aber sie wiegen schwerer als sonst auf den Pflastern „Was macht dein Studium? Gefällst’s dir an der HTW?“ „Ach ja, geht schon los, dass die Kurse ausfallen…Kaffee wie immer?“ Später hole ich meinen Mantel und bleibe auf den Stufen zum Bistro stehen: ich suche Deine Blicke, von hinten: Du drehst Dich über Deine Schulter hinweg zur Seite, Deine Blicke suchen irgendwo, an mir vorbei, die Bedeutungslosigkeit. Ich steige langsam die Stufen hinab und bleibe in Deinem Rücken wieder stehen. Dann verabschiede ich mich noch mal bei den anderen, auch in Dein Gesicht, dass unbestimmt an mir vorbeischaut. Ich gehe zum Eingang, ich trete hinaus und schaue auf die offene Glastür, die nach außen gegen das furnierte Eichenholz angelehnt ist (anders, als damals, wo Du an das Eichenholz angelehnt mir gegenübergestanden hast und sie nach in innen offen stand), lenke meine Blicke an ihr vorbei nach innen und suche Deine Blicke, die durch sich selbst hindurch zu mir schielen, bedeutungslos: Deine Unterlippe birgt Deine Blicke im Schein der Gleichgültigkeit. Ich frage Dich nichts. Ich sortiere die weiße Mohrenköpfe aus und richte die Alubrotschale für Dich her und trage sie zur Restauranttheke. Ich suche Deine Blicke, ich spüre sie hinter mir aus der Küche um die Galerie biegen. Ich verschüchtere in Deinem Lächeln. Ich frage Dich mit meinen Blicken, ich frage in Deine verlegene Liebenswürdigkeit. „Ich hab deine Mail erst heute nachtmittag an der HTW gelesen… Ist auch nicht so meins“ Ich lege Dir die Raffaellos auf die Waitress-Staion. Weil ich Lebkuchen mitgebracht habe und keine weiße Schokolade dabei ist, habe ich für Dich die Raffaellos dazugenommen. Ich warte auf dem Plüschhocker: das Sofa ist schon besetzt, aber ich darf mich zu der Gruppe dazusetzen und ziehe meine Sumatra aus dem warmen Rauch ein; beklommen in der Angst, keine genügende Erwiderung meiner Gefühle in Deiner Reaktionen finden zu können: aus angestrengt verbissenen Blicken, die starr auf Deiner Unterlippe liegen, entfährt Dir nur ein kurzes Lächeln: „Danke!“ Es klingt fern, erstickt beinahe unter dem Wirren der Stimmen, dem Dunst von Rauch, Schweiß und Parfüms. Teilnahmslos, lustlos schiebst Du Deine Unterlippe über das Tablett vor, das den Weg, den es sich durch die Gäste bahnt, nicht mehr klar vor sich sieht. Ich sitze auf der weinroten Lederbank im hinteren Teil des Bistro und ziehe meinen Stanwell aus dem warmen Dunst ein, hauche meinen Stanwell in den spärlichen, verrauchten Alabasterschummer. Beklommen verlange ich nach jedem Vorübergehen. Ängstlich-erregt schaue ich nach vorne in die sich öffnende Weite des Bistros, schaue ich auf die Glastür und versuche, die Zeit zwischen Deinen Gängen zu überwinden. Die Zeit, bis wir wieder mit einander reden können: wie unendlich bedrückt mich die Zeit, die zwischen den wenigen Gelegenheiten liegt, in den wir überhaupt miteinander reden können. Ich versuche die Zeit zu überwinden, ich versuche die Zeit einzuholen, die vor mir liegt, und da die wenigen Momente, in denen ich mit Dir reden kann, soweit auseinanderliegen, rücke ich sie in meiner Vorstellungskraft zusammen, ich rücke sie über die unendlichen Momente, in denen ich auf die wenigen Augenblicke warten muss, hinweg, über die Zeit, die sie trennt, zusammen. Ich sitze in der Zeit und versuche, sie nicht erleben zu müssen. Und da die Situationen, in denen wir miteinander reden können, so wenige sind, werte ich auch die Augenblicke für meine Gefühle auf, in denen Du nur an mir vorübergehst, und rücke sie zusammen, damit ich in der Unendlichkeit der Zeit nur diese Augenblicke erlebe: in den Augenblicken erlebe ich die Stunden, nur durch die Augenblicke ertrage ich die Zeit. Die Augenblicke stehen vor mir, sie bewegen sich auf der Nacht vor den Sprossenfenstern, ich lebe in den Augenblicken, ich ertrage die Unendlichkeit der Zeit in Deinen Augenblicken, in den Blicken, die Deine Augen mir zurücklassen, bei jedem Vorübergehen; jede Bestellung, die Du aufnimmst, nehme ich in mich auf, ich lebe in jedem Deiner Worte, die Du in das Bistro sprichst, und auch, wenn Du schon wieder rausgehst, um die neue Getränke zu holen, höre ich Deine Stimme unter den Stimmen der Gäste; ich lebe in Deinen Worten, auch da, wo ich nur noch den Ton Deiner Stimme schwach aus der Weinseligkeit der Gäste, dem Kommen und Gehen, den Grüßen und Verabschiedungen heraushören kann, ich höre sie in mir, ich spreche mit Deinen Worten, ich fange an, in Deinen Worten zu reden, zu Dir, mit Dir, und jedes Mal, wenn Du wieder durch die Glastür hereinkommst, fühle ich mich durch die Unmittelbarkeit bedrängt, fühle ich die Unabwendbarkeit des erhofften Augenblick fordernd vor mir stehen, wenn Du schließlich vor mir stehst, während ich im Innern noch immer Deine Worte wechsle, während ich noch immer versuche, in Deinen Worten diejenigen zu finden, an die ich anknüpfen könnte, auf die ich meine eigenen beziehen könnte; dieselben Worte, die ich schon so oft begonnen habe und die der Augenblick dann doch wieder verhindert hat, während ich noch immer aus Deinen Worten die heraussuche, die ich erwarte, während ich in Deinen Worten antworte, während ich mir Deine Antworten gebe. Je näher Du mit jedem Tisch, den Du bedienst, kommst, spüre ich die unausweichliche Gegenwart des Augenblicks, in dem ich die kaum verbleibende Zeit nutzen müsste: statt der Worte, die ich wieder nicht aussprechen würde, lege ich mir die bereits gesprochenen immer wieder neu zurecht. Immer wieder hoffe ich, durch die Fragen, die ich bereits gestellt habe, den Weg zu Deiner Geneigtheit zu finden, aber bis ich dann so weit sein würde, wäre der Augenblick auch schon wieder vorbei. Du stehst vor mir: „Wie geht es Jana?“ Noch während ich versuche, die Gefühle, die ich mir von Dir erhoffe, meinen Zweifeln zu entheben, brechen meine Zweifel um so unleugbarer durch mein Hoffen durch. „Wie geht es Jana?“ Ich bemühe mich, mir hinter dem offensichtlichen Interesse an Jana das Interesse an Dir nicht anmerken zu lassen, und weiß doch, dass Du es längst weißt: ich fühle Dein Bewusstsein, ich fühle, dass Du Dich meinen Gefühlen entziehen wirst, ich fühle Deine Nähe, ich versuche Dich mit meinen Worten zwischen zwei Bestellungen aufzuhalten.. „Hast du von Jana noch mal was gehört?“ „Ja klar…“ „Und was macht sie so?“ „Ach, der geht’s gut!...“ Ich fühle Deine Nähe entschwinden, Deine Ungeduld, wenn Du Dich mit mir unterhältst. „Du, wenn der Tisch gebraucht wird, stehe ich auch auf… ich will ja nur meine Sumatra rauchen…“ „Du bleibst bitte sitzen!“ Hinter dem ausgewiesenen Ton des guten Service liegt für einen Moment eine Vertrautheit, eine Stimme, die mich etwas spüren lassen will (Oder habe nur ich das so empfunden?), die meine Zuneigung nicht nur durch die Worte des guten Tons erwidert, eine Stimme, die sich selbst berührt fühlt. Ich sitze an der kurzen Seite der Bar. Bald wirst Du nicht mehr da sein, weg in die große Stadt ziehen, ich spüre Deine Ferne in jedem Kommen und Gehen, in jedem Blick, den Du mir wieder nicht gönnst, Dein Missmut lässt Deine Schritte schwerer werden: es ist nicht mehr die Bedeutungsschwere der spätsommerlicher Tage, als Du noch im Innenhof bedient hast. Deine Schritte tragen zunehmend schwerer unter der Lasst Deiner Lustlosigkeit, Deiner Verbitterung, Deiner Resignation, wehmütiger Ungeduld; mit jedem Deiner Schritte legst Du nicht nur die unzähligen Bestellungen zurück, sondern eilst immer verbissener der großen Stadt entgegen: in der tiefen Leere Deiner Blicke starrt einzig der Blick in die Ferne aus ihnen heraus. Immer schwerer fällt der Ton des ausgewiesenen Service: Deine Blicke eilen Dir nicht mehr voraus, sondern liegen starr auf dem Tablett. Ich sehe Dich die Stufen zum Bistro hinaufgehen, bei jedem Gang, jedes Mal, wenn Du durch die Glastür nach hinten ins Bistro aus meinen Blicken verschwindest, spüre ich, dass Deine Zeit in dem Lokal zu Ende geht. Deine Blicke, sie dringen kraftlos leer durch mich hindurch. Deine Blicke weichen mir durch mich hindurch aus. Im goldgelben Licht, das die Torblenden der kleinen Scheinwerfer streuen, werden sie durchbrochen, sie brechen den gelblich braunen Dunst des Raume nicht mehr auf, durch die Tiefe des Raumes bahnen sie sich ihren Weg in die große Stadt, in Deinen Augen spiegeln sich die Gäste, aber sie spiegeln sich in der großen Stadt, die tief in Deinem Innern Deine ganze Kraft bannt. Im goldgelben, safrangelben Licht werden die Grenzen Deines Gesichtes unscharf, das Licht legt sich auf Deine Haut, sättigt sie, über Deine Wangen und Deine Stirn fließen Halbschatten, eilig wechselnd mit Deinen Schritten, Deine Haut saugt das Gelb in sich auf, unscharf, goldgelb, gelb. Ich sehe Dich auf und ab gehen, bald wirst Du nicht mehr da sein, wieder zurück in die große Stadt gehen, ich sehe Dich auf und ab gehen, auf und ab gehen, schaue Dir nach, Dana, sehe Dich eintauchen in das goldgelbe Licht, goooldgelbe, -gelbe Licht, goldgelbe – Deine Blicke kommen auf mich zu, meine Blicke verlieren Dich – bald wirst Du - ich sehe Dich auf und ab gehen – nicht mehr da sein –nicht mehr – nicht mehr – in der großen Stadt – ich schau Dir nach, wie Du die Stufen zum Bistro – eingetaucht in das goldgelbe - ocker – braun – erdbraun - Kaffee – dunkel – sehe Dich eintauchen das goldgelbschwarze – ich höre Stimmen – mein Blick wird immer enger, dunkle Schatten drängen den Raum zusammen, die Wände entfernen sich, treten auseinander, Deine Blicke werden in der Entfernung nicht mehr greifbar, die Räume brechen auf; obwohl Du die Stufen runterkommst, trittst Du auf der Stelle, zwischen uns schiebt sich die Unendlichkeit der Räume, die keine mehr sind, weil Wände auseinandertreten, Deine Blicke stehen zwischen uns, Deine Augen treten hinter Deine Blicke zurück, die Tiefe Deines Gesichtes wird unendlich, ich schaue durch Deine Augen hindurch, Deine Blicke lösen sich auf, ich sehe Dich die Stufen herunterkommen, ich sehe Dich die Stufen herunterkommen – die Stufen herunterkommen – sehe Dich – die Stufen – sehe Dich herunter – die Stufen herunter – die Stufen – sehe Dich herunter – runter – jemand ruft „Aufzug!“ – Dana! Deine Haut taucht ein in das spärlich, schummrige Schimmern der Wandlaternen, dessen Licht der Rauch gerade noch durchlässt, sie sättigt sich, schwaches Alabasterlicht und das von den schwarzen Torblenden reflektierte Licht geben Deiner Haut Tiefe, eine satte samtige Fülle, je tiefer Dich Deine Schritte in das Bistro hineintragen; über Deine Wangen und Deine Stirn fließen Halbschatten, eilig wechselnd mit Deinen Schritten, Deine Haut saugt das Gelb in sich auf, unscharf, goldgelb, gelb, aber aus dieser gesättigten Unschärfe treten Deine Züge um so kräftiger hervor; Deine Augenbrauen kontrastieren nicht nur den Glanz Deiner Haut, sie kontrastieren den ganzen Raum, die gelbbraun gehaltenen Wände, die vom Goldgelb verblendeten Bilder, sie kontrastieren selbst die Gäste, und aus der Tiefe der Sättigung strahlen Deine Augen, Deine Blicke durchstreifen die Räume, das Bistro, das Parterre, aber auch, wenn Du einen Tisch verlässt, auch dort Du, wo schon nicht mehr bist, stehen sie weiter im Raum, Deine Blicke, wie in den Raum geheftet, sie stehen, selbst wenn Du Dich umdrehst, noch vor mir, stehen hinter Dir – Du gehörst zu den Menschen, die auch hinten Augen haben. Ich sitze am einem der kleinen runden Tische, ganz hinten im Bistro: Dana, noch bist Du da. Ich sitze in der Wärme des Rauchs, in der Wärme der Gäste, beklommene Wärme, wohlige Wärme umfließt mich, Deine Wärme bewegt sich auf mich zu, ich atme Deine Wärme durch den Rauch, durch das spärlich gelbe schummrige Dunkel, Deine Blicke erfüllen den Raum, sie leuchten das Bistro olivgelb auf, aber die Schatten auf Deinen Wangen werden dunkler, das olivgelbe verfließt ins Schwarze, dunstig Schwarze, auf Deiner Haut verflüchtig sich der Widerschein des ockerfarbenen Anstrichs, das schwarze Licht, das die Torblenden der kleinen Deckenlampen auf Dich werfen, der Halbschatten des dunkelbraunen Luftabzugskanals ziehen alles olivgelb in sich auf, braun, schwarz in sich auf, Deine Wangen versiegen dunkelbraun, stumpfen ab; obwohl Du kaum zum Stehen kommst, bleiben meine Blicke auf Dir ruhen: auf Deinem Gesicht, das sich von Dir ablöst. Aber aus der samtigen Fülle Deiner Haut saugt sich alles Licht aus, die Poren geben es aus ihrer Tiefe dumpf an das Bistro zurück: die geschmeidige Tiefe Deiner Haut verliert ihren Glanz, ihre Fülle. Dein Gesicht steht unscharf dunkel, mattglänzend vor mir Raum. Selbst auf das Gesicht des Mönchs, der noch immer mit beiden Armen umschlossen die erste Flasche Fernet Branca fest an sich drückt, legt sich an diesem Abend ein braunschwarzer Schatten, aus seinen Augen schauen nicht mehr Deine Blicke: er schaut mit seinen eigenen Augen in den Raum. Auf seinen Wangen liegt das kleine, bescheidene Glück und der leise Stolz über den Erfolg, den seine Kräuterrezeptur hat: aber dieses Glück, seinen eigenen Magenbitter in den Händen zu halten, steht unverbunden im Raum: es trifft sich nicht mehr mit Deinem Stolz. Auf seinen Wangen drücken dunkle Schatten: sie bleiben unscharf. Deine Züge tragen die resignierte, lustlose Schwere Deiner Blicke, die unbeweglich auf Dein Tablett starren. Sein Glück bleibt ohne Teilnahme: es nicht mehr Dein Glück. Auf Deiner Stirn liegt der Schweiß des Überdruß. Unter dem leicht wippenden seitlichen Rausdrehen Deines Oberkörpers kämpfen Missmut, Resignation und Enttäuschung gegen die Schicht an. Der rötlichbraune Lack der hinteren Tische, nach der Stufe, hat noch immer das Olivgelbe in sich aufgenommen und wirft seinen rötlichbraunen Glanz auf Deine Stirn und Deine Wangen; aber es versiegt in den dunklen Schatten, die das spärliche Licht durch den Rauch auf sie wirft. Jeder Deiner Schritte kämpft teilnahmslos, verbittert gegen die Schicht an. Ich sortiere die weißen Mohrenköpfe aus, ich sehe mich am Brotschneidetisch stehen und die weißen Mohrenköpfe auf eine Untertasse stellen, ich trage sie in Dein Lächeln, ich stelle sie vor Dir auf der kleinen Theke im Restaurant ab… ich betrete das Lokal, schon vom Marktplatz aus habe ich Dich durch die Bodenfenster gesucht, ich betrete das Lokal, ich betrete das Lokal durch meine angestaute Freude, ich atme meine Verunsicherung, meine Enttäuschung, ich atme die Vergeblichkeit, mir der ich die ganze Woche auf Freitag gewartet habe, ungläubige Enttäuschung, ich fühle mich um mein Verlangen, die Tage überspringen zu können, betrogen, ich atme bedrängend schwere Ahnung. „Wo ist Dana?“ „Dana arbeitet dieses Wochenende nicht!“ Enttäuscht sortiere ich die weißen Mohrenköpfe in die großen Aluschalen für die anderen Server mit ein. Aber es ist eine von Stolz gerettete Enttäuschung: ich sitze im Bistro, ich fühle mich in Deine Nähe hinein, ich empfinde Dein Erscheinen, ich glaube daran, dass Du wiederkommen wirst – ich versinke in der Leere der Wärme, sie gibt mir keinen Halt mehr, ich stütze mich kraftlos mit beiden Handflächen an der weinroten Lederbank ab. Meine Haut brennt, in mein Hirn bohren sich Löcher. Ich rauche meine Sumatra in den spärlichen Alabasterschein, der rötliche Widerschein des braunen Abzugskanals grenzt scharf an die Novemberdunkle Nacht hinter den Sprossenfenstern. In der von den Bodenscheinwerfern an den Rändern des Weinlaubs grüngelb erleuchteten Nacht leuchten die Köpfe der Gäste, über ihnen liegt die Bierseligkeit eines späten Sommerabends, liegen die aus der Erschöpfung des zurückliegenden Tages in Heiterkeit aufsteigenden Stimmen, die sich über den Köpfen der um die Tische sitzenden und zusammengerückten Gäste vermischen: zwischen ihnen das bescheidene Selbstvertrauen einer jungen Frau, getragen von der bedeutungsvollen Schwere ihrer Schritte auf den Bodenziegeln, eingefasst von den kleinen, grauen Pflastern: die Gesichter der Gäste erhellen im warmen Glanz Deiner Stirn, auf der der Schweiß Deines Selbstvertrauens liegt; im Widerschein der olivgelben Tiefe Deiner Haut glänzen auch die Gesichter der Gäste auf – in der Novemberdunklen Nacht – der Hof ist leer, niemand sitzt mehr dort, Stühle und Tische sind aufgestapelt. Ich sitze in der hoffnungsleeren Wärme, ich sitze in Deiner Wärme, die mein Stolz in den Räumen festgehalten hat, aber Du füllst diese Wärme nicht mehr. Ich ahne, dass Du nicht mehr wiederkommen wirst – ich möchte nicht ahnen, dass Du nicht mehr wiederkommst, ich fühle, dass Du nicht mehr wiederkommst, ich fühle Deine Ferne, ich fühle, dass Du die Stadt verlassen wirst – vielleicht hast Du sie auch schon verlassen – ich möchte meine Ahnung nicht fühlen, ich fühle Deine Nähe, darunter Deine Ferne, ich überfühle meine Gefühle, ich versuche meine Enttäuschung anzuheben, sie liegt über dem spärlich schummrigen verrauchten Raum, sie verdunkelt den Raum, ich versuche, meine Enttäuschung über den Raum hinauszuheben, ich versuche, Deine Gegenwart zu fühlen, ich fühle Dich in den Raum: ich schaue in Deine Blicke, sie stehen vor mir, herausgerissen, sie bedrängen mich, in Deinen Blicken leuchtet noch immer Dein Selbstvertrauen, auf Deiner Stirn liegt noch immer der Schweiß einer routinierten jungen Frau. In der Maserung der rotbraun lackierten Tischplatte sehe ich Deine Augenbrauen, ich sehe sie in den braunen Eckleisten der Wände. Eine Serverin kommt, eine andere Serverin kommt, ich versuche Dein Gesicht in ihren zu finden. Ich fühle mich ins nächste Wochenende, immer in der Hoffnung, dass Du doch noch zurückkommst, immer in der bangen beklommenen Ahnung, dass ich die Tage dazwischen wieder umsonst versucht habe zu überwinden, die Tage wieder vergeblich versäumt habe… Ich sitze im Bistro, an einem der vorderen Tische, mit meiner großen Holzschachtel Sumatra, der Tisch, auch die Kaffeetasse überdeckt von den Seiten der Frankfurter Allgemeinen. Nach sechs Uhr wird das Licht stark gedimmt, unter den ockerschwarzen Schatten löst sich die Druckerschwärze in den Poren beinahe auf, die Buchstaben verschwimmen: „Jean-Antoine Houdon, so lehrt die Kunstgeschichte, war ein Bildhauer des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts, der mit den künstlerischen Konventionen seiner Zeit brach. Nicht mehr der bildungsbefrachtete Vorrat an antiken Mythen, die starren Kunstregeln der Akademien und die versteinerten Verhaltenscodices des Adels waren seine Vorbilder, sondern das unverstellte Leben, Menschen, ihre Charaktere, ihr Verhalten, ihre Schicksale…das unverstellte Leben…Menschen, ihre Charaktere, ihr Verhalten…ein Rebell also…Menschen, ihre Charaktere, ihr Verhalten…“ vielleicht bist Du ja auch schon in der großen Stadt, Du wolltest doch zu Jana fahren, um mit ihr zusammen über den Weihnachtsmarkt gehen… „… für Gabriel Lightfoot wird sich der Traum vom eigenen Restaurant in London nicht erfüllen. Das deutet die geistige Mutter, die britische Schriftstellerin Monica Ali gleich zu Beginn an…im Nachhinein meinte er, dass das…der Zeitpunkt war…so beginnt ihr neuer Roman…“ Dana…ich möchte doch nur wissen, wie es Dir geht… Ich vertiefe mich in die Artikel, aber je stärker ich mich konzentriere, um so häufiger bleibe ich in meinen eigenen Gedanken stecken: die mitlesenden Gedanken verlieren sich in den Gedanken, die mir unter den Gedanken kommen, ich verliere mich aus dem Gelesenen, je mehr sich meine Blicke in die Zellulose vertiefen, um so mehr verlieren sie sich in ihrer Tiefe. Ich denke meine eigenen Gedanken über die Zeilen hinweg, die im Schatten meiner Blicke unter meinem Kinn meiner Konzentration entgleiten. Ich atme tief durch, schaue kurz auf und versuche die Konzentration wiederzufinden: irgendwelche Worte, beliebige, die keineswegs etwas mit Dir zu tun haben, führen meine Gedanken von den Gelesenen weg zu Dir. Aber dort verharren sie ungewiss über Dein Verbleiben, ich nehme an Deiner Zukunft teil, die ich nicht kenne, ich denke immerzu an die große Stadt, empfinde Dich schon dort, je länger ich über die Zeitung hinweg in die Gäste, ins Leere starre, um so gegenwärtiger wird mir Deine Abwesenheit, Woche um Woche werden die Tage unter der Woche, an denen Du nicht arbeitest länger, unüberbrückbarer: ich fühle Dich zunehmend ferner, fühle Dich schon in der großen Stadt. Schon zwei Wochenenden hintereinander hast Du Deine Schichten abgesagt: die Ungewissheit wird immer mehr zur bedrückenden Gewissheit, die ich mir aber nur als Vermutung zugestehe, um mir die Ahnung nicht mit zunehmender Offensichtlichkeit eingestehen zu müssen. Ich glaube nicht mehr daran, dass Du wiederkommen wirst. Abends, zu Hause, schreibe ich Dir folgende Zeilen: Hallo Dana, wie geht es Dir? Da ich Dich nun schon zwei Wochenenden infolge nicht gesehen habe, denke ich, dass Du vielleicht schon in der großen Stadt bist. Du hattest mir ja gesagt, dass Du mit Jana zur Eröffnung über den Weihnachtsmarkt gehen wolltest… Ich betrete das Lokal, ich trete in die Wärme von roten und gelben Kugeln, von weinroten und olivgelben Kugeln, in das ruhige Ziehen der Flamme einer von vier großen wachsroten Kerzen, es ist eine Wärme, die von dem Herannahen der Weihnachtstage gefüllt ist, eine ruhig ziehende, manchmal leicht flackernde Geborgenheit. Ich hänge meinen Mantel auf und gehe ins Restaurant rauf, um die Plätzchen zum Advent auszupacken. Ich reiche die leere Schachtel durch den Küchenpass und drehe mich wieder zur Anrichte um. In mein Umdrehen schwenkt die Küchentür auf: in mein befremdetes Erstaunen treffen Deine Blicke, aber sie starren unzufrieden aus ihrer eigenen ungewissen Leere: Du stehst vor mir, aber in Deinen Blicken spüre ich Dein Fortgehen, in Deiner Stimme spüre ich den Ton der völligen Enttäuschung, den Ton der Endgültigkeit: mit verfahrenen schweren Schritten schreitest Du das Restaurant ab. Inzwischen sitze ich wieder an der kurzen Seite der Bar. Von Zeit zu Zeit kommst Du unten warme Getränke abholen, und in den Augenblicken, in denen Du allein, unbeobachtet hinter der Theke zurückbleibst, ziehst Du Deine Schultern, deren Bewegungen jede Hoffnung aufgebeben haben, nach oben und drehst Deine Augen verächtlich nach hinten: die Dämmerung drängt herein, liegt fahl auf Deiner Stirn, Deine Bluse wird mit der bemühten Kraft der Resignation angehoben, auf Deiner Unterlippe liegt nur noch ein ferner Stolz, ein Stolz, der tief empfundene Scham als Gleichgültigkeit und Verachtung vorzuführen versucht: unwirklich, nur noch sein Schein liegt auf ihr, aber unter dem Lächeln, verborgen in ihrer Schürzung, schimmert die schuldbewusste Scham durch: ein zaghaftes „ach!“. „Kann ich dich nochmal kurz sprechen?“ Nach der Schicht, so gegen sechs, halb sieben, setzt Du Dich in Deinem weißblauen Anorak zu mir: „Warum wolltest Du mich denn nochmal sprechen?...“ Du bestellst ein Glas Rotwein. „Ich werde dann jetzt erst mal ein paar Tage zu meinen Freunden fahren..“ „Aber du wolltest doch zu Jana auf den Weihnachtsmarkt?“ „Ach, den hab ich schon so oft gesehen.“ „Kommst du nächstes Wochenende wieder?“ „Nein, da bin noch weg. Und das Wochenende drauf auch…“ „Und das Wochenende drauf?“ „Ja…“ „Also, dann bist du wieder da?“ „Ja…“ „Dann sehe ich dich also zum vierten Advent wieder?“ „Ja, ja... Also dann…“ „Dann wünsche ich dir ein paar schöne Tage!“ „Ja, ja…“ Deine Blicke wenden sich von mir und dem Lokal ab. Sie drehen sich zum Eingang weg und verlassen durch den roten Samtvorhang das Lokal. Aber schon vorher hast Du Deine Blicke meinen entzogen, Deine Blicke verrieten mir, dass Du mir etwas versichert hast hast, an das Du selbst nicht mehr geglaubt hast. Als ich Dir eine schöne Zeit gewünscht habe, hast Du Dich für etwas bedankt, von dem ich Dir ansah, dass Du genau wusstest, dass es gar nicht mehr dazu kommen würde. Ich schaue Dir nach: durch die Bodenfenster in die in frühem Abend hellgelb, gold, silbern ausgeleuchteten Weihnachtsmarktbuden. „Kann ich dich nochmal kurz sprechen?“ Aber die anderen beobachten mich, und wenn ich Dir raus, in den Schnee zur Maronenbude folge, weiß ich nicht, ob Du mir nochmal zuhören wirst, ob ich dann mehr erfahren werde: ich weiß gar nicht, was ich Dich fragen soll. „Ich werde jetzt erst mal ein paar Tage zu meinen Freunden fahren.“ Ich sitze an der Bar, ich schaue an meinen Beinen herab: ich spüre meine Beine Dir nachgehen. Ich drehe mich zur Theke um. Glühwein steigt in den Duft frisch gerösteter Kaffeebohnen auf. Die würzig frische Süße der Orangen steigt in die Adventswärme auf. Meine Füße bewegen sich unschlüssig auf dem Fußumlauf. Ich sehe mich zur Tür rausgehen, durch den Schnee auf Dich zu, auf die Maronenbude. „Kann ich dich nochmal kurz sprechen?“ Aber mit jedem Mal, wo das Verlangen wieder in mir aufsteigt, wird die noch verbleibende Zeit weniger, jede Sekunde fühle ich als begehrendes Drängen und verzagtes Innehalten. Vorher, als Du noch neben mir saßt, haben wir kurz über Jana gesprochen: „Jana geht es gut, sie hat mehr als genug…“ Ich würde Dich so gerne nochmal nach Jana fragen und auch nach Dir, wann Du wiederkommst. Du musst unbedingt zu Weihnachten wieder zurück sein. Mit jedem Satz, mit jedem Wort, dass ich zu Dir spreche, bleibt für jedes meiner Worte weniger Zeit. Die Zeit läuft meinen Worten davon. Meine Beine bewegen sich, ich möchte Dir so gerne nachgehen, an die Bude. Meine Beine entgleiten meinem Willen. Sie bewegen sich, aber ohne dass ich aufstehe. Ich drehe mich um: vor der Maronenbude drängen sich die Leute über den Weihnachtsmarkt. Du bist nicht mehr zu sehen. Ich möchte Dir so gerne noch nachgehen. Ich weiß nicht, wie lange Du schon weg bist. Ich drehe mich wieder zur Theke um. Ich spüre, dass Du nicht mehr wiederkommen wirst, aber freue mich noch immer darauf, Dich in drei Wochen wiederzusehen. Ich versuche daran zu glauben, aber ich spüre, wie mein Atem, je unbedingter ich an Dich glauben möchte, sich um so mehr verkrampft, kurzer, schwerer wird. Von unten steigen Zweifel auf, von unten steigt die Gewissheit auf, die ich mir aber noch nicht eingestehen möchte. Ich drehe mich wieder zu den Bodenfenstern um. Über der silbernen Fensterthekenbank liegt der frühe, adventsdunkle Abend, das Nachtblau eines späten Sonntagnachmittag, der allmählich in den Abend übergeht und in der Späte sein Ende finden wird. Ich versuche, meinen Legado hinauszuzögern und sehne mich zugleich nach dem überübernächsten Sonntag. Ich versuche den Abend festzuhalten und in seiner Geborgenheit die Zeit vorauszuerleben. Ich drehe mich wieder zu den Bodenfenstern, zum Marktplatz um: ich versuche, Dich festzuhalten und freue mich im selben Moment, Dich wiederzusehen. Ich sehe Dich, wie Du hinter dem roten Samtvorhang verschwindest, wie Du vor der Maronenbude stehst, wie Du wieder reinkommst: Ich sehe Dich mit dem Tablett in der Hand die Stufen ins Bistro hinaufgehen, ich sehe Dich Bestecke holen. Ich fühle Deine Rückkehr herbei, ich fühle Dich in den Raum, ich fühle Dich in den vierten Advent, ich fühle Dich unter die Gäste. Ich schaue wieder auf die Bude: die Menschen haben sich zurückgezogen in den späten Abend, die Bude ist erloschen, sie ist verriegelt. Ich sitze im kleinen Saal des Funkhauses. Im „Bistrot Musique“ ist Cecilem zu Gast. Vor dem schwarzen Samtvorhang glänzt der gelb-braun bis ins violette auslaufende Holzlack der Geigen und Bratschen, auch des Cellos, davor, an einem schwarzen Flügel sitzt die Chansonniere: der Flügel ruht im Widerschein des Geigenlacks, der schwarze Samtvorhang wird vom Glanz des Holzlacks in warmes Violett eingetaucht. In der Tiefe des Flügels leuchtet das hellblonde Haar, das mit seinen Spitzen zart in den schwarzen Lack sticht. „L’age des mes raisons“, die existenzialistisch angehauchte Selbstfindung, deren Titel sie nicht zufällig an den fast gleichlautenden Roman von Satre angelehnt hat. Das Alter also, in dem man nach den Gründen sucht, die zu sich selbst führen. Es sind die Farben, das hellblonde, aber im violett-schwarzen Holz fast dunkelblond schimmernde Haar, und dann den ganzen Abend über der zwischen gelb-braun und violett changierende Lack der Geigen, der Bratsche, des Cellos. Er ruft in mir etwas wach, das mir vertraut ist, aber mir erst später bewusst wurde. Es sind Deine Farben, Dana. Irgendwo in dem unendlichen Übergang von hellbraun zu violett birgt der Lack auch Deinen Olivgelben Ton, auch den Deines lila Wollrocks, und aus dem halblangen offenen Haar, das die Schultern noch leicht bedeckt, leuchtet allmählich scheinbarer Dein dunkelblondes Haar: Das Chanson moduliert von Es-Dur nach F-Dur: genau die beiden Farben, die die Tage vor Weihnachten füllen: das tannengrüne Es mit der Neigung zu olivgrün und das lilabraune F mit dem hellen a, das die Farbe Deiner Stimme mit der Farbe des Wollrocks verbindet, jenes Wollrocks, den Du damals, im August getragen hast, als Du neben mir an der Bar saßt. Je mehr ich in die Musik eintauche, um so unablässiger tauchen meine Gedanken unter der Musik durch und verlieren sich in meinem inneren Gehör: plötzlich höre ich bei jeder Liedzeile Deinen Namen, ich fange an, nach eigenen Melodien zu suchen. Plötzlich steht sie vor mir: die Idee, etwas für Dich und über Dich zu schreiben. Nur dass man bei Musik immer das Problem der Aufführbarkeit vor Augen hat. Ich höre Deinen Namen in mir singen. Nach dem Konzert sitze ich spät abends nach elf noch an der kurzen Seite der Bar, in meinem hellgrauen Schurwolle-Sakko, auf schwarzem Baumwollhemd, mit der schwarzen Krawatte mit den Regenbogenstreifen in der beheizten Wärme des späten Dezembertages, des ersten des Monats. Ich fange an, die Tage abzuzählen, bis Du wiederkommen wirst. Ich denke mich zwei, drei Tage voraus, ich denke mich eine Woche voraus, immer in dem tiefen Sehnen, schon wieder zwei, drei Tage oder eine Woche weiter zu sein. Und ich überlege mir, wie ich wohl in einer oder zwei Wochen wieder hier sitzen würde, und wie ich dann wohl die Erwartung Deiner Rückkehr fühlen würde. Je näher der Tag kommen würde, um so fremder wären mir meine Gefühle in der Zwischenzeit geworden und um so befremdender würde ich von meinen Gefühlen, die ich dann schon bewältigt zu haben glaubte, wieder irritiert, berührt werden. Wie entfernt und doch innigst wären mir meine Gefühle, wenn Du wieder die Tabletts abholen würdest, wenn die dunkelblonden Haare, zu einem kessen Pferdeschwänzchen zusammengezogen, weinrot und ockergelb unter dem Mobile aufschimmern würden, im Wechsel mit den Wänden und den Leuchten und Lampen. Weihnachten würdest Du wieder da sein, und sicher würdest, müsstest Du über die Feiertage auch arbeiten, weil Du ja auf Deine Stunden kommen müsstest. Ich sitze in den aufsteigenden Ölen der in Scheiben geschnittenen Orangen, deren Duft sich unter den aufdampfenden Glühwein legt, darüber, daneben der Dampf frisch gerösteter Kaffeebohnen. Ich denke an ein Buch, das etwas mit Dir zu tun hätte. Es müsste doch ein Buch geben, das Deinen Namen trägt; als Weihnachtsgeschenk. Am anderen Tag finde ich es: eine Erzählung und ein Roman, unabhängig von einander und im Abstand von zehn Jahren geschrieben: über zwei junge Frauen, die beiden Deinen Namen tragen. Am anderen Tag leihe ich mir die beiden Erzählungen aus. Ich sitze wieder an der kurzen Seite der Bar. Meine Gedanken lösen sich zunehmend beschäftigter von den Zeilen ab, die Zellulose scheint sich aufzulösen, die Druckerschwärze verfließt, versiegt in den Poren: Dein Name! „Hallo Herr Weber!“ Die Chefin grüßt mich in meine Gedanken hinein. Ich schaue sie beschämt, verloren an. Ich schaue die Gedanken, die eigentlich Dir gelten, Dana, in ihr Gesicht. In ihrem Lächeln spüre ich meine eigene Rührung, die eigentlich Dir gilt; aber natürlich auch ihr. Und das weiß sie auch, und ich weiß, dass sie es weiß. „Der geht heute auf mich!“ Ich schaue meine Gedanken in den Raum: Dana, ich sehe Dich noch immer vor mir, damals, wie Du in der Tür mir gegenüberstandest. Ein bisschen ist es mir auch jetzt noch unangenehm, dass ich mich nicht gleich von Deinen Zügen angesprochen gefühlt habe. Aber jetzt… ich stehe auf und gehe vor die Tür, ich lehne mich an die rechte Wand und schau auf die linke, auf das furnierte Eichenholz. Du stehst vor mir, gegenüber, mit dem Rücken an das furnierte Eichenholz angelehnt, die Glastür steht nach innen auf. Dein Haar wird durch den Wind leicht angehoben, auch jetzt noch, von der kühlen feuchten Adventsluft, in jeder Strähne liegt die Weitläufigkeit der Welt, als ob ihre Spitzen sie umschließen… Ich sitze wieder an der Bar. „Und wie geht es Ihnen heute?“ „Danke, mir geht es bestens!“ Aber in ihrem Lächeln hält die Chefin ihr wahres Befinden zurück. Irgendwie wirkt sie in ihrer Gutherzigkeit immer auch ein wenig verbittert, und diese Verbitterung scheint es ihr unmöglich zu machen, sich ihre Schmerzen und Nöte einzugestehen. Wenige Wochen danach wird sie auf der Schicht zusammenbrechen. Ich schaue über die Stufen hinauf ins Bistro, auf den ockerfarbenen Rauhputz und hole meine Gedanken zurück. Ich sitze zu Hause an meinem Laptop. Ich sehe Dich wieder vor mir, Dein von den lauen Brisen wider und wieder zart angehobenes Haar, ich höre Deine Stimme, der bescheidene Stolz, der in Deinen Worten liegt… Ich sehe Dich vor mir, schaue Dich hinaus durch die Bodenfenster meines Zimmers in die Dezembernacht… “Hotelfachfrau“… Wie dieses Wort aus Deinem Mund klingt... Dana. Dana: Ich nenne Dich Dana! Und Jana; denn ich will ja auch etwas über Jana schreiben. Dana! Und Jana! Also Dana und Jana! Ich würde Euch so gerne noch so vieles sagen, aber Jana ist ja schon in der großen Stadt, und Du Dana, Du würdest sicher nochmal wiederkommen, das hattest Du mir ja gesagt. Zum vierten Advent. Aber dann hätte ich sicher auch wieder nicht die Gelegenheit, Dir alles zu sagen, was ich Dir so gerne gesagt hätte. Ich würde wieder dasitzen und den ganzen Abend warten, und ganz zum Schluss, wenn die günstigen Gelegenheiten schon alle verpasst wären, würde ich im ungünstigsten Augenblick, wenn der Augenblick vom Zerrinnen der Zeit zusammengedrückt, beiseite gedrückt würde, würde ich versuchen, Dich zwischen zwei Tischen mit meinen Worten aufzuhalten; aber noch bevor ich Dich aufgehalten hätte, hätte ich mich mit den Worten, mit denen ich Dich aufhalten will, schon wieder zu lange aufgehalten. Es wären dieselben Worte wie immer, die, mit denen ich zu denen gelangen wollte, an denen mich der Augenblick, an denen mich Dein verlegenverschämtes Lächeln im Vorübergehen wieder hindern würde. Der Augenblick würde mir zwischen den Worten vergehen, Du würdest mit ruhig, routinierten, schweren Schritten ihrer Bedeutung aus dem Weg gehen. Ich schaue aus meinem Fenster in die Nacht, die über meiner Wohnanlage liegt. Ich sehe Dich in den Lichtern der Wohnanlage, der Bewegungsmelder. Ich fange an zu schreiben. „Liebe Dana, ich sehe Dich noch immer vor mir: Dein dunkelblondes Haar fiel in leichten Wellen an Dir herab – Du hast es später nie mehr so offen getragen; nur einmal im Restaurant, das war Ende August, hast Du es zur Hälfte offen gelassen, die vordere Partie abgeteilt und mit einem Reif aus der Stirn gehalten, die übrigen Haare nach hinten zu einem kessen Pferdeschwänzchen zusammengezogen: das hat Dir fast noch besser gestanden -, Du hattest für einen ein paar Minuten keinen Tisch zu bedienen, es war ja auch erst später Nachmittag, und so bist Du in den Eingang getreten, wo ich an der einen Seite angelehnt stand, weil ich schon wieder den ganzen Nachmittag an der Bar saß und mal stehen musste, und vielleicht auch, weil ich wusste, dass Du ja gleich wieder vorbeikommen würdest – ich weiß nicht mehr, ob ich es bewusst gemacht habe -, und Du lehntest Dich mir gegenüber gegen das furnierte Eichenholz, atmetest tief durch und warfst Deinen Kopf etwas seitlich leicht nach oben, und ein bloßes „Na?“ war erfüllt von einem Ton von Weltgewandtheit und Unvoreingenommenheit, von Aufgeschlossenheit, ein bloßes „Na?“ wandte sich der Welt, wandte sich mir zu, drang in gefestigtem Ton zu mir herüber, durchdrang die stehende Luft, aufgehellt von dunkelblondem Haar, das von der Juliluft mit jeder Brise leise angehoben wurde und wieder herabfiel, ungezwungen offen herabfiel, weltgewandt gewellt im Widerschein von dunkelblondem Glanz, bei jedem Wehen wieder, wider und wieder, als ob Deine Haare die Welt umwehten; in ihrem Wehen, in jeder Welle, in jeder Strähne lag die Weitläufigkeit der Welt, je höher der Wind sie anhob, als ob ihre Spitzen die Welt umschlossen; cremeweißes Licht fiel ein in den braunen Schatten des Eichenholz, hellte die braunen Halbschatten auf Deiner Stirn und Deinen Wangen auf, und in dem bloßen Wort verbarg sich respektvolle Neugierde als der jüngeren von uns beiden, gefärbt von der Dankbarkeit, dass die Zufälligkeit des Augenblicks uns die Gelegenheit gab, uns zum ersten Mal überhaupt richtig zu unterhalten, oder wenigstens in der Kürze des Augenblick ein paar Worte miteinander zu wechseln. (Oder hab nur ich das so empfunden?)…“ Dana? Hab nur ich das so empfunden? Jetzt erst kam mir die Idee, die Begegnung mit Euch gleichsam als Erinnerung an die Wochen, in denen ihr dem Lokal und der Geschäftigkeit des täglich neuen und doch immer gleichen Service Euer Gesicht verliehen habt, festzuhalten; Wochen, in denen das emsige Treiben eintauchte in gefestigte Ruhe, die Getriebenheit aus dem steten Abholen und Bringen der Tablette entschwand, die Bewegungen aus der Kraft Deines Willens, Dana, weitläufiger, weltläufiger wurden und zugleich in Janas Gegenwart Eleganz annahmen und leichter, runder, irgendwie auch vornehmer wirkten. In Euren Gesichtern, in dem seidig feinen Glanz Eurer Haut, die ihrerseits Eure Liebenswürdigkeit und Eure Verständnisfülle in die laue, nachtblaue Augustluft atmete, empfand ich die Wärme der sich abkühlenden Abendluft als Eure Wärme, spürte ich Eure Wärme in Eurer Nähe – nicht nur, wenn ihr an mir vorübergingt, sondern schon allein im Bewusstsein Eurer Gegenwart –, ließ mich Eure Nähe Eure Wärme als die eigentliche Wärme des Raumes empfinden, umflossen von der sich abkühlenden Augustluft, die durch sie hindurch wehte und die Falten und Stauchungen Eurer Blusen aufwarf, während ihr Stoff zugleich die Wärme Eurer Haut atmete, die unsichtbar hindurch schimmerte. Jetzt erst also kam mir die Idee, diese Wochen und Monate, die mein Denken und Empfinden verändert, so nachhaltig beeinflußt haben, als Erinnerung an jene Zeit niederzuschreiben, gleichsam als Andenken an Euch beide. Schnell fand ich zur Form des Briefes, die mir am geeignetsten erschien, mich an Euch zu wenden und meinem Bedürfnis entsprach, vieles von dem zu erklären, was die Situation nicht zuließ und ich in diesem Moment vielleicht auch gar nicht erklären wollte. So gebe ich mir nun selbst die Gelegenheit, mich wenigstens nachträglich an Euch zu wenden: die Vorstellung, schon die bloße Annahme Eurer Aufmerksamkeit ermöglichen es mir, mich frei auszusprechen. Dienstags sitze ich wieder an der Theke. Ich zeige der Chefin das Buch, das Deinen Namen trägt. Sie lacht laut auf. Nur einmal, kurz. Freitags höre ich dann, wie in heftigen Diskussionen zwischen den Serverinnen mehrmals Dein Name fällt. Es geht um die Besetzung der Schichten. Es gelingt mir kaum, ein Wort herauszuhören, aber ich fühle aus dem Ton, in dem gestritten wird, in dem Dein Name fällt, aus den Blicken, in denen Dein Name verdrängt und Deine Person verleugnet wird, dass Du nicht mehr wiederkommen wirst. Die Wärme verliert ihre Geborgenheit, der Raum verliert seine Wärme, verliert Deine Wärme, meine Brust spannt, meine Haut brennt unter meinem Hemd. Die hoffende Erwartung bricht schwer zusammen und drückt mir auf die Augen, die Enttäuschung dehnt sich in meinem Kopf zu einem verzweifelten Druck. Zwei, drei Mal fällt Dein Name: er lässt mich Deine Ferne spüren. Dein Name zerstört Deine Nähe. Ich schaue wieder zum Bistro hinüber, ich sehe Dich die Stufen herabkommen, Deine Blicke senken sich die Stufen des Bistros hinab, sie eilen Dir voraus, sie stehen wieder vor mir; obwohl Du die Stufen hinabsteigst, treten Deine Füße auf der Stelle: Deine Blicke bleiben über den Stufen hängen. Ich versuche, wieder in Deiner Nähe, in Deiner Gegenwart zu leben. Ich schaue Dich in den Raum, die Stufen hinauf ins Bistro, dessen Raum von der Bar aus noch tiefer wirkt. Ich schaue Dich in den Raum, aber ich sehe Dich nicht. Ich warte, dass Du gleich wieder herauskommst. Ich sehe Dich herauskommen. Ich warte, bis Du alle Tische bedient hast, und wieder um die Ecke, durch die Glastür zum Bistro die Stufen hinunterkommst. Ich fühle Deine Nähe, ich atme Deine Wärme. Ich sehe Dich die Stufen herunterkommen. Ich sehe Dich um die Ecke, aus der Verborgenheit des Raumes, aus dem Bistro durch die Glastür kommen. Bis Februar wirst Du noch da sein. Ich sehe Dich die Stufen zum Bistro hinaufgehen. Mit eilig routinierten Schritten, Deine Stirn glänzt im Schweiß Deines Selbstvertrauens, das Dir vorausleuchtet, in das Bistro hinein. Auch wenn ich Dich von der Bar aus nur von hinten sehe, wie Du die Stufen zum Bistro nimmst, glänzt Dein Haar im Stolz, der auf Deiner Stirn liegt, auch wenn mir Deine Stirn in diesem Moment verborgen ist. In ahnungslosem Stolz machst Du Deinen letzten Gang, Deinen letzten Tisch. Kurz bevor Du wieder aus dem hinteren, um eine Stufe erhöhten Teil zurückkommst, unsichtbar gefühlt hinter der Wand, ehe Deine olivgelbe Haut zum letzten Mal vor dem ockerfarbenen Rauhputz, versunken im nikotinschummrigen Dunst, unter dunklen Lichtschatten, die der Rauch gerade noch durchlässt, aufleuchtet und sich aus dem Dunst gesättigt in der Tiefe ihres Glanzes absetzt, wird das Licht gedimmt. Es wird dunkel, überall im Lokal, nur ein Lichtkegel auf dem Absatz der Stufen soll Dir langsam den Weg die Stufen hinunter weisen. Eine Serverin wartet oben auf Dich und hält Dich kurz fest, damit Du in der unerwarteten Dunkelheit nicht stolperst. Ich überlege, welche Serverin ich zu Dir raufschicken soll. So oft ich die Szene durchdenke, schicke ich jedes Mal eine andere zu Dir rauf. Sie hält Dich kurz auf, bis der Lichtkegel aufleuchtet und der langsame Satz aus Vivaldis „Winter“ einsetzt. Die anderen Server warten unten auf Dich, einige von ihnen bilden ein Spalier, die Stufen hinunter, alle, auch die Gäste, haben vorher Kerzen, kleine Wachskerzen, vielleicht auch ein paar Wunderkerzen verteilt bekommen, langsam steigst Du die Stufen hinunter, die Geigen zupfen das Flackern der Kerzen in den Raum, stolz, ein wenig irritiert, in jedem Fall aber gerührt und dabei doch mit von Selbstvertrauen gefestigten Schritten nimmst Du ganz allmählich die Stufen; unten nimmt Dir jemand das Tablett ab, dann reichen wir Dir zur Verabschiedung einen großen Korb; oder vielleicht auch jeder einzeln seine Geschenke. Ich sehe Dich die Stufen herabkommen. Deine Haut glänzt im Flackern der Kerzen, Deine Schritte senken sich weich in das wiegend gezupfte Flackern, das Pizzikato tupft die samtene Tiefe Deiner Haut, der Glanz auf Deiner Stirn dehnt sich: auf Deiner Unterlippe liegt wieder der verschämte Stolz früherer Tage; Deine Oberlippe leicht nach innen und nach oben angezogenen: auf ihr ruht Dein Behagen, bescheidene Genugtuung. Ich sehe Dich die Stufen hinunterkommen, ich sehe die Schatten der Kerzen Stufe um Stufe über Deine Wangen, Deine Augen, Deine Stirn, Deine Haare streichen. Ich sehe Dich die Stufen herunterkommen. Aber die Musik ist zu lang für die wenigen Stufen. Ich sehe Dich die Stufen herunterkommen. Aber obwohl Du die Stufen nacheinander nimmst, trittst Du auf der Stelle. Immer wieder hebst Du Deine Füße eine Stufe tiefer, unter den liegenden Tönen treten Deine Füße in den Schatten der nächst tieferen Stufe und treten wieder aus ihm heraus: die Scheinwerfer tragen Deine Schritte die Stufen herunter, es liegen Sekunden zwischen den Schritten: mit jeder Phrase der Primgeige, jedesmal, wenn sie eine Stufe tiefer sequenziert, setzt Du auch einen Fuß tiefer auf die nächste Stufe. Auf Deiner Haut ruhen die liegenden Töne der Viola, das ockerfarbene b, das olivgelbe as, das violette g. Andächtig atmet Deine Wärme im Raum, feierlich wiegt das Zupfen der Saiten über dem Flackern der Kerzen, in der braundunklen Tiefe des Bistros flackert immer wieder kurz der ockerfarbene Rauhputz auf. Langsam zieht die Melodie über Dein Gesicht hinweg. Ich sehe Dich die Stufen herunterkommen, in Deinen Blicken liegt das neue Leben vor Dir: in Deinen Augen liegt der Glanz einer großen Stadt. In Deinen Augen liegt die bescheidene Genugtuung darüber, dass Du Dir in den zurückliegenden Monaten so viel Achtung und Anteilnahme erarbeitet hast. Deine Augen schauen zurück auf acht harte Monate, durch die Dich Deine Füße mit stets ruhigen, gefestigt bedachten Schritten durch das Lokal getragen haben, über das dunkelbraune Parkett. In der Primgeige klingen Gefühle und Sehnsüchte an, die nun keine Rolle mehr spielen, die sich nun in mitfühlende Freude auflösen: vergangene Gefühle, Gefühle, die ihre Bedeutung verloren haben, weil Du nun wegziehen wirst: befreite Wärme. Ich gehe auf Dich zu. „Dana, es war eine schöne Zeit mit Dir. Ich möchte mich gerne bei Dir bedanken… ich möchte Dir gerne sagen…“ Ich sehe Dich aus dem gelbdämmrigen Rauch aus dem Bistro kommen, das Licht geht aus, eine Serverin geht Dir entgegen und hält Dich kurz fest, bis der Lichtkegel vor Dir auf das dunkle Parkett fällt und vor Deinen Schritten her leuchtet, Deine Schritte die Treppe hinunterführt: das Licht ruht auf Deiner Stirn: sie hebt Deine Augenbrauen in den Raum: Deine Augenbrauen heben Dein Gesicht über das Licht hinaus, sie durchtrennen das Licht: gehaltene Schritte tragen das Tablett die Treppe hinunter, durch die Gäste; das Licht trägt Deine Schritte die Stufen hinunter, das Licht träg Deine Schritte, hebt sie über das braune Parkett, das Licht hält die Zeit an, es hebt Deine Bewegungen auf. Deine Blicke ruhen verlegenverschämt auf dem Tablett, das Tablett hebt sie über seinen Rand hinaus in das gezupfte Flackern, Deine Rührung flackert im Zupfen der Geigen: allmählich schauen Deine Augen unter ihren eigenen Blicken auf in die Gesichter, die im Widerschein des Flackern in der dunklen Andacht auf Dir ruhen. In Deinen Augen leuchtet das Flackern der Kerzen, flackert das Zupfen, züngelt das Zupfen, Deine Augen leuchten in die warmen Schatten, die Du über die Gesichter der Umstehenden, Umdrängenden trägst. Du steigst die Stufen runter. Schatten atmen auf Deiner Haut, die Deine Haut in der Tiefe des Raumes auflösen, über Deine Stirn streicht Wehmut, streicht zarter Stolz, die Bogenhaare streichen über Deine Stirn, das Zupfen der Geigen trägt Dich durch warme Kerzen, Deine Blicke stehen im Raum, wie aufgehangen… „es war eine schöne Zeit mit Dir“… Deine Rührung verfließt im Kerzenlicht. Du steigst bewegt die Stufen runter: Deine Schritte verlieren ihre Bewegung, Deine Füße ruhen auf den Stufen, unter Deiner Bluse atmet gereifte Verletzlichkeit, Du hast sie beinahe abgelegt… Ich schaue wieder auf die Treppe: die Treppe ist leer… Dana, Du wirst bestimmt sagen „aber ich habe doch gar nichts für dich getan.“ Doch Dana, Du hast etwas für mich getan: Du warst immer für mich da: ich meine, eben einfach dadurch, dass Du da warst. Ich habe Dir so viele schöne Stunden zu verdanken, auch die, in denen Du nicht da warst: Du bist heute noch da! Ich schaue zurück zur Theke. Ich schaue wieder zum Bistro rüber. Ich schaue wieder zur Theke. Ich fühle eine warme Leere, die ihre Geborgenheit, ihre Andacht verloren hat. Ich fühle ängstlich enge Gewissheit, enge Angst. Darunter verhaltene Seligkeit, eine helle brennende, beklemmende Seligkeit, die immer weiter beiseite geschoben wird, die kaum noch fühlbar ist: ich fühle sie nur noch in der Erinnerung, aber ich spüre sie nicht mehr. Irgendwo in der Tiefe des Raumes, in der spärlich dämmrigen Wärme, die über der Bar steht, lebt geborgene Seligkeit, die ich mir bewahren wollte, sie hellt den Raum aus seiner Mitte auf, aber sie vergeht unter dem Dunst, langsam rieselt die Seligkeit durch die beheizte Wärme des Raumes, sie durchzieht meinen Körper, aber sie ist mir fremd geworden: ich glaube nicht mehr an meine eigene Glücksseligkeit. Sie versucht sich mutlos über die angstvolle Enge zu erheben, aber sie wird von der ängstlichen Gewissheit wieder unter sich gedrückt, beiseite geschoben; umgeben von der befreiten Wärme des Eingestehens, unterwärmt von verzweifeltem Mut, es mir eingestehen zu müssen. Ich gestehe es mir nicht ein, die befremdende Seligkeit wird wieder vertrauter, ich fühle mir Deine Wärme wieder zurück in den Raum, ich fühle mir meine Geborgenheit in Deiner Wärme wieder zurück – die Geborgenheit bleibt leer, sie greift nicht mehr, sie umgibt mich, aber sie umfließt mich nicht mehr.. „Hast du Tisch 32?“ – „Kannst du übernehmen?“ – „..den hab ich zu dir rübergeschoben…“ „Aufzug!“… Ich versuche mich an dem Kommen und Gehen der Serverinnen, an ihren Worten wieder aufzurichten, ich versuche an ihren Worten, an dem Bringen und Holen der Tabletts wieder jene Vertrautheit des Lokals zurückzuholen, das mir plötzlich so fremd wirkt. „Guten Abend, Herr Weber. Wie geht es Ihnen?“ „So weit. Und Ihnen?“ „Wie immer bestens!“ Die Chefin. Ein paar Wochen später wird sie zusammenbrechen. Ich betrete das Lokal, vom Marktplatz aus, aber ich halte nur noch ungläubig Ausschau nach Dir, ohne Dich wirklich zu suchen, ich warte noch immer auf Dich, aber ich erwarte Dich nicht mehr, ich betrete das Lokal durch mein eigenes Warten, ich trete in die Dichte eng stehender Samstagabendgäste, ich trete in mein eigenes angstvolles Warten, ich atme meine Verunsicherung, meine Enttäuschung, ich suche Dich - nicht mehr wirklich, aber ich kann Dich nirgends sehen, ich atme die Vergeblichkeit der zurückliegenden Wochen, die Vergeblichkeit, mit der ich zwei Wochenenden gewartetet habe, versucht habe, die Zeit zu überwinden, in der mich die Zeit bedrängte, in der mir die Zeit unendlich wurde. Ungläubige Enttäuschung, schon freitags warst Du nicht erschienen. Ich fühle mich um mein Verlangen, die Tage überspringen zu können, betrogen, ich atme bedrängend schwere Ahnung. Ich gehe auf eine Serverin zu: „Du, du bist doch auch schon ne Weile hier. Du kennst doch sicherlich die Abläufe. Wo ist Dana?“ „Welche Dana?“ Mit staunendem Unbegreifen, das sich sofort zur Gewissheit klärt, starre ich sie an: sie verleugnet Dich. Enttäuschung ergreift mich. „Aber du willst mir doch nicht sagen, dass du nicht weißt, wer das ist? Du hast doch auch schon mit ihr zusammen gearbeitet?“ „Tut mir leid, aber ich kenne Dana. Ich wüßte jetzt nicht, wer das sein sollte.“ Aus der Menge nehme ich eine andere Serverin war. „Wo ist Dana?“ Sie schaut verlegen an sich herunter. Ihre Augen weichen meinen Augen und zugleich der offiziellen Auskunft aus. In ihren Blicken wiegt die Verpflichtung gegenüber den anderen zu stark, aber sie möchte Dich auch nicht verleugnen. Ihr Blicke bleiben in den Bewegungen ihres Körpers gefangen, gefangen in ihren Schultern, die sie über ihre Verlegenheit hebt, gefangen in ihrer Loylität: ihre Schultern schützen sie und hemmen sie zugleich. Mit ihrem Kopf versucht sie, ihre Blicke unter meine zu drücken. „Ich weiß nicht. Ich hab sie heute noch nicht gesehen.“ Es ist die Serverin, die sich den Griffen des Schichtleiters nicht entziehen konnte. Ich gehe die Stufen ins Restaurant rauf. Als ich oben ankomme, haben meine Gefühle Deine Abwesenheit schon beinahe angenommen. Auf der anderen Seite der Galerie geht die Chefin vorüber, sie bedient heute abend. Sie schaut nur im Vorübergehen zu mir rüber. Für einen Augenblick ist es mir, als antworte sie mir bereits auf eine Frage, die ich noch gar nicht gestellt habe. Über die Galerie hinweg wirkt ihr Gang der Wärme des Raumes entzogen. Durch die Stäbe des Geländers wirkt ihr Gang zu Restauranttheke wie die Unendlichkeit der drei Wochen, die ich überwinden musste, um endlich an dieses Wochenende zu kommen. In der augenblickslangen Unendlichkeit ihres Gang durchlebe ich noch einmal die Sehnsucht des Wartens; in ihrem Gang liegt die nüchterne Gewissheit. „Wo ist Dana?“ „Dana arbeitet nicht mehr hier.“ Ihr Gang trägt ihre Verbitterung mit den Tellern in der Hand in die Küche. Später steht sie kurz mit mir am Geländer. „Und wo arbeitet sie jetzt?“ „Das weiß ich nicht. Und ich will es ehrlich gesagt auch gar nicht wissen.“ Sie wendet sich ab. Ich schaue über die Galerie hinweg in den Küchenpass. In meinen Blicken bricht das Hoffen, brechen die letzten drei Wochen in sich zusammen. Die Zeit entschwindet mir. „Dana, ich möchte Dir gern noch sagen…“ Ich verliere die Zeit um mich herum. Im weißen Licht, das aus dem Küchenpass scheint, lösen sich Deine Blicke auf, in der Grelle des Lichtes, das aus der Küche in den gelbdunklen Dunst dringt, der über den rustikalbraunen Paletten steht, hellen Deine Blicke immer weiter auf, sie dehnen sich, sie blenden mich durch das Küchenlicht hindurch, ich schaue durch die Galerie runter auf die Stufen des Bistros, ich sehe Dich die Stufen runtergehen, Du steigst die Stufen hinab, allmählich, Deine Schritte verlieren ihren Zusammenhang, Du steigst durch meinen Kopf hinab, Du steigst, Deine Tritte versinken in den Stufen, die Stufen versinken in meinen Blicken, versinken in der Grelle des Küchenlichtes, Du steigst - in meinen Blicken - durch meinen Kopf, Du steigst Deine Tritte versinken in – Deine Schritte versinken in den - Stufen - die Stufen versinken in meinen Blicken, versinken in der Grelle des Küchenlichtes, Deine Knie geben nach, Dein Gesicht löst von Deinem Gang ab – ich verliere den Raum - Dein Gesicht verläuft im gelbdunklen Dunst, Deine Blicke leuchten noch heller, weißer als sonst, sie durchdringen mich und sprechen zu mir, ich höre Deine Worte durch die Rufe aus der Küche. Ich verliere meinen Raum. Ich stütze mich am Geländer. Ich gehe an der Pendeltür vorbei, wo Du drei Wochen zuvor zuletzt vor mir gestanden hattest: Du stehst vor mir, aber in Deinen Blicken spüre ich Dein Fortgehen, in Deiner Stimme spüre ich den Ton völliger Enttäuschung, den Ton, nachdem nichts mehr umkehrbar sein wird. Deine Worte dehnen sich, dehnen sich auseinander, sie berühren sich nicht mehr, sie gehen in den Rufen aus der Küche unter. Ich schaue wieder runter auf die Stufen zum Bistro: die Stufen sind leer. In der Enttäuschung spüre ich einen Moment lang die Freude, endlich wieder einen Grund zu haben, Dir zu schreiben: einen Grund, den Deine zunehmende Gleichgültigkeit und Deine immer tiefere Zurückgezogenheit mir nicht mehr gaben. Die Aussicht, dass wir uns ohnehin nicht mehr sehen werden, lässt meine scheue Sehnsucht, in der ich mich so gerne so oft an Dich wenden würde, in einer gewissen Unbefangenheit aufgehen. Abends, zu Hause, schreibe ich Dir folgende Zeilen: Hallo Dana, wie geht es Dir? Natürlich warst und bist Du mir gegenüber nicht dazu verpflichtet, Details Deines Lebens offen zu legen, aber ich finde es dennoch schade, dass Du offenbar nicht den Mut hattest oder vielleicht auch nicht genügend Vertrauen in mich hattest, mir zu erzählen, dass Du nicht mehr wiederkommen würdest. Was hättest Du denn zu befürchten gehabt?... Ich sitze an der Bar und schaue über das Parkett, aber das Parkett ist leer. An Heiligabend wird das Lokal nur schwach besucht. Ich schaue in die Gesichter der Serverinnen, ich suche in ihnen Dein Gesicht, aber ich kann es nicht finden. Ich schaue an der weinroten Wand entlang zur Glastür, die ins Bistro führt, dort wo, der ockerfarbene Rauhputz scharf an die weinrote Wand grenzt. Über den Farben liegt Andacht, eine befremdende Andacht, aber zugleich kehrt in die Farben das Gefühl des Vertrautseins zurück. Das bange Fühlen ist dem Raum entschwunden, die Farben fühlen sich leicht, unbeschwert an. Sie atmen eine schüchterne Seligkeit, die aber der Wirklichkeit enthoben scheint, die sich in die Tiefe der Farben zurückgezogen hat: unerreichbar. Ich fühle die beheizte Wärme des Raumes: befreit von beschwerten Gefühlen, befreit von der Tiefe der Farben. „…Selbstverständlich darfst Du frei entscheiden, wem Du Dich anvertraust, aber was hättest Du denn zu befürchten gehabt? Du weißt, daß ich eine gute meine Meinung über Dich habe, und Du weißt auch, daß Du dadurch in meinen Augen in keinster Weise verloren hättes...“ Ich schaue raus: über dem Marktplatz lieg die Kälte der tiefen Andacht, die geweihte Kälte, die man nicht sieht, die man nur in den dicken Mantel und Pelzen und Wollmützen der Vorübergehenden fühlt und die sich von unten an den Bodenfenstern absetzt, die von außen gegen die beheizte Wärme des Raumes ansteht. „.. Ich erwarte keinesfalls von Dir, dass Du mir irgendeine tiefere Wertschätzung oder gar Zuneigung entgegenbringst; das wäre vermessen, und ich kann Dir versichern, dass ich sowohl zu Dir als auch zu mir selbst so viel Abstand habe, dass ich das auch keinen Augenblick lang erwarte. Auch brauchst Du mir keine Dankbarkeit entgegenzubringen; denn was ich Dir geschrieben habe, entspringt meiner tiefsten Überzeugung und braucht deswegen nicht mit Dankbarkeit entgolten zu werden. Gleichwohl hätte ich erwartet, dass Du Dich vielleicht mal mit ein oder zwei Worten nach mir erkundigt hättest…“ Meine Augen wandern über den Platz hinweg zu den Fenstern der Häuser und Lokale: rote und goldene Christbaumkugeln leuchten in die geweihte Andacht hinein, leuchten in die tiefe schwarzblaue Nacht hinein: weinrote und olivgelbe. Würzig, kräftig steigt der Rauch meiner Brasil warm in die Dezemberluft auf. Ich sitze auf meiner Bank, auf Brasche, am altgeteerten Weg, zwischen hohen, verwitterten, ausgewaschenen Steinen, umsäumt von Eibenkegeln und Lärchen, wo ich nachmittags immer sitze. Auf den Wiesen und den Tannen und Fichten liegt rötlichgelbes Licht, das seine Kraft verloren hat. Fernes Licht der tief im Tal hängenden Sonne, die gerade noch über den Friedhofsberg herauf strahlt, wärmt mein Flanellhemd: wirklich spüren kann ich die Wärme nicht mehr, aber ich fühle sie noch, mit den Augen, noch liegt eine leichte Wärme auf meinen Augen und meiner Stirn: von unten steigt Feuchtigkeit auf. Die Wärme wird von der aufsteigenden feuchten Kühle allmählich aufgesogen. Braune Würze tritt in die Wärme ein, die sich unmerklich unter den Friedhofsberg zurückzieht. Mit der Sonne gehen auch Deine Blicke, geht auch Deine Wärme unter. Ich sitze auf der Bank. Vor mir fällt die Wiese, fallen Erdaufwürfe, alte Gräber, neue Reihen in die Dämmerung ab. Die Zeit scheint aufgehoben, zwischen Heiligabend und den Tagen danach. Aber mit jeder Stunde, in der die Zeit aufgehoben scheint, geht sie ebenso unerbittlich vorbei wie jede andere Stunde auch. Die Geborgenheit geht mit der Dämmerung unter. Ich ruhe in den Zeilen, die ich Dir geschrieben habe, Zeilen, deren Enttäuschung ebenso in der Stille der Zeit aufgeht, aufgehoben scheint. „Nun sieht es so aus, als ob Du möglicherweise gar nicht in der großen Stadt warst, auch nicht in der anderen, und mir das nur erzählt hast, damit Du mir den wahren Grund, warum Du nicht mehr erscheinst, nicht nennen musst? Möchte Dir aber damit nicht unrecht tun. Vielleicht warst Du ja doch dort,…“ Würzig brauner Rauch tritt in die kühle Feuchtigkeit zerrinnender Stunden ein, die sich genauso im Bedauern über die die verlorene Zeit verlieren, wie all die Wochen vorher auch. Ich versuche mich an meiner Enttäuschung aufzurichten, ich versuche, mich über meine Enttäuschung zu erheben. „…aber als ich Dich fragte, ob Du dann am vierten Advent wieder arbeiten würdest, hast Du das zwar den Worten nach bejahrt, aber Deine Blicke verrieten mir - jedenfalls glaube ich das jetzt im Nachhinein -, dass Du in diesem Moment wohl schon wusstest, dass Du nicht mehr kommen würdest.“ Würzig brauner Rauch steigt in die blauschwarze Dunkelheit auf, die auf den Dächern und Giebeln liegt. Ich steige die Treppen zu Winterbachsroth hinab. „Und nun muss ich eben auch davon ausgehen, dass Dir meine Person so wenig wert ist, dass Dir offenbar nicht daran lag, Dich von mir zu verabschieden. Oder war es nur so, dass es Dir unangenehm war, darüber zu sprechen; vielleicht gerade weil Du wusstest, dass ich Dich schätze, und Du Angst hattest, Dich rechtfertigen zu müssen.“ Ich drücke meine Brasil unter meinen Schritten aus. Dana. „Ich weiß nicht, ob Du überhaupt Wert darauf legst, dass wir uns nochmals wiedersehen. Aber ich würde mich gerne persönlich von Dir verabschieden. Also, wenn es Dir möglich ist, sag mir doch bitte, wo Du jetzt arbeitest; zumal ich für Weihnachten etwas für Dich vorbereitet hatte; na sagen wir mal ein etwas größeres Raffaello…ich muss Dich wiedersehen…“ „…ich muss Dich wiedersehen…“ Ich sitze im Bistro. Ich rauche meine Tuitknak. Durch die Sprossenfenster schiebt sich der Vormittag über das Fachwerk auf den Mittag zu. Noch liegt der größere Teil des Innenhofs, liegen die Gefächer im Schatten des Morgens. Bei jedem Blick durch die Sprossen wandert der Vormittag weiter über den kahlen Wein, dessen Triebe sich fest in den weißen Putz gesaugt haben. Mit jedem Blick fällt ein Stück mehr Licht über die Gefächer und wandert auf die Dächer und die Balkone zu. Mit jedem Blick schiebt der Vormittag sein Licht quer über die Gefächer, über den weißen Putz auf den Mittag zu. Vor mir steht mein Kaffee und dazu, gesondert, eine Untertasse mit den den kleinen quadratischen Schokotäfelchen der Bitterschokolade. Die Schmale mit der Brille, die Kärntnerin, hat sie mir dazugestellt. Sie weiß, dass sie mir damit einen Gefallen tut, und ich weiß, dass sie es weiß. Und wenn sie einmal nicht gleich dran denkt, stellt sie immer noch ein paar mehr hin. Der Rauch meiner Tuitknak zieht an den Sprossen hinauf, legt sich auf die beheizten Scheiben, an denen die lichte, klare Kälte ansteht. Fernes Licht, das Licht des alten Jahres, des zurückliegenden Sommers schiebt sich kühl über die Gefächer. Der weiße Putz leuchtet kühl gelb, ich fühle die zage Wärme, durch die Sprossenfenster, aber ich spüre sie nicht. „…ich muss Dich wiedersehen…“ Ich sitze auf einem einfachen, abgenutzten Sofa. Licht eines späten Tages, das erste, schon verdrängte Licht des schon vergessenen Sommers, eines neuen Frühlings, das viel zu früh über den noch frostigen Wiesen liegt, fällt rötlichgelb auf den Flur. Für heute werde ich Dich wohl nicht mehr antreffen. Am anderen Morgen erfahre ich, dass Du gar nicht mehr zu den Vorlesungen erscheinst. Ich sitze auf dem abgenutzten Sofa. Silbrig gelb setzt sich das erste Licht eines neuen Jahres durch die regennassen Scheiben durch. Ich stehe auf, ich laufe in Gesichter: in jedem Gesicht suche ich Deins… Ich liege auf meinem Bett. Ich sehe den Himmel über den Dächern, obwohl ich ihn von meinem Bett aus gar nicht sehen kann. In seiner Dämmerung geht die Zeit zu Ende. Der Tag löst sich aus der Dämmerung, das eisig nasse Licht bleibt über der Dämmerung zurück, der Tag bleibt stehen, in der Dämmerung geht die Zeit verloren. Ich sehe um den Himmel herum, ich sehe über die Dächer hinweg zum Schiedeborn, hinweg über Koppeln und Schrebergärten. In seiner Unendlichkeit verliert sich die Geborgenheit von Stunden und Tagen, geht der Mut verloren, Tage und Stunden zu bewältigen, zu füllen, Monate und Jahre schützen nicht länger vor der Unendlichkeit der Zeit, schützen nicht länger vor dem Vergehen der Zeit, Monate und Jahre geben mir keinen Halt mehr, Monate und Jahre, in denen man die Zeit auf Distanz halten kann, in denen man die Angst vor dem Ende verdrängen kann, in denen man die Zeit vor dem Vergehen gestalten kann, in denen man das Ende immer nochmal um ein paar Jahre oder Monate oder Stunden verschieben kann, in denen die Zeit vergeht, ohne daß man sie erlebt; jetzt vergeht die Zeit auf einmal, sie Zeit bedroht mich, ich habe Angst, sie zu erleben, Zeit kann jederzeit sein, ich verliere die Zeit, ich möchte mich der Zeit entziehen. Ich liege auf meinem Bett. Venlafaxin. Unter mir sehe ich Licht, dessen Tag längst untergegangen ist. Ich liege unter dem Himmel, den ich nicht sehen kann: die Dämmerung hebt die Zeit auf, der Himmel dehnt sich, dehnt sich bleich über eisig nasse Wiesen und Koppeln, greift um sie herum: ich liege unter meiner Zimmerdecke. Sie entfernt sich. Ich sehe auf mein Haus. Ich sehe mich auf meinem Bett liegen. Ich liege unter mir selbst. Schuberts zweites Klavierstück in Es. Die Musik entfernt sich und dringt unter mich ein. Sie läuft mir davon. Über mir – in mir – im Zimmer – am anderen Ende des Zimmers klingen die Takte weiter, denen ich nicht mehr folgen kann. Die Tremoli verstärken sich in meinem Kopf. Ich schlafe halb. In der Musik geht die Zeit verloren. Takte, deren Schläge sonst die Stunden aufhalten. Die Takte wiederholen sich, sie verlieren die Kraft, die Zeit aufzuhalten. Die Zeit verliert ihren Sinn. Die Musik löst sich auf in Stimmen - Stimmen reden auf mich ein, Stimmen reden auf mich - heftige Diskussionen, aber ich sehe niemanden – reden auf mich ein - ich sehe nur Schatten, aus fernen Tagen, irgendwo in schummrigem Licht sitze ich mit anderen Stimmen an einem Tisch, dann geht jemand, dann kommt wieder jemand, ich drehe mich zur anderen Seite, versuche meinen Kopf aus den Stimmen herauszudrehen, aber sie dringen von den anderen Seite wieder genau so auf mich ein. Plötzlich sehe ich eine moderne Wohnanlage, in rosa Anstrich, davor ein Platz mit kleinen Hecken und frisch gepflanzten Bäumen, sie kommt mir vertraut vor, ich versuche auf sie zuzugehen, ein blaues Emailschild: „Dietzfelbinger Platz“, aber ich komme nicht heran. Ich bewege mich, ohne meine Füße zu spüren, auf meine Wohnung zu, aber je näher ich ihm komme, um so mehr, immer fremdere Häuser richten sich vor ihm auf. Ich weiß nur noch, das da hinten irgendwo mein Haus stehen muss, aber davor steigt eine kette bunter Häuser aus einem Tal einer Straße entlang an, Hundertwasser, ich gehe eilig die Straße rauf, weil ich weiß, dass hinter den bunten Häusern mein Haus liegen muss, ich komme oben an, atemlos, stehe an einer Hauptstraße, aber ich so oft ich über die Häuser hinweg schaue, sehe ich mein Haus nicht mehr; ich drehe mich auf die andere Seite. Ich gehe die Straße wieder rauf, atemlos, ich spüre den Puls am Hals schlagen, meine Brust atmet immer schwerer, ich schaue wieder über die bunten Häuser hinweg, aber ich sehe mein Haus nicht mehr. Durch die Häuser leuchtet ein Lachen. Mein Vater nimmt mich an der Hand, und geht mit mir die Straße wieder runter. Ich stütze mich mit den Ellenbogen auf, atme tief durch und versuche mich am späten Licht, das in mein Zimmer fällt, zu beruhigen. Ich drehe mich wieder auf die andere Seite, ich gehe wieder die Straße rauf, aber ich kann mein Haus nicht mehr sehen. Ich sehe kurz den Platz, aber das Haus ist weg. „Du wollest dort nicht mehr wohnen. Dir hat es dort nicht gefallen. Du hast Angst gehabt, du bist allein nicht zurechtgekommen. Du wolltest wieder nach Hause“. Dann stehe ich auf einem anderen Platz. Aber ich erkenne ihn nicht. Von dem Platz führen viele Straßen weg. Ich suche leere Wohnungen auf, aber keine gefällt mir. Ich höre wieder Stimmen, ich sitze an einem Tisch, ich sitze zu Hause am Tisch, am Eßtisch, an dem kleinen Tisch an der Wand, an der kurzen Seite, Stimmen schreien auf mich ein, ich verteidige mich, aber ich höre mich selbst nicht, ich verteidige mich nur mit meinem Puls, der immer schneller wird. Ich stütze mich mit meinen Ellenbogen auf. Schubert. Ich sehe den Himmel, weiter als ich ihn von meinem Bett aus sehen kann. Ich sehe mich auf meinem Bett liegen, ich sehe auf mich. Ich kann mir selbst nicht mehr helfen. Ich kann nicht eingreifen. Die Wände geben nach, der Himmel dehnt sich immer weiter, wird immer heller. Ich schaue über die Dächer, über die Felder und Äcker hinweg, der Horizont wird immer weiter: ich liege auf meinem Bett. Ich bekomme Angst, ich möchte den Raum verlassen, aber ich habe Angst, den Raum zu verlassen. Ich verliere den Halt in der Zeit. Ich verliere die Zeit, ich verkrafte den Raum nicht mehr. Die Unendlichkeit des Raumes bedrängt mich, ich möchte den Raum verlassen, aber meine Tür, mein Schrank, der Weg zu meiner Toilette liegen unendlich weit vor mir. Ich kann den Raum nicht mehr überwinden. Ich versuche mich wieder aufzurichten, aber ich bewältige die Zeit nicht mehr. Ich traue mich nicht mehr, an den nächsten Moment zu denken, ich habe Angst, die Zeit vorauszusehen. Ich habe Angst, mich aufzurichten, aus Angst, die Zeit überwinden zu müssen: ich richte mich auf, das Aufrichten kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Ich hebe die Beine über die Bettkante hinweg, ich sitze auf der Bettkante. Ich atme tief durch. Ich möchte mich nicht mehr hinlegen, ich habe Angst aufzustehen. Ich muss mich überwinden. Mein Kopf nickt nach vorne, in einem fort. Ich drehe den Kopf zur Seite, ich ziehe ihn so scharf zur Seite, wie es geht. Aber Raum und Zeit drücken meinen Kopf immer wieder nach unten. Ich ziehe mich an. Bei jeder Bewegung kämpfe ich gegen die Zeit an, die auf mir lastet, die mich festhält, die mich treibt, unruhig. Ich erstarre in der Zeit, ich verliere mich in der Zeit, die Gedanken verrutschen und entgleiten mir im Raum. Ich schaue hinaus, der Himmel hat noch immer seine unendliche Dämmerung: in der Dämmerung scheint die Zeit zu Ende zu gehen. Ich bewege mich gegen die Entfernung, mit jedem Schritt gegen die wenigen Minuten, die brauche, um zum Busbahnhof zu kommen. Ich steige in die 103. Ich habe Angst, die Fahrt zurückzulegen. An jeder Haltestelle überkommt mich eine immer heftigere innere Unruhe, jedes Halten lässt mich die Zeit noch schwerer ertragen, das Ziel noch unerreichbarer fühlen. Ich habe Angst, nicht mehr anzukommen. Bei jedem Haus, bei jedem Feld, dass an mir vorüberzieht, hab ich Angst, das nächste nicht mehr zu bewältigen, habe ich Angst, die Stelle zu verlassen, weiterzufahren; ich habe Angst stehenzubleiben, ich habe Angst weiterzufahren, ich habe Angst zurückzufahren – der Bus fährt mich in die Zeit hinein, die ich nicht mehr bewältigen kann und sehne mich zugleich nach dem nächsten Moment, um die Angst überwinden zu können, um ein Stück der Unendlichkeit zurücklegen zu können. Das rötlichgelbe geht über in rot-lila, wird immer dunkler, der frühe Abend legt sich über den Februartag. Die wenigen Gedanken, die von der Angst nicht zusammengedrückt werden, führen mich zu der Liniennummer: es ist die Linie, die auch zu Dir führt, Dana. Wenn das Haus, in dem Du wohnst, doch Dein Elternhaus ist, dann muss es doch schon ein älteres Haus sein, und wenn Du allein darin wohnst, wird es doch bestimmt kein allzu großes Haus sein. Und wenn es möglicherweise schon sehr alt ist, wird es natürlich eher an der Hauptstraße stehen, da sich ja alle Dörfer immer von der Hauptstraße weg in die Breite ausdehnen. Typisches Straßendorf. Als der Bus in der Innenstadt hält, steht mein Entschluss schon fest, durchzufahren. Als ich in Deinem Ort aussteige, entweicht der Druck plötzlich, mein Kopf dehnt sich, befreit von den Spannungen. Ruhig, von einer beruhigenden Weite getragen, und doch getrieben, von Leichtigkeit getrieben, von der ungeduldigen Erwartung, laufe ich die Hauptstraße, den Berg hinunter. In der kühlen Luft, in der ich das Holzfeuer aus den Schornsteinen atmen kann, spüre ich plötzlich Deine Wärme. Schubert. Dein Wärme gibt mir die Geborgenheit auf einem Weg, den ich nicht kenne, der mir aus alten Tagen vertraut scheint, in dem Du mir vertraut bist. Die Straße, die Bäume, die Häuser wirken vertraut, vertraut in Deiner Wärme, wie ein fremder Ort, zu dem man sich beim ersten Mal hingezogen fühlt. Die Luft ist kalt und doch behaglich, ich fühle Deine Wärme in ihr. Ich spaziere die Straße hinunter, mit ruhigen, aber festen Schritten. Aber die Häuser sind alle hell erleuchtet, hinter den Fenstern sieht man Familien, sieht man Eltern mit Kindern. Die Straße windet sich ein wenig, zwischen gelben und roten Verblendsteinen, zwischen Fassaden, die von Tannen und Zypressen gesäumt werden, dann fällt sie steil den Berg ab. Dort, ganz für sich allein, steht ein Bergmannshaus, typisches Prämiensparhaus, unverputzt, mit zurückgesetzten Fugen, den Eingang zur Seite verlegt. Eine kleine Einfahrt, Schotter, mit Gras überwachsen, steigt leicht zur Tür an. Die Läden sind runter. Ich drücke die Gartentür auf, der Garten liegt unbewirtschaftet im Schatten des Hauses, der Schatten fällt in die Nacht hinein auf die Beete, der Laden des Stubenfensters ist hochgezogen, aber die Stube ist dunkel. Ich ziehe die Staketen wieder hinter mir zu. Eine kleine Einfahrt, leicht ansteigend, mit Gras überwachsen. Als ich wieder hinter das Haus schaue, ist auch dort der Laden runter. Ich stehe wieder vor der Tür. Rote Ziegelsteine, im Schatten des Giebels, die Straßenbeleuchtung dunstet mild in die Nacht, die dem Mauerwerk die Farbe entzieht. Die Klingel ist schräg auf das Mauerwerk geschraubt. Ich kann sie nicht hören. Dunkle Klinker, im Schatten des Giebels. Dann dringt Licht durch das Bleiglas, Bewegungen schimmern durch das trübe Glas: ganz schwach zu vernehmende Schritte, aber in ihnen liegt eine gewisse Schwere. Sie bewegen sich mit einer vertrauten ruhigen Eile; Schritte, die unerkannt bleiben wollen, die sich verleugnen. Für einen Moment lang ist es mir, als schimmere Dein dunkelblondes Haar durch die Trübung: über das Bleiglas ziehen von innen heimliche Schatten: dunkelblonde und olivgelbe Schatten. Die Schritte bleiben hinter der Tür stehen. In Deinen Schritten ergreifen mich die Gefühle, die ich, solange noch die Enttäuschung drohte, Dich nicht zu finden, verleugnen musste; Deine Schritte gewähren mir die verwehrte Vertrautheit. Deine Schritte beruhigen mich: in ihnen empfinde ich den Stolz, den ich mir über Dich bewahrt habe, den Stolz, Dich doch gefunden zu haben. Ich spüre Dich: durch die Tür; ohne zu wissen, ob Du es bist. Für einen Moment bis Du mir ganz nahe: durch die Tür. Ich höre Dich, obwohl Du Dich nicht mehr bewegst. Jemand kommt die Einfahrt herauf und möchte wissen, wer ich bin. Die Schritte hinter der Tür verraten sich. Du hörst meine Stimme, dann höre ich Deine: „Simon, geh weg!“… Ich sitze wieder an der kurzen Seite der Bar. Meine Temperatur staut sich in der beheizten Wärme des Raumes. Ich sitze in der Angst, Dir wiederbegegnen zu wollen. „Aber warum hast du denn nicht gerufen?“ – „Hab ich doch!“- „Nein hast du nicht! Und außerdem, wo her weißt du, wo ich wohne? Bist du mir nachgegangen?“ – „Wenn Du mich reinlässt…“ – „Nein. Du warst Gast. Wir sind nicht befreundet. Ich komme morgen abend ins Lokal. Dann können wir reden. Aber nur fünf Minuten: mehr ist nicht drin!“ Mein Kopf nickt in die Tiefe des Raumes, in der dämmrigen beheizten Wärme sehe ich nur noch Schatten von Dir, mein Kopf geht auf sie zu, mein Kopf bewegt sich in sie hinein. Ich sitze an der Bar, schwer auf dem Hocker, ich spüre meine Füße nicht mehr. Ich stütze meinen Kopf in meine Hände. „Bis jetzt jetzt hab dich geschätzt: als Gast. Bis jetzt!“ Ich drehe mich zur Seite, zum Eingang. Ich sehe Dich durch den roten Samtvorhang kommen. Deine Blicke hasten an mir vorbei: sie verstecken sich vor mir. Sie suchen Deckung zwischen den Gästen, sie tauchen in der Menge unter, sie lassen meine Blicke hinter sich. Sie lassen Verachtung hinter dem Samtvorhang zurück. Sie wenden sich von mir ab, ohne sich mir zugewendet zu haben. Sie eilen an mir vorbei. Blicke, die getrieben sind von Verachtung, aber auch von der Verunsicherung, wie sie mit der Verachtung umgehen sollen. In ihnen hat sich Hass zurückgestaut. Ich stützte meinen Kopf - ich rede mit Dir, in Deinen Worten. Ich versuche, Dich zu meinen Worten zu bewegen, mich Deiner Worte zu versichern. Ich rede in mich hinein. „Bis jetzt!“ Ich schaue zur Tür: ich schaue auf morgen Abend. Ich schaue auf die Tür. Ich schaue wieder auf die Tür. Ich sitze in der Angst, Dir wiederbegegnen zu wollen – Dir wiederbegegnen zu wollen - sitze in der Angst – ich schaue auf die Tür; mit jedem Blick versuche ich die Stunden bis morgen abend zu überwinden. Ich versuche die Zeit heranzuholen, um an Deine Worte, meine Worte anknüpfen zu können. Ich versuche, in jeder Minute eine Stunde zu überwinden. Die Zeit bleibt stehen vor der Angst, Dir wiederbegegnen zu wollen. Ich will Dir wiederbegegnen; nur die Angst davor lässt Zeit unendlich fühlen. „Aber nur fünf Minuten: mehr ist ist nicht drin!“ Es wird mir unvorstellbar, die Zeit zu überwinden. Ich versage vor der Zeit. Die Zeit drängt mich immer weiter hinter die Augenblicke zurück, die ich bereits bewältigt habe. Deine Worte halten die Zeit auf, sie drängen sich vor die Zeit, so oft, wie Deine Worte in meinem Kopf nachhallen, sperrt sich mir die Zeit, drängt mich die Zeit wieder zurück in den immer noch kaum vergangenen Moment. „Aber nur fünf Minuten: mehr ist nicht drin!“ Du bietest sie mir nur an, um Dich auch ihnen zu entziehen: die fünf Minuten werden unter ihrer Zeit vergehen; die fünf Minuten werden vor meinen Worten vergehen. „Aber nur fünf Minuten: mehr ist nicht drin!“ – „Und wenn’s zwei, drei Minuten mehr wären, wäre das doch auch O.K.?“- „Mal sehen! Aber jetzt geh bitte!“ Ich stütze meinen Kopf – in der beheizten Wärme - ich fange an, Dir alles zu sagen, was ich Dir gerne sagen würde. Solange ich die Situation noch vor mir habe, bewahrt sie mich davor, sie nicht nutzen zu können. Die Zeit bis morgen abend bewahrt mich vor dem Augenblick, es wieder nicht gesagt zu haben. Die Zeit bewältigt meine Angst. Ich stütze meinen Kopf – ich stütze – ich stütze meinen Kopf auf der Theke auf, ich grabe meine Handballen in meine Augenhöhlen. Lichtpunkte. Ich sehe Dein Gesicht. Ein viel zu kleines Gesicht, kleine, spitze Lippen, auf denen der Schatten meiner Handballen liegt: „Simon, geht weg!“ Ich laufe wieder die Straße hinunter, die lange, sich steil windende Straße. Die Straße entweicht mir unter meinen Schritten. Sie dehnt sich, weich, dunkel, sie windet sich unter meinen Schritten. Ich stehe vor Deiner Tür. Ich rufe Deinen Namen – in den dämmrigen Rauch, in das dämmrige Licht einer dunklen Februarnacht. Ich liege im Bett. Durch die Ferne der Bilder rufen sich Deine Worte mir in Erinnerung: „Simon geh weg!“ Ich versuche, Dich doch noch in Deiner Tür aufzuhalten. Ich suche nach Worten, mit denen ich Dich doch noch hätte überzeugen können, mit mir zu reden, mich zu Dir reinzulassen. Meine Worte fallen unter Deine zurück. Ich stütze mich mit den Ellenbogen auf. Ich schaue hinaus und versuche mich an der Nacht zu beruhigen. Ich lege mich wieder hin, ich drehe mich zur Seite. Ich klopfe an Deine Tür, ich klingele, ich rufe Deinen Namen. „Simon, geh weg!“ - „Aber Dana, du kennst mich doch, wir kennen uns doch. Ich musste dich wiedersehen…“ - „Simon, geh weg!“ Deine Stimme schreit aus der Tiefe der Schatten, ich sehe Dich vor mir, aber Dein Gesicht verfließt, Dein Gesicht, die Tür, hinter der Du, nur einen Spalt geöffnet, hervorschaust, verrutscht, fällt nach vorne, auf mich, zu, „Aber du kannst doch nicht einfach hinter mein Haus gehen…“ Ich versuche, mich wieder zurückgehen zu lassen, ich gehe wieder auf Dein Haus zu, ich klingele, ich klingele und rufe Deinen Namen: so, wie Du mich gebeten hast. Ich rede mir ein, dass Du anders reagiert hättest, wenn ich – ich gehe von Deinem Haus weg und schaue nochmal nach hinten und sehe Deine Blicke, ich versuche nochmal umzukehren. Ich laufe durch - ich spüre meine Füße nicht – meine Tritte geben nach, versinken, der Weg gibt nach, meine Schritte versinken unter meinen Tritten. Ich drehe mich wieder um. Ich höre Stimmen, ich trete an Deine Tür heran, ich rede auf Dich ein, aber Du bist zu weit weg. Ich liege halbwach in der Angst, Dich wiedersehen zu wollen. Ich versuche, die Situation zurückzuholen, ich versuche einzugreifen und zugleich die morgige Begegnung vorauszuleben. Aber immer wenn ich mich so weit beruhigt habe, dass ich die morgige Situation auf mich zukommen lassen kann, treibt mich die Angst vor der Begegnung noch weiter in die Bilder, die sich in dunklen Schatten ineinander bewegen und sich gegenseitig beiseite drücken. Die Angst, dass die fünf Minuten, die Du mir angeboten hast, wieder nicht reichen, dass ich hinterher noch unzufriedener zurückbleiben werde. Daß ich aus der Not, etwas wegzulassen, auch neue Gedanken wieder nur beginnen werde, und dass Du mich wieder erst gar nicht dazu kommen lassen wirst, das zu sagen, was ich Dir vor allem sagen möchte. Die Bilder drehen sich vor mir, ich drehe mich um die Bilder, ich drehe mich um mich selbst, mein Kopf weicht aus und drängt immer wieder an elastische Wände, die aus den Bildern bestehen, die sich immer weiter überlagern. Aber in all der Angst, in all der Enttäuschung empfinde ich eine gewisse Beruhigung um meinen Zustand: die Schmerzen sind weg, und ich merke, dass ich durch meine Gefühle, meine verletzten Gefühle wieder zu mir komme, dass ich noch für meine Gefühle leiden kann, kämpfen kann… Ich liege auf der Seite - die Angst, Dir wiederbegegnen zu wollen - ich muss Dich wiedersehen - mich spannt die angstvolle Gewissheit, dass Du wieder nicht mit mir reden wirst, dass du mir wieder nicht zuhören wirst, dass Du mir keine Gelegenheit gibst - die Angst, noch mehr zurückgewiesen zu werden. Die Angst, dieser Angst zu begegnen. Die ängstliche drängende Verlangen, die bange Hoffnung vor der neuerlichen Enttäuschung. Ich muss mit Dir zu reden, Du wirst an meinen Worten ohne Blicke vorbeigehen. Die bange Angst, zurückgewiesen zu werden, dass Du mit verächtlichen, abweisendenden Blicken an mir vorübergehen wirst, an mir vorbeischauen wirst. Die Angst treibt mich in die Bilder: die Angst, dass Du mich bloßstellst, als Angreifer hinstellst, als ob ich… Die Bilder schieben sich in meinen Kopf, sie schieben meinen Kopf zur Seite, ich drehe mich auf die Seite, ich versuche, den Bildern auszuweichen, die Bilder geben nach, dehnen sich, sie wechseln die Seite. Ich versuche, unter ihnen durch zu tauchen. Die Angst treibt mich der Begegnung zu, in die Bilder; ich versuche, Deinen Worten auszuweichen, aber ich versuche immer noch, Dich mit meinen Worten aufzuhalten, Dich zu bewegen. „Simon, geh weg!“ Deine Rufe dringen durch die Tür. Dann ziehst Du sie ganz vorsichtig auf. Zwischen Zarge und Falz wirkt Dein Gesicht so klein, so unwirklich, so wehrlos und überfordert, verletzlich klein. Deine Lippe wirkt schmal, sie gibt Dir keinen Halt mehr. Du hast sie abwehrend unter Deine Oberlippe zurückgezogen. Beide Lippen umschließen die Verachtung, die aus Deinem Mund atmet, die aus Deinen Blicken argwöhnt. „Aber du kennst mich doch. Tu doch bitte nicht so, als ob du nicht wüßtest, wer ich bin.“ Ich habe Dir noch so viel zu sagen. Deine Worte holen mich ein, egal auf welche Seite ich mich drehe, die Bilder drücken meinen Kopf zusammen. Die Bilder fangen an zu fließen, sie biegen sich, biegen sich durch, geben nach, ich laufe durch die Bilder, laufe gegen sie an, laufe immer wieder auf Deine Tür zu. Meine Beine zucken unter der Decke, ich strampele durch warme Luft, meine Füße versinken in den Bildern. Meine Beine waten durch dunkle, warme Luft: die Luft gibt nach. Die Einfahrt, der Schotter, das überwachsene Gras geben nach, ich trete in den Boden. „Aber du kennst mich doch, wir haben uns doch ein halbes Jahr fast jeden Tag gegenübergestanden, du weißt doch, wer ich bin, ich möchte doch nur mit dir reden…“ –„.. aber nicht in meinem Haus. Du kannst morgen ins Lokal kommen.“ Ich gehe rückwärts, ich schließe das Gartentor wieder hinter mir, ich öffne es nicht: das Tor schließt sich wieder, mein Wille zieht das Tor wieder zu. Ich gehe wieder auf Dein Haus zu, ich klingele zweimal, dreimal, immer wieder, ich spreche mit Dir. „Aber du kennst mich doch. Du weißt doch, wer ich bin.“ Ich spreche mit Dir. Durch die verschlossene Tür, durch die offene Tür. „Aber Du kennst mich doch! Warum gibst mir das Gefühl, dass du dich vor mir in Acht nehmen musst. Du hast doch von mir nichts zu befürchten. Ich hab dich doch immer gut behandelt.“- „Du kannst doch nicht einfach hier her kommen.“ Mein Verlangen greift in die Bilder ein. Die Bilder lassen sich auf mich ein. Du lässt mich herein: ein grauer Schlafanzug mit Kordel. Ich setze mich auf die Flurtreppe. Ich stelle mir Dein Haus so vor: es ist doch ein altes Bergmannshaus; die Treppe zum Speicher muss doch direkt hinter dem Eingang liegen. Dein Gesicht steht vor mir, klein zaghaft, Deine Blicke starren schräg an Dir, an mir herunter, sie fallen hinter der zurückgezogenen Unterlippe ins Leere. Sie starren schräg nach unten und horchen in sich hinein. Sie weichen mir aus, um die vorgeführte Furchtlosigkeit einer jungen Frau nicht preiszugeben. Sie suchen halt an den Bodenfliesen. „Aber hast du denn wirklich geglaubt, dass ich dir was antun will? Du kennst mich doch. Dana, ich hab dich doch gern. Du bedeutest mir alles, und jemanden, der einem so viel bedeutet, dem tut man doch nichts an.“ Allmählich öffnest Du Deine Oberlippe und Deine Unterlippe verrät eine tiefe Rührung. Allmählich weicht die von vorgeführter Furchtlosigkeit zusammengehaltene Furchtsamkeit einem sicheren Lächeln. Dein Lächeln distanziert sich von den eigenen Blicken, Deine Blicke öffnen sich. „Darf ich mich kurz setzen?“ Deine Entschiedenheit ist nicht entschlossen genug, um mich hinauszubitten, und Deine Verlegenheit zu hemmend, um mir die Gastfreundschaft ausdrücklich zu gewähren. Ich setze mich auf die Treppe, in unschlüssige Blicke: sie gestehen es mir zu. Ich stütze meinen Kopf auf der Hand mit dem Ellenbogen auf meinem Knie auf. Ich stütze mich mit den Ellenbogen im Bett auf. Ich beruhige mich an der vertrauten Dunkelheit in meinem Zimmer: solange ich die Augen offen halte, hält sie mir die Bilder fern. „Aber woher hast du denn gewusst, dass ich hier wohne? Bist du mir nachgegangen?“- „Aber Dana, das ist doch absurd. Wenn du damit gerechnet hast, dass ich dir nachgehen würde, dann hättest du es doch auch bemerkt. Du kennst doch selbst den langen Weg hierunter. Wie soll ich dir denn da nachgehen, ohne dass du es merkst?“ Meine Worte bezwingen Deine Furcht. „Aber woher weißt du es dann? Hast du jemanden gefragt?“ - „Aber Dana! Dann weiß ja das ganze Dorf, dass ich dich suche…Es war eigentlich ganz einfach, und, na ja, ein bisschen Glück hab ich halt auch noch gehabt. Wenn es nicht direkt an der Hauptstraße gelegen hätte, hätte ich dich auch nicht gefunden. Aber ich dachte mir halt, wenn es dein Elternhaus ist, dann muss es doch ein älteres Haus sein, und vielleicht auch schon in der Generation davor erworben, und wenn du eben alleine hier drin wohnst, dann wird es wohl eher auch ein kleineres Haus sein...“ Ein zärtliches, nicht mehr verächtlich gemeintes, einfach nicht zu überwindendes Misstrauen, eine unschlüssige Verlegenheit, auch eine in ihrer Rührung befangene Scham bleiben in Deinen Blicken zurück. „Was machst du jetzt? Wirst du jetzt wegziehen?“ Die Szene reißt auf. Die Bilder entweichen. Ich stütze mich mit meinen Armen auf. Ich versuche mich an der Luft meines Zimmers, an meiner eigenen Atmung zu beruhigen. Ich bleibe auf dem Rücken liegen. Für einen Augenblick fühlt sich der Kopf etwas leichter an. Nur solange ich die Augen offen halte, kann ich die Bilder von mir fernhalten. Sie fallen mir zu, ich drehe mich wieder auf die Seite, versuche, mich aus den Bildern rauszudrehen. Sie umfangen mich wieder . „Simon Geh weg!“. Ich stehe vor der Tür, ich rufe Dich, versuche Dich, zu besänftigen. Du machst mir nicht auf. Du öffnest die Tür, aber nur einen Spalt. Du lässt mich nicht rein. Du lässt mich nicht reden. „Aber Dana, du kennst mich doch, tu doch bitte jetzt vor deinem Nachbarn nicht so, als ob du nicht genau wüßtest, wer ich bin.“ „Simon Geh weg!“ Ich höre Deine Stimme, ich höre Stimmen, sie mischen sich unter Deine Worte. Ich sitze wieder am Tisch. Ich erkenne niemanden, ich verstehe die Worte nicht, aber Stimmen reden auf mich ein, brennen sich in mich ein. Jemand bohrt mir eine glühenden Eisenstab ins Hirn. „Du drängst dich den Menschen immer auf!“: aus den Stimmen löst sich der Ton meines Vaters, aber ich sehe ihn im trüben Schatten nicht. Nur seine Blicke brennen durch die das trübe Dunkle, irgendwo in der Tiefe, irgendwo in der Tiefe des Raumes sehe ich den Eßtisch, in der alten Küche, der Tisch direkt an der Wand – ich stütze mich wieder auf. „Simon geh weg!“ Ich stütze meinen Kopf auf meine Hände; meine Ellenborgen stützen sich auf die Theke. Ich versuche mich an der beheiztem Wärme, dem verzogenen Rauch vom Vorabend zu beruhigen. Ich stehe auf und schau von unten durch die Galerie. Kurz vorher bist Du, so gegen halb eins, ins Lokal gekommen, obwohl Du eigentlich erst abends um neun kommen wolltest. Das Geländer liegt auf Deinem Gesicht. Mir ist’s, als sähe ich zwischen jedem Geländerstab Dein Gesicht. Abscheu, Verachtung düstert durch die Stäbe. Durch den verzogenen Rauch schimmert die Feuchtigkeit Deiner Haut, im Schatten Deiner Blicke. Unter der furchtlosen Entschlossenheit schimmert zarte Verletzlichkeit durch: eine Verletzlichkeit, die sich bemühen muss, sich nicht durch das unbewusste, leere Öffnen der Lippen zu verraten. Da Du früher gekommen bist, muss ich nicht weiter die Zeit überwinden, bis Du später gekommen wärst. In dem Moment, wo Du durch den roten Samtvorhang hereinkommst, spüre ich die Zeit, die ich die ganze Nacht überwinden musste: Du trittst in die Zeit ein, die ich ungeduldig, angstvoll noch zu überwinden habe, bis Du abends kommen würdest. Du trittst ein in die Zeit, die ich noch so gerne vor mir hergeschoben hätte, um in der Geborgenheit des noch nicht Zurückgewiesenseins mir Deine Abneigung weiterhin als Zuneigung hinstellen zu können, um weiterhin auf Deine Worte hoffen zu können. Ich habe Angst vor der Erwiderung meiner Worte: jetzt muss ich den Augenblick bewältigen, den ich eigentlich noch vor mir herschieben wollte. Ich verkrafte das Fordern der Zeit nicht: Angst vor der Gelegenheit, die ich ängstlich erwartend kaum erwarten konnte: ich möchte so gerne noch die Worte nachreichen, zu denen ich wieder nicht kommen werde. Die Angst, sich der erhofften Gelegenheit stellen zu müssen, nicht mehr in den Augenblick eingreifen zu können, nicht mehr auf den nächsten hoffen zu können: es wird keinen nächsten mehr geben. Dann stehen Deine Blicke plötzlich vor mir, gesenkt: Blicke, die ihre eigene Befangenheit und Hilflosigkeit und Unentschiedenheit hinter Hass und Entschlossenheit verstecken. Blicke, die mit ihrer eigenen Verlegenheit, mit ihrer Überforderung nicht zurechtkommen. „Aber nur fünf Minuten!“ „Dana, ich…“ „Aber du kannst doch nicht vermummt um mein Haus schleichen.“ „Aber Dana, ich war doch nicht vermummt. .. Ich wollte dir keine Angst machen. Ich wollte doch nur..“ „Du bist einfach hinter mein Haus gegangen.“ „Aber du hast mich doch bestimmt erkannt. Ich hab doch nur… weil alles dunkel war, weil ich sehen wollte, ob überhaupt jemand da ist…“ „Du hättest ja rufen können, ob ich da bin… Du hast eine Grenze überschritten!“ Du sprichst Deine Worte an Dir herunter. „Und was mache ich jetzt mit den Geschenken? Ich weiß natürlich nicht, ob du sie jetzt nach alldem noch haben willst. Das Problem ist nur: es ist auch was für Jana dabei.“ „Das musst du entscheiden!“ „Aber Dana, du musst doch selbst wissen, ob du die Geschenke von mir annehmen möchtest. Das kann ich doch nicht für dich entscheiden.“ „Dann nehme ich sie halt.“ Deine Hände greifen von keinem Willen bewegt nach der Tüte, aber Deine Blicke versuchen, zwischen den Geschenken und Dir selbst meinen zu entgehen. Du presst die Lippen zusammen. Sie halten unschlüssig-entschieden jene Worte zurück, die Dein Gefallen an den Büchern verraten würden. Deine Gestik verbittet sich die Vertrautheit, die die Geschenke hilflos einfordern. Du nimmst sie entgegen, aber nicht aus meinen Blicken. Deine Hände greifen nach ihnen. „Aber kann sein, dass ich sie wegschmeiße!“ Deine Hände untergreifen sie und drücken sie mit dem Arm fest an ihren Körper. Du nimmst Deine Tasche und ziehst Deinen Schal fest. „Aber du hast doch gesagt: fünf Minuten. Ich möchte dir doch nur…“ „Das waren fünf Minuten!“ „Gibst du mir zu Verabschiedung wenigstens Deine Hand?“ Unter Deinen Blicken, die Dein Hass starr an Dir herabsenkt, liegt auf Deiner Unterlippe, wenn auch unscharf, unter dem Schatten Deiner Blicke wieder Deine verlegene Rührung. Unter der undeutbaren Regung ruhen Deine Blicke zart, fast wehrlos in ihrem eigenen Schatten auf Deinen Wangen. Was für eine schöne Haut Du hast. Zum ersten Mal, Dana, sehe ich Dich ohne Make up. Wie anmutig zart, seiden Deine Haut in ihrem olivgelben Ton, im Schatten des vom trüben Regen dunklen Lokals fast ein wenig violett glänzt, wie unberührt Deine Haut glänzt. Unter ihrem Glanz, in ihrem ganz bescheidenen, unberührten Ton atmet Deine Erregung, aber unter dieser Erregung ruht noch immer eine gewisse beschämte Rührung. In Deinen Lippen, die Du beide ein wenig zurückziehst, vergrämt sich Dein Stolz. Aber er leuchtet trotzdem durch. Du streckst mir Deine Hand aus, aber als ich sie fast greifen kann, ziehst Du sie wieder zurück. In Deinen Augen lese ich Deine eigene Verwunderung darüber, dass Du sie mir beinahe freimütig gegeben hättest; den eigenen Schrecken über eine Unbedachtheit: plötzlich wird Dir klar, dass der Händedruck zur Verabschiedung nicht zu Deiner Entrüstung passt. Die beschämte Rührung zieht sich wieder hinter Deine Unerbittlichkeit zurück. Deine Unerbittlichkeit verleugnet Deine Scham, Du verleugnest Dich durch sie. „Nein, ich geb‘ dir keine Hand. Ich ziehe jetzt weg. Wir werden uns nie wieder sehen!“ ENTR’ACTE II Der Morgen schiebt sich hinter den Sprossenfenstern über die Gefächer dem Mittag entgegen. Das kühle Licht der frühen Stunden: nur durch die Fenster spüre ich seine Wärme. Die Tische und Stühle sind über Winter zusammengebaut. Nur ein paar Tische stehen noch frei im Hof. Die feuchte Luft saugt sich in das Teakholz, das kühle Licht bleicht das Teakholz aus: ein olivgelber Hauch; er versinkt in den Rillen. Die aufgestapelten Tische geben den Blick auf den leeren Hof frei. Er wirkt auf einmal so klein. Die Tische geben den Blick frei auf die roten Bodenziegeln. Sie liegen noch immer im Schatten des Hofes, später schimmern sie weinrot unter dem feuchten hellen Licht: das frühe Licht eines Märzmorgens, indem das Licht des vergangenen Sommers durchscheint und schon wieder an Kraft gewinnt. „Bei dir noch alles in Ordnung? Ich mache mal die Tür kurz auf, dass der Rauch ein bisschen rauszieht.“ Die Kärntnerin: sie ruft den Morgen in mir wach. Ihre Stimme kündet von dem beginnenden Tag wie der halbverzogene Rauch und die Stimmen der Fahrer, die die Lieferung für den Tag reintragen. „Ja, so weit. Und bei dir?“ „Morgen abend mach ich zusätzlich, dafür bekomme ich dann den Montag frei.“ Ich entfalte eine der Zartbitter Schokotäfelchen: sie hat mir eigens eine Untertasse nur mit Schokotäfelchen gebracht. Über die Kaffeetasse breite ich die Frankfurter Allgemeine aus und stecke mir eine Brasil an. Der Rauch steigt in meine Gedanken auf: „Wir werden uns nie wieder sehen!“ Nun ist es also schon einen Monat her, Dana. Samstags drauf, also gleich am anderen Tag, ist übrigens Jana vorbeigekommen. „Jana, was denkst du jetzt über mich? Ich meine, du hast doch damals zu mir gesagt, daß ich… ich meine…ich wollte sie doch nur wiedersehen…“ „Ich glaube, das hatte zunächst mal gar nichts mit deiner Person zu tun. Sie hätte sich wahrscheinlich jedem anderen Mann gegenüber genau so verhalten. Sie hat da halt schlechte Erfahrungen gemacht…“ „Ich weiß. Sie hat das mal erwähnt…aber ich hab halt nicht geglaubt, daß sie vor mir… ich meine, sie kennt mich doch…“ Aber das weißt Du ja… Meine Gedanken verlieren sich im Rauch. Ich schaue meine Gedanken in den Rauch. Er steigt vor meinen Augen auf und mischt sich unter den Rauch, der noch vom Abend vorher unter der Decke hängt, unter den Lautsprechern: er legt sich über die Musik, die aus ihnen spielt. Durch die Sprossenfenster schiebt sich der Tag immer weiter über die Gefächer hinweg, das Licht steigt immer höher zu den Firsten auf und fällt zugleich immer tiefer in den Hof. Das Teakholz schimmert feucht auf, die Bodenziegeln spiegeln die Wärme. Ich schaue durch das Bistro nach vorne auf den Markplatz. Die Lieferwagen geben den Blick auf den Markt wieder frei. Vereinzelt durchqueren Leute die stumme Öde, die in dem feuchten Licht eintaucht, dessen gelbe Wärme die grauen Pflastersteine überzieht: eine olivgelbe Wärme. Die Pflastersteine spiegeln sie durch die Bodenfenster auf das dunkelrustikale Parkett: sie bleichen die Dielen hellbraun, cremeweiß auf. Lichtschatten liegen auf dem Boden, das Holz wirft das Licht nach hinten, in den Teil des Bistros, der eine Stufe erhöht liegt. Ein Licht, das zu schwach ist, den Raum aufzuhellen, aber ihn trotzdem erfüllt. Ein Hauch von olivgelbem Licht, das sich unter den bräunlich-würzigen Rauch meiner Brasil legt. Ein Hauch erfüllt von Rauch. Meine Gedanken steigen in den Rauch auf, sie steigen in das Licht auf: das Licht, das zu schwach ist, die Leere des Raumes zu füllen. Zu schwach, um die Wangen des Mönches glänzen zu lassen, der noch immer stolz seine Flasche Fernet-Branca in seinen Armen hält. Sein Stolz ist nicht mehr Dein Stolz. Ich stehe auf und schaue in den Hof hinaus. Zwei der großen Sonnenschirme sind noch aufgespannt, nur dass sie jetzt in dem schwachen Licht kaum Schatten werfen: einzelne Äste des Blauregens ragen über ihnen in den Hof: sie sind noch bis in den Februar grün. Und doch ruht in dem leichten Schatten unter ihnen die Erinnerung als schwache Trübung. Einzelne Kurven winden sich vorbei an gelben und roten Verblendsteinen die Straße hinab ins Tal. Aber durch die Trübung hindurch sehe ich nur die Gefächer, die allmählich von hellem Schein überzogen werden. Die Sonne geht auf den Bodenziegeln auf. Rote Ziegeln. Ein Bergmannshaus. Unverputzt. Eine kleine Einfahrt, leicht ansteigend, mit Gras überwachsen. „Simon, geh weg!“ Die Märzsonne hebt sich über das Dach hinweg, unterm Frost verkrustete Beete schimmern silbrig in den blauen Morgen, die Märzsonne drängt die Schatten des Hauses zurück auf die Fassade. Ich sehe über das das Dach, ich sehe über die Dächer, über die Ortschaft hinweg. Die Sonne schiebt sich über die Gefächer auf die Firste zu. Das Teakholz trocknet matt aus. Was mache ich nun mit dem Brief? Er hat seinen Grund verloren: ich empfinde ihn nicht mehr. Die Wochen, die mich von Dir trennen, trennen mich auch von meinen Gefühlen für Dich. Meine Gefühle sprechen mich nicht mehr an, mein Wille ist mir fremd geworden. Der Brief hat seine Nähe verloren. In meiner Scham verliert der Brief seinen Sinn; seine Worte beschämen mich. Ich besitze das unbedingte Verlangen, die selbst auferlegte Verpflichtung nicht mehr, mich erklären zu wollen. Ich schäme ich ein wenig für mein Bedürfnis, mich Euch zu offenbaren: mein Bedürfnis ist mir unangenehm. Ich schäme mich für mein vergangenes Anliegen. Die Sätze haben ihre Absicht verloren, sie beschäftigen mich nicht mehr. Meine Erinnerungen beschäftigen mich nicht mehr. Ich kann meine Gefühle nicht mehr in Anspruch nehmen. In dem einfallenden Licht vergeht für einen Augenblick meine Scham, in seiner Wärme liegt Zuversicht... in dem Licht finde ich wieder zu meinen Gefühlen zurück… einstige Gefühle… nachträgliche, überdauerte Gefühle… „Na, immer noch alles in Ordnung?“ „Ja. Was macht die Kleine?“ „Stell dir vor, die ist zu Hause, in der Heimat…Ist nichts los heute morgen… ruhig…irgendwie total ruhig“ Ich werde den Brief wohl nicht zu Ende schreiben, abschicken kann ich ihn ja ohnehin nicht… aber der Stolz über das bereits Geschriebene… rettet ihn für einen Moment lang meiner Beschäftigung… Meine Gedanken verlieren sich im Rauch. Ich schaue meine Gedanken in den Rauch. Sie steigen vor meinen Augen auf und mischen sich unter den Rauch, der sich über die Musik legt. Das Licht, das flach über die Pflastersteine durch die Bodenfenster hereinfällt, weitet den Raum, weicht den Rauch auf, das Parkett streckt sich in das Licht, das Licht bleicht das Parkett hellbraun auf, es wärmt die Wände: breite, staubige Streifen legen sich über die Bilder: die Wangen des Mönches schimmern unbeteiligt auf: ein ferner, vergangener Glanz, dem die Kraft fehlt, in dem keine Erinnerung mehr ruht: das Licht, das den Tag in den Raum drückt, dem die Kraft der Erinnerung fehlt; das Licht, aus dem ich keine Erinnerung mehr sehen kann; das Licht, das sich auf die Wände, auf die Stühle, auf die Tische, auf das Parkett legt, auf denen zuletzt die Erinnerungen ruhten: das Licht deckt sie zu. Ich schaue auf die Glastür, die nach innen ins Bistro offensteht, damit der Rauch abziehen kann, ich schaue auf das Parkett: einzelne Züge, Blicke, Falten einer weißen Bluse bewegen sich auf mich zu. Immer, wenn ich versuche, Dein Gesicht im Raum festzuhalten, lösen sich Deine Blicke auf, immer, wenn meine Blicke versuchen, Deine Bluse festzuhalten, verlieren die Falten ihre Tiefe, wird sie von dem Licht durchlöscht, zu Deinen Schritten gehören keine Blicke, zu Deinem Gesicht gehören keine Schritte. Für einen Moment stehen Deine Blicke wieder vor mir, aber ich sehe durch sie hindurch auf das graue, kühl beschienene Pflaster, in der Tiefe Deines Gesichtes liegt der leere Raum, das Licht, das den Raum weitet, scheint durch Dein Gesicht hindurch. Der Märzmorgen verleiht Dir keine Tiefe mehr: ein Gesicht ohne Züge; das Licht zieht Deine Haut in sich auf, zieht durch sie hindurch, die staubig, bleichen Streifen werfen nur eine Ahnung von Dir in den Raum. Die Jahreszeit kennt Dich nicht mehr: ich kann Dich in ihrem Licht nicht fassen. Ich kann Deine Züge und Blicke nicht mehr zusammenfügen: ich kann das Licht nicht überwinden, ich kann das Licht nicht durchbrechen: das Licht bleibt undurchdringbar leer. Ich kann nicht mehr hinter das Licht blicken. Dem Licht fehlt die Kraft der Erinnerung. Morgenscheinende Flut, die sich in blassem Licht über die Wände legt, die sich über meine Erinnerungen legt, die meine Erinnerung in trübes weiß, gelb ausmischt. Meine Augen treffen Deine Bewegungen nicht mehr. Ich kann meine Erinnerungen nicht mehr in den Raum zwingen. Deine Beine schreiten unter der leeren Flucht über das Parkett auf die Bodenfenster zu, Dein Gesicht wird von Deiner Bluse getragen, aber immer, wenn ich Dein Gesicht fassen will, verliere ich Deine Beine. Das Licht durchflutet meine Erinnerungen. Ich suche meine Erinnerungen auf den Bildern an Wand, auf den Tischen, auf dem Parkett in der Wärme des Morgens, der draußen kühl über den Pflastern aufgeht. Ich komme die Stufen aus dem Bistro herunter. „Herr Weber! Die, die Sie suchen, kommt nicht mehr!..“ Die Chefin. „Ich suche nur die Zeitung!“ Ich sitze wieder an meinem Tisch. Der Morgen hat sich bis zu den Firsten vorgeschoben. Die Dächer ruhen im Mittag. Meine Tasse ist leer. Das Licht legt sich über meine Gefühle: es erleichtert mich; es befreit mich. „Wir werden uns nie wieder sehen!“ Meine Gedanken verlieren sich im Rauch. Ich schaue meine Gedanken in den Rauch. Sie steigen vor meinen Augen auf und mischen sich unter die Musik, der die aus den Lautsprechern dringt… DRITTER TEIL Das Gemüsemesser schneidet sich in die Tomate, halbiert sie, in zwei gleiche Teile, wie jeden Abend. Das Messer wird geführt von Fingern, die das Messer nicht mehr richtig greifen können, die sich selbst am Heft festhalten und sich mit der Schneide in die Tomate abstützen, sie leicht auseinanderdrücken. Dick, fleckig, von der Bergluft ausgetrocknet, von dem jahrelangen Graben in der Erde ausgelaugt und rissig geworden, auch ein wenig verkratzt, aber gesund. „Ißt du abends immer noch nur Gurken und Tomaten?“ „Ja, es hat mir damals sehr geholfen. Nicht nur, dass ich wieder abgenommen habe; es hat mir auch seelisch geholfen. Irgendwie hat sich die Leichtigkeit des frischen Gemüses, das Aroma der Petersilie an den gesalzenen und gepfefferten Gurken, mit der sauren Frische der ausgedrückten Zitrone immer auch auf meine Stimmung übertragen; die Leichtigkeit, die ich im Magen fühlte, fühlte ich dann auch im Kopf. Ich meine, die Frische des Gemüses hatte etwas Unverbrauchtes, etwas Ursprüngliches: Das Unverbrauchte und auch die Frische haben etwas Unbelastetes, sie tragen die Gedanken zurück in die Kindheit. Die Benommenheit, in der ich damals Wochen und Monate durchlebte, schien von der Frische, die ich im Mund hatte, von dem ätherischen Öl, das sich aus der Petersilie löste und mir auf der Zunge lag, irgendwie gelöst zu werden; jedenfalls für einen Moment. Es lag sicherlich daran, dass ich diesen Geschmack mit meiner Kindheit auf dem Land verband. Damals, als es mir noch gut ging, oder als ich zumindest noch nicht bemerkt habe, was...“ Ich ziehe den kleinen weißen Teller mit dem blauen Rand aus dem Abtropftrockner, einen von den Tellern, die ich nie einräume, weil ich sie ja ohnehin ständig brauche. „Aber ich spürte damals schon, dass ich, wenn überhaupt, nur dort draußen, auf dem Land, mich wenigstens für ein paar Tage annähernd so bewegen durfte wie ich wollte“ „Haben deine Großeltern dich dann nicht so kontrolliert?“„Jedenfalls nicht so sehr. Ich war ja den ganzen Tag immer draußen im Garten bei meinem Opa..“ Jana dreht ihre nach hinten zusammengezogenen Haare zu der kleinen Vitrine, wo auf dem obersten Glasregalboden noch immer die vier Fotos aufgestellt sind, auch das, wo ein bejahrter Mann, hinten auf der Koppel, einen Handstand macht, und auch das mit dem provisorischen Holzgrabschild, und nähert sich, meinen Worten folgend, mit ihrem Empfinden einer Person, die ihr zwar fremd, aber meinen Worten nach längst vertraut ist, und der sie sich Jahr für Jahr durch das immer neuerliche Betrachten der vier Bilder ein Stück näher fühlt. Janas Hände rühren noch ein, zwei Mal die Carbonarasoße um: auch ihre Hände sind schwächer geworden, aber nicht so abgearbeitet wie meine: nicht nur, weil sie noch immer vierzehn Jahre jünger ist, sondern weil ihre Hände schreibende Hände sind, vielmehr mehr als meine. Auf ihren Händen liegt, mit den Jahren noch intensiver als früher, der hautschimmernde Glanz eines Intellekts, der so viele tief und vor allem ehrlich empfundene Geschichten hervorgebracht hat, der uns ferne Länder auf eine so verständnisvolle, einfühlsame Weise nähergebracht hat, stets getragen von echter Anteilnahme und tiefen Respekt gegenüber den Menschen, über die ihre Finger schrieben. Auch ihre Haut ist faltiger geworden, aber über den Falten liegt eben jener Glanz ihrer Haut, aus der ihr Intellekt noch immer so bewegt atmet. Meine Blicke fallen auf ihre Fingerkuppen: jene Kuppen, die mit der Kraft ihres Intellekts und der Bedachtsamkeit ihres Wesen all die Jahre den Tasten ihres Laptops die Worte, die ihr Intellekt sich erdacht hatte, anvertraut haben. Dieselben Hände, die früher das Geschirrtuch umgriffen und die Bestecke durchzogen, und mit denen sie dann, mit der Zeit immer flinker und wendiger die Bestecke in die Papierservietten gedreht hat. „Nun, er hat zwar vieles nicht mehr verstanden, vieles passte einfach nicht mehr in seine Vorstellungen, aber Du hast Dich auf ihn immer verlassen können. Er war zwar stur, eingefahren, vielleicht auch etwas engstirnig, vielleicht auch manchen Leuten gegenüber voreingenommen, auch oft jähzornig, aber Du hast Dich immer auf ihn verlassen können. Das sagen auch heute noch alle von ihm, die ihn kannten und denen er jede Minute seiner freien Zeit geschenkt hat.“ Jana schüttet das kochende Wasser ab und richtet zwei Teller Nudel an. Ich nehme meinen Gurkensalat und meine aufgeschnittene Tomate und Jana geht mit mit den beiden Tellern Nudeln vor, hinter der kleinen Bar vor, um den gemauerten Träger herum. „Natürlich ist er auch oft ausgenutzt worden“ Meine Blicke bleiben an dem gemauerten Träger hängen: Da ist er plötzlich wieder, der weinrote Schimmer. Er überzieht ihn, rundet seine Kanten zu einer Säule ab, und für einen Augenblick sehe ich wieder den roten Deckenträger, der sich von dem rustikalen Parkett abhebt und an dem entlang der Blick zu den Stufen rauf ins Bistro führt. Janas Schritte lassen sie, immer noch mit den Tellern in der Hand, hinter ihm vortreten, eh sie innehalten: ihr enganliegendes, zurückgezogenes Haar bleibt halb hinter dem Träger zurück. Ungläubig dreht sie sich zu mir herum. Aber jene Ungläubigkeit ist der Ausdruck von einer beinahe bestehenden Gewissheit, die aber verlegen berührt zurückgehalten wird; die Ungläubigkeit ist kein Unglaube, sondern nur ein erwartungsvolles Abwarten: aus ihren Augen leuchtet eine zarte, lila zarte Rührung, getragen von der freudigen Erregung, auch noch Jahre danach, nun, nachdem ihre Haare ihren umbrabraunen Glanz an die Vergänglichkeit abgegeben haben, mich mit ihrer Erscheinung noch immer entzücken zu können. Ihre Blicke lösen meine von dem Träger ab und ziehen sie zu sich herüber. Und ihre Haut nimmt wieder jenen weinroten Schimmer an, und sie haucht wieder ihr zartes lila in den Raum. „Simon!“ So wie sie noch immer mit ihren beiden Tellern vor der Anreiche dasteht, stehe auch ich mit meinem Teller noch immer dahinter. Und sie zieht ihre Eindrücke wieder in die Tiefe ihrer Augenhöhlen in sich hinein, senkt ihre Eindrücke an sich herab mit einer nach links innen drehenden Bewegung ihres Kopfes; dann dreht sie ihn wieder nach rechts und schaut sie unter ihren Augendeckeln hindurch zögernd zu mir herüber, dann zur Seite weg in den Winkel der Selbstvergewisserung, in dem plötzlich Dana steht: von ihrer Wahrnehmung werden Janas Blicke zur ihr rauf gelenkt. Dana ist jetzt erst aus ihrem Zimmer runtergekommen. Sie hebt ihren Kopf an, neigt ihn seitlich und schaut genußvoll über ihre Brahmssche hinweg auf die angerichteten Teller. Später sitzen wir noch eine Weile zusammen. „Jana, wie war das jetzt genau mit deiner Zeitung?“ Ich frage sie das jedes Jahr; nicht weil ich es mir nicht mehr merken könnte, sondern weil ich es einfach immer wieder hören möchte. „Also...“ Janas Blicke empfangen, wie in alten Tagen, aus der Tiefe ihrer Augenhöhlen ihre Erinnerungen, nur dass sich mit den Jahren ihre Unbeirrbarkeit gegen ihre Ungläubigkeit durchgesetzt hat und ihre Blicke, ihre ganze Erscheinung von einem entspannten, wohlbemessenen Selbstbewusstsein erfüllt sind. „Also, ich glaube, sie haben meine Texte nie wirklich geschätzt, aber ich habe sie halt immer wieder überlistet. Ich habe mich immer genau an ihre Vorgaben gehalten, aber eben nur scheinbar, der äußeren Form nach. Aber unter der Unscheinbarkeit meiner Worte habe ich meine Meinung doch immer unmissverständlich und für jeden erkennbar formuliert. Vielleicht wäre es auch nicht mehr lange gut gegangen, bis ich dann den Reisebericht über die Lausitz schreiben durfte. Das hat den Lesern dann so gut gefallen, dass schließlich der Reiseverlag auf mich zukam und mir angeboten hat, einen Band der neuen Serie zu schreiben. Da fiel mir dann mein Tagebuch wieder ein, und ich habe ihnen vorgeschlagen, mich doch den Band über Amerika schreiben zu lassen. So bin ich dann, Jahre danach, wieder an die Orte meiner ersten großen Reise überhaupt gekommen“, und in einem Ton, der von einem gewachsenen und angemessenen Stolz getragen wird, ohne ihn nach außen zu tragen, in dem Bewusstsein, über all die Jahre ein sprachliche Erhabenheit erlangt zu haben, in der sich die jahrzehntlange Suche nach immer neuen Ausdrucksmöglichkeiten, aber auch die Erfahrung eines bewegten Lebens ausdrücken, fügt sie hinzu: „ So habe ich all meine Erinnerungen wieder aufsuchen können.“ Jana verzögert mit wartenden Blick ihre eigene Worte. Sie glaubt, in meinen gläsernen Augen sehen zu können, dass ich die Metonymie bemerkt habe, senkt jedoch ihre Blicke sofort wieder etwas ungläubig unter sich – unter meine Augendeckel herab, weil meine Lippen ein ausbrechendes Grinsen nicht mehr zurückhalten können. Sie schaut noch ungläubiger als zuvor, leicht verunsichert hört sie ihre eigenen Worte in sich hinein, für einen Augenblick traut sie ihren eigenen Worten ihre Schlüssigkeit nicht mehr zu, und schaut rüber zu Dana, in den Winkel der Selbstvergewisserung, noch immer meine Worte abwartend. „Ich habe mir nur gerade vorgestellt, wie so ein Mäuschen durch die Straßen von San Diego huscht!“ Jana zögert ihre Blicke eine Weile in den Raum hinein und schaut mit dem Stolz ihres Alters und doch ein wenig verlegen, dass sie immer noch das Mäuschen ist, zu Dana rüber, die wieder ihren Kopf seitlich nach oben neigt: in der Rundung ihrer Unterlippe liegt ein behagliches Gefallen; weiß sie doch, dass mein Entzücken auch ihr gilt, dass ich auch sie noch mit den selben Augen sehe wie damals, im Lokal, und dass mir auch ihre Erscheinung noch genau so lieb ist wie früher. Jana versucht, mir ihre Rührung zurückzugeben. „Dafür hast du den Brief an uns geschrieben…“ Und mit einem Lächeln, das sich nur an Eingeweihte wendet: „… den Brief, den du nie abgeschickt hast…“ Ich schaue über meinen Handrücken hinweg auf mein Buch zurück: das Buch, das mir ihre Freundschaft gerettet und über die langen Jahre hinweg erhalten hat, ohne das sie in diesem Moment vermutlich nicht bei mir, in meiner Hütte, vor dem offenen Kamin sitzen würden. „… und du hast deinen Brahms gehabt. Ohne dich hätte ich nie den Zugang zu seiner Musik gefunden; jetzt lässt er mich nicht mehr los…“ „… so, wie er mich auch irgendwann mal nicht mehr los gelassen hat.“ Ich schaue zu Dana rüber, um meine Rührung an sie weiterzugeben. „Ach, ja. Du kennst doch meine Geschichte!“ „Bitte, Dana!“ Sie hält ihren Rotwein in der Hand und schaut ihre Erinnerungen in die mostige Tiefe des Glases. „Als ich in Sidney ankam, hab erst mal wieder ganz unten anfangen müssen. Aber es war halt doch was ganz anderes. Es hat einfach viel mehr Spaß gemacht. Und dann, na ja…“ Ihre Brahmssche gibt ein verlegenes Lächeln frei und der Stolz auf das in jungen Jahren hart Erarbeitete hebt ihre Oberlippe an, und in ihren Wangen spiegelt sich die Sonne Australiens. „Aber Dana, du weißt, dass ich immer auf deinen unbeugsamen Willen und deine Durchsetzungskraft vertraut habe, dass ich immer auf dich gezählt habe. Ich wusste, dass du es eines Tages so weit bringen würdest. Dein Hotel wird doch unter den ersten Adressen dort gehandelt?“ „Ja, ja Simon!“ „Aber Dana?!“ Über ihren Wangen und ihrer Stirn öffnet sich gelbweißes Licht, dass sich auch auf die im grauen Schatten der Wolken versunkenen weißverputzten Wände legt; in der frühabendlichen Märzsonne erglühen ihre olivgelben Wangen noch verlegener; noch stolzer, noch olivgelber: zum Abend ist es noch mal schön geworden. Die Wolken reißen auf und lassen breite, gelbweiße Streifen auf die Beete fallen. Wir gehen hinaus in die etwas kühle Luft, aber vom Boden her steigen schon die ersten Blütendüfte auf. Jana bleibt nahe bei mir, und ich breche ihr nach einander die ersten Triebe von Rosmarin, Thymian, Lavendel, Pfefferminz und Bohnenkraut ab. Sie zerreibt sie sich unter der Nase zwischen ihren Fingern; sie kennt das schon. Ich breche sie ihr jedes Jahr ab, aber so früh im Jahr gibt es halt noch nichts anderes. „Die Kartoffeln werde ich dieses Jahr dort drüben setzen, den Salat hier herüber. Der ist dort letztes Jahr nicht gut gegangen.“ Über den Gartenzaun legen zwei Schafe und meine einzige Ziege ihre Köpfe. Ich versuche, meine eigene Seligkeit in Janas Augen wiederzufinden – und sehe, an ihr vorbei, ganz unten am Ende des Gartens, am Hang Dana stehen: mit dem Rücken zu uns, schaut sie hinab die Weite des Tales. Der Wind hebt ihr Haar an, in immer stärkeren Wellen. In ihren Wellen, in jeder ihrer Strähnen liegt die Weitläufigkeit der Welt, als ob ihre Spitzen die Welt umschlossen, die Weite Australiens, die sie in diesem Moment in die unendliche Tiefe des Tals hineinschaut; nur dass ihr dunkelblondes Haar mit den Jahren seinen goldenen Ton verloren hat und nun hellblond ausgeblichen ist; aber ihren seidigen Glanz haben sie behalten. Da steht sie, ganz versunken in ihr langes Leben, das auch hinter ihr schon liegt, ihre Sandalen in der Hand. Und der Wind hebt ihr in leichten Wellen herabfallendes Haar immer schneller an, wider und wieder, und lässt es unbeschwert in der Luft stehen: ihr Haar öffnet sich und legt sich, vom Wind getragen, über die Weite des vor ihr liegenden Tals; und er hebt ihren sandfarbenen Sweatrock an, der seinerseits die Schatten von ihren olivgelben Beinen hebt. Jana schaut behutsam zu mir herüber: sie spürt meine Ergriffenheit, und sie möchte die Stille des Augenblicks nicht stören. In ihren Augen spiegelt sich meine eigene Ergriffenheit: „Schau, Dana hat immer noch ihre schönen Waden.“ Berührt von meiner Entzückung, die in diesem Moment Dana gilt, nimmt sie meine Entzückung mit ihren Blicken auf und richtet sie mit ihren eigen Augen auf Dana, der sie mein Entzücken gönnt: es ist auch ihr eigenes Entzücken für ihre langjährige, beste und engste Freundin. Aber Dana steht noch immer mit dem Rücken zu uns, umweht von der Weltläufigkeit ihrer Haare, scheinbar regungslos. Aber ich sehe unter den sich ständig wieder aufwerfenden Haaren über ihre Wangen hinweg, wie sich ihre Mundwinkel zu einem Lächeln zusammenziehen, das unsichtbar ihre Wangen umspielt und an ihren Schläfen entlang zu mir herüberstrahlt. Dann dreht sie sich um, und ihre etwas scharfen Augenbrauen tragen ihre Erhabenheit in die späte Frühlingsonne. Dana, selbst gerührt von ihrer eigenen Ausstrahlung, in dem Bewusstsein, sich trotz ihres gesellschaftlichen Aufstiegs jenes Ursprüngliche, Ungezwungene, Unvoreingenommene und Weltoffene in ihrer Haltung bewahrt zu haben, kommt auf uns zu, gegen den Wind, den Wind im Gesicht, der ihr Haar erst fest an die Schläfen andrückt und dann nach hinten wegweht; der es hinter ihr anhebt und auffächert, wider und wieder, und es gegen die Schritte, die sie auf uns zumacht, beinahe in der Luft stehen lässt. So treten ihre Füße mit ihren Sandalen in den Händen dem hier oben noch etwas rauhen Frühlingswind entgegen, der ihr mit jedem Schritt immer voller ins Gesicht bläst, und auf ihren Lippen liegt ein ihrer selbst gewisser Stolz, auch wenn sich die Brahmssche etwas ziert, und auf ihren Augen liegt wie früher ein Schimmer von Bescheidenheit und Selbstgenügsamkeit, aus dem ihr unbeugsamer Wille leuchtet. Sie weiß, dass sie von sich behaupten kann – dass die, Dir es ihr nicht neiden, es auch von ihr sagen, dass auch ich es von ihr denke – dass sie von sich behaupten kann, dass ihre Weltgereistheit auch wirklich zu Weltgewandtheit gereift ist: dass sie eine Frau von Welt ist, die es nicht verschmäht, einmal im Jahr auf eine kleine Anhöhe in den Bayerischen Alpen zu kommen und ein paar Tage auf meiner kleinen Berghütte zu verbringen. Ich gehe vor in die Hütte, bleibe aber im Eingang stehen, und schaue zurück, wie die beiden sich kurz anblicken und dann auf auch die Hütte zukommen. Jana verzögert ihre Schritte ein Moment, ohne wirklich stehen zu bleiben, unter dem Türsturz, und legt mir ihre Hand auf die Schulter; dann tritt Dana in die Tür und dreht sich unwillkürlich zur mir um: in der Schmäle der Tür streift sie unwillkürlich mit ihrem Rücken die gemauerte Zarge, und bleibt, vielleicht sogar absichtsvoll, einen Moment lang an die Zarge angelehnt in der Tür stehen, und mit einer leichten Nachdrücklichkeit wirft sie ihren Kopf seitlich nach oben und ihre Lippen formen ein bloßes „Na?“, ihr Atem haucht es mir durch die immer noch kräftige, abendkühle Brise zu. Ein bloßes „Na?“ wendet sich mir, wendet sich der Weite der Almen und Gipfel zu, ein bloßes „Na?“ erfüllt die Abgeschiedenheit der Gebirgshöhe mit dem Ton von Weltgewandtheit, Weltgereistheit, der den Hall der Herdenglocken durchdringt. Später sitzen wir noch bei offenem Kamin zusammen, Dana auf dem Sofa ausgetreckt, in ihrem grauen Schlafanzug mit der Kordel, in Decken eingewickelt, Jana im Schneidersitz, mit einem Schälchen Tiramisu, das sie genußvoll gabelt. „Dana, Du bist jetzt 66?“ Sie zieht etwas beschämt ihre Brahmssche runter, obwohl sie natürlich genau weiß, dass sie dazu keinen Grund hat. „Wie das doch passt?“ Dana schlägt bedeutungssuchend ihre Augendeckel auf, und Jana führt ihre Gabel nur langsam zum Mund, in der Ahnung der besonderen Bewandtnis dieser Bemerkung, ohne sie jedoch zu kennen, ohne sie sich erklären zu können. Ihre Blicke schauen in sich selbst hinein und verharren in der Gespanntheit der Erwartung. „Ich meine, es passt von der Tonart. Das mit den 66 Jahren steht in F-Dur“, mit meinen Augen auf Dana deutend, „und das mit den 64 Jahren in D-Dur; passt also zu dir, Jana.“ Dana hebt ihre Blicke über ihre vor Rührung glänzenden olivgelben Wangen, die in dem alternden Antlitz noch immer aus der Tiefe ihrer Erhöhung glatt schimmern, hinaus zum Tisch und greift in die Chips. Ich gebe meine Rührung an Jana weiter und fange plötzlich wieder an, in mich hineinzulächeln. Janas Blicke halten sich an ihren Intellekt, der ihr verrät, dass mein Lächeln wohl wieder denselben Grund haben muss wie zuvor. Ihre Rührung eilt meinen Worten voraus, ihr erwiderndes Lächeln nimmt meinem Lächeln die Hemmung: „Es Mäuschen!“ Ihre Blicke schämen sich ihrer Rührung. „Aber Jana, gewinnt nicht das Gesicht durch sein Alter erst seinen wahren Ausdruck?“ Jana senkt ihre Blicke ungläubig an sich herab und dreht sie zu Dana rüber, während ihre Lippen ein vorsichtiges Lächeln durchlassen, das sich seiner selbst nicht ganz sicher ist und nicht abschätzen kann, ob es meinen Worten Glauben schenken kann. Zweifel, die ihr Respekt und eine gewisse Ahnung zurückhalten. „Man sagt ja nicht umsonst, dass jemand durch sein Leben gezeichnet ist…“ Ungläubige Verlegenheit liegt auch in Danas Lächeln. „Das wird ja immer toller..“ „Nein, im Ernst: werden wir nicht, und werdet nicht vor allem ihr Frauen von klein auf in eurer Selbstwahrnehmung und eurem ganzen Empfinden vom Wahn der ewigen Jugend und der Schönheitsindustrie manipuliert und unter Druck gesetzt. Jahre lang hastet ihr eurem Geburtstag hinterher, und nun seid ihr doch alt geworden, ohne dass ihr es aufhalten konntet und fühlt euch um eine unbeschwerte Jugend betrogen..“ Betretene Stille. „Hab ihr euch mal überlegt, wie es wäre, wenn wir als alte Menschen geboren würden und immer jünger würden?“ „Ach, du meinst, dass uns unsere Jugend bis zum Schluss aufgespart würde? Das Schönste zum Schluss?“ „Nein, ich meine: wie schon gesagt, der Mensch wird doch von seinem Leben gezeichnet. Ich will damit sagen, dass die Gesichtszüge erst im Alter, sagen wir ab vierzig, allmählich hervortreten, und diese Gesichtszüge eben auch den Charakterzügen entsprechen oder zumindest zu ihnen hinzutreten. Ich meine, dass aus ihnen die Charakterzüge überhaupt erst richtig hervortreten. Ich meine, wir sind doch in jungen Jahren noch viel zu sehr damit beschäftigt, zu uns selbst zu finden, und außerdem fehlt uns doch die Erfahrung, um zu den Eigenarten eines Menschen wirklich vorzudringen. Und die undifferenziert gleiche, glatte, junge Haut deckt die Charakterzüge zu.“ „Und du meinst, wenn wir uns erst am Ende unseres Lebens, das als alte Menschen begonnen hat, für einander entscheiden, dass wir dann besser zueinander finden, weil wir uns unserer Entscheidung für den anderen viel sicherer sein könnten?“ „Ja.“ „Also verlieben wir uns dann erst am Ende unseres Lebens, wenn wir endlich jung sind?“ „Nein, wieso denn? Die Reize, ich meine, das, was einem an dem anderen anzieht, geht doch nicht verloren. Aber die Reize, die Sinnlichkeit der Züge bekommen im Alter mehr Charakter. In den Zügen…“ „…in den Falten!...“ Über die Brahmssche traut sich ein Lächeln, in dem Danas Behaglichkeit ihre Beschämung bewältigt. „… in den Zügen des alternden Gesichtes leuchten doch die Augen noch viel tiefer und das Lächeln wirkt doch viel voller in der Tiefe…“ „… der Falten!“ Verlegene Stille, Blicke, die sich für ihre Rührung schämen. Blicke, die ihre Anschauung, die ihre Erziehung nicht überwinden können. „Ich meine, ich schaue euch doch auch noch gerne an.“ „Ja. Aber du schaust uns durch die Bilder von früher an!“ „Nein, ich sehe euch durch die Bilder von heute in jungen Jahren vor mir stehen.“ „Aber das ist doch dasselbe!“ „Nein.… Natürlich sehe ich euch noch vor mir, so wie ihr damals vor mir standet. Aber ich sehe euch jetzt, in diesem Moment, ich erkenne eure Züge von damals nur wieder, aber in eurem heutigen Anblick. Sie treten jetzt erst richtig hervor, erst unter der müden Haut, treten doch die Züge des Gesichtes so richtig hervor, und die Falten sind Ausdruck all dessen, was ihr erlebt habt und euch geprägt hat. Man könnte vielleicht auch sagen, die Falten sind die eigentlichen Charakterzüge, aber im unmittelbar visuellen Sinn, im ursprünglichsten Sinn des Wortes: durch sie erhält das Gesicht erst seine Züge, sein unverwechselbares Wesen. So lange wir noch glatte Haut haben, sind wir doch kaum von einander zu unterscheiden…“ „Ja, ja…“ Dana greift wieder zu den Chips. „Dana?“ „Ja?“ Ihr Haar fällt etwas schwer, zufällig, an ihren Wangen herab und legt sich an ihren Schultern in leichten Wellen auf ihren grauen Schlafanzug mit der Kordel, unter den Falten auf der Stirn schimmert im Widerschein des Kaminfeuers die Wärme des Raumes, in der Feuchtigkeit ihrer Haut schimmert der Schweiß einer jungen, starken Frau, die ihren Beruf erlernt hat. Aus den eingefallenen Augenhöhlen, unter den etwas müden Lidern, lösen sich ihre Blicke, aufgehoben in der Wärme des Kamins, aufgehangen in der Tiefe des Raumes, sie durchdringen das Flackern des Kamins, das von den Sandsteinwänden zurückgeworfen wird, sie ergreifen mich, die überlegene Kraft dessen, der seinen Beruf gelernt hat, durchdringt mich, der Strahl erhabener Gewichtigkeit, umgeben von der unendlichen Tiefe ihrer Augäpfel. Der Glanz ihrer Augen hebt sich allmählich vom Dunst des stehenden Rauches ab und durchdringt ihn, strahlt durch ihn hindurch, begrenzt durch ihre scharfen Augenbrauen, sie umreißen ihr Gesicht, das im Widerschein der bräunlich gelben Wände an ihren Schläfen und Wangen verfließt, und spiegeln die Stärke einer jungen und dabei so souveränen Frau, auf deren Stirn der Schweiß ihres Selbstvertrauens schimmert, getragen von der bedeutungsvollen Schwere ihrer Schritte; auf ihrer Unterlippe liegt der bescheidene Stolz einer reifen Frau, deren Alter ihr ihre Züge zum zweiten Mal verleiht, nur abgeklärter; auf ihrer Unterlippe ruht ihr Stolz, und auf ihrer Stirn atmet die Erleichterung des Erfolgs. „Simon?!“ „Ich hab dich grad wieder durchs Bistro gehen sehen.“ „Ja, ja…also doch die Bilder von früher“ – Und Jana: „Du schaust uns doch nur in der Erinnerung an damals an…“ „Nein, es ist umgekehrt. Euer Anblick lässt mich unter eurer Haut die Gesichter von damals sehen, aber es sind eure Gesichter, so wie ihr mir jetzt gegenübersitzt. Es ist wirklich eine Frage der Erziehung, ich meine jetzt der gesamtgesellschaftlichen Erziehung, dass wir, oder dass vor allem ihr Frauen glauben lernt, dass Attraktivität eine Frage des Alters sei; eine Frage von glatter Haut, von Peeling, Sonnenstudios und so fort. Diese Vorstellung wird euch doch schon durch die Bebilderung von Grimm-Märchen untergeschoben: so lernt ihr doch schon als kleine Mädchen, wie eine Frau, die akzeptiert sein möchte, auszusehen hat: eben wie eine Prinzessin. Und ganz nebenbei lernt man auch noch, natürlich unbewusst, dass alte Frauen schlecht, gemein und häßlich sind: eben Hexen…“ Ich zögere einen Augenblick in ihrem ungläubigen Staunen. „So, wie ihr morgens aufwacht, noch bevor ihr euch gekämmt habt und geschminkt, das seid ihr. Und das müsst ihr nach außen tragen.“ Irritierte Stille. Jana unterbricht die Stille. „Wie war das nun mit dem Brahms?“ „Nun, Brahms musste als kleiner Junge schon abends in den Hafenkneipen von Hamburg, halt in gewissen Etablissements, Klavier spielen: zur Erheiterung, und sagen wir es ganz direkt, zu Stimulierung der Matrosen, die nach langer Fahrt hier ihre Ablenkung und, na ja, halt ihre Befriedigung suchten. Das heißt, es waren eben immer auch die entsprechenden Damen zu Gegend. Nun könnt Ihr Euch leicht vorstellen, wie die Leute von der See mit ihnen umgingen, und da blieb es eben nicht aus, dass sich die Damen ihrerseits dem heranwachsenden Jungen mit seinen blonden Locken annäherten und wohl auch wegen seines so zartfühligen Klavierspiels, sich von seiner sanften, jugendlichen, fast noch kindlichen Ausstrahlung ihrerseits erregen ließen. Sie hofften, von ihm, von dem sie in seiner kindlichen Arglosigkeit keine Grobheiten zu befürchten hatten, die Zärtlichkeit zu bekommen, die sie von den Matrosen nicht bekamen; von ihm begehrten sie die Zuneigung und die Zärtlichkeit, die sie bei ihren Freiern nicht finden konnten, die ihnen sonst verwehrt blieb. Brahms hat deshalb in jungen Jahren körperliche Berührung als etwas sehr unangenehmes erfahren. Das verwehrte ihm später den Zugang zu den Frauen, die zu denen er sich hingezogen fühlte, die er eigentlich auch gerne geliebt hätte. Man erklärt es sich damit, dass durch die frühe Berührungen gegen seinen kindlichen Willen sein eigenes, selbstbestimmtes Verlangen gebrochen wurde und er deswegen allen späteren Bekanntschaften, die ja durchweg, wie man so sagt, höhergestellte Frauen waren, Frauen aus gesellschaftlich anerkannten Kreisen, aus dem Weg ging, aus Scham vor dem gebrochenen, freien und unbefangenen Verlangen. Psychologisch betrachtet, so vermutet man, konnte er deswegen Zeit seines Lebens immer nur noch auf Frauen zugehen, die es eben gegen Geld machten; ganz einfach, weil man ja zu ihnen nur deswegen geht und darum nicht auf sie zugehen muss. Weil ihm dort der erste Schritt, der ja damals ausschließlich dem Mann vorbehalten war, erspart blieb. Er brauchte bei Ihnen auch nicht darum zu bitten, weil sie ja eben nur deswegen aufsuchte. Aber er brauchte bei ihnen auch wiederum keine allzu große Nähe zu befürchten, die ihm ja auch wieder unangenehm gewesen wäre. Und er brauchte bei ihnen auch keine Gefühle zu zeigen, wofür er sich ja wiederum geschämt hätte, weil es ja verletzte Gefühle gewesen wären. Deswegen hat er den Frauen der hohen Gesellschaft immer nur seine Wertschätzung und seine Entzückung spüren lassen, einfach durch einen fast unterwürfigen, aufschauenden Umgang, der immer auch etwas von kindlicher Scheu behielt. Seine Wertschätzung hat er ihnen dann durch seine Musik bewiesen. Aber stets, wenn sich eine Frau für ihn ernsthaft interessierte, und derer waren viele, zumal Brahms, anders als man es gängiger Weise von Komponisten annimmt, schon zu Lebzeiten berühmt und sehr wohlhabend war, hat er sich zurückgezogen und das, vor allem anfänglich, damit begründet, nicht genügend Erfolg zu haben…“ „Aber das muss doch mal irgend jemand aufgefallen sein?“ „Ist es ja auch, das heißt zunächst hat man seine eigenen Ausflüchte einfach gegen ihn verwendet. Bis heute halten sich zumal die Männer unter den Musikwissenschaftlern immer zugute, besonders tief in seine Psyche vorgedrungen zu sein, indem sie ihn auf jene eigentlich nur als Vorwände vorgebrachten Erklärungen festlegen und ihn als feige abtun; als ob er nur nicht bereit gewesen wäre, eheliche und elterliche Verantwortung zu übernehmen.“ Ich schaue an mir herunter. Jana legt ihre Hand auf meine Schulter und zerreibt meine Verbitterung zwischen ihrer Hand und meinem Hemd... „Aber Brahms hat aus seiner Scharm gegenüber den höhergestellten Frauen nie Hass gegen sie entwickelt, sondern sie stets hochgehalten und immer zu ihnen gehalten und immer ihre Nähe gesucht. Wenn Brahms zu Gesellschaften geladen wurde, hat er sein Kommen stets davon abhängig gemacht, dass die jeweiligen Herren der abendlichen Runde auch ihre Frauen mitbringen würden. Und Brahms war nun wirklich über jeden Zweifel erhaben. Und gerade deswegen, gerade weil keiner seiner Freunde ihm hätte etwas nachsagen können, verbargen sich hinter der Bewunderung für seine Musik immer auch eine gewisse Abneigung, zum Teil sogar sehr starke Vorbehalte gegen seine Person. Dabei wollte er nur nicht, dass die Ehefrauen zuhause zurückbleiben mussten und von den abendlichen Gesellschaft ausgeschlossen blieben, während ihre Männer sich amüsierten und ihre Bildung pflegten. Für ihn war es das höchste der Gefühle, wenn er zu später Stunde, wenn die Runde etwas gemütlicher wurde, sich zwischen die Frauen setzen durfte oder sie sich zu ihm setzten und ihn fürsorglich, liebevoll, fast mütterlich in die Arme nahmen und er sich an sie lehnen durfte. Dann haben ihn oft die Tränen übermannt, aber er hat natürlich auch dann nicht darüber gesprochen. Wenn die Herren dann nach dem Essen in den Nebenraum gingen und ihre Zigarren rauchten, hat er stets mit den Damen des Hauses den Tisch abgeräumt und hat sich bei ihnen in der Küche aufgehalten. Dann hat er, wiederum mit beinahe kindlicher Unsicherheit alle möglichen Ratschläge eingeholt, wie er beispielsweise mit manchen der Briefe umgehen sollte, die seine Bewunderer an ihn richteten und ihm mitunter die abenteuerlichsten Angebote unterbreiteten. Am bekanntesten wurde dann aber jener Fall, als er der Frau eines der bedeutendsten Geigenvirtuosen seiner Zeit in einem Brief offen und ehrlich bekannte, dass er sie gegen jegliche Vorwürfe ihrer angeblichen Untreue klar in Schutz nehme und hinzufügte, dass er an der krankhaften Eifersucht seines Freundes längst schon verzweifelt sei. Sie legte diesen Brief später vor Gericht vor und gewann den Scheidungsprozeß, in dem die Frau damals nach ihrem gesellschaftlichen Stand ja noch ihre Unschuld zu beweisen hatte. Die Brisanz bestand darin, dass jener Geiger ausgerechnet derjenige war, der Brahms entdeckt und in jungen Jahren finanziert hatte. Und er war Jude, was damals schon ein heikles Thema war. Sie haben dann nie wieder richtig zu einander gefunden, obwohl Brahms nichts unversucht ließ. Aber in der Sache blieb Brahms bei seiner Meinung, und er unterstützte die inzwischen geschiedene Frau jahrelang, bis sie einen anderen Mann kennenlernte, durch den sie dann abgesichert war. Brahms empfand es als himmelschreiende Ungerechtigkeit, dass sein ehemaliger Freund seinerzeit seine Verlobte, wie das damals verlangt wurde, dazu zwang, ihre Karriere aufzugeben, obwohl sie sicherlich eine der bedeutendsten Altistinnen ihrer Zeit geworden wäre, und sie nun einfach fallen ließ. Dazu muss man wissen, dass eine ausgebildete Stimme sich mit der Zeit, wenn sie nicht gefordert wird, wieder zurückbildet. Mit über dreißig kann man dann nicht mehr darauf zurückgreifen.“ Jana schaut mit ihrem Blicken einen Moment lang in die Tiefe ihres Verstandes. „Ich habe mich am Anfang immer etwas schwer getan mit einer gewissen Herbheit, und vielleicht auch Sprödigkeit. Ich meine, immer diese Schärfen in seiner Musik.“ „Ja, das haben die Leute damals auch so empfunden, aber kaum jemand hat etwas geahnt.“ „Aber woher weißt du es dann?“- „Robert Haven Schauffler war der erste Biograph, der die aus der Wahrnehmung seiner Zeitgenossen merkwürdigen Verhaltensweisen von Brahms nicht einfach nur aufzählte, sonder sich ganz einfach fragte: Wenn dieser Mensch, der einerseits so offensichtlich, gegen jeden gesellschaftlichen Vorbehalt, sich zu den Frauen bekannte, gleichzeitig selbst nie wirklich zu einer Frau fand, dann musste da etwas vorgefallen sein. Und einmal hat dann Brahms aus seinem unendlichen inneren Schmerz und dem Empfinden von Versagen und Verlust heraus sich wohl doch mal, wohl auch, nachdem er etwas zu viel getrunken hatte, sich sehr abfällig über eine Frau geäußert, über die gerade das Gespräch aufkam. Das Wort muss so schändlich gewesen sein, dass selbst Schauffler später behauptete, sich nicht mehr genau daran erinnern zu können. Man kann sich vorstellen, wie entsetzt die Umsitzenden waren: solche Worte ausgerechnet aus dem Munde von Brahms. Brahms verabschiedete sich vorzeitig aus der abendlichen Gesellschaft und machte sich auf den Heimweg. Schauffler folgte ihm. Da brach Brahms in lautes Weinen aus und bat ihn, ihn noch auf einen nächtlichen Spaziergang zu begleiten. Bei diesem Spaziergang hat er dann zum ersten Mal darüber gesprochen. Aber er hat sich stets seinen Stolz bewahrt. Als er später in Wien für kurze Zeit eine akademische Stelle annahm, drang man auf ihn ein, er solle doch aufhören, gewisse Etablissments aufzusuchen. Brahms klagte sie bitterlich an: Wollt ihr mir das jetzt auch noch nehmen? Ich kann es nur so. Und er hat sich stets einen Jux daraus gemacht, gewisse Damen mit in den Roten Igel zu nehmen oder wenn sie draußen vorübergingen und an die Fensterscheibe klopften, sie hereinzuwinken und sie zu Kaffee und Kuchen einzuladen. Er hat sie dann den Kellnern und den anderen Gästen und Freunden und Bekannten auch immer mit Namen vorgestellt. Und er hat ihnen stets was zugesteckt, auch denen, bei denen er nicht war. Eduard Hitschmann hat das Thema später in den Heften für psychoanalytische Bewegung aufgegriffen und Schaufflers Betrachtungen vertieft.“ Betretene Stille. „Ich meine, man kann nie zwei Situationen wirklich miteinander vergleichen, aber seine Person hat mir immer einen gewissen Halt gegeben. In seiner Musik habe ich immer einen gewissen Ersatz für meine eigene Verbitterung und meinen jahrelangen Verzicht gefunden…“ Am anderen Tag bricht die Wolkendecke wieder den ganzen Tag nicht auf. Erst abends schimmert wieder die untergehende Frühlingssonne durch. Immer wieder stehe ich den ganzen Tag über am Fenster und schaue hinaus, in die Tiefe des Tales, schaue meine Erinnerungen hinein, die unter dem Dunst, der sich in der Tiefe hält, verborgen bleiben. Ich schaue meine inneren Bilder hinein, aber ich kann sie nicht mehr sehen. Sie treten nicht mehr aus dem Dunst heraus. Nun, gegen Abend, liegt ein spätes Licht, das erste, schon verdrängte Licht des schon vergessenen Sommers, eines neuen Frühlings, das viel zu früh über den noch frostigen leeren Beeten liegt, über der Alm und fällt rötlichgelb in die Stube: in ihm verlieren meine Gedanken ihre Erinnerungen; das Licht weitet den Raum über die bedrückende Enge hinaus, das Licht entlastet mich, das Licht befreit mich: es wärmt mich. Die Bilder der Vergangenheit weiten sich im Licht des späten Märztages, sie werden heller, sie werden nicht mehr von der Qual junger Jahre getragen: ich fühle die Bilder leichter: es sind bewältigte Bilder. Ich schaue auf die Orte meiner Kindheit: unbeteiligt. Später, am Abend sitzen wir dann wieder beisammen. Ich habe Panna cotta gereicht, und Jana erkennt es mir mit einem dankbaren Lächeln an: „Mein Leibgericht! Woher wusstest du es noch gleich?“ „Weil du es damals auf die Stehtafel schreiben musstest, die immer draußen auf der Terrasse aufgestellt wurde. Der Schichtleiter hat dir die Kreide in die Hand gedrückt und gesagt, dass du dir irgendwas von der Dessertkarte aussuchen sollst. Da ist dir dann die Panna cotta in die Augen gefallen. Und dann hast du ganz angetan ausgerufen: Mein Leibgericht!“ „Und das hast du dir dann gemerkt?“ „Ja, Jana!“ „Bis heute?“ „Ja, Jana! Das heißt, ich muss es mir ja immer nur von einem Jahr zum nächsten merken. Ihr kommt ja jedes Jahr wieder!“ Jana überlegt kurz. „Ja, die Terrasse… und die Insel…Was ist eigentlich aus der Chefin geworden?“ „Nun, als es zu Ende ging mit dem Lokal, war sie sehr verbittert…“ Dana wirft ein. „Sie hatte ja nichts anderes. Es war ihr Lebensinhalt.“ „Ja, und als es dann also aus war, ist sie wieder zurück in den Norden gegangen“ „Ach, sie war nicht von hier?“ „Nein, sie kam aus dem Norden. Brahms übrigens auch.“ Jana überlegt kurz: „Und Brahms war auch verbittert!“ Ich weiß natürlich genau, wie Jana es meint, aber ich weiß keine Antwort, obwohl ich weiß, dass Janas Hinweis in gewisser Weise eine Antwort darauf vorgibt. „Es ist so schwer, herauszufinden, was einen Menschen dazu führt, dass er so wird, wie er ist… Ich weiß nur, dass sie schon als kleines Mädchen immer auf der Bierkiste hinter der Theke stand und Bier gezapft hat… Das hat sie mir mal erzählt. Sie hatte selbst immer solche Angst, entlassen zu werden… Ich habe dann nie mehr was von ihr gehört. Bis ich es dann eines Tages erfuhr…“ „Und der Schichtleiter?“ „Weiß ich nicht. Ich hab ihn nie mehr gesehen.“ Befangene Stille: jeder von uns sieht in den Augen des anderen die eigenen Erinnerungen. „Aber jedenfalls ist sie in den Norden zurückgegangen. Es gibt ja so ne Theorie, dass die Menschen am Ende ihres Lebens immer wieder an den Ort ihrer Geburt zurückgehen, weil es ihnen dort am ehesten möglich ist, von ihrem Leben Abschied zu nehmen.“ Wieder schauen Janas Blicke in sich hinein, sie will eigentlich nur zum Ausdruck bringen, dass sie meine Situation, die eben anders liegt, verstanden hat. „Aber du bist doch hierher, in Deine Hütte gezogen!“ Kaum, dass sie es ausgesprochen hat, schaut sie angstvoll, beschämt an sich herab, und schaut in den Winkel der Selbstvergewisserung, in dem ich dieses Mal sitze. Ich lächele ich ihr entschuldigend zu, ihre erstarrten Blicke lösen sich in einem Lächeln auf, ein Lächeln, aus dem die freudige Erleichterung spricht, richtig verstanden worden zu sein, und der Dank meiner wohlwollenden Aufnahme. „Nun, ich möchte halt nicht mehr dahin zurück.“ Und unvermittelt fällt mir ein, wie ich, anstatt die Antwort weiter auszuführen, einen Bezug zu ihnen beiden herstellen kann; dass sie es sind, die mir durch ihre Gegenwart eine Verbindung zwischen meiner Zurückgezogenheit hier oben und den alten Tagen herstellen; dass sie durch ihre Gegenwart, durch ihren alljährlichen Besuch die wenigen schönen Erinnerungen an meine Geburtsstadt hier heraufbringen, die es mir ermöglichen, sie hier oben für mich bewahren zu können, ohne die Stadt selbst aufsuchen zu müssen, die ja auch all die anderen Erinnerungen in mir wachriefe; die es mir ermöglichen, nur den Teil der Erinnerungen zu bewahren, der mir meine spät gefundene Unbeschwertheit nicht gefährdet und sie mir nicht mehr zerstören kann; ihre Gegenwart ermöglicht es mir, eines Tages erfüllt von der Dankbarkeit für ihre Freundschaft, für all das, was sie mir gegeben haben, gehen zu können… Von ihren fragenden Blicken verstört, führe ich meine Gedanken zurück auf die Antwort, die ich mir vorgenommen hatte: ein bedeutungsvolles Schmunzeln geht voraus: „Ich habe ja euch!“ Ich schenke Dana noch einen Glühwein ein und mache für Jana noch eine heiße Schokolade. Irgendwann wünschen wir uns, wie jeden Abend, eine gute Nacht, und ich bleibe unten, in meinem Sessel zurück. Aber ich merke, wie Jana immer wieder verlegen, ein wenig schuldvoll zu mir zurückschaut; ihre Blicke fragen mich ängstlich… „Jana, es ist schon in Ordnung!“ Vor meinen Augen wird das Flackern des Kaminfeuers trüber und dunkler, und ich sehe Jana wieder vor mir: „Aber du bist doch hierher, in Deine Hütte gezogen!“. Sie sagt es immer wieder zu mir, irgendwann höre ich nur noch ihre Stimme, sie wird umschlossen von ungefähren Gedanken, über ihre Stimme legen sich Bilder entfernter Tage, sie verschieben sich gegeneinander, geben nach, bis sie von einer tiefen Wärme zusammengedrückt und unter sich gedrückt werden… bis aus der Tiefe der dunklen Wärme plötzlich eine Berührung aufsteigt, in die Gedanken eintritt: „Hallo Simon, wie geht es dir?“ Ich spüre Danas Hand noch an meinem Arm, während sie schon zum Tisch rübergeht. „Das Frühstück ist fertig. Wir haben schon alles fertig gemacht!“ Dana geht zum Tisch, wo Jana gerade fertig gedeckt hat. Jana winkt mir zu, und Dana dreht sich, Janas Händen folgend, nach mir um. Nach vielen Tagen endlich wieder ein richtiger Frühlingsmorgen, der das Licht hell in die Hütte einfallen lässt, das Jana und Dana erleuchtet: hell legt sich die das Licht auf Janas blaue Strickjacke, steigt über den weißen Blusenkragen. Ihre blaue Jeans steht noch im Schatten, den die Fensterbank in der geringen Neigung der Sonne wirft. Dana, ihren roten Pulli über die Schultern zusammengebunden, tritt von mir weg gerade in das Licht ein. Mit meinem Willen folge ich ihrem Winken und sehe mich schon auf den Tisch zugehen, aber meine Bewegungen folgen meinem Willen nicht mehr; ich merke, dass ich immer noch in meinem Sessel sitze. Janas Hände winken mir noch immer zu, aber sie bleiben plötzlich in der Luft stehen. Beide, auch Dana, scheinen sich vom Boden zu lösen, sie verschwimmen, weichen auf, ich fühle mich nach hinten weggezogen, sie entfliehen meinen Blicken. An ihren Lippen sehe ich, wie sie meinen Namen rufen, aber ich höre es nicht mehr. Sie kommen auf mich zu und beugen sich über mich. Ich schaue in ihre Augen, immer tiefer, ihre Blicke dehnen sich immer weiter, bis sie nach hinten aufreißen; dahinter liegt nur noch unendlich helles Licht. Es ist ein warmes Licht: ein olivgelbes Licht, erfüllt von zart gehauchtem Lila.