Dana und Jana

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Dana und Jana
Simon Anatol Weber
Dana und Jana
Simon Anatol Weber
Dana und Jana
Ein Brief wird geschrieben, nachdem der
Zeitpunkt, ihn abzuschicken, verpasst wurde, und
auch, weil die vorausgegangene Korrespondenz
nie wirklich zustande kam. Er gibt dem Absender
die Gelegenheit, die ihm der Adressat verwehrte.
Der Brief rechtfertigt sich aus der Vergangenheit,
in deren Gegenwart er einzig noch sein Recht
hätte, nachdem die Zukunft sich in der Aussicht
bereits vergangen fühlt. Er steht ein für ein Ziel,
das ihm nie wirklich bevorstand: er vergrößerte
die Distanz gar, die er aufrichtig überwinden
wollte, so wie viele Menschen insgesamt ihre
einmal eingenommene Distanz nur dadurch zu
bewältigen scheinen, dass sie sie noch
vergrößern. Darum distanziert sich nun auch der
Autor nachträglich, zumindest von der
Erstgenannten: einzig als literarische Studie soll
der Brief noch etwas gelten.
ERSTER TEIL
Liebe Dana,
ich sehe Dich noch immer vor mir: Dein
dunkelblondes Haar fiel in leichten Wellen an Dir
herab – Du hast es später nie mehr so offen getragen;
nur einmal oben im Restaurant, das war Ende August,
hast Du es zur Hälfte offen gelassen, die vordere
Partie abgeteilt und mit einem Reif aus der Stirn
gehalten, die übrigen Haare nach hinten zu einem
kessen Pferdeschwänzchen zusammengezogen: das
hat Dir fast noch besser gestanden -, Du hattest für
ein paar Minuten keinen Tisch zu bedienen, es war ja
auch erst später Nachmittag, und so bist Du in den
Eingang getreten, wo ich an der einen Seite angelehnt
stand, weil ich schon wieder den ganzen Nachmittag
an der Bar saß und mal stehen musste, und vielleicht
auch, weil ich wusste, dass Du ja gleich wieder
vorbeikommen würdest – ich weiß nicht mehr, ob ich
es bewusst gemacht habe, und Du hast Dich mir
gegenüber an das furnierte Eichenholz angelehnt, tief
durchgeatmet und Deinen Kopf etwas seitlich leicht
nach oben geworfen, und ein bloßes „Na?“ war erfüllt
von einem Ton von Weltgewandtheit und
Unvoreingenommenheit, von Aufgeschlossenheit, ein
bloßes „Na?“ wandte sich der Welt, wandte sich mir
zu, drang in gefestigtem Ton zu mir herüber,
durchdrang die stehende Luft, aufgehellt von
dunkelblondem Haar, das von der Juliluft mit jeder
Brise leise angehoben wurde und wieder herabfiel,
ungezwungen offen herabfiel, weltgewandt gewellt im
Widerschein von dunkelblondem Glanz, bei jedem
Wehen wieder, wider und wieder, als ob Deine Haare
die Welt umwehten; in ihrem Wehen, in jeder Welle, in
jeder Strähne lag die Weitläufigkeit der Welt, je höher
der Wind sie anhob, als ob ihre Spitzen die Welt
umschlossen; cremeweißes Licht fiel ein in den
braunen Schatten des Eichenholz, hellte die braunen
Halbschatten auf Deiner Stirn und Deinen Wangen
auf, und in dem bloßen Wort verbarg sich respektvolle
Neugierde als der jüngeren von uns beiden, gefärbt
von der Dankbarkeit, dass uns die Zufälligkeit des
Augenblicks die Gelegenheit gab, uns zum ersten Mal
überhaupt richtig zu unterhalten, oder wenigstens in
der Kürze des Augenblicks ein paar Worte
miteinander zu wechseln. (Oder hab nur ich das so
empfunden?) Und es gab mir die Gelegenheit, Dich zu
fragen, was Du denn gemacht hast, und Du hast mir,
nicht ohne einen entschlossenen Stolz, und doch mit
einer liebenswürdigen Bescheidenheit, geantwortet
und Deine Stimme wurde getragen von der Gewissheit
über das in Deinen jungen Jahren bereits erreichte - in
jungen Jahren warst Du in die große Stadt gezogen
und hattest, ganz auf Dich allein gestellt, Deine
Ausbildung dort abgeschlossen und Dich im
Anschluss daran selbst belohnt mit einer ausgedehnten
Reise, mit der Du Dir einen langgehegten Traum
erfüllt hast -, getragen von gewachsenem Selbstgefühl
und dem hart erarbeiteten Vertrauen in die Zukunft.
Es war dieses eine Wort, das ja eigentlich nur eine
Berufsbezeichnung ist, aber so wie es Deine Lippen
formten, erhielt es in meinen Ohren einen ganz
einzigartigen Klang. „Hotelfachfrau!“ Und so, wie
Deine Lippen die Laute formten, formten auch die
Laute Deine Lippen, formte Dein Atem Deine
Lippen: in der atemschweren Schwüle gewährte Dein
Atem mir die einzigen Luftzüge, hauchte Dein Atem
das Wort in die laue Luft, umschlossen von der kaum
zu durchdringenden gestauchten Hitze, und mit einem
Male erhielten Deine Gesichtszüge für mich etwas
Sinniges, etwas ganz für sich Stehendes; denn ich hatte
Dich bislang nur von der Seite betrachten können, da
ich ja meist an der langen Seite der Bar saß und Du
immer nur seitlich zu mir standest, wenn Du die
Getränke abholtest. Und ich muss Dir gestehen, dass
ich anfänglich mit Deinen etwas scharfen
Gesichtszügen nichts anfangen konnte, und ich
immer, wenn ich versuchte, das Besondere,
Vollkommene in Deinem Gesicht zu finden, ich
ausgerechnet in Deinem
Lächeln eine Schärfe
empfand, die die einzelnen Züge nicht recht
zusammenfinden ließ; Deine Haare schnitten im Profil
Deine vordere Gesichtshälfte aus Deinem Antlitz
heraus, während schon die Wangen und erst recht
alles, was dahinter liegt, für meine Blicke unerreichbar
im Verborgenen blieben. So war es mir unmöglich,
Dein Gesicht in seiner Vollkommenheit zu entdecken.
Aber ich möchte Dich mit solchen Worten nicht
verletzen. Vielleicht hätte ich das jetzt nicht schreiben
dürfen. Es lag ja an mir, an meiner ganz persönlichen
Wahrnehmung; und natürlich auch daran, dass ich
nicht zu offensichtlich schauen wollte; denn ich spürte
durchaus, dass ich mich von etwas angezogen fühlte:
etwas, das sich mir aber nicht gleich erschloss und von
dem ich mich doch angezogen fühlte, und nach dem
ich bei jedem Blick suchte. Mit jedem Gang, wenn Du
wieder Getränke abholen kamst, näherten sich mir
Deine Züge durch den Schatten Deiner Haare, durch
den Schatten des Unbewussten, Unvermuteten. Ich
spreche es nur aus, damit Du verstehst, wie sich in
jenem Moment, als wir uns im Eingang
gegenüberstanden, meine Lunge aus der Tiefe heraus
plötzlich dehnte, mein Brustkorb von einer
entspannenden Wärme durchflossen wurde, wie sich
die Enge, die ich zwischen meinen Schläfen empfand,
für einen Augenblick wenigstens weitete, der Druck
sich löste. Dein Gesicht reflektierte das cremeweiße
Licht, und das lichtblaue Leuchten Deiner Blicke
drang durch meine trüben Pupillen und hellte die
dunkle Tiefe auf: die weißblauen Schatten mischten
das Schwarz aus und zerflossen an den Rändern –
doch es blieb ein cremeweißblaues Loch in
unendlichem Schwarz, in der Unendlichkeit meines
inneren Raumes.
Ich spreche es nur aus, damit Du erfährst, wie weit
auseinander die beiden Eindrücke lagen. Und heute,
nachdem ich an jenem Tag im Juli zum ersten Mal die
innere Logik Deiner Züge begriff und sie sich an
diesem Tag in ihrer einmaligen und seltenen, aber aus
solcher Seltenheit erwachsenden Vollkommenheit mir
ins Gedächtnis einschrieben, lassen sie mich nicht
mehr los: ich trage sie seitdem mit mir herum, als ob
Du sie mir als Andenken überlassen hättest; und in der
Tat wirst Du sie, wenn Du bald wieder zurück in die
große Stadt ziehen wirst, mir ohne Dein Zutun
zurücklassen, wie etwas, das sich von Dir gelöst hat
und doch unablösbar bleibt von Dir; mit dem ich Dich
in meiner Vorstellung festhalten kann, auch wenn Du
schon lange fort sein wirst. So gibst Du mir etwas von
Dir, ohne dass Du Dich mir hergibst, auch wenn ich
alles dafür geben würde; aber so vergibst Du Dir doch
nichts. Ist das nicht für beide Seiten O.K.? Ich nehme
mir ein Stück von Dir, ohne dass ich Dich dafür
einnehme, und Du lässt mir etwas, ohne Dich mir zu
überlassen. Deine Züge jedenfalls haben ihre
Eigenwilligkeit für mich behalten, aber im eigentlichen
und positiven Sinn des Wortes: aus jedem Deiner
Züge, aus jeder einzelnen Bewegung Deines Gesichtes
oder einzelner Partien spricht ein ganz eigener Wille,
der Ausdruck einer starken Persönlichkeit, und ich
möchte Dich nochmals um Nachsicht bitten, wenn ich
Deine Züge nicht gleich mochte, weil ich sie nicht
begriff, weil ich sie nicht verstand – verstehst Du
mich? -, und heute schätze ich Dich genau dafür, und
ich schätze Dich insbesondere für das, was Du mit
Johannes Brahms gemeinsam hast. Brahms schämte
sich eine Leben lang dafür, und er glaubte, es
verstecken zu können, indem er sich in späteren
Jahren einen Bart wachsen ließ, was damals durchaus
nicht unüblich war, weshalb es auch kaum jemand
durchschaute - was Du natürlich nicht kannst. Aber
Du brauchst Dich ja eben auch nicht dafür zu
schämen.
Nun hab ich genau genommen wieder so eine
Unbedachtheit begangen; denn in dem Moment, wo
ich Dir gestehe, wie sehr ich mich davon angezogen
fühle, habe ich Dich eben auch darauf angesprochen
und vielleicht Deine Gefühle eher verletzt als bestärkt,
und wohlmöglich fühlst Du Dich jetzt noch
beschämter? Wie gerne würde ich sie berühren, und
Du brauchst sie auch nicht immerzu zurückzuziehen –
Dana. Darf ich Dich, um Dir mein ganz ehrliches
Entzücken zu bezeugen und als Ausdruck meiner
aufrichtigen Zuneigung zu Dir, in Zukunft ganz
liebevoll Dana Brahms nennen? Aber eben nicht zum
Spott, sondern in ganz inniger und tief empfundener
Zuneigung und in vollem Respekt vor Deiner Person.
Ja, so war das bei Dir. Bei Jana war das anders.
Jana, liest Du überhaupt mit? Der Brief ist doch auch
an Dich gerichtet, auch wenn ich mich zuerst an Dana
wende. Aber das liegt nur daran, dass Du schon so
lange weg bist, weggezogen in die große Stadt, in der
Dana schon mal war, in der Du jetzt lebst, und in die
Dana bald wieder zurückkommen wird, und in der Ihr
dann beide studieren werdet. Deshalb habe ich mich
zuerst an Dana gewendet. Ich komme gleich zu Dir.
Dana, Deine Blicke stehen noch immer vor mir,
aufgehangen in der Tiefe des Raumes, sie scheinen
sich aus Deinen Augen zu lösen und durchdringen das
gelblich schimmernde Dunkel, das der Rauch gerade
noch durchlässt, sie eilen Dir voraus, sie durchbrechen
die dicht zusammenstehenden Gäste, sie erreichen
mich, noch bevor ich ihrer gewahr werde. Ich suche
sie, bewusst, aber noch bevor Du die Stufen hinauf
zum Bistro in eilig routinierten Schritten nimmst,
nehme ich sie wahr, ohne sie zu sehen, ich erfasse sie,
sie ergreifen mich, die überlegene Kraft dessen, der
seinen Beruf gelernt hat, durchdringt mich, der Strahl
erhabener Gewichtigkeit, der Deinen Pupillen
entfährt, umgeben von der unendlichen Tiefe Deiner
Augäpfel. Der Glanz Deiner Augen hebt sich
allmählich vom Dunst des stehenden Rauches ab und
durchdringt ihn, strahlt durch ihn hindurch, begrenzt
durch Deine scharfen Augenbrauen; sie konturieren
die Tiefe Deiner Haut, die im Widerschein der
bräunlich gelben Wände an Deinen Schläfen und
Wangen verfließt, und spiegeln die Stärke einer jungen
und dabei so souveränen Frau, auf deren Stirn der
Schweiß ihres Selbstvertrauens schimmert, getragen
von der bedeutungsvollen Schwere ihrer Schritte.
Sie dringen in mich ein, Deine Blicke. Im goldgelben
Licht, das die Torblenden der kleinen Scheinwerfer
streuen, werden sie durchbrochen, aber sie brechen
zugleich den gelblich braunen Dunst des Raumes auf,
sie bahnen sich ihren Weg durch die Tiefe des
Raumes, im goldgelben, safrangelben Licht werden die
Grenzen Deines Gesichtes unscharf, das Licht legt
sich auf Deine Haut, sättigt sie, über Deine Wangen
und Deine Stirn fließen Halbschatten, eilig wechselnd
mit Deinen Schritten, Deine Haut saugt das Gelb in
sich auf, unscharf, goldgelb, gelb, aber aus dieser
gesättigten Unschärfe treten Deine Züge um so
kräftiger hervor; Deine Augenbrauen kontrastieren
nicht nur den Glanz Deiner Haut, sie kontrastieren
den ganzen Raum, die gelbbraun gehaltenen Wände,
die vom Goldgelb verblendeten Bilder, sie
kontrastieren selbst die Gäste, und aus der Tiefe der
Sättigung strahlen Deine Augen, Deine Blicke
durchstreifen die Räume, das Bistro, das Parterre, aber
auch, wenn Du einen Tisch verlässt, auch dort Du, wo
schon nicht mehr bist, stehen sie weiter im Raum,
Deine Blicke, wie in den Raum geheftet, sie stehen,
selbst wenn Du Dich umdrehst, noch vor mir, stehen
hinter Dir – Du gehörst zu den Menschen, die auch
hinten Augen haben: ich sehe Dich auf und ab gehen,
bald wirst Du nicht mehr da sein, wieder zurück in die
große Stadt gehen, ich sehe Dich auf und ab gehen,
schaue Dir nach, sehe Dich eintauchen in das
goldgelbe Licht, auf und ab gehen, in das goldgelbe –
gelbe Licht – goldgelbe Licht – Deine Blicke kommen
auf mich zu, meine Blicke verlieren Dich – bald wirst
Du - ich sehe Dich auf und ab gehen – nicht mehr da
sein –nicht mehr –in der großen Stadt – nicht mehr sa
sein - ich schaue Dir nach, wie Du die Stufen zum
Bistro – eingetaucht in das goldgelbe - ocker – braun
– erdbraun - Kaffee – dunkel – sehe Dich eintauchen
in das goldgelbschwarze – ich höre Stimmen – mein
Blick wird immer enger, dunkle Schatten drängen den
Raum zusammen, die Wände entfernen sich, treten
auseinander, Deine Blicke werden in der Entfernung
nicht mehr greifbar, die Räume brechen auf; obwohl
Du die Stufen runterkommst, trittst Du auf der Stelle,
zwischen uns schiebt sich die Unendlichkeit der
Räume, die keine mehr sind, weil die Wände
auseinandertreten, Deine Blicke stehen zwischen uns,
Deine Augen trennen sich von Deinen Blicken, die
Tiefe Deines Gesichtes wird unendlich, ich schaue
durch Deine Augen hindurch, Deine Blicke lösen sich
auf, ich sehe Dich die Stufen herunterkommen, ich
sehe Dich die Stufen herunterkommen –die Stufen
herunterkommen – sehe Dich – die Stufen – sehe
Dich herunter – die Stufen herunter – die Stufen –
sehe Dich herunter – runter – in der Ferne ruft
jemand „Aufzug!“ - mein Kopf nickt nach unten weg,
ich bekomme einen seitlichen Schlag, jemand drückt
meinen Kopf unter Wasser...
So saß ich oft da. Habt Ihr es eigentlich von Euch aus
bemerkt? Ich weiß nur, dass ich es Dir, Jana, schon
bald, nachdem Du Dich die ersten Male zu mir an die
Bar gesetzt hast, gesagt habe. Und Dana? Sie wird es
vielleicht von selbst bemerkt haben, oder Du hast es
ihr erzählt. Irgendwann später, im Innenhof, als ich
glaubte, mich rechtfertigen zu müssen, weil ich nicht
von eigenem Geld lebe – ich weiß, dass Du, Dana, das
niemals von mir verlangt hättest, Du hättest mich auch
niemals darauf angesprochen, aber ich wollte mich
erklären – habe ich es Dir dann selbst gesagt. Aber ich
habe in Deinen Augen gesehen, dass Du es Dir nicht
wirklich vorstellen konntest. In Deinen Augen lag der
Ausdruck ehrlichen Bemühens und die Bereitschaft,
mir zu glauben: geglaubt hast Du es vielleicht auch,
sogar ganz bestimmt, weil auch Du in jungen Jahren
schon einiges erfahren musstest und Dich diese
Erfahrung auch meine Leiden erfahren lässt. Du
kannst es Dir vielleicht vorstellen, aber nicht wirklich
wissen, einfach, weil das niemand kann. Ich konnte es
auch nicht – vorher. Ich hatte gewiss schon davon
gehört, von anderen. Ich hatte vielleicht eine
Vorstellung davon, aber ich hätte mir niemals
vorstellen können, dass es mich selbst betreffen
würde.
Und deshalb, Dana, sehe ich Dich auch nur noch
ungenau vor mir, wie Du mir damals, im Juli, im
Eingang gegenüberstandest. Und das liegt nicht in der
normalen Erscheinung begründet, dass sich jede
Erinnerung irgendwann auflöst; sondern weil ich seit
vier Jahren alles nur noch durch ein Guckloch sehe
und die Welt nur noch wie eine Guckkastenbühne
wahrnehme, auf der Szenen sich in der räumlichen
Tiefe grauschwarzer Wände abspielen, umgeben von
unendlichem, drückenden, bedrängenden Dunkel, aber
ich selbst kein Teil mehr davon bin. Meine
Wahrnehmungen sind ständig umgeben von dunklen
Schatten, mein Kopf fühlt sich an wie in einen
Rahmen gepreßt, der auf die Schläfen drückt. Alles,
was ich höre, klingt weit entfernt, und was ich sehe,
sehe ich wie jemand, der morgens aus einem
abgedunkelten Zimmer ins Tageslicht hinausschaut;
oder vielleicht hilft Dir die Vorstellung, wenn nach
anhaltendem, starken Regen endlich die Wolkendecke
aufreißt und von gleißend gelblich, weißem Licht
durchbrochen wird, und die feuchte Luft und die
nassen Wege und Straßen das gleißende Gelbweiß
grünlich reflektieren und die Wahrnehmung
unwirklich erscheinen lassen, weil die Atmosphären
nicht zu einander passen: auslaufende gelbweiße
Lachen auf dunkelblau-grauem Asphalt, scharfe Linien
trennen den rot, blau und gelb aufleuchtenden
Anstrich von Häusermauern von den übrigen
Fassaden, die im grau abgemischten roten, blauen und
gelben Schatten der Wolken verdeckt bleiben. Deine
Züge blieben vor meinen Linsen getrübt, und auf
Deinem Gesicht lagen dunkle Flecken. Das
cremeweiße Licht an jenem Julitag erleuchtete Dich,
aber es drang nicht durch meine verengten Pupillen in
das Dunkel zwischen den Schädelwänden, und alles
Licht, was mich erreichte, war indirekt und remittiert;
aber eben remittiert von Dir. So kannst Du vielleicht
ermessen, wie sehr mich Deine Erscheinung berührte,
wie sehr Deine Blicke meine Blicke fesselten - Dana!
Und doch, meine Arme spannten, verkrampften sich
von innen her zu einem kaum mehr auszuhaltenden
Druck, der außen, an der Haut, in ein Gefühl von
Taubheit
überging,
taub
gegen
jede
Temperaturempfindung, unempfindlich gegen die
flaue Brise der Juliluft, in jenem Augenblick: sie
umweht meine Haut, aber sie kühlt mich nicht. Ich
sehe sie, aber ich fühle sie nicht, fühle keine Kühle,
kühle mich stattdessen an Deiner Bluse, unter die die
flaue Juliluft sich legt, sie durchflutet und sie immer
wieder leicht anhebt und aufwallen lässt, sie flattern
lässt, sie in Falten legt. Ich kühle mich an Deiner
Kühlung, aber nur mit meinen Augen. Gegen meine
Gefühlstaubheit kommt die Brise nicht an, käme sie
auch noch so kraftvoll. Und selbst jener Moment, als
mich Deine Erscheinung zum ersten mal so stark
anzog, dass die Kraft Deiner Blicke und Nahbarkeit
Deiner Stimme mich für diesen einen, kurzen Moment
von Wärme durchströmen ließen, blieb die Wärme
aufgestaut, zurückgestaut in der verkrampften
Muskulatur, durch den nicht nachlassenden Druck,
der sich zwar verschiebt, aber nicht weicht: sie sperrt
sich der Wärme, so wie sich meine Gedanken mir
sperren, so wie ich in der Tiefe meines inneren
Raumes nicht mehr auf meine Worte zugreifen kann,
die hinter einer unsichtbaren Wand hinunterfallen,
hinter der sich meine Gedanken verlieren, hängen
bleiben, entgleiten: unterbrochene Gedanken,
unfertige Sätze, Teile von Worten, Silben, die ich
suche, von denen mir nur noch ihr ungefährer Klang
vor meinen Augen steht, aber sie selbst mir nicht mehr
geläufig sind, an denen meine Gedanken hängen
bleiben, sich stauen: aufgehangen, synkopiert wie der
Ausschnitt einer Melodie, die immer aufs Neue ansetzt
und doch an derselben Stelle hängenbleibt – so wie
mich so manche Melodie in diesen Tagen verfolgte: sie
folgen mir überall hin. Aber die Phrasen finden in
meinem Inneren keine Fortführung, sie begehren
immer wieder auf und brechen jäh ein: sie setzen
immer wieder neu ein, noch bevor sie ausklingen, sie
überholen sich selbst, so wie meine Atmung immer
aufs Neue in sich zusammenfällt und mein Kopf unter
der Last der durch das Netz meiner Intention
durchschlüpfenden,
wegbrechenden
Gedanken
einbricht, sie werden ein ums andere Mal von einer
undurchdringbaren Wand abgelenkt, wie von einem
Magneten weggelenkt, versinken in der Tiefe des
Dunkels und verlieren sich hinter der Wand, einem
bedrängenden Druck, der die Gedanken nicht mehr
durchlässt, ehe sie aus einer Kreisbewegung wieder
auftauchen und wiederum auf jene Wand zu drängen,
gegen sie anrennen, abprallen, wieder auftauchen und
wieder auf jene Wand zu drängen, abprallen - wieder –
wieder zu drängen, abprallen, auftauchen, abprallen,
wieder – wieder – eine Wand, an der meine Gedanken
abbrechen, die meinen Willen nicht mehr durchlässt,
hinter der die Worte, die meine Gedanken leiten
sollten, verloren gehen; je mehr ich versuche, die
Gedanken festzuhalten, verlieren sie sich in ihren
eigenen Gängen, und die Worte, die ich erwische, sind
andere, und sobald ich meine Gedanken an ihnen
aufbaue, ist der Raum wieder leer: ich kann sie nicht
mehr nachvollziehen, ich kann meine Gedanken nicht
mehr nachvollziehen: meine Gedanken verlieren sich
in sich selbst.
Liebe Jana,
nun komme ich endlich zu Dir. Vielleicht bist Du jetzt
enttäuscht, weil ich mich so lange mit Dana aufhalte,
und vielleicht glaubst Du mir jetzt nicht mehr, dass die
Wertschätzung, die ich Dir gegenüber so oft bekundet
habe, aufrichtig war, dass sie von wirklichem Respekt
getragen war, dass ich Dir echte Gefühle
entgegengebracht habe, dass sie ganz tief empfunden
waren, aus meinem Innersten heraus, dass sie
überhaupt empfunden waren, dass es überhaupt
Gefühle waren – und dabei weiß ich noch nicht
einmal, ob Du diesen Brief überhaupt jemals in
Deinen Händen halten wirst, ob ihr beide ihn jemals
vor Euch liegen haben werdet. Dann jedenfalls
würden sich meine Gefühle für Dich, und auch die
Aufrichtigkeit der Worte, die ich immerzu für Dich
fand, aus dem, was ich Dir schreibe, so hoffe ich
jedenfalls, ergeben. Jedes einzelne Wort, das ich jetzt,
im Nachhinein, Monate danach für Deine Person
finde, versuche ich aus der Erinnerung an das, was ich
Dir damals über Dich gesagt habe, wiederzufinden,
oder, sofern meine Erinnerung nicht mehr an meine
Worte zurückreicht, neu zu finden, und doch fällt es
mir schwer, mich in meiner Erinnerung an Dich
zurechtzufinden. Sie sind zerfressen, angenagt, wie
Bilder, auf feinem Stoff gedruckt, der von Motten
zerfressen ist, dunkle Löcher, die zu den Rändern hin
ausgefranst, angezackt sind. Und dann sind es
umgekehrt wieder die fortwährenden diffusen Flecken,
die sich über die Bilder legen, sie ins grauschwarze
abblenden, bis sie schließlich die Erinnerungen ganz
eintrüben. Dazwischen blinken die Momente auf, in
denen ich Dich erleben konnte: wie Lichtflecken
blenden sie die Trübung ins Gelbweiße, Zitronengelbe
auf, sie brechen den Gesichtskreis, der durch den
Druck in meinem Kopf immer weiter eingeengt wird,
heute noch mehr als damals zusammengedrückt wird,
auf, Momente, in die sich Deine Blicke eindrücken
und mich ergreifen, tiefe, einstige Blicke, die den
dunklen Raum weiten, Blicke, die aus der Tiefe, aus
der unendlichen, fernen Weite, weiten Ferne das
Grauschwarze aufdunkeln, eine Schicht gelbweißer
Leere liegt auf dem dunkelrotem, weinroten Glanz
Deiner Haut, eine Schicht gelben Weißes deckt das
Weinrote zu zartem rosa, lilarosa ab; am Ende eines
tiefen, steilwändigen Tales ahne ich die Weite der
Ebene, von der mich die unendliche Tiefe des Tales
trennt, eingetaucht im Licht der Sonne, die nur als
Lichtkegel in das Tal hineinragt, ohne die Wände zu
erhellen; am Ende des Tales spähe ich in das Lokal,
auf die Bar, durch die offene, angelehnte Glastür auf
den Marktplatz, erspähe ich Deine Blicke. Was mir
bleibt, sind all die Worte, die ich für Dich fand, und
Du für mich: meine eigenen Worte, eingetaucht in die
Wärme meiner Gefühle, die an ihnen haften, und mit
ihnen gelingt es mir, auch Deine Worte aus dem
beständigen Raunen und Wispern herauszulösen, sie
aus dem unendlichen silbrig quirlenden Gewirr
gedämpfter, bedrängender Stimmen zu isolieren und
festzuhalten, sie in ihrem Ton von lila zart gehauchter
Fülle klar hervortreten zu lassen und durch die Kraft
meines Bewusstseins das Dunkle zu durchstoßen und
Dich vor dem gelblichen Licht der fernen,
entschwundenen Tage vor mich hintreten zu lassen. In
Deinen Blicken klingen Deine Worte nach, Deine
Blicke umschließen Deine Silben, aus Deinen
Augäpfeln strahlt das lilazarte Hauchen Deiner Worte,
so wie Deine Stimme aus Deinen Blicken äugt, strahlt,
sie haucht den Ton Deiner Haut. In meiner
Erinnerung steht Dein Gesicht vor mir, aufgehangen
im unendlichen schwarzen Raum, auf Deiner Stirn
liegt der Schatten meiner Trübung, durch die schwarze
Scheibe der Erinnerung drückt sich Dein Gesicht, in
dessen Augen die Erinnerungen an jene Tage von Juli
bis September festgehalten sind, deren Pupillen wie
Blenden den Blick auf Dich freigeben.
Sie geben den Blick frei auf die Bilder, auf die im fahl
gelben Licht der weiß-pastellenen Stengelfassaden
grün beschatteten Pflaster, das vom Eingang, jenem
Eingang mit dem furnierten Eichenholz, an dem
Dana, weil die Tür nach innen aufstand, sich anlehnen
konnte, als ich sie zum ersten Mal bewusst wahrnahm
- das von jenem Eingang zum Marktplatz hin abfällt;
sie geben den Blick frei auf die Weite des Platzes, auf
dessen gegenüberliegende Seite mein Blick, jedesmal,
wenn ich auf Dich wartete, als erstes fiel, bei der alten
Kastanie, vor allem in jener Woche, als mir der Weg
nach Hause mir beinah unmöglich wurde, weil ich Dir
nahe bleiben wollte, und nur die vielen Ecken und
Winkel des Lokals, über die sich die Erinnerungen an
Dich gelegt hatten, mir Deine Nähe gewährten,
während Du weit weg in der großen Stadt warst und
letzte Vorbereitungen trafst dafür, dass Du vier
Wochen später endgültig dorthin ziehen würdest. Sie
allein gewährten mir Deine Nähe, je länger Du in der
großen Stadt weiltest, um so näher wurdest Du mir; in
meinen Gedanken, die an Deinen Bewegungen,
Deinen Schritten, an jedem Deiner Arbeitsschritte
hingen, fand ich in der Erinnerung an die
zurückliegenden Situationen, in der ich sechs Tage
lang verharrte, immer näher zu Dir; ich verinnerte
Dich, Du warst mir mit einem Mal so nahe, näher als
vorher, wenn Du an der Theke neben mir saßt, oder
wenn ich beim Polieren der Bestecke zu Dir rauf ins
Restaurant kam.
All diese Bilder traten mir damals vor meine nach
innen gerichteten Blicke, wo Deine Blicke noch immer
vor mir stehen, und nun sehe ich mich selbst in
Deinen Blicken dort sitzen; sie geben den Blick frei
auf die mal sandig-ockern, mal schattig grünen grauen
Pflaster, frei auf die Ecke an der gegenüberliegenden
Seite, wo die Seitengasse einmündet, die von der Alten
Brücke auf den Markt führt, frei auf die Kastanie,
unter dessen Schatten Du Dein Fahrrad immer
festgemacht hast. Ich sehe noch heute Deine Füße
über die Pflaster auf mich zukommen, nur, dass ich
inzwischen nicht mehr auf Dich warte wie damals in
jener Woche, als Du schon einmal in der großen Stadt
warst, und auch schon am letzten Tag davor – Du
hattest Dir schon einen Tag vorher freigenommen, als
ich schon am frühen Mittag an der Bar saß und Dich
immer wieder, unendlich oft auf mich zukommen sah,
Dich immer wieder über den Marktplatz kommen sah,
so dass mich, als Du endlich über die Pflastersteine
durch den Eingang tratest, Dein Erscheinen verwirrte;
als Du eingetreten bist, wirkte Deine Anwesenheit so
unwirklich, weil Du doch in meiner Vorstellung zuvor
schon immer wieder und wieder eingetreten warst,
und Deine jetzige Gegenwart die längst schon
liebgewonnene, gegenwärtig gewordene, vorgestellte
Nähe aufhob und durch eine ungewisse Distanz
beiseite geschoben wurde: für einen Augenblick
durchdrang mich ein Gefühl des Befremdens, weil
Dein immer neuerliches Schreiten über das Pflaster
und Betreten des Lokals zuvor in meiner Vorstellung
bereits so gegenwärtig geworden war, weil Du mir in
jener Einbildung so nahe geworden warst, dass ich in
diesen Vorstellungen bereits zu leben begann, die
jedoch von einer anderen Empfindung waren, die nun,
da Du tatsächlich zur Tür hereinkamst, vor der
Wirklichkeit zurückweichen mussten, gleichsam
bloßgestellt wurden, von Deiner Gegenwart
zurückgedrängt,
durchdrängt,
von
Deinen
Bewegungen und Regungen durchflutet wurden: wie
die in die Leere des Raumes hineingeschauten Bilder,
wie die von feinen Luftzügen durchwehten, in den
vom Abend vorher noch immer im Raum stehenden
Rauch hineingefühlten Erinnerungen durch Deine
Wärme gedehnt und zugleich aufgelöst wurden, wie
das unaufhörliche Raunen fremder Silben, die sich in
die Tiefe des Raumes ausbreiteten, hinter der Theke
aufstiegen, die Tiefe des Raumes durchbrachen und
sich zugleich über alle anderen Stimmen legten, über
die Theke, über die Kaffeemaschine, Fetzen Genueser
Dialektes und marokkanischen Akzentes, deren Hall
die Tiefe des Raumes von innen sprengten, deren Hall
auf die Wände drückte: wie dieses Raunen mit einem
Mal von einem sanften Strich lila zart gehauchter Töne
gedämpft wurde. Und gleich darauf hast Du Dich
dann wieder neben mich an die Bar gesetzt, ein Duft
von Lavendelblüten erweckte in mir die beklemmende
Freude unerreichbarer Erfüllung, erfüllte mich mit
Zuneigung für Dich, die von der Enttäuschung
zurückgestaut wurde: das Glück noch einmal neben
Dir sitzen zu können, eh Du in die große Stadt
wegziehen würdest, wurde von der Einsicht in die
Unerreichbarkeit auf Distanz gehalten; und doch war
da das Bedürfnis, Dich auch weiterhin meine
Zuneigung spüren zu lassen, obwohl es sich doch
schon jetzt nicht mehr lohnte, aber vielleicht gerade
auch deswegen interessant wurde, weil ich Dich nun
ungezwungener ergründen konnte, ohne an jedem
Wort von Dir unbedingt Gefallen finden zu müssen,
aber gerade dadurch erst zu dem wahren Wert Deiner
Worte vordringen konnte. Du konntest ja nicht
wissen, dass ich es längst schon wusste, und ich
konnte nicht wissen, ob Du wusstest, dass ich es
wusste. Erfahren habe ich es erst am anderen Morgen
von der Chefin, aber eben etwas, was ich längst schon
spürte oder eigentlich sogar sicher wusste. Es war
dieser auffällige Bruch in Deinem Verhalten mir
gegenüber
zwischen
Dienstagabend
und
Donnerstagabend. Dazwischen muss es gewesen sein,
und als ich Samstag ausnahmsweise mal mit Karte
bezahlen musste, winkte die Chefin ausgerechnet
(oder vielleicht auch doch nicht zufällig) Dich herbei,
um die Kartenzahlung abzuwickeln. Im ersten
Moment, als Du hinter die Theke kamst, hast Du,
wohl weil Du bei dem Dröhnen der Bässe und Beats
kaum genau hören konntest, was sie Dir zugerufen
hatte, zunächst nur die Karte gesehen und hast dann
fragend, abwechselnd zur Chefin und dann in die
Gäste geschaut, wer da bezahlen wollte. Aber als Du
dann die Karte in Deiner Hand hieltest und meinen
Namen gelesen hast, hafteten Deine Blicke erst fest an
meiner Karte, ehe Du sie dann von der Karte gelöst
und zu mir aufgerichtet hast, worauf Deine Blicke
endgültig in der Kürze des Raumes, der uns durch die
Theke, durch die Kaffeemaschine, durch die leeren
Tassen und Gläser trennte, erstarrten, und wo sie
sonst das spärlich gedimmte Licht aufhellten, nun die
Theke noch verdunkelten. Und so folgte ich Dir, und
doch durch das Unausgesprochene von Dir getrennt,
und Du versuchtest, Dich hinter dem Tonfall des
korrekten Service zu verstecken, aber das ersparte Dir
nicht die Verlegenheit, dass Du plötzlich nicht mehr
wusstest, welche der Belege für mich und welche für
Euch waren. Am anderen Tag, also an jenem Sonntag,
bevor Du in die große Stadt geflogen bist, hast Du
mich dann am frühen Abend, als ich gehen wollte,
gefragt, ob ich noch mal wiederkomme, und als ich
antwortete, dass es sich nur lohne, wenn Du auch Zeit
hättest, Dich mit mir zu unterhalten, hast Du mir dann
vorgehalten, dass Du ja eigentlich nie Zeit gehabt
hättest. Auch nicht, als ich zu Dir ins Restaurant
raufkam, als Du zum Ende der Schicht noch die
Spülmaschine ausräumen musstest, und Du meintest,
ich bräuchte Dir nicht zu helfen, aber ich könne gerne
dableiben: Du würdest Dich gerne mit mir
unterhalten? Aber das war ja auch noch deutlich vor
jenem Mittwoch, an dem Du erst donnerstags wieder
zum Dienst kamst.
Ich kam dann abends noch mal wieder, und saß dann
bis zum Schluss da – später, Ende September, als
Dana ihre letze Schicht machte, bevor sie mit Dir den
Umzug in die große Stadt machte, wiederholte sich
diese Szene, weil ich spürte, dass auch sie nicht mehr
lange dort arbeiten würde, auch wenn sie ja zunächst
mal Mitte Oktober noch mal zurückkam -, und als ich
dann gehen musste, habe ich den Hinterausgang
genommen, weil ich Dich kurz vorher zur Mülltonne
gehen sah, und als ich mich von Dir verabschieden
wollte und Deine Hand drücken wollte, hast Du sie
wegzogen. Am anderen Morgen hab ich dann von der
Chefin erfahren, dass Du Dich bei ihr erkundigt hast,
warum ich bis zum Schluß an der Theke gesessen
hatte. Es war nicht nur Deinetwegen. Ich hatte an
diesem Morgen einen schweren Gang zu Bank vor
mir, aber sobald ich diesen Gang erledigt hatte, füllte
die Sehnsucht nach Dir den nun freien Raum in
meinem Bewusstsein um so mehr aus und besetzte,
noch bevor ich am Markt ankam, schon in dem
Moment, wo ich aus der Bank herauskam, mein
ganzes Denken. Und nun saß ich wieder an der langen
Seite der Theke, nahm Platz auf dem Hocker, von
dem ich am Abend vorher aufgestanden war und
schaute zum Eingang, immer wieder, und wieder
ließen meine Gedanken Deine Füße über das Pflaster
auf mich zu kommen und Dich durch die Glastür
eintreten, ließen sie Dich wieder oben im Restaurant
am Tisch sitzen, im Wechsel blickte ich dann von der
Tür rauf zu jenem Tisch am Fenster, so wie ich vorher
immer zu Dir raufblickte, wenn ich überlegte, ob ich
wieder raufkommen sollte und den richtigen
Augenblick abwartete, bis der Genueser und der
Marokkaner mich nicht im Auge hätten; dann
wechselten die Blicke zwischen der Tür und der
Aussicht auf den Marktplatz und dem kleinen Tisch,
dann blickte ich rüber zum Fahrstuhl, dann sah ich
Dich hinter Theke mit Tablett in der Hand, ich
versuchte auszuweichen und schaute in den Hof, aber
da sah ich Dich, wie Du Sonntags noch das Laub
zusammenfegen
musstest,
ich
wich
zur
Kaffeemaschine aus, aber dann standest auf einmal
auch hinter Maschine, mit offenem Haar, so wie Du
an einem der späten, trüben, schwülen, grauwarmen,
luftfeuchten Augusttage irgendwann nach Mittag
hinter der Kaffemaschine hervorgeäugt hast und mir
Deinen ersten Kaffe gepreßt hast („Du bist heute
mein Versuchskaninchen“), später ging ich dann nach
oben und stand vor dem kleinen Tisch, sah Dich die
Bestecke polieren, schaute von der Tischplatte auf
durch das Fenster auf den Markt, sah im Licht der
Sonne das nächtliche Neon der Schaufenster, so wie
ich sie sah, wenn ich bei Dir saß, wenn Du die
Bestecke poliertest. Dann ging ich wieder runter, hatte
plötzlich das Bedürfnis, die Räume zu verlassen, ohne
mich von ihnen zu trennen, ohne dass ich mich hätte
vom Lokal entfernen wollen, und setzte mich an den
ersten Tisch links auf Terrasse. Aber die inzwischen
schon wieder hochstehende Sonne drückte auf meinen
Kopf, drückte den Ausblick auf das Pflaster
zusammen, drückte auf die Bilder, unter denen ich
mich wegzutauchen versuchte, die ich aus dem goldgelben Licht, den grünen Laubschatten der Robinie zu
lösen, herauszulösen versuchte; der noch immer
schwelende September drängte die Bilder zwischen die
Gäste, die an Tischen auf der Terrasse saßen, ich
versuchte meine Aufmerksamkeit an die Leute zu
heften, an das braunlackierte Holz der Tische, aber die
Farben und die Menschen, die Atmosphäre verloren
ihre Kraft; ich wehrte mich gegen die Bilder, die
beständig auf mich eindrangen, in mich eindrangen,
gab nach, die Gedanken, die ich dagegen aufbrachte,
rutschten ab in die Rillen zwischen den
Teakholzleisten der Terrassentische, die Rillen
zwischen den Leisten verschwommen, öffneten sich
zu großen dunkelbraunen Flecken, aus denen graue
Dunstschleier herausflossen, die Flecken ränderten
aus, der goldgrelle Nachmittag brannte ein Loch
hinein, durch das weißlich-gelbe Bilder hindurch
strahlten, von laubschattigem Grün gesäumt: die
Bilder von der alten Kastanie, zu der ich durch den
abgewendeten Blick hindurchschaute, die Bilder der
Bestecke, die von weißem Küchentuch umschlossen
sich von Deiner Hand geführt hin- und her bewegten,
auf dem der Hauch roten Weinlaubs lag. Und auch das
Brahmssche
Quintett
verfloss
in
dem
Septembernachmittag und floss unter den Bildern
durch, ohne sie mit sich reißen zu können, die Melodie
vom g aufwärts zum c lehnte sich gegen die Bilder auf,
konnte sie nicht durchdringen, glitt an den Bildern ab,
nach oben weg. Irgendwann, so gegen Mittag, hab ich
mich an den Tisch gesetzt, meinen angestammten
Tisch – genau genommen wurde er so überhaupt erst
zu meinem festen Platz; ohne Dich, Jana, hätte ich
diesen Tisch vielleicht nie für mich entdeckt: heute
sitze ich oft in der nachtblauen Wärme und blase den
Rauch meiner Zigarren und Rillos und meiner Pfeife
in die Tiefe des Platzes, blase mit dem Rauch ferne,
entrückte Bilder in die Wärme, die über den
Pflastersteinen steht und meinen Rauch über sie
hinweg trägt; es ist der erste links neben dem Eingang,
wenn man rausgeht - und da blieb ich dann sitzen: den
ganzen Tag, und auch den nächsten Tag, den ganzen
Dienstag, den ganzen Mittwoch, den ganzen
Donnerstag, den ganzen Freitag.
Dana wird sich sicher noch daran erinnern, obwohl sie
es ja selbst kaum miterlebt hat; denn sie musste erst
mal ihre Bronchien ausheilen, die seit ihrer Fahrt in die
andere, nicht ganz so große Stadt, zu der es sie auch
immer wieder hinzieht, beinahe übergangen hätte.
Montags kam sie noch, zur Spätschicht, die sie aber
nicht mehr antreten musste. Da habe ich sie gefragt,
ob ich sie etwas fragen dürfe. Irgendwann kamen dann
Danas Füße mit ihren Sandalen in der Hand von
hinten, aus der Gasse über das Kopfsteinpflaster in
den Innenhof, ihre Füße trugen ihren sandfarbigen
Sweatrock aus dem Septemberhellen, trockenen
Schatten unter den Deckenbalken des Fachwerks der
Hinterhoffassaden in die leichte, gelbliche, kühlende
Spätsommerwärme, und ihr Rock trug seinen eigenen,
sandfarbigen Schatten über ihre Knie und ihre Waden,
trug ihn in den vom frühen Nachmittag erfüllten
Innenhof, trug seine sandfarbenen Schatten auf ihre
olivgelbe Haut auf; noch bevor Dana in den Innenhof
eintrat, eilten ihre Beine ihr unter den Zweigen des
Olivenbaums und den Blättern des Kirschlorbeers
voraus, und mit jedem Blick, den Olivenblätter und
Kirschlorbeer auf ihr Gesicht freigaben, sah ich sie
schon auf mich zukommen: zwischen den Ästen des
Lorbeer kamen ihre dunkelblonden Haare, ihre Stirn,
ihre Unterlippe, ihre Schultern, ihre Bluse, ihr Rock,
ihre Waden auf mich zu, zwischen jedem Ast sah ich
sie vor mir stehen, zwischen jedem Ast erlebte ich
bangend ihre Reaktion voraus, bis in der Weite des
Hofes
zwischen
den
septemberwarmen
weißverputzten, hochstehenden Gefächern sich Füße,
Sandalen und Sweatrock mit den etwas scharfen
Augenbrauen und dem Olivgelb zusammenfügten,
und mit einem Male saßen mir ihre Blicke gegenüber:
Blicke, die sich meiner Frage schon sicher glaubten,
und doch nicht wissen konnten, ob es auch die von ihr
erwartete sein würde, und in denen ich nicht erkennen
konnte, ob sie nicht vielleicht eine andere Frage
vermuteten, unterlegt mit einem fast mütterlichen
Ton, in dem Fürsorglichkeit und Neugier die Grenzen
zwischen beiden verwischten, einer Neugier, die von
einem ahnungslos ahnungsvollen, tiefen Aufatmen
unterstrichen und doch zugleich des insgeheimen
Wissens um die Situation überführt wurde: „Was
möchtest du mich denn fragen?“…
Das war montags. Aber als ich dann freitags, an dem
nun schon früher einbrechenden Abend Ende
September wiederkam, warst Du nicht da. Und so
musste ich bis Samstag warten. Und es war keineswegs
leichter geworden, an Dich heranzukommen.
Verlegenheit traf auf Verlegenheit. Du solltest die
Tageskarten in die Speisekarten einlegen, und kaum,
dass ich auf den dicken, roten, weinroten Träger
zukam, in dessen Anstrich Du Dich heute noch
spiegelst, wurden die noch kaum gewechselten Worte
schon jäh unterbrochen von dem Genueser, der seine
Eifersucht
hinter
seiner
vorgeblichen
Verantwortlichkeit als Schichtleiter verbergen zu
können glaubte: „Viene pagata per lavorare, non per
parlare.“
Als Du dann aber die Pappe, mit denen der Fußboden
hinter der Theke ausgelegt wird, entsorgen und
austauschen musstest, folgte ich Dir in den weit nach
Mittag im warmgrauen Dunst versunkenen September,
durch Blauregen und Olivenbäume in den Innenhof.
Aus dem Keller leuchtete muffiges Gelb die Stufen
hinauf, die es nach draußen in den Durchgang zum
Hof in das dunstige Grau zwischen Olivenblättern
und Blauregen drückten. Aufgeschaut zu mir hast Du
aber erst, als ich Dir versicherte, dass ich bei allem,
was je über Dich und zu Dir gesagt habe, auch bleiben
werde. Das heißt, eigentlich hoben sich Deine Blicke
über die Stufen hinweg zum Treppenabsatz erst, als
ich Dir sagte, dass ich mich für Dich freue; und dass
so wenigstens einer von uns beiden glücklich
geworden war. Da erst hast Du Deine Augendeckel
ganz aufgeschlagen, jetzt erst fanden Deine Blicke den
Weg in meine Augen, jetzt erst standen sich unsere
Blicke aufrichtig gegenüber, trafen aufeinander, ohne
sich doch zu treffen, und doch nahmen mich Deine
Blicke beim Wort, für einen Augenblick lang
ungläubig: „Das ist absolut selbstlos.“ So nett das
natürlich gemeint war, Jana: Es war nicht selbstlos,
jedenfalls nicht in dem Sinne, dass ich mich selbst in
dem Moment aufgegeben hätte. Wenn man sich einem
Menschen wirklich nahe fühlt, muss es doch einem
doch möglich sein, sich auch für dessen Glück zu
freuen. Das, was man an einem Menschen schätzt,
darf sich doch nicht aus der Wahrnehmung für den
anderen lösen; es wird so viel von Gefühlen geredet,
aber wenn man etwas wirklich fühlt, wenn man den
anderen wirklich so wahrnimmt, wie man es ihn hat
fühlen lassen, wenn man jedes Wort der Anerkennung,
das man für den anderen vorher immer gerne
gefunden hat, nicht auf den Moment hin berechnet
war, sondern tiefer Überzeugung entsprach und völlig
zwanglos so empfunden war, dann muss es einem
doch auch möglich sein, sich auch hinterher weiterhin
dazu zu bekennen. Und Du darfst mir ruhig glauben,
dass ich mir bei jedem Wort zu Deiner Person, bei
dem, was ich zu Dir gesagt habe und auch jetzt noch
über Dich schreibe, mir, noch bevor ich es ausspreche,
die Tragweite meiner Worte vor Augen führe und
mich frage, ob ich das unter veränderten Bedingungen
auch vertreten könnte. Ich habe mich immer gefragt,
ob ich von denselben Eigenschaften auch überzeugt
wäre, wenn ich sie an einer anderen Person entdeckt
hätte. Jana, ich fälle keine Gefälligkeitsurteile, weil ich
damit niemandem einen Gefallen tue. Auch Dir nicht,
und auch mir selbst nicht; denn dann käme auch für
mich der Tag, an dem ich das Bedürfnis hätte, mich
von meinen eigenen Worten zu distanzieren. Das hat
Überzeugung, das haben aufrichtige Worte
berechneten Worten voll des falschen Lobes voraus,
dass man sie auch dann noch empfinden kann, wenn
der andere sich jenem Empfinden entzieht, dass man
sie auch dann noch als angemessen aufrechterhalten
kann, wenn man die Person aus der Distanz
abgeklärter Zurückgezogenheit überprüft, wenn man
sie an der betrachteten Person ohne Ansehung der
Person misst und so auf seine eigenen Gefühle
zurückschaut und mit Genugtuung erkennt, dass man
sich auf seine Gefühle verlassen kann.
Jana, die Worte die ich für Dich fand, fandest Du
selbst für Dich und damit auch für mich, eben
dadurch, dass mir so begegnet bist, wie Du mir
begegnet bist. Ich habe sie nur auf Dich bezogen, weil
Du sie durch Deine Art selbst auf Dich bezogen hast,
Du selbst hast es bewirkt, dass sie in Deinem Wesen
aufgehen, dass sie in dem, wie Du mit mir
umgegangen bist, ihren wahren Sinn entfalteten; so
gesehen hast Du sie mir in den Mund gelegt: ich
brauchte sie nur noch auszusprechen.
Dieser Samstag war dann auch schon der letzte; noch
einmal kam ich Abend für Abend, immer in der
Hoffnung, Dich noch einmal sehen zu können, noch
einmal jeden Wochentag in seiner ganz
unverwechselbaren Stimmung durch Deine Nähe
hindurch erleben zu können, und doch zu wissen, dass
die Theke, die Kaffeemaschine, die Treppe hinauf zu
Restaurant zum letzten Mal unter dem Hauch von
weinroten, zarten Lila schimmerten, und bei jedem
Betrachten sah ich durch die weinzartroten Schatten
hindurch, wie dahinter all das Messing, die roten und
braunen Wandelemente wieder ihren reinen Glanz
annahmen, ihre weinrote Tönung an Dich
zurückgaben, von Dir mitgezogen wurde, wenn Du
die Stufen hinauf zum Bistro oder zum Restaurant
hinter den Wänden verschwandest, und in ihrem
metallenen Glanz gleichzeitig verklärten, abgetönt
durch die vage Trübung der Leere, die Du
zurücklassen würdest: ständige kleinen Momente des
Glückes, das von der drückenden, schnürenden Enge
der Entsagung zusammengedrängt, von enttäuschten
Gefühlen, die ich mir bewahren wollte, beiseite
gedrängt wurde, die sich zwischen die Momente des
unwirklichen Glücks, zwischen die immer längeren
Augenblicke der unerfüllten Leere, der nicht
erwiderten Zuneigung schoben, während sich die
Stunden neigten: der Versuch, den Blick auf die grün
rot braun schimmernden Flaschen der zahllosen
Aperitifs und Digestifs zu befreien von den Bildern,
die sich zwischen die Regale und mich schoben, die
den Raum hinter der Theke erfüllten, in denen ich
unbestimmte dunkle Bewegungen sah, von Deinem
Gang geprägt; und jedes Mal, wenn Du wirklich
wieder zurückkamst, um neue Getränke abzuholen,
versuchte ich Deine Blicke einzufangen und zurück zu
einer Normalität, frei von zurückgewiesenen
Gefühlen, zurückzufinden, die so nun nicht mehr
gegeben war, um mich wenigstens Deiner
grundsätzlichen Wertschätzung versichern zu können.
Irgendwann an einem der letzten Tage gelang es mir
dann doch nochmal, zu Dir ins Restaurant
raufzukommen, wo das weiße Geschirrtuch im
weinrotem Glanz, auch das zum letzten Mal, die
Bestecke umschloß, geführt von Deinen Händen, die
sie anschließend in Papierservietten einrollten; im
richtigen Augenblick, als der Genueser und der
Marokkaner mich ein Moment lang nicht im Blick
behalten konnten, stand ich von meinem Barhocker
auf, deutete an, nach unten in den Keller zu gehen,
bog dann scharf um das Treppengeländer, um im
toten Winkel zu bleiben, und nahm dann oben den
Weg auf der zur Küche führenden Seite der Galerie,
also dem Teil, der genau über Theke lag, so dass ich
von unten nicht zu sehen war. Dort haben wir dann
verabredet, wie wir uns bei Deiner letzten Schicht
freitags verabschieden würden, ohne dass der
Genueser oder der Marokkaner uns diesen Moment
hätten nehmen können.
Um halb elf kam ich an jenem Freitag rauf ins
Restaurant, aber dieses Mal nicht verstohlen, sondern
so, dass es jeder, vor allen aber die beiden
Schichtleiter, mitbekämen, immer noch in der
Ungewissheit, ob Du unsere Verabredung auch
einhalten würdest; in der Aufregung hab ich Dich
dann erst mal gar nicht gesehen. Ich hab dann Dana
nach Dir gefragt, die mit einem Lächeln antwortete,
mit dem sie mir bedeutete, dass sie uns beiden das
Arrangement gönnte, zugleich ein eingeweihtes
Lächeln: „Da ist sie doch!“ Plötzlich kamst Du von
hinten auf mich zu, vermutlich warst Du grade in der
Küche gewesen und bogst nun um die Ecke. Eine
flüchtige Geste der Verabschiedung, die den anderen
zeigen sollte, dass wir uns nichts weiter zu sagen
hätten. Dann ging ich wieder runter, winkte den
anderen in meinem marineblauen Trenchcoat zu, der
ihnen automatisch signalisieren würde, dass ich für
diesen Abend das Lokal verlassen würde, und ging,
wie ausgemacht, nach vorne auf den Markt hinaus –
und bog durch Hintergasse wieder in den Innenhof
ein, wo ich die Minuten zählte und damit zubrachte,
mir selbst die Ungewissheit darüber, ob Du Dich an
unsere Abmachung halten würdest, zu nehmen, indem
ich mir abwechselnd Deine Zuverlässigkeit und Deine
Unzuverlässigkeit zur Gewissheit einredete, indem ich
aus jedem Deiner Worte, aus den vielen Situationen, in
denen Du mir begegnet warst, aus jeder noch so
schwachen Schattierung Deiner Stimme Gewissheit
für oder gegen Deine Zuverlässigkeit suchte, indem
ich jedem Deiner Worte Gewissheit zu entnehmen
versuchte, indem ich, um die Enttäuschung, falls ich
vergeblich warten würde, von vorneherein zu bannen,
mir die Annahme Deines Erscheinens als naiv
auslegte, und schon im nächsten Moment Deinen
Charakter mir als über jeden Zweifel erhaben
hinstellte, und in der Annahme Deines Erscheinens
Stolz empfand, meiner Menschenkenntnis vertrauen
zu können, und in dem sicheren Wissen um Deine
Rechtschaffenheit und Ehrbarkeit mir zur Gewissheit
einredete, dass Du das Vertrauen rechtfertigen
würdest, dass ich so gerne ich Dich setzen wollte, und
mir doch nicht gewiss genug meiner selbst war, ob ich
es auch in Dich setzen sollte; und während ich noch
mit mir selbst haderte, weil mir doch immer aufs Neue
die Willenskraft versagte und mich die Gewissheit
meiner Argumente verließ, wurde die Tür zum
Innenhof durch die Kraft Deiner Redlichkeit, durch
die Aufrichtigkeit Deiner Worte, mit der Du mir
unsere geheime Verabschiedung zugesagt hattest,
aufgedrückt, wurde durch die Eleganz Deiner Schritte
die Türfalle aus der Falz herausgedrückt, und ihr
vertrautes Herausschnappen lenkte meine Gedanken
von ihrer bangen Ungewissheit weg zu Deinen
Schritten, die unter der milden Nacht, die sich gerade
noch gegen die bald schon einbrechende Herbstluft
behauptete, hindurchschritten und auf mich zukamen.
Zum letzten Mal nahm das nachtdunkle Blau im
Schein der gelbspendenden Wandlaternen das Rot des
Weinlaubes an, schimmerte das Grün des
Olivenstockes rosasilbrig in der Tiefe der Nacht auf,
zum letzten Mal trugen Deine Füße Deine Blicke zu
mir herüber, als ob Deine Blicke in meinen aufgingen
und ich Dich mit meinen Blicken zu mir hinziehen
könnte, zum letzten Mal spendete Deine Haut der
dunklen Kühle ihren Duft, erfüllte Dein Duft den
Kaminrauch der ersten Herbstnächte; Dein Körper
zog sich, getragenen von Deinen Füßen, die sanft von
einem Kopfstein zum nächsten gehoben wurden und
Dich durch die Kamin rauchende Kühle trugen, durch
das verrauchte Gelb, das durch die Bodenfenster aus
der Lounge heraus in den blaudunklen,
Kaminfeuerkühlen September schummerte. Blicke, die
sich
behutsam
auf unsere
Verabschiedung
zubewegten, sich zum letzten Mal mit uns befassten,
Blicke, die aus dem Lokal heraus auf ihre Schritte
gerichtet waren und erst allmählich zu mir
aufschauten, Schritte, die mit ihren Gedanken auf
mich zu eilten, Schritte, die Deine Blicke zu mir
neigten, die ein inniges Einverständnis verrieten.
Schritte, die sich zu der Peron bekannten, auf die sie
zugingen. Und schon im nächsten Augenblick fülltest
Du die Leere aus, die meine Verlegenheit zwischen
den geweißten, verputzten Mauern des Eingang zum
Innenhof gelassen hatte, unter dem Deckenbalken der
alten Weinprobierstube, zwischen den Müllcontainern
und dem angelehnten Eisengatterflügel.
Wie oft hatte ich mir, seit wir unsere Verabredung
getroffen hatten, und eigentlich schon sogar vorher,
meine Formulierungen zurechtgelegt, immer wieder
umformuliert, gekürzt und wieder erweitert, um die
wenigen Minuten, die uns gegeben sein würden,
auszunutzen, um Dir nochmals das zu sagen, was ich
Dir in der Flüchtigkeit früherer Gelegenheiten noch
nicht oder jedenfalls nicht genau genug sagen konnte,
und all das, was ich Dir darüber hinaus noch gerne
gesagt hätte; doch je mehr mir einfiel, um so weniger
vermochte ich in der voraussehbaren Kürze unserer
Verabschiedung unterzubringen; immer wenn ich mir
meine Formulierungen gerade zurechtgelegt hatte, fiel
mir schon wieder etwas Neues ein, das mir genauso
wichtig erschien; dann nahm ich wieder etwas weg,
aber sobald ich meine neuen Gedanken eingefügt
hatte und mit der Konzepierung zufrieden war, fehlte
mir das Ausgesparte, das mir plötzlich noch wichtiger
erschien als das Hinzugefügte, das seinerseits schon
wieder durch neue Gedanken beiseite geschoben
wurde, an denen mir genau so viel lag; doch dann
versuchte ich alle Überlegungen wieder zu
unterdrücken, weil ich eigentlich doch am besten bin,
wenn ich spontan rede; in der Unendlichkeit dieser
Gedanken standest Du schließlich vor mir. Noch
während Du auf mich zukamst, entwarf und verwarf
ich meine Sätze, wurde mir, was mir eben noch
wichtig war, wieder unwichtig, mit jeder Bewegung,
die Du auf mich zumachtest, wurden die Gedanken
gehetzter, mit jedem Fuß, den Du vor den anderen
setztest, ersetzte ein Gedanke den anderen, so wie
Dein Duft auf mich zutrieb, trieben die Gedanken, die
ich eben noch festhalten wollte, ab, rutschten nach
hinten weg, und hinterließen eine bedrückende Leere,
von allen Seiten drängten Gedanken auf sie ein, ohne
wirklich in sie eindringen zu können: in diese Leere
drang schließlich zart gehauchtes Lila. Ich reichte Dir
die Tüte mit den beiden Büchern, von denen Du ja
schon wusstest, und noch ein, zwei Beigaben, und da
Du es ja schon wusstest und auch schnell wieder nach
oben ins Restaurant musstest, hast Du Dich dann
entschuldigt, dass Du erst später reinschauen würdest,
während Dein Gesicht von den Sätzen, die ich mir für
Dich zurechtgelegt hatte, umkreist wurde, während ich
in Deinen Blicken, in der Betonung und im Fluß
Deiner Worte die Bestätigung, Dein Einverständnis
suchte für die Worte, die ich in meiner inneren
Vorstellung zu Dir sprach, während Du durch meine
inneren Blicke hindurch zu mir sprachst: durch meine
Pupillen drangen Deine Worte in die dunkle Tiefe ein,
die ich im Marineblau meines Trenchcoates empfand,
wurde das marineblaue Dunkel lila aufgehellt und zu
weinrot ausgemischt; während wir miteinander
redeten, redete ich mit Dir in meiner inneren
Vorstellung, probierte ich wie unter Zwang, in dem
Bewusstsein, dass die Gelegenheit für meine Worte
jeden Moment vorüber sein könnte, gegen die Zeit, die
ich gerne so lange wie möglich hinausgezögert hätte,
immer aufs Neue dieselben Sätze aus und suchte von
dem Schmerz darüber, dass es meine letzte
Gelegenheit war, immer ängstlicher in Deinen Worten,
in den Schattierungen der lila gehauchten Zärte die
Reaktion aufzuspüren auf die Worte, die noch immer
in meiner Vorstellung vor Deinem lilazarten Hauchen
vorbeizogen; auch dann noch, als das zarte Lila
verstummte, mischte sich in das stumme Hauchen das
innere Raunen der unendlichen, sich einander
bedrängenden und verdrängenden Gedanken, „..dass
ich mich für dich freue, dass du glücklich geworden
bist, dir alles Gute wünsche, privat und beruflich…“,
die unsicher in das stumme Hauchen einbrachen: ein
wenig verlegen schautest Du wie immer unter Deinen
eigenen Blicken hindurch zu Deinen Augenbrauen auf,
in Deine eigenen Augenhöhlen hinein, zu mir auf, und
in das in das stumme Wippen Deines Körpers schaute
ich meine Worte hinein, „…und mach was aus dir,
dass du nicht eines Tages als Stammgast hier
endest…“ – auf einmal ließ das Brennen und Ziehen
in meinen Armen und Beinen nach.
„Wie lange hast du jetzt eigentlich hier gearbeitet? Ich
weiß nur noch, dass ihr beide mehr oder weniger
gleichzeitig angefangen habt…“
„Nein, Dana war schon hier. Ich hab genau am 15. Juli
angefangen.“
„Du wirst hier fehlen, du hast dem Lokal dein Gesicht
verliehen.“ Und in meinem Innern wuchs die
Bedrängung durch meine eigenen Worte wieder an,
schlängelten sich hinter Deinem Rücken durch das
angelehnte Eisengattertor; der nachtschattige Putz
warf weiße Schatten auf meinen marineblauen
Trenchcoat, und ich wurde immer mehr durch meine
eigenen Worte bedrängt, bis ich sie endlich mit einem
beschämten „ja“ begann; und doch, während die
Bedrängung mit jedem Wort, das ich nun aussprach,
wich, wuchs mit jedem Wort die Unentschiedenheit,
da sich mit jedem Wort die Zweifel über die richtige
Wahl der Worte nur erhöhte und damit auch das
Bedauern darüber, dass mit jedem weiteren Wort die
Gelegenheit für die Worte, die ich wegließ,
unwiderruflich dahin war; und so hetzte ich über
meine eigenen Worte hinweg, mit jedem Wort, das ich
ausließ, brachen meine Sätze immer weiter ein; aber in
Deinen Blicken konnte ich das, was ich nicht
auszusprechen wagte oder in der drängenden Zeit
nicht mehr ausdrücken konnte, mitlesen: Deine Augen
als Archiv meiner Kladden, Dein Lächeln ergänzte sie
und führte meine Sätze zu Ende, vollendete sie,
stimmte ihnen zu, Deine Rührung ergriff meine
Worte, sie fanden ihre Bestimmung in ihr: eine
Rührung, die Ausdruck von Dankbarkeit war, die sich
gleichwohl nicht von dem Gefühl des Gerührtseins
mitreißen ließ, sondern sich stattdessen hinter Deine
Bescheidenheit zurückzog, die jedem meiner Worte
ihre dankbare Anerkennung beschied, an der ich mich
festhielt, die ich mit meinen Worten festzuhalten
versuchte, weil sie mir in diesem Moment zum letzten
Mal zuteil wurde, die durch mein unerfülltes
Verlangen überbeansprucht wurde, weil sie mir als
Ersatz für die Zuneigung diente, die Du mir nicht
entgegenbringen konntest.
„Ja, nun ist ist es also so weit.“ Die Zeit, die in der
Ewigkeit, die ich mit dem Verzögern jedes meiner
Worte zu bewirken suchte, mit jedem Deiner
Atemzüge immer unaufhaltsamer wurde, die meine
Worte im selben Moment immer gedrängter,
undeutlicher werden ließ, löste sich in Deinen Blicken
auf, die Angst, die Zeit in jedem Moment zu verlieren,
ließ sie immer bedrohlicher werden, meine Worte
versuchten die Leere der Zeit zu bewältigen – „Ich
möchte dir gerne sagen, dass ich mich für dich
freue…,“ – die Zeit löste sich Deiner
Liebenswürdigkeit auf – „dass du glücklich geworden
bist:“ – Blicke erwartungsvoller Ungläubigkeit und
dankbarer Annahme drückten sich durch die
putzschattige, marinblaue Feuchtigkeit, die an Deinen
Linsen verdunstete und Deiner Verlegenheit
vornehmen Glanz verlieh – „so ist wenigstens einer
von uns beiden glücklich geworden.“ – Deine Blicke
zogen sich in sich selbst zurück, als ob ich durch
Deine Augen in Dich hineinsehen und in der
Unendlichkeit des Schädelraumes die vornehm sanfte
Weite Deiner edlen Gesinnung erschauen könnte…
Gerne würde ich jetzt wieder durch Deine Augen in
Dein Wesen schauen, aber Du weißt ja gar nichts
davon, dass ich diesen Brief an Dich schreibe, und
wahrscheinlich wirst Du auch, selbst wenn Du ihn
jemals erhalten solltest, gar nicht so weit lesen, Jana!
„…und wenn man jemand wirkliche Wertschätzung
entgegenbringt, dann sollte es doch auch möglich sein,
sich für das Glück des anderen zu freuen, selbst wenn
man selbst…“ – an dieser Doppelung blieb ich jedes
Mal hängen, so oft ich Dir diesen Satz im Stillen
vorsprach; noch wenige Minuten vorher, als ich unter
den Deckenbalken des Fachwerkes auf Dich wartete,
noch als ich den Abend über im Innenhof saß und
über einem Weizenbier auf halb elf abwartete – noch
während ich es zu Dir sagte, blieb ich, während ich im
Innern meine eigenen Worte mitsprach, beinahe
hängen – „also, dann sollte es doch auch möglich sein,
sich für das Glück des anderen zu freuen, auch wenn
man selbst kein Teil des Glück ist“. Die Fairness, für
die Dein frisch gefundenes Glück so rücksichtsvoll
Raum ließ, führte Deine Hand zu meiner Schulter,
legte sie auf sie und – anders als bei früheren
Gelegenheiten, wenn ich an der Bar saß und Du mir
den Kaffee von außen brachtest, statt ihn mir über die
Theke zu reichen, und Deine Hand freundschaftlich
auf meine Schulter legtest – bewegten Deine… –
Gefühle, das hattest Du mir ja versichert, hättest Du
keine für mich – bewegte Deine mitfühlende Hand
sich über meine Schulterklappe, versuchte, meine
Enttäuschung zwischen ihrer Innenseite und meiner
Schulterklappe zu zerreiben, und teilte doch die
Verlegenheit in immer kleinere Augenblicke auf, die
zugleich
etwas
drängend-unentschlossen-Eiliges
hatten, die für einen Moment unser gegenseitiges
Einverständnis festhielten und doch zugleich über sich
hinaus wiesen und daran mahnten, dass die Zeit ablief,
während sich mein ganzes Bewusstsein darauf richtete,
meine Arme unbewegt an mir herabhängen zu lassen,
auch weil meine schwerfühligen Arme unter ihrer von
außen brennenden, von innen spannenden Haut die
Berührung Deiner Schultern gar nicht hätten
empfinden können; aber eben auch, weil ich Deine
Gefühle nicht beanspruchen wollte, sie nicht gegen
Deinen Willen auf mich richten wollte. So behielt ich
sie, scheinbar unberührt von Deiner Berührung, eng
an mir herabhängend, während Deine Hand durch
immer zarteres Berühren die Zeit unter ihren Fingern
auf meinen Schultern feststrich und den Moment des
Abschieds hinauszuzögern versuchte; meine Schulter
gab Deiner Hand durch leichtes Anheben Deine
Neigung zurück, während ich Deine Schulter nur mit
Blicken streifte: zart gehauchtes Lila erfüllte die
Herbstluft: „Du bist ein guter Mensch!“, bemüht, mir
mit diesen Worten das zu geben, was mir Du mir nicht
geben konntest oder zumindest nicht zugeben
wolltest, während meine Selbstzweifel Deine Worte
zurückholten, die sich mir gleichwohl sperrten, und
durch das weinrote Dunkel sah ich Deine Blicke, sah
in Deinen Augen die Blicke meines Vaters
aufleuchten, dessen Stimme das lilazarte Hauchen
durchbrach: „Du wolltest das nie! Das bist du selbst
schuld! Weil du deine Mitmenschen immer
bevormundest und sie nicht ernst nimmst!“, und mein
innerer, halbrunder Raum öffnete sich wieder in die
Unendlichkeit des Raums, die mich bedrohte, Dein
Gesicht verschob sich, teilte sich, Deine Worte
prallten an meiner inneren Halbkugel ab und glitten
unter den Bildern vergangener Tage hindurch, Deine
Stimme legte sich, auf meine Ohren, auf meine Haut,
aber von innen drückten die Bilder vergangener Tage
gegen die Schläfen und die Stirn, die Stimme meines
Vaters verzerrte das lila Hauchen, seine Augen stachen
einzelne Deiner Worte aus Deinen Sätzen heraus,
mein Stolz wurde zusammengedrückt und brach nach
vorne in die tiefe des Raumes ein, für einen Moment
lösten sich in der Unendlichkeit der zurückliegenden
Jahre Deine Worte auf: ich spürte, wie mein Vater sie
mir wegnahm, wie sie in den Zweifeln, die sein
wütendes Grinsen in mir schürte, versanken, wie er
mich von ihnen ablenkte, bis ich sie beinahe ganz
verpasst und mich auch für diesen Verlust wieder
schuldig gefühlt hätte; ich spürte, wie mein Weinen
von damals unter den verdrängten Bildern wieder
durchkam; aber es half nichts: ich musste es wie all die
Jahre unterdrücken, und Dein Arm streckte sich zum
zweiten Mal nach meiner Schulter aus, die
weißverputzten Wände und die Decke mit den
Fachwerkbalken traten hinter Dir wieder vor der
unendlichen, tiefen Schwärze der Erinnerungen
zusammen, gaben mir wieder halt, und in diesem
Moment vernahm ich wieder Deine Worte, und sie
erinnerten mich daran, dass ich vom ersten Tag an in
ihnen Verständnis fand, das inzwischen, nachdem Du
mich schon zuvor, als wir zuletzt oben an dem kleinen
Tisch saßen, an dem Du immer die Bestecke poliert
hast, danach gefragt hattest, zu einem tiefen,
mitfühlenden Verständnis sich entwickelt hatte; und in
diesem Moment wusste ich, was ich an Dir habe, Jana,
und für einen Augenblick überwand ich unter Deiner
Hand meine Scham, Deine Hand wertete mich für
einen Augenblick auf. Zwischendrin hast Du dann
noch meine Idefix-Krawatte kurz angehoben – um die
Verlegenheit aufzuheben.
„Ich danke dir, dass du so fair mit mir umgegangen
bist“. Du hast noch schnell etwas geantwortet, und
dann nochmal um Verständnis gebeten, dass Du erst
später in die Geschenke schauen würdest, und zum
letzten Mal trugen Deine Füße Dich über die
Kleinsteinpflaster, und Dein Gang zog den lilazarten
Hauch und den silbrig, weinroten Glanz mit sich, zog
ihn vom Kirschlorbeer, Blauregen und dem
Olivenbäumchen ab, die einschnappende Tür nahm
das zarte Lila und das Weinrot mit sich in den
Barraum, und von Blauregen, Kirschlorbeer und
Olivenbäumchen blieben nur noch die dunklen
Blätter, die von dem ockergelben Schummer unscharf
umflissen wurden.
Aber immer, wenn ich heute durch den Hintereingang
über den Innenhof komme, und wenn ich mich dann
genau drauf konzentriere, auf den Kirschlorbeer, auf
den Blauregen und das Olivenbäumchen, dann
schimmert das Oliv wieder lilasilbrig auf, Deine
Hüften rühren die Äste des Lorbeers zart beiseite, und
die Blätter des Blauregens werden von dem zarten
Hauch lilaröslicher Fülle angehoben und wehen Deine
Blicke aus der Tiefe Deiner Augenhöhlen zu mir
herüber, fächern Deine Stimme sanft in das Rauschen
des Weinlaubes, das sich später im Herbst rot in die
Neigung des Tages sehnen wird; manchmal, wenn ich
heute wieder dort sitze und den Rauch meiner
Zigarren, Rillos und Pfeife in das lilazarte Hauchen
blase, das unter den blauregenen Blättern zurückblieb
und dort den Winter überdauerte, ist es mir, als
winkten sie mir entgegen, und manchmal, wenn ich
durch den Hintereingang komme, spüre ich, wie sich
der Ast des Olivenbäumchen auf meine Schulter legt –
er ist jetzt schon fast so groß wie Du; dann schnappt
die Türfalz wieder aus der Falle, und ich sehe Dich
durch die Tische wieder auf mich zukommen, und oft,
wenn ich durch den Hintereingang rausgehe, bleibe
ich vor dem Eisengattertor stehen, wenn es nur halb
offen steht, und lehne ich es wieder an den weißen
Putz an; die Zeit, die ich damals nicht aufhalten
konnte, ist unter den Deckenbalken des Fachwerks
stehengeblieben. Dann verabschieden wir uns wieder,
und vielleicht beobachten mich die anderen und
fragen sich, warum ich jedes Mal ausgerechnet bei den
Mülltonnen stehen bleibe. Aber sie stehen ja dann
hinter mir, und der Duft Deiner Haut und der Glanz
Deiner Augen legen sich um mich und lassen alles
andere nur im lilazarten Hauch weinroter Zärte
spüren.
Aber wenn ich mich nun frage, wie ich Dich eigentlich
kennengelernt habe? Nun, Du warst halt einfach
plötzlich da, aber so behutsam, dass Du Dich aus dem
lauen Kommen und Gehen der Gäste, aus der
schattigen Juliluft, die über der Theke, der Zapfstation
und der Kaffeemaschine lag, aus dem stetigen Bringen
und Abholen der Tablette, mit denen Ihr bei jedem
Gang ein Stück malzig, würzige Frische und den Duft
dampfgepreßter Röstbohnen mit auf die Terrasse und
die Insel nahmt und jedesmal, wenn Ihr wieder
reinkamt, ein Stück lauer Juliluft, die im Schein
cremeweißer Lichtflecken auf den schwarzen
Tabletten lag, mit hereinbrachtet, nur nach und nach
herausgebildet hast: wie allmählich zu Deinem eng
nach hinten zusammengezogenen umbrabraunen Haar
Deine Augen hinzutraten, die leicht ungläubig, aber
unbeirrbar aus der verständnisvollen Tiefe Deiner
Augenhöhlen schauten und immer zunächst Vertrauen
vorschossen! Unbemerkte, unvermutete zarte Schatten
lösten sich aus dem schattigen Nachmittag, nahmen
Deinen Duft an, behutsam bedächtige Bewegungen
nahmen Deine Gestalt an. Damit hast Du Dich mir
irgendwann – heute weiß ich, dass es nach dem 15. Juli
gewesen sein muss – aus den vielen Händen, die stets
die Tabletts leer räumten und wieder füllten, aus den
schwarzen Bacardihemden und weißen Bacardiblusen,
dem beständigen Ausklopfen der Siebträger, den
wechselnden zusammengesteckten Frisuren und mehr
oder weniger füllig anliegenden Haaren – nur Dana
hat sie noch offen getragen - heraus empfohlen. Die
Augen, die jede Beobachtung kommentarlos
kommentierten, mit dem untrüglichen Gespür und
dem sicheren Blick für die Verläßlichkeit und die
Glaubhaftigkeit dessen, was Deine Augen erspürten
und Deine Blicke erfassten: mit ihnen hast Du jedes
meiner Worte mit prüfender Strenge unter Deinen
Augenliedern hindurch zu Dir in Deine Augenhöhlen
gezogen, sie von rechts nach links gedreht, in Dich
hineingeschaut und mit Deinen Augen schließlich
nach unten, seitlich weg in den Winkel der
Selbstvergewisserung geblickt, worauf Du auch mit
Deinen Lippen meine Worte nachvollzogen hast, die
sogleich ein Lächeln freigaben, das einem Intellekt
entstieg, der sich bestätigt fühlte, und das den Weg
erleuchtete, auf dem Deine Antworten zu mir fanden.
Und wenn ich sie dann aufgriff und meinerseits Worte
zurückgab, mit denen ich Dir zu verstehen gab, dass
ich jene Unbeirrbarkeit und jenes untrügliche Gespür
erkannt hatte, hast Du Deine Blicke wieder von rechts
nach links gedreht, und dabei mit einer seitlichen
Bewegung Deinen Körper gegen die Richtung Deiner
Blicke rausgedreht und noch tiefer in Dich
hineingeschaut und –gehört, dann hast Du Dich mit
einem Bein schon dem nächsten Gang zugewendet,
Deinen Fuß einen Schritt zurück in die Deckung
Deiner Skepsis gesetzt, in deren Schutz sich Deine
Ungläubigkeit ihre Unbeirrbarkeit bewahren konnte,
und ich sah Deinen Blicken und Deinen Lippen, die
Du halb offen stehen gelassen hast, an, dass Deine
Unbeirrbarkeit und Dein Intellekt sich austauschten
und verständigten, die Ungläubigkeit ablegten, und in
dem Bewusstsein, erkannt worden zu sein, vom
Anspruch an sich selbst getrieben, sich ihre
Erwiderung zurechtlegten, und wenn Du dann wieder
zurückkamst, lag die fertige Antwort auf dem leeren
Tablett in Glanz Deiner Augen und dem Schein
Deines Lächelns. Du gehörst zu den Menschen, die
noch gelernt haben, mit den Augen zu hören und mit
den Ohren zu denken. Und manchmal, wenn Du nicht
gleich die Zeit hattest, um unsere Worte zu vertiefen,
hast Du gesagt: „Oh! Da muss ich später noch mal
drauf zurückkommen!“ Und, Jana, wenngleich wir uns
vielleicht nie so in die Augen geschaut haben, wie mir
das später so sehr gewünscht hätte, so haben wir uns
doch stets auf gleicher Augenhöhe bewegt.
So hast Du Dich mir, wie gesagt, empfohlen. Die
Formulierung mag archaisch klingen, aber vielleicht
erinnerst Du Dich noch an sie: sie stammt von Dir. In
der Erinnerung an Dich bewahrt sie sich das
Ehrwürdige an ihrem Klang und legt doch zugleich
das Unterwürfige, den Tonfall unverbindlicher
Höflichkeit, ab. Von Dir gesprochen, nahmen sie
jenen Wohlklang an, mit dem sich Deine ganze
Vornehmheit verbindet – von Dir gehaucht nahmen
sie ihre lila Zärte an. Aber diese Vornehmheit nahmen
sie nicht allein Kraft des Respekts an, der durch den
Klang, den Du ihnen gabst, zu ihnen hinzutrat, der sie
trug; Eleganz hast Du Deinen Worten immer auch
durch jede Deiner Bewegungen verliehen, deren
Eleganz auf sie überging: das zögerlich ungläubige
Zurücksetzen des Fußes, mit dem Du sogleich jede
Scheu, vielleicht auch Zweifel ausgetreten hast und so
den Raum freigabst für Deine Worte, die stets guten
Glaubens waren, ohne je für leichtgläubig genommen
werden zu können.
So saß ich auch Anfang August morgens rechts auf
der Terrasse, im graublauen Schatten der Sonne, die
hinter dem tief auf dem bleichen Pflaster liegenden
Morgendunst aufging, als aus dem Dunst allmählich
ein Schopf umbrabraunen Haares, das nach hinten in
den Dunst zusammengezogen war, hervortrat, als ich
in dem Schatten, der sich auf mich zu bewegte,
allmählich Dein Gesicht wahrnahm, das von Deinen
Füßen auf mich zugetragen wurde, die ihrerseits von
den graubleichen Pflastersteinen zart und ehrerbietig
angehoben und nach vorne geneigt wurden, von
einem zum nächsten weitergereicht wurden; so rollten
sie von einem Pflasterstein zum nächsten ab und
jedem Schritt, den sie zurücklegten, wohnte etwas
abgeklärt-Besonnenes inne, von jedem Stein, den sie
berührten, hoben sie die graubleiche Leere, die
alltägliche Öde, die bleichgraue Trostlosigkeit ab,
hoben sie die stumme, unsichtbare Geschäftigkeit, die
der Dunst zudeckte, auf, und so, wie sie den Schwung
der Pflastersteine an Deine Beine weiterreichten,
durchschritten Deine Beine den Dunst, der sich an
den Nähten Deiner Jeans auflöste und von tiefen Blau
durchsetzt wurde, während Deine Haut ihren
weinroten Glanz an den Dunst abgab; etwas
abenteuerlustiges, unternehmenslustiges lag in Deinem
Gang, so wie Du mit Deinem Rucksack, den Du mit
nur einem Träger geschultert hattest, auf mich
zukamst, so als ob er mit Dir und Du mit ihm die Welt
umreist hättest – hattet ihr beide ja auch, gestützt auf
Deine Füße, die auf den hunderten kleinen
Pflastersteinen verläßlich den richtigen Pfad fanden.
„Bist du jetzt morgens auch schon hier?“ Und
nachdem Deine Augen wieder kurz in sich
hineingeschaut hatten und aus der Tiefe ihrer Höhlen
die Gedanken empfingen, die Dein untrüglicher Sinn
ihnen anvertraute, hast Du Dich Deinen eigenen
Worten angeschlossen und mich gefragt, warum ich
eigentlich immer Mohrenköpfe mitbringe. Ich habe
Dir geantwortet, dass ich, wenn ich schon von
fremdem Geld lebe, Euch, die Ihr ja dieses Geld auch
erarbeitet, davon wenigstens was zuteil werden lassen
möchte. Und dass ich auch meinen Teil zu beitragen
möchte, Euch Eure Arbeit wenigstens etwas
erträglicher zu machen. Auch diese Worte hast Du
dann wieder im Winkel der Selbstvergewisserung
beäugt, nur das dieses Mal das Ungläubige nicht dem
guten Glauben wich. Vielleicht hast Du insgeheim die
Mohrenköpfe auf Dich bezogen, vielleicht auch auf
Dana. Nur warum eigentlich? Dieses Mal mussten sich
Deine Unbeirrbarkeit und Dein Intellekt länger
austauschen, und sie erbaten sich Bedenkzeit: Ob Du
wirklich in diesem Moment gebraucht wurdest, konnte
ich von draußen nicht hören; einem tatsächlichen oder
auch nur vorgegebenen Ruf folgend hast Du Dich
dann aus unserem Gespräch gelöst und Dich mir
empfohlen: „Ich empfehle mich!“ Und die
ungläubigen Augen drehten sich zur Tür, und das eng
anliegende, nach hinten zusammengezogene Haar
löste sich aus dem Morgendunst und zog sich hinter
dem Türrahmen zurück. Über dem Pfad, den Deine
Schritte gefunden hatten, trat die unsichtbare,
zunehmend entstummende Geschäftigkeit wieder
zusammen, aber die alltägliche Öde bliebt gebannt.
Und der weinrote Glanz blieb im Dunst vor der Tür
stehen, und der umbradunkle Schimmer durchdrang
die Luft des frühen Morgens, der durch die allmählich
aufsteigende Sonne zum Mittag gedrängt wurde.
Jana: Weiß ich, ob Du diesen Brief überhaupt jemals
erhalten wirst? Da Du mir ja Deine Adresse nicht
hinterlassen hast, weiß ich nicht, wie ich Dich
erreichen könnte. Und an Dana kann ich mich auch
nicht wenden, weil ich ihre Adresse ja auch nicht hab.
Aber vielleicht schreibe ich einfach nur drauf: „An
Dana und Jana in der großen Stadt“ – dann müsste der
Briefträger Euch doch finden.
Jana, was machst Du inzwischen so? Vielleicht
schreibst Du gerade wieder an einer Kurzgeschichte,
während Dana die „Gala“ blättert oder bei einem Glas
Rotwein ihren Simon Beckett wälzt. Aber vielleicht
hast Du den Brief auch schon längst aus der Hand
gelegt und gehst mit Dana shoppen – in der großen
Stadt.
Nun, Jana, wenn Du unsere Geschichte erzählen
solltest, würdest Du sie vermutlich als Kurzgeschichte
schreiben wollen; nur dass das ja der Gattung
widerspricht. Eine Handlung, die der ihr angelegten
Form zuwiderläuft; ich meine allein schon, weil doch
die Zeit, die dieser Brief umspannt, sich klar dem
Anspruch verweigert, sich auf wenige Augenblicke
und Momente eines Lebens zu beschränken. Kaum
eines der gängigen Merkmale würde erfüllt. Nicht
anders steht es mit den Mitteln, denen sich meine
Sprache bedient. So stehen meine Metaphern
keinesfalls im Dienste der Strukturierung oder
sprachlichen Verdichtung. Es sind schlichtweg keine.
Ich habe sie Dir abgewonnen. Weinrot und zart
gehauchtes Lila sind mehr als bloß metaphorisches
Zierwerk, denn sie treten ja nicht einfach an die Stelle
Deiner Erscheinung, sondern geben die unmittelbare
Wahrnehmung wider, die ich von Dir habe. Sie sind
kein sprachlicher Ersatz, um die drohende
Gleichförmigkeit abzuwenden, um zu verhindern, dass
sich Sprache schon nach wenigen Seiten in sich
erschöpfen würde; sie treten aber auch nicht als bloßes
Kolorit hinzu: würden sie die Ausdrucksmöglichkeiten
einfach nur erweitern, ohne in Deiner Person, in
Deiner Erscheinung selbst begründet zu sein, würden
sie die drohende Kapitulation des Schreibenden vor
der buchstäblichen Sprachlosigkeit nur immer wieder
aufs Neue um ein paar Seiten hinauszögern. Oft
scheint es, als trügen Metaphern nur noch über die
Zeilen und ihre Brüche hinweg, wenn diese sich selbst
schon längst nicht mehr tragen können; als ob sich ihr
Sinn allein in ihrer Setzung erschöpfe. Der Verdacht
liegt nahe, dass dem Unvermögen des Lesers
nachgegeben werden solle, dass nämlich einzig die
Metapher dem Leser noch erlaube, seine geistige
Nichtteilhabe hinter der bildhaften Abstraktion
dankbar zu verstecken, in deren Schutz er sein
Unverständnis als Kennerschaft bekunden kann,
während ihm konkrete, idiomatisch verbindliche und
semantisch schlüssige Sprache jenen Ort der
scheinintellektuellen Zuflucht vorenthält. So kann er
über das, was er nicht begreift, reden, indem er es
außer Acht lässt und sein Textverständnis dem
Einspruch Dritter entziehen. So kann er sich bei seiner
Kritik allein auf die Metapher stützen und seine Kritik
doch summarisch auf den gesamten Text beziehen.
Doch die Metapher kommt auch dem entgegen, der
sie setzt. Mittels der Metapher kann sich auch der
Schreibende nicht weniger als seine Leser von den
Anforderungen konkreter Sprache lösen und sich
gelöst, unverbindlich über sie hinwegsetzen. Was sich
von unmittelbar-konkretem Sprechen löst, soll sich
den Maßstäben entziehen, nach denen es insgeheim
gerne sein Wert zugemessen bekommen möchte. Mit
der Metapher will sich der Schreibende seinen
Zuspruch sichern. So hofft er von seiner Leserschaft
geachtet zu werden, während diese die Metapher
ihrerseits in Zweifel ziehen kann, ohne ihr
verbindliche Kritik entgegenhalten zu müssen, für die
sie einstehen müsste und die ihr nach ihrem eigenen
Maß wohl auch mißlingen würde; denn die Kritik am
Abstrakten verbleibt selbst im Abstrakten. Etwaige
Kritik wahrt so den Schein ihrer selbst nicht weniger
als den Schein der metaphorischen Sprachgewalt,
deren unmittelbare Einsichtigkeit sie ihr eigentlich
absprechen will. Sie lässt die Metapher stehen, wenn
auch nach denselben Maßstäben des VorläufigUntenscheidbaren, nach denen sich zuvor auch schon
der Schreibende für sie entschieden hatte, und
bestätigt ihr so letztlich den Anspruch, den sie ihr
nehmen will. So bleibt die Metapher im Raum stehen,
ohne dass sie für sich einstehen muss. Die Metapher
ist die verbale Flucht vor der Sprache, an der indes
nicht die Sprache schuld ist, sondern die, die verlernt
haben, sie zu Wort kommen zu lassen sowie der
gesellschaftliche Zustand insgesamt. Der Setzung der
Metapher haftet etwas Unantastbares von abstrakter
Kunst ganz allgemein an. Bildlich ist nicht
zwangsläufig anschaulicher. Oft hört man bei denen,
die ihren Autoren so begierig jede Metapher
abnehmen, den Ausspruch: „Darunter kann ich mir
etwas vorstellen!“ Damit geben indes sie mehr zu, als
ihnen lieb sein dürfte. Denn in der Tat können sie sich
darunter, und zwar nur noch darunter, etwas
vorstellen, weil ihnen die durch die humanistische
Tradition verbürgte korrekte Sprache nicht mehr
zugänglich ist: unter ihr können sie sich in der Tat
nichts mehr vorstellen. So verkommt die Metapher in
letzter Konsequenz zur bloßen Geste der
Verständigung zwischen dem Schreibenden und seiner
Leserschaft, der, indem er sich auf sein Publikum
zubewegt, sich immer weiter von dem entfernt, was
einzig seinen Gedanken einen adäquaten Ausdruck
verleihen würde. So durchziehen Metaphern als
sprachbehaftete Attraktionen die misslungene Sprache
und genügen einzig noch dazu, die Phantasie des
Lesers von einem Auftreten zum nächsten zu
beflügeln, damit dessen Aufmerksamkeit bewusst
abgelenkt werde von dem, was der Text nicht leisten
kann, und sich vom Text weg allein der Betrachtung
und Bewertung der Metaphern zuwenden möge. Im
Nu lässt sich die Phantasie des Lesers so dazu
verleiten, sich nur noch mit sich selbst zu
beschäftigen. Dann nämlich beschäftigt er sich nicht
mehr mit dem Text. Noch so lyrisches Ansprechen
der Phantasie kann aber nicht darüber hinweghelfen,
dass die Phantasie des Lesers nun einmal nicht
identisch ist mit der des Schreibenden und mit ihr
allenfalls das Abstraktionsvermögen und eine
ungefähre Vorstellungskraft teilt, ohne dass der Leser
jemals die eigene Phantasie der Phantasie des
Schreibenden entlang nachbilden könnte, die er in der
Wortwahl des Schreibenden zwar ausgedrückt findet,
aber dabei doch nur ihren Ausdruck vor sich hat, nicht
sie selbst. Mag der Leser sich auch noch so sicher sein,
sie verstanden zu haben, so ist es gleichwohl
vermessen, sie für sich selbst zu beanspruchen. Die
sprachliche Anstrengung, die die Metapher bezeugen
soll, ist zugleich Indiz dafür, die wirkliche sprachliche
Anstrengung, die korrekt-konkrete Sprache erfordert,
nicht leisten zu können. In ihr bezeugen sich der
Schreibende und seine Leser gegenseitig Respekt, in
dem sie sich in Wahrheit gegenseitig in ihrer geistigen
Trägheit respektieren: mittels der Metapher können sie
sich verständigen: allein dazu dient sie am Ende, nicht
etwa dazu, sich über den Text und die Aussageabsicht
des Autors zu verständigen.
Weinrot und zart gehauchtes Lila hingegen
entspringen zunächst ganz konkret meiner
Veranlagung, zu Tönen immer auch Farben zu sehen
und umgekehrt. Ich versuche lediglich, meine
Eindrücke, die Wahrnehmung meiner Sinne in Worte
zu fassen. Solche Metaphern – sollten sie dennoch als
solche zu begreifen sein – sind nicht an den
Erinnerungen entlang konstruiert, sie tragen auch
nicht ein etwaiges Geltungsbedürfnis des Autors zur
Schau. Allzu oft erweist sich in der vorherrschenden
Mode das, was an ihnen originell dünkt, als sorgfältig
geplante Berechnung, die ihre ganze Kraft darauf
verwendet,
den
Leser
durch
unerwartete
Wortsetzungen zu verblüffen und aufhorchen zu
lassen und so elitär zur Geltung zu drängen; gleichsam,
als ob der Schreibende mit jeder neuen Setzung seine
Erfindungsgabe zu Schau tragen wolle, die sich indes
in solcher Beflissenheit erschöpft und kaum über sich
hinausweisen kann. Allenfalls weist sie auf das
Unvermögen hin, die Dinge konkret zu benennen.
Fast scheint es, als falle es manchem Schreibenden
leichter, sich in Metaphern zu ergehen, die ihn
immerhin vor der Verlegenheit bewahren, sich konkret
festlegen zu müssen, als schlichtweg gut zu
formulieren. Solche Ausdrücke drücken lediglich sich
selbst aus. Jede Metapher ist immer nur ein Versuch,
ihr haftet stets das Moment des nicht Endgültigen an;
sie wirken nur vorläufig. Sie befriedigen allenfalls das
Verlangen der zur literarischen Szene Zugehörigen,
intellektuell herausgefordert zu werden. Für den
Unvoreingenommen werfen sie stets die Frage nach
dem besseren Einfall auf, der dem Autor nicht
beschieden war: So lässt die Metapher das
metaphorisch Beabsichtigte letztlich offen, so wie sie
das literarisch Intendierte insgesamt sprachlich offen
lässt; als ob der Schreibende bildliche Ausdrücke
aufbiete, um seine Leser, vor allem aber sich selbst
dafür zu entschädigen, dass er sich schlichtweg in
seiner Sprache nicht zurechtfindet; idiomatisches
Gespür und semantischer Sinn sind ihm nicht
zugänglich: Weder verfügt er über das Wisssen um die
einzig richtige Fortführung einmal begonnener, aus
dem diffusen Sprachschatz hervorgeholter einst
aufgegriffener aber nie wirklich begriffener
Wendungen, noch macht er sich die Mühe, die Worte
genau auszuhören. Er traut den Worten nicht mehr zu,
was bereits in ihnen steckt, und deshalb traut er sich
selbst nicht mehr über den Weg. Idiomatische
Unsicherheit und mangelndes semantisches Gespür
machen gegen die konkrete, unmissverständliche
Sprache misstrauisch und diffamieren sie darum als zu
einfach. Bequemste und zugleich feigeste Ausrede ist
die, den Einwand gegen die über die Ufer tretende
Metaphorik und das Einfordern gediegener, verbürgter
Sprache als der jeweiligen Textsorte unangemessen
zurückzuweisen. Mal gilt letztere als nicht
ausdrucksstark genug, mal als wissenschaftlich
ungenügend, je nach Standpunkt, den es zu verteidigen
gilt. Die Metapher ist der Elfenbeinturm des Zwerges,
der die Musen gerne anrufen möchte, ohne je den
Turm ersteigen zu können.
Weinrot und zart gehauchtes Lila hingegen sind Dir,
Jana, Deinen Bewegungen, Deinem ganzen Ausdruck,
Deiner Liebenswürdigkeit und er der so tief von Dir
für mich empfundenen Güte abgewonnen. Sie sind
Ausdruck meiner konkret-subjektiven Wahrnehmung
Deiner Person. Deine Bewegungen, der Duft Deiner
Haut, das Leuchten Deiner Augen sind selbst
Metaphern Deiner Liebenswürdigkeit und Deiner
Fairness. Wollte man je meine Metaphern ihrer
inneren Logik und ihrer Glaubhaftigkeit wegen
anzweifeln, so könnte ich sie doch stets rechtfertigen
mit dem Hinweis darauf, dass sie ohne jedes
konstruktive Bemühen der Wirklichkeit nachgebildet
sind. In ihnen drückst Du Dich selbst aus.
Dasselbe gilt natürlich auch für Dana
Damit überträgt man den Worten indes ein hohes
Maß an Verantwortung. So erliegt der Schreibende
stets der Versuchung, in Worte zu fassen, was die
Worte selbst kaum fassen können. Kann man selbst
im Augenblick des Geschehens das Erlebte kaum je
wirklich erfassen, so sollen die Worte dieses
intellektuelle und psychologische Defizit rückschauend
kompensieren und das Versäumte nachholen. Die
Worte sollen einstehen für das, was sie schon zuvor,
als man sich in der dem Leser mitgeteilten Situation
ihrer zu bedienen versuchte, nicht zu sagen
vermochten; als sie sich dem versagten, was sie sagen
sollten. Die sprichwörtliche Sprachlosigkeit soll
bewältigt werden, indem man sich wortreich, mit
lyrischer Eleganz und metaphorischer Beredsamkeit
über sie hinwegsetzt. So zwingt man die Worte, deren
man sich bemächtigt, sich selbst über ihre eigene
Ohnmacht hinwegzuhelfen. Metaphern sollen
Plastizität bewirken inmitten der sprachlich kaum
greifbaren Botschaften des Schreibenden. Sie sollen an
der Oberfläche der Sprache in die Handlung die
Struktur bringen, die ihr unter dieser Oberfläche fehlt.
Mit Poesie versucht der Schreibende zudem das in der
zurückliegenden Situation Misslungene nachzuholen,
immer in dem Glauben, endlich aus den Worten das
herausholen zu können, was sie zuvor nicht hergaben.
Was allgemeinsprachlich als Scheitern und Versagen
bezeichnet wird, ist lediglich Ausdruck des ängstlichen
Festhaltens an der Illusion von der Perfektion, der
sprachlichen Zulänglichkeit. Die Annahme, man
könne rückschauend, auch mit, wie man so sagt,
Abstand zu dem Erlebten, das Erlebte durch die Mittel
der Poesie einsichtiger vor Augen führen und gar
nachtragen, was einem in der Situation selbst verwehrt
bliebt, rückt die Poesie immer in die Nähe von
Tagträumerei und ist in letzter Konsequenz Betrug:
am Leser nicht weniger als an sich selbst; Literatur
haftet immer der Verdacht an, das Ungeschehene
geschehen machen zu wollen: Der Versuch, das
Geschehene verbindlich festzuhalten, geht immer
einher mit der Gefahr, in das Geschehene korrigierend
einzugreifen. Vor der schwärmerischen Fülle des
großen Romans suchten die Autoren des
Nachkriegsdeutschland in der Kürze des Augenblicks
Zuflucht, in Abkehr von der ausschweifenden Länge
suchten sie das Heil in der sprachlichen Verkürzung.
Indem sie buchstäblich einzelne Augenblicke aus dem
langen Leben eines Menschen herausschnitten,
schnitten sie zugleich den Lesser vom dem langen
Leben ihrer Helden ab und glaubten, durch
strukturelle
Verkürzung
und
metaphorische
Verdichtung der Sprache der Schicksalshaftigkeit mehr
Nachdruck verleihen zu können. Die lyrische
Ausschweifung wich einer zunehmenden Komplexität
der Sprache, die die Komplexität des Lebens indes
nicht besser bewältigte, sondern sie nur sprachlich vor
sich hertrieb und den Leser von einer Kurzgeschichte,
also einer Augenblicksschilderung, auf die nächste
vertröstete. Die Abkehr von der Illusion des großen
Romans mündete in die Hingabe an die
Unmittelbarkeit des Augenblick, die nicht weniger
illusorisch war.
Aber vielleicht findest Du trotz aller formimmanenten
Widrigkeiten, die durch die Textsorte schon vorab
bedingt sind, eine geeignete Form, eine, die geeigneter
wäre, als das bloße Aufschreiben von Erinnerungen,
das Schreiben eines Briefes, den Du wohl ohnehin
niemals lesen wirst. Aber ich weiß ja nicht, wie Du mit
all diesen Fragestellungen umgehst. Vielleicht
befindest Du Dich ja schon mittendrin, vielleicht hast
Du längst schon die exemplarischen Lösungen
gefunden und lässt mich hier weiter mit den alt
hergebrachten, längst überholten Mitteln arbeiten,
anstatt mich an Deinen Lösungen teilhaben zu lassen.
Nun, Jana, das ist eigentlich der einzige Vorwurf, den
ich Dir machen muss, sofern nicht das Wort zu groß
gewählt ist, weil es in dem Verdacht steht, all die
anerkennenden Worte, die ich zuvor für Dich
gefunden habe, zurücknehmen oder doch zumindest
relativieren zu wollen. Aber natürlich weißt Du, dass
es nur augenzwinkernd gemeint ist. Natürlich mache
ich Dir keinen Vorwurf; vielmehr bedauere ich ganz
ehrlich, Deine Kurzgeschichten nie gesehen zu haben.
Gezeigt hast Du mir nur Dein Tagebuch. Das
Tagebuch, das Dich schließlich zu dem Entschluss
geführt hat, in die große Stadt zu ziehen, mit der
Überlegung, vielleicht auch einmal in den Journalismus
zu wechseln oder gar gezielt daraufhinzuarbeiten, den
Weg des kritischen Weltbegleiters zu gehen: das
Tagebuch, das Dich von den Aufzeichnungen über
viele andere kleinere und größere Städte der einen
großen Stadt zugeführt. Hast Du nun diesen Weg
eingeschlagen? Ich hatte Dir vorgeschlagen, Dich bei
den dortigen Zeitungen, da sie auch überregionale
Bedeutung besitzen und auch jenseits der großen Stadt
erscheinen, vorzustellen. Immerhin wäre es nicht so
mühselig, wie Tag ein, Tag aus Service in der
Gastronomie zu machen; zudem wäre es ja auch viel
lohnender. Und dann musst Du ja auch sehen, auch
das habe ich Dir an jenem Abend gesagt, als ich zum
zweiten Mal zu Dir raufkam – beim ersten Mal hatte
ich Dich an der kleinen Bar aufgesucht, während Du
die Spülmaschine ausräumen musstest; beim zweiten
Mal nun saßt Du an dem kleinen Tisch am Fenster –
jedenfalls musst Du ja auch sehen, dass Du zur
jeweiligen Veranstaltung freien Eintritt hast, und das
musst Du ja dem Honorar hinzurechnen, und so
gesehen liegt die Verdienstaussicht an einem Abend, je
nachdem, was Du nun als Eintrittspreis zugrundelegst,
auch schon mal bei sechzig, siebzig Euro und mehr.
Natürlich würdest Du nicht gleich zu den großen
Terminen geschickt, aber das ändert nichts an der
Honorierung und zudem würde man Dir Dein
Engagement bei der Redaktion sicher auch schnell
honorieren; allerdings solltest Du dabei stets Deine
Karriere im Auge behalten und Dich nicht allzu lange
immer nur zu den Terminen schicken lassen, die sonst
keiner machen will und zudem für die Redaktion,
wenn sie einen ihrer langjährigen Mitarbeiter schicken
würde, wegen der höheren Forderungen, auch zu teuer
würden. Sonst wird die stets wieder bekundete
Wertschätzung für Deine Arbeit zum Vorwand, Dir
die Anerkennung, die Du Dir mit steigender Zahl der
Artikel tatsächlich erarbeitet hast, nicht zuteil werden
lassen zu müssen. Die Bitte um Geduld gerät so zur
ewigen Vertröstung, der redaktionelle Einwand gegen
Deine Texte zum schlechten Vorwand für die niedere
Absicht, Dir die wohlverdiente Anerkennung niemals
zuteil werden zu lassen: die Bitte um Geduld soll Dir
die Vergeblichkeit Deiner Bemühungen als bloß
vorläufig vor Augen führen und Dich auf eine spätere
Würdigung hoffen lassen, damit Du schließlich an
jener hoffnungsvollen Aussichtslosigkeit zerbrichst;
damit Dein Selbstbewusstsein an jener Vergeblichkeit
schwindet: wann immer Du mehr einforderst, wird
man Dir das als vermessen auslegen und so gezielt
Selbstzweifel streuen. Lässt Du diese Zweifel in Dir
aufkommen, garantieren diese Zweifel denen, die über
Deine Zukunft zu entscheiden haben, dass sie auch
weiterhin unwidersprochen bleiben. Überwindest Du
aber diese gezielt gegen Dich, in Dich gestreuten und
doch Deiner unwürdigen Zweifel und versuchst sie
auf ihre eigenen Worte, Worte der stets beteuerten
Wertschätzung festzulegen, werden sie Dir das erst
recht als vermessen auslegen.
Nun, bist Du also zu den Zeitungen in der großen
Stadt gegangen? Ich warte noch immer darauf, mir
eines Morgens, hier in der Passage in der kleinen Stadt
eine Zeitung aus der großen Stadt zu kaufen, und ich
stelle mir vor, wie ich sie auf der Suche nach einem
Artikel von Dir durchblättere, wie plötzlich, noch ehe
Dich Deinen Namen entdecke, das Weiß zwischen
den Zeilen weinrot silbrig aufschimmert, wie sich die
Schwärze der Buchstaben plötzlich aus der Tiefe des
Papiers weinrot dehnt und die Zellulose jedes einzelne
Wort, das sie trägt, lila zart aus ihren Fasern haucht.
Jedenfalls hatte ich Dir vorgeschlagen Dich in der
kurzen Zeit, die vor Deinem Wegzug in die große
Stadt noch verblieb, bei unserer Zeitung hier
vorzustellen. Das war an jenem Abend, als Du Dein
Tiramisu mit mir gegabelt hast.
Mit zögernden Füßen kam ich an diesem Abend,
nachdem ich in einem unbeachteten Moment zu Dir
ins Restaurant hinaufzögerte, auf den kleinen Tisch zu,
an dem Du die Bestecke polieren musstest. Mit
bedächtigen Schritten, die die Zufälligkeit bedenken,
die sie vorzugeben versuchen, stets darauf bedacht,
jene Zufälligkeit von einem Schritt zum anderen
abzulegen und sich zu der Zuneigung, die sie trägt, zu
bekennen und aufrechten Gangs auf Dich
zuzuschreiten. Stets bemüht, der Situation eine
Selbstverständlichkeit zu verleihen, die auch Dich die
Situation als selbstverständlich empfinden lassen
sollte. „Du kannst ja noch mal drüber nachdenken,
aber es würde natürlich gut aussehen, wenn du dich
später dort vorstellst und wenigstens ein, zwei Artikel
vorweisen könntest.“ Da kannte ich schon Dein
Tagebuch. Als wir dann später unten an der langen
Seite der Bar saßen – als Du Dich dann zu mir gesetzt
hast - und Du Dein Tiramisu mit mir geteilt hast, hast
Du ungläubig kalkulierend die Aufrichtigkeit meiner
Worte zu ergründen versucht, indem Du sie durch das
Bekunden von Selbstzweifeln ein zweites Mal
herausgefordert hast: „Du überhöhst mich!“ Aber
Jana, keinesfalls habe ich Dich je überhöht,
wenngleich ich Dich damals wie heute sehr hoch halte.
„Ich muss mal ein, zwei Nächte darüber schlafen.“ Als
ich an diesem Abend das Lokal nach vorne, durch den
offenen Samtvorhang verließ und schon alle GutenAbend-Wünsche hinter mir gelassen hatte, die letzten
Zurufe noch im Rücken spürte, hast Du mir noch ein
„Schlaf gut!“ nachgerufen – so wie ich es Dir ein paar
Tage vorher, freitags oder samstags, durch das späte,
verrauchte Schummern, durch die Schatten, den die
Gäste in der neonroten Flut des Drehstrahlers auf sich
selbst und in die stehende Wärme warfen, durch die
wie so oft viel zu drückende Musik zugerufen hatte:
Deine nach hinten zusammengezogenen Haare
schimmerten im Glanz von Whiskey, Cognac und
Grappa Flaschen, in deren Schatten Deine Augen
ungläubig ruhten, die ihrerseits meinen Gute-NachtGruß hinter dem Dunst der späten Stunde
unverdächtig,
scheinbar
arglos
zu
mir
zurückspiegelten: dieses Mal hast Du meine Worte mit
Deinen Blicken an Dir herabgesenkt und dann
fragend, deutend zu Deinen Mitarbeitern zur Seite
geschaut. Doch während Du meine Worte scheinbar
vor Dir, an Dir herabschauend im Raum stehen
gelassen hast, nicht zurückgewiesen, aber auch nicht
angenommen, hast Du sie dann doch wieder in Dich
hineingeschaut - und hast sie Dir gemerkt.
Ja, Jana, Deine Augen haben sich meine Worte
gemerkt. Stets haben sie sich in Deinen Blicken weiter
bewegt, stets haben Deine Blicke sie fortgeführt,
Deine Augen bewahrten sie sich, trugen sie mit sich
rum; in Deinen Augen horchten meine Worte auf, in
Deinen Blicken wurden sie immer wohl bedacht.
Deine Augen eilten meinen Worten voraus und
dachten jeden Satz, den ich zaghaft begann, für mich
zu Ende. Sie beobachten mich noch immer durch die
Schatten der Erinnerung. Und wenn ich nun meine
Erinnerungen an Dich aufschreibe, so führen sie
meine Gedanken: ich versuche, vor Deinen Augen zu
bestehen.
Ich meine, ich möchte natürlich auch vor Danas Urteil
bestehen – falls Ihr überhaupt so weit lest. Jetzt hab
ich mich so lange mit Jana aufgehalten, dass ich
wiederum Dana um Verständnis bitten muss. Aber es
ist halt schwer, einen Brief an zwei Personen
gleichzeitig zu schreiben.
Es ist inzwischen wieder nach neun, der August drängt
die Sonne, die tagsüber den Rasen ausbrennt und
selbst Salbei und Thymian vertrocknen, beinahe
absterben lässt, mit jedem Abend schon wieder
merklich früher unter den Horizont. Ich habe noch bis
in die ersten hölzernen Schatten, die der einzige
Kirschbaum, die Rotbuche und die Tränenzypresse
auf den unteren moosbedeckten, von Steinbrechbrech
überwachsenen
und
von
Walderdbeeren
durchzogenen Hang werfen, dem der allmählich sich
neigende August sein leuchtend sattes Grün und den
goldgelben Glanz entzogen hat und der nun in der
sich darüberlegenden feuchtwarmen Dämmrung, die
im August nie richtig Nacht wird, ruht, aus dem
Weißdorn die Wassertriebe herausgeschnitten. Bei
allmählicher Nacht schneide ich mir, wie jeden Abend,
meine Tomaten auf: gesalzen, gepfeffert, Olivenöl,
Basilikum, bedeckt mit einem Daumenbreit Käse.
Dazu Gurkensalat, ohne Soße, nur mit Zitrone und Öl
und der Petersilie aus dem seit kurzem am mittleren
Hang, auf der Wiese, unter der Linde angelegten
Rundbeet. Mit der Leichtigkeit des Magens, der sich
ohne ein Gefühl von Fülle gesättigt fühlt, ziehe ich mir
wieder eines meiner farbenfrohen, kurzärmeligen
Hemden über und laufe zum Busbahnhof hinunter…
In der feuchtwarmen Milde der Nacht, die sich auf die
Fachwerkverstrebungen und die weißverputzte
Gefächer gelegt hat, auch über Kirschlorbeer,
Blauregen und das Olivenbäumchen, die ihrerseits ihr
Grün an die Nacht, an den späten Augustabend
abgegeben haben, da, wo im schummrigen Gelb der
Wandlaternen die tagdunkle, feuchtwarme Luft
aufleuchtet, und die Laternen ihr goldgelb in die
blaudunkle Nacht streuen und das schon zwei, drei
Stunden vorher untergegangene Sonnenlicht in die
nachtdunkle Wärme verlängern, unter dem die Köpfe
der Gäste glänzen; da, wo sich die zahllosen Stimmen
aus der Mühe und Anstrengung des zurückliegenden
Tag zu später Heiterkeit und bierseliger
Ausgelassenheit erheben: dort, im Hinterhof sitzt die
Chefin mit zwei, drei Mitarbeitern; die Tür des
Hintereingangs steht im Türschnapper fest an die
Bodenfenster angelehnt. Neben dem Aufzug werden
Essensreste von Teller gekratzt, und noch ehe ich die
grüne Kontrollampe sehe, ruft schon jemand
„Aufzug!“; es ist meistens dieselbe Stimme, die mit
dem marokkanischen Akzent. Eine Serverin eilt
herbei, und zieht die Schachttüren nach oben und
unten auf, ernüchtert von den unzähligen Speisen, die
sie erst mal zwischen den Armen der anderen, die das
vorgesäuberte Geschirr in den Aufzug schiebt,
heraushebt - viel zu schwer für sie allein, und, während
sie die angerichteten Teller und Schüsseln erst mal auf
das Silber der Theke abstellt, verzweifelt nach Hilfe
ruft, dabei die Bons ordnet; wieder ertönt der Ruf
„Aufzug!“, durch die Gäste beeilt sich die nächste
Serverin: zwei müssen erst mal reichen, weil sonst die
Getränke vorne wieder nicht abgeholt werden können.
Noch erlebt das Lokal einen Sommer, in dem die
Gäste genügend Geld haben, das Lokal zu füllen.
Selbst die Schmale mit der Brille, die Kärntnerin, muss
an diesem Freitag noch aushelfen, obwohl sie schon
morgens um neun angefangen hat. Ich setze mich an
die Theke, an die lange Seite. Auf den Salaten liegt
auch noch nach zehn, halb elf das Licht des bereits zur
Neige gegangen Augusttages, in den grünen Blättern
der Salate, den roten Paprikastreifen und den knusprig
gebratenen Putenstreifen leuchtet das heiße, fahle
Gelb des August weiter, in ihnen bündelt sich das
Licht der Regal- und Thekenbeleuchtung und wirft es
als Erinnerung an das bereits untergegangene Licht in
den Raum hinein; der Widerschein der grün rot gelb
braunen Aperitifs und Digestifs hält die Helle des zur
Neige gegangenen Tages im Raum fest und spiegelt sie
über die Theke in den Raum zurück, hellt das Parterre
auf und wirft sein eigenes Licht hinaus, durch die
offene Tür auf das nachtblaue Pflaster, das im
vorderen Bereich, direkt vor den Bodenfenstern, von
den Wärmestrahlern gelbrötlich aufgehellt wird: in die
Dunkelheit des Marktes sehe ich das Licht des schon
seit ein, zwei Stunden untergegangenen Augusttages
hinein. Auch das Duckstein, das vor mir gezapft wird,
hält das goldweiße Licht fest: unter dem Schaum perlt
die goldbraune Würze, in der die bereits vor Stunden
untergegangene Augustsonne weiterglüht, halten die
aufsteigenden Perlen, hält die kühle Frische der
Malzwürze die Hitze des vergangenen Tages fest. Die
Große, die ich schon aus dem Ecklokal am anderen
Ende des Marktes kannte, stellt mir vom Gang aus
einen Salat hin, den ich gar nicht bestellt habe: die
Chefin hat ihn mir an diesem Tag angeboten. Er war
falsch geordert worden, und ich erkundige mich bei
der Großen, ob das nicht zu Lasten von ihr gehe, weil
ich nicht möchte, dass sie meinen Salat zahlen muss.
Eine Likörflasche schlägt am Boden auf: der Italiener
hat mal wieder zu viel jongliert; der Marokkaner holt
Besen und Aufwischer herbei, dreht ihn aber nur
zischen seinen Fingern auf dem Boden, während er
mit dem Italiener jetzt erst recht erheitert und angeregt
diskutiert, aber bestimmt nicht über den Service – den
Besen drückt er dann einer Serverin in die Hand.
Immer wieder winkt er ab, als er von einer anderen
Serverin gerufen wird, er kommandiert sie mit seinem
Rücken, wirft ihr irgendeine Antwort hin, von der sich
die Serverin aber missverstanden fühlt und mit der sie
sich nicht zufrieden geben kann. Es geht um ein Glas
Weißwein, das die Serverin wiederholt verlangt, das sie
endlich an den Tisch bringen will, der es bestellt hat.
Der Schichtleiter behauptet, ihr den Wein schon
herausgegeben zu haben. Sie bleibt ruhig, aber in
ihrem Ton entschieden und doch von vornehmer,
besänftigender Eleganz, von der er sich jedoch kein
Zögern lang besänftigen lässt. Sie stellt sich seinen
Anschuldigungen entgegen, in dem sie ihren Kopf
leicht, aber erkennbar über seine Unterstellungen
hinweghebt, mit einer leicht hinausschwingenden
Bewegung ihres Oberkörpers den persönlichen Ton
abschüttelt und mit scharf leuchtenden, fest
entschlossenen Blicken, die ihm zu erkennen geben
sollen, dass ihre Berufserfahrung seine Äußerungen
durschaut und sie sich auch nicht einschüchtern lassen
wird, auf dem Glas Weißwein beharrt. Dann fällt ein
Wort, aus dem Munde des Schichtleiters, das ich nicht
hören kann: daraufhin eskaliert die Situation. Die
Serverin behauptet sich, indem sie ihm klipp und klar
sagt, was sie von ihm hält. Sie streckt sich aus ihrer
eigenen Größe heraus, ihre Brüste heben ihre Bluse
leicht, aber erkennbar an, zum Zeichen der Größe, die
sie für sich selbst fühlt, zum Schutz vor dem
unberechtigten Geifern, aber unter ihr atmet ihre zarte
Verletzlichkeit durch. Und sie bleibt hartnäckig, bis sie
ihr Glas Weißwein doch noch bekommt: aber nicht
von ihm. Er zieht, wie so oft, die Arme, mit
ausladenden, nach oben offenen Händen, eng an
seinem Körper geführt nach hinten weg, mit denen er
ihre Einwände an die Anonymität des Raumes abgibt
und sich zugleich mit Ahnungslosigkeit und
Arglosigkeit wappnet – er will sich von ihr nicht
angesprochen fühlen, aber sie soll sich von ihm
angesprochen fühlen -, weicht mit den Blicken über
ihren Kopf hinweg aus und sucht die Flucht aus seiner
Verlegenheit, in dem er einer anderen Serverin neue
Anweisungen erteilt. Mag er sich auch noch so
unschuldig geben, der Serverin kann er ihren
unbezwingbaren Blick auf seine zur Schau gestellte
Ahnungslosigkeit nicht verstellen. Den Weißwein
muss sich die Serverin selbst ausschenken. Aber sie
hat sich ihren Stolz bewahrt.
Das warst Du, Dana. Aber nahegegangen ist es Dir
natürlich schon. Ich bin dann kurz darauf, mit einem
gewissen Abstand zu dem Wortwechsel, damit er
keinen
Zusammenhang
herstellen
konnte,
aufgestanden und ins Bistro gegangen, aber so
kalkuliert, dass Du gerade herauskamst, damit er nicht
auf die Idee käme, dass ich Deinetwegen hineinging,
und habe gewartet, bis Du beim nächsten Gang wieder
um die Ecke ins Bistro zurückkamst. „Wenn du hier
weiter arbeiten willst, musst dir über eins im klaren
sein: er hat immer Recht und weiß immer alles
besser!“ Deiner Selbständigkeit bewusst, hast Du
meine Worte dankend angenommen und mir zugleich
zu verstehen gegeben, dass Du Dir über Deine
untergeordnete Position, aus der allein heraus Du ihm
gegenübertreten konnest, längst im klaren warst. Auf
Deiner Haut lag der Widerschein des goldgelben
Anstrichs, das schwarze Licht, das die Torblenden der
kleinen Deckenlampen auf Dich warfen, der
Halbschatten des dunkelbraunen Luftabzugskanals;
obwohl Du kaum stehen bleiben konntest, blieb mein
Blick auf Dir ruhen: auf Deinem Gesicht, das sich von
Dir abgelöst hatte. In diesem Moment erlebte ich zum
ersten Mal, wie Deine Blicke im Raum stehen blieben.
Die samtige Fülle Deiner Haut sog alles Licht in sich
auf und gab es aus Tiefe ihrer Poren wieder an das
Bistro zurück: in der geschmeidigen Tiefe Deiner Haut
verband es sich zu einem olivgelben Ton, der in einem
feuchten Schimmer Deine Haut glättete und an ihrem
Rand den schummrigen Dunst aufsog und ihn olivgelb
aufglühen ließ. Deine Haut trug ihren marzipanen
Glanz in das spärliche Licht, das die Torblenden
schwarz an die ockerfarbenen Wände warfen; alles
Licht, auch das matte Braun der Bilderrahmen, wurde,
wo immer ich nun hinschaute, von innen, aus der
ungreifbaren Tiefe des Raumes olivgelb aufgehellt;
aufgehellt von Deinem Gesicht, von Deinen Blicken,
die von diesem Moment an im Raum standen.
Obwohl das Bistro auch weiterhin nur im spärlichen
Licht, das der Rauch gerade noch durchließ,
schummerte, glänzte es aus der schummrigen Tiefe auf
in Deinem Glanz, und das gelbblasse Licht färbte sich
olivgelb. Selbst auf das Gesicht des Mönchs, der mit
beiden Armen umschlossen die erste Flasche Fernet
Branca fest an sich drückt, legte sich an diesem Abend
der olivgelbe Glanz Deiner Haut, aus seinen Augen
schauten Deine Blicke zu mir: auf seinen Wangen lag
das kleine, bescheidene Glück und der leise Stolz über
den Erfolg, den seine Kräuterrezeptur hatte: das
Glück, seinen eigenen Magenbitter in den Händen zu
halten, verwandelte sich zu dem jenem Stolz, den Du
Dir vorher, an der Theke, bei dem heftigen
Wortwechsel bewahrt hattest, und den Du jetzt in das
Bistro und unter die Gäste trugst. Auf seinen Wangen
lag der bescheidene Stolz und der kühle Glanz Deines
unbeugsamen Willens, auf seiner Stirn der Schweiß
Deines gewachsenen Selbstvertrauens; und doch
atmete unter dem leicht wippenden seitlichen
Rausdrehen Deines Oberkörpers noch ein Rest von
Verletzlichkeit: dieselbe Sensibilität, die Dich zuvor die
Situation erfassen und den Wortwechsel durchstehen
ließ, machte Dich im selben Moment eben doch auch
verletzbar. Nach und nach nahm auch der
rötlichbraune Lack der hinteren Tische, nach der
Stufe, das Olivgelbe in sich auf, während sie ihren
rötlichbraunen Glanz auf Deine Stirn und Deine
Wangen auftrugen; das Holz der Bilderrahmen tupfte
sich wie Bronzer auf sie: je weiter Du nach hinten ins
Bistro gingst, um so dunkler mischten sich die
Schatten in das Olivgelb ein, um so wärmer wurde der
Glanz Deiner Haut, der auch in der hintersten,
rauchigsten Ecke stets die Atmosphäre erfüllte, und
aus diesem warm schimmernden Ton leuchteten Dein
Stolz, Deine weitsichtige Nachsicht, die Deinem Gang
ihren Stolz verlieh, und Deine Füße trugen sie mit
festen, sicheren, bedeutungsschweren Schritten durch
die Gäste, durch die Tische und Stühle, trugen sie in
das Bistro und wieder heraus. Mit einem Mal
verbanden sich Deine Augenbrauen, jene etwas
scharfgezogenen Brauen, mit dem Holz der
Bilderrahmen, und selbst wenn Du wieder zurück an
die Theke musstest, hing der braune Luftkanal an ihrer
Stelle unter der Decke und lag über den Köpfen der
Gäste. An diesem Abend blieb ich zum ersten Mal,
gedankenvergessen, zwischen den Tischen und
Stühlen, zwischen den Gästen stehen und schaute
immerzu in Deine Blicke, die sich im Innern meiner
eigenen Blicke dehnten, und auch dann nicht wichen,
wenn Du wieder ins Bistro zurückkamst: Deine Blicke
traten dann in die Blicke, die vor mir im Raum
standen, und je näher Du kamst, um so mehr füllten
sie die Blicke, die vor mir im Raum standen, von
hinten aus der Tiefe des Bistros, bis die Blicke, die Du
zu mir trugst, schließlich über die kleine Stufe im
rustikalen Parkett zu den hinteren Stühlen an den
rotbraunen Lederbänken an sie herankamen, sich von
innen auf sie legten, sie sich von innen deckten, sie
sich überlagerten, bis schließlich die Blicke, die noch
im Raum standen, durchsichtig wurden, schließlich
nach hinten, in die Tiefe aufrissen, aus der dann die
Blicke, die Du zu mir trugst, aus der Tiefe
heraustraten, von innen die imaginären Blicke füllten
und in tiefem Blau aus dem Olivgelb durch das
schummrige bräunliche Licht in mich eindrangen.
Noch zog doch die feuchtwarme Luft der
ausklingenden Augustnächte durch das Bistro und zog
durch die offene Hintertür, über die mancher Gast so
gerne das Lokal über den Hinterhof verließ, nachdem
er oft genug den Tisch gewechselt oder seine
Bestellungen immer wieder berichtigt oder
zurückgenommen hatte, wieder in die späten
nachtblauen Stunden hinaus; noch lag auf dem Weiß
Deiner Bluse jenes cremeweiße Licht, in dem Du mir
im Eingang, vor dem furnierten Eichenholz
gegenübergestanden hattest, und in ihren Falten lagen
die lichtblauen Schatten der drückenden Augustsonne
– jener Augustsonne, die täglich durch die vielen Beine
der kommenden und gehenden Gäste hindurch
unbeteiligt hindurch schien und von den Köpfen des
Pflasters graugelb durch den Eingang auf das
rustikalbraune Parkett ihre Schatten warf; in ihrem
Schein und in ihren warmen Luftzügen saß ich am
frühen Abend stets auf einem der vorderen Plätze an
der Bar und fühlte ein Warten, empfand ein Fehlen,
schon lange, bevor es mir zu Bewusstsein kam, bis
mich Deine Stimme aus der Schwere meiner in der
Rückschau auf ein vertanes Leben und der Aussicht
auf eine aussichtslose Zukunft gefangenen Gedanken
löste, bis mir Deine Stimme schließlich die Erfüllung
des Abends gewährte – bis ich schließlich den ganzen
Tag schon in der Erwartung zubrachte, bis ich
schließlich auf dem Weg zum Busbahnhof und
während der etwa viertelstündigen Fahrt in die Stadt es
immer wieder zu mir selbst sagte, es Dich zu mir
sagen ließ, es Deine Stimme zu mir sagen ließ: es hatte
so etwas ungezwungenes, herzhaftes. Und doch lag
immer auch etwas Absichtsvolles in Deiner Stimme.
(Oder hab nur ich das so empfunden?). Und in dieser
Stimme hörte ich jenen goldgelben Ton, den auch der
Raum angenommen hatte, der sich mit den
ockergelben Wänden des Bistros deckte, der in dem
olivgelben Glanz Deiner Haut aufging und sie zugleich
noch anmutiger atmen ließ: ein Ton, so wie ihn eine
Oboe etwa zischen a und b in der mittleren Lage
hervorbringen würde: diese Stimme, mit der Du jenen
Ton von Fürsorglichkeit aus dem Innersten Deines
Wesens bezogst, begleitet von einem Hauch von
Neugierde: diese unverwechselbare Farbe; wenn Deine
Stimme anhob, hob sie den ganzen Oberkörper mit
an, und so wie Deine Lippen die Silben formten,
formten die Silben auch Deine Lippen; die
Brahmssche trug sie in der Tiefe ihrer Rundung nach
außen: auf der Brahmsschen lagen die Silben in der
Rundung schüchterner Verlegenheit, von der sie von
der oberen herzhaft angehoben und von Deinen
erwartungsvollen Blicken ihre Anmut erhielten; so wie
Du Dich über jeden Zweifel hinausgestreckt hast und
zugleich fest entschlossen an die Theke getreten bist:
weltoffen und weltgewandt zugleich; ganz kurz,
zwischen zwei Tabletten, mit einer gezielten Kürze,
die Beiläufigkeit bedeuten sollte, hast Du mich dann
gefragt: „Hallo Simon, wie geht es dir?“ Und je mehr
ich es erwartete, um so ungeduldiger übereilte ich
meine Erwiderung. „Hallo Dana, wie geht es dir!“; mit
der Betonung auf „dir“, um die Unmittelbarkeit und
die Rückbezüglichkeit der Erwiderung auszudrücken.
Ich habe nie herausfinden können, warum Du es
immer zu mir gesagt hast: Später, als ich es immer
häufiger aufgriff, als ich es dann in der Erwartung
Deiner Frage Dir vorweggenommen habe, hast Du es
zunehmend unbeachtet belassen; dann hast Du meine
Frage mit einem drehenden Wippen Deines
Oberkörpers von Dir abgewendet. Die untere hast Du
dann abweisend zurückgezogen, die obere zum
Schutze vor der eigenen Verlegenheit und auch vor
der eigenen Scham zum Ausdruck des Unbehagens
nach innen eingerollt. Die wippend drehende
Bewegung verriet Deine Verlegenheit, dass Du an
Deine eigenen Worte nicht mehr gern erinnert werden
wolltest; und doch lag selbst in jenem Wippen, lag in
diesem scheinbaren Abwehren, lag im lichtdunklen
Schatten in jeder Falte Deiner Bluse noch immer jene
Herzhaftigkeit verborgen, während durch das
lichtgelbe Weiß des Blusenstoffs auf ihren
Umbiegungen noch immer eine wenngleich
unterdrückte Rührung drang. Ich habe jene Worte,
zum Gruß stilisiert, beibehalten, habe es mir als Teil
von Dir bewahrt: es gewährte mir jene Vertrautheit,
die Du mir nie so recht zugestanden hast; je weniger
ich sie in Deinem Verhalten spürte, um so mehr hörte
ich sie in Deinen Tonfall hinein und aus Deinen
Worten wieder heraus. In ihnen hielt ich jenen Ton
vorsichtiger Vertrautheit fest, vom dem Du Dich
später zunehmend bestimmter entfernt hast. Darum
griff ich es auch auf, als ich Dir irgendwann meine
erste Mail schrieb, und hielt dann um so
nachdrücklicher daran fest, je öfter ich versuchte, Dir
in zunehmend längeren Mails das mitzuteilen, was ich
in Dir in der Kürze der vielen kleinen Momente vor
Ort, im Lokal, nicht sagen konnte: die vielen kleinen
Gelegenheiten, die ich schon als verpasst empfand,
noch bevor sie sich ergaben und Du ihnen aus dem
Weg gingst. So begann ich jedes Mal aufs Neue unsere
Korrespondenz: jene Korrespondenz, die diesem Brief
vorausging, ohne je wirklich zustande gekommen zu
sein.
Aber ich habe in jener Anrede nicht nur versucht, eine
Vertrautheit festzuhalten, die nie wirklich bestand, und
sie dadurch überhaupt erst herzustellen, sondern mir
zunächst nur mein kleines, in der Betriebsamkeit des
Lokals beinahe nicht wahrgenommenes, beinahe
verpasstes und von Euch wohl kaum bemerktes Glück
bewahrt; wenngleich ein Glück, dass ich nur
theoretisch empfand, ohne es unter dem täglichen
Ziehen und Brennen in meinen Armen und Beinen
und der dumpfen Ferne, aus der ich Euch nur jäh
wahrnehmen konnte, wirklich erleben und es in der
Tiefe meines Inneren wirklich spüren zu können. Ich
wusste aus der Erinnerung an früher, als die Diagnose
noch nicht gestellt worden war, wie es sich anfühlen
müsste; aber ich fühlte es nicht. Was ich empfand, war
mein Entzücken, aber nur geistig, allein aus dem
Anblick heraus: ich begriff mein Entzücken, aber es
erfüllte mich nicht. Euer Anblick entspannte mich
nicht. Ich genoß ihn, er berührte mich, aber nur rein
ästhetisch; er berührte nur meinen Verstand. Hinter
Eurer Wahrnehmung war kein Fühlen. Jana hat mich
damals als "selbstlos" bezeichnet, weil ich bereit war,
auf sie zu verzichten, ohne ihr deshalb böse zu sein.
Das war natürlich sehr lieb gemeint von ihr. Aber es
war nicht einfach aus Fairness, obwohl ich die
natürlich gerne für mich in Anspruch nehmen möchte,
sondern weil das, was ich erlebt habe, es mir vielleicht
gar nicht möglich gemacht hätte; selbst wenn Jana sich
für mich entschieden hätte. So saß ich jeden Abend
da: Ich schaute Euch, aber empfand Euch nicht; ich
schaute Euch an und schaute doch einfach nur drein.
Ich sitze im Innenhof. In der abendlauen Augustluft
atmen Blauregen und der noch tiefgrüne Wein
warmblaue Nacht: der Wein klammert sich
schweigend an den weißen Putz der Gefächer und
spendet den Gästen grün reifende Geborgenheit: die
Zweige des Blauregens ragen müde lauschend in die
Tiefe des Hofes. Unter ihnen, nach innen gegen den
weißen Putz gerichtet, hellen die Wandlaternen das
grünreife Weinlaub gelbweiß auf, und auch in der
hinteren Ecke, außen am Bistro, verlängert der
Lichtstrahl des Bodenscheinwerfers das cremewarme
Licht des längst schon untergegangenen Tages in die
Nacht hinein, die sich gefangen zwischen dem
Fachwerk und den Laternen über die Köpfe der Gäste
gelegt hat: unter dem grünreifen Weinlaub, dessen
Grün außen von der Nacht um so tiefer aufgesogen
wird, je heller es von innen angeleuchtet wird, unter
dem Weinlaub scheint die schon untergegangene
Sonne in die Nacht hinein, verborgen unter den
schweigend gezackten Blättern: die Laternen geben der
Nacht jene warme Helligkeit, die die Nacht
unverkennbar als Augustnacht empfinden lässt,
während ihr Licht doch zugleich durch die späte Luft
zu einer nicht mehr wiederkehrenden Erinnerung
verklärt wird; sie halten mir den vergangenen Tag
wach, so wie er im Innern meines Sichtfeldes noch
immer scheint. In ihrem Licht sehe den vergangenen
Tag.
Vorher hab ich noch, innen vor der Tür zum Hof, bei
Dana einen Elbling bestellt, dann hab ich mich wieder
in den Innenhof gesetzt, zunächst an die
zusammengestellten Tische, mit dem Rücken zu den
offen stehenden Bodenfenstern zur Lounch. Der
Innenhof wird an diesem Abend nur von Euch beiden
bewirtet. Über die Köpfe der um die Tische eng
zusammengerückten Gäste legen sich die Stimmen, die
aus der Erschöpfung des zurückliegenden Tages sich
in Heiterkeit lösen und in die nachtlaue Wärme
aufsteigen und mit zunehmender Nacht zu bierseliger
Ausgelassenheit anwachsen: sie werden getragen von
der Stimme einer jungen Frau, ihrem bescheidenen
Selbstvertrauen, von der bedeutungsvollen Schwere
ihrer Schritte über den Bodenziegeln, eingefasst von
den kleinen, grauen Pflastern, die ihrerseits die Füße,
die den bedeutungsschweren Schritten behutsam
folgen, zart anheben und von einem Kopf zum
nächsten tragen; die Gesichter der Gäste erhellen sich
im warmen Glanz der Stirn der älteren von beiden, auf
der der Schweiß ihres Selbstvertrauens liegt; im
Widerschein der olivgelben Tiefe ihrer Haut glänzen
auch die Gesichter der Gäste auf; und um die in ihrer
Routine ruhende Stirn regt sich die verständnisvolle
Hingabe der jüngeren, die sich mit jeder feinsten
Regung in die Wünsche der Gäste einfühlt: mit jedem
Augenaufschlag bist Du, Jana, den Gästen in ihren
Anliegen und Bitten entgegengekommen, Deine
Lippen haben sie an ihren abgelesen, und in jedem
Deiner Worte lag nicht nur der bloße Ausdruck
redlichen Bemühens, sondern stets der Ton
aufrichtigen Verständnisses, von Fürsorglichkeit, die
Du mit jedem Deiner Worte innigst, herzigst lilazart in
die nachtlaue Wärme gehaucht hast: wie sich auf die
herzhaft aufgeschlosse Stimme Danas, die stets mit
beiden Füßen fest entschlossen auf den Bodenziegeln
ruhte, stets der Hauch Deines ehrlichen Verstehens
legte; wie die bedeutungsschweren routinierten
Schritte Danas stets von Deinen Füßen gefolgt
wurden, von den Pflastern angehoben und über die
Bodenziegeln zart hinweggetragen wurden; wie sie
leichten Fußes dem gemessenen, bedachten Stolz
Danas, die mit jedem Schritt bescheiden gefestigt auf
die Gäste zuging, nachfolgten und sich stets der
älteren von beiden, die ihren Beruf gelernt hat, zur
Seite stellten und doch in deren Licht aus ihrem
Schatten
heraustraten
kraft
ihres
eigenen
unzweifelbaren tiefen Verständnisses, kraft ihrer stets
von ihrem Urvertrauen geleiteten Unbeirrbarkeit; wie
die nachtblaue, luftwarme Geselligkeit, wie die zu
Geräuschen verzerrten Stimmen, das beständige
Aufschreien und Lachen der gedämften Fülle einen
Abend lang von eurer Liebenswürdigkeit getragen
wurden, wie aus bierseligen Ausgelassenheit allmählich
jene Liebenswürdigkeit emporstieg und sich
besänftigend über sie legte: eine Liebenswürdigkeit, in
der beherzter Stolz und zartfühlige Fürsorglichkeit
sich zu einem gemeinsamen Wesen verbinden, in der
zwei junge Frauen aus ihrer je eigenen Erfahrung
zueinanderfinden, in der sie sich in der
unbezwingbaren, ganz zwanglosen Abstimmung ihres
Services vor den Augen der Gäste auch untereinander
ihre Wertschätzung offenbaren, in der sie sich ihre
Freundschaft bezeugen, in der jener so genau
abgestimmte Service mit jedem Gang wächst, so wie er
umgekehrt durch jene von Fairness und äußerster
Umsicht getragene Abstimmung überhaupt erst
möglich wird: würde man eine von beiden nur für
einen Augenblick wegrufen, wäre er augenblicklich
aufgehoben, würde sich jene Liebenswürdigkeit
auflösen, würde sie zerfallen, so dass wieder die beiden
einzelnen Personen aus ihr heraustreten würden, die
erst in ihrer Ergänzung zu jener Vollkommenheit
gelangen, die wiederum nur in der Zusammenarbeit
dieser beiden Frauen aus dem mit jedem Tag festeren
und doch in jedem Moment stets wieder spontanen
Einverständnis die Gäste durch die nachtblaue Kühle
hindurch berührt; wie Eure Blicke Euch gegenseitig
respektieren und achten und für einander und auch für
die Gäste einstehen, Eure Frisuren, die beiden nach
hinten zusammengezogenen Haare, dunkelblond und
umbrabraun, im dunkelgelblichen Licht, das von den
Weinblättern grünlich in den nachtblauen Hof
schimmert, denselben tiefen, reinen Glanz annehmen;
wie zwei weiße Blusen, auf denen sich in jeder Falte
die nachtblauen Schatten unter dem ockergelblichen
Dämmer durch den augustwarmen, langsam
abkühlenden Abend bewegen, wie diese beiden Blusen
bei jedem Gehen dem Wirren der Stimmen ihre
Unruhe entziehen, und mir persönlich immer auch ein
Stück Geborgenheit geben, und wie sie bei jedem Mal,
wenn sie mit neuen Tellern in den Hof eilen, scheinbar
noch mehr Wärme unter Gäste tragen: die Speisen auf
den Tabletts erleuchten im Schein ihrer Größe. Mit
jedem Schritt gehen sie nicht nur immer
verständnisvoller auf die Gäste, sondern auch auf
einander zu; wie jede kleinste Geste zwischen ihnen
genau auf die Bedürfnisse der Gäste abgestimmt ist,
aber auch auf sie selbst, wie die beiden
zusammengezogenen Frisuren beinahe nicht mehr
auseinanderzuhalten sind, umbradunkelblond, und
dabei doch die etwas fülligeren Haare stets von
bedeutungsschweren Schritten getragen werden,
während die etwas enger zusammengezogenen Haare
stets leicht von einer Bodenziegel zur nächsten
gehoben werden. Eure Fürsorglichkeit erfüllt die
Wärme der Augustnacht, es ist eigentlich Eure Wärme,
die die allmählich abkühlende Nacht erfüllt, die von
der lauen, spätabendlichen Luft umweht wird. So wie
Eure Liebenswürdigkeit durch die allmählich
abkühlende Augustnacht zieht, atmet die allmählich
leichter werdende Luft Eure Weltgewandtheit, indem
sich zwei junge Frauen Schulter an Schulter zur Seite
stehen: jene Schultern, die zuvor ihre Rucksäcke durch
die Welt trugen. Nun tragen sie die Tabletts durch den
Innenhof, Dana stets am Rand greifend, Jana auf
gespreizten Fingern tragend. Und während ich Euch
beobachte, genieße ich nicht nur mein eigenes, kleines
Glück, Euch begegnet zu sein, sondern auch, wie ihr
beide Euch mit jedem Gang, mit jedem Tisch, dessen
Bestellung ihr aufnehmt, begegnet, mit jedem Tisch,
den ihr bedient, immer mehr zueinander findet: ich
genieße Eure Bekanntschaft, ich genieße Eure
Freundschaft. Dann kommt Jana von rechts aus der
Tür und serviert mir einen Kaffee; aber weil ich ihn
nicht bestellt habe, geht sie zu Dana rüber, die
eigentlich gerade einen anderen Tisch bedient. Dann
steht sie unschlüssig vor mir, noch immer den Kaffee
in der Hand. Dana kommt von ihrem Tisch herüber.
Es stellt sich heraus, dass sie einen Kaffe boniert hat
anstatt des Elbling. Jana will schon den Kaffe
zurückbringen, aber ich versichere ihr, dass es mir
eigentlich egal ist, während ich im selben Moment
versuche, Danas Worte der Entschuldigung durch
Worte der Anerkennung aufzuheben, und so ihr
aufrichtiges Bedürfnis, sich zu entschuldigen, in
meinen Worten des Verständnisses und der
Beteuerung, dass ich den Kaffee genau so gerne trinke,
aufgehen zu lassen, während ich versuche, ihr ihr
Bemühen mit meinen Blicken in ihren Blicken zu
danken, ihre Blicke mit meinen aufzuhellen; und
während auf Danas Unterlippe das Lächeln
bescheidener Rührung liegt, gelingt es Jana, jene
Worte zu finden, in denen sie sich Dana als ihrer
besten Freundin und mir als Gast gleichermaßen
verpflichtet, und mit denen sie mir jene Worte in den
Mund legt, mit denen sie selbst Danas Professionalität
würdigt und ihre Arbeit jeden Zweifels enthebt und
mir, an Danas Stelle, aber lila zart gehaucht, zugleich
zu verstehen gibt, dass ich stets auf Danas Erfahrung
rechnen darf und mich in ihrem Bemühen verstanden
fühlen kann: „Aber vielleicht lag das mit dem Kaffee ja
nur daran, dass du der Gast bist, der immer sagt:
Dana, wie immer bitte!“ Bei diesen Worten hast Du
mir den Kaffe dann hingestellt: von vorne, über den
Tisch!
Sonst, wenn ich an der Bar saß, hast Du, obwohl Du
ja keinen (eigentlich nie) Thekenservice hattest – den
hatte ja meist der Marokkaner, den auf meinen Tisch
bonierten Kaffee genommen - den Thekern
weggenommen - und ihn mir von außen gebracht, mit
der linken Hand hingestellt – und dabei Deine rechte
Hand auf meine linke Schulter gelegt, mit Deiner
rechten Hand mich für einen Augenblick lang ein
tiefes Einverständnis spüren lassen; ein Einverständnis
über etwas, worüber wie nie gesprochen hatten: das
Auflegen hatte etwas Fragendes und Wissendes
zugleich. Und Du hast sie auch nicht einfach nur kurz
aufgelegt, sondern sie kurz auf meiner Schulter ruhen
lassen: ganz ruhig, zart und doch fest angedrückt: eine
umsorgende Wärme, die mich durch meinen Rücken
Deine Blicke spüren ließ; die mich überhaupt erst
begreifen ließ, dass es Deine Hand wahr, die Du dann
ebenso behutsam wieder aufgehoben hast; wenn ich
mich dann zu Dir rumgedreht habe, hast Du Deiner
Geste im Weggehen Blicke nachgereicht, die dem
Auflegen
Deiner
Hand
Selbstverständlichkeit
verleihen sollten, um mich wissen zu lassen, dass die
Geste über reine Kameradschaftlichkeit nicht
hinausgehen würde. Nur warum war es Dir so wichtig,
das zu betonen?
Jetzt aber saß ich in der abendkühlen Wärme des sich
neigenden August im Innenhof, mit jeder Stunde
wurden die Tische voller, wurden die Stühle von den
gehenden den wartenden Gästen überlassen: an den
weißverputzten Wänden belauscht das Laub der
Weinstöcke, dem die Nacht sein tiefes Grün entzogen
hat, schweigend aufhorchend die Stimmen unter der
abendkühlen Wärme, die sich unter dem
dämmriggelben Leuchten der Wandlaternen erregen
und erst allmählich ihre Aufgeregtheit an die über
ihnen ruhende kühlende Wärme abgeben; und aus den
Ecken leuchten die Bodenstrahler und die Laternen
unter dem Wein das Laub von innen hellgrün auf,
gefangen unter dem Laub steigt der Tag in die Nacht
auf, ruht der Tag, der sich schon lange geneigt hat,
unter dem grünschwindenen Weinlaub fort, auf dessen
Glanz sich von außen die nachtblaue Tiefe des Hofes
gelegt hat, und verfolgt, was über ihn erzählt wird: was
die Menschen sich dort zu erzählen haben, erzählen
sie in den gelben Dämmer der Laternen, die ihnen ihre
Erinnerungen an den längst schon zur Neige
gegangenen Tag wach halten. Unter dem gelblichen
Dämmer der Laternen bewegen sich Köpfe jeder
Frisur, werfen in die Stirn geschobene Brillen das
Licht der Laternen spärlich in die nachtblaue Wärme
zurück, bewegen sich Köpfe und Kappen freudigerregt, in rastloser Erschöpfung des hinter ihnen
liegenden Tages, werden Köpfe lachend aufgeworfen:
geborgen werden sie von den immer wiederkehrenden,
von feinem Instinkt durch sie hindurch gelenkten,
nach hinten zusammengezogenen dunkelblonden und
umbrabraunen
Haaren,
durch
die
stets
wiederkehrenden bedeutungsschweren Schritte, die
ihrem müden Körpern Halt geben, und den
leichtfüßigen Tritten, die sich geschmeidig zart durch
die Tische rühren und ihre Ecken abrunden: auf den
Gesichtern der Gäste liegt olivgelber Glanz, und über
den Duft der Speisen neigt sich zartgehauchtes Lila,
das sich über die Stimmen legt und sie abrundet zart gehauchtes Lila, das sich auf meine Ohren legt,
während olivgelber Teint in meinen Augen glänzt; ich
kühle mich an der der Feuchtigkeit, die Danas Haut
der nachtblauen, allmählich luftigeren Kühle spendet,
der Schweiß auf Deiner Stirn, Dana, leuchtet, dunstet
in die Nacht hinein und schimmert hellgrün
dunkelblau auf Deiner olivgelben Haut und legt sich
auf meine Stirn, ich kühle meine Stirn an Deinem
Schweiß, aber unter der Stirn brennt es: ein fließendes
Brennen, als ob in meinem Kopf etwas ausläuft, als ob
jemand mein Hirn mit den Fingern unablässig
durchknetet, ständige Druckknoten, tiefe Löcher, die
sich von außen nach innen bohren, von Fingern
immer wieder und jedesmal kräftiger eingedrückt, die
sich in mein Hirn bohren, ohne es doch zu
durchstoßen; Kopfschmerzen verzerren das zart
gehauchte Lila, in der nachtblauen, allmählich
luftigeren Wärme brennen meine Arme von außen
nach innen, und mit äußerster Anstrengung stemme
ich kraftlos meine schweren Beine gegen die
Bodenziegeln: unter meinem Tisch fühlen sich meine
Beine kalt an. In Eurer Wärme, die mich jedes Mal,
wenn ihr an meinem Tisch vorübergeht, umfließt,
empfinde ich eine kühle Schwäche: Eure
Liebenswürdigkeit nähert und entfernt Euch mir
zugleich. Je weniger Ihr mich beachtet, um so mehr
wünsche ich es mir, und je mehr Ihr Euch um mich
kümmert, um so unerreichbarer empfinde ich Eure
Nähe. Dann bleiben meine Augen wieder an Danas
Unterlippe hängen: sie erweckt bei jedem
Vorübergehen die Melodien und Akkorde, die ich aus
der nachtblauen Wärme und den lichtgrünen Blättern
heraushöre und sie zugleich in sie hineinsehe: die blaue
ansteigende Linie, deren Baß nachtblau vom Cello
repetiert wird, die nach oben, über die aufsteigende
Melodik hinweg in den Geigen immer heller wird; das
dunkel, feuchtgrüne es, das plötzlich lichtgrün in der
nachtdunklen Wärme steht und sich dann doch wieder
seiner dunklen Herkunft erinnert; das wechselnde
nachtblaue Moll auf dem c und das ziegelrote Dur auf
dem des: Danas Unterlippe ruft sie mir ein ums andere
Mal in mein inneres Gehör, von wo aus sie in die in
nachtwarme
Kühle
getauchte
Bierseligkeit
hineinklingen.
Später setze ich mich um, an den kleinen, meist allein
stehenden Tisch an der Wand zum Hinterausgang,
kurz vor den Deckenbalken, der sich auf dem an
dieser Seite stark abfallenden Pflaster nach innen in
den Hof neigt; meinen vorherigen Tisch habe ich für
andere Gäste freigegeben. Dann kommt Jana auf mich
zu: „Hast du deinen Kaffee schon?“ In dem Bemühen,
das neuerliche Missverständnis zu nutzen, mir für
diesen Abend wenigstens ein, zwei persönliche Worte
zu sichern, mir in dem korrekten Tonfall Deines
Services einen Augenblick lang Deine Zuneigung
versichern zu können, versagen meine eigenen Worte
in meiner Verlegenheit. Es bleibt beim bloßen „Ja“.
Ich weiß nicht, ob Du als Runnerin auch das Bistro
noch mit zu bedienen hattest, oder ob Du auf dem
direkten Weg zwischen der Theke und der Blende, die
die Lounch von ihr trennt, durch die dicht stehenden
Gäste mit den Tellern schlecht durchkamst: jedenfalls
kamst Du zum Bringen immer aus dem Bistro die
Eisentreppe in den Innenhof runter. So hab ich mir
also von dem Moment an, wo ich meinen Kaffe bei
Dir bestellt hatte, ohne die Blicke auch nur für einen
Moment – außer für Dana natürlich – von der Tür zu
lösen, die aus dem Bistro die Stufen der Eisentreppe
hinunter in den Hof führt, immer neue Worte
zurechtgelegt. Immer, wenn ich glaubte, die geeigneten
Worte gefunden zu haben, drängten sich mir neue in
mein Bewusstsein vor, aber sobald ich die eben noch
geschätzten Worte verworfen hatte, bereute ich sie
auch schon wieder, und je länger ich darüber sann, um
so mehr drängte sich mir die Kürze des Augenblicks,
falls Du ihn mir überhaupt gewähren würdest, zu
Bewusstsein, und um so dichter wurden die Worte, die
sich aus dem unbedingten Bedürfnis, keines
auszulassen, zu überlagern begannen, die ich in
meinem Gedächtnis kaum noch halten konnte; je
kürzer mir die ausstehende Gelegenheit vorkam, um
so länger wurde mir die Zeit, die ich auf Dich warten
musste, und je länger ich wartete, auf die Tür starrte,
um so aussichtlos kürzer erschien mir der Moment, in
dem Du mir den Kaffee hinstellen würdest, und den
ich mit meinen Worten kaum würde festhalten
können. Je weniger ich daran glaubte, dass Du mir die
Gelegenheit gewähren würdest, um so ungezwungener
trug mir mein Warten die Worte zu, und je mehr ich
daran glaubte, um so weniger konnte ich mich für sie
entscheiden: ich würde sie ohnehin hinter Dir her in
die nachtblaue Tiefe des Hofes sprechen, würde sie
immer unsicherer versagend in die Falten Deiner Bluse
sprechen, die Dein Rücken in die Lounch wegtrug,
während Du Dich unter dem Vorwand der Eile
verleugnen - empfehlen würdest. In diese Zweifel
tratest Du aus der Tür des Bistros in den Hof, Deine
Füße trugen, von den Bodenziegeln zart angehoben,
Deine Augen, eingefasst von den eng nach hinten
gezogenen Haaren, zu mir herüber, über das
umbrabraune Haare zogen gelbliche Halbschatten im
Wechsel der Decken- und Wandlaternen hinweg, und
Deine Wangen wurden von den Bodenstrahlern lila
zart berührt; in der nachtblauen Tiefe des Hofes lag
auf Deiner Stirn weinroter Glanz: hier hatte ich
eigentlich zum ersten Mal so richtig diese
Wahrnehmung.
„Ich hatte mich vorhin nur gewundert, dass du mich
nach dem Kaffee gefragt hattest, obwohl ich ja gar
keinen bestellt hatte… Aber du hast es so bestimmt
gefragt, als ob du es gewusst hättest…deswegen war
ich so irritiert, weil ich mich nämlich wirklich gerade
dazu entschlossen hatte, mir noch einen zu
bestellen…Aber das konntest du ja nicht
wissen…deshalb war ich so verwundert, weil ich
dachte… nicht dass du nachher zwei gebucht
hättest…War einfach ein Missverständnis…“
„Oh, ich liebe Missverständnisse!“ Wie wunderbar Du
die Situation aufgefangen hast, ohne die Verlegenheit
aufzuheben: mit einem einzigen Satz meine Worte
gewürdigt hast, ohne auf sie einzugehen; mir Deine
Aufmerksamkeit geschenkt hast, ohne sie mir wirklich
zu gewähren. Erleuchtet von Blicken, die meine eigene
Verlegenheit mit betonter Rührseligkeit erwiderten
und mir genau die Gerührtheit vorführten, die meine
Hoffnungen präzise erfüllen sollten, ohne sich mir
verpflichten zu müssen; eine Rührseligkeit, deren
Hingabe einzig dem Intellekt galt, die einzig meinen
Worten galt, nicht aber ihrer Absicht. Wieder ein
Moment, den ich für meine Erinnerung festhalten
konnte, ohne Dich aufhalten zu können, ohne Dich
auf Deine Worte festlegen zu können; wieder eine
Gelegenheit, in der Du mir durch Deine vornehme
Art Halt gegeben hast, ohne dass ich mich an Deine
Worte halten konnte: verbindlich und unverbindlich
zugleich. Verbunden hast Du Dich meinen Worten,
indem Du sie genau dort aufgegriffen hast, wo ich sie
hingesprochen hatte:
in
der
unbefangenen
nachtkühlen Wärme; indes hast Du sie scheinbar naiv
arglos wörtlich genommen und rein gedanklich zu
Ende geführt, ohne Deine Gefühle durch sie zu
offenbaren. Durch Deine Stimme nahmen auch meine
Worte in der nachtblauen Kühle nachklingend eine
lilazarte Wärme an. Aber hinter der Begeisterung für
die Situation hast Du Deine Neigung zu mir geschickt
verborgen – Deine Neigung, die Du mich eben
dadurch hast vermuten lassen.
Bezahlt habe ich dann bei Dana und noch einmal den
Blick auf ihre Unterlippe genossen, auf der wie immer
ihr bescheidener Stolz lag, überrundet von einer
beherzten Rührung, durch der der Ton des Behagens
drang und sich mir, dem Lokal zuwandte; der Ton
einer jungen Frau, die sich ihres Könnens bescheiden
bewusst ist. Sie konnte sich meiner Wertschätzung
sicher sein: sie wusste, dass ich sie als Mensch schätze,
aber natürlich auch ihre Arbeit zu schätzen wusste. In
dieses stolze, behagliche Lächeln hinein habe ich ihr
noch ein Trinkgeld in die Hand gedrückt. Endlich,
zum ersten Mal nach zwei Monaten, konnte ich bei ihr
bezahlen:
„Für eine arme arme Studentin!“
„Ich bin keine arme Studentin!“
„Aber bald!“
Dana, Du weißt, das es halb ernst und halb im Scherz
gemeint war.
Ich sitze im Zapfen des Bieres, im Ausklopfen des
Kaffeesiebes an der langen Seite der Bar, in der
malzigen Kühle frisch gezapfter, überschäumender
Gläser; unter der Würze liegt die Säure des
Übergelaufenen - liegt die Würze des Übergelaufenen
– fenen - „Aufzug!“ – ich sitze an der langen Seite,
neben der Thekenöffnung und schaue auf - auf die
übergelaufenen Gläser - auf die übergelaufenen Gläser
– auf - aus der schummrigen Tiefe des Raumes –
Tabletts füllen sich – aus der dunklen Wärme, die
hinter der malzig-würzigen Frische steht – aus der
übergelaufenen schummrigen Tiefe – Thekenöffnung
– um die Kaffeemaschine herum winken mir zwei
Augen zu – aus der Tiefe des Raumes - es sind Deine
Augen, Dana.
Duftende Wärme umfließt mich, stützt mich,
durchfließt meine Arme: Ich sitze an der kurzen Seite
der Bar. Zwei Augen, die sich durch die dämmrigen
Schatten hindurch bewegen, umschlossen von glatt
nach innen gekämmten dunkelblonden Haaren: die
Augen berühren sich Seite an Seite im Schatten mit
meinen, sie starren verstohlen nebeneinander durch
den rötlich warmdunklen Schummer, der in der Tiefe
der Bar durch das Licht, das das Rückbuffet in den
Raum hält, grün-gelb-rot-braun aufgebrochen wird: es
bleiben getrennte Blicke, aber sie gelten derselben
Person. Jana hat Geburtstag, ab Mitternacht. Aber
Jana schaut unschlüssig an sich herab und macht einen
Schritt nach hinten, mit dem sie ihre Scheu austritt: Sie
traut sich nicht, sich schon abzumelden. Aber Dana
drängt sie: „Du bist doch schon lang genug da.“ Ich
beobachte, wie Janas Mimik und Gestik in viele kleine
Bewegungen zerfallen, unschlüssig zerrissen zwischen
gutem und schlechtem Gewissen. Dann spüre ich, wie
sich ihre Bewegungen zur Entschlossenheit vereinen:
Sie wird sich gleich abmelden. Mein Atem verengt
sich: wenn sie geht, wird auch Dana mit ihr gehen.
Noch umschließt mich Danas Wärme, noch atme ich
in ihrem Puls. Von der Seite spüre ich zwei Augen:
Danas Haut amtet olivgelbe Wärme in die späte
Stunde; sie glänzt warm in meine Augen. Der Raum
atmet Deine Wärme: ich atme tief ein und lass mich in
die Wärme sinken, die Dein Körper, Deine Haut
atmen; ich lehne mich an Deine Wärme an: sie gibt
mir Halt, den Halt Deines Körpers, von dem mich nur
der Abstand unserer Barstühle trennt: die Wärme, die
zwischen uns pocht, gewährt mir Deine Nähe, und
doch kann ich Dich nicht spüren: ich spüre Dich nur
mit meinen Augen: ich schaufühle Deinen Körper
unter Deiner Bluse, fühlschaue meinen Arm um Deine
Schulter. Ich atme Deine Haut: ihr Duft legt sich auf
meine Haut, mein Gesicht, meine Augen: unter einer
flüchtigen, stets wieder aufsteigenden Orangenfrische
Nuancen von Estragon, getragen von der geatmeten
Wärme, die aus den Poren Deiner Haut, unter Deiner
Bluse hindurch Deinen Duft dehnt und wärmend
färbt. Ich sitze in der wolligen Zärte Deiner Wärme,
geborgen in Deiner atmenden Wärme: Deinen
warmen Atem unter meiner Nase, auf meinen Lippen:
er bringt Dich mir näher, er steht zwischen uns, meine
Worte können ihn durchdringen, aber nicht
überbrücken. Dein Atem bedeutet mir Deine Nähe
und Deine Distanz zugleich. Eine warme Distanz,
erfüllt von geborgener Nähe – eine Nähe, die Du mir
durch jede Deiner Silben, die Du in die Wärme atmest,
gewährst: eine warme Geborgenheit. In jedem Deiner
Worte empfinde ich das freudige Verlangen des
Unerreichbaren, in jeder Deiner Silben fühle die von
keiner Aussicht getragene Hoffnung, jedes Deiner
Worte rührt in mir die Empfindung eigenen
Verschuldens – so jedenfalls hat man es später immer
eingeredet – Deine Worte fallen auseinander; in die
Pausen, die in der Unendlichkeit meines inneren
Raumes
entstehen,
aus
der
Tiefe
des
Hinterhauptslochs zwängen sich die bedrängenden
Worte meiner Mutter: „Ich habe das jetzt das Fleisch
schon aufgetaut. Ich kann doch wohl erwarten, dass
du zum Abendessen nachhause kommst! Dann hättest
du mir vorher bescheid sagen müssen. Dann musst du
rechtzeitig anrufen.“ – „Aber werde mich doch mit
über zwanzig auch mal spontan verabreden dürfen.“ –
„Wenn du nicht zum Essen kommst, brauchst nie
wieder zum Essen zu kommen.“ Und später hat mein
Vater, unter den Weinkrämpfen meiner Mutter, den
ganzen Abend wieder auf mich eingeschrien: „Du
nimmst keine Rücksicht auf uns!…“ Und seine Worte
fallen auseinander und drängen in der unendlich
dunklen Tiefe meines inneren Raumes von einer Seite
zur anderen, tauchen unter sich, schlüpfen
untereinander durch; die Stimmen reden immer wieder
auf mich ein, heben immer wider von einem
unbestimmten Punkt aus an und rutschen zur Seite
weg, und mit ihnen mein Kopf - irgendwann überkam
mich dann immer der Schlaf, aber sobald ich mich
dem Schlaf hingab, redeten die Stimmen immer
hallender, immer schärfer auf mich ein; dann stützte
ich mich wieder mit meinen Armen im Bett auf, und
am anderen Morgen hab ich dann wieder gesagt
bekommen, dass ich keine Rücksicht nehme, weil
doch die ganze Nacht Laute von mir gegeben habe,
von meinem Vater, mit einem bloßstellenden Lächeln,
mit zynischen Blicken bedrängend: „Wie ein Schaf! Du
kannst dich einfach nicht beherrschen.“- Ich merke, dass mein Kopf in der Geborgenheit
Deiner Wärme durchhängt; und ich merke, dass Du es
gemerkt hast. Durch die dunkel geatmete Wärme
glitzern feine Punkte silbrig feucht auf Deiner Haut im
Glanz Deiner Augen. Auf der samtig weichen Haut
ruht der Widerschein des rötlichdunklen späten
Abends, gesättigt von dunklem Lila: statt des
sandfarbenen Sweatrock umschließt an diesem Abend
ein etwas engerer lila Wollrock elegant Deine Hüften
und Deine Schenkel. Eine warme Geborgenheit
umgreift meine Seite, pulsiert um meine Seite, meine
Schultern, wärmt mein Gesicht; meine Haut atmet
Deine Feuchtigkeit, meine Worte atmen Deinen
Atmen, und für einen Augenblick Deine Worte auch
meinen, Dana. (Oder hab nur ich das so empfunden?)
In Deinen Augen spüre ich die Blicke Janas, die von
innen auf die Theke zukommt; ich wende mich ihnen
in die dunkle Tiefe der Bar zu: in Janas Augen sehe ich
Deine Blicke, für einen Moment fast unbemerkt auch
meine eigenen, aber die hat sie dann wieder an sich
herabgelenkt und dann in Deine Augen weitergereicht:
meine Blicke in Deine Augen, aber verlegen,
unschlüssig, der eigenen Gefühle nicht ganz sicher: ein
bisschen schien es so, als ob ihr hinter den Blicken, die
Ihr ausgetauscht habt, voreinander und dann auch vor
mir Eure Verlegenheit verbergen wolltet. Natürlich
habt ihr Euch auch über Deinen Geburtstag, Jana,
verständigt. Ja, eigentlich saß Dana ja überhaupt nur
da, weil sie auf Dich gewartet hat. Sie war erst kurz
vorher gekommen, um Dich abzuholen.
Später habe ich dann, von der langen Seite aus,
verdeckt durch die Kaffeemaschine, vergeblich
versucht, durch Zuflüstern und Zublicken dem
Marokkaner dazu zu veranlassen, dass er mir Deinen
Cocktail auf meinen Tisch rüberzieht. Weil er wieder
einmal glaubte, mir voraus zu sein, hat er mir erst gar
nicht zugehört, immer nur herablassend das
wiederholt, womit er glaubte, meinen Gedanken
voraus zu sein. Je mehr ich meine Worte vom Flüstern
abhob, um so widerwilliger und abweisender,
gleichgültiger gab er sich. Je mehr ich sie abhob, um
von der Bar aus, am Durchgang stehend, seine Worte
zu ersticken, fasste er das als Zustimmung für sich auf,
noch ungehaltener, lauter zu antworten. Ich spürte,
wie der Moment immer näher kam, in dem Du es
mitbekommen hättest, Dana; wie sich mein Brustkorb
zusammenzog. Als ob er es auch gespürt und es mir
nicht gegönnt hatte. Nur wenn Du es nicht
mitbekommen würdest, würdest Du es auch von mir
annehmen müssen. Weil er dann aber auch noch das
Wechselgeld absichtsvoll in die Länge zog, hast Du
mir dann, nachdem sich der Samtvorhang schon fast
über meinem Rücken geschlossen hatte, doch noch
nachgerufen: „Du bist blöd! Aber danke trotzdem!“
Und in der dunklen Wärme, die Deinen Körper, Dein
Gesicht umschloß, trug Deine Stimme jene gefärbte
Wärme, die ich durch den nachtdunklen Raum nicht
mehr spüren konnte, lag in Deinen Augen die
Rührung bescheidener Dankbarkeit, in deren Blicken
Dein Atem, dessen Nuancen ich nicht mehr
wahrnehmen
konnte,
glänzte:
ungezwungen
liebenswürdig glänzte, in die Wärme, die Dein Körper
dem nachdunklen Augustwarmen Raum spendete,
aufstieg: jene Wärme, die sich in atemfeuchten
Schatten auf Dein Gesicht legte: olivgelbe,
nachtdunkle Schatten. Und mit einem Handgruß, der
in seiner Bewegung jene Absichtsfülle leugnete, die ihn
anhob, und sie zur Bedeutungslosigkeit herunterspielte
und den Cocktail zur völlig unverbindlichen Geste
herabsetzen und jeden Verdachts entheben sollte,
entzog ich mich Deines Dankes, aus Angst, dass Du
Dich ihm selbst entziehen würdest, dass Du ihn
zurücknehmen würdest, wenn ich mich Deiner Worte
verbunden zeigen würde. Nur solange ich die
Gewissheit meiner Absichten von Dir fernhielt, würde
es Dir möglich sein, den Cocktail anzunehmen. Nur
die Ungewissheit würde es Dir ermöglichen, Dich mir
völlig unverbindlich verbunden zu zeigen. Nur solange
es unausgesprochen blieb, würde es Dir möglich sein,
Dich gerührt zu zeigen von dem, was die Geste
bekundete. Aber als Du dann am anderen Tag, noch
während Du mit Deinem Tablett hinter die Theke
zurückkamst, zugeflüstert hast: „Ich komme gleich zu
dir!“, da wusste ich schon, dass es Dir die Gewissheit
über meine Absicht nicht länger ermöglichte, Dich mir
geneigt zu zeigen, und dass Du Deinen Dank, der am
Abend zuvor noch spontaner Rührung entsprungen
war, hinter das Bedürfnis nach Unverbindlichkeit
zurücknehmen und ihn damit nachträglich zur bloßen
Geste der Höflichkeit umdeuten würdest. Dann bist
Du um die Theke herumgekommen und hast mir
gesagt, dass Du keinen Cocktail mehr von mir
annehmen möchtest. Begründet hast Du das dann mit
Rücksicht auf meine Verhältnisse; ja Du hast mir die
Rücksichtnahme
auf
mich
selbst
geradezu
anempfohlen, weil Du nicht den Mut aufgebracht
hast… die Ablehnung aus Dir selbst heraus zu
begründen?
Warum bist Du nicht dabei geblieben, Dana? Später
hast Du dann auch kein Trinkgeld mehr angenommen,
und als ich das Trinkgeld zum zweiten Mal in die
Worte fasste: „Für eine arme Studentin!“, hast Du mit
einer verlegenen Entschiedenheit geantwortet: „Ich
bin keine arme Studentin. Ich hab‘ mehr als Du!“
Später habe ich Dir dann folgende Zeilen gemailt:
„Hallo Dana!
Wie geht es Dir? ;-)
Ich möchte Dir gerne (noch mal) ein paar Worte
schreiben wegen dem Trinkgeld. Einerseits ehrt es Dich
und weiß ich es auch zu schätzen, dass Du Rücksicht auf
meine Situation nimmst und mich wohl auch nicht
ausnutzen willst. Andererseits besteht ja gerade darin
das Dilemma. Wer von so wenig Geld leben muss wie ich
derzeit (das war übrigens längst nicht immer so), hat
zunächst das Problem, dass er, wann immer er einer
Person zum ersten Mal gegenübertritt, jedes Mal aufs
Neue die Entscheidung treffen muss, ob er seine
Situation preisgibt oder nicht; sofern man sich bei
längerer Bekanntschaft nicht ohnehin früher oder später
dazu bekennen muss. Sagt man nichts, wird einem die
Zurückhaltung beim Trinkgeld als Geiz ausgelegt und
als gesellschaftlich und dem jeweiligen Rahmen oder
Ambiente schlichtweg unangemessen. In dem Moment aber, wo
man sich dazu bekennt, wenden sich die Leute entweder ab oder
aber man trifft auf Leute, die es gut mit einem meinen. Aber
gerade diese Rücksichtnahme, auch wenn sie noch so
edler Gesinnung folgt, erinnert mich eben einmal mehr
an meine Situation und daran, dass ich in der Tat kaum
auch mal jemanden etwas gönnen kann. Das verletzt aber
gerade jemanden wie mich, der von jeher anderen immer
gerne gegeben hat (und das zu anderen Zeiten ja auch
konnte), um so mehr.“
Nun kann ich Dir kein Trinkgeld mehr geben…
Ich sitze an der langen Seite der Bar. Aus dem
Kommen und Gehen der Serverinnen tauchen die eng
nach hinten zusammengezogenen Haare auf. Du
biegst um den Thekeneingang herum und kommst
von außen auf mich zu: Jana. Deine Augen führen
Deine Hand auf meine Schulter und Deine Blicke in
den Winkel der Selbstvergewisserung, aus dem Du
Deine Blicke zu mir aufrichtest und meine Blicke vom
Silber der Theke löst, die Theke, die meinen Blicken
die Enttäuschung ersparen soll, falls Du an mir
vorübergehen würdest, falls meine Blicke in Deinen
enttäuscht würden, und die meiner Erwartung jene
Tarnung gewährt, die meinen starren Blicken auf ihr
Silber jene Bedeutungslosigkeit gibt, die die Blicke, mit
denen ich mich dann über meine Schulter zu Dir
gedreht habe, Deinen Worten um so ahnungsloser
entgegnen ließen und sie um so unvermuteter in Deine
Blicke treffen ließ. So hast Du also Deine Hand auf
meine Schulter aufgelegt, zart angedrückt, um Deinen
Worten den Halt zu geben, den Du ihnen durch sie
selbst, durch Einbekennen Deiner Gefühle nicht
geben konntest – Du wirst jetzt einwenden, dass Du ja
auch keine Gefühle für mich hattest – und ihnen
zugleich jenen zarten Andruck, jenen scheuen
Nachdruck verliehen, der vorsichtig bedacht die
Neigung ergänzte, hinter der Deine Worte bewusst
zurückblieben: jener scheinbar zufällige Unterschied
zwischen Geneigtheit und Zuneigung; jener
Unterschied,
den
Deine
Worte
präzise
berücksichtigten, weshalb Deine Hand sie mit zarter
Neigung bedachte, um mich das spüren zu lassen, was
ich nicht endgültig erfahren sollte. So hast Du Dich
dann für die Lindt-Pralinen bedankt, die ich Dir zum
Geburtstag mitgebracht hatte. Etwas später bist Du
dann von innen, neben der Zapfstation an die Bar
getreten: „Stell dir vor, meine Mutter hat mich gefragt,
von wem die Pralinen sind!“ Nur warum sollte das für
mich von Bedeutung sein, während es für Deine
Mutter auf keinen Fall von Bedeutung sein durfte? So
hast Du beide im Zweifel der Vermutung
zurückgelassen, ohne eine Vermutung zuzulassen.
Ich sitze im Innenhof. Dana spricht mich unter
dunkelgrünblauem hellen c-Moll hindurch an, weil sie
die Abrechnung machen möchte und ich, wie so oft,
der letzte Gast bin.
„Ich bin dann jetzt erst mal eine Woche weg!“ Ein
stolzes Behagen liegt auf ihrer Brahmsschen, mit
bedeutungsschweren ermüdeten Schritten tritt sie auf
meinen Tisch zu, in ihrer Stimme liegt die Müdigkeit,
die der Erleichterung folgt, in ihren Augen die
zufriedene Genugtuung darüber, dass sie ihre Schicht
zu Ende gebracht hat: mit einem freudig erregten
Glanz in den Augen, deren Blicke in die nachtblaue
Tiefe des Hofes hinein in die ferne Stadt schauen, in
denen sie zwei Tage später ihre Freunde aus alten
Tagen treffen wird: in der anderen, nicht ganz so
großen Stadt, wo sie auch schon einmal gewohnt hat.
„Dann wünsche ich dir eine gute Fahrt und ein paar
schöne Tage. Und erhol‘ dich gut…“
„Ja, wird bestimmt toll. Hab die Leute dort lang‘ nicht
mehr gesehen.“
Die freudige Erwartung hob Deinen Kopf leicht
seitlich an, auf Deiner Unterlippe lag wie so oft jener
Glanz verschämter Rührung, während Deine Augen
freudig und verlegen zugleich auf sie herabschauten
und Du mit Deiner Lippe in Dich, in die Tage, die Du
vor Dir sahst, hinein gelächelt hast und zugleich in die
Tiefe des nachtblauen Innenhofes, während Dein
Lächeln unter Deinen Blicken die nachtkühle Luft in
dem dämmrig gelben Licht der Laternen immer tiefer
aufhellte; ein Lächeln, das Du mit einem beherzten,
tiefen Atemzug über Dich hinausgehoben hast, das
sich auf eine aufgerichtete, über sich selbst
hinausgestreckte Bluse stützte, das mit beiden Füßen
von Stolz gefestigt auf den Bodenziegeln stand, Füße,
die ihrerseits von der langen Schicht schwer geworden
waren; ein Lächeln, das Deine Worte von seiner
Rührung wegführen sollten: sie sollten Dein Lächeln
nur in der freudigen Erregung über die Tage in der
fernen Stadt begründen: je gerührter, je ergriffener
Deine Stimme sich verlegen in die Stille tastete, um so
tiefer hast Du Deine Blicke in Dich, in Tage, die vor
Dir lagen, gerichtet, damit ich Deine Rührung nur als
Wiedersehensfreude begreifen, aber nicht auf mich
beziehen sollte. In der Tiefe Deiner Blicke suchte ich,
erspürte, erfühlte, empfand ich, sah ich eine
verschämte Neigung, die Du hinter der freudigen
Erregung über das Wiedersehen mit Deinen Freunden
zurückgehalten, unterdrückt hast. (Oder hab nur ich
das so empfunden?)
Aber als Du reingegangen bist, atmete ich wieder mit
engen Zügen, immer geschnürter, immer kürzer,
immer tiefer in mich hinein, Deine Wärme in mich
hinein; während die Lunge nur immer kurz nachgab,
spannte sie sich, zog sie sich immer weiter nach oben
zusammen: die Enttäuschung darüber, dass ich Dich
nicht weiter aufhalten konnte, hob den Atem immer
wieder an, bis er dann in der Einsicht in die verpasste
Chance kraftlos kurz in sich zusammenfiel: die Lunge
von Vergeblichkeit gepreßt, gepreßt auch von den
Zweifeln des Verlangens, das vergeblich seine
Erfüllung in Deinen Blicken suchte, die vor mir in
nachtdunklen Kühle stehen blieben, die ich in dem
schummrigen gelb der Laternen verlängert sah,
während sich in der nachtblauen Tiefe Deine Blicke
immer weiter dehnten, immer tiefer, heller leuchteten,
immer wärmer, bis die späte Augustnacht olivgelb
erfüllt wurde, Deine Blicke nach hinten aufrissen und
das helle Licht im Glanz Deiner Haut ausbrach, wo es
schließlich von der nachtblauen Tiefe wieder
aufgesogen wurde. Als Du ins Lokal gegangen bist,
hast Du Deine Wärme der Nacht entzogen, und doch
spürte ich sie in meiner Brust, sie gab mir das
Bedürfnis, noch tiefer, zuversichtlicher zu atmen, und
ließ jeden Atemzug zugleich scharf schneiden, Deine
Wärme umschloß den Strahl nachtblauer Kühle und
drückte ihn im selben Moment zu; in Deiner Wärme
verkrampfte sich meine Lunge noch mehr, bis sie
schließlich in sich zusammenfiel, um danach nur um
so gespannter wieder anzuheben, während ich mir
abwechselnd ein- und wieder ausredete, mich nochmal
bei Dir zu verabschieden: wie das unbedingte
Verlangen, Dir nochmal gegenüberzustehen, meinen
Kopf kurz anhob, wie dann die Ernüchterung und
Aussichtslosigkeit, bei der zweiten Verabschiedung
über die Wiederholung des bereits Gesprochenen
hinauszugelangen – „und pass gut auf dich auf!“ - ,
meinen Kopf seitlich nach unten wegdrückte und
meine Lunge einfallen ließ, in der luftentleerten
Spannung meinen Kopf unkontrolliert nicken ließ –
„du hast es dir ja schließlich auch verdient!“ -, wie das
unbedingte
Sehnen
danach,
die
Situation
wiederherstellen zu können, den Atem immer wieder
kurz anhob; wie sich die Worte, die ihre Chance
verpasst hatten, sich zwischen die tatsächlich
Gesprochenen schoben, wie ich Dich in meinen nach
innen vertieften Blicken in den Hof zurückholte, wie
Du immer, wenn Du Dich gerade zu Hineingehen
umgedreht hattest, wieder auf mich zukamst, immer
wirklicher, wie Du jedesmal herzlicher, geneigter mit
mir geredet hast, mir die Antworten gabst, die ich
Dich sprechen ließ, von denen ich glaubte, dass ich sie
in Deinen Regungen unterdrückt sah; und doch ohne,
dass ich sie wirklich widergeben könnte: gehört hab
ich immer nur meine eigenen Worte… dann wieder
die Worte, die ich wirklich zu Dir sagte, mit denen ich
auf Deine ausweichenden Worte einging, weil ich
glaubte, so wenigstens im Gespräch über das, was
nicht mein Verlangen berührte, Einverständnis
empfinden zu können und mich so von meinem
Verlangen selbst ablenken zu können – „du freust dich
bestimmt…“ – so könnte ich mich wenigstens an
Deiner Wiedersehensfreude, die nicht mir galt,
erfreuen; womit ich mich genau damit zufrieden geben
würde, was Du mir mehr auch nicht zugestehen
wolltest – „ich freue mich für dich“ - in der
nüchternen Einsicht in die Aussichtslosigkeit verharrte
der Brustkorb in einem warmen, gestauten Atem, in
dem ich Unzufriedenheit empfand über unsere
Verabschiedung, während sich die Hoffnung, bei einer
zweiten Verabschiedung könnte ich mir Deiner
Zuneigung sicherer sein, sich gegenseitig durchdrängte
mit der Angst, dass die neuerliche Verabschiedung
noch unbefriedigender ausgehen könnte - „dann
wünsch‘ ich dir eine gute Fahrt“ – während sich die
Wärme, Deine Wärme zu einem Knoten verdichtete:
im Magen spürte ich die Angst vor der
Zurückweisung.
Ich hab dann erst mal meine Lederjacke angezogen,
aber so kalkuliert, dass Du gerade ins Bistro gegangen
sein würdest. Dort bist Du mir dann, ziemlich weit
vorne, in dem breiteren Bereich, entgegengekommen,
wie Du gerade die Aschenbecher eingesammelt hast.
„Und pass gut auf auf dich!“
Aber auf Deiner Unterlippe lag wieder jenes
verschämt gerührte Lächeln, das nicht mehr
Geneigtheit erkennen ließ, als ich erfahren durfte,
gerade so, dass ich es nie wirklich erfahren konnte.
Aus lauter Verlegenheit habe ich mich dann bei den
anderen nochmal verabschiedet, und selbst in dem
Moment, als ich die Stufen des Bistros hinabstieg,
schoben sich die Zweifel und die Gewissheit über
Deine Neigung gegenseitig beiseite, und ich zögerte
die Schritte die Stufen hinunter und meine Beine
versuchten, noch im Weggehen, wieder ins Bistro
zurückzugehen - und doch würde ich nur wieder die
Worte versäumen, die ich nicht finden konnte, und
die, die ich für Dich finden wollte und längst gefunden
hatte, scheuen, um mir wenigstens an Deiner
freudigen Erregung, die nicht mir galt, Deiner
Neigung sicher sein zu können. Das Gefühl, die
Verabschiedung nicht genügend genutzt zu haben,
trieb mich gegen meine Schritte in meiner Vorstellung
immer wieder zurück – „und pass gut auf dich auf und
… „ – ich verharrte auf dem Treppenantritt in Deinen
Worten, in meinen Worten, in Deinen Blicken, in
meinem kurzen, unentschlossenen Atemzügen:
während mein Körper in meine Gedanken versank,
führte ich mit meinem Kopf die Drehbewegung aus,
mit der ich gerne wieder zu Dir umgekehrt wäre,
während er in meine Unentschlossenheit nach unten
wegknickte – „wir brauchen dich noch…“ - immer
wieder wiederholte ich in meinem Innern Deine
Worte, je öfter ich sie mir vorsagte, um so mehr traten
sie auseinander, und je mehr sie auseinandertraten, um
so mehr Bedeutung legte ich in jedes Deiner Worte,
wobei ich mir abwechselnd die Gewissheit über Deine
Geneigtheit und die hoffenden, von Verlangen
schweren Zweifel als jeweils wahrscheinlicher vor
Augen führte, indem ich mir abwechselnd Deine
Zuneigung und Deine Abneigung als Gewissheit
hinstellte. Und mit jeder Stufe, die ich nach unten
nahm, wurde die Überwindung, von den aufgesparten
Worten, von denen ich ja gar nicht genau wusste,
welche es noch hätten sein können, Abstand zu
nehmen, schwerer, drängte das Bedürfnis, die
Gelegenheit doch noch nicht als verpasst zu geben,
meine Schritte immer wieder ins Bistro zurück. Und
doch empfand ich mit jedem Schritt immer mehr
Ernüchterung und Vergeblichkeit und richtete meinen
Gang zugleich an den Gefühlen auf, die ich mir für
Dich bewahrte hatte, indem ich sie ängstlich
zurückgehalten hatte – da ich sie nicht ausgesprochen
hatte, konntest Du sie auch nicht zurückweisen, und
so lange brauchte ich auch nicht Abstand zu nehmen
von ihnen, so lange brauchte ich mir auch nicht
einzugestehen, was ich längst empfand: meine
verhaltenen Gefühle sicherten mir die Zuflucht in die
Ungewissheit: als Hoffnung; und auch noch auf dem
Weg zum Bus blieb ich immer wieder stehen und
schaute mit verlorenen Blicken unsere Verabschiedung
in die dunklen Schaufenster, auf das nachtgraue
Pflaster an mir herunter… aber noch konnte ich mir
sicher sein, dass Du wieder zurückkommen würdest.
Ich stehe im Innenhof, in der morgenkühlen Frühe
eines Septembertages, dessen leichtes Licht allmählich
die über Dächer steigt und dessen morgenfrische
Kühle allmählich von oben erwärmt. Ich schaue auf
die weißverputzten Gefächer, auf die sich
spätsommerliche Wärme legt, auf denen sich
wärmendes Gelb ausdehnt und den weißen Putz in
sich aufnimmt: an den Gefächern haftet warmes Licht,
aber zwischen uns steht die Kühle: es ist ein fernes
Licht, es fällt von oben wie von meinem Erleben
getrennt in den Innenhof, fahl entfernt und grell
bedrängend zugleich, das Licht, das wie vom Abend
vorher aufgehoben scheint, in dem die Wandlaternen,
in dem der Glanz Deiner Augen und der bescheidene
Stolz,
die
verschämte
Rührung
und die
Wiedersehensfreude leuchten, das Licht, das wie aus
der Nacht des vorherigen Abends hereinbricht, das
Dunkel überflutet und warm überstrahlt, so wie
unendliches warmes Licht aus dumpfen Schwarz
fließt; ich starre auf den Tisch, an dem ich am Abend
vorher saß, vor dem Du standest: ich starre auf Dich,
ich starre auf den leeren Stuhl, auf dem ich selbst saß,
ich starre auf mich selbst; ich schaue in die Tage, von
denen mich die letzten Stunden, auch schon dieser
Moment, trennen, die ich in diesem Moment, da sie
vorüber sind, zum ersten Mal wahrnehme: je mehr ich
auf sie schaue, um so schwerer sind sie zu überblicken,
um so schwerer sind sie zurückzuholen, um so
bedrängender wird das Gefühl, die Zeit verloren zu
haben, ohne sie genügend erlebt zu haben: die
Enttäuschung, Wochen hindurch nur im Gefühl der
einen Empfindung durchlebt zu haben, die ich in
diesem Moment als umsonst fühle, während ich die
Wochen eigentlich verpasst habe. Ich setze mich auf
den Stuhl und schaue Dich mir gegenüber in die
allmählich hellere, wärmere Septembersonne hinein;
und das gelbe Licht wärmt sich in wolligem lila, mischt
sich olivgelb in das Lila, das sich in dem olivhellen
Morgen auflöst und plötzlich den Ton f annimmt, aus
dem sich allmählich der zweite Satz löst, dem die
Violine ihr olivgelbes, klärliches a aufsetzt und es in
die allmählich immer tiefer in den Hof einfallende
Septembersonne anhebt und das f von der ungewissen
Hoffnung mit einem Glissando in Deinen Namen
hinabrutscht; das verklärt entfernte Des-Dur, mit der
lilaseidenen, wollig warmen Oktave; etwas später dann
die Rückung von As nach C, sowie ich aus der
dumpfen Versunkenheit in die entglittenen Tage
plötzlich aufschaue in das hellere, gleißende
Septemberlicht, das zugleich der Hoffnung eine
Wärme von unbestimmter Gewissheit spendet, die
Quinte nach unten zum g und nach oben zum e
aufreißt.
In Deiner Abwesenheit steht Deine Wärme, steht
meine unerfüllte Seligkeit in Deiner Wärme in mir an,
drückt von innen gegen meinen Brustkorb: ich sitze an
der lange Seite der Bar, ich sitze in Deiner Wärme an
der Bar, versunken in einem unerfüllten Glück, dass
mich von innen wärmt, das meine Gedanken in sich
hinein zieht, gegen ihre Kraft in unbestimmte Tiefe
ablenkt, in Deine Wärme hinein. Ich sitze in dumpfer
nicht erwiderter Zuneigung: eine selige Wärme, in der
ich Deine Blicke zurückhole, die sich in dem
gelbtrüben Glanz auf der silbernen Theke auflösen,
von denen nur ein helles Licht, ein olivgelbes Licht
bleibt, das sich auf den gelbtrübten Silberglanz legt,
aber deren unendliche Tiefe hinter die Wandregale
reicht und deren unendliche Weite außerhalb meiner
Blicke liegt, wie eine Blende immer weiter aufreißt, in
deren Tiefe Du wieder auf mich zukommst, in denen
ich Deine Lippen die Worte sprechen sehe, die Du am
Abend vorher, im Hof, gesagt hast und auch die, die
Du nicht gesagt hast, in denen ich anfange, mich an
Dich zu gewöhnen –je länger Du weg bist, um so
mehr gewöhne ich mich an Dich -, in denen sich
unsere Begegnungen so oft wiederholen, bis ich in
ihnen zu leben anfange, bis ich mich an mein Glück,
mein so tief empfundenes, aber unerreichbares Glück
gewöhne, bis ich Deinen Blicken, in Deinen Schritten,
in dem seitlichen Aufwerfen Deines Kopfes mein
eigenes Glück erwidert sehe, bis ich mein Glück auch
als Dein Glück empfinde, annehme; ich sitze an der
Bar, in unerfüllter Nähe, in unserem innegefühlten
Glück, das wir in meiner inneren Wärme, in Deiner
Wärme teilen, als ob wir sie seit Jahren teilten: ich
schaue auf Dich zurück wie auf alte Tage: ich sehe auf
mich, empfinde mich als alten Mann, der auf sein
Leben zurückschaut aus der Erfüllung langer Jahre.
Ich sitze an der Bar, ich sitze in unserer
Verabschiedung – je länger Du weg bist, um so mehr
versuche ich die unerfüllte Sehnsucht durch ein
Gefühl von Fürsorglichkeit, mein Verlangen durch
bloße Anteilnahme an Deinem Leben zu ersetzen, und
aus dem Verlangen, für Dich da zu sein, wird eine
fürsorgliche Wahrnehmung, ein Gefühl der
Verantwortlichkeit – während Du in der anderen,
nicht ganz so großen Stadt bist – je länger Du weg
bist, jede Minute, die ich an diesem Abend wieder an
Theke sitze – ich sitze an der Bar – wird jede Minute,
wird jede Minute wird – jede – wird jede Minute – je
länger Du weg bist, um so weiter weg verdränge ich
Deine Wärme, um so weiter entfernt sich mein
unerfülltes Verlangen: es steht außen vor den
Bodenfenstern in der Kühle der Septembernacht – je
länger Du weg bist, um so mehr gewöhne ich mich -
ohne Dich – je länger Du weg bist, um so weiter
entfernt sich, entzieht sich Deine Wärme meinem
Körper - je länger Du - nimmt meine Wärme eine
nüchterne Kühle an, wird mein Verlangen luftiger, und
sorgsam aufbewahrt unter der Einsicht in die
Aussichtslosigkeit, eingeschlossen im Stolz auf die
eigene Zuneigung, von seligem Stolz behütet… in die
Leere, die zwischen den außen vor der Fensterscheibe
ruhenden Gefühlen und der Empfindung lieblicher
Ernüchterung, wohliger Entsagung entsteht, in die
sich schon jenes Gefühl abgeklärter Entsagung mischt,
in dem ich auf mich selbst schaue, zurückschaue,
herabschaue - in diese Leere hole ich die
Begegnungen, meine Nähe mit Jana zurück, die mit ihr
gewechselten Worte, weil in der gleichermaßen
Unerfülltheit meiner Gefühle auch zu ihr, in der
gleichen
Unwirklichkeit
meiner
Wirklichkeit
zumindest die Hoffnung an Kraft, an emsiger,
engagierter Wärme gewinnt…
„Jana arbeitet heute abend nicht.“ Ich frage die Chefin
über die Kaffeemaschine zur kurzen Seite der Theke
hinweg, wo sie sitzt, ob Du tagsüber schon da warst.
Und frage nochmal nach.
„Ja, sie arbeitet morgen.“
Am anderen Abend - das war dann schon der
Dienstag vor dem Mittwoch, wo es gewesen sein
muss, an dem Du erst donnerstags wiederkamst – war
dann schon jener Abend, an dem wir nach Deiner
Schicht zusammen an der Theke saßen – an dem Du
Dich nach Deiner Schicht zu mir an die Theke gesetzt
hast – und Dein Tiramisu zusammen gegabelt haben,
und an dem Du mir, nachdem ich das Lokal fast
schon nach vorne, durch den offenen Samtvorhang
verlassen und schon alle Guten-Abend-Wünsche
hinter mir gelassen hatte, die letzten Zurufe noch im
Rücken spürte, noch ein „Schlaf gut!“ nachgerufen
hast.
Ich sitze an der kurzen Seite der Bar. Ich sitze in der
Ahnung, die die Einsicht in die Gewissheit hinter
einem diffusen Schummer, hinter unscharfen
Lichtflecken zurückhält, an der mein Atmen Halt
findet, an der er sich sich stützen kann, die Ahnung,
die vor der Haltlosigkeit, der Unerreichbarkeit schützt,
die das Eingeständnis auf Distanz hält, hinter der
Ungewissheit zurückhält, der Schutz der Ungewissheit,
hinter der ich mir meine Gefühle bewahren kann – für
mich selbst -, die Ahnung, die, so lange sie nicht zur
Gewissheit wird, bis auf weiteres den Glauben an das
eigentlich schon Verlorene nicht gefährdet, die den
eigenen Stolz nicht antastet, eine Ahnung, die es
zuläßt, den Augenblick, der eigentlich schon hinter
dem Geschehenen liegt, in einen Moment vor dem
Geschehen umzudeuten, eine Ahnung, die um ihre
eigene Selbsttäuschung weiß, Gefühle, deren
Zurückweisung zurückgehalten wird, solange sie nur
als Ahnung zugelassen wird, eine Ahnung, die es
ermöglicht, die eigene Verletztheit in Stolz
umzuempfinden, in Glück: in ein Glück, das zwar mit
der Person, für die das Glück empfunden wird, nicht
geteilt werden kann, von dem sie auch gar nichts weiß,
und das sie doch durch jede ihrer Bewegungen immer
wieder erregt; ein insgeheimes Glück, das das in der
Wirklichkeit nicht gefundene Glück mit jedem
weiteren Atemzug und jedem neuerlichen in sich
selbst Versinken heimlich atmet; ein Glück, das
parallel zu dem entsagten Glück atmet, wärmt, in dem
ich jedes zuvor so oft so zart beobachtete Anheben
Deiner Füße, jedes stets unbeirrte und doch so
gutgläubige Drehen Deiner Blicke in das eng nach
hinten zusammengezogene Haar in mich selbst, nach
innen schaue, in die gemeinsam vor uns liegende Zeit
schaue, in der Du mit jeder Deiner Bewegungen mit
mir die Zeit teilst – ich fange an, mit Dir zu leben -,
während all die Anmut, die Eleganz Deiner Schritte,
die Redlichkeit Deiner Worte, auch wo sie an mich
gerichtet sind, in Deinen Blicken durch mich hindurch
für jemand anderes empfunden sind; ein Glück, das
für mich nur solange währen kann, wie Du nichts
davon weißt, weil Du Dich ihm sonst entziehen
würdest; ein Glück, das die Ungewissheit als
Erleichterung vor der Schwere der Gewißheit
empfinden lässt, ein Glück, das ich beflissen hüte,
indem ich jeden freundlichen Blick von Dir als
Bestätigung annehme und jedes bloße mich nicht
beachtende Vorübergehen mit starren Blicken mir als
unbeabsichtigt, zufällig auslege, bedingt durch Deine
starke Beanspruchung an diesem Abend. Das zart
gehauchte
lila
verdunkelt
sich
in
der
Unverständlichkeit der immer gedrängter stehenden
Gäste, wird zusammengedrückt, gerät in den Sog der
immer drängenderen Stimmen der Gäste - es ist
inzwischen Mitte September, und sie drängen sich
wieder, wie in der dunklen Jahreszeit, in das Innere des
Lokals - es verdunkelt sich, und wo Deine Blicke das
rauchige Dämmerlicht sonst aufhellten, verdunkeln sie
sich im Rauch, in der Tiefe des Raumes; Deine Blicke
werfen dunkle Flecken auf das Silber der Theke; und
während Du die Stufen zum Restaurant hinaufgehst,
vorbei an dem weinroten Träger, im Widerschein der
ocker-rosa Glasschirme des Mobile, das sich von der
Galerie auf das Parterre herabbewegt, deren ockerrosa Schatten über das umbrabraune Haar streifen,
hinwegziehen, dann auch wieder auf ihm ruhen,
während Du die Treppe zu Restaurant hinaufeilst, vor
der weinroten Tapete in die Flucht des
Treppenaufgangs entschwindest, bleibt Dein Gesicht
auf der Wand ruhen, kehrt Dein Gesicht zurück auf
den weinroten Träger, ruht der Glanz Deiner Augen
auf dem Träger, sich mit den ocker-rosa Schatten
durchdringend, und das Thema aus dem
Violinkonzert, das rote D, das lila, dunkellila fis, in der
dunklen-satten Fülle der Hörner, die zu der erhabenbreiten Würde der Celli hinzutreten, legt sich auf
Deine Stirn, auf Deine Wangen, die Sologeige streicht
über Deine Stirn, wiegend zwischen dem hohen und
dem tiefen a; je ferner Du mir bist, um so näher wirst
Du mir, wird mir Deine Person; die Melodie taucht die
Stimmen der Gäste in zartes, aus Hörnern gehauchtes,
weinrotes d und lila fis, sie hebt Deine Stimme wieder
aus den dichtgedrängten Gästen heraus, obwohl Du
gar nicht sprichst; der Hauch Deiner Stimme liegt über
dem schattigen, dunstigen, schweißigen rauchigen
Schummer, der unter Decke hängt; der Glanz der
Trägersäule schimmert weinrot in den rauchigen
Dunst; wenn Du die Treppe aus dem Restaurant
wieder runterkommst, durchschreitest Du den
weinroten Glanz, durchschreitest Du Deinen eigenen
Glanz, spiegelst Du Dich in Dir selbst. Und wenn Du
dann doch mal Deine Augen seitlich nach unten in
Dich hineindrehst und von dort unter Deinen eigenen
Blick hindurch zu mir rüberschaust und Deine
Oberlippe zart anziehst, lebt wieder die Vornehmheit
Deines Lächelns in Deinen Augen zwischen den eng
nach hinten zusammengezogenen umbrabraunen
Haaren auf. So wie Du sie zuvor im Dunst, über,
hinter der Theke zurückgelassen hast, legen sich Deine
Blicke über Deine ganze Erscheinung: dann lächelst
Du mit Deinen Blicken, wobei in dem
augenblicklichen Leuchten Deiner Augen immer auch
Deine Verlegenheit unter den von Dir abgelösten,
abgeklärten, edlen, reinen Blicken hindurch aufblickt –
„Bist bestimmt müde… Musst du noch lange
arbeiten?... Wann hast du denn angefangen… ?“„Schon um zwölf…“
„Dann wünsche ich dir noch einen guten Abend!“
Das „gut“ hast Du dann wieder so aufgegriffen, dass
Du zwar seine Betonung übernommen hast, ihm aber
meine Absicht, seine Verbindlichkeit entzogen hast.
Du hast es von meiner Empfindung für Dich getrennt,
Du hast es den Gefühlen enthoben, die es trugen. Das
Wort führte nicht mehr zu Dir: stattdessen hast Du zu
einer Redensart gegriffen, die Dir mit ihrem Wort zu
Hilfe kam, die zufällig das Wort enthielt, dem Du
seine Bedeutung nehmen wolltest, von dem Du Dich
nicht angesprochen fühlen wolltest, das nun ganz
allgemein der Situation galt, nicht mehr Dir, nicht
mehr meinen Gefühlen für Dich.
„Das Gute kommt immer zum Schluss!“
Da hatte ich wieder einen Satz, an den ich anknüpfen
konnte, ohne damit etwas an Dich knüpfen zu
können, wieder so ein Satz, mit dem ich mich auf
Dich berufen konnte, mich Dir nah fühlen konnte,
ohne Dir wirklich näher zu kommen; mit dem ich das
Glück, das ich in meiner Vorstellungen mit Dir
durchlebte, verlängern konnte, ohne es je mit Dir
teilen zu können, ohne es je zu erleben. Ich habe dann
bei der Chefin einen Cocktail für Dich geordert, und
dann hab ich noch einen Zettel vorbereitet, den sie
Dir dazugeben sollte: „Das Gute kommt immer zum
Schluss!“
Aber am anderen Abend hast Du dann gar nicht
davon geredet.
„Hast du den Zettel nicht bekommen?“
„Ja, also wenn der Cocktail von dir war, dann…“ Die
Worte, mit denen Du den Satz vermutlich zu Ende
führen wolltest, drehten Deine Blicke seitlich in Dich
hinein, zur anderen Seite als ich saß, in Dein eigenes
Glück, dem diese Worte jetzt vorbehalten waren.
Von der Seite spüre ich, wie sich jemand nach dem
Besteckkasten reckt und verzweifelt nach den wenigen
noch ordentlich gedrehten Bestecken wühlt: Dana ist
wieder zurück. Ich versuche aus ihren Blicken die
Erwiderung zu finden, die Jana mir verwehrt. Ich
pumpe Glück in meine Lungen.
„Hallo Dana, wie geht es dir!“ Aber mein hoffender
Ton findet keine Erwiderung.
„Ja, ja…!“
„Hast du zu viel ausgegeben? Musst du jetzt erst mal
wieder arbeiten…“
„Ja, jetzt muss ich arbeiten…“
Am anderen Tag, sonntags, saß ich dann schon um ein
Uhr Mittags an der langen Seite der Bar – und habe
auf Dich, Jana, gewartet: es war Dein vorläufig letzter
Tag: am anderen Tag bist Du dann zum ersten Mal in
die große Stadt geflogen. Irgendwann nach zwei,
vielleicht auch halb drei bist Du dann gekommen, hast
Dich zu mir an die Theke gesetzt.
„Kannst du kurz mal ein Auge auf meine Sachen
werfen?“
„Wenn ich es hinterher wiederbekomme?“
„Ja, bekommst du!“
Das wohl banalste, abgegriffenste aller Wortspiele –
gab Dir Gelegenheit, meine Worte mit Deinen Blicken
wie so oft wie in Dich hineinzuziehen und sie dort
kurz zu verzögern – gab Dir, gab uns die Gelegenheit,
uns ein tiefes gegenseitiges Einverständnis spüren zu
lassen – jenes in all den verpassten Momenten, durch
all die unausgesprochenen oder abgebrochenen,
missverstandenen Worte gewachsene Einverständnis:
dieses Wortspiel gab Dir die Gelegenheit, mir Deine
durch alle die Worte gewachsene Zuneigung zu
offenbaren, ohne sich dazu bekennen zu müssen; gab
Dir die Gelegenheit, diese Zuneigung wie schon zuvor
hinter einem rein intellektuellen Interesse zu
verstecken.
Später habe ich Dir dann noch geholfen, im Innenhof
das erste Herbstlaub zusammenzufegen. Da hast Du
Dich dann zum ersten Mal bei mir bedankt – um
meine Hilfe abzulehnen.
Später am Abend hab ich dann bezahlt.
„Kommst du später noch mal wieder?“
„Nur, wenn du auch Zeit hast, das wir uns noch etwas
unterhalten können.“
„Eigentlich hab ich die ganze Zeit nie Zeit gehabt!“
Auch nicht, als ich zu Dir ins Restaurant raufkam, und
Du die Bestecke polieren musstest? Auch nicht, als Du
Dich zu mir an die Bar gesetzt hast und mit mir Dein
Tiramisu geteilt hast?
(Erst später, als ich Dir versicherte, dass ich bei jedem
Wort, dass ich je über Dich und zu Dir gesagt habe,
bleiben würde, konntest Du Dir sicher sein, dass ich
Deine Zeit, Deine Aufmerksamkeit beanspruchen
würde, ohne deswegen auch Deine Gefühle zu
beanspruchen.)
Ich bin dann nochmal wieder gekommen, von Deinen
Augen den ganzen Abend über ungläubig beobachtet,
bis Du schließlich die Kerzengläser und die
Aschenbecher zum Aufzug bringen musstest, die
Aschenbecher von Deinen Füßen zart angehoben und
über das dunkle Parkett gehoben wurden, und ich,
nachdem ich mich mit einem fragenden Nicken kurz
bei der Chefin rückversichert hatte, Deinem Rücken,
Deiner Bluse die restlichen Gläser hintertrug. Die
entsagende Enttäuschung nahm plötzlich freudige
Erregung an, meine Gefühle des Verlustes und des
Verzichtes
nahmen
etwas
von
Deiner
Aufbruchsstimmung an, die ernüchternde Spannung
löste sich auf in Anteilnahme, in mitfühlende Freude,
und meine Getrübtheit nahm ich nicht mehr als
Bedauern war, sondern als Besorgtheit. Schließlich hab
ich mich dann verabschiedet, bei den anderen, immer
wieder, und bin immer wieder unschlüssig stehen
geblieben, bist Du die Müllsäcke in den Hof tragen
musstest. Dann erst habe ich das Lokal durch den
Hintereingang – durch den Innenhof – verlassen und
Dir zum Abschied meine Hand ausgetreckt –
versucht, Deine Hand zu greifen: aber Du hast sie
zurückgezogen.
Ich sitze an der langen Seite der Bar. Am anderen Tag
bin ich schon morgens früh aufgetaucht und hab dann
den ganzen Tag dort gesessen. Erst an der Theke,
dann auf der Terrasse. Zwischendurch bin ich dann in
den Hof gegangen. Dort hast Du dann das rosaweinrote Laub zusammengefegt _ „Danke, Simon!“ –
dann saß ich wieder an der langen Seite der Theke und
sah Dich über die Kaffeemaschine äugen und Deinen
ersten Kaffee pressen – „Du bist heute mein
Versuchskaninchen“ – sah Dich vor mir stehen und
Bier zapfen – „Heute mit Krawatte?...“ - sah Dich mit
dem Tablett in der Hand im Thekendurchgang auf
neue Getränke warten… sah Dich die Treppe zum
Restaurant herunterkommen… sah Dich von der
Terrasse hereinkommen… sehe Dich…
Ich sitze an der langen Seite der Bar und schaue zum
Thekendurchgang. Es ist der Morgen danach. Das
weiche Licht des noch frühen September legt sich
über die Theke. Es füllt den Raum, den meine Gefühle
nicht mehr füllen können; es legt sich über meine
Gefühle. Deine Augen drehen sich ungläubig von mir
weg in Dich selbst, in die insgeheime Tiefe Deiner
Unbeirrbarkeit, und ich versuche unter Deinen
Blicken hindurch in die Tiefe Deines Intellekts zu
blicken, ein verstohlenes Blicken, vor jedem Verdacht
sicher, unbemerkt in Deinen Intellekt hineinblickend,
dort, wo ich Deine Blicke mit meinen treffen will,
versteckt in der Tiefe Deines Wesens – ich sehe durch
die Holzstäbe der Galerie zu dem kleinen Tisch
hinauf, sehe Dich die Bestecke polieren, sehe in das
weiche Septemberlicht, das sich allmählich über den
Tisch legt, das Holz verblassen lässt und weiche,
verstaubte Streifen in den Raum senkt, dem die Kraft
des Augustlichtes zusehens schwindet, sehe Dich die
Bestecke polieren, sehe Dich durch die weiche,
verstaubte morgendliche Sonnenflut im dämmrigen,
von Alabaster durchhauchten schwachen Licht später
Augustabende vor dem Sprossenfenster, sehe Dich
durch die morgendliche Sonnenflut vor der tiefen
Nacht, aus der durch die Sprossenfenster nur die
Leuchtreklame der Geschäfte flimmert, sehe Dich…
Dein Gesicht versinkt in dunklen Schatten, Dein
Gesicht verliert seine Schärfe in der morgendlichen
Sonnenflut… ich sehe Deine Augen, immer wieder,
wie sie ihre Blicke unbeirrt, niemals leichtgläubig, und
doch stets guten Glaubens in sich hineindrehen,
vielleicht auch skeptischen Glaubens, dem Deine
Gutmütigkeit, Deine Unbeirrbarkeit doch stets jeden
Zweifel ausräumen; zart gehauchtes Lila liegt über
dem Geländer, liegt über dem Tisch, steht im Raum,
zart gehauchte, lila morgenscheinende Flut von
warmen, trüben Streifen, die das Restaurant aus seiner
Müdigkeit erwecken und zugleich verklären – mein
Kopf wird zur Seite weggedrückt, ich schaue in den
Hof, ich gehe in den Hof, Du schaust vom Besen und
dem Laub, das Du zusammenkehrst, zu mir auf –
„Danke, Simon!“ – ich stehe im Hof – „Danke,
Simon!“ – Du hältst bei dem Laub inne und schaust
zu mir auf, und jedes Mal versuche ich aus dem gewiss
als Ablehnung gemeinten Dank Deine Zuneigung für
mich herauszuhören; immer wieder lasse ich Dich
Deine Worte sagen, immer wieder lasse ich sie Dich
mit meinem Empfinden für Dich sagen – ich höre aus
meinem Empfinden Dein Empfinden heraus. Ich
empfinde Deine Worte mit meinem Hoffen –
unsicher, von einbekennenden Zweifeln getrieben
versuche ich mich gegen die ernüchternde Einsicht zu
stemmen, Deine Zuneigung anzunehmen, mit der
ungewissen Hoffnung auf Deine Zuneigung mich
gegen meine Zweifel aufzurichten, Deine erhoffte
Zuneigung gegen sie zu aufzurichten; aber in dem ich
mir Deine Worte immer wieder vorsage, brechen sie
unter der Ernüchterung der Einsicht in Deine
Zurückweisung ein, unter das Laub: das Laub häuft
sich über Deinen Worten an und bedeutet mir die
Unbezwingbarkeit Deiner Gefühle; unter dem
weinroten Laub erstickt das lilazarte Hauchen –
Ich sitze an der Bar, ich warte auf Dich, schaue Dich
auf den Platz hinaus, schaue Dich in den Eingang, das
Pflaster hebt Deine Füße zart an und trägt sie über
den Marktplatz hinweg auf den Eingang zu, Du trittst
ein, setzt Dich neben mich – „Kannst du kurz mal ein
Auge auf meine Sachen werfen“ – Deine abwesende
Nähe wird unerträglich, die Gewöhnung an Deine
Nähe macht das Verlangen nach Deiner Nähe immer
unerträglicher, weil doch diese liebliche Wärme von
einer wallenden Hitze umfangen und erdrückt wird;
das Verlangen nach Deiner Nähe drängt meine
wohlige Wärme immer mehr zusammen - „eigentlich
hab ich die ganze Zeit nie Zeit gehabt“ – mein
Verlangen versagend ziehen Deine Worte die Bilder
vom Tag vorher, Dein immer neuerliches Eintreten,
hinter sich runter, vergeblich versuche ich die Bilder,
in den Du auf mich zutrittst, in denen ich Dich auf
mich zutreten lasse, aus den Augenblicken des
wirklichen Geschehens herauszuziehen, aufzurichten,
sich vor mir bewegen zu lassen, immer wieder werden
sie von der Einsicht ins Versagen vereinnahmt und
dunkel getönt, sie verschwimmen zwischen den
Worten der Distanz, der Zurückweisung; die Einsicht
in die Gewissheit zieht sie nach unten weg; immer
wieder versuche ich mir jene liebgewonnene, zur
Wirklichkeit gewordene Geborgenheit, in der ich mit
Dir zu leben begann, zurückzuholen, zurückzufühlen,
während doch jene Geborgenheit immer wieder in ein
befremdendes Entbehren aufbricht und meine
Geborgenheit - „eigentlich hab ich ja die ganze Zeit
keine Zeit gehabt“ – um die Worte vom Tag vorher
betrogen wird – „eigentlich hab ich ja“ – ich sehe
Dich über das Pflaster eintreten – „eigentlich“ –
entsagend zieht mein Verlangen Deine Worte in sich
hinein, nach hinten weg – meine Gewöhnung an Dich
– durch die Worte vom Tag vorher betrogen –
„Danke, Simon!“ - „eigentlich hab ich ja die ganze
Zeit keine Zeit gehabt!“ -
Ich setze mich auf die Terrasse, an den ersten Tisch
links neben dem Eingang. Für einen Moment
erleichtert mich das allmählich zum Mittag drängende
Morgenlicht, aber immer wieder sinke ich darunter
zusammen, sacke ich in mich selbst, in die geflochtene,
Rückenlehne, während ich mich mit meinen kraftlosen
Beinen gegen die Pflaster stemme; doch ich kann mich
mit ihnen nicht mehr wirklich abstützen, während ich
mich um so verkrampfter, um so schwächer an den
Armlehnen festhalte.
Ich gehe wieder rein, setze mich wieder an die Bar.
„Sie sollten mal an die Saar spazieren gehen!“
Als ich wiederkomme, reicht mir die Chefin einen
Kaffee: „Der ist übriggeblieben!“ Ich sitze den ganzen
Tag dort, bis in den Abend, bis zum Schließen. Im
Laufe des Abends bleiben dann noch mehrere Kaffee
übrig, und der Italiener macht mir sogar noch einen
Cocktail. Durch das rötlich, grüngelbbraune Licht sehe
ich in der nun schon frühen Septembernacht von
Schatten gedeckt und doch in fürsorglich klarem
Schein das Lächeln der Chefin, in ihrem Lächeln sehe
ich Verständnis, Anteilnahme, ich sehe Janas Gesicht
in ihrem, ich suche ihr Verständnis, ihre Anteilnahme
durch ihr Gesicht in Janas Gesicht; in ihrem Gesicht
finde ich die Entgegnung für meine Gefühle, durch sie
erfahre ich in diesem Moment die vergeblich erhoffte
Erwiderung meiner Zuneigung, in ihrer Güte findet
meine Zuneigung ihr Ziel, in dem vor mir
aufsteigenden Röstdampf ruhen von zufriedener
Erfüllung beseelt meine Gefühle, geborgen im
Kaffeearoma, während sich meine Gefühle für Dich,
Jana, in freundschaftliche Gefühle umfühlen, während
ich jeden Krampf unterdrückter Enttäuschung in
freundschaftliche Anteilnahme an Deine Reise in die
große Stadt neufühle, während ich Dir meine Gefühle
allmählich gönne, obwohl sie nicht erwidert wurden,
während ich meine entbehrende Erregung als
Anteilnahme umfühle, während mir der Verzicht auf
einmal Stolz bereitet: der Stolz darauf, Dir meine
Gefühle zu gönnen, obwohl Du sie nicht erwidert hast
– in dem Bewusstsein, dass ich mich von der Chefin
verstanden fühle. Ihr Verständnis heilt meine
Zurückweisung.
„Danke, dass Sie heute Abend für mich da waren!“ –
„Ich sehe das als meine Aufgabe an!“
Das war der Montag, an dem ich nachmittags Dana,
bevor sie ihre Schicht nicht anzutreten brauchte, weil
sie ja ihre Bronchitis auskurieren musste, gefragt habe,
ob ich sie etwas fragen dürfte.
„Was willst du mich denn fragen?“ –
„Hat Jana sich über mich geäußert… ich meine, habt
ihr mal über mich geredet, weil…“
„Eigentlich nicht…“ –
„Also doch!...“ –
„Ja, aber wir haben eigentlich nicht über dich
geredet…“
„Es ist halt, weil ich ihr zum Abschied was schenken
möchte…“ –
„Ich glaube nicht, dass sie das annimmt… sie weiß ja
auch, dass du nicht so viel hast…“
„Also habt ihr doch über mich geredet!..“
„Ja, aber sonst eigentlich nicht viel…“
„…abgesehen davon hab ich die beiden Bücher ja
auch schon gekauft…“
„Das musst du wissen…ich glaube, dass es ihr nicht
recht ist…“
„Ich weiß nicht, ob es mir recht sein kann. Ich möchte
nicht, dass du für mich Geld ausgibst.“
„Weil du nichts annehmen möchtest von mir?“
„Nein, aber wenn ich mir überlege, dass du schon am
Anfang des Monats überziehen musst…“
„Aber Jana, soll ich dir jetzt noch sagen, was die
beiden Bücher gekostet haben?“
„Zwei Bücher?“
„Ja, von Adorno die „Minima Moralia“ und dann
noch ein Buch zur Einführung in den Journalismus.“
„Also, wenn sie ja nicht viel gekostet haben, dann
freue ich mich.“
„Und wenn sie doch viel gekostet hätten, dann nicht?“
„Also, wenn sie von dir kommen, freue ich mich auf
jeden Fall. - Und wann kriege ich sie?“
„Ja, das ist das Problem, wie wir das machen…ich
meine, ich würde mich gerne in Ruhe von dir
verabschieden, aber nicht hier. Vielleicht…“
Wir haben dann verabredet, dass ich, wenn ich an
Deinem letzten Abend nach Hause gehen wollte, mich
nur kurz bei Dir verabschieden würde, zum Schein vor
den anderen, dass ich dann das Lokal nach vorne zum
Markt hin verlassen würde und von hinten durch die
Gasse in den Innenhof zurückkäme und dort auf Dich
warten würde: du würdest Dich dann unter
irgendeinem Vorwand entschuldigen: „Ich sag dann,
dass mir nicht gut ist und ich mal kurz frische Luft
brauche: da fällt mir schon was ein … übrigens: Dana
hilft mir beim Umzug. Sie fährt zwei Wochen mit mir:
Ist das nicht total lieb von ihr?“
In Deinen Worten sanken meine Blicke an Dir herab
nach rechts durch das Geländer der Galerie hinunter
auf die Theke, und ich sah mich schon wieder dort
sitzen, sah die zwei Wochen vor mir, sah zwei Wochen
leere Tage vor mir, wenn Dana weg sein würde, die ich
wieder nicht zu füllen wusste, da ich ja keine
Beschäftigung hatte, zwei Wochen, die ich nicht
beschleunigen konnte, vor denen wieder Angst in mir
aufstieg, weil ich mich darauf verlassen hatte, meine
Gefühle, gleich nach dem Du in die große Stadt
abgereist wärst, auf sie zu richten und in ihrer Nähe
mein unerreichbares Begehren weiterempfinden zu
können, mich in ihrer Nähe von Dir zu entwöhnen,
mich in ihrer Gegenwart wieder an meine Gefühle für
sie gewöhnen zu können, mich in meinen Gefühlen
für Dich an sie gewöhnen zu können. In Deinen
Augen verloren sich meine Blicke, die Deine Worte
mitdachten, in Danas Blicke, deren Glanz in Deinen
Blicken aufleuchtete, die ich durch Dich hindurch sah,
hinter Dir sah; auf Deine Stirn fiel ihr Glanz. Und ich
drehte mich zum Restaurant um, und ich verlor mich
im Übergang zwischen den ockerfarbenen Rauhputz
und der dunkelroten Laibung der Bögen, die den
Durchgang zu den hinteren Tischen bilden:
halbschattiges, seidiges, olivgelbes Schimmern in der
Tiefe des ockerfarbenen Rauhputz und die
dunkelschattige, weinrote Laibung der Gewölbe im
Widerschein.
„Dann ist Dana also auch zwei Wochen nicht da?...“
Zum letzten Mal führten Deine Hände die Bestecke
durch das weiße Geschirrtuch, eingetaucht in den
weinroten Glanz, aus dessen Falten in der Tiefe der
Septembernacht zart gehauchtes Lila aufstieg, während
die Bestecke silbrigrot schimmerten. Deine Hände
führten Deine Blicke zu Ende, die ihre Reaktion
verleugneten.
Spätestens
jetzt
musste
Dir
klargeworden sein, dass mir auch an Dana etwas lag.
„Ich glaube, du gehst jetzt besser runter, eh sie was
merken.“
Ich habe dann an der Seite, die für die Theke unten im
toten Winkel liegt, die Galerie umlaufen, und habe
dann gleich, nachdem ich unbemerkt wieder unten
war, das Lokal verlassen. Aber in jedem meiner
Schritte lag ein Zögern, doch wieder zurückzukehren
und Dir nochmal eine Gute Nacht zu wünschen; jeder
Schritt, den ich vor den anderen anderen setze, zog
mich in meinem Willen immer stärker wieder zu Dir
zurück, die Zweifel, ob ich nochmal zurückgehen
sollte, trugen meine Füße immer weiter von der
Möglichkeit weg, nochmal umzukehren, mit jedem
Schritt verstrich ein Moment mehr, der mein
Verlangen unerfüllter und zugleich unerfüllbarer
werden ließ, der mich von der verpassten Situation
immer weiter wegtrug und mich in meinem Innern
immer aufs Neue zurückgehen ließ; meine Schritte
bewegten sich gleichzeitig vorwärts und rückwärts,
meinen Schritten fehlte jene entschlossene Schwere,
die das zweifelnd verlangende Zögern ihnen entzog;
während meine Beine mit jedem Schritt die Einsicht in
die Aussichtlosigkeit in das Pflaster traten, gaben
meine Füße unter ihrer Last doch stets dem hoffenden
Zweifeln nach: das zweifelnde Verlangen zog mir die
Füße unter den Beinen weg. Ich zögerte vor und
wieder zurück, blieb stehen, schaute über den Markt
zu der alten Kastanie, wo Du immer Dein Fahrrad
abgestellt hast, und je wahrscheinlicher ich den
Zeitpunkt, an dem Du das Lokal verlassen würdest
und ich Dich an der Kastanie noch antreffen könnte,
verpasst hatte, je länger mein zögerndes Zweifeln
gegen meine Füße ankämpfte, um so mehr erzwang
die verpasste Zeit, in der Du längst schon weg sein
konntest, neue Zweifel. Aber die Angst, dass jede
neuerliche Begegnung die Gewissheit bringen könnte,
die ich scheute, hielt mich dann doch davon ab: nur so
lange Du es nicht ausgesprochen hattest, konnte ich in
der vorgestellten Nähe mit Dir mein nie zuvor
erfahrenes Glück bewahren; nur solange Du es nicht
ausgesprochen hattest, brauchte ich es mir auch nicht
auszureden; nur solange ich weiterging, konnte ich in
Gedanken zu Dir zurückgehen und mit Dir reden;
solange ich Deine Antworten nur vermuten musste,
konnte ich sie übergehen; solange ich Deine Worte
nur in meinem Innern hörte, lagen in ihnen meine
Empfindungen, sprach aus ihnen mein Verlangen; nur
solange ich sie in meinem Innern hörte, konnte ich
selbst aus den Worten, denen ich unbedingt entgehen
wollte, sogar noch ein freundschaftliches Entzücken
empfinden, konnte ich sie annehmen, konnte ich mich
für Deine Worte freuen, konnte ich mich durch Deine
Worte hindurch für Dich freuen: ich sah Dich über
den Marktplatz gehen, auf Dein Fahrrad steigen, durch
die wartenden Fahrgäste hindurch, in den
vorfahrenden Bus hinein; in der Windschutzscheibe
sah ich Dich in die große Stadt fliegen, sah ich Dich,
sah ich Dich in ferner Zukunft …
Freitags haben wir uns dann unter den Deckenbalken
des Fachwerks am Hintereingang verabschiedet,
samstags hat dann schon nur noch Dana gearbeitet, da
hab ich dann auch schon zum ersten Mal die weißen
Mohrenköpfe aussortiert und ihr unauffällig,
unbemerkt auf die Waitress-Station im Bistro gestellt.
Sonntags hat sie dann abends auch ihre vorerst letzte
Schicht gemacht.
„Ach ja, jetzt hab erst mal zwei Wochen frei, und
wenn ich dann wiederkomme, arbeitete ich ja nur
noch am Wochenende, weil ich dann ja studiere…“
„Dann wünsche ich dir jetzt erst mal eine schöne
Zeit…“
Ein, zwei Stunden später saß ich doch wieder an der
langen Seite der Theke; irgendwann standen Deine
Blicke, Dana, mir von der Innenseite der Theke
gegenüber. Du hast Bier gezapft, was Du, glaube ich,
in der ganzen Zeit sonst nie getan hast.
„Hat Jana was zu dir gesagt?“
„Nein, warum?“
„Na ja, wegen der Geschenke… ich meine, hat sie sie
schon ausgepackt?“
„Ja, sie hat sie ausgepackt.“
„Ja, hat sie sie hier noch ausgepackt?“
„Ja, sie hat sie hier noch ausgepackt.“
„Ja, und hat sie was gesagt?“
„Ich weiß nicht…halt die beiden Bücher…“
Auf Deiner Unterlippe lag der Glanz Deines
blaugrünen
Tuchschals,
umführt von
dem
tiefschwarzen Schalkragen Deines Pullis, in dessen
Tiefe sich der olivgelbe Teint Deiner Haut noch mehr
sättigte als sonst, in dessen Geborgenheit Deine Haut
noch voller atmete, sich noch tiefer, noch wärmer
dehnte, aber die verschämte Rührung und der
unbeugsame Stolz zogen sich von Deiner Unterlippe
zurück in die Mundwinkel, Deine Unterlippe trug aus
ihrer Mitte ein gewisses Unbehagen unter Deinen
Blicken in mein Gesicht, die Du unter meinen Blicken
hindurch in das Silber der Theke, in den pilsenen
Glanz des einlaufenden Bieres gesenkt hast: das Bier,
in Deinem olivgelben Teint perlend, vor dem
tiefschwarzen Pulli, in dessen Ausschnitt sich das
blaugrüne Tuch um Deinen Hals legte, im
Widerschein der braunrotgrünen Flaschen hinter Dir,
im Wandregal. Zuerst hatte ich das Gefühl, das Deine
Blicke mich fragend anschauten, aber als ich Dich
dann nach Jana gefragt habe, schauten sie gleichgültig,
vielleicht auch abweisend unter meinen Worten
hindurch: meine Frage fand in Deinen Blicken kein
Interesse.
Hast Du es mir nicht gegönnt, dass ich Jana doch was
geschenkt hatte? Hast Du mich in diesem Moment die
Ablehnung spüren lassen, die Du mir damals, im
Innenhof, für Jana vorhergesagt hattest, die nun
ausgeblieben war, nachdem Jana die Geschenke doch
angenommen hatte?
Dienstags bin ich dann erst spät abends gekommen
und habe meine Pfeife geraucht.
Ich sitze im Bistro und rauche Deine Blicke in den
Virginia Flake. Dana. Nun bist Du also mit Jana in die
große Stadt aufgebrochen. Deine Blicke umgeben
mich, durch Deine Blicke, Deine olivgelbe Haut
hindurch versinke ich in der geborgenen, verrauchten
Wärme des ockerfarbenen Rauhputz, aber je
allgegenwärtiger Deine Blicke werden, um so
entfernter wird mir Deine Nähe, mal berührt sie mich
angenehmen
und
mal
fast
befremdend,
kompromittierend: die Blicke, die ich vor mir sehe,
stellen meine Empfindungen bloß: Du bist durch die
empfundene Nähe hindurch abwesend: der Raum
verliert Deine Gegenwart. Das Licht verliert Dein
Leuchten. Ich lerne den Raum neu kennen. Unter
einer beschäftigten, anstrengenden Wärme empfinde
ich befreiende, unbeteiligte Ruhe; Deine Ferne geht
mich an und geht mich wieder nicht an.
In diese ferne Nähe komme ich aus dem Bistro
herunter und nehme in der schummrigen,
Septemberdunklen Tiefe des Raumes Deine Blicke an
der kurzen Seite der Bar wahr: Ihr seid also doch
nochmal vorbeigekommen. Jana wollte sich noch bei
der Chefin verabschieden.
„Hallo Simon…Ich bin müde, ich will nach Hause…
ich weiß nicht, was Jana noch macht…sie muss da
irgendwo rumlaufen… ich glaube sie ist nochmal
raufgegangen..“
In diesem Moment treten von der anderen Seite auch
schon Janas Augen zu mir, um die sich die
umbrabraunen Haare im Halbglanz der rosa-goldenen
Lampengläser des Mobiles legen, in dem von kühler
Septembernacht erfüllten Raum fast schwarz, unscharf
zusammengezogen.
„Hast du die Bücher schon ausgepackt?...“
„Ja, und ich hab sie auch schon gut verpackt…“
„Dann…Jana, ich möchte dir nochmal sagen, dass ich
dir alles Gute wünsche…privat und beruflich!“
Deine Blicke unterdrückten die Erinnerung des schon
Gehörten, irritiert hast Du sie an mir, an Dir
herabgeschaut, in der Tiefe Deiner Augenhöhlen
nahmen sie Zuflucht vor Dir selbst, vor Deiner
eigenen Verlegenheit,
„Ich möchte dir gern noch sagen…“,
aber Dana drängt schon zum Gehen, drückt drängend
die Glastür zum Marktplatz auf, während Du Deine
Blicke über Deine linke Schulter nachholst: für einen
Augenblick ruhen sie noch auf mir, aber hinter dem
Glanz, der auf ihnen liegt, folgen sie schon Dana; zum
letzten Mal spiegele ich mich in ihnen, aber in ihnen
spiegele ich mich in der freudigen Ungeduld, mit der
Du durch mich hindurch die große Stadt vor Dir
siehst; und ich finde in Deinen Blicken, verborgen
hinter beschämter Betroffenheit Dein frisch
gefundenes Glück, das aber nicht mir gilt,
„… und schreib‘ mir mal!...“
zum letzten Mal geht Ihr, zusammen, durch den
Samtvorhang, durch die Glastür, die ich Euch
aufhalte, auf den Marktplatz hinaus: die
bedeutungsschweren Schritte, die etwas drängender
rechts kaum vorausschreiten, und die leichten Schritte,
die vom Pflaster zart angehoben werden, die von den
bedeutungsschweren Schritten mitgenommen werden,
die ihnen links nebenher folgen, sich über sie heben,
sich über ihnen bewegen: Danas Schritte ziehen Janas
mit sich, in die Weite des Marktes, in die feuchtkühle
Tiefe der Septembernacht,
„…und schreib mir mal!..“
und zum letzten Mal drehen sich die fest
zusammengezogenen in der abenddunklen Tiefe des
Marktplatzes nachtbraunen Haare zu mir über Deine
rechte Schulter zurück: aber über ihnen liegt ein
Schimmer von fremdem Glück, in Deinen Blicken
aber auch ein Hauch von Einverständnis, vielleicht aus
Dank dafür, dass ich Dir Dein Glück aufrichtig gönne;
vielleicht auch aus Erleichterung…
zum letzten Mal lösen sich Deine Blicke von mir, zum
letzten Mal holst Du sie in die nachtdunkle Ebene des
Marktes nach, sie folgen Dana in der Schwere ihrer
Schritte: Danas Schritte drängen nach Hause, rechts
kaum vorausschreitend, beherzt, geneigt von
bescheidenem Stolz: jeder Schritt gedrängt von der am
Ende des Umzugs erschöpften Wiedersehensfreude
mit der großen Stadt. Zwei Schöpfe werden von ihren
Füßen in die feuchtkühle Septembernacht getragen,
werden von der kühlen Nacht aufgesogen, in die
dunkle Tiefe des Marktplatzes hineingezogen; zwei
Blusen verschwimmen in tiefer Freundschaft, eng
verschlungen, in ihren Falten ruht ihre Gewissheit,
ihre Zuversicht, getragen von bedeutungsschweren
Schritten und leichten, vom Pflaster über sie
hinweggehobenen; immer tiefer schreiten Danas
Schritte rechts kaum voraus in die Weite des Platzes,
immer weicher in der Unschärfe der Dunkelheit,
immer leichter werden ihre, immer weicher, immer…
und Janas Füße werden leicht vom Pflaster im Fluß
der schwebenden Synkopen der Klarinetten getragen,
in der Tiefe des Marktplatzes legt sich das in der Höhe
gehaltene b über Eure Köpfe; Danas Kopf auf
bedeutungsschweren Schritten ruhend, durch die
feuchte Kühle getragen, Janas Schritte sich anlehnend
und sie beschützend zugleich, das Bassetthorn legt
sich über die Oboe, die Oboe über das Bassetthorn,
Danas Stimme über Janas, Janas über Danas, obwohl
der Oboenton näher an Danas Stimme ist, höre ich
ihn als Janas Stimme, weil er die größere Verheißung
trägt, und das tiefere Bassetthorn löst sich in Danas
tieferer Stimme auf, der Oboenton, der so lang und
zart in die Nacht strahlt, strahlt durch die nachtdunkle
Septemberkühle, strahlt durch sie hindurch in die
große Stadt; Danas Schritte ziehen Janas Schritte mit
sich, bis sie beide hinter der Einbiegung der Gasse
hinter dem Eckhaus verschwinden; bis ihr Euch
plötzlich umdreht, bis Jana zu mir aus der Tiefe ihres
Verständnisses, für das ihr frisch gefundenes Glück so
mitfühlend Raum lässt, zurückschaut, bis ihre Blicke
wieder unter den Deckenbalken vor mir stehen; ich
drehe mich zum Eingang um und schaue wieder
zurück, und Jana dreht sich wieder um; ich gehe rein
und schaue wieder zurück, durch die Glastür hinaus in
die Tiefe des nachtdunklen Marktplatzes bis zur
Einbiegung der Gasse, bis zu der alten Kastanie,
Danas Schritte ziehen Janas Schritte mit sich um die
Ecke in die Gasse, Janas Schritte heben Danas Schritte
sanft über das Pflaster, Ihr tretet durch den Eingang
hinaus auf den Marktplatz, Jana schaut sich noch
einmal nach mir um, Ihr biegt in die Gasse ein und
verschwindet
hinter
den
Häusern,
die
bedeutungsschweren Schritte schreiten rechts kaum
voran, die leichten, eleganten Schritte werden von
ihnen über das Pflaster sanft hinweg gezogen, Ihr
tretet durch den Eingang hinaus, Ihr biegt – Ihr tretet
– um die Ecke – biegt – auf den Marktplatz hinaus –
in die Gasse – durch die selige Weite, in die
nachtschattige Tiefe der „Gran Partita“ in kühler
Septembernacht, in der Weite des Platzes saugen die
nachtschattigen Falten Eurer Blusen den kühlen
Septemberabend immer tiefer in sich ein, saugt sich
die Nacht immer tiefer in die kühlen Falten– Ihr tretet
– ich trete wieder ein, setze mich an die kurze Seite der
Bar, und schaue wieder durch die Bodenfenster
hinaus, und Jana schaut sich wieder nach mir um, und
ich drehe mich wieder zur Bar um und schaue Euch,
schaue Eure Schritte in den Raum, und Jana dreht sich
wieder nach mir um, und die Chefin dreht sich nach
mir um und ich sehe in ihren Augen Janas Blicke, in
ihrem Lächeln finde ich Verständnis, finde ich
Anteilnahme, ich sehe Janas Gesicht in ihrem, ihr
Gesicht löst zu Janas auf, ihr Verständnis, ihre
Anteilnahme blickt aus Janas Gesicht; in ihrem
Gesicht finde ich die Entgegnung für meine Gefühle,
durch die Chefin erfahre ich in diesem Moment die
vergeblich erhoffte Erwiderung meiner Gefühle, in
ihrer Güte findet meine Zuneigung ihr Ziel, in dem
vor mir aufsteigenden Röstdampf ruhen von
zufriedener Erfüllung beseelt meine Gefühle,
geborgen im Kaffeearoma, während ich meine
Gefühle für Dich, Jana, in freundschaftliche Gefühle
umfühle, während ich jenen Krampf unterdrückter
Enttäuschung in freundschaftliche Anteilnahme an
Deiner Reise in die große Stadt neufühle, während ich
Dir meine Gefühle allmählich gönne, obwohl Du sie
nicht erwidert hast, während ich meinen Verzicht als
Anteilnahme umfühle, während mir der Verzicht auf
einmal Stolz bereitet: der Stolz, Dir meine Gefühle zu
gönnen, obwohl Deine Gefühle jemand anderes gelten
– in dem Bewusstsein, dass ich mich von der Chefin
verstanden fühle. In ihrem Verständnis heilt meine
Zurückweisung, in ihrer Zuneigung erlebe ich meinen
Verzicht als Gewinn.
Ich fühle mich erleichtert: wieder brauche ich mich
nicht näher zu erklären. Die Vertrautheit, die Du mir
vorenthalten hast, hat mich vor der Verlegenheit
bewahrt, mich Dir rechtfertigen zu müssen, …
Als Du mir damals, auf der Kellertreppe, als Du die
Pappen austauschen musstest, gesagt hast, dass es
absolut selbstlos war, konntest Du nicht wissen, dass
ich mir der schmerzende Verzicht leichter war als das
Glück, anzunehmen; wie unglücklich froh ich war…
Jana,
es war nicht selbstlos, jedenfalls nicht in dem Sinne,
wie Du es gemeint hast, auch wenn ich das, ohne eitel
zu wirken, natürlich gerne für mich Anspruch nähme;
aber hättest Du auch Verständnis für mich
aufgebracht, wenn Du es nicht nur für die noch
verbleibenden Tage hättest aufbringen müssen, anders
als jetzt, in dem Bewusstsein, dass Du wir uns über
diese Tage hinaus so schnell nicht wieder begegnen
würden?
ENTR’ACTE I
Kühl trägt der Morgen die Blätter zu Boden, mit jeder
Bewegung der Äste reißen sich die Blätter los, der
Wind weht warm durch die Robinie vor dem Lokal,
der Oktober weht mild in den Frühnebel hinein,
Morgenluft hebt sich warm unter das Laub, das sich
zart auf den Boden legt, das sich von milder Wärme
getragen über die Pflastersteine hebt; der alte Baum
wirft seinen Sommer auf den Marktplatz herab; die
Milde eines luftigen Oktobermorgens zieht durch die
lichter werdenden Äste; unten stehen die Tische auf
dem Marktplatz vor den Bodenfenstern, auch der
kleine neben dem Eingang; die Bilder schwanken,
werden lichter: die Wärme eines aufsteigenden
Oktobermorgens zieht durch sie hindurch. Der weiße
Putz des Lokals, das Grau der Pflaster, das Grün der
Blätter wirken schwach, fremd: unbeteiligt fällt das
Laub auf die Tische, unbeteiligt steht die Robinie vor
dem Lokal und lässt ihr Laub in den milden
Oktobermorgen wehen, der es nur allmählich lautlos
zu Boden trägt. Dem Rauschen fehlen Eure Schritte,
den Stimmen der Gäste fehlen Eure Stimmen, Ihr
entzieht dem Anstrich sein Weiß, seiner Tiefe fehlt
Eure Nähe, Eure Ferne entzieht den Pflastern und
dem Laub ihre Farbe – gibt dem Anstrich, dem
Pflaster und dem Laub ihre matte Reinheit zurück: sie
leuchten zart hell, unberührt warm in der Milde des
Oktobermorgens, der Wind befreit sie von der Last
der vergangenen Wochen, die Farben öffnen sich
wieder in die Sinne, der Wind entzieht den Farben ihre
schwere Tiefe, die Tiefe, die von Enttäuschung
getränkt und zugleich verdunkelt war: nach drei
Monaten nehme ich die Farben wieder wahr, wie sie
sind: sie sind nicht länger eingenommen von meinen
Gefühlen. Mild leuchten sie durch die Wärme eines
des aufsteigenden Morgens, hell reflektieren sie die
aufsteigende Sonne, in ihnen wacht die Erleichterung
auf, in ihnen wächst die Distanz meiner Gefühle. In
die Schwere Eurer Ferne fällt die Erleichterung Eurer
Ferne und der Stolz, den ich mir in der aufgehenden
Sonne für Euch bewahre. Grün, gelbverblichen fällt
das Laub auf die Tische, vom Herbst gebleichtes Licht
streift durch die Äste der Robinie über die Pflaster,
leicht.
Kühl trägt der Morgen die Blätter zu Boden, mit jeder
Bewegung der Äste reißen sich die Blätter los, der
Wind weht warm durch die Robinie, der Oktober
weht mild in den aufsteigenden Kaffee hinein,
Morgenluft hebt sich unter den Duft frisch gerösteten
Kaffees, der von milder Wärme getragen aus der Tasse
in den Oktobermorgen, in die aufsteigende Sonne
steigt.
Ich sitze an dem kleinen Tisch neben dem Eingang
und schaue durch das Laub der Robinie hinüber zu
der alten Kastanie: grünes, gelbverblichenes Laub fällt
durch die Bilder, durch die das vom Herbst
verblichene Licht streift: grüne, gelbverblichene Blätter
fallen dunkel auf Dein Fahrrad, liegen lautlos auf
Deinem Fahrrad – vom Herbst gebleichtes Licht wirft
Streifen auf dem Boden, wo kein Fahrrad mehr steht –
grüne, gelbverblichene Blätter fallen lautlos dunkel auf
Deine Bluse, auf die Pflaster: gelbverblichenes Licht
hebt Deine Füße sanft an und trägt sie über die
Pflaster hinweg: unter ihnen weht der Oktober die
Blätter durch den Morgen – weht der Oktober über
den leeren Platz – in den Falten Deiner Bluse
dämmert das Grau des Pflasters, ihre Umbiegungen
leuchten in dem im Herbst erblichenen Licht: leichte
Streifen bleichen Deine Bluse auf – leichte Streifen
legen sich auf den leeren Marktplatz; unbeteiligt wirft
die alte Kastanie ihren grüngrauen Schatten über die
leeren Fahrradständer, die in der aufsteigenden Sonne
silbrig schimmern, leer schimmern – grün verblichen
fallen die Blätter durch Deine Schritte, heben die
Pflastersteine Deine Füße über das vom Wind
getragene Laub hinweg, tragen Deine Füße Dich
durch das fallende Laub hindurch, aber es fehlt die
Unmittelbarkeit, die die einzelnen Schritte zwischen
dem Herbstlaub zusammenzufügt – gelbverblichenes
Laub fällt auf den Marktplatz, fällt unter die Leute,
fällt auf die Tische und Stühle.
Deine Bilder verlieren ihre Wärme, ihre Bewegungen;
ich sehe Dich über den Platz auf mich zukommen,
Jana, vielleicht ein Jahr später, vielleicht zehn, zwanzig
Jahre später. Ich sehe Dich wieder auf mich
zukommen, schon bald: Du bist wieder aus der großen
Stadt zurückgekommen: aus dem milden Frühnebel
löst sich in zart angehobenen Schritten umbrabraunes
Haar, bis es sich klar erkennbar eng nach hinten
zusammenzieht: es atmet die Wärme des
Oktobermorgens: das aufsteigende herbsterblichene
Licht streift von hinten über Dein Haar, Deine Füße
tragen Deine Beine zart durch die morgenmüde
Geschäftigkeit auf mich zu, die blauen Nähte Deiner
Jeans durchschreiten die Morgenmüdigkeit: mit einer
Hand untergreifst Du den Träger Deines Rucksackes,
den Du nur über eine Schulter trägst… unter meinem
Schmerz freue ich mich für Dich.
Der Wind trägt das Laub über den leeren Platz, die
unangenehme, sehnsüchtige Enge weicht der
entsagenden Einkehr, die sich in Erleichterung läutert,
weil sie von dem Stolz getragen wird, den ich mir für
Dich bewahrt habe, der mich den Verzicht
angenehmer empfinden lässt als die Erfüllung…
erleichternde Besinnung… über meinem Schmerz
freue ich mich für Dich…
Die Dämmerung zieht in das Lokal ein, die
Oktobernacht breitet sich über der Bar und in den
übrigen Räumen aus. Die Tische sind abgebaut, ich
sitze an der kurzen Seite der Bar: ich sitze im Bringen
und Abholen der Tabletts, zwischen gefüllten und
leeren Tabletts, zwischen vollen und leeren Gläsern,
zwischen weißen Barcadiblusen und schwarzen
Barcadihemden, zwischen mehr oder weniger eng
nach hinten zusammengezogenen Haaren, zwischen
aufgesteckten Frisuren und Pferdeschwänzchen; nur,
dass das Ausschlagen der Kaffeesiebe wärmer,
gedämpfter wirkt, ihr Schlag wird nicht mehr, wie
noch ein, zwei Wochen vorher, durch die laue, bald ins
Kühle kippende Luft durch das Lokal getragen; über
den Schritten, die die Tabletts machen, liegen nicht
mehr die Stimmen, die von der Terrasse hereinziehen;
die Haarschöpfe wirken gesättigt in der Tiefe der
beheizten Räume, deren Wärme sich an den
Bodenfenstern gegen die feuchte Kühle absetzt, die
vom Markt aufsteigt, die die Luft beschwert, von
unten schwer auf den Pflastern liegt; die Frisuren
wirken wärmer und in der Wärme schwerer und
zugleich angestrengter, von schwerer Eile getrieben,
die Schritte werden enger und kürzer zwischen den
immer dichter stehenden Gästen, ich versinke in der
schweren, getriebenen Eile, kleine, kurze, kräftige,
eilige Schritte umsorgen mich, die getriebene, emsige,
eilige Wärme beruhigt mich, die Schritte bergen mich
in warmer, schwerer Geborgenheit, eiliger Ruhe; ich
schaue auf den roten, weinroten Deckenträger, auf
dem Deine Blicke ruhen, Jana, von dem sich der
Glanz Deiner Haut ablöst und in die dunkle, schwere
Geborgenheit schummert; der Bogen der Sologeige
streicht um die Rundung des Trägers, die
aufgesteckten Frisuren und Pferdeschwänzchen
tauchen in die weinrote Wärme ein und wieder aus ihr
auf, sie steigen die Treppen hinauf zum Bistro, und
ihre weißen Barcadiblusen treten ein in den
dämmrigen Rauch, der das ocker der Tapeten verzieht:
die Tapete dehnt sich in der Tiefe ihrer Farbe, sie wird
immer tiefer, gibt nach hinten nach, gibt ins olivgelbe
nach, satter, geschmeidig feuchter Glanz, Danas
Glanz, steigt aus ihrer Tiefe auf, legt sich auf die
Blusen: dunkle, verrauchte Wärme legt sich auf die
weißen Blusen; in der Tiefe ihrer Falten schimmert die
samtige Tiefe von Danas Haut durch; sie tragen
Deinen Glanz, Dana, im Schein von Alabaster und
Teelichtern zwischen den Gästen hindurch, sie tragen
Deinen Duft unter die Gäste, und wenn sie wieder die
Stufen des Bistros herunterkommen, treten sie in den
weinroten Glanz des Deckenträgers ein, in Janas
Glanz; über sie ziehen im Wechsel lilarote und
olivgelbe Schatten des Mobilie, das sich sanft über ihre
Köpfe senkt und sich wieder in die Höhe der Galerie
zieht; ich sitze in der Geborgenheit der Eurer Farben,
in den Schritten der wechselnden Frisuren suche ich
Eure Schritte, ich spüre Eure Schritte, ich atme Eure
Bewegungen. In der schweren, getriebenen Wärme
brobachte ich das Bringen und Holen der Tabletts,
höre ich das Ausklopfen der Kaffeesiebe; in die
schwere, getriebene Wärme schaue ich Euch, eilige,
emsige, kräftige Schritte umsorgen mich, drängen sich
durch die immer enger stehenden Gäste; in den eiligen
schweren Schritten finde ich Ruhe, aber ich es sind
nicht mehr Eure Schritte; sie umsorgen mich warm,
aber unter dieser Wärme fühle ich kühle, leere Ferne;
ich sitze im Ausklopfen der Siebe, im Kommen und
Gehen der weißen Barcardiblusen; dämmrig schwere
Wärme; eilige Ruhe umfließt mich…
„Lass das! Meld‘ mich bitte an!...“
„Lass das!... Meld‘ mich jetzt bitte an!“
Eine Serverin hebt bewehrend ihre Hände, aber sie
bewähren sich nicht.
„Nein!.. Meld‘ mich jetzt an!“
Ein zugestehendes Lächeln, in dessen Ton ihre
Wehrlosigkeit resigniert, eine Geste, die versucht,
durch Einbekennen ihrer Unterlegenheit den
Schichtleiter zu besänftigen, sein Begehren zu
beschwichtigen, ein Lächeln, das hofft, seine
Zudringlichkeit abwehren zu können, was er aber als
Zustimmung aufasst, auffassen will, als ob sie sich
bloß ziere; immer fester greift der Schichtleiter in ihre
Schultern, drückt seine Hände fordernd in sie,
erzwingt die Nähe ihres Atems, drückt sie rückwärts in
die Wandregale, je näher er ihrem Gesicht kommt, um
so enger muss sie ausweichen, bis sie sich losreißen
kann, einmal! Aber fatalerweise weicht sie nach hinten
aus und läuft in das geschlossene Ende der Theke, wo
er sie einholt und…
„Lass das bitte!..Ich will das nicht!“
… sie so lange zwingt, bis sie ihm gegen ihren Willen
einen kräftigen Kuss auf den Mund gibt: sie küsst sich
frei! Dann lässt er sie entkommen, wieder zum
Anmelde-Terminal, aber er dreht sich zum Italiener
und gestikuliert zufrieden erregt, sie lachen beide laut
und sprechen sich gegenseitig zu; sie verspotten sie, in
der fremden Sprache, aber sie spürt es trotzdem, sie
tun sich gegenseitig genug: sie fühlt, das man über sie
lacht, sie fühlt sich bloßgestellt; sie presst ihre Arme
fest nach innen an ihren Körper: sie geben ihr den
Halt, den ihr Empfinden in diesem Moment verloren
hat, den ihr ihr Urvertrauen nicht mehr geben kann;
sie halten ihre Versehrtheit zusammen, ihre
Unterlegenheit, die ihre Lippen nicht mehr
zusammenpressen können; ihre Lippen haben ihre
Willenskraft verloren, Lippen, die ihren Willen nicht
mehr selbst bestimmen können; sie ertasten zaghaft
den Ekel, der noch immer auf ihnen liegt. Sie sucht
noch einmal die Ausflucht in einem Lächeln, mit dem
sie ihren Mut, ihre liebenswürdige Unbezwingbarkeit
zurückholen will, mit dem sie sich selbst ihrer
Unerschrockenheit versichern und zugleich den
Schichtleiter dazu bringen will, auf ihr Anliegen
einzugehen, Blicke, in denen sie versucht, ihre
übergangen Gefühle zu vergessen, Blicke, in denen ihr
noch immer ihre Überwältigung vor Augen steht, in
denen ich die Bilder der zurückliegenden Situation
sehen kann; Blicke, die dem Schichtleiter nicht mehr
begegnen wollen und sich doch an ihn richten, richten
müssen, Blicke, die aus ihrer Verbundenheit zur Natur
in diesem Augenblick nicht mehr zurück zur Situation
finden und doch weiter an sie, an ihr eigenes
Vertrauen glauben möchten; immer tiefer zieht sie
ihren Kopf in ihre Schultern und drückt zugleich ihren
Kopf kraftlos-energisch nach vorne.
„Meld‘ mich jetzt bitte an!...“
Aber ihr Kopf bleibt gefangen in ihrem Ekel, in ihrer
Wehrlosigkeit, gefangen in der Erregung ihres
Körpers, die die hochgezogenen Schultern nicht
verdecken können.
„Meld‘ mich jetzt bitte an!...“, aber er lässt sich noch
lange bitten, zu sehr ergeht er sich darin, ihren Kuss
erzwungen zu haben: er erstrahlt in ihrem Kuss: ihr
Ekel, ihr Unbehagen ersticken in seinem
selbstzufriedenen Grinsen: er hat es genossen, und er
genießt es noch immer: so lange muss sie noch
warten…
Aber ich kann nicht einschreiten, es hat sich ja hinter
der Theke zugetragen, und ich weiß nicht, ob ich mein
Jedermannsrecht über das Hausrecht stellen kann.
Dann umfließt mich wieder eilige Ruhe. Ich sehe Dana
vor mir, und ich denke mir: Dir wäre das nicht
passiert: entschlossen und beherzt hättest Du Dich
seinen Griffen entwunden und hättest Deinen Kopf
über seine auffordernden Worte hinweggehoben,
ruhig, aber entschieden und dabei doch von
besänftigender Eleganz: stolz hättest Du Dich über
Deine Größe hinausgestreckt und Dich seinen
Zudringlichkeiten entgegengestellt. Ich sehe Dich vor
mir, hinter der Theke stehen. Ich bin stolz auf Dich.
Ich bin stolz auf mich, auf meine Gewissheit, die ich
mir über Dich bewahrt habe, und diese Gewissheit
bringt Dich mir aus der großen Stadt wieder zurück, in
der Gewissheit kann ich die Zeit vorausleben, die
noch vor mir liegt, bis Du wieder da sein wirst: die
Gewissheit über Deine Souveränität wird zur
Gewissheit über mein Glück – für einen Moment:
mein Glück atmet in eiliger Ruhe, in der schweren,
getriebenen Wärme atme ich mein kleines Glück: Du
drehst Dich wieder um, greifst ein volles Tablett und
trägst es raus – es ist eine andere Serverin, der
olivgelbe Glanz auf ihr löst sich auf. „Hast du Tisch
45?“-„Tisch 3 will zahlen“-„Kannst du übernehmen?“„Ich bekomme noch ein Bier“ – „Da muss nochmal
draufgezapft werden“-„Hast du …?“-„Aufzug!...“
Eilige Ruhe umfließt mich…
ZWEITER TEIL
Im graublauen Annorak von der Kälte gedrückt
kommen mir Deine Blicke unter dem Rathaus
entgegen; in der warmen Geborgenheit Deines
Anoraks glühen Deine Wangen in die kühle
Oktobernacht, gewärmt von Deinem blaugrünen
Tuchschal; unter der kühlen Oktobernacht atmet
Deine Haut warm umschützt: aus der unbeachteten
Leere des Platzes bewegt sich Dein Anorak auf mich
zu: ich laufe in frische Orangen, aus der Tiefe des
Platzes steigt olivgelber, feuchtwarmer Glanz auf: eine
warme Erregung, langsam steigen gerade erst
überwundene Gefühle aus der Unendlichkeit des
Wartens, aus der Tiefe des Entbehrens wieder auf:
Gefühle, von denen ich mich schon getrennt hatte.
Langsam löst sich aus der Verklärung Deine
Gegenwart; sofort bedrückt mich die Vergänglichkeit
des Augenblicks, die Vergänglichkeit, die das
überwundene, in den vergangenen Wochen
zurückgelassene Begehren, die das stille, wartende
Glück, das sich nicht bewähren muss, nicht kannten.
Meine Gefühle gehören Deiner Ferne: Deine Nähe
wirkt befremdend… Deine Nähe wirkt beruhigend…
wieder vertrauter… Deine Nähe setzt sich gegen
meine seitigen Gefühle durch… Plötzlich kommen
Deine Blicke auf mich zu. Dana. Dein Anorak löst
sich aus der Ferne zurückliegender Tage: der Platz
hatte Deine Nähe an die windig-kühle Leere der
zurückliegenden drei Wochen verloren: jetzt füllst Du
die frische Oktoberluft wieder mit Deiner Wärme: auf
Deinem Anorak liegt der glücklich-zufriedene
Schatten Deiner Tage in der großen Stadt, unter
dessen Last Deine Füße doch unentschlossen schwer
tragen: schwerer als sonst. Deine Augen leuchten
erfüllt von stillem Glück, aber tief in ihnen spüre ich
die Unzufriedenheit, die es Dir bereitet, sie wieder
verlassen zu müssen. In den Falten Deines Anoraks
nagen Kummer, Lustlosigkeit, Resignation. Ich
spreche in den Stolz, der auf Deiner Unterlippe liegt,
aber es ist ein lustloser, unentschlossener Stolz, ein
verblichener Stolz: verdrossen-verlegene Rührung. Du
bist zwar zurückgekommen, aber in Deinen Blicken
liegt schon der Abschied, in Deinen Schritten regt sich
schon der Gedanke, die kleine Stadt so bald wie
möglich wieder zu verlassen.
„Hat sich Jana gut eingelebt?... Geht es ihr gut?“
Ich spreche in die Gewissheit Deines Lächelns…
„Und dir? Hat dein Studium gut begonnen?...“
Ich blicke in Deine Blicke, ich suche die Erwiderung
meiner Gefühle für Dich in dem Behagen, das auf
Deiner Unterlippe atmet.
„Ich treff mich jetzt noch mit ein paar Freunden.
Muss auch mal sein… Wir sehen uns dann morgen!..“
Du gehst an mir vorüber. Ich gehe durch Deine
Wärme.
Eine Serverin stellt den Kaffee vor mir auf einen der
kleinen runden Tische, ganz hinten im Bistro, in der
Ecke, an den Sprossenfenstern, die auf den Hof
hinausgehen.
„War Dana schon da?“
„Sie hat vorhin kurz an der Bar gesessen. Ich weiß
nicht…“
Enttäuschung wärmt mich, ich fühle unbewegt warme
Luft; das wenige Licht, das der Rauch noch durchlässt,
wirkt zu hell und zu dunkel zugleich: ich spüre ein
unüberwindbares Drängen, die Zeit zu überwinden,
ich fühle mich in den nächsten Abend; mit jedem Zug
meiner Brasil genieße ich die schützende Distanz der
Zeit und versuche darunter, der Zeit, die mich vom
nächsten Abend trennt, zu entkommen: ich versuche
mich aus der Zeit zu lösen und in der Zeit die
vorgefühlte zu erleben: ich fühle mich in den nächsten
Abend: unter der warmen Ruhe, versunken im Rauch,
der das dämmrige Alabaster durchstreift, empfühle ich
eine ängstliche Unruhe: getrieben von dem Verlangen
nach Deiner Nähe, bedrückt von der Angst, Dich
wieder nicht anzutreffen: unter der warmen Tiefe,
unter
dem
beruhigenden
Spärlicht
der
Alabasterleuchten, das der Rauch durchzieht, wirkt der
Raum zu hell und zu dunkel: dem leeren Licht fehlt
Deine Wärme und dem braunen Rauch fehlt der
olivgelbe Glanz: das entfärbte Licht wirkt im einen
Moment bedrängend, in dem entsättigten Licht fühle
ich Deinen Verlust voraus: für einen Augenblick
drängt sich die Einsicht, die noch keine ist, ins
Bewusstsein, dass ich so noch oft dasitzen und auf
Dich warten werde. Das entfärbte Licht wirkt im einen
Moment befreiend, ich genieße die Zeit, die mir bis
zum nächsten Abend bleibt, die Zeit, in der ich nicht
unsicher bangend Dir begegnen muss, in der ich nicht
von unsicherem Hoffen befangen, vor Zurückweisung
angstvoll bangend jedem Deiner Worte und Deiner
Blicke entgegenfühle: aus solcher Befreiung heraus
gewinne ich neue Zuversicht und plane schon freudig
erregt den nächsten Abend. In einem Moment wirkt
das Licht tröstend-verklärend, in seiner Helligkeit liegt
die Aussicht auf den nächsten Abend, von dem mich
sehnend die Zeit trennt, die ich überwinden möchte,
die ich vorausplane, den nächsten Abend.
Ich sortiere die weißen Mohrenköpfe aus, unten an
der Bar habe ich mir eine etwas größere Untertasse
geben lassen, eine Cappuccino-Untertasse, auf der ich
sie Dir in die Waitress-Station im Bistro stelle. Ich
setze mich an einen der mittleren Tische, in dem
durch eine Stufe erhöhten Teil des Bistros, ganz
hinten, auf der weinroten Lederbank. Im Widerschein
der ockergelben Wände rauche ich mein beklommenes
Bangen, rauche ich die noch nicht zurückgewiesene
Hoffnung in den Raum; brauner Rauch, der Duft
meiner Brasil zieht unter den Abzug, mischt sich
braun unter die Verkleidung, hinter dem in seinem
Widerschein der ockerfarbene Rauhputz schamottrot,
weinrot aufleuchtet, scharf geschnitten von der
feuchtkühlen Nacht, die an den Sprossenfenstern
ansteht. In der Tiefe des Oktoberdunklen Hofes
leuchten die Bodenstrahler das Weinlaub an, helles
grün in dunklem, kühlen Oktober, aber es lauscht nur
noch der Nacht, Tische und Stühle sind gestapelt,
auch die von der Terrasse: hinter den
Sprossenscheiben liegen in der dunkelkalten Nacht die
Augustnächste verborgen. Verstohlen beobachte ich,
ob Du die Mohrenköpfe entdeckt hast, angstvoll
fürchte ich Deine Gleichgültigkeit: Du bonierst an der
Waitress-Station, Du musst sie gesehen haben, Du
gehst wieder zurück, aber Deine Blicke, die ich nur
spüren kann, von der Seite, die genüßlich über Deiner
Unterlippe liegen, bleiben im Raum stehen. Ich schaue
auf die Glastür, die nach innen ins Bistro geöffnet
steht, ich schauwarte auf die Tür, aber noch bevor Du
wieder die Stufen zum Bistro, schweren ruhigen
Schrittes hinaufeilst, noch bevor Du wieder in das
spärliche Licht eintrittst, das der Rauch zwischen den
dicht sitzenden Köpfen und Hemden und den
zwischen den Tischen stehenden, weilenden Mänteln
gerade noch durchlässt, sehe ich Dich schon wieder
um die Ecke biegen, Deine Blicke eilen Dir voraus, der
Glanz Deiner Blicke liegt auf dem Glas der Bistrotür,
sie durchdringen die Wärme des Raumes, der
ockergelbe Rauhputz, das spärliche Licht der
Wandlaternen, der Alabasterschein, der das Bistro
erfüllt, leuchten in der Tiefe des Raumes mit der Kraft
Deiner Augen auf; Deine Blicke stehen vor mir, und
als Du wieder um die Ecke biegst, mit eilig
routinierten Schritten die Stufen zu Bistro nimmst,
führen sie mich von den Blicken, die vor meinem
Tisch auf der Nacht hinter den Sprossenfesntern
ruhen, weg, ziehen sie mich in sich hinein, Blicke, die
mit der bedeutungsschweren Tiefe, die in ihnen ruht,
auf mich zu schreiten, bis sie schließlich hinter den
Blicken, die noch immer auf der kühlen Oktobernacht
ruhend schimmern, stehen bleiben: die Blicke, die
eben noch auf den Sprossenfenstern lagen, dehnen
sich, reißen nach hinten auf, aus der Tiefe ihres
Grundes leuchten die Blicke, die Du mitgebracht hast,
auf Deiner Stirn liegt bedeutungsvoll der Schweiß
einer jungen Frau, die ihren Beruf erlernt hat.
„Wie geht es dir, Dana?“
„Ach ja…“
„Was macht Jana?“
„Der geht es gut, die genießt die große Stadt… da wär
ich jetzt auch gerne…“
Auf dem rotbraunen Lack meines Tischen sehnen sich
Deine Blicke nach der großen Stadt.
Ich sitze auf der Terrasse, sanft trägt der Wind den
Sommer zu Boden, durch die warmumwehten leeren
Äste neigt sich die Sonne des späten Oktobersonntags,
die Sonne glänzt schwarzsilbrig auf den Ästen, die
Äste glänzen schwarzsilbrig vor tiefem Blau: aus
meiner Vauen steigt dunkelblauer Stanwell in die nun
schon frühabendliche Dämmerung, ich fühle warm die
aufsteigende feuchte Kühle, ich ziehe die warme
Kühle durch meinen Stanwell: zwischen den immer
tiefer in der dunkelblauen Wärme versinkenden
braunschwarzen Ästen steigt mein Stanwell in die
langsame Dämmerung. Zwischen den Tischen,
unscharf in der Dämmerung, die Beine und
Tischbeine in sich aufsaugt, bewegen sich sicher
routiniert Deine Schritte, aber sie wiegen schwerer als
sonst auf den Pflastern
„Was macht dein Studium? Gefällst’s dir an der
HTW?“
„Ach ja, geht schon los, dass die Kurse
ausfallen…Kaffee wie immer?“
Später hole ich meinen Mantel und bleibe auf den
Stufen zum Bistro stehen: ich suche Deine Blicke, von
hinten: Du drehst Dich über Deine Schulter hinweg
zur Seite, Deine Blicke suchen irgendwo, an mir
vorbei, die Bedeutungslosigkeit. Ich steige langsam die
Stufen hinab und bleibe in Deinem Rücken wieder
stehen. Dann verabschiede ich mich noch mal bei den
anderen, auch in Dein Gesicht, dass unbestimmt an
mir vorbeischaut. Ich gehe zum Eingang, ich trete
hinaus und schaue auf die offene Glastür, die nach
außen gegen das furnierte Eichenholz angelehnt ist
(anders, als damals, wo Du an das Eichenholz
angelehnt mir gegenübergestanden hast und sie nach
in innen offen stand), lenke meine Blicke an ihr vorbei
nach innen und suche Deine Blicke, die durch sich
selbst hindurch zu mir schielen, bedeutungslos: Deine
Unterlippe birgt Deine Blicke im Schein der
Gleichgültigkeit. Ich frage Dich nichts.
Ich sortiere die weiße Mohrenköpfe aus und richte die
Alubrotschale für Dich her und trage sie zur
Restauranttheke. Ich suche Deine Blicke, ich spüre sie
hinter mir aus der Küche um die Galerie biegen. Ich
verschüchtere in Deinem Lächeln. Ich frage Dich mit
meinen Blicken, ich frage in Deine verlegene
Liebenswürdigkeit.
„Ich hab deine Mail erst heute nachtmittag an der
HTW gelesen… Ist auch nicht so meins“
Ich lege Dir die Raffaellos auf die Waitress-Staion.
Weil ich Lebkuchen mitgebracht habe und keine weiße
Schokolade dabei ist, habe ich für Dich die Raffaellos
dazugenommen. Ich warte auf dem Plüschhocker: das
Sofa ist schon besetzt, aber ich darf mich zu der
Gruppe dazusetzen und ziehe meine Sumatra aus dem
warmen Rauch ein; beklommen in der Angst, keine
genügende Erwiderung meiner Gefühle in Deiner
Reaktionen finden zu können: aus angestrengt
verbissenen Blicken, die starr auf Deiner Unterlippe
liegen, entfährt Dir nur ein kurzes Lächeln: „Danke!“
Es klingt fern, erstickt beinahe unter dem Wirren der
Stimmen, dem Dunst von Rauch, Schweiß und
Parfüms. Teilnahmslos, lustlos schiebst Du Deine
Unterlippe über das Tablett vor, das den Weg, den es
sich durch die Gäste bahnt, nicht mehr klar vor sich
sieht.
Ich sitze auf der weinroten Lederbank im hinteren Teil
des Bistro und ziehe meinen Stanwell aus dem warmen
Dunst ein, hauche meinen Stanwell in den spärlichen,
verrauchten Alabasterschummer. Beklommen verlange
ich nach jedem Vorübergehen. Ängstlich-erregt schaue
ich nach vorne in die sich öffnende Weite des Bistros,
schaue ich auf die Glastür und versuche, die Zeit
zwischen Deinen Gängen zu überwinden. Die Zeit, bis
wir wieder mit einander reden können: wie unendlich
bedrückt mich die Zeit, die zwischen den wenigen
Gelegenheiten liegt, in den wir überhaupt miteinander
reden können. Ich versuche die Zeit zu überwinden,
ich versuche die Zeit einzuholen, die vor mir liegt, und
da die wenigen Momente, in denen ich mit Dir reden
kann, soweit auseinanderliegen, rücke ich sie in meiner
Vorstellungskraft zusammen, ich rücke sie über die
unendlichen Momente, in denen ich auf die wenigen
Augenblicke warten muss, hinweg, über die Zeit, die
sie trennt, zusammen. Ich sitze in der Zeit und
versuche, sie nicht erleben zu müssen. Und da die
Situationen, in denen wir miteinander reden können,
so wenige sind, werte ich auch die Augenblicke für
meine Gefühle auf, in denen Du nur an mir
vorübergehst, und rücke sie zusammen, damit ich in
der Unendlichkeit der Zeit nur diese Augenblicke
erlebe: in den Augenblicken erlebe ich die Stunden,
nur durch die Augenblicke ertrage ich die Zeit. Die
Augenblicke stehen vor mir, sie bewegen sich auf der
Nacht vor den Sprossenfenstern, ich lebe in den
Augenblicken, ich ertrage die Unendlichkeit der Zeit in
Deinen Augenblicken, in den Blicken, die Deine
Augen mir zurücklassen, bei jedem Vorübergehen;
jede Bestellung, die Du aufnimmst, nehme ich in mich
auf, ich lebe in jedem Deiner Worte, die Du in das
Bistro sprichst, und auch, wenn Du schon wieder
rausgehst, um die neue Getränke zu holen, höre ich
Deine Stimme unter den Stimmen der Gäste; ich lebe
in Deinen Worten, auch da, wo ich nur noch den Ton
Deiner Stimme schwach aus der Weinseligkeit der
Gäste, dem Kommen und Gehen, den Grüßen und
Verabschiedungen heraushören kann, ich höre sie in
mir, ich spreche mit Deinen Worten, ich fange an, in
Deinen Worten zu reden, zu Dir, mit Dir, und jedes
Mal, wenn Du wieder durch die Glastür
hereinkommst, fühle ich mich durch die
Unmittelbarkeit
bedrängt,
fühle
ich
die
Unabwendbarkeit des erhofften Augenblick fordernd
vor mir stehen, wenn Du schließlich vor mir stehst,
während ich im Innern noch immer Deine Worte
wechsle, während ich noch immer versuche, in Deinen
Worten diejenigen zu finden, an die ich anknüpfen
könnte, auf die ich meine eigenen beziehen könnte;
dieselben Worte, die ich schon so oft begonnen habe
und die der Augenblick dann doch wieder verhindert
hat, während ich noch immer aus Deinen Worten die
heraussuche, die ich erwarte, während ich in Deinen
Worten antworte, während ich mir Deine Antworten
gebe. Je näher Du mit jedem Tisch, den Du bedienst,
kommst, spüre ich die unausweichliche Gegenwart des
Augenblicks, in dem ich die kaum verbleibende Zeit
nutzen müsste: statt der Worte, die ich wieder nicht
aussprechen würde, lege ich mir die bereits
gesprochenen immer wieder neu zurecht. Immer
wieder hoffe ich, durch die Fragen, die ich bereits
gestellt habe, den Weg zu Deiner Geneigtheit zu
finden, aber bis ich dann so weit sein würde, wäre der
Augenblick auch schon wieder vorbei. Du stehst vor
mir:
„Wie geht es Jana?“ Noch während ich versuche, die
Gefühle, die ich mir von Dir erhoffe, meinen Zweifeln
zu entheben, brechen meine Zweifel um so
unleugbarer durch mein Hoffen durch.
„Wie geht es Jana?“ Ich bemühe mich, mir hinter dem
offensichtlichen Interesse an Jana das Interesse an Dir
nicht anmerken zu lassen, und weiß doch, dass Du es
längst weißt: ich fühle Dein Bewusstsein, ich fühle,
dass Du Dich meinen Gefühlen entziehen wirst, ich
fühle Deine Nähe, ich versuche Dich mit meinen
Worten zwischen zwei Bestellungen aufzuhalten..
„Hast du von Jana noch mal was gehört?“
„Ja klar…“
„Und was macht sie so?“
„Ach, der geht’s gut!...“
Ich fühle Deine Nähe entschwinden, Deine Ungeduld,
wenn Du Dich mit mir unterhältst.
„Du, wenn der Tisch gebraucht wird, stehe ich auch
auf… ich will ja nur meine Sumatra rauchen…“
„Du bleibst bitte sitzen!“
Hinter dem ausgewiesenen Ton des guten Service liegt
für einen Moment eine Vertrautheit, eine Stimme, die
mich etwas spüren lassen will (Oder habe nur ich das
so empfunden?), die meine Zuneigung nicht nur durch
die Worte des guten Tons erwidert, eine Stimme, die
sich selbst berührt fühlt.
Ich sitze an der kurzen Seite der Bar. Bald wirst Du
nicht mehr da sein, weg in die große Stadt ziehen, ich
spüre Deine Ferne in jedem Kommen und Gehen, in
jedem Blick, den Du mir wieder nicht gönnst, Dein
Missmut lässt Deine Schritte schwerer werden: es ist
nicht
mehr
die
Bedeutungsschwere
der
spätsommerlicher Tage, als Du noch im Innenhof
bedient hast. Deine Schritte tragen zunehmend
schwerer unter der Lasst Deiner Lustlosigkeit, Deiner
Verbitterung, Deiner Resignation, wehmütiger
Ungeduld; mit jedem Deiner Schritte legst Du nicht
nur die unzähligen Bestellungen zurück, sondern eilst
immer verbissener der großen Stadt entgegen: in der
tiefen Leere Deiner Blicke starrt einzig der Blick in die
Ferne aus ihnen heraus. Immer schwerer fällt der Ton
des ausgewiesenen Service: Deine Blicke eilen Dir
nicht mehr voraus, sondern liegen starr auf dem
Tablett. Ich sehe Dich die Stufen zum Bistro
hinaufgehen, bei jedem Gang, jedes Mal, wenn Du
durch die Glastür nach hinten ins Bistro aus meinen
Blicken verschwindest, spüre ich, dass Deine Zeit in
dem Lokal zu Ende geht. Deine Blicke, sie dringen
kraftlos leer durch mich hindurch. Deine Blicke
weichen mir durch mich hindurch aus. Im goldgelben
Licht, das die Torblenden der kleinen Scheinwerfer
streuen, werden sie durchbrochen, sie brechen den
gelblich braunen Dunst des Raume nicht mehr auf,
durch die Tiefe des Raumes bahnen sie sich ihren Weg
in die große Stadt, in Deinen Augen spiegeln sich die
Gäste, aber sie spiegeln sich in der großen Stadt, die
tief in Deinem Innern Deine ganze Kraft bannt. Im
goldgelben, safrangelben Licht werden die Grenzen
Deines Gesichtes unscharf, das Licht legt sich auf
Deine Haut, sättigt sie, über Deine Wangen und Deine
Stirn fließen Halbschatten, eilig wechselnd mit Deinen
Schritten, Deine Haut saugt das Gelb in sich auf,
unscharf, goldgelb, gelb. Ich sehe Dich auf und ab
gehen, bald wirst Du nicht mehr da sein, wieder
zurück in die große Stadt gehen, ich sehe Dich auf und
ab gehen, auf und ab gehen, schaue Dir nach, Dana,
sehe Dich eintauchen in das goldgelbe Licht,
goooldgelbe, -gelbe Licht, goldgelbe – Deine Blicke
kommen auf mich zu, meine Blicke verlieren Dich –
bald wirst Du - ich sehe Dich auf und ab gehen –
nicht mehr da sein –nicht mehr – nicht mehr – in der
großen Stadt – ich schau Dir nach, wie Du die Stufen
zum Bistro – eingetaucht in das goldgelbe - ocker –
braun – erdbraun - Kaffee – dunkel – sehe Dich
eintauchen das goldgelbschwarze – ich höre Stimmen
– mein Blick wird immer enger, dunkle Schatten
drängen den Raum zusammen, die Wände entfernen
sich, treten auseinander, Deine Blicke werden in der
Entfernung nicht mehr greifbar, die Räume brechen
auf; obwohl Du die Stufen runterkommst, trittst Du
auf der Stelle, zwischen uns schiebt sich die
Unendlichkeit der Räume, die keine mehr sind, weil
Wände auseinandertreten, Deine Blicke stehen
zwischen uns, Deine Augen treten hinter Deine Blicke
zurück, die Tiefe Deines Gesichtes wird unendlich, ich
schaue durch Deine Augen hindurch, Deine Blicke
lösen sich auf, ich sehe Dich die Stufen
herunterkommen, ich sehe Dich die Stufen
herunterkommen – die Stufen herunterkommen –
sehe Dich – die Stufen – sehe Dich herunter – die
Stufen herunter – die Stufen – sehe Dich herunter –
runter – jemand ruft „Aufzug!“ – Dana! Deine Haut
taucht ein in das spärlich, schummrige Schimmern der
Wandlaternen, dessen Licht der Rauch gerade noch
durchlässt, sie sättigt sich, schwaches Alabasterlicht
und das von den schwarzen Torblenden reflektierte
Licht geben Deiner Haut Tiefe, eine satte samtige
Fülle, je tiefer Dich Deine Schritte in das Bistro
hineintragen; über Deine Wangen und Deine Stirn
fließen Halbschatten, eilig wechselnd mit Deinen
Schritten, Deine Haut saugt das Gelb in sich auf,
unscharf, goldgelb, gelb, aber aus dieser gesättigten
Unschärfe treten Deine Züge um so kräftiger hervor;
Deine Augenbrauen kontrastieren nicht nur den Glanz
Deiner Haut, sie kontrastieren den ganzen Raum, die
gelbbraun gehaltenen Wände, die vom Goldgelb
verblendeten Bilder, sie kontrastieren selbst die Gäste,
und aus der Tiefe der Sättigung strahlen Deine Augen,
Deine Blicke durchstreifen die Räume, das Bistro, das
Parterre, aber auch, wenn Du einen Tisch verlässt,
auch dort Du, wo schon nicht mehr bist, stehen sie
weiter im Raum, Deine Blicke, wie in den Raum
geheftet, sie stehen, selbst wenn Du Dich umdrehst,
noch vor mir, stehen hinter Dir – Du gehörst zu den
Menschen, die auch hinten Augen haben.
Ich sitze am einem der kleinen runden Tische, ganz
hinten im Bistro: Dana, noch bist Du da. Ich sitze in
der Wärme des Rauchs, in der Wärme der Gäste,
beklommene Wärme, wohlige Wärme umfließt mich,
Deine Wärme bewegt sich auf mich zu, ich atme
Deine Wärme durch den Rauch, durch das spärlich
gelbe schummrige Dunkel, Deine Blicke erfüllen den
Raum, sie leuchten das Bistro olivgelb auf, aber die
Schatten auf Deinen Wangen werden dunkler, das
olivgelbe verfließt ins Schwarze, dunstig Schwarze, auf
Deiner Haut verflüchtig sich der Widerschein des
ockerfarbenen Anstrichs, das schwarze Licht, das die
Torblenden der kleinen Deckenlampen auf Dich
werfen, der Halbschatten des dunkelbraunen
Luftabzugskanals ziehen alles olivgelb in sich auf,
braun, schwarz in sich auf, Deine Wangen versiegen
dunkelbraun, stumpfen ab; obwohl Du kaum zum
Stehen kommst, bleiben meine Blicke auf Dir ruhen:
auf Deinem Gesicht, das sich von Dir ablöst. Aber aus
der samtigen Fülle Deiner Haut saugt sich alles Licht
aus, die Poren geben es aus ihrer Tiefe dumpf an das
Bistro zurück: die geschmeidige Tiefe Deiner Haut
verliert ihren Glanz, ihre Fülle. Dein Gesicht steht
unscharf dunkel, mattglänzend vor mir Raum. Selbst
auf das Gesicht des Mönchs, der noch immer mit
beiden Armen umschlossen die erste Flasche Fernet
Branca fest an sich drückt, legt sich an diesem Abend
ein braunschwarzer Schatten, aus seinen Augen
schauen nicht mehr Deine Blicke: er schaut mit seinen
eigenen Augen in den Raum. Auf seinen Wangen liegt
das kleine, bescheidene Glück und der leise Stolz über
den Erfolg, den seine Kräuterrezeptur hat: aber dieses
Glück, seinen eigenen Magenbitter in den Händen zu
halten, steht unverbunden im Raum: es trifft sich nicht
mehr mit Deinem Stolz. Auf seinen Wangen drücken
dunkle Schatten: sie bleiben unscharf. Deine Züge
tragen die resignierte, lustlose Schwere Deiner Blicke,
die unbeweglich auf Dein Tablett starren. Sein Glück
bleibt ohne Teilnahme: es nicht mehr Dein Glück. Auf
Deiner Stirn liegt der Schweiß des Überdruß. Unter
dem leicht wippenden seitlichen Rausdrehen Deines
Oberkörpers kämpfen Missmut, Resignation und
Enttäuschung gegen die Schicht an. Der rötlichbraune
Lack der hinteren Tische, nach der Stufe, hat noch
immer das Olivgelbe in sich aufgenommen und wirft
seinen rötlichbraunen Glanz auf Deine Stirn und
Deine Wangen; aber es versiegt in den dunklen
Schatten, die das spärliche Licht durch den Rauch auf
sie wirft. Jeder Deiner Schritte kämpft teilnahmslos,
verbittert gegen die Schicht an.
Ich sortiere die weißen Mohrenköpfe aus, ich sehe
mich am Brotschneidetisch stehen und die weißen
Mohrenköpfe auf eine Untertasse stellen, ich trage sie
in Dein Lächeln, ich stelle sie vor Dir auf der kleinen
Theke im Restaurant ab… ich betrete das Lokal,
schon vom Marktplatz aus habe ich Dich durch die
Bodenfenster gesucht, ich betrete das Lokal, ich
betrete das Lokal durch meine angestaute Freude, ich
atme meine Verunsicherung, meine Enttäuschung, ich
atme die Vergeblichkeit, mir der ich die ganze Woche
auf Freitag gewartet habe, ungläubige Enttäuschung,
ich fühle mich um mein Verlangen, die Tage
überspringen zu können, betrogen, ich atme
bedrängend schwere Ahnung.
„Wo ist Dana?“
„Dana arbeitet dieses Wochenende nicht!“
Enttäuscht sortiere ich die weißen Mohrenköpfe in die
großen Aluschalen für die anderen Server mit ein.
Aber es ist eine von Stolz gerettete Enttäuschung: ich
sitze im Bistro, ich fühle mich in Deine Nähe hinein,
ich empfinde Dein Erscheinen, ich glaube daran, dass
Du wiederkommen wirst – ich versinke in der Leere
der Wärme, sie gibt mir keinen Halt mehr, ich stütze
mich kraftlos mit beiden Handflächen an der
weinroten Lederbank ab. Meine Haut brennt, in mein
Hirn bohren sich Löcher. Ich rauche meine Sumatra in
den spärlichen Alabasterschein, der rötliche
Widerschein des braunen Abzugskanals grenzt scharf
an die Novemberdunkle Nacht hinter den
Sprossenfenstern. In der von den Bodenscheinwerfern
an den Rändern des Weinlaubs grüngelb erleuchteten
Nacht leuchten die Köpfe der Gäste, über ihnen liegt
die Bierseligkeit eines späten Sommerabends, liegen
die aus der Erschöpfung des zurückliegenden Tages in
Heiterkeit aufsteigenden Stimmen, die sich über den
Köpfen der um die Tische sitzenden und
zusammengerückten Gäste vermischen: zwischen
ihnen das bescheidene Selbstvertrauen einer jungen
Frau, getragen von der bedeutungsvollen Schwere
ihrer Schritte auf den Bodenziegeln, eingefasst von
den kleinen, grauen Pflastern: die Gesichter der Gäste
erhellen im warmen Glanz Deiner Stirn, auf der der
Schweiß Deines Selbstvertrauens liegt; im Widerschein
der olivgelben Tiefe Deiner Haut glänzen auch die
Gesichter der Gäste auf – in der Novemberdunklen
Nacht – der Hof ist leer, niemand sitzt mehr dort,
Stühle und Tische sind aufgestapelt. Ich sitze in der
hoffnungsleeren Wärme, ich sitze in Deiner Wärme,
die mein Stolz in den Räumen festgehalten hat, aber
Du füllst diese Wärme nicht mehr. Ich ahne, dass Du
nicht mehr wiederkommen wirst – ich möchte nicht
ahnen, dass Du nicht mehr wiederkommst, ich fühle,
dass Du nicht mehr wiederkommst, ich fühle Deine
Ferne, ich fühle, dass Du die Stadt verlassen wirst –
vielleicht hast Du sie auch schon verlassen – ich
möchte meine Ahnung nicht fühlen, ich fühle Deine
Nähe, darunter Deine Ferne, ich überfühle meine
Gefühle, ich versuche meine Enttäuschung
anzuheben, sie liegt über dem spärlich schummrigen
verrauchten Raum, sie verdunkelt den Raum, ich
versuche, meine Enttäuschung über den Raum
hinauszuheben, ich versuche, Deine Gegenwart zu
fühlen, ich fühle Dich in den Raum: ich schaue in
Deine Blicke, sie stehen vor mir, herausgerissen, sie
bedrängen mich, in Deinen Blicken leuchtet noch
immer Dein Selbstvertrauen, auf Deiner Stirn liegt
noch immer der Schweiß einer routinierten jungen
Frau. In der Maserung der rotbraun lackierten
Tischplatte sehe ich Deine Augenbrauen, ich sehe sie
in den braunen Eckleisten der Wände. Eine Serverin
kommt, eine andere Serverin kommt, ich versuche
Dein Gesicht in ihren zu finden. Ich fühle mich ins
nächste Wochenende, immer in der Hoffnung, dass
Du doch noch zurückkommst, immer in der bangen
beklommenen Ahnung, dass ich die Tage dazwischen
wieder umsonst versucht habe zu überwinden, die
Tage wieder vergeblich versäumt habe…
Ich sitze im Bistro, an einem der vorderen Tische, mit
meiner großen Holzschachtel Sumatra, der Tisch, auch
die Kaffeetasse überdeckt von den Seiten der
Frankfurter Allgemeinen. Nach sechs Uhr wird das
Licht stark gedimmt, unter den ockerschwarzen
Schatten löst sich die Druckerschwärze in den Poren
beinahe auf, die Buchstaben verschwimmen:
„Jean-Antoine Houdon, so lehrt die Kunstgeschichte,
war ein Bildhauer des ausgehenden achtzehnten
Jahrhunderts,
der
mit
den
künstlerischen
Konventionen seiner Zeit brach. Nicht mehr der
bildungsbefrachtete Vorrat an antiken Mythen, die
starren Kunstregeln der Akademien und die
versteinerten Verhaltenscodices des Adels waren seine
Vorbilder, sondern das unverstellte Leben, Menschen,
ihre Charaktere, ihr Verhalten, ihre Schicksale…das
unverstellte Leben…Menschen, ihre Charaktere, ihr
Verhalten…ein
Rebell
also…Menschen,
ihre
Charaktere, ihr Verhalten…“
vielleicht bist Du ja auch schon in der großen Stadt, Du wolltest
doch zu Jana fahren, um mit ihr zusammen über den
Weihnachtsmarkt gehen…
„… für Gabriel Lightfoot wird sich der Traum vom
eigenen Restaurant in London nicht erfüllen. Das
deutet die geistige Mutter, die britische Schriftstellerin
Monica Ali gleich zu Beginn an…im Nachhinein
meinte er, dass das…der Zeitpunkt war…so beginnt
ihr neuer Roman…“
Dana…ich möchte doch nur wissen, wie es Dir geht…
Ich vertiefe mich in die Artikel, aber je stärker ich
mich konzentriere, um so häufiger bleibe ich in
meinen eigenen Gedanken stecken: die mitlesenden
Gedanken verlieren sich in den Gedanken, die mir
unter den Gedanken kommen, ich verliere mich aus
dem Gelesenen, je mehr sich meine Blicke in die
Zellulose vertiefen, um so mehr verlieren sie sich in
ihrer Tiefe. Ich denke meine eigenen Gedanken über
die Zeilen hinweg, die im Schatten meiner Blicke unter
meinem Kinn meiner Konzentration entgleiten. Ich
atme tief durch, schaue kurz auf und versuche die
Konzentration wiederzufinden: irgendwelche Worte,
beliebige, die keineswegs etwas mit Dir zu tun haben,
führen meine Gedanken von den Gelesenen weg zu
Dir. Aber dort verharren sie ungewiss über Dein
Verbleiben, ich nehme an Deiner Zukunft teil, die ich
nicht kenne, ich denke immerzu an die große Stadt,
empfinde Dich schon dort, je länger ich über die
Zeitung hinweg in die Gäste, ins Leere starre, um so
gegenwärtiger wird mir Deine Abwesenheit, Woche
um Woche werden die Tage unter der Woche, an
denen Du nicht arbeitest länger, unüberbrückbarer: ich
fühle Dich zunehmend ferner, fühle Dich schon in der
großen
Stadt.
Schon
zwei
Wochenenden
hintereinander hast Du Deine Schichten abgesagt: die
Ungewissheit wird immer mehr zur bedrückenden
Gewissheit, die ich mir aber nur als Vermutung
zugestehe, um mir die Ahnung nicht mit zunehmender
Offensichtlichkeit eingestehen zu müssen. Ich glaube
nicht mehr daran, dass Du wiederkommen wirst.
Abends, zu Hause, schreibe ich Dir folgende Zeilen:
Hallo Dana,
wie geht es Dir?
Da ich Dich nun schon zwei Wochenenden infolge nicht gesehen
habe, denke ich, dass Du vielleicht schon in der großen Stadt
bist. Du hattest mir ja gesagt, dass Du mit Jana zur Eröffnung
über den Weihnachtsmarkt gehen wolltest…
Ich betrete das Lokal, ich trete in die Wärme von
roten und gelben Kugeln, von weinroten und
olivgelben Kugeln, in das ruhige Ziehen der Flamme
einer von vier großen wachsroten Kerzen, es ist eine
Wärme, die von dem Herannahen der Weihnachtstage
gefüllt ist, eine ruhig ziehende, manchmal leicht
flackernde Geborgenheit. Ich hänge meinen Mantel
auf und gehe ins Restaurant rauf, um die Plätzchen
zum Advent auszupacken. Ich reiche die leere
Schachtel durch den Küchenpass und drehe mich
wieder zur Anrichte um. In mein Umdrehen schwenkt
die Küchentür auf: in mein befremdetes Erstaunen
treffen Deine Blicke, aber sie starren unzufrieden aus
ihrer eigenen ungewissen Leere: Du stehst vor mir,
aber in Deinen Blicken spüre ich Dein Fortgehen, in
Deiner Stimme spüre ich den Ton der völligen
Enttäuschung, den Ton der Endgültigkeit: mit
verfahrenen schweren Schritten schreitest Du das
Restaurant ab.
Inzwischen sitze ich wieder an der kurzen Seite der
Bar. Von Zeit zu Zeit kommst Du unten warme
Getränke abholen, und in den Augenblicken, in denen
Du allein, unbeobachtet hinter der Theke
zurückbleibst, ziehst Du Deine Schultern, deren
Bewegungen jede Hoffnung aufgebeben haben, nach
oben und drehst Deine Augen verächtlich nach hinten:
die Dämmerung drängt herein, liegt fahl auf Deiner
Stirn, Deine Bluse wird mit der bemühten Kraft der
Resignation angehoben, auf Deiner Unterlippe liegt
nur noch ein ferner Stolz, ein Stolz, der tief
empfundene Scham als Gleichgültigkeit und
Verachtung vorzuführen versucht: unwirklich, nur
noch sein Schein liegt auf ihr, aber unter dem Lächeln,
verborgen in ihrer Schürzung, schimmert die
schuldbewusste Scham durch: ein zaghaftes „ach!“.
„Kann ich dich nochmal kurz sprechen?“
Nach der Schicht, so gegen sechs, halb sieben, setzt
Du Dich in Deinem weißblauen Anorak zu mir:
„Warum wolltest Du mich denn nochmal sprechen?...“
Du bestellst ein Glas Rotwein.
„Ich werde dann jetzt erst mal ein paar Tage zu
meinen Freunden fahren..“
„Aber du wolltest doch zu Jana auf den
Weihnachtsmarkt?“
„Ach, den hab ich schon so oft gesehen.“
„Kommst du nächstes Wochenende wieder?“
„Nein, da bin noch weg. Und das Wochenende drauf
auch…“
„Und das Wochenende drauf?“
„Ja…“
„Also, dann bist du wieder da?“
„Ja…“
„Dann sehe ich dich also zum vierten Advent
wieder?“
„Ja, ja... Also dann…“
„Dann wünsche ich dir ein paar schöne Tage!“
„Ja, ja…“
Deine Blicke wenden sich von mir und dem Lokal ab.
Sie drehen sich zum Eingang weg und verlassen durch
den roten Samtvorhang das Lokal. Aber schon vorher
hast Du Deine Blicke meinen entzogen, Deine Blicke
verrieten mir, dass Du mir etwas versichert hast hast,
an das Du selbst nicht mehr geglaubt hast. Als ich Dir
eine schöne Zeit gewünscht habe, hast Du Dich für
etwas bedankt, von dem ich Dir ansah, dass Du genau
wusstest, dass es gar nicht mehr dazu kommen würde.
Ich schaue Dir nach: durch die Bodenfenster in die in
frühem Abend hellgelb, gold, silbern ausgeleuchteten
Weihnachtsmarktbuden. „Kann ich dich nochmal kurz
sprechen?“ Aber die anderen beobachten mich, und
wenn ich Dir raus, in den Schnee zur Maronenbude
folge, weiß ich nicht, ob Du mir nochmal zuhören
wirst, ob ich dann mehr erfahren werde: ich weiß gar
nicht, was ich Dich fragen soll. „Ich werde jetzt erst
mal ein paar Tage zu meinen Freunden fahren.“ Ich
sitze an der Bar, ich schaue an meinen Beinen herab:
ich spüre meine Beine Dir nachgehen. Ich drehe mich
zur Theke um. Glühwein steigt in den Duft frisch
gerösteter Kaffeebohnen auf. Die würzig frische Süße
der Orangen steigt in die Adventswärme auf. Meine
Füße bewegen sich unschlüssig auf dem Fußumlauf.
Ich sehe mich zur Tür rausgehen, durch den Schnee
auf Dich zu, auf die Maronenbude. „Kann ich dich
nochmal kurz sprechen?“ Aber mit jedem Mal, wo das
Verlangen wieder in mir aufsteigt, wird die noch
verbleibende Zeit weniger, jede Sekunde fühle ich als
begehrendes Drängen und verzagtes Innehalten.
Vorher, als Du noch neben mir saßt, haben wir kurz
über Jana gesprochen: „Jana geht es gut, sie hat mehr
als genug…“ Ich würde Dich so gerne nochmal nach
Jana fragen und auch nach Dir, wann Du
wiederkommst. Du musst unbedingt zu Weihnachten
wieder zurück sein. Mit jedem Satz, mit jedem Wort,
dass ich zu Dir spreche, bleibt für jedes meiner Worte
weniger Zeit. Die Zeit läuft meinen Worten davon.
Meine Beine bewegen sich, ich möchte Dir so gerne
nachgehen, an die Bude. Meine Beine entgleiten
meinem Willen. Sie bewegen sich, aber ohne dass ich
aufstehe. Ich drehe mich um: vor der Maronenbude
drängen sich die Leute über den Weihnachtsmarkt. Du
bist nicht mehr zu sehen.
Ich möchte Dir so gerne noch nachgehen. Ich weiß
nicht, wie lange Du schon weg bist. Ich drehe mich
wieder zur Theke um. Ich spüre, dass Du nicht mehr
wiederkommen wirst, aber freue mich noch immer
darauf, Dich in drei Wochen wiederzusehen. Ich
versuche daran zu glauben, aber ich spüre, wie mein
Atem, je unbedingter ich an Dich glauben möchte,
sich um so mehr verkrampft, kurzer, schwerer wird.
Von unten steigen Zweifel auf, von unten steigt die
Gewissheit auf, die ich mir aber noch nicht
eingestehen möchte. Ich drehe mich wieder zu den
Bodenfenstern
um.
Über
der
silbernen
Fensterthekenbank liegt der frühe, adventsdunkle
Abend,
das
Nachtblau
eines
späten
Sonntagnachmittag, der allmählich in den Abend
übergeht und in der Späte sein Ende finden wird. Ich
versuche, meinen Legado hinauszuzögern und sehne
mich zugleich nach dem überübernächsten Sonntag.
Ich versuche den Abend festzuhalten und in seiner
Geborgenheit die Zeit vorauszuerleben. Ich drehe
mich wieder zu den Bodenfenstern, zum Marktplatz
um: ich versuche, Dich festzuhalten und freue mich
im selben Moment, Dich wiederzusehen. Ich sehe
Dich, wie Du hinter dem roten Samtvorhang
verschwindest, wie Du vor der Maronenbude stehst,
wie Du wieder reinkommst: Ich sehe Dich mit dem
Tablett in der Hand die Stufen ins Bistro hinaufgehen,
ich sehe Dich Bestecke holen. Ich fühle Deine
Rückkehr herbei, ich fühle Dich in den Raum, ich
fühle Dich in den vierten Advent, ich fühle Dich unter
die Gäste. Ich schaue wieder auf die Bude: die
Menschen haben sich zurückgezogen in den späten
Abend, die Bude ist erloschen, sie ist verriegelt.
Ich sitze im kleinen Saal des Funkhauses. Im „Bistrot
Musique“ ist Cecilem zu Gast. Vor dem schwarzen
Samtvorhang glänzt der gelb-braun bis ins violette
auslaufende Holzlack der Geigen und Bratschen, auch
des Cellos, davor, an einem schwarzen Flügel sitzt die
Chansonniere: der Flügel ruht im Widerschein des
Geigenlacks, der schwarze Samtvorhang wird vom
Glanz des Holzlacks in warmes Violett eingetaucht. In
der Tiefe des Flügels leuchtet das hellblonde Haar, das
mit seinen Spitzen zart in den schwarzen Lack sticht.
„L’age des mes raisons“, die existenzialistisch
angehauchte Selbstfindung, deren Titel sie nicht
zufällig an den fast gleichlautenden Roman von Satre
angelehnt hat. Das Alter also, in dem man nach den
Gründen sucht, die zu sich selbst führen. Es sind die
Farben, das hellblonde, aber im violett-schwarzen
Holz fast dunkelblond schimmernde Haar, und dann
den ganzen Abend über der zwischen gelb-braun und
violett changierende Lack der Geigen, der Bratsche,
des Cellos. Er ruft in mir etwas wach, das mir vertraut
ist, aber mir erst später bewusst wurde. Es sind Deine
Farben, Dana. Irgendwo in dem unendlichen
Übergang von hellbraun zu violett birgt der Lack auch
Deinen Olivgelben Ton, auch den Deines lila
Wollrocks, und aus dem halblangen offenen Haar, das
die Schultern noch leicht bedeckt, leuchtet allmählich
scheinbarer Dein dunkelblondes Haar: Das Chanson
moduliert von Es-Dur nach F-Dur: genau die beiden
Farben, die die Tage vor Weihnachten füllen: das
tannengrüne Es mit der Neigung zu olivgrün und das
lilabraune F mit dem hellen a, das die Farbe Deiner
Stimme mit der Farbe des Wollrocks verbindet, jenes
Wollrocks, den Du damals, im August getragen hast,
als Du neben mir an der Bar saßt. Je mehr ich in die
Musik eintauche, um so unablässiger tauchen meine
Gedanken unter der Musik durch und verlieren sich in
meinem inneren Gehör: plötzlich höre ich bei jeder
Liedzeile Deinen Namen, ich fange an, nach eigenen
Melodien zu suchen. Plötzlich steht sie vor mir: die
Idee, etwas für Dich und über Dich zu schreiben. Nur
dass man bei Musik immer das Problem der
Aufführbarkeit vor Augen hat. Ich höre Deinen
Namen in mir singen.
Nach dem Konzert sitze ich spät abends nach elf noch
an der kurzen Seite der Bar, in meinem hellgrauen
Schurwolle-Sakko, auf schwarzem Baumwollhemd,
mit
der
schwarzen
Krawatte
mit
den
Regenbogenstreifen in der beheizten Wärme des
späten Dezembertages, des ersten des Monats. Ich
fange an, die Tage abzuzählen, bis Du wiederkommen
wirst. Ich denke mich zwei, drei Tage voraus, ich
denke mich eine Woche voraus, immer in dem tiefen
Sehnen, schon wieder zwei, drei Tage oder eine
Woche weiter zu sein. Und ich überlege mir, wie ich
wohl in einer oder zwei Wochen wieder hier sitzen
würde, und wie ich dann wohl die Erwartung Deiner
Rückkehr fühlen würde. Je näher der Tag kommen
würde, um so fremder wären mir meine Gefühle in
der Zwischenzeit geworden und um so befremdender
würde ich von meinen Gefühlen, die ich dann schon
bewältigt zu haben glaubte, wieder irritiert, berührt
werden. Wie entfernt und doch innigst wären mir
meine Gefühle, wenn Du wieder die Tabletts abholen
würdest, wenn die dunkelblonden Haare, zu einem
kessen
Pferdeschwänzchen
zusammengezogen,
weinrot und ockergelb unter dem Mobile
aufschimmern würden, im Wechsel mit den Wänden
und den Leuchten und Lampen. Weihnachten würdest
Du wieder da sein, und sicher würdest, müsstest Du
über die Feiertage auch arbeiten, weil Du ja auf Deine
Stunden kommen müsstest.
Ich sitze in den aufsteigenden Ölen der in Scheiben
geschnittenen Orangen, deren Duft sich unter den
aufdampfenden Glühwein legt, darüber, daneben der
Dampf frisch gerösteter Kaffeebohnen. Ich denke an
ein Buch, das etwas mit Dir zu tun hätte. Es müsste
doch ein Buch geben, das Deinen Namen trägt; als
Weihnachtsgeschenk.
Am anderen Tag finde ich es: eine Erzählung und ein
Roman, unabhängig von einander und im Abstand
von zehn Jahren geschrieben: über zwei junge Frauen,
die beiden Deinen Namen tragen. Am anderen Tag
leihe ich mir die beiden Erzählungen aus.
Ich sitze wieder an der kurzen Seite der Bar. Meine
Gedanken lösen sich zunehmend beschäftigter von
den Zeilen ab, die Zellulose scheint sich aufzulösen,
die Druckerschwärze verfließt, versiegt in den Poren:
Dein Name!
„Hallo Herr Weber!“
Die Chefin grüßt mich in meine Gedanken hinein. Ich
schaue sie beschämt, verloren an. Ich schaue die
Gedanken, die eigentlich Dir gelten, Dana, in ihr
Gesicht. In ihrem Lächeln spüre ich meine eigene
Rührung, die eigentlich Dir gilt; aber natürlich auch
ihr. Und das weiß sie auch, und ich weiß, dass sie es
weiß. „Der geht heute auf mich!“
Ich schaue meine Gedanken in den Raum: Dana, ich
sehe Dich noch immer vor mir, damals, wie Du in der
Tür mir gegenüberstandest. Ein bisschen ist es mir
auch jetzt noch unangenehm, dass ich mich nicht
gleich von Deinen Zügen angesprochen gefühlt habe.
Aber jetzt… ich stehe auf und gehe vor die Tür, ich
lehne mich an die rechte Wand und schau auf die
linke, auf das furnierte Eichenholz. Du stehst vor mir,
gegenüber, mit dem Rücken an das furnierte
Eichenholz angelehnt, die Glastür steht nach innen
auf. Dein Haar wird durch den Wind leicht
angehoben, auch jetzt noch, von der kühlen feuchten
Adventsluft, in jeder Strähne liegt die Weitläufigkeit
der Welt, als ob ihre Spitzen sie umschließen…
Ich sitze wieder an der Bar.
„Und wie geht es Ihnen heute?“
„Danke, mir geht es bestens!“ Aber in ihrem Lächeln
hält die Chefin ihr wahres Befinden zurück. Irgendwie
wirkt sie in ihrer Gutherzigkeit immer auch ein wenig
verbittert, und diese Verbitterung scheint es ihr
unmöglich zu machen, sich ihre Schmerzen und Nöte
einzugestehen. Wenige Wochen danach wird sie auf
der Schicht zusammenbrechen.
Ich schaue über die Stufen hinauf ins Bistro, auf den
ockerfarbenen Rauhputz und hole meine Gedanken
zurück.
Ich sitze zu Hause an meinem Laptop. Ich sehe Dich
wieder vor mir, Dein von den lauen Brisen wider und
wieder zart angehobenes Haar, ich höre Deine
Stimme, der bescheidene Stolz, der in Deinen Worten
liegt… Ich sehe Dich vor mir, schaue Dich hinaus
durch die Bodenfenster meines Zimmers in die
Dezembernacht… “Hotelfachfrau“… Wie dieses
Wort aus Deinem Mund klingt...
Dana.
Dana: Ich nenne Dich Dana! Und Jana; denn ich will
ja auch etwas über Jana schreiben. Dana! Und Jana!
Also Dana und Jana! Ich würde Euch so gerne noch
so vieles sagen, aber Jana ist ja schon in der großen
Stadt, und Du Dana, Du würdest sicher nochmal
wiederkommen, das hattest Du mir ja gesagt. Zum
vierten Advent. Aber dann hätte ich sicher auch
wieder nicht die Gelegenheit, Dir alles zu sagen, was
ich Dir so gerne gesagt hätte. Ich würde wieder
dasitzen und den ganzen Abend warten, und ganz zum
Schluss, wenn die günstigen Gelegenheiten schon alle
verpasst wären, würde ich im ungünstigsten
Augenblick, wenn der Augenblick vom Zerrinnen der
Zeit zusammengedrückt, beiseite gedrückt würde,
würde ich versuchen, Dich zwischen zwei Tischen mit
meinen Worten aufzuhalten; aber noch bevor ich Dich
aufgehalten hätte, hätte ich mich mit den Worten, mit
denen ich Dich aufhalten will, schon wieder zu lange
aufgehalten. Es wären dieselben Worte wie immer, die,
mit denen ich zu denen gelangen wollte, an denen
mich der Augenblick, an denen mich Dein verlegenverschämtes Lächeln im Vorübergehen wieder hindern
würde. Der Augenblick würde mir zwischen den
Worten vergehen, Du würdest mit ruhig, routinierten,
schweren Schritten ihrer Bedeutung aus dem Weg
gehen.
Ich schaue aus meinem Fenster in die Nacht, die über
meiner Wohnanlage liegt. Ich sehe Dich in den
Lichtern der Wohnanlage, der Bewegungsmelder. Ich
fange an zu schreiben.
„Liebe Dana,
ich sehe Dich noch immer vor mir: Dein
dunkelblondes Haar fiel in leichten Wellen an Dir
herab – Du hast es später nie mehr so offen getragen;
nur einmal im Restaurant, das war Ende August, hast
Du es zur Hälfte offen gelassen, die vordere Partie
abgeteilt und mit einem Reif aus der Stirn gehalten, die
übrigen Haare nach hinten zu einem kessen
Pferdeschwänzchen zusammengezogen: das hat Dir
fast noch besser gestanden -, Du hattest für einen ein
paar Minuten keinen Tisch zu bedienen, es war ja auch
erst später Nachmittag, und so bist Du in den Eingang
getreten, wo ich an der einen Seite angelehnt stand,
weil ich schon wieder den ganzen Nachmittag an der
Bar saß und mal stehen musste, und vielleicht auch,
weil ich wusste, dass Du ja gleich wieder
vorbeikommen würdest – ich weiß nicht mehr, ob ich
es bewusst gemacht habe -, und Du lehntest Dich mir
gegenüber gegen das furnierte Eichenholz, atmetest
tief durch und warfst Deinen Kopf etwas seitlich leicht
nach oben, und ein bloßes „Na?“ war erfüllt von
einem
Ton
von
Weltgewandtheit
und
Unvoreingenommenheit, von Aufgeschlossenheit, ein
bloßes „Na?“ wandte sich der Welt, wandte sich mir
zu, drang in gefestigtem Ton zu mir herüber,
durchdrang die stehende Luft, aufgehellt von
dunkelblondem Haar, das von der Juliluft mit jeder
Brise leise angehoben wurde und wieder herabfiel,
ungezwungen offen herabfiel, weltgewandt gewellt im
Widerschein von dunkelblondem Glanz, bei jedem
Wehen wieder, wider und wieder, als ob Deine Haare
die Welt umwehten; in ihrem Wehen, in jeder Welle, in
jeder Strähne lag die Weitläufigkeit der Welt, je höher
der Wind sie anhob, als ob ihre Spitzen die Welt
umschlossen; cremeweißes Licht fiel ein in den
braunen Schatten des Eichenholz, hellte die braunen
Halbschatten auf Deiner Stirn und Deinen Wangen
auf, und in dem bloßen Wort verbarg sich respektvolle
Neugierde als der jüngeren von uns beiden, gefärbt
von der Dankbarkeit, dass die Zufälligkeit des
Augenblicks uns die Gelegenheit gab, uns zum ersten
Mal überhaupt richtig zu unterhalten, oder wenigstens
in der Kürze des Augenblick ein paar Worte
miteinander zu wechseln. (Oder hab nur ich das so
empfunden?)…“
Dana? Hab nur ich das so empfunden?
Jetzt erst kam mir die Idee, die Begegnung mit Euch
gleichsam als Erinnerung an die Wochen, in denen ihr
dem Lokal und der Geschäftigkeit des täglich neuen
und doch immer gleichen Service Euer Gesicht
verliehen habt, festzuhalten; Wochen, in denen das
emsige Treiben eintauchte in gefestigte Ruhe, die
Getriebenheit aus dem steten Abholen und Bringen
der Tablette entschwand, die Bewegungen aus der
Kraft Deines Willens, Dana, weitläufiger, weltläufiger
wurden und zugleich in Janas Gegenwart Eleganz
annahmen und leichter, runder, irgendwie auch
vornehmer wirkten. In Euren Gesichtern, in dem
seidig feinen Glanz Eurer Haut, die ihrerseits Eure
Liebenswürdigkeit und Eure Verständnisfülle in die
laue, nachtblaue Augustluft atmete, empfand ich die
Wärme der sich abkühlenden Abendluft als Eure
Wärme, spürte ich Eure Wärme in Eurer Nähe – nicht
nur, wenn ihr an mir vorübergingt, sondern schon
allein im Bewusstsein Eurer Gegenwart –, ließ mich
Eure Nähe Eure Wärme als die eigentliche Wärme des
Raumes empfinden, umflossen von der sich
abkühlenden Augustluft, die durch sie hindurch wehte
und die Falten und Stauchungen Eurer Blusen
aufwarf, während ihr Stoff zugleich die Wärme Eurer
Haut atmete, die unsichtbar hindurch schimmerte.
Jetzt erst also kam mir die Idee, diese Wochen und
Monate, die mein Denken und Empfinden verändert,
so nachhaltig beeinflußt haben, als Erinnerung an jene
Zeit niederzuschreiben, gleichsam als Andenken an
Euch beide. Schnell fand ich zur Form des Briefes, die
mir am geeignetsten erschien, mich an Euch zu
wenden und meinem Bedürfnis entsprach, vieles von
dem zu erklären, was die Situation nicht zuließ und ich
in diesem Moment vielleicht auch gar nicht erklären
wollte. So gebe ich mir nun selbst die Gelegenheit,
mich wenigstens nachträglich an Euch zu wenden: die
Vorstellung, schon die bloße Annahme Eurer
Aufmerksamkeit ermöglichen es mir, mich frei
auszusprechen.
Dienstags sitze ich wieder an der Theke. Ich zeige der
Chefin das Buch, das Deinen Namen trägt. Sie lacht
laut auf. Nur einmal, kurz. Freitags höre ich dann, wie
in heftigen Diskussionen zwischen den Serverinnen
mehrmals Dein Name fällt. Es geht um die Besetzung
der Schichten. Es gelingt mir kaum, ein Wort
herauszuhören, aber ich fühle aus dem Ton, in dem
gestritten wird, in dem Dein Name fällt, aus den
Blicken, in denen Dein Name verdrängt und Deine
Person verleugnet wird, dass Du nicht mehr
wiederkommen wirst. Die Wärme verliert ihre
Geborgenheit, der Raum verliert seine Wärme, verliert
Deine Wärme, meine Brust spannt, meine Haut brennt
unter meinem Hemd. Die hoffende Erwartung bricht
schwer zusammen und drückt mir auf die Augen, die
Enttäuschung dehnt sich in meinem Kopf zu einem
verzweifelten Druck. Zwei, drei Mal fällt Dein Name:
er lässt mich Deine Ferne spüren. Dein Name zerstört
Deine Nähe. Ich schaue wieder zum Bistro hinüber,
ich sehe Dich die Stufen herabkommen, Deine Blicke
senken sich die Stufen des Bistros hinab, sie eilen Dir
voraus, sie stehen wieder vor mir; obwohl Du die
Stufen hinabsteigst, treten Deine Füße auf der Stelle:
Deine Blicke bleiben über den Stufen hängen. Ich
versuche, wieder in Deiner Nähe, in Deiner
Gegenwart zu leben. Ich schaue Dich in den Raum,
die Stufen hinauf ins Bistro, dessen Raum von der Bar
aus noch tiefer wirkt. Ich schaue Dich in den Raum,
aber ich sehe Dich nicht. Ich warte, dass Du gleich
wieder herauskommst. Ich sehe Dich herauskommen.
Ich warte, bis Du alle Tische bedient hast, und wieder
um die Ecke, durch die Glastür zum Bistro die Stufen
hinunterkommst. Ich fühle Deine Nähe, ich atme
Deine Wärme. Ich sehe Dich die Stufen
herunterkommen. Ich sehe Dich um die Ecke, aus der
Verborgenheit des Raumes, aus dem Bistro durch die
Glastür kommen. Bis Februar wirst Du noch da sein.
Ich sehe Dich die Stufen zum Bistro hinaufgehen. Mit
eilig routinierten Schritten, Deine Stirn glänzt im
Schweiß
Deines
Selbstvertrauens,
das
Dir
vorausleuchtet, in das Bistro hinein. Auch wenn ich
Dich von der Bar aus nur von hinten sehe, wie Du die
Stufen zum Bistro nimmst, glänzt Dein Haar im Stolz,
der auf Deiner Stirn liegt, auch wenn mir Deine Stirn
in diesem Moment verborgen ist. In ahnungslosem
Stolz machst Du Deinen letzten Gang, Deinen letzten
Tisch. Kurz bevor Du wieder aus dem hinteren, um
eine Stufe erhöhten Teil zurückkommst, unsichtbar
gefühlt hinter der Wand, ehe Deine olivgelbe Haut
zum letzten Mal vor dem ockerfarbenen Rauhputz,
versunken im nikotinschummrigen Dunst, unter
dunklen Lichtschatten, die der Rauch gerade noch
durchlässt, aufleuchtet und sich aus dem Dunst
gesättigt in der Tiefe ihres Glanzes absetzt, wird das
Licht gedimmt. Es wird dunkel, überall im Lokal, nur
ein Lichtkegel auf dem Absatz der Stufen soll Dir
langsam den Weg die Stufen hinunter weisen. Eine
Serverin wartet oben auf Dich und hält Dich kurz fest,
damit Du in der unerwarteten Dunkelheit nicht
stolperst. Ich überlege, welche Serverin ich zu Dir
raufschicken soll. So oft ich die Szene durchdenke,
schicke ich jedes Mal eine andere zu Dir rauf. Sie hält
Dich kurz auf, bis der Lichtkegel aufleuchtet und der
langsame Satz aus Vivaldis „Winter“ einsetzt. Die
anderen Server warten unten auf Dich, einige von
ihnen bilden ein Spalier, die Stufen hinunter, alle, auch
die Gäste, haben vorher Kerzen, kleine Wachskerzen,
vielleicht auch ein paar Wunderkerzen verteilt
bekommen, langsam steigst Du die Stufen hinunter,
die Geigen zupfen das Flackern der Kerzen in den
Raum, stolz, ein wenig irritiert, in jedem Fall aber
gerührt und dabei doch mit von Selbstvertrauen
gefestigten Schritten nimmst Du ganz allmählich die
Stufen; unten nimmt Dir jemand das Tablett ab, dann
reichen wir Dir zur Verabschiedung einen großen
Korb; oder vielleicht auch jeder einzeln seine
Geschenke. Ich sehe Dich die Stufen herabkommen.
Deine Haut glänzt im Flackern der Kerzen, Deine
Schritte senken sich weich in das wiegend gezupfte
Flackern, das Pizzikato tupft die samtene Tiefe Deiner
Haut, der Glanz auf Deiner Stirn dehnt sich: auf
Deiner Unterlippe liegt wieder der verschämte Stolz
früherer Tage; Deine Oberlippe leicht nach innen und
nach oben angezogenen: auf ihr ruht Dein Behagen,
bescheidene Genugtuung. Ich sehe Dich die Stufen
hinunterkommen, ich sehe die Schatten der Kerzen
Stufe um Stufe über Deine Wangen, Deine Augen,
Deine Stirn, Deine Haare streichen. Ich sehe Dich die
Stufen herunterkommen. Aber die Musik ist zu lang
für die wenigen Stufen. Ich sehe Dich die Stufen
herunterkommen. Aber obwohl Du die Stufen
nacheinander nimmst, trittst Du auf der Stelle. Immer
wieder hebst Du Deine Füße eine Stufe tiefer, unter
den liegenden Tönen treten Deine Füße in den
Schatten der nächst tieferen Stufe und treten wieder
aus ihm heraus: die Scheinwerfer tragen Deine Schritte
die Stufen herunter, es liegen Sekunden zwischen den
Schritten: mit jeder Phrase der Primgeige, jedesmal,
wenn sie eine Stufe tiefer sequenziert, setzt Du auch
einen Fuß tiefer auf die nächste Stufe. Auf Deiner
Haut ruhen die liegenden Töne der Viola, das
ockerfarbene b, das olivgelbe as, das violette g.
Andächtig atmet Deine Wärme im Raum, feierlich
wiegt das Zupfen der Saiten über dem Flackern der
Kerzen, in der braundunklen Tiefe des Bistros flackert
immer wieder kurz der ockerfarbene Rauhputz auf.
Langsam zieht die Melodie über Dein Gesicht hinweg.
Ich sehe Dich die Stufen herunterkommen, in Deinen
Blicken liegt das neue Leben vor Dir: in Deinen
Augen liegt der Glanz einer großen Stadt. In Deinen
Augen liegt die bescheidene Genugtuung darüber, dass
Du Dir in den zurückliegenden Monaten so viel
Achtung und Anteilnahme erarbeitet hast. Deine
Augen schauen zurück auf acht harte Monate, durch
die Dich Deine Füße mit stets ruhigen, gefestigt
bedachten Schritten durch das Lokal getragen haben,
über das dunkelbraune Parkett. In der Primgeige
klingen Gefühle und Sehnsüchte an, die nun keine
Rolle mehr spielen, die sich nun in mitfühlende Freude
auflösen: vergangene Gefühle, Gefühle, die ihre
Bedeutung verloren haben, weil Du nun wegziehen
wirst: befreite Wärme. Ich gehe auf Dich zu. „Dana, es
war eine schöne Zeit mit Dir. Ich möchte mich gerne
bei Dir bedanken… ich möchte Dir gerne sagen…“
Ich sehe Dich aus dem gelbdämmrigen Rauch aus dem
Bistro kommen, das Licht geht aus, eine Serverin geht
Dir entgegen und hält Dich kurz fest, bis der
Lichtkegel vor Dir auf das dunkle Parkett fällt und vor
Deinen Schritten her leuchtet, Deine Schritte die
Treppe hinunterführt: das Licht ruht auf Deiner Stirn:
sie hebt Deine Augenbrauen in den Raum: Deine
Augenbrauen heben Dein Gesicht über das Licht
hinaus, sie durchtrennen das Licht: gehaltene Schritte
tragen das Tablett die Treppe hinunter, durch die
Gäste; das Licht trägt Deine Schritte die Stufen
hinunter, das Licht träg Deine Schritte, hebt sie über
das braune Parkett, das Licht hält die Zeit an, es hebt
Deine Bewegungen auf. Deine Blicke ruhen verlegenverschämt auf dem Tablett, das Tablett hebt sie über
seinen Rand hinaus in das gezupfte Flackern, Deine
Rührung flackert im Zupfen der Geigen: allmählich
schauen Deine Augen unter ihren eigenen Blicken auf
in die Gesichter, die im Widerschein des Flackern in
der dunklen Andacht auf Dir ruhen. In Deinen Augen
leuchtet das Flackern der Kerzen, flackert das Zupfen,
züngelt das Zupfen, Deine Augen leuchten in die
warmen Schatten, die Du über die Gesichter der
Umstehenden, Umdrängenden trägst. Du steigst die
Stufen runter. Schatten atmen auf Deiner Haut, die
Deine Haut in der Tiefe des Raumes auflösen, über
Deine Stirn streicht Wehmut, streicht zarter Stolz, die
Bogenhaare streichen über Deine Stirn, das Zupfen
der Geigen trägt Dich durch warme Kerzen, Deine
Blicke stehen im Raum, wie aufgehangen… „es war
eine schöne Zeit mit Dir“… Deine Rührung verfließt
im Kerzenlicht. Du steigst bewegt die Stufen runter:
Deine Schritte verlieren ihre Bewegung, Deine Füße
ruhen auf den Stufen, unter Deiner Bluse atmet
gereifte Verletzlichkeit, Du hast sie beinahe abgelegt…
Ich schaue wieder auf die Treppe: die Treppe ist
leer…
Dana, Du wirst bestimmt sagen „aber ich habe doch
gar nichts für dich getan.“ Doch Dana, Du hast etwas
für mich getan: Du warst immer für mich da: ich
meine, eben einfach dadurch, dass Du da warst. Ich
habe Dir so viele schöne Stunden zu verdanken, auch
die, in denen Du nicht da warst: Du bist heute noch
da!
Ich schaue zurück zur Theke. Ich schaue wieder zum
Bistro rüber. Ich schaue wieder zur Theke. Ich fühle
eine warme Leere, die ihre Geborgenheit, ihre
Andacht verloren hat. Ich fühle ängstlich enge
Gewissheit, enge Angst. Darunter verhaltene Seligkeit,
eine helle brennende, beklemmende Seligkeit, die
immer weiter beiseite geschoben wird, die kaum noch
fühlbar ist: ich fühle sie nur noch in der Erinnerung,
aber ich spüre sie nicht mehr. Irgendwo in der Tiefe
des Raumes, in der spärlich dämmrigen Wärme, die
über der Bar steht, lebt geborgene Seligkeit, die ich mir
bewahren wollte, sie hellt den Raum aus seiner Mitte
auf, aber sie vergeht unter dem Dunst, langsam rieselt
die Seligkeit durch die beheizte Wärme des Raumes,
sie durchzieht meinen Körper, aber sie ist mir fremd
geworden: ich glaube nicht mehr an meine eigene
Glücksseligkeit. Sie versucht sich mutlos über die
angstvolle Enge zu erheben, aber sie wird von der
ängstlichen Gewissheit wieder unter sich gedrückt,
beiseite geschoben; umgeben von der befreiten Wärme
des Eingestehens, unterwärmt von verzweifeltem Mut,
es mir eingestehen zu müssen. Ich gestehe es mir nicht
ein, die befremdende Seligkeit wird wieder vertrauter,
ich fühle mir Deine Wärme wieder zurück in den
Raum, ich fühle mir meine Geborgenheit in Deiner
Wärme wieder zurück – die Geborgenheit bleibt leer,
sie greift nicht mehr, sie umgibt mich, aber sie
umfließt mich nicht mehr..
„Hast du Tisch 32?“ – „Kannst du übernehmen?“ –
„..den hab ich zu dir rübergeschoben…“
„Aufzug!“…
Ich versuche mich an dem Kommen und Gehen der
Serverinnen, an ihren Worten wieder aufzurichten, ich
versuche an ihren Worten, an dem Bringen und Holen
der Tabletts wieder jene Vertrautheit des Lokals
zurückzuholen, das mir plötzlich so fremd wirkt.
„Guten Abend, Herr Weber. Wie geht es Ihnen?“
„So weit. Und Ihnen?“
„Wie immer bestens!“ Die Chefin. Ein paar Wochen
später wird sie zusammenbrechen.
Ich betrete das Lokal, vom Marktplatz aus, aber ich
halte nur noch ungläubig Ausschau nach Dir, ohne
Dich wirklich zu suchen, ich warte noch immer auf
Dich, aber ich erwarte Dich nicht mehr, ich betrete
das Lokal durch mein eigenes Warten, ich trete in die
Dichte eng stehender Samstagabendgäste, ich trete in
mein eigenes angstvolles Warten, ich atme meine
Verunsicherung, meine Enttäuschung, ich suche Dich
- nicht mehr wirklich, aber ich kann Dich nirgends
sehen,
ich
atme
die
Vergeblichkeit
der
zurückliegenden Wochen, die Vergeblichkeit, mit der
ich zwei Wochenenden gewartetet habe, versucht
habe, die Zeit zu überwinden, in der mich die Zeit
bedrängte, in der mir die Zeit unendlich wurde.
Ungläubige Enttäuschung, schon freitags warst Du
nicht erschienen. Ich fühle mich um mein Verlangen,
die Tage überspringen zu können, betrogen, ich atme
bedrängend schwere Ahnung. Ich gehe auf eine
Serverin zu:
„Du, du bist doch auch schon ne Weile hier. Du
kennst doch sicherlich die Abläufe. Wo ist Dana?“
„Welche Dana?“
Mit staunendem Unbegreifen, das sich sofort zur
Gewissheit klärt, starre ich sie an: sie verleugnet Dich.
Enttäuschung ergreift mich.
„Aber du willst mir doch nicht sagen, dass du nicht
weißt, wer das ist? Du hast doch auch schon mit ihr
zusammen gearbeitet?“
„Tut mir leid, aber ich kenne Dana. Ich wüßte jetzt
nicht, wer das sein sollte.“
Aus der Menge nehme ich eine andere Serverin war.
„Wo ist Dana?“
Sie schaut verlegen an sich herunter. Ihre Augen
weichen meinen Augen und zugleich der offiziellen
Auskunft aus. In ihren Blicken wiegt die Verpflichtung
gegenüber den anderen zu stark, aber sie möchte Dich
auch nicht verleugnen. Ihr Blicke bleiben in den
Bewegungen ihres Körpers gefangen, gefangen in
ihren Schultern, die sie über ihre Verlegenheit hebt,
gefangen in ihrer Loylität: ihre Schultern schützen sie
und hemmen sie zugleich. Mit ihrem Kopf versucht
sie, ihre Blicke unter meine zu drücken.
„Ich weiß nicht. Ich hab sie heute noch nicht
gesehen.“ Es ist die Serverin, die sich den Griffen des
Schichtleiters nicht entziehen konnte.
Ich gehe die Stufen ins Restaurant rauf. Als ich oben
ankomme, haben meine Gefühle Deine Abwesenheit
schon beinahe angenommen. Auf der anderen Seite
der Galerie geht die Chefin vorüber, sie bedient heute
abend. Sie schaut nur im Vorübergehen zu mir rüber.
Für einen Augenblick ist es mir, als antworte sie mir
bereits auf eine Frage, die ich noch gar nicht gestellt
habe. Über die Galerie hinweg wirkt ihr Gang der
Wärme des Raumes entzogen. Durch die Stäbe des
Geländers wirkt ihr Gang zu Restauranttheke wie die
Unendlichkeit der drei Wochen, die ich überwinden
musste, um endlich an dieses Wochenende zu
kommen. In der augenblickslangen Unendlichkeit
ihres Gang durchlebe ich noch einmal die Sehnsucht
des Wartens; in ihrem Gang liegt die nüchterne
Gewissheit.
„Wo ist Dana?“
„Dana arbeitet nicht mehr hier.“
Ihr Gang trägt ihre Verbitterung mit den Tellern in der
Hand in die Küche.
Später steht sie kurz mit mir am Geländer.
„Und wo arbeitet sie jetzt?“
„Das weiß ich nicht. Und ich will es ehrlich gesagt
auch gar nicht wissen.“ Sie wendet sich ab.
Ich schaue über die Galerie hinweg in den
Küchenpass. In meinen Blicken bricht das Hoffen,
brechen die letzten drei Wochen in sich zusammen.
Die Zeit entschwindet mir. „Dana, ich möchte Dir
gern noch sagen…“ Ich verliere die Zeit um mich
herum. Im weißen Licht, das aus dem Küchenpass
scheint, lösen sich Deine Blicke auf, in der Grelle des
Lichtes, das aus der Küche in den gelbdunklen Dunst
dringt, der über den rustikalbraunen Paletten steht,
hellen Deine Blicke immer weiter auf, sie dehnen sich,
sie blenden mich durch das Küchenlicht hindurch, ich
schaue durch die Galerie runter auf die Stufen des
Bistros, ich sehe Dich die Stufen runtergehen, Du
steigst die Stufen hinab, allmählich, Deine Schritte
verlieren ihren Zusammenhang, Du steigst durch
meinen Kopf hinab, Du steigst, Deine Tritte versinken
in den Stufen, die Stufen versinken in meinen Blicken,
versinken in der Grelle des Küchenlichtes, Du steigst
- in meinen Blicken - durch meinen Kopf, Du steigst Deine Tritte versinken in – Deine Schritte versinken in
den - Stufen - die Stufen versinken in meinen Blicken,
versinken in der Grelle des Küchenlichtes, Deine Knie
geben nach, Dein Gesicht löst von Deinem Gang ab –
ich verliere den Raum - Dein Gesicht verläuft im
gelbdunklen Dunst, Deine Blicke leuchten noch heller,
weißer als sonst, sie durchdringen mich und sprechen
zu mir, ich höre Deine Worte durch die Rufe aus der
Küche. Ich verliere meinen Raum. Ich stütze mich am
Geländer. Ich gehe an der Pendeltür vorbei, wo Du
drei Wochen zuvor zuletzt vor mir gestanden hattest:
Du stehst vor mir, aber in Deinen Blicken spüre ich
Dein Fortgehen, in Deiner Stimme spüre ich den Ton
völliger Enttäuschung, den Ton, nachdem nichts mehr
umkehrbar sein wird. Deine Worte dehnen sich,
dehnen sich auseinander, sie berühren sich nicht mehr,
sie gehen in den Rufen aus der Küche unter. Ich
schaue wieder runter auf die Stufen zum Bistro: die
Stufen sind leer. In der Enttäuschung spüre ich einen
Moment lang die Freude, endlich wieder einen Grund
zu haben, Dir zu schreiben: einen Grund, den Deine
zunehmende Gleichgültigkeit und Deine immer tiefere
Zurückgezogenheit mir nicht mehr gaben. Die
Aussicht, dass wir uns ohnehin nicht mehr sehen
werden, lässt meine scheue Sehnsucht, in der ich mich
so gerne so oft an Dich wenden würde, in einer
gewissen Unbefangenheit aufgehen.
Abends, zu Hause, schreibe ich Dir folgende Zeilen:
Hallo Dana,
wie geht es Dir?
Natürlich warst und bist Du mir gegenüber nicht dazu
verpflichtet, Details Deines Lebens offen zu legen, aber ich finde
es dennoch schade, dass Du offenbar nicht den Mut hattest oder
vielleicht auch nicht genügend Vertrauen in mich hattest, mir zu
erzählen, dass Du nicht mehr wiederkommen würdest. Was
hättest Du denn zu befürchten gehabt?...
Ich sitze an der Bar und schaue über das Parkett, aber
das Parkett ist leer. An Heiligabend wird das Lokal nur
schwach besucht. Ich schaue in die Gesichter der
Serverinnen, ich suche in ihnen Dein Gesicht, aber ich
kann es nicht finden. Ich schaue an der weinroten
Wand entlang zur Glastür, die ins Bistro führt, dort
wo, der ockerfarbene Rauhputz scharf an die weinrote
Wand grenzt. Über den Farben liegt Andacht, eine
befremdende Andacht, aber zugleich kehrt in die
Farben das Gefühl des Vertrautseins zurück. Das
bange Fühlen ist dem Raum entschwunden, die
Farben fühlen sich leicht, unbeschwert an. Sie atmen
eine schüchterne Seligkeit, die aber der Wirklichkeit
enthoben scheint, die sich in die Tiefe der Farben
zurückgezogen hat: unerreichbar. Ich fühle die
beheizte Wärme des Raumes: befreit von beschwerten
Gefühlen, befreit von der Tiefe der Farben.
„…Selbstverständlich darfst Du frei entscheiden, wem Du Dich
anvertraust, aber was hättest Du denn zu befürchten gehabt?
Du weißt, daß ich eine gute meine Meinung über Dich habe,
und Du weißt auch, daß Du dadurch in meinen Augen in
keinster Weise verloren hättes...“ Ich schaue raus: über dem
Marktplatz lieg die Kälte der tiefen Andacht, die
geweihte Kälte, die man nicht sieht, die man nur in
den dicken Mantel und Pelzen und Wollmützen der
Vorübergehenden fühlt und die sich von unten an den
Bodenfenstern absetzt, die von außen gegen die
beheizte Wärme des Raumes ansteht. „.. Ich erwarte
keinesfalls von Dir, dass Du mir irgendeine tiefere
Wertschätzung oder gar Zuneigung entgegenbringst; das wäre
vermessen, und ich kann Dir versichern, dass ich sowohl zu Dir
als auch zu mir selbst so viel Abstand habe, dass ich das auch
keinen Augenblick lang erwarte. Auch brauchst Du mir keine
Dankbarkeit entgegenzubringen; denn was ich Dir geschrieben
habe, entspringt meiner tiefsten Überzeugung und braucht
deswegen nicht mit Dankbarkeit entgolten zu werden.
Gleichwohl hätte ich erwartet, dass Du Dich vielleicht mal mit
ein oder zwei Worten nach mir erkundigt hättest…“ Meine
Augen wandern über den Platz hinweg zu den
Fenstern der Häuser und Lokale: rote und goldene
Christbaumkugeln leuchten in die geweihte Andacht
hinein, leuchten in die tiefe schwarzblaue Nacht
hinein: weinrote und olivgelbe.
Würzig, kräftig steigt der Rauch meiner Brasil warm in
die Dezemberluft auf. Ich sitze auf meiner Bank, auf
Brasche, am altgeteerten Weg, zwischen hohen,
verwitterten, ausgewaschenen Steinen, umsäumt von
Eibenkegeln und Lärchen, wo ich nachmittags immer
sitze. Auf den Wiesen und den Tannen und Fichten
liegt rötlichgelbes Licht, das seine Kraft verloren hat.
Fernes Licht der tief im Tal hängenden Sonne, die
gerade noch über den Friedhofsberg herauf strahlt,
wärmt mein Flanellhemd: wirklich spüren kann ich die
Wärme nicht mehr, aber ich fühle sie noch, mit den
Augen, noch liegt eine leichte Wärme auf meinen
Augen und meiner Stirn: von unten steigt Feuchtigkeit
auf. Die Wärme wird von der aufsteigenden feuchten
Kühle allmählich aufgesogen. Braune Würze tritt in
die Wärme ein, die sich unmerklich unter den
Friedhofsberg zurückzieht. Mit der Sonne gehen auch
Deine Blicke, geht auch Deine Wärme unter. Ich sitze
auf der Bank. Vor mir fällt die Wiese, fallen
Erdaufwürfe, alte Gräber, neue Reihen in die
Dämmerung ab. Die Zeit scheint aufgehoben,
zwischen Heiligabend und den Tagen danach. Aber
mit jeder Stunde, in der die Zeit aufgehoben scheint,
geht sie ebenso unerbittlich vorbei wie jede andere
Stunde auch. Die Geborgenheit geht mit der
Dämmerung unter. Ich ruhe in den Zeilen, die ich Dir
geschrieben habe, Zeilen, deren Enttäuschung ebenso
in der Stille der Zeit aufgeht, aufgehoben scheint.
„Nun sieht es so aus, als ob Du möglicherweise gar nicht in der
großen Stadt warst, auch nicht in der anderen, und mir das nur
erzählt hast, damit Du mir den wahren Grund, warum Du
nicht mehr erscheinst, nicht nennen musst? Möchte Dir aber
damit nicht unrecht tun. Vielleicht warst Du ja doch dort,…“
Würzig brauner Rauch tritt in die kühle Feuchtigkeit
zerrinnender Stunden ein, die sich genauso im
Bedauern über die die verlorene Zeit verlieren, wie all
die Wochen vorher auch. Ich versuche mich an meiner
Enttäuschung aufzurichten, ich versuche, mich über
meine Enttäuschung zu erheben. „…aber als ich Dich
fragte, ob Du dann am vierten Advent wieder arbeiten würdest,
hast Du das zwar den Worten nach bejahrt, aber Deine Blicke
verrieten mir - jedenfalls glaube ich das jetzt im Nachhinein -,
dass Du in diesem Moment wohl schon wusstest, dass Du nicht
mehr kommen würdest.“
Würzig brauner Rauch steigt in die blauschwarze
Dunkelheit auf, die auf den Dächern und Giebeln
liegt. Ich steige die Treppen zu Winterbachsroth
hinab. „Und nun muss ich eben auch davon ausgehen, dass
Dir meine Person so wenig wert ist, dass Dir offenbar nicht
daran lag, Dich von mir zu verabschieden. Oder war es nur so,
dass es Dir unangenehm war, darüber zu sprechen; vielleicht
gerade weil Du wusstest, dass ich Dich schätze, und Du Angst
hattest, Dich rechtfertigen zu müssen.“
Ich drücke meine Brasil unter meinen Schritten aus.
Dana. „Ich weiß nicht, ob Du überhaupt Wert darauf legst,
dass wir uns nochmals wiedersehen. Aber ich würde mich gerne
persönlich von Dir verabschieden. Also, wenn es Dir möglich ist,
sag mir doch bitte, wo Du jetzt arbeitest; zumal ich für
Weihnachten etwas für Dich vorbereitet hatte; na sagen wir mal
ein etwas größeres Raffaello…ich muss Dich wiedersehen…“
„…ich muss Dich wiedersehen…“ Ich sitze im Bistro. Ich
rauche meine Tuitknak. Durch die Sprossenfenster
schiebt sich der Vormittag über das Fachwerk auf den
Mittag zu. Noch liegt der größere Teil des Innenhofs,
liegen die Gefächer im Schatten des Morgens. Bei
jedem Blick durch die Sprossen wandert der Vormittag
weiter über den kahlen Wein, dessen Triebe sich fest
in den weißen Putz gesaugt haben. Mit jedem Blick
fällt ein Stück mehr Licht über die Gefächer und
wandert auf die Dächer und die Balkone zu. Mit jedem
Blick schiebt der Vormittag sein Licht quer über die
Gefächer, über den weißen Putz auf den Mittag zu.
Vor mir steht mein Kaffee und dazu, gesondert, eine
Untertasse mit den den kleinen quadratischen
Schokotäfelchen der Bitterschokolade. Die Schmale
mit der Brille, die Kärntnerin, hat sie mir dazugestellt.
Sie weiß, dass sie mir damit einen Gefallen tut, und ich
weiß, dass sie es weiß. Und wenn sie einmal nicht
gleich dran denkt, stellt sie immer noch ein paar mehr
hin. Der Rauch meiner Tuitknak zieht an den
Sprossen hinauf, legt sich auf die beheizten Scheiben,
an denen die lichte, klare Kälte ansteht. Fernes Licht,
das Licht des alten Jahres, des zurückliegenden
Sommers schiebt sich kühl über die Gefächer. Der
weiße Putz leuchtet kühl gelb, ich fühle die zage
Wärme, durch die Sprossenfenster, aber ich spüre sie
nicht. „…ich muss Dich wiedersehen…“
Ich sitze auf einem einfachen, abgenutzten Sofa. Licht
eines späten Tages, das erste, schon verdrängte Licht
des schon vergessenen Sommers, eines neuen
Frühlings, das viel zu früh über den noch frostigen
Wiesen liegt, fällt rötlichgelb auf den Flur. Für heute
werde ich Dich wohl nicht mehr antreffen. Am
anderen Morgen erfahre ich, dass Du gar nicht mehr
zu den Vorlesungen erscheinst. Ich sitze auf dem
abgenutzten Sofa. Silbrig gelb setzt sich das erste Licht
eines neuen Jahres durch die regennassen Scheiben
durch. Ich stehe auf, ich laufe in Gesichter: in jedem
Gesicht suche ich Deins…
Ich liege auf meinem Bett. Ich sehe den Himmel über
den Dächern, obwohl ich ihn von meinem Bett aus
gar nicht sehen kann. In seiner Dämmerung geht die
Zeit zu Ende. Der Tag löst sich aus der Dämmerung,
das eisig nasse Licht bleibt über der Dämmerung
zurück, der Tag bleibt stehen, in der Dämmerung geht
die Zeit verloren. Ich sehe um den Himmel herum, ich
sehe über die Dächer hinweg zum Schiedeborn,
hinweg über Koppeln und Schrebergärten. In seiner
Unendlichkeit verliert sich die Geborgenheit von
Stunden und Tagen, geht der Mut verloren, Tage und
Stunden zu bewältigen, zu füllen, Monate und Jahre
schützen nicht länger vor der Unendlichkeit der Zeit,
schützen nicht länger vor dem Vergehen der Zeit,
Monate und Jahre geben mir keinen Halt mehr,
Monate und Jahre, in denen man die Zeit auf Distanz
halten kann, in denen man die Angst vor dem Ende
verdrängen kann, in denen man die Zeit vor dem
Vergehen gestalten kann, in denen man das Ende
immer nochmal um ein paar Jahre oder Monate oder
Stunden verschieben kann, in denen die Zeit vergeht,
ohne daß man sie erlebt; jetzt vergeht die Zeit auf
einmal, sie Zeit bedroht mich, ich habe Angst, sie zu
erleben, Zeit kann jederzeit sein, ich verliere die Zeit,
ich möchte mich der Zeit entziehen. Ich liege auf
meinem Bett. Venlafaxin. Unter mir sehe ich Licht,
dessen Tag längst untergegangen ist. Ich liege unter
dem Himmel, den ich nicht sehen kann: die
Dämmerung hebt die Zeit auf, der Himmel dehnt sich,
dehnt sich bleich über eisig nasse Wiesen und
Koppeln, greift um sie herum: ich liege unter meiner
Zimmerdecke. Sie entfernt sich. Ich sehe auf mein
Haus. Ich sehe mich auf meinem Bett liegen. Ich liege
unter mir selbst. Schuberts zweites Klavierstück in Es.
Die Musik entfernt sich und dringt unter mich ein. Sie
läuft mir davon. Über mir – in mir – im Zimmer – am
anderen Ende des Zimmers klingen die Takte weiter,
denen ich nicht mehr folgen kann. Die Tremoli
verstärken sich in meinem Kopf. Ich schlafe halb. In
der Musik geht die Zeit verloren. Takte, deren Schläge
sonst die Stunden aufhalten. Die Takte wiederholen
sich, sie verlieren die Kraft, die Zeit aufzuhalten. Die
Zeit verliert ihren Sinn. Die Musik löst sich auf in
Stimmen - Stimmen reden auf mich ein, Stimmen
reden auf mich - heftige Diskussionen, aber ich sehe
niemanden – reden auf mich ein - ich sehe nur
Schatten, aus fernen Tagen, irgendwo in
schummrigem Licht sitze ich mit anderen Stimmen an
einem Tisch, dann geht jemand, dann kommt wieder
jemand, ich drehe mich zur anderen Seite, versuche
meinen Kopf aus den Stimmen herauszudrehen, aber
sie dringen von den anderen Seite wieder genau so auf
mich ein. Plötzlich sehe ich eine moderne
Wohnanlage, in rosa Anstrich, davor ein Platz mit
kleinen Hecken und frisch gepflanzten Bäumen, sie
kommt mir vertraut vor, ich versuche auf sie
zuzugehen, ein blaues Emailschild: „Dietzfelbinger
Platz“, aber ich komme nicht heran. Ich bewege mich,
ohne meine Füße zu spüren, auf meine Wohnung zu,
aber je näher ich ihm komme, um so mehr, immer
fremdere Häuser richten sich vor ihm auf. Ich weiß
nur noch, das da hinten irgendwo mein Haus stehen
muss, aber davor steigt eine kette bunter Häuser aus
einem Tal einer Straße entlang an, Hundertwasser, ich
gehe eilig die Straße rauf, weil ich weiß, dass hinter
den bunten Häusern mein Haus liegen muss, ich
komme oben an, atemlos, stehe an einer Hauptstraße,
aber ich so oft ich über die Häuser hinweg schaue,
sehe ich mein Haus nicht mehr; ich drehe mich auf die
andere Seite. Ich gehe die Straße wieder rauf, atemlos,
ich spüre den Puls am Hals schlagen, meine Brust
atmet immer schwerer, ich schaue wieder über die
bunten Häuser hinweg, aber ich sehe mein Haus nicht
mehr. Durch die Häuser leuchtet ein Lachen. Mein
Vater nimmt mich an der Hand, und geht mit mir die
Straße wieder runter. Ich stütze mich mit den
Ellenbogen auf, atme tief durch und versuche mich
am späten Licht, das in mein Zimmer fällt, zu
beruhigen. Ich drehe mich wieder auf die andere Seite,
ich gehe wieder die Straße rauf, aber ich kann mein
Haus nicht mehr sehen. Ich sehe kurz den Platz, aber
das Haus ist weg. „Du wollest dort nicht mehr
wohnen. Dir hat es dort nicht gefallen. Du hast Angst
gehabt, du bist allein nicht zurechtgekommen. Du
wolltest wieder nach Hause“. Dann stehe ich auf
einem anderen Platz. Aber ich erkenne ihn nicht. Von
dem Platz führen viele Straßen weg. Ich suche leere
Wohnungen auf, aber keine gefällt mir. Ich höre
wieder Stimmen, ich sitze an einem Tisch, ich sitze zu
Hause am Tisch, am Eßtisch, an dem kleinen Tisch an
der Wand, an der kurzen Seite, Stimmen schreien auf
mich ein, ich verteidige mich, aber ich höre mich
selbst nicht, ich verteidige mich nur mit meinem Puls,
der immer schneller wird. Ich stütze mich mit meinen
Ellenbogen auf. Schubert. Ich sehe den Himmel,
weiter als ich ihn von meinem Bett aus sehen kann.
Ich sehe mich auf meinem Bett liegen, ich sehe auf
mich. Ich kann mir selbst nicht mehr helfen. Ich kann
nicht eingreifen. Die Wände geben nach, der Himmel
dehnt sich immer weiter, wird immer heller. Ich
schaue über die Dächer, über die Felder und Äcker
hinweg, der Horizont wird immer weiter: ich liege auf
meinem Bett. Ich bekomme Angst, ich möchte den
Raum verlassen, aber ich habe Angst, den Raum zu
verlassen. Ich verliere den Halt in der Zeit. Ich verliere
die Zeit, ich verkrafte den Raum nicht mehr. Die
Unendlichkeit des Raumes bedrängt mich, ich möchte
den Raum verlassen, aber meine Tür, mein Schrank,
der Weg zu meiner Toilette liegen unendlich weit vor
mir. Ich kann den Raum nicht mehr überwinden. Ich
versuche mich wieder aufzurichten, aber ich bewältige
die Zeit nicht mehr. Ich traue mich nicht mehr, an den
nächsten Moment zu denken, ich habe Angst, die Zeit
vorauszusehen. Ich habe Angst, mich aufzurichten,
aus Angst, die Zeit überwinden zu müssen: ich richte
mich auf, das Aufrichten kommt mir wie eine
Ewigkeit vor. Ich hebe die Beine über die Bettkante
hinweg, ich sitze auf der Bettkante. Ich atme tief
durch. Ich möchte mich nicht mehr hinlegen, ich habe
Angst aufzustehen. Ich muss mich überwinden. Mein
Kopf nickt nach vorne, in einem fort. Ich drehe den
Kopf zur Seite, ich ziehe ihn so scharf zur Seite, wie es
geht. Aber Raum und Zeit drücken meinen Kopf
immer wieder nach unten. Ich ziehe mich an. Bei jeder
Bewegung kämpfe ich gegen die Zeit an, die auf mir
lastet, die mich festhält, die mich treibt, unruhig. Ich
erstarre in der Zeit, ich verliere mich in der Zeit, die
Gedanken verrutschen und entgleiten mir im Raum.
Ich schaue hinaus, der Himmel hat noch immer seine
unendliche Dämmerung: in der Dämmerung scheint
die Zeit zu Ende zu gehen. Ich bewege mich gegen die
Entfernung, mit jedem Schritt gegen die wenigen
Minuten, die brauche, um zum Busbahnhof zu
kommen. Ich steige in die 103. Ich habe Angst, die
Fahrt zurückzulegen. An jeder Haltestelle überkommt
mich eine immer heftigere innere Unruhe, jedes
Halten lässt mich die Zeit noch schwerer ertragen, das
Ziel noch unerreichbarer fühlen. Ich habe Angst, nicht
mehr anzukommen. Bei jedem Haus, bei jedem Feld,
dass an mir vorüberzieht, hab ich Angst, das nächste
nicht mehr zu bewältigen, habe ich Angst, die Stelle zu
verlassen,
weiterzufahren;
ich
habe
Angst
stehenzubleiben, ich habe Angst weiterzufahren, ich
habe Angst zurückzufahren – der Bus fährt mich in
die Zeit hinein, die ich nicht mehr bewältigen kann und sehne mich zugleich nach dem nächsten Moment,
um die Angst überwinden zu können, um ein Stück
der Unendlichkeit zurücklegen zu können. Das
rötlichgelbe geht über in rot-lila, wird immer dunkler,
der frühe Abend legt sich über den Februartag.
Die wenigen Gedanken, die von der Angst nicht
zusammengedrückt werden, führen mich zu der
Liniennummer: es ist die Linie, die auch zu Dir führt,
Dana. Wenn das Haus, in dem Du wohnst, doch Dein
Elternhaus ist, dann muss es doch schon ein älteres
Haus sein, und wenn Du allein darin wohnst, wird es
doch bestimmt kein allzu großes Haus sein. Und wenn
es möglicherweise schon sehr alt ist, wird es natürlich
eher an der Hauptstraße stehen, da sich ja alle Dörfer
immer von der Hauptstraße weg in die Breite
ausdehnen. Typisches Straßendorf. Als der Bus in der
Innenstadt hält, steht mein Entschluss schon fest,
durchzufahren.
Als ich in Deinem Ort aussteige, entweicht der Druck
plötzlich, mein Kopf dehnt sich, befreit von den
Spannungen. Ruhig, von einer beruhigenden Weite
getragen, und doch getrieben, von Leichtigkeit
getrieben, von der ungeduldigen Erwartung, laufe ich
die Hauptstraße, den Berg hinunter. In der kühlen
Luft, in der ich das Holzfeuer aus den Schornsteinen
atmen kann, spüre ich plötzlich Deine Wärme.
Schubert. Dein Wärme gibt mir die Geborgenheit auf
einem Weg, den ich nicht kenne, der mir aus alten
Tagen vertraut scheint, in dem Du mir vertraut bist.
Die Straße, die Bäume, die Häuser wirken vertraut,
vertraut in Deiner Wärme, wie ein fremder Ort, zu
dem man sich beim ersten Mal hingezogen fühlt. Die
Luft ist kalt und doch behaglich, ich fühle Deine
Wärme in ihr. Ich spaziere die Straße hinunter, mit
ruhigen, aber festen Schritten. Aber die Häuser sind
alle hell erleuchtet, hinter den Fenstern sieht man
Familien, sieht man Eltern mit Kindern. Die Straße
windet sich ein wenig, zwischen gelben und roten
Verblendsteinen, zwischen Fassaden, die von Tannen
und Zypressen gesäumt werden, dann fällt sie steil den
Berg ab. Dort, ganz für sich allein, steht ein
Bergmannshaus,
typisches
Prämiensparhaus,
unverputzt, mit zurückgesetzten Fugen, den Eingang
zur Seite verlegt. Eine kleine Einfahrt, Schotter, mit
Gras überwachsen, steigt leicht zur Tür an. Die Läden
sind runter. Ich drücke die Gartentür auf, der Garten
liegt unbewirtschaftet im Schatten des Hauses, der
Schatten fällt in die Nacht hinein auf die Beete, der
Laden des Stubenfensters ist hochgezogen, aber die
Stube ist dunkel. Ich ziehe die Staketen wieder hinter
mir zu. Eine kleine Einfahrt, leicht ansteigend, mit
Gras überwachsen. Als ich wieder hinter das Haus
schaue, ist auch dort der Laden runter. Ich stehe
wieder vor der Tür. Rote Ziegelsteine, im Schatten des
Giebels, die Straßenbeleuchtung dunstet mild in die
Nacht, die dem Mauerwerk die Farbe entzieht. Die
Klingel ist schräg auf das Mauerwerk geschraubt. Ich
kann sie nicht hören. Dunkle Klinker, im Schatten des
Giebels. Dann dringt Licht durch das Bleiglas,
Bewegungen schimmern durch das trübe Glas: ganz
schwach zu vernehmende Schritte, aber in ihnen liegt
eine gewisse Schwere. Sie bewegen sich mit einer
vertrauten ruhigen Eile; Schritte, die unerkannt bleiben
wollen, die sich verleugnen. Für einen Moment lang ist
es mir, als schimmere Dein dunkelblondes Haar durch
die Trübung: über das Bleiglas ziehen von innen
heimliche Schatten: dunkelblonde und olivgelbe
Schatten. Die Schritte bleiben hinter der Tür stehen.
In Deinen Schritten ergreifen mich die Gefühle, die
ich, solange noch die Enttäuschung drohte, Dich nicht
zu finden, verleugnen musste; Deine Schritte
gewähren mir die verwehrte Vertrautheit. Deine
Schritte beruhigen mich: in ihnen empfinde ich den
Stolz, den ich mir über Dich bewahrt habe, den Stolz,
Dich doch gefunden zu haben. Ich spüre Dich: durch
die Tür; ohne zu wissen, ob Du es bist. Für einen
Moment bis Du mir ganz nahe: durch die Tür. Ich
höre Dich, obwohl Du Dich nicht mehr bewegst.
Jemand kommt die Einfahrt herauf und möchte
wissen, wer ich bin. Die Schritte hinter der Tür
verraten sich. Du hörst meine Stimme, dann höre ich
Deine: „Simon, geh weg!“…
Ich sitze wieder an der kurzen Seite der Bar. Meine
Temperatur staut sich in der beheizten Wärme des
Raumes. Ich sitze in der Angst, Dir wiederbegegnen
zu wollen. „Aber warum hast du denn nicht gerufen?“
– „Hab ich doch!“- „Nein hast du nicht! Und
außerdem, wo her weißt du, wo ich wohne? Bist du
mir nachgegangen?“ – „Wenn Du mich reinlässt…“ –
„Nein. Du warst Gast. Wir sind nicht befreundet. Ich
komme morgen abend ins Lokal. Dann können wir
reden. Aber nur fünf Minuten: mehr ist nicht drin!“
Mein Kopf nickt in die Tiefe des Raumes, in der
dämmrigen beheizten Wärme sehe ich nur noch
Schatten von Dir, mein Kopf geht auf sie zu, mein
Kopf bewegt sich in sie hinein. Ich sitze an der Bar,
schwer auf dem Hocker, ich spüre meine Füße nicht
mehr. Ich stütze meinen Kopf in meine Hände. „Bis
jetzt jetzt hab dich geschätzt: als Gast. Bis jetzt!“ Ich
drehe mich zur Seite, zum Eingang. Ich sehe Dich
durch den roten Samtvorhang kommen. Deine Blicke
hasten an mir vorbei: sie verstecken sich vor mir. Sie
suchen Deckung zwischen den Gästen, sie tauchen in
der Menge unter, sie lassen meine Blicke hinter sich.
Sie lassen Verachtung hinter dem Samtvorhang
zurück. Sie wenden sich von mir ab, ohne sich mir
zugewendet zu haben. Sie eilen an mir vorbei. Blicke,
die getrieben sind von Verachtung, aber auch von der
Verunsicherung, wie sie mit der Verachtung umgehen
sollen. In ihnen hat sich Hass zurückgestaut. Ich
stützte meinen Kopf - ich rede mit Dir, in Deinen
Worten. Ich versuche, Dich zu meinen Worten zu
bewegen, mich Deiner Worte zu versichern. Ich rede
in mich hinein. „Bis jetzt!“ Ich schaue zur Tür: ich
schaue auf morgen Abend. Ich schaue auf die Tür. Ich
schaue wieder auf die Tür. Ich sitze in der Angst, Dir
wiederbegegnen zu wollen – Dir wiederbegegnen zu
wollen - sitze in der Angst – ich schaue auf die Tür;
mit jedem Blick versuche ich die Stunden bis morgen
abend zu überwinden. Ich versuche die Zeit
heranzuholen, um an Deine Worte, meine Worte
anknüpfen zu können. Ich versuche, in jeder Minute
eine Stunde zu überwinden. Die Zeit bleibt stehen vor
der Angst, Dir wiederbegegnen zu wollen. Ich will Dir
wiederbegegnen; nur die Angst davor lässt Zeit
unendlich fühlen. „Aber nur fünf Minuten: mehr ist ist
nicht drin!“ Es wird mir unvorstellbar, die Zeit zu
überwinden. Ich versage vor der Zeit. Die Zeit drängt
mich immer weiter hinter die Augenblicke zurück, die
ich bereits bewältigt habe. Deine Worte halten die Zeit
auf, sie drängen sich vor die Zeit, so oft, wie Deine
Worte in meinem Kopf nachhallen, sperrt sich mir die
Zeit, drängt mich die Zeit wieder zurück in den immer
noch kaum vergangenen Moment. „Aber nur fünf
Minuten: mehr ist nicht drin!“ Du bietest sie mir nur
an, um Dich auch ihnen zu entziehen: die fünf
Minuten werden unter ihrer Zeit vergehen; die fünf
Minuten werden vor meinen Worten vergehen. „Aber
nur fünf Minuten: mehr ist nicht drin!“ – „Und wenn’s
zwei, drei Minuten mehr wären, wäre das doch auch
O.K.?“- „Mal sehen! Aber jetzt geh bitte!“ Ich stütze
meinen Kopf – in der beheizten Wärme - ich fange an,
Dir alles zu sagen, was ich Dir gerne sagen würde.
Solange ich die Situation noch vor mir habe, bewahrt
sie mich davor, sie nicht nutzen zu können. Die Zeit
bis morgen abend bewahrt mich vor dem Augenblick,
es wieder nicht gesagt zu haben. Die Zeit bewältigt
meine Angst. Ich stütze meinen Kopf – ich stütze –
ich stütze meinen Kopf auf der Theke auf, ich grabe
meine Handballen in meine Augenhöhlen.
Lichtpunkte. Ich sehe Dein Gesicht. Ein viel zu
kleines Gesicht, kleine, spitze Lippen, auf denen der
Schatten meiner Handballen liegt: „Simon, geht weg!“
Ich laufe wieder die Straße hinunter, die lange, sich
steil windende Straße. Die Straße entweicht mir unter
meinen Schritten. Sie dehnt sich, weich, dunkel, sie
windet sich unter meinen Schritten. Ich stehe vor
Deiner Tür. Ich rufe Deinen Namen – in den
dämmrigen Rauch, in das dämmrige Licht einer
dunklen Februarnacht.
Ich liege im Bett. Durch die Ferne der Bilder rufen
sich Deine Worte mir in Erinnerung: „Simon geh
weg!“ Ich versuche, Dich doch noch in Deiner Tür
aufzuhalten. Ich suche nach Worten, mit denen ich
Dich doch noch hätte überzeugen können, mit mir zu
reden, mich zu Dir reinzulassen. Meine Worte fallen
unter Deine zurück. Ich stütze mich mit den
Ellenbogen auf. Ich schaue hinaus und versuche mich
an der Nacht zu beruhigen. Ich lege mich wieder hin,
ich drehe mich zur Seite. Ich klopfe an Deine Tür, ich
klingele, ich rufe Deinen Namen. „Simon, geh weg!“ -
„Aber Dana, du kennst mich doch, wir kennen uns
doch. Ich musste dich wiedersehen…“ - „Simon, geh
weg!“ Deine Stimme schreit aus der Tiefe der
Schatten, ich sehe Dich vor mir, aber Dein Gesicht
verfließt, Dein Gesicht, die Tür, hinter der Du, nur
einen Spalt geöffnet, hervorschaust, verrutscht, fällt
nach vorne, auf mich, zu, „Aber du kannst doch nicht
einfach hinter mein Haus gehen…“ Ich versuche,
mich wieder zurückgehen zu lassen, ich gehe wieder
auf Dein Haus zu, ich klingele, ich klingele und rufe
Deinen Namen: so, wie Du mich gebeten hast. Ich
rede mir ein, dass Du anders reagiert hättest, wenn ich
– ich gehe von Deinem Haus weg und schaue
nochmal nach hinten und sehe Deine Blicke, ich
versuche nochmal umzukehren. Ich laufe durch - ich
spüre meine Füße nicht – meine Tritte geben nach,
versinken, der Weg gibt nach, meine Schritte versinken
unter meinen Tritten. Ich drehe mich wieder um. Ich
höre Stimmen, ich trete an Deine Tür heran, ich rede
auf Dich ein, aber Du bist zu weit weg. Ich liege
halbwach in der Angst, Dich wiedersehen zu wollen.
Ich versuche, die Situation zurückzuholen, ich
versuche einzugreifen und zugleich die morgige
Begegnung vorauszuleben. Aber immer wenn ich mich
so weit beruhigt habe, dass ich die morgige Situation
auf mich zukommen lassen kann, treibt mich die
Angst vor der Begegnung noch weiter in die Bilder,
die sich in dunklen Schatten ineinander bewegen und
sich gegenseitig beiseite drücken. Die Angst, dass die
fünf Minuten, die Du mir angeboten hast, wieder nicht
reichen, dass ich hinterher noch unzufriedener
zurückbleiben werde. Daß ich aus der Not, etwas
wegzulassen, auch neue Gedanken wieder nur
beginnen werde, und dass Du mich wieder erst gar
nicht dazu kommen lassen wirst, das zu sagen, was ich
Dir vor allem sagen möchte. Die Bilder drehen sich
vor mir, ich drehe mich um die Bilder, ich drehe mich
um mich selbst, mein Kopf weicht aus und drängt
immer wieder an elastische Wände, die aus den Bildern
bestehen, die sich immer weiter überlagern. Aber in all
der Angst, in all der Enttäuschung empfinde ich eine
gewisse Beruhigung um meinen Zustand: die
Schmerzen sind weg, und ich merke, dass ich durch
meine Gefühle, meine verletzten Gefühle wieder zu
mir komme, dass ich noch für meine Gefühle leiden
kann, kämpfen kann…
Ich liege auf der Seite - die Angst, Dir wiederbegegnen
zu wollen - ich muss Dich wiedersehen - mich spannt
die angstvolle Gewissheit, dass Du wieder nicht mit
mir reden wirst, dass du mir wieder nicht zuhören
wirst, dass Du mir keine Gelegenheit gibst - die Angst,
noch mehr zurückgewiesen zu werden. Die Angst,
dieser Angst zu begegnen. Die ängstliche drängende
Verlangen, die bange Hoffnung vor der neuerlichen
Enttäuschung. Ich muss mit Dir zu reden, Du wirst an
meinen Worten ohne Blicke vorbeigehen. Die bange
Angst, zurückgewiesen zu werden, dass Du mit
verächtlichen, abweisendenden Blicken an mir
vorübergehen wirst, an mir vorbeischauen wirst. Die
Angst treibt mich in die Bilder: die Angst, dass Du
mich bloßstellst, als Angreifer hinstellst, als ob ich…
Die Bilder schieben sich in meinen Kopf, sie schieben
meinen Kopf zur Seite, ich drehe mich auf die Seite,
ich versuche, den Bildern auszuweichen, die Bilder
geben nach, dehnen sich, sie wechseln die Seite. Ich
versuche, unter ihnen durch zu tauchen. Die Angst
treibt mich der Begegnung zu, in die Bilder; ich
versuche, Deinen Worten auszuweichen, aber ich
versuche immer noch, Dich mit meinen Worten
aufzuhalten, Dich zu bewegen. „Simon, geh weg!“
Deine Rufe dringen durch die Tür. Dann ziehst Du sie
ganz vorsichtig auf. Zwischen Zarge und Falz wirkt
Dein Gesicht so klein, so unwirklich, so wehrlos und
überfordert, verletzlich klein. Deine Lippe wirkt
schmal, sie gibt Dir keinen Halt mehr. Du hast sie
abwehrend unter Deine Oberlippe zurückgezogen.
Beide Lippen umschließen die Verachtung, die aus
Deinem Mund atmet, die aus Deinen Blicken
argwöhnt. „Aber du kennst mich doch. Tu doch bitte
nicht so, als ob du nicht wüßtest, wer ich bin.“ Ich
habe Dir noch so viel zu sagen. Deine Worte holen
mich ein, egal auf welche Seite ich mich drehe, die
Bilder drücken meinen Kopf zusammen. Die Bilder
fangen an zu fließen, sie biegen sich, biegen sich
durch, geben nach, ich laufe durch die Bilder, laufe
gegen sie an, laufe immer wieder auf Deine Tür zu.
Meine Beine zucken unter der Decke, ich strampele
durch warme Luft, meine Füße versinken in den
Bildern. Meine Beine waten durch dunkle, warme Luft:
die Luft gibt nach. Die Einfahrt, der Schotter, das
überwachsene Gras geben nach, ich trete in den
Boden. „Aber du kennst mich doch, wir haben uns
doch
ein
halbes
Jahr
fast
jeden
Tag
gegenübergestanden, du weißt doch, wer ich bin, ich
möchte doch nur mit dir reden…“ –„.. aber nicht in
meinem Haus. Du kannst morgen ins Lokal
kommen.“ Ich gehe rückwärts, ich schließe das
Gartentor wieder hinter mir, ich öffne es nicht: das
Tor schließt sich wieder, mein Wille zieht das Tor
wieder zu. Ich gehe wieder auf Dein Haus zu, ich
klingele zweimal, dreimal, immer wieder, ich spreche
mit Dir. „Aber du kennst mich doch. Du weißt doch,
wer ich bin.“ Ich spreche mit Dir. Durch die
verschlossene Tür, durch die offene Tür. „Aber Du
kennst mich doch! Warum gibst mir das Gefühl, dass
du dich vor mir in Acht nehmen musst. Du hast doch
von mir nichts zu befürchten. Ich hab dich doch
immer gut behandelt.“- „Du kannst doch nicht einfach
hier her kommen.“ Mein Verlangen greift in die Bilder
ein. Die Bilder lassen sich auf mich ein. Du lässt mich
herein: ein grauer Schlafanzug mit Kordel. Ich setze
mich auf die Flurtreppe. Ich stelle mir Dein Haus so
vor: es ist doch ein altes Bergmannshaus; die Treppe
zum Speicher muss doch direkt hinter dem Eingang
liegen. Dein Gesicht steht vor mir, klein zaghaft,
Deine Blicke starren schräg an Dir, an mir herunter,
sie fallen hinter der zurückgezogenen Unterlippe ins
Leere. Sie starren schräg nach unten und horchen in
sich hinein. Sie weichen mir aus, um die vorgeführte
Furchtlosigkeit einer jungen Frau nicht preiszugeben.
Sie suchen halt an den Bodenfliesen. „Aber hast du
denn wirklich geglaubt, dass ich dir was antun will? Du
kennst mich doch. Dana, ich hab dich doch gern. Du
bedeutest mir alles, und jemanden, der einem so viel
bedeutet, dem tut man doch nichts an.“ Allmählich
öffnest Du Deine Oberlippe und Deine Unterlippe
verrät eine tiefe Rührung. Allmählich weicht die von
vorgeführter Furchtlosigkeit zusammengehaltene
Furchtsamkeit einem sicheren Lächeln. Dein Lächeln
distanziert sich von den eigenen Blicken, Deine Blicke
öffnen sich. „Darf ich mich kurz setzen?“ Deine
Entschiedenheit ist nicht entschlossen genug, um mich
hinauszubitten, und Deine Verlegenheit zu hemmend,
um mir die Gastfreundschaft ausdrücklich zu
gewähren. Ich setze mich auf die Treppe, in
unschlüssige Blicke: sie gestehen es mir zu. Ich stütze
meinen Kopf auf der Hand mit dem Ellenbogen auf
meinem Knie auf. Ich stütze mich mit den Ellenbogen
im Bett auf. Ich beruhige mich an der vertrauten
Dunkelheit in meinem Zimmer: solange ich die Augen
offen halte, hält sie mir die Bilder fern. „Aber woher
hast du denn gewusst, dass ich hier wohne? Bist du
mir nachgegangen?“- „Aber Dana, das ist doch
absurd. Wenn du damit gerechnet hast, dass ich dir
nachgehen würde, dann hättest du es doch auch
bemerkt. Du kennst doch selbst den langen Weg
hierunter. Wie soll ich dir denn da nachgehen, ohne
dass du es merkst?“ Meine Worte bezwingen Deine
Furcht. „Aber woher weißt du es dann? Hast du
jemanden gefragt?“ - „Aber Dana! Dann weiß ja das
ganze Dorf, dass ich dich suche…Es war eigentlich
ganz einfach, und, na ja, ein bisschen Glück hab ich
halt auch noch gehabt. Wenn es nicht direkt an der
Hauptstraße gelegen hätte, hätte ich dich auch nicht
gefunden. Aber ich dachte mir halt, wenn es dein
Elternhaus ist, dann muss es doch ein älteres Haus
sein, und vielleicht auch schon in der Generation
davor erworben, und wenn du eben alleine hier drin
wohnst, dann wird es wohl eher auch ein kleineres
Haus sein...“ Ein zärtliches, nicht mehr verächtlich
gemeintes, einfach nicht zu überwindendes
Misstrauen, eine unschlüssige Verlegenheit, auch eine
in ihrer Rührung befangene Scham bleiben in Deinen
Blicken zurück. „Was machst du jetzt? Wirst du jetzt
wegziehen?“ Die Szene reißt auf. Die Bilder
entweichen. Ich stütze mich mit meinen Armen auf.
Ich versuche mich an der Luft meines Zimmers, an
meiner eigenen Atmung zu beruhigen. Ich bleibe auf
dem Rücken liegen. Für einen Augenblick fühlt sich
der Kopf etwas leichter an. Nur solange ich die Augen
offen halte, kann ich die Bilder von mir fernhalten. Sie
fallen mir zu, ich drehe mich wieder auf die Seite,
versuche, mich aus den Bildern rauszudrehen. Sie
umfangen mich wieder . „Simon Geh weg!“. Ich stehe
vor der Tür, ich rufe Dich, versuche Dich, zu
besänftigen. Du machst mir nicht auf. Du öffnest die
Tür, aber nur einen Spalt. Du lässt mich nicht rein. Du
lässt mich nicht reden. „Aber Dana, du kennst mich
doch, tu doch bitte jetzt vor deinem Nachbarn nicht
so, als ob du nicht genau wüßtest, wer ich bin.“ „Simon Geh weg!“ Ich höre Deine Stimme, ich höre
Stimmen, sie mischen sich unter Deine Worte. Ich
sitze wieder am Tisch. Ich erkenne niemanden, ich
verstehe die Worte nicht, aber Stimmen reden auf
mich ein, brennen sich in mich ein. Jemand bohrt mir
eine glühenden Eisenstab ins Hirn. „Du drängst dich
den Menschen immer auf!“: aus den Stimmen löst sich
der Ton meines Vaters, aber ich sehe ihn im trüben
Schatten nicht. Nur seine Blicke brennen durch die
das trübe Dunkle, irgendwo in der Tiefe, irgendwo in
der Tiefe des Raumes sehe ich den Eßtisch, in der
alten Küche, der Tisch direkt an der Wand – ich stütze
mich wieder auf. „Simon geh weg!“
Ich stütze meinen Kopf auf meine Hände; meine
Ellenborgen stützen sich auf die Theke. Ich versuche
mich an der beheiztem Wärme, dem verzogenen
Rauch vom Vorabend zu beruhigen. Ich stehe auf und
schau von unten durch die Galerie. Kurz vorher bist
Du, so gegen halb eins, ins Lokal gekommen, obwohl
Du eigentlich erst abends um neun kommen wolltest.
Das Geländer liegt auf Deinem Gesicht. Mir ist’s, als
sähe ich zwischen jedem Geländerstab Dein Gesicht.
Abscheu, Verachtung düstert durch die Stäbe. Durch
den verzogenen Rauch schimmert die Feuchtigkeit
Deiner Haut, im Schatten Deiner Blicke. Unter der
furchtlosen Entschlossenheit schimmert zarte
Verletzlichkeit durch: eine Verletzlichkeit, die sich
bemühen muss, sich nicht durch das unbewusste, leere
Öffnen der Lippen zu verraten. Da Du früher
gekommen bist, muss ich nicht weiter die Zeit
überwinden, bis Du später gekommen wärst. In dem
Moment, wo Du durch den roten Samtvorhang
hereinkommst, spüre ich die Zeit, die ich die ganze
Nacht überwinden musste: Du trittst in die Zeit ein,
die ich ungeduldig, angstvoll noch zu überwinden
habe, bis Du abends kommen würdest. Du trittst ein
in die Zeit, die ich noch so gerne vor mir
hergeschoben hätte, um in der Geborgenheit des noch
nicht Zurückgewiesenseins mir Deine Abneigung
weiterhin als Zuneigung hinstellen zu können, um
weiterhin auf Deine Worte hoffen zu können. Ich
habe Angst vor der Erwiderung meiner Worte: jetzt
muss ich den Augenblick bewältigen, den ich
eigentlich noch vor mir herschieben wollte. Ich
verkrafte das Fordern der Zeit nicht: Angst vor der
Gelegenheit, die ich ängstlich erwartend kaum
erwarten konnte: ich möchte so gerne noch die Worte
nachreichen, zu denen ich wieder nicht kommen
werde. Die Angst, sich der erhofften Gelegenheit
stellen zu müssen, nicht mehr in den Augenblick
eingreifen zu können, nicht mehr auf den nächsten
hoffen zu können: es wird keinen nächsten mehr
geben. Dann stehen Deine Blicke plötzlich vor mir,
gesenkt: Blicke, die ihre eigene Befangenheit und
Hilflosigkeit und Unentschiedenheit hinter Hass und
Entschlossenheit verstecken. Blicke, die mit ihrer
eigenen Verlegenheit, mit ihrer Überforderung nicht
zurechtkommen.
„Aber nur fünf Minuten!“
„Dana, ich…“
„Aber du kannst doch nicht vermummt um mein
Haus schleichen.“
„Aber Dana, ich war doch nicht vermummt. .. Ich
wollte dir keine Angst machen. Ich wollte doch nur..“
„Du bist einfach hinter mein Haus gegangen.“
„Aber du hast mich doch bestimmt erkannt. Ich hab
doch nur… weil alles dunkel war, weil ich sehen
wollte, ob überhaupt jemand da ist…“
„Du hättest ja rufen können, ob ich da bin… Du hast
eine Grenze überschritten!“
Du sprichst Deine Worte an Dir herunter.
„Und was mache ich jetzt mit den Geschenken? Ich
weiß natürlich nicht, ob du sie jetzt nach alldem noch
haben willst. Das Problem ist nur: es ist auch was für
Jana dabei.“
„Das musst du entscheiden!“
„Aber Dana, du musst doch selbst wissen, ob du die
Geschenke von mir annehmen möchtest. Das kann
ich doch nicht für dich entscheiden.“
„Dann nehme ich sie halt.“ Deine Hände greifen von
keinem Willen bewegt nach der Tüte, aber Deine
Blicke versuchen, zwischen den Geschenken und Dir
selbst meinen zu entgehen. Du presst die Lippen
zusammen. Sie halten unschlüssig-entschieden jene
Worte zurück, die Dein Gefallen an den Büchern
verraten würden. Deine Gestik verbittet sich die
Vertrautheit, die die Geschenke hilflos einfordern. Du
nimmst sie entgegen, aber nicht aus meinen Blicken.
Deine Hände greifen nach ihnen.
„Aber kann sein, dass ich sie wegschmeiße!“ Deine
Hände untergreifen sie und drücken sie mit dem Arm
fest an ihren Körper. Du nimmst Deine Tasche und
ziehst Deinen Schal fest.
„Aber du hast doch gesagt: fünf Minuten. Ich möchte
dir doch nur…“
„Das waren fünf Minuten!“
„Gibst du mir zu Verabschiedung wenigstens Deine
Hand?“
Unter Deinen Blicken, die Dein Hass starr an Dir
herabsenkt, liegt auf Deiner Unterlippe, wenn auch
unscharf, unter dem Schatten Deiner Blicke wieder
Deine verlegene Rührung. Unter der undeutbaren
Regung ruhen Deine Blicke zart, fast wehrlos in ihrem
eigenen Schatten auf Deinen Wangen. Was für eine
schöne Haut Du hast. Zum ersten Mal, Dana, sehe ich
Dich ohne Make up. Wie anmutig zart, seiden Deine
Haut in ihrem olivgelben Ton, im Schatten des vom
trüben Regen dunklen Lokals fast ein wenig violett
glänzt, wie unberührt Deine Haut glänzt. Unter ihrem
Glanz, in ihrem ganz bescheidenen, unberührten Ton
atmet Deine Erregung, aber unter dieser Erregung
ruht noch immer eine gewisse beschämte Rührung. In
Deinen Lippen, die Du beide ein wenig zurückziehst,
vergrämt sich Dein Stolz. Aber er leuchtet trotzdem
durch. Du streckst mir Deine Hand aus, aber als ich
sie fast greifen kann, ziehst Du sie wieder zurück. In
Deinen Augen lese ich Deine eigene Verwunderung
darüber, dass Du sie mir beinahe freimütig gegeben
hättest; den eigenen Schrecken über eine
Unbedachtheit: plötzlich wird Dir klar, dass der
Händedruck zur Verabschiedung nicht zu Deiner
Entrüstung passt. Die beschämte Rührung zieht sich
wieder hinter Deine Unerbittlichkeit zurück. Deine
Unerbittlichkeit verleugnet Deine Scham, Du
verleugnest Dich durch sie.
„Nein, ich geb‘ dir keine Hand. Ich ziehe jetzt weg.
Wir werden uns nie wieder sehen!“
ENTR’ACTE II
Der Morgen schiebt sich hinter den Sprossenfenstern
über die Gefächer dem Mittag entgegen. Das kühle
Licht der frühen Stunden: nur durch die Fenster spüre
ich seine Wärme. Die Tische und Stühle sind über
Winter zusammengebaut. Nur ein paar Tische stehen
noch frei im Hof. Die feuchte Luft saugt sich in das
Teakholz, das kühle Licht bleicht das Teakholz aus:
ein olivgelber Hauch; er versinkt in den Rillen. Die
aufgestapelten Tische geben den Blick auf den leeren
Hof frei. Er wirkt auf einmal so klein. Die Tische
geben den Blick frei auf die roten Bodenziegeln. Sie
liegen noch immer im Schatten des Hofes, später
schimmern sie weinrot unter dem feuchten hellen
Licht: das frühe Licht eines Märzmorgens, indem das
Licht des vergangenen Sommers durchscheint und
schon wieder an Kraft gewinnt.
„Bei dir noch alles in Ordnung? Ich mache mal die
Tür kurz auf, dass der Rauch ein bisschen rauszieht.“
Die Kärntnerin: sie ruft den Morgen in mir wach. Ihre
Stimme kündet von dem beginnenden Tag wie der
halbverzogene Rauch und die Stimmen der Fahrer, die
die Lieferung für den Tag reintragen.
„Ja, so weit. Und bei dir?“
„Morgen abend mach ich zusätzlich, dafür bekomme
ich dann den Montag frei.“
Ich entfalte eine der Zartbitter Schokotäfelchen: sie
hat mir eigens eine Untertasse nur mit
Schokotäfelchen gebracht. Über die Kaffeetasse breite
ich die Frankfurter Allgemeine aus und stecke mir eine
Brasil an. Der Rauch steigt in meine Gedanken auf:
„Wir werden uns nie wieder sehen!“
Nun ist es also schon einen Monat her, Dana.
Samstags drauf, also gleich am anderen Tag, ist
übrigens Jana vorbeigekommen.
„Jana, was denkst du jetzt über mich? Ich meine, du
hast doch damals zu mir gesagt, daß ich… ich
meine…ich wollte sie doch nur wiedersehen…“
„Ich glaube, das hatte zunächst mal gar nichts mit
deiner Person zu tun. Sie hätte sich wahrscheinlich
jedem anderen Mann gegenüber genau so verhalten.
Sie hat da halt schlechte Erfahrungen gemacht…“
„Ich weiß. Sie hat das mal erwähnt…aber ich hab halt
nicht geglaubt, daß sie vor mir… ich meine, sie kennt
mich doch…“
Aber das weißt Du ja…
Meine Gedanken verlieren sich im Rauch. Ich schaue
meine Gedanken in den Rauch. Er steigt vor meinen
Augen auf und mischt sich unter den Rauch, der noch
vom Abend vorher unter der Decke hängt, unter den
Lautsprechern: er legt sich über die Musik, die aus
ihnen spielt. Durch die Sprossenfenster schiebt sich
der Tag immer weiter über die Gefächer hinweg, das
Licht steigt immer höher zu den Firsten auf und fällt
zugleich immer tiefer in den Hof. Das Teakholz
schimmert feucht auf, die Bodenziegeln spiegeln die
Wärme. Ich schaue durch das Bistro nach vorne auf
den Markplatz. Die Lieferwagen geben den Blick auf
den Markt wieder frei. Vereinzelt durchqueren Leute
die stumme Öde, die in dem feuchten Licht eintaucht,
dessen gelbe Wärme die grauen Pflastersteine
überzieht: eine olivgelbe Wärme. Die Pflastersteine
spiegeln sie durch die Bodenfenster auf das
dunkelrustikale Parkett: sie bleichen die Dielen
hellbraun, cremeweiß auf. Lichtschatten liegen auf
dem Boden, das Holz wirft das Licht nach hinten, in
den Teil des Bistros, der eine Stufe erhöht liegt. Ein
Licht, das zu schwach ist, den Raum aufzuhellen, aber
ihn trotzdem erfüllt. Ein Hauch von olivgelbem Licht,
das sich unter den bräunlich-würzigen Rauch meiner
Brasil legt. Ein Hauch erfüllt von Rauch. Meine
Gedanken steigen in den Rauch auf, sie steigen in das
Licht auf: das Licht, das zu schwach ist, die Leere des
Raumes zu füllen. Zu schwach, um die Wangen des
Mönches glänzen zu lassen, der noch immer stolz
seine Flasche Fernet-Branca in seinen Armen hält.
Sein Stolz ist nicht mehr Dein Stolz.
Ich stehe auf und schaue in den Hof hinaus. Zwei der
großen Sonnenschirme sind noch aufgespannt, nur
dass sie jetzt in dem schwachen Licht kaum Schatten
werfen: einzelne Äste des Blauregens ragen über ihnen
in den Hof: sie sind noch bis in den Februar grün.
Und doch ruht in dem leichten Schatten unter ihnen
die Erinnerung als schwache Trübung. Einzelne
Kurven winden sich vorbei an gelben und roten
Verblendsteinen die Straße hinab ins Tal. Aber durch
die Trübung hindurch sehe ich nur die Gefächer, die
allmählich von hellem Schein überzogen werden. Die
Sonne geht auf den Bodenziegeln auf. Rote Ziegeln.
Ein Bergmannshaus. Unverputzt. Eine kleine Einfahrt,
leicht ansteigend, mit Gras überwachsen. „Simon, geh
weg!“ Die Märzsonne hebt sich über das Dach
hinweg, unterm Frost verkrustete Beete schimmern
silbrig in den blauen Morgen, die Märzsonne drängt
die Schatten des Hauses zurück auf die Fassade. Ich
sehe über das das Dach, ich sehe über die Dächer,
über die Ortschaft hinweg. Die Sonne schiebt sich
über die Gefächer auf die Firste zu. Das Teakholz
trocknet matt aus.
Was mache ich nun mit dem Brief? Er hat seinen
Grund verloren: ich empfinde ihn nicht mehr. Die
Wochen, die mich von Dir trennen, trennen mich
auch von meinen Gefühlen für Dich. Meine Gefühle
sprechen mich nicht mehr an, mein Wille ist mir fremd
geworden. Der Brief hat seine Nähe verloren. In
meiner Scham verliert der Brief seinen Sinn; seine
Worte beschämen mich. Ich besitze das unbedingte
Verlangen, die selbst auferlegte Verpflichtung nicht
mehr, mich erklären zu wollen. Ich schäme ich ein
wenig für mein Bedürfnis, mich Euch zu offenbaren:
mein Bedürfnis ist mir unangenehm. Ich schäme mich
für mein vergangenes Anliegen. Die Sätze haben ihre
Absicht verloren, sie beschäftigen mich nicht mehr.
Meine Erinnerungen beschäftigen mich nicht mehr.
Ich kann meine Gefühle nicht mehr in Anspruch
nehmen. In dem einfallenden Licht vergeht für einen
Augenblick meine Scham, in seiner Wärme liegt
Zuversicht... in dem Licht finde ich wieder zu meinen
Gefühlen zurück… einstige Gefühle… nachträgliche,
überdauerte Gefühle…
„Na, immer noch alles in Ordnung?“
„Ja. Was macht die Kleine?“
„Stell dir vor, die ist zu Hause, in der Heimat…Ist
nichts los heute morgen… ruhig…irgendwie total
ruhig“
Ich werde den Brief wohl nicht zu Ende schreiben,
abschicken kann ich ihn ja ohnehin nicht… aber der
Stolz über das bereits Geschriebene… rettet ihn für
einen Moment lang meiner Beschäftigung…
Meine Gedanken verlieren sich im Rauch. Ich schaue
meine Gedanken in den Rauch. Sie steigen vor meinen
Augen auf und mischen sich unter den Rauch, der sich
über die Musik legt. Das Licht, das flach über die
Pflastersteine durch die Bodenfenster hereinfällt,
weitet den Raum, weicht den Rauch auf, das Parkett
streckt sich in das Licht, das Licht bleicht das Parkett
hellbraun auf, es wärmt die Wände: breite, staubige
Streifen legen sich über die Bilder: die Wangen des
Mönches schimmern unbeteiligt auf: ein ferner,
vergangener Glanz, dem die Kraft fehlt, in dem keine
Erinnerung mehr ruht: das Licht, das den Tag in den
Raum drückt, dem die Kraft der Erinnerung fehlt; das
Licht, aus dem ich keine Erinnerung mehr sehen kann;
das Licht, das sich auf die Wände, auf die Stühle, auf
die Tische, auf das Parkett legt, auf denen zuletzt die
Erinnerungen ruhten: das Licht deckt sie zu. Ich
schaue auf die Glastür, die nach innen ins Bistro
offensteht, damit der Rauch abziehen kann, ich schaue
auf das Parkett: einzelne Züge, Blicke, Falten einer
weißen Bluse bewegen sich auf mich zu. Immer, wenn
ich versuche, Dein Gesicht im Raum festzuhalten,
lösen sich Deine Blicke auf, immer, wenn meine
Blicke versuchen, Deine Bluse festzuhalten, verlieren
die Falten ihre Tiefe, wird sie von dem Licht
durchlöscht, zu Deinen Schritten gehören keine
Blicke, zu Deinem Gesicht gehören keine Schritte. Für
einen Moment stehen Deine Blicke wieder vor mir,
aber ich sehe durch sie hindurch auf das graue, kühl
beschienene Pflaster, in der Tiefe Deines Gesichtes
liegt der leere Raum, das Licht, das den Raum weitet,
scheint durch Dein Gesicht hindurch. Der
Märzmorgen verleiht Dir keine Tiefe mehr: ein
Gesicht ohne Züge; das Licht zieht Deine Haut in sich
auf, zieht durch sie hindurch, die staubig, bleichen
Streifen werfen nur eine Ahnung von Dir in den
Raum. Die Jahreszeit kennt Dich nicht mehr: ich kann
Dich in ihrem Licht nicht fassen. Ich kann Deine
Züge und Blicke nicht mehr zusammenfügen: ich kann
das Licht nicht überwinden, ich kann das Licht nicht
durchbrechen: das Licht bleibt undurchdringbar leer.
Ich kann nicht mehr hinter das Licht blicken. Dem
Licht
fehlt
die
Kraft
der
Erinnerung.
Morgenscheinende Flut, die sich in blassem Licht über
die Wände legt, die sich über meine Erinnerungen legt,
die meine Erinnerung in trübes weiß, gelb ausmischt.
Meine Augen treffen Deine Bewegungen nicht mehr.
Ich kann meine Erinnerungen nicht mehr in den
Raum zwingen. Deine Beine schreiten unter der leeren
Flucht über das Parkett auf die Bodenfenster zu, Dein
Gesicht wird von Deiner Bluse getragen, aber immer,
wenn ich Dein Gesicht fassen will, verliere ich Deine
Beine. Das Licht durchflutet meine Erinnerungen. Ich
suche meine Erinnerungen auf den Bildern an Wand,
auf den Tischen, auf dem Parkett in der Wärme des
Morgens, der draußen kühl über den Pflastern aufgeht.
Ich komme die Stufen aus dem Bistro herunter.
„Herr Weber! Die, die Sie suchen, kommt nicht
mehr!..“
Die Chefin.
„Ich suche nur die Zeitung!“
Ich sitze wieder an meinem Tisch. Der Morgen hat
sich bis zu den Firsten vorgeschoben. Die Dächer
ruhen im Mittag. Meine Tasse ist leer. Das Licht legt
sich über meine Gefühle: es erleichtert mich; es befreit
mich. „Wir werden uns nie wieder sehen!“ Meine
Gedanken verlieren sich im Rauch. Ich schaue meine
Gedanken in den Rauch. Sie steigen vor meinen
Augen auf und mischen sich unter die Musik, der die
aus den Lautsprechern dringt…
DRITTER TEIL
Das Gemüsemesser schneidet sich in die Tomate,
halbiert sie, in zwei gleiche Teile, wie jeden Abend.
Das Messer wird geführt von Fingern, die das Messer
nicht mehr richtig greifen können, die sich selbst am
Heft festhalten und sich mit der Schneide in die
Tomate abstützen, sie leicht auseinanderdrücken.
Dick, fleckig, von der Bergluft ausgetrocknet, von dem
jahrelangen Graben in der Erde ausgelaugt und rissig
geworden, auch ein wenig verkratzt, aber gesund.
„Ißt du abends immer noch nur Gurken und
Tomaten?“
„Ja, es hat mir damals sehr geholfen. Nicht nur, dass
ich wieder abgenommen habe; es hat mir auch seelisch
geholfen. Irgendwie hat sich die Leichtigkeit des
frischen Gemüses, das Aroma der Petersilie an den
gesalzenen und gepfefferten Gurken, mit der sauren
Frische der ausgedrückten Zitrone immer auch auf
meine Stimmung übertragen; die Leichtigkeit, die ich
im Magen fühlte, fühlte ich dann auch im Kopf. Ich
meine, die Frische des Gemüses hatte etwas
Unverbrauchtes,
etwas
Ursprüngliches:
Das
Unverbrauchte und auch die Frische haben etwas
Unbelastetes, sie tragen die Gedanken zurück in die
Kindheit. Die Benommenheit, in der ich damals
Wochen und Monate durchlebte, schien von der
Frische, die ich im Mund hatte, von dem ätherischen
Öl, das sich aus der Petersilie löste und mir auf der
Zunge lag, irgendwie gelöst zu werden; jedenfalls für
einen Moment. Es lag sicherlich daran, dass ich diesen
Geschmack mit meiner Kindheit auf dem Land
verband. Damals, als es mir noch gut ging, oder als ich
zumindest noch nicht bemerkt habe, was...“
Ich ziehe den kleinen weißen Teller mit dem blauen
Rand aus dem Abtropftrockner, einen von den
Tellern, die ich nie einräume, weil ich sie ja ohnehin
ständig brauche.
„Aber ich spürte damals schon, dass ich, wenn
überhaupt, nur dort draußen, auf dem Land, mich
wenigstens für ein paar Tage annähernd so bewegen
durfte wie ich wollte“
„Haben deine Großeltern dich dann nicht so
kontrolliert?“„Jedenfalls nicht so sehr. Ich war ja den ganzen Tag
immer draußen im Garten bei meinem Opa..“
Jana dreht ihre nach hinten zusammengezogenen
Haare zu der kleinen Vitrine, wo auf dem obersten
Glasregalboden noch immer die vier Fotos aufgestellt
sind, auch das, wo ein bejahrter Mann, hinten auf der
Koppel, einen Handstand macht, und auch das mit
dem provisorischen Holzgrabschild, und nähert sich,
meinen Worten folgend, mit ihrem Empfinden einer
Person, die ihr zwar fremd, aber meinen Worten nach
längst vertraut ist, und der sie sich Jahr für Jahr durch
das immer neuerliche Betrachten der vier Bilder ein
Stück näher fühlt. Janas Hände rühren noch ein, zwei
Mal die Carbonarasoße um: auch ihre Hände sind
schwächer geworden, aber nicht so abgearbeitet wie
meine: nicht nur, weil sie noch immer vierzehn Jahre
jünger ist, sondern weil ihre Hände schreibende
Hände sind, vielmehr mehr als meine. Auf ihren
Händen liegt, mit den Jahren noch intensiver als
früher, der hautschimmernde Glanz eines Intellekts,
der so viele tief und vor allem ehrlich empfundene
Geschichten hervorgebracht hat, der uns ferne Länder
auf eine so verständnisvolle, einfühlsame Weise
nähergebracht hat, stets getragen von echter
Anteilnahme und tiefen Respekt gegenüber den
Menschen, über die ihre Finger schrieben. Auch ihre
Haut ist faltiger geworden, aber über den Falten liegt
eben jener Glanz ihrer Haut, aus der ihr Intellekt noch
immer so bewegt atmet. Meine Blicke fallen auf ihre
Fingerkuppen: jene Kuppen, die mit der Kraft ihres
Intellekts und der Bedachtsamkeit ihres Wesen all die
Jahre den Tasten ihres Laptops die Worte, die ihr
Intellekt sich erdacht hatte, anvertraut haben.
Dieselben Hände, die früher das Geschirrtuch
umgriffen und die Bestecke durchzogen, und mit
denen sie dann, mit der Zeit immer flinker und
wendiger die Bestecke in die Papierservietten gedreht
hat.
„Nun, er hat zwar vieles nicht mehr verstanden, vieles
passte einfach nicht mehr in seine Vorstellungen, aber
Du hast Dich auf ihn immer verlassen können. Er war
zwar stur, eingefahren, vielleicht auch etwas engstirnig,
vielleicht auch manchen Leuten gegenüber
voreingenommen, auch oft jähzornig, aber Du hast
Dich immer auf ihn verlassen können. Das sagen auch
heute noch alle von ihm, die ihn kannten und denen er
jede Minute seiner freien Zeit geschenkt hat.“
Jana schüttet das kochende Wasser ab und richtet zwei
Teller Nudel an. Ich nehme meinen Gurkensalat und
meine aufgeschnittene Tomate und Jana geht mit mit
den beiden Tellern Nudeln vor, hinter der kleinen Bar
vor, um den gemauerten Träger herum.
„Natürlich ist er auch oft ausgenutzt worden“
Meine Blicke bleiben an dem gemauerten Träger
hängen: Da ist er plötzlich wieder, der weinrote
Schimmer. Er überzieht ihn, rundet seine Kanten zu
einer Säule ab, und für einen Augenblick sehe ich
wieder den roten Deckenträger, der sich von dem
rustikalen Parkett abhebt und an dem entlang der
Blick zu den Stufen rauf ins Bistro führt. Janas Schritte
lassen sie, immer noch mit den Tellern in der Hand,
hinter ihm vortreten, eh sie innehalten: ihr
enganliegendes, zurückgezogenes Haar bleibt halb
hinter dem Träger zurück. Ungläubig dreht sie sich zu
mir herum. Aber jene Ungläubigkeit ist der Ausdruck
von einer beinahe bestehenden Gewissheit, die aber
verlegen
berührt
zurückgehalten
wird;
die
Ungläubigkeit ist kein Unglaube, sondern nur ein
erwartungsvolles Abwarten: aus ihren Augen leuchtet
eine zarte, lila zarte Rührung, getragen von der
freudigen Erregung, auch noch Jahre danach, nun,
nachdem ihre Haare ihren umbrabraunen Glanz an die
Vergänglichkeit abgegeben haben, mich mit ihrer
Erscheinung noch immer entzücken zu können. Ihre
Blicke lösen meine von dem Träger ab und ziehen sie
zu sich herüber. Und ihre Haut nimmt wieder jenen
weinroten Schimmer an, und sie haucht wieder ihr
zartes lila in den Raum. „Simon!“ So wie sie noch
immer mit ihren beiden Tellern vor der Anreiche
dasteht, stehe auch ich mit meinem Teller noch immer
dahinter. Und sie zieht ihre Eindrücke wieder in die
Tiefe ihrer Augenhöhlen in sich hinein, senkt ihre
Eindrücke an sich herab mit einer nach links innen
drehenden Bewegung ihres Kopfes; dann dreht sie ihn
wieder nach rechts und schaut sie unter ihren
Augendeckeln hindurch zögernd zu mir herüber, dann
zur Seite weg in den Winkel der Selbstvergewisserung,
in dem plötzlich Dana steht: von ihrer Wahrnehmung
werden Janas Blicke zur ihr rauf gelenkt. Dana ist jetzt
erst aus ihrem Zimmer runtergekommen. Sie hebt
ihren Kopf an, neigt ihn seitlich und schaut genußvoll
über ihre Brahmssche hinweg auf die angerichteten
Teller.
Später sitzen wir noch eine Weile zusammen.
„Jana, wie war das jetzt genau mit deiner Zeitung?“
Ich frage sie das jedes Jahr; nicht weil ich es mir nicht
mehr merken könnte, sondern weil ich es einfach
immer wieder hören möchte.
„Also...“
Janas Blicke empfangen, wie in alten Tagen, aus der
Tiefe ihrer Augenhöhlen ihre Erinnerungen, nur dass
sich mit den Jahren ihre Unbeirrbarkeit gegen ihre
Ungläubigkeit durchgesetzt hat und ihre Blicke, ihre
ganze Erscheinung von einem entspannten,
wohlbemessenen Selbstbewusstsein erfüllt sind.
„Also, ich glaube, sie haben meine Texte nie wirklich
geschätzt, aber ich habe sie halt immer wieder
überlistet. Ich habe mich immer genau an ihre
Vorgaben gehalten, aber eben nur scheinbar, der
äußeren Form nach. Aber unter der Unscheinbarkeit
meiner Worte habe ich meine Meinung doch immer
unmissverständlich und für jeden erkennbar
formuliert. Vielleicht wäre es auch nicht mehr lange
gut gegangen, bis ich dann den Reisebericht über die
Lausitz schreiben durfte. Das hat den Lesern dann so
gut gefallen, dass schließlich der Reiseverlag auf mich
zukam und mir angeboten hat, einen Band der neuen
Serie zu schreiben. Da fiel mir dann mein Tagebuch
wieder ein, und ich habe ihnen vorgeschlagen, mich
doch den Band über Amerika schreiben zu lassen. So
bin ich dann, Jahre danach, wieder an die Orte meiner
ersten großen Reise überhaupt gekommen“, und in
einem Ton, der von einem gewachsenen und
angemessenen Stolz getragen wird, ohne ihn nach
außen zu tragen, in dem Bewusstsein, über all die Jahre
ein sprachliche Erhabenheit erlangt zu haben, in der
sich die jahrzehntlange Suche nach immer neuen
Ausdrucksmöglichkeiten, aber auch die Erfahrung
eines bewegten Lebens ausdrücken, fügt sie hinzu: „
So habe ich all meine Erinnerungen wieder aufsuchen
können.“
Jana verzögert mit wartenden Blick ihre eigene Worte.
Sie glaubt, in meinen gläsernen Augen sehen zu
können, dass ich die Metonymie bemerkt habe, senkt
jedoch ihre Blicke sofort wieder etwas ungläubig unter
sich – unter meine Augendeckel herab, weil meine
Lippen ein ausbrechendes Grinsen nicht mehr
zurückhalten können. Sie schaut noch ungläubiger als
zuvor, leicht verunsichert hört sie ihre eigenen Worte
in sich hinein, für einen Augenblick traut sie ihren
eigenen Worten ihre Schlüssigkeit nicht mehr zu, und
schaut rüber zu Dana, in den Winkel der
Selbstvergewisserung, noch immer meine Worte
abwartend.
„Ich habe mir nur gerade vorgestellt, wie so ein
Mäuschen durch die Straßen von San Diego huscht!“
Jana zögert ihre Blicke eine Weile in den Raum hinein
und schaut mit dem Stolz ihres Alters und doch ein
wenig verlegen, dass sie immer noch das Mäuschen ist,
zu Dana rüber, die wieder ihren Kopf seitlich nach
oben neigt: in der Rundung ihrer Unterlippe liegt ein
behagliches Gefallen; weiß sie doch, dass mein
Entzücken auch ihr gilt, dass ich auch sie noch mit
den selben Augen sehe wie damals, im Lokal, und dass
mir auch ihre Erscheinung noch genau so lieb ist wie
früher.
Jana versucht, mir ihre Rührung zurückzugeben.
„Dafür hast du den Brief an uns geschrieben…“ Und
mit einem Lächeln, das sich nur an Eingeweihte
wendet: „… den Brief, den du nie abgeschickt hast…“
Ich schaue über meinen Handrücken hinweg auf mein
Buch zurück: das Buch, das mir ihre Freundschaft
gerettet und über die langen Jahre hinweg erhalten hat,
ohne das sie in diesem Moment vermutlich nicht bei
mir, in meiner Hütte, vor dem offenen Kamin sitzen
würden.
„… und du hast deinen Brahms gehabt. Ohne dich
hätte ich nie den Zugang zu seiner Musik gefunden;
jetzt lässt er mich nicht mehr los…“
„… so, wie er mich auch irgendwann mal nicht mehr
los gelassen hat.“
Ich schaue zu Dana rüber, um meine Rührung an sie
weiterzugeben.
„Ach, ja. Du kennst doch meine Geschichte!“
„Bitte, Dana!“
Sie hält ihren Rotwein in der Hand und schaut ihre
Erinnerungen in die mostige Tiefe des Glases.
„Als ich in Sidney ankam, hab erst mal wieder ganz
unten anfangen müssen. Aber es war halt doch was
ganz anderes. Es hat einfach viel mehr Spaß gemacht.
Und dann, na ja…“
Ihre Brahmssche gibt ein verlegenes Lächeln frei und
der Stolz auf das in jungen Jahren hart Erarbeitete
hebt ihre Oberlippe an, und in ihren Wangen spiegelt
sich die Sonne Australiens.
„Aber Dana, du weißt, dass ich immer auf deinen
unbeugsamen Willen und deine Durchsetzungskraft
vertraut habe, dass ich immer auf dich gezählt habe.
Ich wusste, dass du es eines Tages so weit bringen
würdest. Dein Hotel wird doch unter den ersten
Adressen dort gehandelt?“
„Ja, ja Simon!“
„Aber Dana?!“
Über ihren Wangen und ihrer Stirn öffnet sich
gelbweißes Licht, dass sich auch auf die im grauen
Schatten der Wolken versunkenen weißverputzten
Wände legt; in der frühabendlichen Märzsonne
erglühen ihre olivgelben Wangen noch verlegener;
noch stolzer, noch olivgelber: zum Abend ist es noch
mal schön geworden. Die Wolken reißen auf und
lassen breite, gelbweiße Streifen auf die Beete fallen.
Wir gehen hinaus in die etwas kühle Luft, aber vom
Boden her steigen schon die ersten Blütendüfte auf.
Jana bleibt nahe bei mir, und ich breche ihr nach
einander die ersten Triebe von Rosmarin, Thymian,
Lavendel, Pfefferminz und Bohnenkraut ab. Sie
zerreibt sie sich unter der Nase zwischen ihren
Fingern; sie kennt das schon. Ich breche sie ihr jedes
Jahr ab, aber so früh im Jahr gibt es halt noch nichts
anderes.
„Die Kartoffeln werde ich dieses Jahr dort drüben
setzen, den Salat hier herüber. Der ist dort letztes Jahr
nicht gut gegangen.“
Über den Gartenzaun legen zwei Schafe und meine
einzige Ziege ihre Köpfe. Ich versuche, meine eigene
Seligkeit in Janas Augen wiederzufinden – und sehe,
an ihr vorbei, ganz unten am Ende des Gartens, am
Hang Dana stehen: mit dem Rücken zu uns, schaut sie
hinab die Weite des Tales. Der Wind hebt ihr Haar an,
in immer stärkeren Wellen. In ihren Wellen, in jeder
ihrer Strähnen liegt die Weitläufigkeit der Welt, als ob
ihre Spitzen die Welt umschlossen, die Weite
Australiens, die sie in diesem Moment in die
unendliche Tiefe des Tals hineinschaut; nur dass ihr
dunkelblondes Haar mit den Jahren seinen goldenen
Ton verloren hat und nun hellblond ausgeblichen ist;
aber ihren seidigen Glanz haben sie behalten. Da steht
sie, ganz versunken in ihr langes Leben, das auch
hinter ihr schon liegt, ihre Sandalen in der Hand. Und
der Wind hebt ihr in leichten Wellen herabfallendes
Haar immer schneller an, wider und wieder, und lässt
es unbeschwert in der Luft stehen: ihr Haar öffnet sich
und legt sich, vom Wind getragen, über die Weite des
vor ihr liegenden Tals; und er hebt ihren sandfarbenen
Sweatrock an, der seinerseits die Schatten von ihren
olivgelben Beinen hebt. Jana schaut behutsam zu mir
herüber: sie spürt meine Ergriffenheit, und sie möchte
die Stille des Augenblicks nicht stören. In ihren Augen
spiegelt sich meine eigene Ergriffenheit: „Schau, Dana
hat immer noch ihre schönen Waden.“ Berührt von
meiner Entzückung, die in diesem Moment Dana gilt,
nimmt sie meine Entzückung mit ihren Blicken auf
und richtet sie mit ihren eigen Augen auf Dana, der sie
mein Entzücken gönnt: es ist auch ihr eigenes
Entzücken für ihre langjährige, beste und engste
Freundin. Aber Dana steht noch immer mit dem
Rücken zu uns, umweht von der Weltläufigkeit ihrer
Haare, scheinbar regungslos. Aber ich sehe unter den
sich ständig wieder aufwerfenden Haaren über ihre
Wangen hinweg, wie sich ihre Mundwinkel zu einem
Lächeln zusammenziehen, das unsichtbar ihre Wangen
umspielt und an ihren Schläfen entlang zu mir
herüberstrahlt. Dann dreht sie sich um, und ihre etwas
scharfen Augenbrauen tragen ihre Erhabenheit in die
späte Frühlingsonne.
Dana, selbst gerührt von ihrer eigenen Ausstrahlung,
in dem Bewusstsein, sich trotz ihres gesellschaftlichen
Aufstiegs jenes Ursprüngliche, Ungezwungene,
Unvoreingenommene und Weltoffene in ihrer Haltung
bewahrt zu haben, kommt auf uns zu, gegen den
Wind, den Wind im Gesicht, der ihr Haar erst fest an
die Schläfen andrückt und dann nach hinten wegweht;
der es hinter ihr anhebt und auffächert, wider und
wieder, und es gegen die Schritte, die sie auf uns
zumacht, beinahe in der Luft stehen lässt. So treten
ihre Füße mit ihren Sandalen in den Händen dem hier
oben noch etwas rauhen Frühlingswind entgegen, der
ihr mit jedem Schritt immer voller ins Gesicht bläst,
und auf ihren Lippen liegt ein ihrer selbst gewisser
Stolz, auch wenn sich die Brahmssche etwas ziert, und
auf ihren Augen liegt wie früher ein Schimmer von
Bescheidenheit und Selbstgenügsamkeit, aus dem ihr
unbeugsamer Wille leuchtet. Sie weiß, dass sie von sich
behaupten kann – dass die, Dir es ihr nicht neiden, es
auch von ihr sagen, dass auch ich es von ihr denke –
dass sie von sich behaupten kann, dass ihre
Weltgereistheit auch wirklich zu Weltgewandtheit
gereift ist: dass sie eine Frau von Welt ist, die es nicht
verschmäht, einmal im Jahr auf eine kleine Anhöhe in
den Bayerischen Alpen zu kommen und ein paar Tage
auf meiner kleinen Berghütte zu verbringen.
Ich gehe vor in die Hütte, bleibe aber im Eingang
stehen, und schaue zurück, wie die beiden sich kurz
anblicken und dann auf auch die Hütte zukommen.
Jana verzögert ihre Schritte ein Moment, ohne wirklich
stehen zu bleiben, unter dem Türsturz, und legt mir
ihre Hand auf die Schulter; dann tritt Dana in die Tür
und dreht sich unwillkürlich zur mir um: in der
Schmäle der Tür streift sie unwillkürlich mit ihrem
Rücken die gemauerte Zarge, und bleibt, vielleicht
sogar absichtsvoll, einen Moment lang an die Zarge
angelehnt in der Tür stehen, und mit einer leichten
Nachdrücklichkeit wirft sie ihren Kopf seitlich nach
oben und ihre Lippen formen ein bloßes „Na?“, ihr
Atem haucht es mir durch die immer noch kräftige,
abendkühle Brise zu. Ein bloßes „Na?“ wendet sich
mir, wendet sich der Weite der Almen und Gipfel zu,
ein bloßes „Na?“ erfüllt die Abgeschiedenheit der
Gebirgshöhe mit dem Ton von Weltgewandtheit,
Weltgereistheit, der den Hall der Herdenglocken
durchdringt.
Später sitzen wir noch bei offenem Kamin zusammen,
Dana auf dem Sofa ausgetreckt, in ihrem grauen
Schlafanzug mit der Kordel, in Decken eingewickelt,
Jana im Schneidersitz, mit einem Schälchen Tiramisu,
das sie genußvoll gabelt.
„Dana, Du bist jetzt 66?“
Sie zieht etwas beschämt ihre Brahmssche runter,
obwohl sie natürlich genau weiß, dass sie dazu keinen
Grund hat.
„Wie das doch passt?“
Dana schlägt bedeutungssuchend ihre Augendeckel
auf, und Jana führt ihre Gabel nur langsam zum
Mund, in der Ahnung der besonderen Bewandtnis
dieser Bemerkung, ohne sie jedoch zu kennen, ohne
sie sich erklären zu können. Ihre Blicke schauen in
sich selbst hinein und verharren in der Gespanntheit
der Erwartung.
„Ich meine, es passt von der Tonart. Das mit den 66
Jahren steht in F-Dur“, mit meinen Augen auf Dana
deutend, „und das mit den 64 Jahren in D-Dur; passt
also zu dir, Jana.“
Dana hebt ihre Blicke über ihre vor Rührung
glänzenden olivgelben Wangen, die in dem alternden
Antlitz noch immer aus der Tiefe ihrer Erhöhung glatt
schimmern, hinaus zum Tisch und greift in die Chips.
Ich gebe meine Rührung an Jana weiter und fange
plötzlich wieder an, in mich hineinzulächeln. Janas
Blicke halten sich an ihren Intellekt, der ihr verrät,
dass mein Lächeln wohl wieder denselben Grund
haben muss wie zuvor. Ihre Rührung eilt meinen
Worten voraus, ihr erwiderndes Lächeln nimmt
meinem Lächeln die Hemmung:
„Es Mäuschen!“
Ihre Blicke schämen sich ihrer Rührung.
„Aber Jana, gewinnt nicht das Gesicht durch sein
Alter erst seinen wahren Ausdruck?“
Jana senkt ihre Blicke ungläubig an sich herab und
dreht sie zu Dana rüber, während ihre Lippen ein
vorsichtiges Lächeln durchlassen, das sich seiner selbst
nicht ganz sicher ist und nicht abschätzen kann, ob es
meinen Worten Glauben schenken kann. Zweifel, die
ihr Respekt und eine gewisse Ahnung zurückhalten.
„Man sagt ja nicht umsonst, dass jemand durch sein
Leben gezeichnet ist…“
Ungläubige Verlegenheit liegt auch in Danas Lächeln.
„Das wird ja immer toller..“
„Nein, im Ernst: werden wir nicht, und werdet nicht
vor allem ihr Frauen von klein auf in eurer
Selbstwahrnehmung und eurem ganzen Empfinden
vom Wahn der ewigen Jugend und der
Schönheitsindustrie manipuliert und unter Druck
gesetzt. Jahre lang hastet ihr eurem Geburtstag
hinterher, und nun seid ihr doch alt geworden, ohne
dass ihr es aufhalten konntet und fühlt euch um eine
unbeschwerte Jugend betrogen..“
Betretene Stille.
„Hab ihr euch mal überlegt, wie es wäre, wenn wir als
alte Menschen geboren würden und immer jünger
würden?“
„Ach, du meinst, dass uns unsere Jugend bis zum
Schluss aufgespart würde? Das Schönste zum
Schluss?“
„Nein, ich meine: wie schon gesagt, der Mensch wird
doch von seinem Leben gezeichnet. Ich will damit
sagen, dass die Gesichtszüge erst im Alter, sagen wir
ab vierzig, allmählich hervortreten, und diese
Gesichtszüge eben auch den Charakterzügen
entsprechen oder zumindest zu ihnen hinzutreten. Ich
meine, dass aus ihnen die Charakterzüge überhaupt
erst richtig hervortreten. Ich meine, wir sind doch in
jungen Jahren noch viel zu sehr damit beschäftigt, zu
uns selbst zu finden, und außerdem fehlt uns doch die
Erfahrung, um zu den Eigenarten eines Menschen
wirklich vorzudringen. Und die undifferenziert gleiche,
glatte, junge Haut deckt die Charakterzüge zu.“
„Und du meinst, wenn wir uns erst am Ende unseres
Lebens, das als alte Menschen begonnen hat, für
einander entscheiden, dass wir dann besser zueinander
finden, weil wir uns unserer Entscheidung für den
anderen viel sicherer sein könnten?“
„Ja.“
„Also verlieben wir uns dann erst am Ende unseres
Lebens, wenn wir endlich jung sind?“
„Nein, wieso denn? Die Reize, ich meine, das, was
einem an dem anderen anzieht, geht doch nicht
verloren. Aber die Reize, die Sinnlichkeit der Züge
bekommen im Alter mehr Charakter. In den
Zügen…“
„…in den Falten!...“ Über die Brahmssche traut sich
ein Lächeln, in dem Danas Behaglichkeit ihre
Beschämung bewältigt.
„… in den Zügen des alternden Gesichtes leuchten
doch die Augen noch viel tiefer und das Lächeln wirkt
doch viel voller in der Tiefe…“
„… der Falten!“
Verlegene Stille, Blicke, die sich für ihre Rührung
schämen. Blicke, die ihre Anschauung, die ihre
Erziehung nicht überwinden können.
„Ich meine, ich schaue euch doch auch noch gerne
an.“
„Ja. Aber du schaust uns durch die Bilder von früher
an!“
„Nein, ich sehe euch durch die Bilder von heute in
jungen Jahren vor mir stehen.“
„Aber das ist doch dasselbe!“
„Nein.… Natürlich sehe ich euch noch vor mir, so wie
ihr damals vor mir standet. Aber ich sehe euch jetzt, in
diesem Moment, ich erkenne eure Züge von damals
nur wieder, aber in eurem heutigen Anblick. Sie treten
jetzt erst richtig hervor, erst unter der müden Haut,
treten doch die Züge des Gesichtes so richtig hervor,
und die Falten sind Ausdruck all dessen, was ihr erlebt
habt und euch geprägt hat. Man könnte vielleicht auch
sagen, die Falten sind die eigentlichen Charakterzüge,
aber
im
unmittelbar
visuellen
Sinn,
im
ursprünglichsten Sinn des Wortes: durch sie erhält das
Gesicht erst seine Züge, sein unverwechselbares
Wesen. So lange wir noch glatte Haut haben, sind wir
doch kaum von einander zu unterscheiden…“
„Ja, ja…“ Dana greift wieder zu den Chips.
„Dana?“
„Ja?“ Ihr Haar fällt etwas schwer, zufällig, an ihren
Wangen herab und legt sich an ihren Schultern in
leichten Wellen auf ihren grauen Schlafanzug mit der
Kordel, unter den Falten auf der Stirn schimmert im
Widerschein des Kaminfeuers die Wärme des Raumes,
in der Feuchtigkeit ihrer Haut schimmert der Schweiß
einer jungen, starken Frau, die ihren Beruf erlernt hat.
Aus den eingefallenen Augenhöhlen, unter den etwas
müden Lidern, lösen sich ihre Blicke, aufgehoben in
der Wärme des Kamins, aufgehangen in der Tiefe des
Raumes, sie durchdringen das Flackern des Kamins,
das von den Sandsteinwänden zurückgeworfen wird,
sie ergreifen mich, die überlegene Kraft dessen, der
seinen Beruf gelernt hat, durchdringt mich, der Strahl
erhabener Gewichtigkeit, umgeben von der
unendlichen Tiefe ihrer Augäpfel. Der Glanz ihrer
Augen hebt sich allmählich vom Dunst des stehenden
Rauches ab und durchdringt ihn, strahlt durch ihn
hindurch, begrenzt durch ihre scharfen Augenbrauen,
sie umreißen ihr Gesicht, das im Widerschein der
bräunlich gelben Wände an ihren Schläfen und
Wangen verfließt, und spiegeln die Stärke einer jungen
und dabei so souveränen Frau, auf deren Stirn der
Schweiß ihres Selbstvertrauens schimmert, getragen
von der bedeutungsvollen Schwere ihrer Schritte; auf
ihrer Unterlippe liegt der bescheidene Stolz einer
reifen Frau, deren Alter ihr ihre Züge zum zweiten
Mal verleiht, nur abgeklärter; auf ihrer Unterlippe ruht
ihr Stolz, und auf ihrer Stirn atmet die Erleichterung
des Erfolgs.
„Simon?!“
„Ich hab dich grad wieder durchs Bistro gehen sehen.“
„Ja, ja…also doch die Bilder von früher“ –
Und Jana: „Du schaust uns doch nur in der
Erinnerung an damals an…“
„Nein, es ist umgekehrt. Euer Anblick lässt mich unter
eurer Haut die Gesichter von damals sehen, aber es
sind eure Gesichter, so wie ihr mir jetzt
gegenübersitzt. Es ist wirklich eine Frage der
Erziehung,
ich
meine
jetzt
der
gesamtgesellschaftlichen Erziehung, dass wir, oder
dass vor allem ihr Frauen glauben lernt, dass
Attraktivität eine Frage des Alters sei; eine Frage von
glatter Haut, von Peeling, Sonnenstudios und so fort.
Diese Vorstellung wird euch doch schon durch die
Bebilderung von Grimm-Märchen untergeschoben: so
lernt ihr doch schon als kleine Mädchen, wie eine
Frau, die akzeptiert sein möchte, auszusehen hat: eben
wie eine Prinzessin. Und ganz nebenbei lernt man
auch noch, natürlich unbewusst, dass alte Frauen
schlecht, gemein und häßlich sind: eben Hexen…“
Ich zögere einen Augenblick in ihrem ungläubigen
Staunen.
„So, wie ihr morgens aufwacht, noch bevor ihr euch
gekämmt habt und geschminkt, das seid ihr. Und das
müsst ihr nach außen tragen.“
Irritierte Stille.
Jana unterbricht die Stille. „Wie war das nun mit dem
Brahms?“
„Nun, Brahms musste als kleiner Junge schon abends
in den Hafenkneipen von Hamburg, halt in gewissen
Etablissements, Klavier spielen: zur Erheiterung, und
sagen wir es ganz direkt, zu Stimulierung der
Matrosen, die nach langer Fahrt hier ihre Ablenkung
und, na ja, halt ihre Befriedigung suchten. Das heißt,
es waren eben immer auch die entsprechenden Damen
zu Gegend. Nun könnt Ihr Euch leicht vorstellen, wie
die Leute von der See mit ihnen umgingen, und da
blieb es eben nicht aus, dass sich die Damen ihrerseits
dem heranwachsenden Jungen mit seinen blonden
Locken annäherten und wohl auch wegen seines so
zartfühligen Klavierspiels, sich von seiner sanften,
jugendlichen, fast noch kindlichen Ausstrahlung
ihrerseits erregen ließen. Sie hofften, von ihm, von
dem sie in seiner kindlichen Arglosigkeit keine
Grobheiten zu befürchten hatten, die Zärtlichkeit zu
bekommen, die sie von den Matrosen nicht bekamen;
von ihm begehrten sie die Zuneigung und die
Zärtlichkeit, die sie bei ihren Freiern nicht finden
konnten, die ihnen sonst verwehrt blieb. Brahms hat
deshalb in jungen Jahren körperliche Berührung als
etwas sehr unangenehmes erfahren. Das verwehrte
ihm später den Zugang zu den Frauen, die zu denen er
sich hingezogen fühlte, die er eigentlich auch gerne
geliebt hätte. Man erklärt es sich damit, dass durch die
frühe Berührungen gegen seinen kindlichen Willen
sein eigenes, selbstbestimmtes Verlangen gebrochen
wurde
und
er
deswegen
allen
späteren
Bekanntschaften, die ja durchweg, wie man so sagt,
höhergestellte
Frauen
waren,
Frauen
aus
gesellschaftlich anerkannten Kreisen, aus dem Weg
ging, aus Scham vor dem gebrochenen, freien und
unbefangenen Verlangen. Psychologisch betrachtet, so
vermutet man, konnte er deswegen Zeit seines Lebens
immer nur noch auf Frauen zugehen, die es eben
gegen Geld machten; ganz einfach, weil man ja zu
ihnen nur deswegen geht und darum nicht auf sie
zugehen muss. Weil ihm dort der erste Schritt, der ja
damals ausschließlich dem Mann vorbehalten war,
erspart blieb. Er brauchte bei Ihnen auch nicht darum
zu bitten, weil sie ja eben nur deswegen aufsuchte.
Aber er brauchte bei ihnen auch wiederum keine allzu
große Nähe zu befürchten, die ihm ja auch wieder
unangenehm gewesen wäre. Und er brauchte bei ihnen
auch keine Gefühle zu zeigen, wofür er sich ja
wiederum geschämt hätte, weil es ja verletzte Gefühle
gewesen wären. Deswegen hat er den Frauen der
hohen Gesellschaft immer nur seine Wertschätzung
und seine Entzückung spüren lassen, einfach durch
einen fast unterwürfigen, aufschauenden Umgang, der
immer auch etwas von kindlicher Scheu behielt. Seine
Wertschätzung hat er ihnen dann durch seine Musik
bewiesen. Aber stets, wenn sich eine Frau für ihn
ernsthaft interessierte, und derer waren viele, zumal
Brahms, anders als man es gängiger Weise von
Komponisten annimmt, schon zu Lebzeiten berühmt
und sehr wohlhabend war, hat er sich zurückgezogen
und das, vor allem anfänglich, damit begründet, nicht
genügend Erfolg zu haben…“
„Aber das muss doch mal irgend jemand aufgefallen
sein?“
„Ist es ja auch, das heißt zunächst hat man seine
eigenen Ausflüchte einfach gegen ihn verwendet. Bis
heute halten sich zumal die Männer unter den
Musikwissenschaftlern immer zugute, besonders tief in
seine Psyche vorgedrungen zu sein, indem sie ihn auf
jene eigentlich nur als Vorwände vorgebrachten
Erklärungen festlegen und ihn als feige abtun; als ob er
nur nicht bereit gewesen wäre, eheliche und elterliche
Verantwortung zu übernehmen.“
Ich schaue an mir herunter. Jana legt ihre Hand auf
meine Schulter und zerreibt meine Verbitterung
zwischen ihrer Hand und meinem Hemd...
„Aber Brahms hat aus seiner Scharm gegenüber den
höhergestellten Frauen nie Hass gegen sie entwickelt,
sondern sie stets hochgehalten und immer zu ihnen
gehalten und immer ihre Nähe gesucht. Wenn Brahms
zu Gesellschaften geladen wurde, hat er sein Kommen
stets davon abhängig gemacht, dass die jeweiligen
Herren der abendlichen Runde auch ihre Frauen
mitbringen würden. Und Brahms war nun wirklich
über jeden Zweifel erhaben. Und gerade deswegen,
gerade weil keiner seiner Freunde ihm hätte etwas
nachsagen können, verbargen sich hinter der
Bewunderung für seine Musik immer auch eine
gewisse Abneigung, zum Teil sogar sehr starke
Vorbehalte gegen seine Person. Dabei wollte er nur
nicht, dass die Ehefrauen zuhause zurückbleiben
mussten und von den abendlichen Gesellschaft
ausgeschlossen blieben, während ihre Männer sich
amüsierten und ihre Bildung pflegten. Für ihn war es
das höchste der Gefühle, wenn er zu später Stunde,
wenn die Runde etwas gemütlicher wurde, sich
zwischen die Frauen setzen durfte oder sie sich zu ihm
setzten und ihn fürsorglich, liebevoll, fast mütterlich in
die Arme nahmen und er sich an sie lehnen durfte.
Dann haben ihn oft die Tränen übermannt, aber er hat
natürlich auch dann nicht darüber gesprochen. Wenn
die Herren dann nach dem Essen in den Nebenraum
gingen und ihre Zigarren rauchten, hat er stets mit den
Damen des Hauses den Tisch abgeräumt und hat sich
bei ihnen in der Küche aufgehalten. Dann hat er,
wiederum mit beinahe kindlicher Unsicherheit alle
möglichen Ratschläge eingeholt, wie er beispielsweise
mit manchen der Briefe umgehen sollte, die seine
Bewunderer an ihn richteten und ihm mitunter die
abenteuerlichsten Angebote unterbreiteten.
Am bekanntesten wurde dann aber jener Fall, als er
der Frau eines der bedeutendsten Geigenvirtuosen
seiner Zeit in einem Brief offen und ehrlich bekannte,
dass er sie gegen jegliche Vorwürfe ihrer angeblichen
Untreue klar in Schutz nehme und hinzufügte, dass er
an der krankhaften Eifersucht seines Freundes längst
schon verzweifelt sei. Sie legte diesen Brief später vor
Gericht vor und gewann den Scheidungsprozeß, in
dem die Frau damals nach ihrem gesellschaftlichen
Stand ja noch ihre Unschuld zu beweisen hatte. Die
Brisanz bestand darin, dass jener Geiger ausgerechnet
derjenige war, der Brahms entdeckt und in jungen
Jahren finanziert hatte. Und er war Jude, was damals
schon ein heikles Thema war. Sie haben dann nie
wieder richtig zu einander gefunden, obwohl Brahms
nichts unversucht ließ. Aber in der Sache blieb Brahms
bei seiner Meinung, und er unterstützte die inzwischen
geschiedene Frau jahrelang, bis sie einen anderen
Mann kennenlernte, durch den sie dann abgesichert
war. Brahms empfand es als himmelschreiende
Ungerechtigkeit, dass sein ehemaliger Freund
seinerzeit seine Verlobte, wie das damals verlangt
wurde, dazu zwang, ihre Karriere aufzugeben, obwohl
sie sicherlich eine der bedeutendsten Altistinnen ihrer
Zeit geworden wäre, und sie nun einfach fallen ließ.
Dazu muss man wissen, dass eine ausgebildete Stimme
sich mit der Zeit, wenn sie nicht gefordert wird,
wieder zurückbildet. Mit über dreißig kann man dann
nicht mehr darauf zurückgreifen.“
Jana schaut mit ihrem Blicken einen Moment lang in
die Tiefe ihres Verstandes. „Ich habe mich am Anfang
immer etwas schwer getan mit einer gewissen
Herbheit, und vielleicht auch Sprödigkeit. Ich meine,
immer diese Schärfen in seiner Musik.“
„Ja, das haben die Leute damals auch so empfunden,
aber kaum jemand hat etwas geahnt.“
„Aber woher weißt du es dann?“- „Robert Haven
Schauffler war der erste Biograph, der die aus der
Wahrnehmung seiner Zeitgenossen merkwürdigen
Verhaltensweisen von Brahms nicht einfach nur
aufzählte, sonder sich ganz einfach fragte: Wenn dieser
Mensch, der einerseits so offensichtlich, gegen jeden
gesellschaftlichen Vorbehalt, sich zu den Frauen
bekannte, gleichzeitig selbst nie wirklich zu einer Frau
fand, dann musste da etwas vorgefallen sein. Und
einmal hat dann Brahms aus seinem unendlichen
inneren Schmerz und dem Empfinden von Versagen
und Verlust heraus sich wohl doch mal, wohl auch,
nachdem er etwas zu viel getrunken hatte, sich sehr
abfällig über eine Frau geäußert, über die gerade das
Gespräch aufkam. Das Wort muss so schändlich
gewesen sein, dass selbst Schauffler später behauptete,
sich nicht mehr genau daran erinnern zu können. Man
kann sich vorstellen, wie entsetzt die Umsitzenden
waren: solche Worte ausgerechnet aus dem Munde
von Brahms. Brahms verabschiedete sich vorzeitig aus
der abendlichen Gesellschaft und machte sich auf den
Heimweg. Schauffler folgte ihm. Da brach Brahms in
lautes Weinen aus und bat ihn, ihn noch auf einen
nächtlichen Spaziergang zu begleiten. Bei diesem
Spaziergang hat er dann zum ersten Mal darüber
gesprochen.
Aber er hat sich stets seinen Stolz bewahrt. Als er
später in Wien für kurze Zeit eine akademische Stelle
annahm, drang man auf ihn ein, er solle doch
aufhören, gewisse Etablissments aufzusuchen. Brahms
klagte sie bitterlich an: Wollt ihr mir das jetzt auch
noch nehmen? Ich kann es nur so. Und er hat sich
stets einen Jux daraus gemacht, gewisse Damen mit in
den Roten Igel zu nehmen oder wenn sie draußen
vorübergingen und an die Fensterscheibe klopften, sie
hereinzuwinken und sie zu Kaffee und Kuchen
einzuladen. Er hat sie dann den Kellnern und den
anderen Gästen und Freunden und Bekannten auch
immer mit Namen vorgestellt. Und er hat ihnen stets
was zugesteckt, auch denen, bei denen er nicht war.
Eduard Hitschmann hat das Thema später in den
Heften für psychoanalytische Bewegung aufgegriffen
und Schaufflers Betrachtungen vertieft.“
Betretene Stille.
„Ich meine, man kann nie zwei Situationen wirklich
miteinander vergleichen, aber seine Person hat mir
immer einen gewissen Halt gegeben. In seiner Musik
habe ich immer einen gewissen Ersatz für meine
eigene Verbitterung und meinen jahrelangen Verzicht
gefunden…“
Am anderen Tag bricht die Wolkendecke wieder den
ganzen Tag nicht auf. Erst abends schimmert wieder
die untergehende Frühlingssonne durch. Immer
wieder stehe ich den ganzen Tag über am Fenster und
schaue hinaus, in die Tiefe des Tales, schaue meine
Erinnerungen hinein, die unter dem Dunst, der sich in
der Tiefe hält, verborgen bleiben. Ich schaue meine
inneren Bilder hinein, aber ich kann sie nicht mehr
sehen. Sie treten nicht mehr aus dem Dunst heraus.
Nun, gegen Abend, liegt ein spätes Licht, das erste,
schon verdrängte Licht des schon vergessenen
Sommers, eines neuen Frühlings, das viel zu früh über
den noch frostigen leeren Beeten liegt, über der Alm
und fällt rötlichgelb in die Stube: in ihm verlieren
meine Gedanken ihre Erinnerungen; das Licht weitet
den Raum über die bedrückende Enge hinaus, das
Licht entlastet mich, das Licht befreit mich: es wärmt
mich. Die Bilder der Vergangenheit weiten sich im
Licht des späten Märztages, sie werden heller, sie
werden nicht mehr von der Qual junger Jahre
getragen: ich fühle die Bilder leichter: es sind
bewältigte Bilder. Ich schaue auf die Orte meiner
Kindheit: unbeteiligt.
Später, am Abend sitzen wir dann wieder beisammen.
Ich habe Panna cotta gereicht, und Jana erkennt es mir
mit einem dankbaren Lächeln an:
„Mein Leibgericht! Woher wusstest du es noch
gleich?“
„Weil du es damals auf die Stehtafel schreiben
musstest, die immer draußen auf der Terrasse
aufgestellt wurde. Der Schichtleiter hat dir die Kreide
in die Hand gedrückt und gesagt, dass du dir
irgendwas von der Dessertkarte aussuchen sollst. Da
ist dir dann die Panna cotta in die Augen gefallen. Und
dann hast du ganz angetan ausgerufen: Mein
Leibgericht!“
„Und das hast du dir dann gemerkt?“
„Ja, Jana!“
„Bis heute?“
„Ja, Jana! Das heißt, ich muss es mir ja immer nur von
einem Jahr zum nächsten merken. Ihr kommt ja jedes
Jahr wieder!“
Jana überlegt kurz.
„Ja, die Terrasse… und die Insel…Was ist eigentlich
aus der Chefin geworden?“
„Nun, als es zu Ende ging mit dem Lokal, war sie sehr
verbittert…“
Dana wirft ein. „Sie hatte ja nichts anderes. Es war ihr
Lebensinhalt.“
„Ja, und als es dann also aus war, ist sie wieder zurück
in den Norden gegangen“
„Ach, sie war nicht von hier?“
„Nein, sie kam aus dem Norden. Brahms übrigens
auch.“
Jana überlegt kurz: „Und Brahms war auch verbittert!“
Ich weiß natürlich genau, wie Jana es meint, aber ich
weiß keine Antwort, obwohl ich weiß, dass Janas
Hinweis in gewisser Weise eine Antwort darauf
vorgibt.
„Es ist so schwer, herauszufinden, was einen
Menschen dazu führt, dass er so wird, wie er ist… Ich
weiß nur, dass sie schon als kleines Mädchen immer
auf der Bierkiste hinter der Theke stand und Bier
gezapft hat… Das hat sie mir mal erzählt. Sie hatte
selbst immer solche Angst, entlassen zu werden… Ich
habe dann nie mehr was von ihr gehört. Bis ich es
dann eines Tages erfuhr…“
„Und der Schichtleiter?“
„Weiß ich nicht. Ich hab ihn nie mehr gesehen.“
Befangene Stille: jeder von uns sieht in den Augen des
anderen die eigenen Erinnerungen. „Aber jedenfalls ist
sie in den Norden zurückgegangen. Es gibt ja so ne
Theorie, dass die Menschen am Ende ihres Lebens
immer wieder an den Ort ihrer Geburt zurückgehen,
weil es ihnen dort am ehesten möglich ist, von ihrem
Leben Abschied zu nehmen.“
Wieder schauen Janas Blicke in sich hinein, sie will
eigentlich nur zum Ausdruck bringen, dass sie meine
Situation, die eben anders liegt, verstanden hat.
„Aber du bist doch hierher, in Deine Hütte gezogen!“
Kaum, dass sie es ausgesprochen hat, schaut sie
angstvoll, beschämt an sich herab, und schaut in den
Winkel der Selbstvergewisserung, in dem ich dieses
Mal sitze. Ich lächele ich ihr entschuldigend zu, ihre
erstarrten Blicke lösen sich in einem Lächeln auf, ein
Lächeln, aus dem die freudige Erleichterung spricht,
richtig verstanden worden zu sein, und der Dank
meiner wohlwollenden Aufnahme.
„Nun, ich möchte halt nicht mehr dahin zurück.“
Und unvermittelt fällt mir ein, wie ich, anstatt die
Antwort weiter auszuführen, einen Bezug zu ihnen
beiden herstellen kann; dass sie es sind, die mir durch
ihre Gegenwart eine Verbindung zwischen meiner
Zurückgezogenheit hier oben und den alten Tagen
herstellen; dass sie durch ihre Gegenwart, durch ihren
alljährlichen
Besuch
die
wenigen
schönen
Erinnerungen
an
meine
Geburtsstadt
hier
heraufbringen, die es mir ermöglichen, sie hier oben
für mich bewahren zu können, ohne die Stadt selbst
aufsuchen zu müssen, die ja auch all die anderen
Erinnerungen in mir wachriefe; die es mir
ermöglichen, nur den Teil der Erinnerungen zu
bewahren, der mir meine spät gefundene
Unbeschwertheit nicht gefährdet und sie mir nicht
mehr zerstören kann; ihre Gegenwart ermöglicht es
mir, eines Tages erfüllt von der Dankbarkeit für ihre
Freundschaft, für all das, was sie mir gegeben haben,
gehen zu können…
Von ihren fragenden Blicken verstört, führe ich meine
Gedanken zurück auf die Antwort, die ich mir
vorgenommen
hatte:
ein
bedeutungsvolles
Schmunzeln geht voraus: „Ich habe ja euch!“
Ich schenke Dana noch einen Glühwein ein und
mache für Jana noch eine heiße Schokolade.
Irgendwann wünschen wir uns, wie jeden Abend, eine
gute Nacht, und ich bleibe unten, in meinem Sessel
zurück. Aber ich merke, wie Jana immer wieder
verlegen, ein wenig schuldvoll zu mir zurückschaut;
ihre Blicke fragen mich ängstlich…
„Jana, es ist schon in Ordnung!“
Vor meinen Augen wird das Flackern des
Kaminfeuers trüber und dunkler, und ich sehe Jana
wieder vor mir: „Aber du bist doch hierher, in Deine
Hütte gezogen!“. Sie sagt es immer wieder zu mir,
irgendwann höre ich nur noch ihre Stimme, sie wird
umschlossen von ungefähren Gedanken, über ihre
Stimme legen sich Bilder entfernter Tage, sie
verschieben sich gegeneinander, geben nach, bis sie
von einer tiefen Wärme zusammengedrückt und unter
sich gedrückt werden… bis aus der Tiefe der dunklen
Wärme plötzlich eine Berührung aufsteigt, in die
Gedanken eintritt: „Hallo Simon, wie geht es dir?“ Ich
spüre Danas Hand noch an meinem Arm, während sie
schon zum Tisch rübergeht. „Das Frühstück ist fertig.
Wir haben schon alles fertig gemacht!“ Dana geht zum
Tisch, wo Jana gerade fertig gedeckt hat. Jana winkt
mir zu, und Dana dreht sich, Janas Händen folgend,
nach mir um. Nach vielen Tagen endlich wieder ein
richtiger Frühlingsmorgen, der das Licht hell in die
Hütte einfallen lässt, das Jana und Dana erleuchtet:
hell legt sich die das Licht auf Janas blaue Strickjacke,
steigt über den weißen Blusenkragen. Ihre blaue Jeans
steht noch im Schatten, den die Fensterbank in der
geringen Neigung der Sonne wirft. Dana, ihren roten
Pulli über die Schultern zusammengebunden, tritt von
mir weg gerade in das Licht ein. Mit meinem Willen
folge ich ihrem Winken und sehe mich schon auf den
Tisch zugehen, aber meine Bewegungen folgen
meinem Willen nicht mehr; ich merke, dass ich immer
noch in meinem Sessel sitze. Janas Hände winken mir
noch immer zu, aber sie bleiben plötzlich in der Luft
stehen. Beide, auch Dana, scheinen sich vom Boden
zu lösen, sie verschwimmen, weichen auf, ich fühle
mich nach hinten weggezogen, sie entfliehen meinen
Blicken. An ihren Lippen sehe ich, wie sie meinen
Namen rufen, aber ich höre es nicht mehr. Sie
kommen auf mich zu und beugen sich über mich. Ich
schaue in ihre Augen, immer tiefer, ihre Blicke dehnen
sich immer weiter, bis sie nach hinten aufreißen;
dahinter liegt nur noch unendlich helles Licht. Es ist
ein warmes Licht: ein olivgelbes Licht, erfüllt von zart
gehauchtem Lila.