3 Rätsel um Napoleon

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3 Rätsel um Napoleon
3 Rätsel um Napoleon
Dies ist ein Scan des o.g. Jugendbuchs von Kurt Miethke, erschienen 1952 im
Kreuz-Verlag Stuttgart. Nur zu Vorlese- und Erzählzwecken in der Jungschar
gedacht – und zu sonst nichts!
I ..............................................................................................................................................................2
II.............................................................................................................................................................3
III ...........................................................................................................................................................4
IV ...........................................................................................................................................................6
V ............................................................................................................................................................8
VI ...........................................................................................................................................................9
VII........................................................................................................................................................11
VIII ......................................................................................................................................................13
IX .........................................................................................................................................................15
X ..........................................................................................................................................................17
XI .........................................................................................................................................................19
XII........................................................................................................................................................21
XIII ......................................................................................................................................................25
XIV ......................................................................................................................................................28
XV........................................................................................................................................................32
XVI ......................................................................................................................................................35
XVII.....................................................................................................................................................37
XVIII....................................................................................................................................................40
XIX ......................................................................................................................................................43
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I
Edu sah zum Fenster hinaus und sagte: „Es passiert aber auch gar nichts.“
Tante Tine ließ das Messer sinken. Sie sah so drollig aus wie immer. Sie trug auf dem Kopfe ihren
schwarzen Hut, den sie nur nachts ablegte, um ihn mit einer altmodischen Haube zu vertauschen. Ihre
langen Ohrgehänge baumelten und gaben ein kleines Klirren von sich.
Auf den Knien hatte Tante Tine eine Emailleschüssel mit Kartoffeln. Sie hielt mit Schälen inne und fragte: „Was soll denn passieren? Was willst du denn? Was wünschst du dir denn?“
Edu wandte den Kopf nicht, als er antwortete: „Ach, irgendwas. Sieh doch nur mal zum Fenster hinaus was ist denn schon los? Ein paar Maikäfer hängen in den Bäumen. Sonst ist die ganze Straße leer.“
„Bis auf den Briefträger“, sagte Tante Tine.
„Der Briefträger! Aber der Briefträger bringt doch kein Leben in die Bude. Es ist alles so langweilig,
Tante Tine.“
„Na ja“, war die Antwort, „du bist eben jung, sechzehn, kein Wunder. Da will man was erleben. Wenn
man älter wird - übrigens, der kommt ja zu uns.“
„Wer?“
„Na, der Briefträger. Was hat er denn in der Hand? Einen Trauerbrief? Lauf mal schnell und hol ihn ab.
Ach du meine Güte, wer mag denn da gestorben sein?“
Sie nahm die Emailleschüssel von der Schürze und ging staksig hinter Edu her. Sie riss ihm den Brief
weg und knurrte: „Meine Brille! Hol sofort meine Lesebrille. Sie liegt - warte mal - ich glaube, unter den
Kartoffeln.“
So war es auch. Tante Tine stülpte sich hastig die Gläser auf die Nase, riss den Brief auf, überflog ihn und
schrie: „Da haben wir's! Und du behauptest, es passiere nie was.“ Sie setzte sich mit einem Knall in den
Schaukelstuhl und wippte ihn heftig hin und her. „Dein Onkel ist gestorben“, sagte sie und wühlte in ihrer
Schürzentasche herum. „Wo ist mein Taschentuch? Sieh mal im Schreibtisch nach, in der oberen Schublade.“
Als Edu ihr das Taschentuch gebracht hatte, weinte Tante Tine. „Dein guter Onkel.“
„Welcher denn? Herr Schramm? Oder der Professor? Oder Bubu?“ fragte der Junge.
„Nein, der beste von allen“, seufzte die Tante und tupfte sich die Augen ab. „Onkel Paul, der mit dem
Napoleonfimmel. Der nichts von uns wissen wollte.“
„Ach so, weil du deinen Dackel Napoleon getauft hast. Da war er ja so wütend drüber.“
„Er war aber doch der beste von allen deinen Onkels. Der einzige, der. . .“ Tante Tine hob sich den Brief
vor die Nase: „Hör nur mal, was er da schreibt.“
„Wer er? Willst du etwa sagen, Tine, dass er seine eigene Traueranzeige geschickt hat?“
„Ja. So was kriegt eben nur Onkel Paul fertig.“
„Kriegte“, verbesserte Edu.
„Wie? Ach so, er ist ja tot. Nun hör mal zu. Er schreibt: ‚Meinen lieben Verwandten und Freunden teile
ich hierdurch ergebenst mit, dass ich am 26. Mai dieses Jahres in die Elysäischen Gefilde eingegangen
bin’.“
„Aber Tante, das ist doch unmöglich. Wie konnte er denn wissen, wann er ...“
„Das Ding hat er vorher drucken lassen, aber ohne Datum, das hat jemand reingeschrieben. Nun höre
weiter:
‚Da wir ja nie mehr miteinander etwas zu tun gehabt haben, wird Euer Schmerz nicht allzu groß sein. Das
nehme ich Euch nicht übel, ich habe mich ja auch nicht um Euch gekümmert. Die Beerdigung findet am
29. Mai im Garten meines Landhauses 'Austerlitz' statt.
Ich weiß, dass Ihr vollzählig erscheinen werdet, denn im Anschluss daran findet die Testamentseröffnung
statt. Schade, dass ich nicht dabei sein kann, denn ich möchte sehr gerne Eure Gesichter sehen, wenn Ihr
die Bedingungen hört.
Als Erben kommen v i e l l e i c h t in Frage meine Schwester Emmi Schramm, mein Bruder Egon Biene,
mein Bruder Bruno, auch Bubu genannt, und mein Neffe Edu Biene.
Jeder der vier Genannten, die v i e l l e i c h t etwas erben werden, hat das Recht, sich einen Berater oder
eine Beraterin mitzubringen, nach eigener Wahl. Da ich nicht viel von der Gescheitheit meiner lieben
Anverwandten halte, empfehle ich, einen k l u g e n Berater oder eine k l u g e Beraterin mitzubringen,
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denn sonst bleibt es bei dem Vielleicht. Und so erwarte ich Euch denn alle pünktlich. Bringt etwas Grips
mit; denn den habt Ihr nötig.
Mit den besten Empfehlungen aus den Elysäischen Feldern Paul Biene’“
Die Tante legte den Brief auf den Schreibtisch. Sie stieß ein Knurren aus. „Es passiert nie was, hast du
behauptet. Ich kann nur sagen: Mir reicht's.“
Dann nahm sie den Umschlag auf, hob ihn an die Nase und stellte fest: „Übrigens ist der Brief an dich.
Da steht es: Herrn Eduard Biene.“
„Steht da - 'Herrn'?“ fragte Edu.
„Ja, und das heißt, dass du erben wirst.“
„Vielleicht, Tine.“
„Sag nicht immer Tine zu mir. Benimm dich anständig. Und außerdem - was heißt hier vielleicht? Natürlich erbst du!“
„Aber wieso denn? An die Erbschaft scheinen allerhand Bedingungen geknüpft zu sein. Wer weiß, ob ich
die erfüllen kann?“
„Junge“, schnaufte die Tante, „setz dir mal keine Mucken in den Kopf. Das hängt doch alles davon ab, ob
du dir einen klugen Begleiter oder eine kluge Begleiterin wählst. Und natürlich wählst du…“
„Na, wen denn, Tine?“
„Junge, du Lümmel, du willst mich auf die Schippe nehmen. Nur eine Person kommt in Frage, und das
bin ich! Merk dir das! Du bist viel zu dumm, um gegen solche raffinierten Spitzbuben wie deine Onkels
und Tanten aufzukommen. Ich kenne die ganze Sippschaft. Oder willst du mich etwa nicht mitnehmen?
Sag's! Sag's sofort, und ich haue dir ein paar hinter die Löffel, dass es kracht!“
„Klar nehme ich dich mit, Tante Tine. Aber sag mir mal, warum du so scharf darauf bist, dabei zu sein?“
„Erstens mal, weil ich dich gern habe und dir helfen will. Und zweitens - hier in diesem Nest p a s s i e r t
ja nie was.“
„Siehste, Tine, nun gibst du es selber zu.“ Und Edu umarmte seine Tante so heftig, dass die Brille von
ihrer Nase rutschte. Aber das bemerkten sie alle beide nicht.
II
Sie hatten ein Abteil für sich. Tante Tine saß stocksteif auf ihrem Sitz und tat so, als ob sie häkelte. In
Wirklichkeit war sie in tiefes Nachdenken versunken.
Edu hatte ein Buch aufgeschlagen und tat so, als ob er darin läse. Es hieß 'Leben und Taten Napoleons'.
Er war bis Seite 19 gekommen, nun ging sein Blick über die vorübergleitende Frühlingslandschaft.
„Weißt du, Tante, erzähl mir doch noch ein bisschen von Onkel Paul. Wie sah er denn aus? Und was war
er überhaupt für ein Mensch?“
„Er sah klein und fett aus. Zeig mal dein Buch her.“
Sie blätterte hastig und tippte auf ein Bild des Kaisers Napoleon. „Genau so sah er aus. Er war ein Doppelgänger. Und so ist er zu seinem Fimmel gekommen.“
„Und nun erklär mir noch einmal genau den Fimmel.“
„Eines Tages entdeckte er seine Ähnlichkeit mit Napoleon, und da war es aus. Da packte es ihn. Er fing
an, sich für den Kaiser zu interessieren, kaufte sich Bücher über Bücher, die natürlich alle von Napoleon
handelten, und wusste bald besser Bescheid als der größte Gelehrte.“
„Na, na, Tante.”
„Doch. Das ist nun einmal so. Er hatte die Leidenschaft, er lebte sich förmlich in Napoleon ein, und die
Gelehrten haben eben meistens nur den Verstand. Verstehst du, was ich meine?“
„Ich glaube schon. Er spielte sich sozusagen in die Rolle Napoleons hinein, und…“
„- und er w u r d e Napoleon. Oder er bildete es sich ein. Er ließ sich seine Anzüge so ähnlich bauen, wie
der Kaiser sie getragen hatte, die altmodischsten und ulkigsten Dinger. Bloß damit er vorne in die Weste
zwei Finger stecken konnte wie sein großes Vorbild. Dann sprach er außerdem unaufhörlich Französisch.
Frau Semmel, das ist die Hausverwalterin, nannte er 'Duchesse', das heißt auf Deutsch Herzogin, aber das
weißt du ja selber. Und ihren Mann, den ollen Semmel, nannte er 'Marschall'. Außerdem kaufte er alles,
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was mit Napoleon irgendwas zu tun hatte. Bilder zum Beispiel in rauen Mengen. Einen Hut Napoleons,
den er angeblich in der Schlacht bei Waterloo getragen hatte - wann war die?“
„1814.“
„Ach, du grundgütiger Himmel. 1814 sagst du kaltlächelnd, und du, du willst Erbe werden? 1815 war die
Schlacht bei Waterloo, schäm dich.“
Edu schämte sich. „Und weiter“, drängte er.
„Und Schnupftabaksdosen, die ihm von Händlern als echt angeschmiert wurden. Unterschriften Napoleons unter Befehle. Einen Liebesbrief an Marie-Louise.“
„Wer war denn das?'
„Junge, Junge, du tötest mir den Nerv mit deiner Dummheit. Seine zweite Frau. Die erste hieß Josephine,
und von der hat er sich scheiden lassen. Napoleon natürlich. Dein Onkel Paul war nie verheiratet. Unter
anderem kaufte er auch eine Schildkröte.“
„Was wollte er denn damit?“
„Das war eine Schildkröte, die Napoleon auf Sankt Helena besessen hatte. Sie soll damals schon über
hundert Jahre alt gewesen sein, und da kannst du dir ausrechnen, wie alt das Vieh jetzt ist.“
„Können denn Schildkröten so alt werden, Tine?“
„Du s o l l s t doch nicht Tine zu mir sagen. Wo bleibt nur dein Respekt? Jawohl, Schildkröten können so
alt werden.“
„Ist sie jetzt noch da?“
„Weiß ich nicht. Als ich deinen Onkel Paul das letzte Mal besucht habe, war sie noch da. Er nannte sie
Petite. Obwohl sie gar nicht klein war. Sie war ein Riesentrumm, wie ein Schuhkasten so groß. Ich fragte
ihn, ob er sie nicht schlachten wolle, um mir eine echte Napoleon-Schildkröten-Suppe vorzusetzen.“
„Was sagte Onkel Paul dazu?“
„Erst überhaupt nichts. Er wurde puterrot im Gesicht vor Wut, dann steckte er seine zwei Finger in die
Weste, sah mich strafend an und sagte auf Französisch: 'Ah, Madame, wie ich Sie verachte.' Damit ließ er
mich stehen. Ganz habe ich es aber erst mit ihm verdorben, als ich meinen Dackel Napoleon getauft habe.
Fih, war er da böse! Keine Ehrfurcht, sagte er. Aber Humor, sagte ich. Jedenfalls war es seit der Zeit aus
zwischen uns.“
„Hm. Wenn Onkel Paul so viel Sachen gekauft hat, dann muss das ja sehr viel Geld verschlungen haben.“
„Hat es auch. Aber es waren Werte, verstehst du, Werte. Und immer, wenn das Geld wertlos wurde,
konnte Onkel Paul alle anderen auslachen. So dumm war das nicht mal.“
Der Zug hielt.
Die Tür wurde aufgerissen. Eine dicke Frau schob sich keuchend in das Abteil, ein kleiner Mann kletterte
mit den Koffern hinterher. Die dicke Frau sank schnaufend in einen Ecksitz und wischte sich das
schweißüberströmte Gesicht ab. Dann blickte sie auf, stierte Tante Tine an und sagte: „Nein.“
III
„Doch, liebe Emmi, wir sind es“, erklärte Tante Tine.
Edu sah sich die Frau an. Er schätzte sie auf zweieinhalb Zentner. Auf dem Kopfe trug sie einen Hut mit
einer einzigen, wippenden Feder, die in die Höhe stach. Edu erinnerte sich an die dicke Frau. Sie war
seine Tante Emmi, Schwester seines verstorbenen Vaters. Sie gehörte zu denen, die sich nie um das Waisenkind Edu gekümmert hatten, als er plötzlich allein dastand. Nur Tante Tine, die gar nicht seine richtige
Tante war, hatte ihn aufgenommen.
Die Dicke sah Edu aus Augen an, die unruhig in ihrem fettgepolsterten Gesicht flackerten: „Aber das ist
doch Edu. Nein, ist das eine -! Komm, lass dich küssen, mein liebes -!“ Sie streckte die Arme aus. Edu
gab ihr vorsichtig die Hand und zog sich schleunigst wieder in seine Ecke zurück.
„Und ich? Willst du mich nicht begrüßen?“ sagte eine Stimme. Ja, da stand Herr Schramm, Tante Emmis
Mann. Ein kleiner, grauer Herr. Grau die Haare, grau das Gesicht.
„Kennst du deinen Onkel nicht mehr? Wir müssen jetzt zusammenhalten, du wirst ja auch vielleicht Erbe
- hihi.“
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Edu erinnerte sich gut auch an diesen Onkel mit den Fischaugen
und seinem Sprachfehler. Er konnte in der Erregung kein „L“
sprechen und sagte stattdessen einfach „N“.
Aber Tante Emmi riss das Gespräch an sich: „Und wie geht es
dir, liebe Tine? Hat dich Edu mitgenommen als -? Sehr klug von
ihm, denn du bist doch immer die Klügste in unserer -. Lebst du
noch immer von deiner kleinen Pension und fütterst Edu mit -?“
Sie lachte hemmungslos. „Na, du bist ja schon immer eine
Christin gew - und denselben ollen Hut hast du auch noch.
Schade, dass du nicht als Erbin - ich hätte es dir ja so gegönnt, wo
du doch - Samuel, setz dich“, befahl sie ihrem Mann. Der setzte
sich.
„Warum setzt du - warum legst du nicht die Koffer in das -?“ Sie
deutete nach dem Gepäcknetz.
Samuel tat, wie ihm befohlen.
„Musst du mir dabei auf den Füßen herum -?“ kreischte Tante
Emmi. „Nimm dich doch ein bisschen in…“, ein Hustenanfall unterbrach den Satz, den sie wahrscheinlich nach ihrer Gewohnheit sowieso nicht zu Ende gebracht hätte.
Als der Anfall vorüber war, sagte sie strafend: „Du hättest mir ruhig auf die Schulter klopfen können,
aber du bist eben kein --- außerdem, warum liest du dein Buch nicht? Habe ich dir nicht gesagt, du sollst
dieses Buch ---?“
Samuel holte aus einer Tasche das Buch 'Leben und Taten Napoleons' hervor und begann gehorsam darin
zu lesen.
„Willst du nicht das Fenster--?“ fragte Tante Emmi. „Oder soll ich mich in diesem eisigen Windzug
vielleicht zu Tode - -? Und du, Edu, hast du auch schön brav deinen Napoleon studiert?“
Edu schwieg.
„Haha, Geheimnisse. Möchtest du ein Bonbon? Ich habe hier…“, und sie fischte aus ihrer Handtasche
eine klebrige Tüte heraus, die sie ihm hinreichte.
„Nein? Aber vielleicht rauchst du? Samuel, biete ihm eine Zigarette -- warum bist du so unauf -- Nein, du
rauchst nicht, Edu? Das ist brav. Du bist ein braver Junge, ganz wie dein Vater. Ach, dein armer Vaa…“
Und Tante Emmi brach in künstliche Tränen aus.
Edu war schwer beleidigt. Bonbons anzubieten! Er war doch kein Hosenmatz mehr. Und diese falsche
Rührseligkeit - püh! Er schlug sein Buch auf Seite 19 auf und zeigte auf diese Weise Tante Emmi die
kalte Schulter.
Wenn sie beleidigt war, so ließ sie es sich jedenfalls nicht merken. Sie wandte sich mit einem riesigen
Wortschwall an Tante Tine, zerkrachte Bonbons zwischen ihren Zähnen, hustete zwischendurch und war
die Freundlichkeit selbst.
„Tine, du gutes Mädchen“, sagte sie, „wir müssen zusammenhalten, ihr und wir. Wir haben doch schon
immer so viel füreinander übrig --. Und dieser Paul, ich will ja nicht Schlechtes über ihn - - aber das kann
ich dir versichern, der wird uns noch allerhand zu schaffen --. Wann wurde Napoleon Kaiser?“ zischte sie
plötzlich ihren Mann an.
„1805, liebe Emmi“, sagte der Mann, „aber du brauchst mich doch wirklich hier nicht wie einen Schuljungen auszufragen.“
Tante Emmi schien befriedigt. „Also, Tine, abgemacht, wir schließen einen Bund. Denn ich ahne, wie
gesagt, dass Paul - - ach, ich bin ja so neugierig auf das Testament - meinst du, dass wir - -?“
Tante Tine hatte bis jetzt kein Wort gesagt. Nun ruckte sie sich zurecht, dass ihre Ohrgehänge klirrten,
und sagte: „Meine teure Emmi, das könnte dir wohl so passen. Einen Bund! Mit mir! Seit Jahren hast du
dich nicht um mich gekümmert! Und um Edu auch nicht. Und jetzt willst du einen Bund mit uns schließen. Kommt nicht in die Tüte.“
Emmi hatte mit offenem Munde zugehört. Sie wurde bleich. Dann hustete sie. Ihr Mann klatschte ihr den
Rücken, dass es dröhnte. „Na gut“, sagte sie. „Dann erbt ihr eben nichts. Meinetwegen.“
Onkel Samuel räusperte sich und bemerkte: „Da hast du recht, liebe Emmi. Wir sind selber intelligent
genug.“ Dabei ließ er aus seinen Fischaugen einen Blick über Tine und Edu schweifen, rieb sich die
Hände und lächelte bösartig. „Außerdem kenne ich meinen Napoleon!“ fügte er hinzu.
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„Edu“, sagte Tante Tine, „wann war die Schlacht bei Waterloo?“
„1815“, sagte Edu. Und Tante Tine sah das andere Paar triumphierend an.
Tante Emmi verzog verächtlich das Gesicht: „Waterloo! Damit wollt ihr angeben? Das weiß doch jedes
Kind! Aber wie hieß denn die zweite Frau Napoleons? Hä?“
„Marie Louise“, sagte Edu mit bescheidener Miene.
Und Tante Emmi steckte sich wütend einen Bonbon in den Mund und zerbiss ihn krachend.
Edu aber war es nicht wohl. Er begriff langsam, dass er es mit ernstzunehmenden Gegnern zu tun haben
würde. Er öffnete sein Buch noch einmal auf Seite 19 und las bis Seite 57 durch. Das war, als der Zug in
der Station einlief, die ihr Endziel darstellte.
IV
Sie saßen um eine große, ovale Tafel vereint, alle die Leute, die v i e l l e i c h t erben würden, und bei
ihnen waren ihre Begleiter.
Edu sah sich um. Tante Tine saß stocksteif neben ihm und versuchte ein hochmütiges Gesicht zu machen,
aber ihre Augen waren gerötet, sie hatte bitter geweint, als man die sterbliche Hülle Onkel Pauls in das
Grab versenkt hatte. Die anderen hatten zwar auch geweint oder wenigstens so getan, Tante Emmi jedenfalls hatte krächzende Töne von sich gegeben, die wohl halb ein Schluchzen, halb ein Husten darstellen
sollten. Sie saß jetzt schnaufend neben ihrem Manne Samuel und flüsterte halblaut auf ihn ein.
Rechts neben Edu hatte Professor Egon Biene Platz genommen. Er hatte gleich nach der Beisetzung
seinen schwarzen Anzug aus- und einen anderen dafür angezogen. Onkel Egon trug einen Scheitel in der
Mitte des Kopfes, eine Wanderjacke zierte seine knochige Gestalt, an den Beinen hatte er kurze Hosen
und an den Füßen Sandalen. Onkel Egon war ein Naturapostel und machte kein Hehl daraus, im Gegenteil, er predigte jeden an, der es hören, aber auch jeden, der es nicht hören wollte. Er saß völlig hingegossen da und hielt die Augen geschlossen.
Onkel Bubu war das Gegenstück. Er trug einen hocheleganten Anzug, mit Seidentaschentuch, einen
silbergrauen Schlips, überhaupt sah er sehr vornehm aus. Er hatte ein Monokel ins Auge geklemmt und
ließ seine Blicke überlegen in die Runde gehen.
Neben ihm saß sein Begleiter Dr. Ang. Hut. Der hatte ein etwas verbissenes Gesicht, das seltsamste an
ihm waren seine Augen. Die Brauen waren so dünn, dass man sie kaum sah, die Augen selbst waren
wässrig, mit einem manchmal scheuen, furchtsamen und manchmal wieder mit einem frechen, gemeinen
Blick. Er trug Watte in den Ohren.
In einer Ecke des Zimmers saß das Pförtnerpaar Anton und Marie Semmel, zwei ganz einfache Leute. Sie
hatten ihren dreizehnjährigen Sohn Fritz neben sich.
An der Schmalseite des ovalen Tisches aber thronte Rechtsanwalt und Notar Kruse, mit einem Klemmer
auf der Nase. Herr Kruse wühlte in einem Stapel von Papieren. Er räusperte sich und sagte: „Ähemm.“
Alle Blicke flogen auf ihn zu. Die Spannung im Raum war geradezu fühlbar geworden - jetzt, jetzt war
der Augenblick gekommen, in dem sie es erfahren
sollten. Herr Kruse hieb sich seinen Klemmer auf die
Nase und sagte:
„Ähemm. Meine Damen und Herren! Hochverehrte
Trauergemeinde - äh. Ich habe die Pflicht, Ihnen das
Testament des verstorbenen Paul Biene bekanntzugeben.
Jawoll. Ich habe hier Abschriften anfertigen lassen, jeder
von Ihnen bekommt eine. Denn es ist ein sehr
merkwürdiges Testament, aber juristisch unanfechtbar.
Herr Paul Biene hat das Testament bei klarem Verstande
geschrieben und unter Zeugen unterzeichnet. Ich will
Ihnen das Ganze nicht vorlesen, ich nehme an, es ist
Ihnen recht, wenn ich Ihnen in großen Zügen den etwas äh - seltsamen Inhalt bekannt gebe. Erhebt sich Widerspruch?“
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„Reden Sie schon, mein Lieber“, sagte Onkel Bubu mit einer näselnden Stimme. „Sie wissen doch selber,
dass wir vor Neugier beinahe platzen. Nicht wahr, meine liebe Trauergemeinde?“ Und er brach in ein
dünnes, hässliches Kichern aus. Niemand antwortete, und Herr Kruse sah Onkel Bubu an wie eine
schleimige Kröte. Er verzog vor Ärger die Nase so gewaltsam, dass ihm der Klemmer herunterrutschte.
Nachdem er ihn wieder auf seinem Riechorgan befestigt hatte, fuhr er fort: „Da sich kein Widerspruch
erhebt, kann ich also kurz berichten. Das Ehepaar Anton und Marie Semmel, Pförtner und Hausverwalter,
erhält für treue Dienste eine größere Summe. Der Sohn Fritz gleichfalls als Hilfe für späteres Studium
nach eigener Wahl. Der zukünftige Besitzer des Besitztums Austerlitz ist verpflichtet, das Ehepaar bis zu
dessen Abscheiden zu versorgen, beziehungsweise in Dienst zu behalten. Äh.“
Tante Emmi warf dem Ehepaar einen flackernden, bösen Hexenblick zu, sagte aber nichts.
„Ja, und nun kommen wir zur Hauptmasse des Vermögens. Es besteht aus zwei Teilen. Und zwar erstens:
Dem Landhaus Austerlitz mit allen Gebäuden, Garten und Park und der gesamten Napoleon-Sammlung.
Ich habe die Sammlung kürzlich noch schätzen lassen und sie stellt, wenn ich so sagen darf - äh - einen
großen Wert dar. Diesen Teil des Erbes bekommt derjenige, der die Bedingungen erfüllt, auf die ich
später zu sprechen komme.“
Es wurde totenstill im Raum. Man hörte nur den Atem der Anwesenden.
Aber Herr Kruse fuhr fort: „Und nun komme ich zum zweiten Teil der Erbmasse. Sie besteht aus Ländereien. Sie hat gleichfalls einen großen Wert. Tja. Und nun wird es schwierig.“
Der Rechtsanwalt warf einen Blick in seine Papiere, es raschelte, aber das war der einzige Laut, der zu
hören war. „Der Verstorbene hat verfügt, dass die Erbberechtigten drei Aufgaben lösen.“
Onkel Bubu kicherte: „Drei - na, das geht ja noch. Dreihundert wäre schlimmer gewesen.“
„Drei Aufgaben lösen. Wer die erste Aufgabe löst, erhält ein Drittel des Landbesitzes. Eine sehr klare
Bestimmung. Wer die zweite Aufgabe löst, erhält das zweite Drittel. Auch ganz klar.“
„Und wer die dritte Aufgabe löst, erhält das dritte Drittel - auch ganz klar“, äffte Onkel Bubu den Rechtsanwalt nach. Der sah ihn strafend an und nickte: „Ja, der bekommt das dritte Drittel und außerdem die
erste Hälfte der Erbmasse, nämlich ganz Austerlitz.“
Onkel Bubu sah sehr blöde aus, als er das hörte. Er nahm langsam das Monokel aus dem Auge. Und dann
brach es los. Alles redete durcheinander, die Stimmen brodelten. „Verdammter Blödsinn - so was Verrücktes - was sind denn das für idiotische Aufgaben? - Und was wird, wenn - hat man so was schon gehört? - na, das kommt in die Presse - so ein Quatsch - so eine Sensation - und was wird denn, wenn -?“
Dr. Hut fragte plötzlich mit einer samtweichen Stimme in den Lärm hinein: „Und was wird, wenn einer
alle drei Aufgaben löst?“
„Ganz klar“, sagte Herr Kruse, „dann bekommt er alles.“
Tante Emmi geriet in einen wütenden Hustenausbruch. Samuel klatschte ihr kräftig auf den feisten Buckel. „Wir müssen -“, keuchte sie, „Samuel, Sammi, du musst - wir müssen!“
Onkel Bubu meckerte dazwischen: „Na, das Gefühl haben wir wohl alle, dass wir diese Aufgaben lösen
müssen. Ich finde die Sache doll, einfach doll. Beinahe komisch. Aber ich weiß nicht, ob wir das Testament nicht lieber anfechten sollen?“
Tante Tine, die bisher ebenso wie Edu ganz still gesessen hatte, nahm ihren Hut ab, betrachtete ihn und
setzte ihn sich wieder auf. Das tat sie immer, wenn sie aufgeregt war. „Anfechten?“ sagte sie. „Lächerlich. Wir haben doch alle die gleiche Möglichkeit. Es hindert dich ja keiner, Bubu, das ganze Vermögen
zu erwerben, wenn du die drei Aufgaben löst. Und dich auch nicht, Emmi. Und du, Egon, du hast ja die
Weisheit sowieso mit Schöpflöffeln gefressen, was kann dir schon passieren? Ich und Edu nehmen jedenfalls an.“
„Verzeihung“, sagte der Rechtsanwalt, „Sie haben gar nichts anzunehmen, denn Sie gehören nicht zu den
Erben.“
„Peng!“ sagte Onkel Bubu.
„Jedenfalls nicht zu den Haupterben. Sie haben bloß - ähemm - eine Kleinigkeit geerbt.“
„Was ist es denn?“ fragte Tante Tine und schob den Kopf vor, so dass ihre Ohrgehänge wackelten.
„Eine - äh - Hundehütte. Für Ihren Hund Napoleon“, sagte der Rechtsanwalt. Alles brach in ein wildes
Gelächter aus, und Tante Emmi keuchte, dass ihr der dicke Schweiß herunterlief.
„Gut, gut“, sagte Tante Tine. „Eine Hundehütte. Ich bin zufrieden. Ich ersehe daraus, dass Onkel Paul
doch Sinn für Humor hatte. Den habe ich aber auch. Und das werdet ihr zu spüren kriegen!“
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Sie klatschte zweimal mit der flachen Hand auf den Tisch, sehr energisch, und lächelte Edu zu. Dieses
Klatschen aber war wie eine Herausforderung an die anderen.
„Gut, wir nehmen das Testament an. Versuchen wir's mal - Sammi, jetzt musst du deinen Geist anstrengen - es wird schon klappen“, so ging es durcheinander.
Wieder war es Dr. Hut, der das Stimmengewirr unterbrach, indem er sehr sanft fragte: „Und wie, wenn
ich fragen darf, lauten denn die drei Aufgaben?“
V
Alle stierten Herrn Kruse an, der aber nahm sich Zeit. Er hatte wohl das Gefühl, dass die Sitzung auf
einem Höhepunkt angelangt und er jetzt der Mittelpunkt des Ganzen geworden war. Alle Augen hingen
an seinen Lippen. Aber er ließ sie zappeln, die Erben. Er nahm seinen Klemmer herunter, hauchte ihn an
und putzte ihn sorgfältig mit seinem Taschentuch.
„Wie lauten die drei -?“ kreischte Tante Emmi mit erregter Stimme.
„Das -“, sagte Rechtsanwalt Kruse und putzte sich langsam die Nase - „das weiß ich selber nicht.“
Edu klopfte das Herz bis zum Halse hinauf. Er war jetzt angesteckt von der allgemeinen Aufregung, sein
Gesicht war gerötet, und er warf gelegentlich einen Blick auf Fritz Semmel, mit dem er sich sofort auf das
beste angefreundet hatte, und der nun ebenfalls gespannt ganz vorn auf seiner Stuhlkante saß, den Mund
leicht geöffnet hielt und den Rechtsanwalt anglotzte, als sei er ein Weltwunder.
„Aber hier“, fuhr Kruse fort, „ist die Antwort.“ Er hielt einen weißen Umschlag hoch, so dass ihn alle
sehen konnten, dann drehte er ihn herum. Fünf dicke rote Siegel saßen darauf.
„Bitte wollen Sie prüfen, ob der Umschlag richtig versiegelt ist“, sagte Kruse, und der Umschlag wanderte um den Tisch herum.
„Nach dieser Feststellung kann ich an die Öffnung schreiten.“ Er schlitzte den Umschlag mit einem bereit
liegenden Brieföffner auf und entnahm ihm vier Bögen, die er rasch durchblätterte.
„Das ist die erste Aufgabe, wie ich sehe“, sagte er. „Für jeden ein Exemplar. Darf ich vorlesen?“
„Sie dürfen, Sie dürfen“, drängte Onkel Bubu. „Aber bitte ein bisschen dalli.“
Herr Kruse setzte sich zurecht, machte „Ähemm“ und las langsam, jedes Wort betonend, vor:
Zwischen Geburt und Tod
Steht Zeit als Gebot.
Die Stunde verrinnt,
Die Stunde beginnt
Den Reigen.
Dann lasst nur steigen
Des Kaisers großes Zeichen auf:
Hinauf - hinab - hinauf.
Es folgt nicht Geier, nicht Regie,
Aus fünf und vier wird eins - nur: wie?
Und habt ihr dies, dann bitte:
Fragt nur die Göttin in der Mitte.
„Ist das alles?“ fragte Dr. Hut.
„Das ist alles“, erwiderte Herr Kruse.
Die Anwesenden saßen für einen kurzen Augenblick wie erstarrt. Dann sprangen sie auf und fuchtelten
mit den Armen in der Luft herum, schrieen, blubberten, stotterten.
„Ich werde wahnsinnig!“ schrie Tante Emmi.
Und zum ersten Male öffnete auch ihr Mann Samuel den Mund: „Das ist ja lächerlich. Wir sind doch
keine kleinen Kinder, denen man Rätsel aufgibt.“
Tante Tine bemerkte spöttisch: „Eine hübsche Aufgabe, muss ich schon sagen. Edu, wo willst du hin?“
Aber Edu fuhr wie von der Tarantel gepiekt aus dem Raum.
„Ich meine, wir sollten doch das Testament ablehnen“, sagte Onkel Bubu.
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„Zu spät“, sagte Kruse, „Sie haben es schon angenommen.“
Nun aber erhob sich langsam auch Onkel Egon. Er stand ganz starr, legte die Hände zusammen, wobei er
die Arme weit von sich streckte, breitete sie langsam aus, und dann ließ er mit einem Ruck den Oberkörper nach unten fallen, so dass er mit den Fingerspitzen den Fußboden berührte. Das wiederholte er
sechsmal, und alle sahen ihm zu, auch Edu, der mit glänzenden Augen inzwischen wieder hereingekommen war.
„Sag mal, was machst du da eigentlich, mein Lieber?“ keckerte Bubus Stimme.
Onkel Egon sah ihn wie aus tiefer Ferne an: „Nichts, gar nichts. Nur eine Entspannungsübung. Auf so
viel Spannung gehört Entspannung. Das lockert die Muskeln, die Sehnen und den Geist. Ich brauche
einen gelockerten Geist...“
Und damit ging er in die Kniebeuge.
„Die ganze Familie ist verrückt geworden“, sagte Tante Emmi laut. Aber Egon hörte nicht, er machte
seine Kniebeugen, wobei sein Hosenboden die Absätze der Sandalen berührte. „Lockern, lockern“, murmelte er, „das ist das ganze Geheimnis.“
Plötzlich stieß Fritz Semmel ein schallendes gesundes Gelächter aus, dem sich alle anderen anschlossen.
Auch Tante Tine lachte kräftig mit. Dann aber spürte sie, wie jemand sie am Ärmel zupfte. Sie drehte sich
um. Es war Edu. Er zerrte ihren Arm nach unten, bis ihr Ohr in der Nähe seines Mundes war und flüsterte: „Tante Tine! Tante Tine!“
„Ja, was hast du denn?“
„Ich glaube, ich weiß schon was.“
„Edu????“
„Ja, den ersten Teil des Rätsels.“
„Psch!“ machte Tante Tine. „Erzähl mir das später. Nicht hier. Hier sind mir zu viele Ohren.“
Und während Onkel Egon die nächste Lockerungsübung - Kopfrollen - begann, stolzierte sie hinaus, mit
der Abschrift des ersten Rätsels in der einen Hand. Mit der anderen zerrte sie Edu hinter sich her.
VI
Sie schleifte ihn mit bis nach „Wagram“. Es muss erklärt werden, dass Onkel Paul alle Zimmer mit Namen bedacht hatte, meistens von Schlachtorten, manche aber auch von Personen. So wohnte beispielsweise Tante Emmi mit ihrem Samuel zusammen in „Madame Laetitia“. Madame Laetitia war die Mutter
Napoleons gewesen, falls das einer unserer Leser nicht wissen sollte. Onkel Bubu wohnte mit Dr. Hut
zusammen in „Ulm“, Onkel Egon in „Lodi“. Das tollste Stück Phantasie hatte sich Paul Biene aber damit
geleistet, dass er auch einem gewissen Örtchen einen Namen verlieh. Über der Tür hing ein Schild mit
dem Namen „Hudson Lowe“. Dieser Hudson Lowe war der Kerkermeister Napoleons auf St. Helena
gewesen, der dem sterbenden Kaiser das Leben gründlich versauert halte und dem infolgedessen auch der
Hass Onkel Pauls galt.
In „Wagram“ setzte sich Tante Tine auf das altmodische Sofa, Edu nahm neben ihr Platz.
„Diese Bande“, sagte sie. „Denen werden wir's beweisen. Aber das Rätsel ist schwer.“
Sie las den Zettel wieder durch, schüttelte den Kopf und fragte: „Und du willst da schon was rausgekriegt
haben?“
„Ja ja, aber nur einen Teil.“
„Egal, berichte. Aber sprich leise. Ich fürchte, hier kriegen die Wände Ohren!“ Womit sie nicht ganz
Unrecht hatte, wie sich später noch herausstellen sollte.
„Tine, du hast doch das Bild im Treppenhaus gesehen?“
„Das Bild? Mein Junge, da hängen zwanzig Bilder. Von welchem Bilde redest du denn?“
„Na, das komische Ding mit dem Meer und der Sanduhr!“
„Hm, kann sein. Beschreib es mir einmal ganz genau!“
„Also. Auf diesem Bilde ist zu sehen das Meer mit zwei Inseln. Links eine Insel und rechts eine Insel.
Auf der linken Insel steht 'Korsika', wo Napoleon geboren wurde. Auf der rechten Insel steht 'St. Helena',
wo er gestorben ist. Mitten dazwischen ist aber eine Sanduhr gemalt. Unten auf der Sanduhr steht das
Wort 'Ora', und über allem schwebt ein Band mit den Worten 'Il Destino di Napoleone'.“
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„Das Schicksal Napoleons“, sagte die Tante. „Das ist eine italienische Inschrift, denn schließlich war ja
Napoleon Italiener. Das vergisst man meistens. Aber du hast sehr gut beobachtet. Nun sprich weiter!“
Plötzlich legte sie ihre Hand auf seinen Arm und sagte: „Warte mal, mir dämmert's! Sei still! Ruuuuuhe!
Gleich habe ich's!“
In diesem Augenblick klopfte es. Tante Tine verzog ärgerlich das Gesicht und rief „Herein“.
In das Zimmer trat Herr Kruse, verbeugte sich und sagte: „Die beiden Herrschaften sind so schnell verschwunden. Ich wollte Ihnen doch das Testament noch in Abschrift überreichen. Da habe ich es Ihnen
also nachgebracht.“
„Die Stunde verrinnt, die Stunde beginnt den Reigen“, sagte Tante Tine.
„Wie bitte?“ fragte Herr Kruse und trat leicht erschrocken einen Schritt zurück.
„Beginnt den Reigen. Edu - ich ... Ach so. Verzeihung, Herr Rechtsanwalt, ich war mitten in Gedanken
an das Rätsel. Was haben Sie da? Das Testament? Schön, schön, legen Sie es dahin. Ich danke Ihnen, und
nun gehen Sie, denn die Stunde verrinnt, die Stunde beginnt den Reigen. Haha!“
Herr Kruse schüttelte ernstlich mit dem Kopfe. Ihm war mittlerweile ganz und gar deutlich geworden,
dass diese ganze Familie einen Vogel von beträchtlicher Flügelspannweite besaß. Er legte das Testament
auf den Tisch und sagte: „Darf ich Sie nur noch auf eine wichtige Bestimmung hinweisen: Wer das erste
Rätsel löst, bekommt, wie gesagt, ein Drittel des Landbesitzes!“
„Wissen wir. Haben wir alles begriffen!“ sagte Tante Tine unhöflich.
„Ja, aber weiter heißt es. Die Lösung muss er allen anderer Erbberechtigten mitteilen.“
„Die Lösung?“ fragte Edu. „Allen anderen mitteilen? Dann ist die Lösung wohl das zweite Rätsel?“
„Bedaure, Herr Biene, das weiß ich nicht. Guten Tag!“ Und draußen war er.
„Ich finde ihn sehr nett“, bemerkte Edu. „Warum bist du nu so unhöflich zu ihm?“
„Du findest ihn nett, weil er 'Herr Biene' zu dir gesagt hat. Und unhöflich bin ich nicht, ich bin bloß ungeduldig. Denn mir ist, glaube ich, eingefallen, was der erste Teil des Rätsels bedeutet!“
„Verzeihung, Tante, das ist mir eingefallen, dir aber erst hinterher, nachdem ich dich darauf gebracht
habe.“
„Na schön, na schön. Also nun pack mal aus: Wie heißt de erste Teil der Lösung, Edu?“
„Ora.“
„Junge, du imponierst mir. Wenn du so weitermachst, darfst du Tine zu mir sagen.“
„Das tue ich doch sowieso schon.“
„Ja, und ich verbiete es dir dauernd. Also: Ora. Und nun lass uns mal genau durchprüfen, ob das stimmt.
'Zwischen Geburt und Tod' - damit sind die Geburts- und die Sterbeinsel Napoleons gemeint - kein Zweifel. 'Steht Zeit als Gebot.' Mit der Zeit ist die Sanduhr gemeint. Oder umgekehrt. Die Sanduhr stellt die
Zeit dar. Wer das nicht glauben will, braucht sich nur die nächsten Zeilen anzusehen:
'Die Stunde verrinnt.' Rieselt auf dem Bilde Sand durch die Sanduhr?“
„Ganz deutlich“, sagte Edu.
„Prächtig. Und dann geht es weiter im Nachdenken. Stunde heißt auf Italienisch 'Ora'. Woher weißt du
das übrigens?“
„Ich habe in der Bibliothek nachgesehen. Da gibt es massenweise italienische, französische und englische
Wörterbücher. Und bei Ora steht dahinter Stunde.“
„Du hast dasselbe Sprachgefühl wie dein Vater. Und wie ich. Ora heißt aber auch: Bete! Das Wort ist also
tatsächlich ein Gebot, und zwar eines, das die Menschen nicht mehr befolgen. Na, und wo stehen wir
nun?“
„Die Stunde beginnt -- Den Reigen.“
„Welchen Reigen? Ora beginnt den Reigen? Was meint er damit?“
„Ich nehme an, dass die drei Buchstaben O-R-A den Anfang der Lösung bilden. Damit geht der Reigen
los, der Tanz, die Schwierigkeit.“
„Die Schwierigkeit. Ja ja, mein Junge, schwierig scheint es schon zu sein. Zumal das erst der Anfang ist.
O-R-A. Das soll der Anfang sein. Was fängt denn um Himmels willen mit O-R-A an?“
„Orang-Utan.“
„Das ist ein Affe. Du bist auch einer. Das kann nicht stimmen. O-R-A ... ! Weißt du was, scher dich raus.
Geh fort, schnell, hopp-hopp, ich will dich nicht mehr hier sehen, ich will nachdenken. Verdufte, und
mach weiter so!“
Und Tante Tine strich Edu über die Haare und gab ihm einen kleinen Schubs.
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VII
Edu raste die Treppe hinunter, wobei er beinahe Herrn Dr. Hut umgerannt hätte, der vor einem Bilde
stand und es sich grinsend betrachtete. Edu sah das Bild an, und ihm lief es eiskalt den Rücken herunter.
Dr. Hut betrachtete sich mit infam lässiger Miene das „Ora“-Bild. Sollte der auch schon ... ?
„Interessante Bilder, was?“ fragte Dr. Hut und richtete seinen Blick auf das Bildnis einer schmächtigen
Dame mit Glupschaugen, das neben „Ora“ hing. „Sieh mal, wie gut diese Frauengestalt herauskommt.
Das waren noch Künstler, was?“
„Frauengestalt!“ prustete Edu. Und rannte weiter die Treppe hinab, zu Semmels.
„Fritz, hast du Zeit?“ rief er und stürmte in die Wohnung der Hausverwalter.
Herr und Frau Semmel saßen am Tische und tranken Kaffee. „Kommen Sie nur rein, junger Herr“, sagte
Semmel, „und trinken Sie eine Tasse Kaffee mit. Fritz sendet.“
„Sendet?“
„Ja, der hat sich einen Amateursender gebaut. Der hat auch einen Fimmel. Ich meine, in diesem Hause
haben ja alle einen Fimmel. Ihr Onkel Paul hatte auch einen, aber es war ein großartiger Fimmel. Außerdem war er ein lieber Mensch. Aber die Gäste hier jetzt alle? Nee, wissen Sie, junger Herr, wenn ich bloß
Ihren Onkel Bubu mit seinem Monokel angucke!“
„Aber Anton!“ sagte Frau Semmel. „Was soll denn der junge Herr von uns denken. So über seine Verwandten zu reden!“
„Lass man, Marie, der versteht das schon richtig. Und dann der Professor mit seinen Lockerungsübungen!
Vorhin war er bei mir und hat sich eine Hängematte ausgepumpt. Und nun liegt er draußen im Park, halb
angezogen und 'entspannt' sich. Er hat mir genau erklärt, dass er keinen Begleiter mitgebracht habe, er
brauche so etwas nicht. Er mache alles mit Entspannung, mit Einatmen und Ausatmen. Nee, wenn der
denkt, er kann dem ollen Paul Biene seine Rätsel lösen, wenn er mal tief Luft holt, denn hat sich der aber
gewaltig geschnitten.“
„Anton, wie du nur sprichst!“ jammerte Frau Semmel.
„Und Fritz sendet also?“ fragte Edu.
„Ja. Der spricht mit allen möglichen Ländern. Der hat sein ganzes Taschengeld in Radioröhren und Watt
und Draht, und wie das Zeug alle heißt, hineingesteckt!“
„Und nachts will er immer aufbleiben, der grässliche Lümmel“, sagte Frau Semmel, „weil man nachts am
besten senden kann.“
„Wo ist er denn?“
„In Arcole“, erklärte Herr Semmel, „zweite Tür rechts. Gehen Sie man ruhig hin und holen Sie ihn raus.“
Edu stob aus dem Zimmer und klopfte an der Tür mit der Aufschrift 'Arcole' an. Aber es kam keine Antwort. Er öffnete, und da saß Fritz mit ein paar Kopfhörern und sagte: „Oui, oui. Merci!“
Dann wandte er sich um, legte den Finger an den Mund und bemerkte: „Oui. Oui. Au revoir.“
Er nahm die Kopfhörer ab und sah Edu an. „Selbst gebaut“, erklärte er stolz. Und dann erklärte er alles.
Aber auch alles. In Edus Kopfe dröhnte es nur so von Akkumulatoren, Röhren, Detektoren, Wellenlängen
und so weiter, als der begeisterte Junge geendet hatte.
Leicht erschöpft war Edu auf einem Stuhle zusammengesunken. Schließlich fiel das sogar dem redelustigen Fritz auf, und er fragte: „Mensch, wolltest du was von mir? Ich habe laufend von meinem Kram
gequatscht, ich hatte ganz vergessen, dass du vielleicht was wolltest!“
„Ja“, sagte Edu. „Du sollst mich durch das ganze Gelände führen. Du musst mir alles erklären. Sonst
finde ich mich hier nicht durch.“
„Jemacht“, sagte Fritz. „Komm!“
Sie traten auf den Hof hinaus, über dem die Maisonne lag, eine schon ziemlich späte Sonne, denn es ging
auf den Abend zu.
Fritz blieb stehen und deutete auf ein lang gestrecktes Seitengebäude links. „Das ist das Gewächshaus“,
erklärte er. „Das war Onkel Pauls große Freude. Da gibt es massenweise Pflanzen drin, die Onkel Paul
aus dem Ausland bestellt hat. Und da oben auf dem Dache die Figuren, das sind Marmorfiguren. Die hat
sich Onkel Paul auch kommen lassen, hübsch, nicht?“
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„Ja, ja, hübsch. Und das ist also das Napoleonsdenkmal?“
„Du kannst ja ziemlich doofe Fragen stellen. Natürlich ist das Napoleon. Oder sieht die Figur etwa wie
Frau Piefke aus? Aber dein Onkel Paul, der sah genau so aus. Na du, das war vielleicht ein Theater, als
sie das Ding aufgestellt haben. Onkel Paul hatte die ganze Umgegend zu der Einweihung eingeladen. Sie
kamen auch alle an. Und gegessen haben die! Mensch, Meier, da war was los. Onkel Paul hat eine Rede
gehalten, und die Leute hielten sich alle die Taschentücher vor den Mund, um nicht laut loszulachen. Sie
hielten ihn alle für übergeschnappt.“
Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „War er ja auch. Aber trotzdem prima. Und getrunken haben sie
auch. Napoleon-Brandy hatte ihnen Onkel Paul vorgesetzt. Kistenweise haben sie den Schnaps leer gemacht. Und dann haben sie ihn doch alle miteinander ausgelacht. Pfui, kann ich nur sagen. Was sagst du
dazu?“
„Auch Pfui!“
„Na, da sind wir uns ja wieder mal einig. Aber weißt du, ein oller Geheimniskrämer war dein Onkel doch.
Als das Denkmal aufgestellt wurde - du meine Güte - da hat er vielleicht einen Zinnober veranstaltet.“
„Was für einen Zinnober?“
„Erst hat er um die Stelle einen hohen Bretterzaun legen lassen, dann kam der Sockel aus St. Helena - den
Stein hat er sich extra daher kommen lassen. Und Onkel Paul, nein so was Komisches. Keiner durfte ran.
Er stand den ganzen Tag Wache, und nachts sperrte er außerdem einen bissigen Schäferhund in den Bretterzaun, damit nur ja niemand drübersteigen konnte. Den Hund zeige ich dir auch, er heißt Lupus. Was
wollte ich denn sagen?“
„Dass Onkel Paul sich so komisch benahm.“
„Richtig. Und ganz merkwürdige Leute waren ein paar Tage da, Steinmetzen, Schmiede. Und auch Herr
Siebold.“
„Wer ist denn Herr Siebold?“
„Der Radiohändler in der Stadt. Den kenne ich sehr gut.“
„Was hat denn der an dem Denkmal zu tun gehabt?“
„Du, das möchte ich auch mal wissen. Ich habe Onkel Paul
gefragt, was Herr Siebold hier zu tun hätte - da hat mich der
vielleicht angebrüllt! Er könnte sich kunstverständige Leute holen,
so viel er wolle, schrie er, und das ginge mich Rotzjungen nichts
an. Ausdrücke hatte er manchmal! Na ja, wie der Kaiser Napoleon
auch.“
„Gebrauchte der auch solche Worte?“
„Nur!!! Das weißt du nicht? Na ja, du kannst das ja auch nicht
alles wissen, aber ich bin ja mit Napoleon groß geworden. Ich
weiß eben alles.“
„Soso. Wie hieß denn die zweite Frau Napoleons?“
„Määänsch, du willst mich wohl vergackeiern? Marie-Louise, so
was weiß man doch. Aber Onkel Paul war nicht gut auf sie zu
sprechen, weil sie ihn allein auf St. Helena hat schmoren lassen.
Mit der war nicht viel los.“
Fritz spuckte aus und fügte verächtlich hinzu: „Na ja, die Frauen!“
Sie waren an das Denkmal herangetreten. In den Stein war eine
Bronzetafel eingelassen, auf der zu lesen stand:
NAPOLEON I.
In Ehrfurcht gewidmet von seinem Verehrer Paul Biene
Von oben sah die Gestalt des großen Korsen, in Bronze gegossen, auf die beiden Jungen herab. Der Kaiser hatte seinen dreieckigen Hut auf, unter dem die Locke hervorquoll. Er sah sinnend auf die beiden
herunter, zwei Finger hatte er unter die Weste geschoben.
Sie gingen weiter, in den Park. Hier waren Tempelchen und Lauben aufgestellt, und zwischen zwei Bäumen baumelte eine Hängematte, in der Herr Egon Biene lag. Er lag völlig entspannt. Auf seinem Bauche
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ruhte der Zettel mit dem Rätsel. Die beiden blieben stehen und lauschten. Egon atmete. Aus - ein - aus ein. Dann murmelte er etwas. Dann atmete er wieder. Aus - ein - aus - ein.
Dann hörte Edu ganz deutlich ein Wort, und er streckte die Hand aus, um sich an Fritz festzuhalten.
Der sah ihn verblüfft an. „Was ist denn mit dir los?“ fragte er.
„Weißt du, was er gesagt hat?“ flüsterte Edu.
„Keine Ahnung.“
„Ora.“ Er stierte vor sich hin. „Ora. Und Dr. Hut auch ... !“
Fritz sah seinen Freund von der Seite an und bemerkte schließlich: „Weißt du, ganz normal bist du auch
nicht.“
Aber Edu lief davon, was ihn die Beine trugen.
VIII
Edu fuhrwerkte so in das Zimmer „Wagram“ hinein, dass seine Tante hochschreckte.
„Dein Benimm ist gräulich mit äu“, schimpfte sie. „Warum kannst du nicht anklopfen? Und wie siehst du
aus? Was ist denn los mit dir?“
Edus Brust ging auf und ab. „Es ist alles aus, Tante“, brachte er mühsam hervor.
„Aha“, sagte Tante Tine seelenruhig, „setz dich mal zu mir und berichte“.
Edu setzte sich und deutete auf ein Ding, das an der Wand stand. „Wass'n das?“
„Die Hundehütte. Hat Herr Kruse mir raufschaffen lassen. Vorne drauf mit einem großen N. Heißt 'Napoleon'. Das ganze Haus wimmelte ja von N's. Aber diese Hundehütte mitsamt ihrer Bemalung hat Paul
besonders für mich anfertigen lassen. Sie ist zwar so groß, dass ein Bernhardiner reingeht, und unser
Dackel wird sich sehr einsam fühlen darin, wie in einer Konzerthalle. Egal. Vorläufig ist was anderes
drin. Aber nun erzähle.“
Edu berichtete von Herrn Dr. Hut, der vor dem Ora-Bilde gestanden hatte und von Onkel Egon, der ausund einatmend „Ora“ gesagt hatte. Er jammerte los. „Sie sind genau so schlau wie wir. Die kriegen es
noch vor uns raus. Ob wohl Samuel und Tante Emmi auch schon dahinter gekommen sind?“
„Bis jetzt sind sie auch nicht weiter als die anderen. Ich bin ein bisschen in die Bibliothek schnüffeln
gegangen. Da saßen die beiden und taten sehr dicke miteinander. Emmi guckte mich an mit Brennnesselaugen, und Sammi hatte ein triumphierendes Gesicht aufgesetzt. Aha, dachte ich mir, die wissen was. Ich
ging an die Bücherregale und suchte ein paar Bände raus. Dreißig Stück.“
„Dreißig? Was willst du denn mit soviel Büchern?“
„Ruuuuhe! Und wie ich da so lang glitt, schlüpfte ich auch an dem Tisch vorbei, an dem die beiden sich
hingebrezelt hatten. Ein offenes Buch lag auf dem Tische. Gott sei Dank hatte ich meine Lesebrille auf,
so dass ich das Kapitel erkennen konnte, das sie aufgeschlagen hatten. Was meinst du wohl, wie es hieß?“
„Sag's mir!“
„Es hieß 'Oran, eine algerische Handelsstadt'. So, nun weißt du es.“
„Oran! Tine! Menschenskind! Die wissen es auch!“
„Du sollst nicht Tine zu mir sagen. Und außerdem, seit wann redet man seine Tante mit Menschenskind
an? Ein Kavalier wirst du nie. Aber lassen wir das, erzogen wirst du später, wenn wir das viele Geld
haben.“
„Das kriegen wir ja doch nicht.“
„Abwarten. Außerdem hatten sie noch ein Buch offenliegen, ein naturkundliches. Auf der aufgeschlagenen Seite war ein Geier abgebildet. An was erinnert dich das?“
„An den Vers: ‚Es folgt nicht Geier, nicht Regie’. So weit sind die schon!“
„Eben nicht. Geier ist es ja eben nicht. Steht ja drin in dem Vers. Die tappen also noch im Dunkeln.“
„Wir wohl nicht?“
„Edu“, sagte Tante Tine ganz leise. „Ich habe das Rätsel fast fertig geraten. Es ist furchtbar einfach, wenn
man es erst einmal weiß.“
„Bitte bitte, Tante Tine, sag es mir schnell, auf der Stelle, sofort, soförtestens!“
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„Des Kaisers großes Zeichen ist das N. Habe ich dir eben schon mal erklärt. Der erste Strich des großen N
führt hinauf, der zweite hinab, der dritte wieder hinauf. Das meint das Rätsel mit der Zeile, hinauf - hinab
- hinauf! Ist das klar?“
„Wie Schmierkäse.“
„Also haben wir jetzt Oran. O-R-A-N.“
„Ganz recht. Und dann kommt dieser Blödsinn mit dem Geier und der Regie. Ich habe mir da nicht weiter
den Kopf zerbrochen, sondern einfach nachgesehen.“
„Aber wo denn nur?“
„Im Lexikon. Da stand allerhand, was mit O-R-A anfängt. Ora, Orakel, Oran, Orange, Orangeade, Orangerie, Orang-Utan, Oranien, Oranienburg, Oranjefreistaat, Oratorium. Nun weißt du alles.“
„Ich weiß überhaupt nichts.“
„Kurz und gut, ich habe sämtliche Lexikonbande, wo der Buchstabe O drin vorkommt, mitgenommen.
Dreißig Stück. Der dickste war der 'Nelkenöl bis Parzival'. Aber zwischen Nelkenöl und Parzival steht
das Wort, das sie alle suchen, und das mit O-R-A-N anfängt. Die Lexiköner sind alle.“
„Wo hast du sie denn?“
„In der Hundehütte“, sagte Tante Tine. Und da klopfte es. In höchster Aufregung kam Tante Emmi mit
Sammi ins Zimmer. Sie rollte ihren schweren Leib vor das Sofa, streckte den Zeigefinger aus und zischte:
„Wo hast du die Lexikons!“
„Ka“, sagte Tante Tine.
„Ka? Was ist das für eine Antwort?“
„Ka. Es heißt Lexika. Die Mehrzahl von Lexikon heißt Lexika. Weiter wollte ich nichts sagen.“
„So, weiter wolltest du also nichts sagen. Aber ich will dir - --. Wo hast du sie?“
„Siehst du welche?“ fragte Tante Tine. Die dicke Emmi sah sich ratlos im Raum um - nicht ein einziges
Buch war zu sehen außer ‚Leben und Taten Napoleons’.
„Sammi!“ schrie Emmi, „Sammi, sie sagen, sie haben nicht…“ Dann drohte sie mit dem Finger: „Euch
beiden werde ich es beweisen. Das ist unfair, was ihr tut. Ich werde es vor Gericht Ich werde euch beide…“ -- Und draußen war sie. Und draußen war Sammi.
Tante Tine rief noch hinter ihr her: „Habt ihr den Geier schon gefangen?“ Bumm, flog die Tür zu.
„Die wären wir los.“
„Und die Lexikons sind alle in der Hundehütte?' „Ka, Lexika. Ja. Alle.'
„Tante, du bist ganz groß!“
„Ach was“, erwiderte sie unbescheiden, „ich bin noch viel größer. Und nun will ich dich nicht weiter auf
die Folter spannen. Du hast doch hier ein Gewächshaus gesehen?“
„Freilich, ich war ja vorhin noch mit Fritz da.“
„Und du kannst doch ganz gut Französisch?“
„Soso lala.“
„Vielleicht weißt du sogar, was Gewächshaus auf Französisch heißt?“ sagte die Tante lauernd und stierte
ihm in die Pupillen. Edu stierte zurück. Er flüsterte heiser: „Gewächshaus auf Französisch. Es fängt - wart
mal - es fängt mit O an.“
„Kluges Kind“, feixte die Tante. „Nein, wie klug!“
„Orangerie!“ platzte jetzt Edu heraus.
„Na also“, sagte die Tante. „Ist doch wirklich nicht schwer.“
Edu rüttelte seine Tante, wieder einmal recht respektlos, am Arm: „Du weißt noch mehr! Raus damit!“
„Erst mal langsam. Erst überprüfen. 'Es folgt nicht Geier, nicht Regie', heißt es in dem Rätsel. Wir wissen
jetzt, was auf O-R-A-N folgt. Nämlich - gerie. Fünf Buchstaben. Und O-R-A-N waren vier Buchstaben,
nicht wahr? Aus fünf und vier wird eins - nur wie? Aus den fünf und den vier Buchstaben wird ein Wort,
und WIE, na das wissen wir ja jetzt. Orangerie. Was sagst du nun zu dem Köppken deiner Tante?“
„Du bist unsagbar. Du schlägst alles. Ich küsse Ihre Hand, Madame!“
„Lass die Faxen. Wir müssen schnell zu Ende kommen; denn ich fürchte, die Entführung der Lexiköner…“
„Ka“, sagte Edu.
„Wie? Ach so. Der Lexika wird uns nicht viel Vorsprung geben, das Rätsel ist ja auch zu leicht. Zuuuu
leicht. Es heißt da noch: 'Und habt ihr dies, dann bitte: Fragt nur die Göttin in der Mitte.'
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Edu sprang auf und vollführte einen Indianertanz: „Ich weiß es, ich weiß es. Die Göttin in der Mitte, das
ist eine von den Marmorfiguren auf dem Dach der Orangerie. Die mittelste. Onkel Paul hat sie kommen
lassen. Das hat mir alles Fritz erzählt. Und das sind Figuren von Göttinnen. Die mittelste steht in der
Mitte.“
„Sehr, sehr geistreich“, sagte Tante Tine. „Und da muss das Geheimnis drin liegen!“
„Richtig, aber wo?“
„Weißt du's?“
„Nein, du?“
Edu stand auf. Seine Augen glänzten, sein Gesicht brannte. „Ich weiß nur noch eins. Wir müssen schleunigst der Orangerie aufs Dach steigen und die Göttin untersuchen.“
„Ich mache mit“, sagte Tante Tine und stand auf. Da schlug der Gong zum Abendessen.
IX
„Auf das Abendbrot verzichten wir“, bestimmte die Tante. „Die mögen sich ruhig nähren, wir tun was
viel Besseres.“
Als sie auf dem Platz hinter dem Gebäude angelangt waren, blieben sie stehen und sahen sich um. Es
begann zu dämmern, und das war gut so. Das Licht reichte gerade noch aus, um die „Göttin in der Mitte“
zu erkennen. Sie stand anmutig auf dem Dach der Orangerie, eine reizvolle Frauengestalt, von Girlanden
umgeben. Sie hielt den linken Arm ausgestreckt, in der Hand trug sie einen Blumentopf mit einer Geranie. Mit dem rechten Zeigefinger deutete sie auf die Geranie.
„Flora“, flüsterte Tante Tine, „eine Blumengöttin. Wie kommen wir da rauf?“
Edu pirschte an der Mauer der Orangerie entlang, dann winkte er. Da lagen zwei hohe Leitern an der
Seite.
„Tine, hast du Mut?“ fragte er.
„Wie die Axt im Walde“, erklärte Tante Tine.
„Gut. Dann werden wir jetzt die beiden Leitern anlegen und hinaufklettern.“
„Machen wir.“ Und sie taten es. Die Leitern waren schwer, und Tante Tine hatte heftig mit ihrem Hute zu
kämpfen, der ihr dauernd herunterrutschte, auch die Brille glitt von der Nase. Die Ohrgehänge klirrten.
Nach vielem Prusten hatten die beiden die Leitern aufgestellt. Sie reichten genau bis an das Dach.
„Los!“ zischte die Tante. „Du auf der einen, ich auf der anderen.“
Das Klettern begann. Edu war wie ein Wiesel oben, der Tante
fiel es nicht ganz so leicht. Er half ihr auf das flache Dach hinauf,
und da standen sie nun und sahen sich die mittlere Göttin von
hinten an.
Im Haupthaus glänzte Licht. Da saßen sie wohl nun alle im
Speisesaal und mästeten sich. Die Luft war rein, oder wenigstens,
es sah so aus, als sei sie rein.
„So, Edu, jetzt lass uns nachdenken. Eine Minute Denken kann
zehn Stunden Schweiß ersparen. Mir langt die Kletterei, und ich
wollte nur, wir wären schon wieder unten.“
„Vielleicht ist ein Geheimfach in der Figur?“
„Versuch mal, ob du sie drehen kannst!“ Edu versuchte, die Figur
stand fest.
„Lass mal“, sagte die Tante und tastete die Figur mit flinken
Fingern ab. „Nein, das ist alles massiv. Aber dieser Blumentopf .
. . Weißt du, die deutet so eigenartig mit dem rechten Zeigefinger
auf den Blumentopf. Ob das wohl ein Fingerzeig auch für uns
sein soll . . .?“
„Werden wir gleich haben, Tante.“ Edu schwang sich auf den Sockel der Figur und langte nach dem
Topf. Er stellte ihn auf das Dach und sah seine Tante an.
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„Ja“, sagte die, „nun haben wir also einen Blumentopf mit einer Geranie drin. Da haben wir was Rechtes.
Aber Moment mal!“ Sie griff an den Stamm der Blume und zog. Heraus kam die Geranie und die Erde.
Edu schnellte wie eine Schlange auf den geleerten Blumentopf und fingerte darin herum. „Leer“, sagte er.
„Ei Kuckuck“, schimpfte die Tante, „dann stimmt ja unsere ganze Berechnung nicht. Jetzt wird's aber
mulmig.“
„Warte mal - warte mal - Tine - mir fällt da was auf! Der Boden dieses Blumentopfes ist so auffällig
dick.“
„Her das Ding!“ befahl die Tante, ergriff den Topf und knallte ihn auf das Dach. Scherben klirrten.
Ja, und da lag was. Zwischen den Scherben lag etwas. Ein kleiner Beutel aus Gummi.
Und drüben gingen die Fenster des Speisesaales auf, Köpfe wurden sichtbar.
Die Tante hob den Beutel aus Gummi auf und befühlte ihn mit den Fingern. „Hat ihm schon!“ sagte sie,
nahm ihren Hut herunter, zog sich eine Haarnadel heraus und steckte den Gummibeutel mit der Haarnadel
oben an ihrem Dutt fest. Darüber stülpte sie ihren Hut und meinte schadenfroh: „So, nun können die
kommen! Wir aber verstecken uns hinter dem dicken Kübel dort und passen noch ein bisschen auf. Gib
mal einen anderen Blumentopf her - so - den stellen wir der mittleren Göttin wieder in die Hand. Die
anderen sollen auch ihren Spaß haben.“
Die beiden kauerten sich hinter einen umfangreichen Kübel aus gebranntem Ton, der leer auf dem Dache
stand, und warteten der Dinge, die da kommen sollten.
Zuerst kam die Stimme von Tante Emmi.
„Da oben muss es sein. Ich habe dir gleich gesagt, wir brauchen nicht lange zu suchen, die mittlere Göttin
- aber du weißt ja immer alles - los, klettere hinauf!“
Protestierend ertönte die Stimme von Samuel, ihrem Ehegemahl, in höchster Erregung. Und wie immer in
solchen Fällen, verlor Sammi dabei sein „L“, das heißt seine Zunge machte nicht mehr richtig mit: Statt
„L“ sagte er „N“ - wie man sogleich bemerken wird.
„Kommt gar nicht in Frage. Du weißt doch, dass ich nicht auf Neitern knettern kann. Ich bin ans Knabe
einman heruntergefannen, von einer ganz hohen Neiter, und nun knettere ich mehr. Nie mehr!“
„Wirst du wohl - oder ich bringe dich!“
„Ich knettere nicht, ich knettere nicht“, jammerte Onkel Samuel. „Annes, annes kannst du von mir vernangen, aber bitte ernass mir das!“
„Nun gut, dann werde ich selber…“, sagte Tante Emmi und trat auf die erste Sprosse. Man konnte es
deutlich hören, denn die erste Sprosse brach.
„Schweinerei!“ schimpfte Tante Emmi. „Na ja, wenn man mit so einem Feigling verheiratet ist! Macht
nichts. Es sind noch mehr Sprossen da.“
Krrrtsch! brach die zweite Sprosse. Krrrtsch! brach die dritte Sprosse.
Tante Tine saß hinter dem Kübel und lachte dicke Tränen. Edu hatte sich ein Taschentuch in den Mund
gestopft, weil er sonst laut losgewiehert hätte.
„Da ist noch eine andere Neiter“, sagte Samuels Stimme.
„Ja, aber da bin ich schon drauf!“ ertönte plötzlich die Stimme Egons. „Mir fällt es nicht so schwer.
Siehst du, liebe Emmi, hättest du mehr geturnt, so wärst du nicht so fett. Wärst du nicht so fett, könntest
du klettern. Ich aber bin gelockert, völlig gelockert. Und nun bin ich oben!“
Egon schwang sich wirklich mit großer Behändigkeit aufs Dach und ging festfedernden Schrittes auf die
mittlere Göttin zu. Hier traf er auf die Herren Bubu und Dr. Ing. Hut, die inzwischen von der anderen
Seite des Gewächshauses heraufgeklettert waren.
„Gehen Sie weg, Sie Naturfatzke“, sagte Herr Hut, „oder ich gebe Ihnen einen Kinnhaken, dass Sie vor
lauter Lockerung nicht mehr wissen, ob Sie Männchen oder Weibchen sind.“
„Reden Sie nicht so frech!“ sagte Egon streng.
Edu hielt es nicht mehr. Er kam hinter seinem Versteck hervor, ihm folgte Tante Tine. Sie gingen ganz
nah heran, um die Szene im letzten Lichte der Dämmerung noch mit genießen zu können. Niemand
schenkte ihnen Beachtung.
Denn nun geschah einiges blitzschnell. Dr. Hut holte zu seinem angekündigten Kinnhaken aus, aber im
nächsten Augenblick lag er flach auf dem Dach.
„Jiu Jitsu!“ sagte Edu anerkennend. „Prima abgewehrt.“
Zwei Sekunden später lag Onkel Bubu daneben.
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„Seht ihr“, bemerkte Egon und beugte sich über sie, „ihr habt eben nur an die Spannung gedacht, wild
darauf los seid ihr gerast. Der Weise dagegen -“ und er machte eine dramatische Bewegung mit dem Arm
– „der Weise kennt das rechte Verhältnis von Spannung und Entspannung, von Kraft und Lockerung.“
Und wieder ließ er seinen Arm weit ausschwingen. Und da machte es Pitsch.
Egon fuhr herum. Er hatte den Blumentopf der mittleren Göttin heruntergestoßen. Krachend zerbarst er
auf dem Hof. Egon sah ihm verdutzt nach, aber da erklang schon von unten Siegesgeheul.
„Schnapp ihn, greif ihn, Sammi - wir haben ihn!“ Dann hörte man das Ehepaar davonhasten.
Dr. Hut, Bubu und Egon standen wieder. Die beiden ersten befühlten sich die Knochen. Und Tante Tine
brach in ein wildes Gelächter aus. Als sie sich beruhigt hatte, sagte sie: „Komm, Edu. Wir gönnen Tante
Emmi ihren Blumentopf.“ Und zu den drei Herren gewandt: „Entspannt euch man ruhig weiter. Und
recht, recht gute Nacht.“
Mit ungeheurer Würde stieg sie die Leiter hinunter, und Edu folgte ihr.
„Auf!“ sagte die Tante, als sie unten angelangt waren, „auf zu Rechtsanwalt Kruse!“ Dann sang sie die
Marseillaise, und im Marschtritt trabte sie auf das Haus zu: „Allons enfants de la patrie ... !“
X
Herr Semmel ging von Tür zu Tür und lud die Herrschaften ein, sich sofort in die Bibliothek zu begeben,
um dort eine wichtige Mitteilung von Herrn Kruse entgegenzunehmen.
Man versammelte sich innerhalb weniger Minuten, d. h. Tante Emmi und Onkel Samuel brauchten sich
erst gar nicht zu versammeln, die waren sowieso schon da. Sie saßen an einem Tische und wühlten in
Erde. Vor ihnen lagen ein Berg von Blumentopfscherben, eine erschlaffte Geranie und ein Häuflein Erde.
Beide hatten sich die Erde ins Gesicht geschmiert und sahen leicht mitgenommen aus.
Sie setzten sich, wie sie waren, an den Tisch, und Tante Emmi biss sich auf ihre dicken Lippen.
„Meine Damen und Herren - äh!“ sagte Herr Kruse. „Ich habe Ihnen eine Mitteilung zu machen, ähemm.“
Er schwieg und nickte Tante Tine und Edu zu. Und fuhr fort: „Herr Eduard Biene, Erbberechtigter, und
seine Verwandte als Vormund haben den ersten Teil des Rätsels gelöst.“
„Wie bitte?“ sagte Tante Emmi und strich sich mit ihrer erdigen Hand über die Stirn, so dass sich eine
breite, schwarze Fingerspur darüber bildete. „Ich protestiere! Die haben sämtliche Lexikons mit Beschlag…“
„Ka“, sagte Tante Tine.
„Lexikons mit Beschlag belegt und in unfairer Weise damit unmöglich gemacht...“
„Ohne Nexikon kann man keine Rätsen nösen!“ stimmte Samuel zu.
Herr Kruse ließ sich aber nicht beirren. „Die Wege, auf denen Herr Eduard Biene zu seiner Lösung gekommen ist, sind unanfechtbar. Wenn er dazu Lexika benutzt, so verbietet das Testament etwas Derartiges nicht.“
„Die ganze Sache stinkt jedenfalls“, erklärte Onkel Bubu.
„Stinkt?“ warf Tante Tine dazwischen. „Das einzige was hier stinkt, bist du. Und zwar nach Pomade. Und
nach Neid.“
„Erlaube mal!“ fuhr Onkel Bubu hoch. „Dein Tonfall, verehrte Tine, ist ja reichlich derb. Und was Pomade anbetrifft, so ist die schließlich im Testament auch nicht verboten.“
Dr. Hut war wieder der ruhigste. Mit seiner gewohnten gepflegten Stimme warf er in die erregte Auseinandersetzung die Worte: „Wozu der Lärm? Vielleicht dürfen wir einmal hören, was die beiden Herrschaften herausgefunden haben?“
„Aber das mit den Lexikonen bringe ich vor Gericht, ich -“ schnappte Tante Emmi.
Herr Kruse beachtete diesen Einwurf nicht mehr, sondern sagte: „Herr Eduard Biene wird nun so freundlich sein, uns entsprechend den Bestimmungen die Lösung der ersten Aufgabe bekanntzugeben. Ähemm.“
Edu sah seine Tante an. Diese verzog den Mund zu einem Lächeln und nahm den Hut ab.
„So, da ist das Ding“, sagte sie und legte den gummiumhüllten Beutel auf den Tisch, nachdem sie ihn
umständlich von ihrem Dutt losgemacht hatte.
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Edu zog ein Taschenmesser heraus und schnitt die Gummihülle auf. Alle Augen waren wie gebannt auf
seine Bewegungen gerichtet. In der Gummihülle war noch eine zweite, dann kam Papier zum Vorschein.
Edu sah sich im Kreise um, räusperte sich und sagte: „Meine Damen und Herren! Ähemm!“
Tante Tine piekste ihn in die Seite, und er errötete. „Ich lese vor. Onkel Paul schreibt folgendes:
‚Liebe Anverwandte! Das erste Rätsel war leicht, nicht wahr? Ich gratuliere dem Gewinner, dem ein
Drittel meines Landbesitzes damit zufällt, und wünsche ihm gutes Erntewetter. Es folgt nunmehr die
zweite Aufgabe. Ich wünsche viel Vergnügen bei der Lösung. Der Text, den ihr zu raten habt, lautet:
Dem Kaiser folgt auf seinen Wegen!
Auf, auf zum Kampf, ergreift den Degen!
Dann Stich und Hieb, und Hieb und Stich!
Tut ihr's, gewinnt ihr sicherlich.
Drauf steigt heraus aus dunkler Nacht,
Aus dem verhüllten Acht mal Acht,
Ein Schimmel! Haltet euch daran,
Weil er euch alles sagen kann!’“
Edu hatte geendet, machte eine leichte Verbeugung und ließ die Abschriften des Rätsels herumgehen. Mit
hochrotem Kopf netzte er sich wieder hin.
„Blödsinn!“ schrie Tante Emmi. „Kompnetter Bnödsinn!“ echote Samuel. „Hm!“ machte Onkel Egon.
„Tief ausatmen - und dann tief einatmen!“ höhnte Onkel Bubu, „vielleicht fällt dir die Lösung dabei
sofort ein.“ Worauf er das Monokel in das Auge klemmte.
Dr. Hut und er lasen gemeinsam den Zettel durch.
„Die Reime sind gut“, sagte Herr Kruse.
„Ja, aber die ganze Sache hängt mir kilometerlang zum Halse heraus“, erwiderte Bubu. „Herr Rechtsanwalt! Meine Damen und Herren! Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu unterbreiten!“
„Deine Vorschläge, Bubu, sind mir von vornherein verdächtig“, sagte Tine. „Aber sprich mal ruhig, was
du auf dem Herzen hast.“
„Die ganze Sache ist---“, sagte Emmi und schwieg. „Bnödsinn!“, vollendete Samuel den Satz.
„Mein Vorschlag beruht auf einer Feststellung“, fuhr Bubu fort. „Sehen Sie, ich finde, wir überhasten die
ganze Sache. Ich muss Herrn Rechtsanwalt Kruse den Vorwurf machen…“
„Äh?“ fragte dieser und hieb sich kampflustig den Klemmer auf die Nase.
„- dass er die Sache nicht richtig vorbereitet hat. Ich kann nur feststellen, die ganze Geschichte hier
stimmt nicht. Man hätte uns doch mindestens einmal offiziell durch das ganze Haus und durch das ganze
Gelände führen müssen, ehe wir an eine solche Aufgabe herangehen. Da ist dieser Hausverwalter Semmel
- was tut der eigentlich? Wozu ist der eigentlich da? Wofür bezieht er von uns sein dickes Gehalt?“
„Männeken, Männeken“, brummte Herr Semmel aus seiner Ecke heraus und erhob sich halb, als wolle er
Onkel Bubu zerquetschen wie eine Motte.
„Sie haben gar nicht 'Männeken' zu mir zu sagen! Das ist ungehörig, flegelhaft und ein Zeichen schlechter
Erziehung! Sie haben jetzt uns, den Erbberechtigten, zu gehorchen. Ich glaube, ich habe dabei das Einverständnis aller anderen?“
Herr Hut, Tante Emmi, Samuel und Egon nickten mit dem Kopfe.
„Diesen Tatbestand haben wir mit überwältigender Mehrheit bei zwei Stimmenthaltungen festgestellt.
Haben Sie juristisch etwas dagegen einzuwenden, Herr Kruse?“
„Ähemm - nnnnein, eigentlich nicht.“
„Vorzüglich. Wir befehlen also dem ungebildeten Herrn Semmel, dass er uns morgen früh durch das
ganze Besitztum führt, durch das Haus und das Gelände. Ich habe gesagt: führt. Das heißt, wir befehlen
ihm, dass er uns alles genau erklärt, wie bei einer Fremdenführung. Ist dagegen etwas juristisch einzuwenden?“
„Ähemm - nnnnein!“ sagte Herr Kruse.
„Ausgezeichnet. Der ungehörige Herr Semmel hat ja schon so viele Führungen für fremde Besucher
mitgemacht, dass es ihm ein leichtes sein dürfte. Nun, Angestellter Semmel, sind Sie bereit?“
Herr Semmel erhob sich: „Wenn es der Herr Rechtsanwalt sagt, meinetwegen. Aber das sage ich Ihnen,
Männeken, wenn das mein verstorbener Chef Paul gehört hätte, was Sie da eben gesagt haben, der hätte
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ihnen links und rechts ein paar hinter die Birne gebraust. Und das sage ich Ihnen außerdem noch: Das
kriegen Sie wieder! Sie mit Ihrem Monokel und Ihrem Pomadenkopp! Ich bin ein ehrlicher Mann, ein
kleiner Angestellter, ich habe immer meine Pflicht getan. Männeken, nehmen Sie sich vor meiner aufgebrachten Volksseele in Acht!“
„Bravo!“ schrie Fritz Semmel.
Bubu warf ihm einen vernichtenden Blick zu: „Was tut eigentlich dieser Bengel hier? Überhaupt, was tut
die ganze Familie Semmel hier? Semmeln Sie ab, semmeln Sie runter in Ihre Budike, Sie haben hier
überhaupt nichts verloren.“
Familie Semmel verließ schweigend den Raum. An der Tür drehte sich Fritz noch einmal um und streckte
die Zunge heraus. Er kochte vor Wut.
„Herr Rechtsanwalt, ich glaube im Namen aller zu sprechen -“, sagte Bubu.
„Aber nicht in meinem und Edus Namen!“ zischte ihn Tante Tine an. „Leuteschinder!“
„ . . . dass hier ein unkorrektes Verhalten Ihrerseits vorliegt. Was haben diese Semmels hier überhaupt
verloren.“
„Mein Herr!“ sagte der Rechtsanwalt, „Ihre Vorwürfe lassen mich kalt. Sie entbehren jeder juristischen
Grundlage. Die Familie Semmel gehört zu den Erben, und da kann sie gut und gerne dabei sein, wenn äh - jedenfalls, begeben Sie, gerade Sie, Herr Biene, sich lieber nicht auf das juristische Eis! Da bin ich zu
Hause, da kann ich Schlittschuh drauf laufen, aber Sie -? Ähemm!“
Damit war die Sitzung aufgehoben. Emmi rauschte als erste mit ihrem Samuel im Schlepptau hinaus. Vor
Tante Tine blieb sie stehen und sagte: „Du siehst ja reizend Ich würde mich schämen, mit so einer Frisur…“
Tante Tine griff sich auf den Kopf. Wahrhaftig, sie hatte vor lauter Aufregung nicht einmal ihren Dutt
festgesteckt. Sie griff in ihre Handtasche, zog einen Spiegel hervor und sagte: „Guck dich mal an!“
Tante Emmi blickte in den Spiegel und sah ihr von Erde verschmiertes Gesicht. „Huch!“ schrie sie und
lief davon, so schnell es ihre zweieinhalb Zentner erlaubten.
Onkel Bubu kam vorüber und zerrte Edu am Ohrläppchen: „Na, du kleiner Teufel, du bildest dir wohl ein,
du hättest schon das ganze Vermögen in der Tasche?“
„Lass mich los“, sagte Edu.
Aber Bubu drehte das Ohrläppchen wie in einem Schraubstock herum. „Morgen ist auch noch ein Tag, du
kleines Biest!“
Onkel Egon aber saß noch immer auf seinem Stuhl. Er übte Kopfrollen.
XI
Am nächsten Morgen ging die von Onkel Bubu vorgeschlagene Führung durch das Landhaus vor sich.
Tante Emmi trat dabei mit der Miene einer gekränkten Leberwurst auf, Onkel Bubu sah hochmütig aus,
Dr. Hut machte ein abweisend kaltes Gesicht, und Egon streifte mit seinen klappernden Sandalen hinterdrein.
Herr Semmel warf Onkel Bubu zuweilen einen bösen Blick zu, aber er gab sehr sachliche Erklärungen.
„Dies ist das St. Helena-Zimmer“, sagte er, „genau nach dem Original aufgebaut. Da liegt er und stirbt!“
Er deutete auf das Bett, und richtig, da lag der Kaiser Napoleon in Wachs abgebildet und sah sehr gelb
aus. Was Tante Emmi zu der Bemerkung veranlasste: „Nein, wie geschmacklos.“ Sie ging trotzdem ganz
nahe an das Bett heran und lüpfte sogar die Decke etwas, wohl um sich das Muster des Nachthemdes
Seiner Majestät einzuprägen.
Ein anderer Raum hieß „Solle des Domes“, Saal der Damen. Da war die Mutter Napoleons, Madame
Lätitia, in goldenem Rahmen zu sehen, mit einem traurigen Blick. Da waren die Kaiserin Josephine, und
die polnische Gräfin Walewska. Von Marie-Louise, der zweiten Gattin, hing nur eine abscheuliche Karikatur da. Onkel Paul hatte es nicht über sich bringen können, die Treulose in einem guten Bilde verewigt
zu sehen.
Es folgte ein „Zimmer der Schlachten“. An der Wand war ein riesiges Gemälde aufgemalt, das Europa
darstellte. Diese Landkarte zeigte aber nur diejenigen Orte, die etwas mit der Geschichte Napoleons zu
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tun hatten, und die Schlachtorte waren besonders groß und sorgfältig eingezeichnet. Der kleine Ort Lodi
beispielsweise war ein großer, roter Kreis, daneben war ein Geschütz gemalt. Neben dem Kreis, der
Austerlitz andeutete, hatte der Künstler eine kleine Sonne gemalt, die sich aus dem Frühdunst hervorhob,
die berühmte „Sonne von Austerlitz“. Über dem ganzen Gemälde hing ein großes „N“, darüber die Krone, darunter zwei gekreuzte Säbel.
So gab es noch vielerlei zu sehen, für Edu war am interessantesten das Paar von französischen Grenadieren, das vor dem eben gekennzeichneten Schlachtenzimmer auf Posten stand. Sie trugen die Uniformen
der napoleonischen Zeit, stierten mit ihren Glasaugen in den Korridor, und hatten im übrigen Trommeln
vor ihre Bäuche gebunden. Die Trommelstöcke waren über dem Kalbfell erhoben. Während Herr Semmel
der Gruppe ein Bild an der gegenüberliegenden Wand erklärte, rasselte und schnurrte plötzlich ganz
unerwartet etwas.
Alle fuhren herum, und siehe da, die beiden Trommler wackelten mit dem Kopfe und hieben auf ihre
Trommeln ein, dass der ganze Korridor dröhnte.
„Haben Sie die Dinger angedreht?“ fragte Dr. Hut.
„Jawohl. Während Sie alle woanders hinguckten. Ich verrate aber nicht, wie man das macht. Nicht mal
mein Junge weiß das, sonst würden wir dauernd Trommelkrach haben.“
„Rumm - rummm - rummm -“ machten die Trommeln. Dann hörte das Dröhnen auf, die Grenadiere
zuckten noch einmal mit ihren Wachsköpfen, und dann standen sie wieder starr wie vorher.
„Prima“, sagte Edu.
„Sehr niedlich“, sagte Onkel Samuel.
„Niedlich?“ fuhr ihn seine Frau an. „Grässlich finde ich sie.“
„Jawohl. Grässlich“, sagte mit ergebener Miene Sammi. So sehr stand er unter dem Pantoffel.
Man sah in viele Ecken und Winkel, sehr gründlich wurde Semmels Wohnung im Erdgeschoß besichtigt.
Onkel Bubu ließ nicht nach.
„Ich will mir ein genaues Bild machen“, sagte er.
Bei Semmels in der Küche wurde eine Kiste aufgedeckt, und da saß sie, Petite, die Schildkröte, wie ein
Tier aus der Urzeit. Petite steckte den Kopf unter ihrem Panzer hervor, als Herr Semmel leise „Wswsws“
machte und äugte in der Gegend herum.
„250 Jahre alt“, erklärte Herr Semmel. „Der Kaiser hat oft mit ihr Zwiesprache gehalten oder mit ihr
gespielt, als er von dem Kerl da, dem Engländer, diesem Lowe, misshandelt wurde.“
„Was frisst sie denn?“ fragte Tante Tine.
„Allerlei! Grünen Salat hat sie sehr gern.“
„Mit Essig und Öl?“ wollte Tante Emmi wissen. Aber Herr Semmel sah sie nur mit einem vernichtenden
Blicke an.
„So ein widerliches Tier“, sagte Emmi. „Ich könnte so etwas nicht in meiner Nähe - - -. Igittigitt, da ekelt
man sich ja --- Paul, ich will ja nichts Schlechtes über ihn --aber so ein Vieh - pfui.“
„Na warte“, sagte Edu leise zu Tante Tine.
Dann ging die ganze Gesellschaft hinter Semmel in den Hof. Ja, und da geschah etwas sehr Bedauerliches. Dr. Hut rutschte aus und schrie. Er setzte sich auf die Stufen und betastete seinen Knöchel.
„Verdammt!“ sagte er. „Ich habe mir den Fuß verknackst. Jetzt kann ich mich langlegen und Umschläge
machen. Verdammt!“
„Können Sie wirklich nicht mehr laufen?“ fragte Onkel Bubu.
„Ausgeschlossen. Das passiert mir öfters. Aber lassen Sie sich dadurch nicht stören, halten Sie nur die
Augen offen. Verdammt!“ Und er stand auf und hüpfte auf einem Fuß die Treppe hinauf.
„Das kommt mir aber sehr ungelegen“, sagte Onkel Bubu. „Na, dann kann ich es auch nicht ändern.“
Sie setzten ihren Rundgang durch den Park, durch die Orangerie und durch die Tempelchen und Lauben
fort. Onkel Bubu blieb an jeder Steinbank stehen und ließ sich ausführliche Erklärungen geben, obwohl
da beim besten Willen nicht viel zu erklären war. Wann die Bänke aufgestellt worden wären, wer sie
geliefert hätte, wollte er wissen, und was jenes Tempelchen dort für ein Stil sei, und ob dieser Ahorn ein
gewöhnlicher Ahorn sein oder ob er auch etwas mit Napoleon zu tun gehabt habe.
Herr Semmel gab kühle, knappe Antworten, und die anderen langweilten sich sichtlich. Tante Emmi
setzte sich schnaufend auf jede Bank, Onkel Egon benutzte die Gelegenheit, um die Frühlingsluft tief einund natürlich auch wieder auszuatmen. Edu stand sinnend dabei. Schließlich zupfte er seine Tante am
Ärmel: „Du, Tine, da stimmt was nicht!“
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„Was soll denn nicht stimmen?“
„Ich weiß nicht, ich weiß nicht. Diese Fragen von Onkel Bubu sind mir zu gemacht. Das ist doch alles
Quatsch, was der wissen will.“
„Meinst Du?“
„Ja, aber wenn ich nur wüsste . . . .“
Zum Schluss wurde auch noch der Hund Lupus vorgeführt. Er lag friedlich in seiner Hundehütte, als die
Gruppe ankam.
„Lupus!“ rief Herr Semmel. Der Hund streckte sich, gähnte und blickte misstrauisch auf die Leute, die
ihn gestört hatten. Tante Tine ging schnurstracks auf ihn zu und streichelte ihn. Er wedelte mit dem
Schweife. Edu streichelte ihn auch. Lupus schwänzelte.
„Alle Wetter“, sagte Herr Semmel, „das ist ja allerhand. Der lässt sonst niemanden ran.“
Plötzlich verzog der Hund die Nase, dass seine Zähne sichtbar wurden. Er graulte dumpf, dann tat er
einen Sprung, dass sich die Kette dehnte, und biss Onkel Bubu in seine gestreifte Hose. Bubu schnellte
wütend zurück, besah sich den riesigen Riss an seinem linken Hosenbein und schimpfte los: „Sie! Semmel! Daran sind Sie schuld! Sie haben das Ganze so eingefädelt. Das kommt Sie teuer zu stehen. So einen
wildgewordenen Köter auf die Menschheit loszulassen!“
„Aber Sie wollten doch alles genau kennen lernen“, sagte Herr Semmel ruhig. „Ich habe nur Ihren eigenen Befehl ausgeführt. Werden Sie doch nicht immer gleich persönlich!“
„Ich? Ihr dämlicher Köter ist persönlich geworden! Sehen Sie sich das an!“ Und er zeigte seine zerfetzte
Hose vor.
Der Hund hatte wohl gemerkt, dass von ihm die Rede
war, und nun tat er einen neuen Sprung. Aber Onkel
Bubu lief wie ein Berserker davon. Laut jaulte Lupus.
Und Onkel Bubus Hosenfetzen flatterten im
Frühlingswind, während er keuchend die Treppe
hinaufstürzte.
„Tja“, sagte Herr Semmel, „so ein Tier hat eben einen
Inschtünkt. Das kann ganz genau unterscheiden, wer gut
und wer böse ist.“
Lupus interessierte sich nun etwas reichlich auffällig für
Tante Emmi. Diese wich entsetzt rückwärts, stieß an
einen Stein und setzte sich hin, dass es plumpste.
„Tscha“, sagte Herr Semmel, „das tut mir aber sehr leid.
Sie ahnen gar nicht, wie leid es mir tut.“
Tante Tine aber schien die ganze Szene gar nicht mitgekriegt zu haben. Sie starrte sinnend nach den
Fenstern des Haupthauses hinauf.
„Ich glaube“, sagte sie, „es wird höchste Zeit, dass wir die Führung abbrechen. Sonst könnten noch viel
schlimmere Dinge passieren.
„Noch schlimmer als der Fall meiner lieben Emmi?“ fragte Samuel, der sich bemühte, seine ihm angetrauten zweieinhalb Zentner wieder aufzuheben, was ihm aber nicht gelang. Onkel Egon und Edu sprangen hinzu und richteten die zerschmetterte Tante mühsam wieder auf.
„So“, sagte Egon nach beendeter Anstrengung, „nun ganz ruhig ausatmen, dann wieder einatmen!“
Tante Emmi sah ihn gehässig an. „Du Blödel“, sagte sie. Und wütend stapfte sie davon.
XII
„Weißt du was, Tante“, sagte Edu, „mich regt die Geschichte mit dem Dr. Hut auf.“
„Hm. Warum?“
„Dieser Sturz auf der Treppe kommt mir verdächtig vor. Da stimmt was nicht. Wir waren alle draußen im
Park, er aber war im Hause. Was hat er da gemacht? Wahrscheinlich hat er auf dem Bett gelegen und sich
kalte Umschläge gemacht, aber gleichzeitig hat er Zeit gefunden, das Rätsel zu raten.“
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„Hm“, sagte Tante Tine. „Wenn es das bloß wäre? Aber ich habe das Gefühl, dass noch viel mehr nicht
stimmt.“
„Wieso?“
„Als die Sache mit dem Hunde passierte, sah ich nach dem Hause. Nach unseren Fenstern. Und da sah ich
jemanden. Ich kann es nicht beschwören, aber mir schien es so, als ob das der Dr. Hut wäre.“
„Dr. Hut? Bei uns im Zimmer? Aber was kann er denn hier gesucht haben? Die Lösung des zweiten
Rätsels? Wir haben ja selbst noch keine Ahnung, was es bedeutet! Nein, wenn der hier war, wollte er
etwas anderes. Aber was .... ?“
„Nun, wir werden es schon rauskriegen. Setz dich hin, lauf nicht wie ein angeschossener Igel in der Gegend rum, lass uns überlegen. Lies noch mal das Gedicht vor, ich habe meine Brille irgendwo gelassen.“
Edu las vor:
„Dem Kaiser folgt auf seinen Wegen!
Auf, auf, zum Kampf, ergreift den Degen!
Dann Stich und Hieb, und Hieb und Stich!
Tut ihr's, gewinnt ihr sicherlich.
Dann steigt heraus aus dunkler Nacht,
Aus dem verhüllten Acht mal Acht,
Ein Schimmel! Haltet euch daran,
Weil er euch alles sagen kann.“
„Sieh mal nach, ob meine Brille in der Waschschüssel liegt. Mir war doch so . . .“
Edu fand das gesuchte Sehinstrument wirklich im Waschhecken. Sonst hätte er über diesen erneuten
Beweis der Zerstreutheit seiner Betreuerin hellauf gelacht, diesmal aber brachte er ihr das Gewünschte
mit ernster Miene.
„Ich verstehe nicht das mindeste von diesem Rätsel“, sagte die Tante. „Wenigstens vorläufig. Hoffentlich
haben die anderen nicht schon die ganze Nacht über dran rum geraten. Dann wären sie uns meilenweit
voraus. Verstehst du was von diesem verrückten Zeug?“
„Nein - ja. Nein“, sagte Edu. „Ich habe aber eine Ahnung.“ Er lief im Zimmer hin und her, blieb am
Fenster stehen, wandte sich zurück.
„Ich weiß nicht, aber ich finde, wir brauchen ja nicht immer mit der ersten Zeile anzufangen. Mittendrin
kommt was vor - da möchte ich beinahe sagen - mir ahnt -“
„Du sprichst schon genau so abgehackt wie deine Tante Emmi“, sagte die Tante strafend. „Bilde vollständige Sätze! Es ist schon genug, wenn Onkel Paul in Rätseln redet, da brauchst du es nicht auch noch.“
„Acht mal acht“, flüsterte Edu und ging wieder zum Fenster. „Was ist achtmal acht?“
„64“, antwortete Tante Tine.
„Das hast du schnell herausgefunden, teure Tante. Und was hat ein Schimmel mit achtmal acht zu tun?“
„Wenn ich das man bloß wüsste! Weißt du es?“
„Nein. Ja. Nein. Doch .... ! DOCH .... ! Tante, hör mal zu!“ schrie Edu, und plötzlich sagte er mit dem
Tone höchsten Erstaunens: „Was ist denn das?“
„Was ist denn was?“ fragte Tine erstaunt zurück, erhob sich und kam näher. Sie ging dicht an Edu heran.
Seine blonden Haare hingen ihm wie immer wirr ins Gesicht, seine blauen Augen hatten einen halb blöden, halb fiebrigen Ausdruck angenommen.
„Da“, sagte er und deutete auf das Fensterbrett.
Tine ging heran, bückte sich, zuckte die Achseln und fragte: „Na und?“
Edu stierte seine Tante wie geistesabwesend an, dann rannte er aus dem Zimmer und knallte die Tür
hinter sich zu.
Sie sah ihm kopfschüttelnd nach und seufzte: „Na ja, wenn die ganze Familie einen Spleen hat, muss er ja
auch einen haben. Onkel Paul mit dem Napoleonklaps, Emmi mit ihrer ganzen Person, Onkel Bubu mit
seinen Schiebergeschäften und seinem Monokel, Egon mit seinen Kniebeugen und seinem Ein- und
Ausatmen - warum sollte Edu denn aus der Art geschlagen sein? Alles leicht verrückt...“
Mit einem Ruck wurde die Tür aufgerissen, Edu trapste ins Zimmer, und Fritz folgte ihm auf dem Fuße.
Edu schleifte Fritz buchstäblich an das Fenster und deutete auf das Brett. Fritz betastete etwas mit den
Fingern. Dann grinste er. Er ging zu dem großen Kachelofen, der in einer Ecke stand und öffnete eine
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durchbrochene gusseiserne Klappe. Schnell machte er sie wieder zu und pfiff leise durch die Zähne vor
sich hin, kam auf Tante Tine zu und flüsterte ihr ins Ohr: „Einen Bleistift und Papier. Und ein Handtuch!“
Tante Tine sah ihn an, wie man einen Marsmenschen ansehen würde.
„Armer Junge, nun bist auch du verrückt geworden!“
„Psch!“ machte Fritz und legte den Finger auf den Mund. Und während Tante Tine Bleistift und Papier
hervorkramte, ging er selber an den Waschtisch, nahm ein Handtuch weg, öffnete die Ofenklappe wieder
und hängte es hinein.
„Wir sind belauscht!“ schrieb er auf den Zettel. „Achtung! Gefahr! Nicht reden!“
Tante Tine sah seinem Treiben mit offen stehendem Munde zu. Fritz glitt wie ein Wiesel durchs Zimmer
und untersuchte gründlich. Schließlich setzte er sich auf das Sofa.
„Nun können wir offen reden!“ sagte Fritz.
„Endlich!“ sagte Edu.
„Ihr Wichte!“ sagte Tante Tine. „Ihr Wichte. Ihr habt was rausgefunden, und jetzt macht ihr ein Geheimnis draus. Das ist gemein von euch. Bin ich nun eure Tante oder nicht?“
„Meine nicht“, grinste Fritz.
„Aber meine!“ sagte Edu. „Du sollst ja alles erfahren.“
„Wird aber auch höchste Zeit!“
„Ich habe dir doch den Draht schon längst gezeigt“, bemerkte Edu.
„Draht? Von was für einem Draht redest du?“
„Na, von dem, der durchs Fenster reinkommt und auf dem Fensterbrett langläuft.“
„Ist da ein Draht?“ fragte Tante Tine. „Ist mir nicht aufgefallen!“
„Aber mir. Und da bin ich gleich zum Spezialisten gelaufen, zu Fritz. War auch gut so, denn sonst...“
„Wollt ihr Schlingel mir endlich sagen, von was ihr sprecht? Ich verstehe kein Wort!“
Fritz räusperte sich. Dann hob er an: „Das sieht doch jedes Kind, was hier los ist.“
„Ich bin aber kein Kind!“ knurrte Tante Tine, die jetzt sichtlich ärgerlich wurde.
„Der Draht war vorher nicht da“, sagte Fritz. „Das fiel Edu auf. Und da kam er zu mir. Und da habe ich
nachgesehen, und da habe ich gleich das Mikrophon entdeckt.“
„Mikrophon? Hier? In diesem Zimmer?“ schrie die Tante.
„Psch“, machte Fritz. „Nicht so laut. Ich habe zwar ein Handtuch drüber gehängt, aber man kann nie
wissen. Da drin im Ofen baumelt es. Eine gute Marke. Ich kenne die Fabrik. Liefert nur Qualität. Ich habe
da auch schon Radioröhren her bezogen. Mucke und Mucke heißt die Firma. Sie sind zwar ein bisschen
teuer, aber -“
„Mikrophon!“ sagte die Tante und stand auf. „Mikrophon! Das ist doch so eine kleine Wichsschachtel,
wo man reinspricht?“
„Wichsschachtel nicht, aber es sieht so ähnlich aus. Bloß drin ist keine Wichse.“
„Tine, irgendwer hat uns diesen Abhörapparat hier hereingelegt. Er will unsere Gespräche belauschen.
Wer kann das wohl gewesen sein?“
Tine kniff die Augen zusammen und sagte: „Das war dieser Hut! Der ganze 'Unfall' war Schwindel!
Während wir im Parke herumgingen und die dummen Fragen von Onkel Bubu über die Bänke und den
Ahorn anhören mussten, hat der hier Mikrophone gelegt.“
„Was tun wir nun? Wir schneiden das Ding einfach ab!“ empfahl Edu.
Aber Fritz tippte sich mit dem Zeigefinger vor die Stirn: „Du spinnst wohl“, sagte er, „lass das ruhig dran.
Ich täte das hängen lassen, und ich täte manchmal das Handtuch drüber hängen, und manchmal täte ich es
wieder abnehmen. Ich täte die schön an der Nase herumführen.“
Die Tante zwinkerte ihn an und stellte fest: „Junge, dein Deutsch ist furchtbar. Täte - täte - täte.“
„Täten Sie das nicht tun?“ fragte Fritz unbekümmert zurück.
„Doch, mein Junge, ich ahne, worauf du raus willst. Wenn wir uns hier ernstlich über das Rätsel unterhalten, dann decken wir das Mikrophon zu. Dann kann Dr. Hut nichts hören. Wenn wir ihn aber überlisten
wollen, dann nehmen wir das Handtuch ab. Sag mal, wie kann der Dr. Hut uns eigentlich abhören?“
„Der sitzt in seinem Zimmer und hat Kopfhörer auf“, sagte Fritz. „Ist doch klar. Und jetzt hört er nichts
von wegen dem Handtuch. Soll ich es einmal abnehmen?“
Die Tante sah ihn sinnend an. „Gut. Aber du darfst keinen Ton piepsen. Er muss denken, Edu und ich
sind hier allein. Also los!“
Fritz sauste an den Ofen und nahm das Handtuch weg.
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„Acht mal acht“, sagte Tante Tine mit gellender Stimme, „das ist natürlich das Jahr 1808. Und was war
da los, Edu?
„Weiß ich nicht, Tante!“
„Aber ich weiß es. 1808 hatte Napoleon seine Welteroberungspläne. Bis Indien wollte er. Und da traf er
sich mit dem Zaren Alexander in Erfurt. Er wollte ihn einwickeln, aber das gelang ihm nicht. Im Oktober.
Wart mal, Edu, Oktober, das ist der achte Monat ...“
„Der zehnte, Tante Tine.“
„September heißt der siebente, Oktober der achte, November der neunte, Dezember der zehnte. Das
stammt noch von den alten Römern her. 1808. Und der achte Monat - das ist doch ganz klar, da haben wir
diesen Punkt des Rätsels gelöst. Acht mal acht braucht uns jetzt kein Kopfzerbrechen mehr machen. Acht
mal acht, dass ich nicht lache. Da hat sich Onkel Paul wohl eingebildet, uns ein besonders schweres
Rätsel vorzusetzen! Nur gut, dass die anderen zu dumm sind, um so schnell dahinter zu kommen. Ich
wüsste das auch nicht, wenn Napoleon nicht damals mit Goethe zusammengetroffen wäre. So was weiß
eben der gebildete Mensch. Dieser Dr. Hut ist bestimmt kein gebildeter Mensch. Außerdem ist er ein
Uhu. Ein richtiger Uhu. Vor dem kann man Angst kriegen. So ein Gaunergesicht. Pfui Teufel, und mit so
was gibt sich dein Onkel Bubu ab.“
Fritz saß in einer Ecke und stopfte sich ein Taschentuch in den Mund. Er konnte sich nur mit Mühe das
Lachen verbeißen. Auch Edu griente unverschämt.
Tine fuhr fort: „Aber dein Onkel Bubu ist hinter etwas her. Seine Fragen nach den Bänken im Park sind
sehr verdächtig. Da steckt etwas dahinter. Er ist ja sonst dumm wie Bohnenstroh, aber da stimmt etwas
nicht. Edu, nimm die Decke weg. Hier hat man ja keinen Platz, die Zimmer sind viel zu klein.“
„Wohin soll ich sie denn tun?“ fragte Edu.
„Ach, häng sie wieder über den Ofen. Der ist ja sowieso jetzt kalt.“
Sie selber eilte auf den Kachelofen zu, hängte das Handtuch über die „Wichsschachtel“, schloss die
durchbrochene Klappe und hängte eine wollene Decke über den Ofen.
„So“, sagte sie, „nun sollen die mal schön schmoren. Jetzt können die sich den Kopf über das Jahr 1808
zerbrechen, bis sie schwarz im Gesicht werden. Ich wette, die sind schon unterwegs nach der Bibliothek.
Und du, Fritz, komm mal her.“
Sie gab ihm die Hand: „Du bist ein feiner Junge. Wir danken dir sehr für deine Mithilfe, wir werden das
nicht vergessen. Und nun zwitschere ab.“
Fritz nahm die Hand und fragte: „Warum haben Sie denn das mit der Decke gemacht?“
„Och, das ist ein kleines Experiment. Ich wette, dass hier bald jemand erscheint. Nun aber fort, wir haben
noch miteinander zu reden.“
„Moment mal, Tante. Fritz, gibt es hier irgendwo ein Schachbrett?“
„Ja, dutzendweise.“
„Irgendein besonderes?“
„Ja, in dem Schlachtenzimmer. Da liegt aber ein Läufer drüber. Das Schachbrett ist in den Boden eingelassen.“
„Raus mit dir!“ sagte die Tante Tine. Fritz verschwand.
„Edu“, sagte Tante Tine, „mir dämmert, was du meinst. Ich glaube, du hast recht - da ist der Ansatzpunkt.
Herein!“
In das Zimmer trat Onkel Bubu mit einem freundlichen lächelnden Gesicht und verbreitete einen starken
Pomadegeruch um sich her.
„Entschuldigt, wenn ich störe“, sagte er höflich und sah nach dem Kachelofen, „aber ich habe euch hier
eine kleine Aufmerksamkeit mitgebracht.“
Damit stellte er eine Schachtel Pralinen auf den Tisch.
Die Tante verzog die Nase und sagte: „Die sind wohl vergiftet?“
„Aber liebe Tine, sei bitte nicht so bissig. Ich finde doch, wir sollten uns vertragen, so lange wir hier sind.
Das gilt auch für dich, Edu.“
„Ich will von dir keine Pralinen“, sagte Edu. „Nachdem du mir gestern Abend vor Wut bald das Ohrläppchen abgedreht hast.“
„Aber das war doch ein Scherz! Du hast doch Humor. Dein Onkel Bubu darf sich doch mal einen Scherz
mit seinem Neffen erlauben.“
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Er sah sich im Zimmer um. „Ganz hübsch habt ihr es hier. Nette, reizende Möbel. Wirklich reizend! Und
dieser hübsche, hübsche Kachelofen. Sicher auch sehr alt.“
Tante Tine warf Edu einen verschmitzten Blick zu.
„Ach, da habt ihr ja eine Decke drüber gehängt. Wolle!“ Er befühlte sie und wiederholte: „Wolle. Erstklassige Ware.“ Bei diesen Worten nahm er die Decke ab, legte sie zusammen und warf sie auf einen
Stuhl. „Na, ich will euch nicht weiter aufhalten. Lasst euch die Pralinen schmecken und denkt nicht zu
schlecht von mir!“
Als er das Zimmer verlassen hatte, raste Tante Tine auf den Ofen los und entnahm ihm das Handtuch. Mit
süßer Stimme sagte sie: „Auf Wiedersehen, Bubu, und vielen Dank für deine Aufmerksamkeit. Vielleicht
haben wir ihm doch unrecht getan, Edu ...?“
Der aber saß da und schüttelte vor Lachen.
XIII
Tante Tine und Edu gingen spazieren, nachdem sie vorsorglich das Handtuch vom Mikrophon entfernt
hatten. Sie setzten sich auf eine der Parkbänke, wo sie sicher sein konnten, nicht belauscht zu werden.
„Also Junge, nun rede mal“, sagte Tante Tine und begann zu häkeln. „Was ist mit dem Acht-mal-acht
wirklich los?“
„Sehr einfach“, erwiderte Edu. „Da kann es sich nur um ein Schachbrett handeln. Ein Schachbrett hat auf
jeder Seite acht Felder - achtmal acht Felder sind vierundsechzig. Deine Erklärung mit dem Jahre 1808 -“
„Ist sehr gesucht. Weiß ich, Edu, aber Dr. Hut und dein liebenswerter Onkel Bubu sollen ja auch auf eine
falsche Spur gehetzt werden. Also ein Schachbrett. . .“
„Ja. Und es heißt: ‚Drauf steigt heraus aus dunkler Nacht, Aus dem verhüllten Acht-mal-acht - Ein
Schimmel.’
Das Schachbrett wird also ausdrücklich als verhüllt bezeichnet. Und in dem Schlachtenzimmer befindet
sich tatsächlich ein verhülltes Schachbrett. Fritz hat es ja gesagt: Da liegt ein Läufer drüber. Ich habe den
Läufer hochgehoben, und richtig, in den Fußboden ist ein riesiges Schachbrett eingelassen. Aber kein
Mensch weiß, wo die Figuren dazu sind. Ich habe Herrn Semmel gefragt.“
„Und welchen Bescheid hat er dir gegeben?“
„Er hätte die Figuren einmal gesehen. Sie seien so groß wie Tassen, aber er habe keine Ahnung, wo Onkel Paul sie verborgen gehalten hätte. Onkel Paul hätte zuweilen mit einem Nachbarn Schach in dem
Schlachtenzimmer gespielt. Dabei saßen er und der Gegner sich in Klubsesseln gegenüber, und sie bewegten die Figuren mit langen Stöcken über das Brett. Aber wo die Stöcke sind, weiß Herr Semmel auch
nicht. Wir müssen aber die Figuren unbedingt haben.“
„Warum?“
„Weil es heißt, dass aus dem verhüllten Schachbrett ein Schimmel steigen soll. Ein Schimmel, das kann
ja nur ein weißer Springer sein. Soweit scheint mir die Sache ganz klar zu sein - aber bitte, wo sind die
Figuren?“
Emsig häkelte die Tante. Dann sagte sie: „Vielleicht gibt uns der erste Teil des Rätsels darüber Auskunft.“ Sie kratzte sich mit der Häkelnadel hinter dem Ohr. „Degen“, sagte sie, „Degen. Auf, auf, zum
Kampf, ergreift die Degen. Degen sind ja da. Über dem großen Europabilde. Zwei kleine gekreuzte Säbel.
Aber was sollen sie bloß bedeuten?“
Edu brütete vor sich hin. „Ich weiß es nicht. 'Dem Kaiser folgt auf seinen Wegen' . . .! Was kann das nur
heißen? Wir können doch nicht durch halb Europa reisen, von Spanien bis Moskau ... ? Nein, wir hängen
fest. Gib es ruhig zu, Tante, diesmal versagen wir. Wir tappen im Dunkeln.“
„Dem Kaiser folgt auf seinen Wegen“, murmelte die Tante. „Vielleicht meinte Onkel Paul, wir sollten
dem Kaiser auf der Karte entlang folgen. Aber ich sehe nicht ein, was das nützt. Jedenfalls müssen wir
erst einmal folgendes tun: Wir müssen uns die 'Wege' des Kaisers aufschreiben, eine ganze Liste. Die
Namen, die wir dabei gewinnen, verfolgen wir auf der Karte. Vielleicht fällt uns dabei noch was ein.“ Sie
seufzte: „Hoffentlich.“
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Edu drehte seinen wie immer überhängenden Schopf mit dem Zeigefinger zu einem weizengelben Haarbündel zusammen. „In meinem Kopfe zuckt so was wie ein Irrlicht. Mir ist so, als ob auch dieses Rätsel
ganz leicht wäre, nur wir sind blind.“
„Vielleicht versuchst du es mal mit Ein- und Ausatmen wie dein Onkel Egon!“ spöttelte die Tante.
„Ach lass man, Tante, der Egon ist noch immer der beste. Seine Entspannungsgeschichten sind natürlich
verdreht, aber immerhin ist er kein übler Mensch. Und wie er die beiden auf der Orangerie mit Jiu-Jitsu
auf den Boden legte ... Der hat was drauf! Und mit seiner komischen Atmerei hat er ja auch das erste
Rätsel ziemlich rausbekommen.“
„Ziemlich. Hätte er noch ein bisschen schneller Luft geschnappt, dann wäre er uns vielleicht zuvorgekommen. Aber, ohne Spott, du hast recht, er ist wirklich der angenehmste von allen. Schimmel ...
Schimmel ... Degen ... Degen ... Nein, mir fällt nichts ein. Komm, wir gehen zurück. Oder warte mal, wie
wäre es, wenn wir Bubu und Hütchen einen Streich spielten. Dazu brauchen wir aber Fritz. Geh hin und
hole ihn. Ich muss etwas mit ihm besprechen.“
Sie schritten langsam zum Hause zurück, und Edu verschwand in der Verwalterwohnung.
Tante Tine sah mit aufgerissenen Blicken ins Leere, als die beiden Jungen hereingestürmt kamen.
„Edu hat mir gesagt, dass Acht-mal-acht ein Schachbrett bedeutet. Und dass es im Schlachtenzimmer-“
Fritz hielt inne und sah die Tante verblüfft an.
Die machte vor Entsetzen weite Augen, hatte sich wie im Todesschreck die linke Hand vor den Mund
gelegt und deutete mit der rechten nach dem Ofen.
Fritz und Edu wandten den Blick dorthin. Ach du grundgütiger Strohsack! Das Mikrophon war nicht
verhängt, und Dr. Hut musste die verhängnisvollen Worte gehört haben, die Fritz ausgesprochen hatte.
Das war ein Reinfall ersten Ranges. Damit hatten sie ihr Geheimnis preisgegeben, und Dr. Hut wand sich
jetzt bestimmt vor Vergnügen auf seinem Sofa. (Was er im Übrigen auch wirklich tat.)
Die beiden Jungen waren zu Eissäulen erstarrt und glotzten Tante Tine an.
„Ich glaube eher, dass es das Schachbrett in der Bibliothek ist“, erklärte Tante Tine. „Das war Onkel
Pauls Lieblingsschachbrett. Edu - nimm die Decke weg! Wer hat denn die auf den Stuhl gelegt. Die ist
einem ja überall im Wege. Hänge sie über die Hundehütte oder über den Ofen. Bei der Wärme braucht
man doch keine wollene Decke ...!“
Dann verdeckte sie selbst wieder das Mikrophon, wandte sich um und bellte die Jungen an: „Ihr seid
Idioten! Was seid ihr?“
„Idioten“, sagten die beiden schuldbewusst.
„Jetzt habt ihr alles verpatzt. Jetzt weiß Dr. Hut Bescheid. Und wenn er nur ein klimperkleines bisschen
gescheiter ist als wir, oder besser als ich - denn ihr seid nicht gescheit, sondern Idioten -, dann kommt er
uns zuvor. Jetzt müssen wir uns was überlegen, damit wir Bubu und Hütchen ablenken. Das heißt, ich
habe mir schon etwas überlegt. Dazu gehört aber Gehirn, und das habt ihr nicht; denn ihr seid - na, ihr
wisst schon.“
„Ja, ja, ja“, sagten die beiden Jungen. „Aber nun sag uns schnell, wie wir die zwei hereinlegen können!“
„Gut, aber ihr müsst mitspielen. Fritz, hol den Hund.“
„Was, Lupus?“
„Natürlich, wen denn sonst? Los, aber hastewaskannste.“
Zwei Minuten später war Fritz wieder da, mit Lupus an der Leine, der wild begeistert auf Tante Tine
zuging, sich von der Strippe riss, ihr die Tatzen auf die Schultern legte, die Ohrgehänge beschnupperte,
die Brille beleckte und dabei auch den Hut herunterstieß.
„Weg, Lupus!“ brüllte ihn Tante Tine an, und der Schäferhund gehorchte auf der Stelle, indem er sich
herunterließ.
„Fritz, jetzt steckst du Lupus in die Hundehütte, aber mit dem Kopf nach vorn.“
„Warum denn?“ fragte Fritz.
„Weil ich es will. Basta.“
Lupus folgte seinem Herrchen willig in die Hütte, dann deckte Tante Tine den Eingang mit der wollenen
Decke zu. Lupus begann zu winseln.
„Sag ihm, er soll ruhig sein!“ befahl Tine.
Fritz ging an die Hütte und sprach unter die Decke: „Kusch, Lupus, kusch. Du kriegst auch Knöchelchen.
Schweineknöchelchen!“ Dann richtete er sich auf: „Der gehorcht.“
„Und was weiter?“ fragte Edu.
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„Jetzt müsst ihr mitspielen. Fritz hält brav den Mund, und Edu antwortet. Los, Handtuch weg.“
Das Mikrophon wurde freigelegt.
„Ach, wir Schafe“, sagte Tante Tine wieder mit gellender Stimme, „wir haben ja eins ganz vergessen, und
das steht uns vor der Nase.“
„Was denn, Tine?“
„Du sollst nicht Tine zu mir sagen, du schrecklicher Flegel, sondern Tante Tine. Ich meine die Hundehütte. Onkel Paul hat mich eben doch geliebt. Und als er mir die Hundehütte vererbte, hatte er etwas Bestimmtes im Sinn. Mir war das auch gleich so. Guck sie dir mal an, die Hütte. Sieh mal, wie hübsch sie
bemalt ist. Edu, wo ist meine Brille? Ach, ich habe sie ja auf! Na, was siehst du?“
„Die Hundehütte ist bemalt mit allerlei Tieren.“
„Mit was für Tieren?“
„Bienen!“
„Ja, weil Onkel Pauls Familienname Biene war, und die Biene außerdem das Wappentier der Bonapartes
war. Und was sonst?“
„Hier ist eine Schildkröte. Mäuse, Katzen, Vögel, Hühner, Pfauen, ein Kamel. Und hier ist -“
„Ja?“ fragte die Tante mit kreischender Stimme. „Ein Schimmel!“
„Ein Schimmel!“ brüllte Tante Tine. „Das ist das Geheimnis! Das Geheimnis steckt in der Hundehütte.
Komm, wir müssen sofort in die Bibliothek und was nachsehen!“
Fritz raste zuerst aus dem Zimmer hinaus, ihm folgten die beiden anderen. Alle drei gingen in die Bibliothek, ließen aber die Tür offen, um der Dinge zu harren, die da kommen sollten.
Die „Dinge“ kamen sehr schnell. Dr. Hut, der sein Hinken offenbar vergessen hatte, ging mit schnellen
Schritten durch den Gang auf das Zimmer „Wagram“ zu und klopfte an.
Tante Tine, Edu und Fritz beobachteten ihn durch einen Spalt der Bibliothekstür. Dr. Hut zögerte nur
einen kurzen Augenblick, dann öffnete er die Tür und verschwand im Zimmer. Die drei Lauscher tappten
auf Zehenspitzen über den Korridor und öffneten die Tür ihres eigenen Zimmers einen kleinen Spalt.
Durch diesen Spalt stierten sie alle drei in das Innere. Dr. Hut sah sich überall um und ging dann schnurstracks auf die Hundehütte zu. Er beugte sich darüber und betrachtete sich die aufgemalten Tiere mit
Aufmerksamkeit. Als er den Schimmel gefunden hatte, drückte er mit dem Zeigefinger dagegen, wohl in
der Hoffnung, dass sich eine Geheimklappe öffnen würde, aber nichts dergleichen geschah.
Hut sank auf die Knie und kroch um die Hundehütte herum. Sein Gesicht war von einer Art Gier verzerrt,
man sah ihm an, dass er das Rätsel, koste es, was es wolle, jetzt und auf der Stelle zu lösen gedachte.
Nun stand er auf, sah noch einmal auf die Hundehütte, schüttelte den Kopf und riss die Wolldecke weg.
Im gleichen Augenblick fuhr ihm Lupus mit einem scharfen Gegraul an die Gurgel.
„Hilfe!“ schrie Dr. Hut. „Hilfe!“
Er begann gegen das Tier zu kämpfen, versuchte ihm einen Schlag
mit der Faust auf die Nase zu versetzen, aber Lupus wurde nur
noch wilder. Dr. Hut fiel zu Boden, strampelte mit den Beinen,
fuchtelte mit den Armen und röchelte. Er hatte einen rotseidenen
Schlips an, und Lupus schien es plötzlich auf diesen abgesehen zu
haben. Der Hund schnappte mit den Zähnen danach und zerkaute
ihn. Seine eine Pfote hatte er dabei auf das linke Auge des
Doktors gesetzt, der sich verzweifelt wehrte und die Pfote
wegschieben wollte. Das gelang ihm auch insofern, als die Krallen
sich nunmehr auf seine Nase verschoben.
„Genug“, sagte Tante Tine und öffnete die Tür.
„Herzlich willkommen in meinem Zimmer“, sagte sie. „Lupus,
spiel nur weiter mit dem Herrchen!“
„Befreien Sie mich von der Bestie“, röchelte Dr. Hut.
Tante Tine gab Fritz ein Zeichen, und der pfiff. Sofort ließ Lupus
von seinem Opfer ab, das sich krächzend erhob. Dr. Hut sah gar nicht schön aus. Er hatte verschiedene
Risse in seinem Anzug, seine Nase war zerkratzt, sein Auge blutunterlaufen, sein Schlips hing in Fetzen
herunter - einen Teil davon hatte Lupus noch immer in der Schnauze hängen.
„Wie nett von Ihnen, Herr Dr. Hut, dass Sie mich einmal besuchen! Was darf ich Ihnen anbieten? Ein
paar Pralinen vielleicht ... Nein? Wollen Sie denn nicht Platz nehmen?“
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Hut grollte dumpf und zerrte seinen zerfetzten Anzug zurecht, sagte aber nichts.
„Ich hätte nie gedacht, dass Sie so tierlieb sind, mein verehrter Herr Doktor“, sagte Tante Tine.
Hut entblößte die Zähne, er sah selber aus wie ein Raubtier. Er warf einen Blick voller Hass auf die Gruppe, dann ging er schnell aus dem Zimmer.
„Vergessen Sie nicht zu hinken, Herr Doktor!“ - rief ihm Tante Tine nach.
Und dann lachten sie alle drei fröhlich auf.
„Lupus“, schlug Edu vor, „sollte von jetzt ab immer in unserem Zimmer bleiben. Das wird es den Herren
austreiben, hier herumzuspionieren.“
Die Tante aber legte den Finger an den Mund und deutete auf das Mikrophon.
XIV
Tante Tine und Edu hatten gemeinsam beschlossen, mit energischen Maßnahmen dem Rätsel Onkel Pauls
auf den Grund zu gehen. Zu diesem Zwecke hatten sie es für richtig befunden, sich in das Schlachtenzimmer zu begeben, nachdem Edu eine ausführliche Liste aller Orte aufgestellt hatte, die in Napoleons
Leben einmal eine bedeutsame Rolle gespielt hatten; denn es hieß ja, der Ratende solle dem Kaiser auf
allen seinen Wegen folgen. Die Liste fing mit Ajaccio, dem Geburtsort Bonapartes, an, führte über Toulon, die Stadt, die den ersten Sieg des jungen Offiziers gesehen hatte, über Paris nach Italien, Österreich,
Ägypten, Spanien, Preußen, Russland usw. Sie endete mit der letzten verlorenen Schlacht Napoleons bei
Waterloo. Die Tante und ihr Schutzbefohlener hatten aber, durch die Entdeckung des Mikrophons gewitzigt, diesmal Vorsichtsmaßnahmen ergriffen.
Fritz hatte vor allen Dingen zuerst einmal das Schlachtenzimmer selbst abgesucht, ob er dort eine versteckte Abhöranlage fände, aber er versicherte, die Luft sei in diesem Raume noch rein.
Zu dritt marschierte man auf das Schlachtenzimmer zu, oder genauer gesagt, zu viert. Denn Fritz schleifte
den Hund Lupus an der Leine hinter sich her. Lupus sollte Wache halten, während die Tante sich mit
ihrem Schutzbefohlenen an die Lüftung des Geheimnisses machte.
Fritz sagte: „So, euch stört so leicht keiner. Passt mal auf.“ Er hob einem der beiden Grenadiere aus
Wachs, die mit Trommeln vor dem Bauch den Eingang behüteten, den Rockschoß hoch und deutete
grinsend auf einen kleinen Hebel, der nach oben ragte.
„Wenn man da drauf drückt, trommelt der“, erklärte Fritz, und Tante Tine zog die Augenbrauen hoch:
„So. Ich denke, du weißt das nicht. Dein Vater hat erklärt, er hätte dir nicht gesagt, wie man den Mechanismus in Bewegung setzt, weil du sonst unaufhörlich trommeln lassen würdest.“
„Ach was“, erwiderte Fritz, „ich bin doch kein Kind mehr. Ich bin doch schon dreizehn, und nächstes Jahr
werde ich erwachsen. Wenn Vati denkt, ich weiß so was nicht - dann ist das eben ein Irrtum. Soll ich ihn
darüber aufklären? Nee, nee, alles brauchen die Alten auch nicht zu wissen.“
Mit diesem Ausspruch heftete er die Hundeleine an den Hebel und befahl Lupus zu kuschen, was dieser
auch auf der Stelle tat.
„Was soll denn dieser Hokuspokus?“ fragte Tine.
„Ist kein Hokuspokus“, gab Fritz zurück. „Ist eine prima Idee. Lupus wird hier schön still liegen, wenn
ihr da drin seid und mit dem Rätsel rumfummelt. Wenn aber einer kommt, dann steht Lupus auf. Ist das
klar?“
„Vollkommen“, sagte Edu.
„Na schön. Und wenn Lupus aufsteht, dann zerrt er mit der Leine den Hebel herunter, und dann trommelt
der Grenadier. Das werdet ihr gleich hören, wenn es einer riskieren sollte. Sache, was?“
Schritte wurden laut. Schritte und ein Klirren. Durch den Korridor wälzte sich Tante Emmi, einen großen
Säbel schwingend. Lupus machte Anstalten, aufzuspringen, aber Fritz zischte ihm ein heftiges „Kusch!“
zu.
Hinter der säbelschwingenden Tante Emmi kam Onkel Samuel einher geächzt, er trug einen ganzen
Armvoll von Säbeln, einen hatte er sich um den Bauch gebunden, die Waffe war viel zu lang und schleifte hinter ihm her.
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Tante Emmi blieb stehen und sagte: „Nun, habt ihr das Geheimnis
schon -? Auf, auf, zum Kampf, ergreift den Degen...! Ergreift ihn
mal. Wir haben alle Waffen gesammelt, die im Hause - und da
stehen Inschriften drauf, die werden wir-“
„Emmi, red nicht so viel“, warf Onkel Samuel ein, „diesmal lösen
wir das überwältigende Geheimnis. Haha!“
„Viel Vergnügen!“ sagte Tante Tine und sah den beiden Gestalten
nach.
Es kam, wie es kommen musste - Onkel Samuel verhedderte sich
mit seinen Beinen in den langen Schleppsäbel und stürzte hin. Es
gab ein rasselndes Geräusch, Tante Emmi drehte sich blitzschnell
um und schimpfte: „Du Tölpel!“
„Ich bin kein Tönpen, der Säben ist zu nang!“ jammerte Samuel,
dem vor Schreck sein „L“ abhanden gekommen war, und versuchte
sich aus dem Mischmasch von Waffen loszurappeln. Lupus blieb
mäuschenstill liegen, man hätte denken können, er lache, so verzog er seine Hundeschnauze. Aber angeblich können ja Hunde nicht lachen.
Durch den Krach hatten sich alle Türen geöffnet, aus dem einen Zimmer sah Onkel Egon und lächelte, als
er die Bescherung sah, aus dem anderen Dr. Hut mit einer geschwollenen Nase und einem ebenso geschwollenen Auge. Hut überblickte die Lage sehr rasch, sein eines, offenes Auge blieb aber mehr auf der
Gruppe vor dem Waffenzimmer als auf Onkel Samuel haften. Ein giftiger Blick schoss aus diesem Auge
erst auf Tine, dann auf Edu und schließlich auch auf Fritz.
Dann schlossen sich alle Türen wieder, Emmi und Samuel lasen den Säbelsalat wieder auf, und Tante
Tine öffnete die Tür zum Schlachtenzimmer.
„Du kommst nicht mit, Fritz“, sagte sie, „das Rätsel wollen wir allein lösen.“
Fritz maulte etwas, erklärte aber dann, das mache nichts, er habe etwas anderes vor.
Tine und Edu betraten das Schlachtenzimmer. Edu schob schnell den Läufer in der Mitte beiseite, und
richtig, da war ein Schachbrett im Boden eingelassen. Edu warf sich platt auf den Boden und roch an dem
Schachbrett, jedenfalls sah es so aus. Seine Finger tasteten darüber hin, suchend, suchend, seine Augen
glitten über den Boden.
„Etwas ist hier“, sagte er, „was mich wundert. In dem Schachbrett ist ein Spalt.“
„Ein Spalt?“
„Na ja, eine Ritze. Zieht sich über das ganze Schachbrett hin, fängt hinter dem vierten Quadrat an. Komm
mal runter.“
Tante Tine ließ sich auf die Knie, hielt sich mit der einen Hand ihren Hut fest und tastete mit der anderen
den Spalt ab. „Ja, wirklich“, sagte sie. „Das kann nur eins bedeuten. Das Ding lässt sich öffnen.“
„Tja, aber wie?“
Die Tante erhob sich und ging auf das Wandgemälde zu. „Nur gut, dass ich meine Brille aufhabe.“ Sie
ging so nah heran, dass ihre Nase den Genfer See auf der Europakarte berührte. Langsam bewegte sie den
Blick auf dem Gemälde entlang. Plötzlich zog sie die Luft hörbar ein und machte: „Oh.“
Edu war neben sie getreten: „Wassnlos?“
„Guck mal, Junge, da ist Lodi. In der Po-Ebene. Da fand eine große Schlacht statt. Lodi ist ein großer,
roter Kreis, und daneben ist eine Kanone gemalt. Sieh mal ganz ganz ganz ganz genau hin!“
Edu tat, wie ihm geheißen. „Ja, das sehe ich auch, einen roten Kreis und eine Kanone. Na und?“
„Guck mal auf den Kreis, dummer Bengel!“
„Da ist ein Strich drin. Geht von oben nach unten.“
„Strich! Sehr richtig, ein Strich. Dummes Zeug, das ist kein Strich. Guck noch mal hin!“
„Hm, es sieht beinahe wie ein Schlitz aus.“
„Scheint mir auch so. Junge, mein Herz bubbert. Das bedeutet was. Hier, klettere mal auf den Stuhl und
sieh dir Jena und Auerstaedt an. Was siehst du da?“
„Einen roten Kreis mit einem senkrechten Schlitz drin!“
„Aha, aha! Mir ahnt was. Da du nun schon in Mitteldeutschland rumfuhrwerkst, so sag mir auf der Stelle,
was mit Leipzig los ist.“
„Ein roter Kreis mit einem Schlitz drin.“
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„Komm runter. Mensch, Edu, hörst du mein Herz schlagen?“
„Nein.“
„Na, mir pocht es bis in den Hals rauf. Wo ist die Liste? Gib die Liste mit den Städtenamen her.“
Edu gab sie ihr. „Ich lese vor, und du siehst nach, was auf der Karte alles drauf ist. Was nicht drauf ist,
streiche ich aus. Was auf der Liste nicht drauf ist, sagst du mir an, sofort, auf der Stelle. Das schreibe ich
rein.“
Sie waren mit diesem Unternehmen eine gute halbe Stunde beschäftigt. Die Liste, die sie aufgestellt
hatten, war ausgezeichnet gewesen, sie hatten nur die Schlacht an der Beresina vergessen, die die Tante
aber unter dem Jahre 1812 nachträglich einschrieb. Einige andere Namen hatte sie gestrichen.
Edu hatte während der ganzen Arbeit eine ungezügelte Unruhe an den Tag gelegt, er wollte dauernd
durch Zwischenfragen herausbekommen, wohin die Tante eigentlich zielte, aber sie verwies ihm diese
Fragerei, und so hatte er sich fügen müssen.
„Jetzt setzen wir uns auf diesen Diwan, Junge“, sagte sie, „und dann geht's los. Pfff! Dass ich in meinen
alten Tagen noch mal Geschichte studieren würde, hätte ich auch nicht gedacht. So, rück hübsch ran, ich
will dir alles ins Ohr flüstern, was ich rausgekriegt habe. Ich traue den Wänden hier immer noch nicht,
wenn auch Fritz behauptet, es sei alles in bester Butter.“
Und die Tante flüsterte: „Hör gut zu, das ist eine ganz einfache Sache. Du weißt doch, was ein Tresor
ist?“
„Ja, ein Geheimschrank, ein Panzerschrank.“
„Na schön. Und wie wird der verschlossen?“
„Mit einem Schlüssel.“
„Quatschkopf. Das wäre allerdings sehr leicht für die Herren Diebe. Nein, da hängt ein ganz besonderes
Schloss dran. Das kann man nur aufmachen, wenn man das Chiffrewort kennt. Das Chiffrewort kennt nur
einer oder höchstens zwei, der Bankdirektor und der Kassierer. Da sind Zahlen und Buchstaben auf dem
Schloss angebracht, mit denen kann man das Chiffrewort einstellen. Und nur, wenn man das eingestellt
hat, öffnet sich der Tresor.“
„Was hat denn das mit Napoleon zu tun?“
„Mit Napoleon nichts, aber mit Onkel Paul eine ganze Masse. Ich behaupte, dieses Schachbrett ist ein
Tresor.“
„Waaas?“
„Ein Tresor“, sagte die Tante noch einmal und nickte so heftig mit dem Kopfe, dass ihre Ohrgehänge in
ein wahres Klingeln gerieten.
„Ausgeschlossen“, erwiderte Fritz. „Da ist doch gar kein Schloss dran.“
„Dran nicht, das stimmt. Aber da ist das Schloss. Onkel Paul ist eben ein ganz Raffinierter gewesen, und
seine Idee muss ihn eine schöne Stange Geld gekostet haben. Eigentlich müsstest du schon alles erraten
haben, nachdem wir uns solche Mühe mit der Liste gegeben haben. Na los, rate, aber ein bisschen fix!“
Die Tante wartete, während Fritz sich den Kopf zermarterte. Ein schadenfrohes Lächeln überzog ihr
Gesicht. „Kriegst du's raus?“
„Leider nein.“
„Sieh mal auf die beiden kleinen Degen über dem Gemälde, unter dem großen N.“
Fritz sah hin.
„Die hat deine Tante Emmi vergessen bei ihrer Säbelsammlung. Vermutlich, weil sie ihr zu winzig waren. Siehst du wenigstens die Degen?“
„Ja, die sehe ich.“
„Na, dann hol einen runter.“
Fritz zerrte einen Tisch an das Wandgemälde, stellte einen Stuhl darauf und löste einen der Degen ab, die
lose in einer goldgeflochtenen Schlinge hingen. Tine nahm ihm das leichte Ding ab, es war nicht viel
größer als ein Brieföffner, ein Spielzeugdegen, gerade groß genug, um in ein Wappenbild eingefügt zu
werden.
„Wo ist Ajaccio?“ flüsterte die Tante, jetzt fast heiser vor Aufregung. „Führ mich sofort nach Ajaccio, wo
der kleine Korporal geboren ist. Ah, hier ist es. Ajaccio, Ajaccio, na warte nur!“
Sie piekste ungeschickt mit dem kleinen Degen an dem Schlitz herum, der in den roten Kreis bei dem
Worte Ajaccio eingezeichnet war, dann schob sie den Degen in den Schlitz. Edu stand mit offenem Munde daneben.
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Die Tante schielte ihn an und lächelte: „Dämmert dir was?“
„Menschenskind, Tante, mir dämmert was!“
„Deine Ausdrücke! Wie oft habe ich dir schon verboten, Menschenskind zu mir zu sagen!“
„Mensch, Tine, lass mich nicht zappeln!“
Die Tante sagte: „Wie du siehst, habe ich in den Schlitz hineingestochen. Jetzt kommt der Hieb. Zack!“
Mit der flachen Hand gab sie dem winzigen Degenknauf einen Stoß, und die Waffe fuhr in die Wand.
„Und das war der Hieb!“
In der Wand rasselte etwas, klickte etwas. Die Tante nahm sich triumphierend den Hut vom Kopfe und
sah ihn sich mit strahlenden Augen an. Dann stülpte sie ihn wieder auf den Kopf.
„Junge, wir haben es! Verstehst du nun?“
„Ja, ich verstehe. Wenn wir dem Kaiser auf seinen Wegen von Ajaccio bis Waterloo folgen, dann öffnet
sich der Tresor. Nur müssen wir das in der richtigen Reihenfolge machen, und die…“
„- haben wir schon. Auf unserer Liste.“
„Ja, und jedes Mal, wenn wir das Ding da in die Wand würgen, wird dahinter eine Feder oder irgendein
anderer Mechanismus ausgelöst. Dann macht es Klick. Und wenn es in der richtigen Reihenfolge Klick
gemacht hat, dann öffnet sich das Schachbrett. Darauf steigt heraus aus dunkler Nacht, aus dem verhüllten Acht-mal-acht- ein Schimmel! Das ist ja ganz einfach. Die Klappe des Schachbretts geht auf, und im
Dunkeln liegen die Schachfiguren mit den zwei Springern, den Schimmeln. Und in einem steckt die
Lösung.“
„Raffiniert!“ stellte die Tante fest. „Da hat sich Onkel Paul schön angestrengt, um uns die Sache schwer
zu machen. Nun, soo schwer ist sie auch wieder nicht.“
Plötzlich schrie sie Edu an: „Was stehst du da und glotzt? Sind wir zum Glotzen hier? Auf, auf, zum
Kampf, ergreift den Degen, dann Stich und Hieb, und Hieb und Stich! Tut ihr's, gewinnt ihr sicherlich!“
Sie reichte Edu den kleinen Degen und kommandierte: „Los! Ich lese die Orte vor! Du stichst und haust.
Und du wartest jedes Mal ab, bis es Klick macht. Sollst schon sehen, sollst schon sehen, mein Junge, dass
deine Tante nicht auf den Kopf gefallen ist. Los! Ajaccio hatten wir schon. Jetzt Brienne!“
Klick! „Jetzt Paris!“ Klick.
Und so las die Tante die ganze Liste vor. Mailand - Mantua - Abukir - Austerlitz - Jena und Auerstaedt Friedland - Moskau - Leipzig und viele andere. Tatsächlich, bei jedem Stich und Hieb surrte etwas in der
Wand, dann kam ein knackendes Geräusch.
„Ligny!“ sagte die Tante mit Befehlsstimme. „Jetzt sind wir schon im Jahre 1815.“
Edu schob den Säbel in den mit Ligny bezeichneten roten Kreis, und in diesem Augenblick bellte Lupus.
Gleichzeitig fing die Trommel an zu rollen, der Grenadier aus Wachs hob die Schlegel und ließ sie auf
das Kalbfell rasseln.
„Warte“, sagte die Tante und öffnete die Tür. Draußen stand alles in respektvoller Entfernung vor Lupus,
der ganz übler Laune zu sein schien. Da war Onkel Egon mit seinen Sandalen, da war Tante Emmi, die
sich einen Säbel umgebunden hatte, mit Onkel Samuel, der ein eingeschüchtertes Gesicht machte, und am
weitesten entfernt standen Onkel Bubu und Dr. Hut, die saure Blicke auf Lupus warfen.
Die Trommel dröhnte, Lupus knurrte, und die Tante knurrte auch: „Na, kommt ruhig rein, ihr Lieben,
Guten! Herr Rechtsanwalt!“ schrie sie Kruse an, der gerade erschien, „fein, dass Sie auch da sind. Alles
rein. Ich halte Lupus fest.“
Alles marschierte in das Schlachtenzimmer. Tante Tine schloss die Tür.
„Wir sind gerade in Ligny gewesen, als der Krach anfing. Sie kommen zur Schlussvorstellung!“
„Was für eine Schlussvorstellung?“ fragte Samuel.
„Jetzt kann ich es euch ja sagen“, schrie Tante Tine in den letzten Trommelwirbel hinein. „Das Acht-malacht ist ein Tresor, das heißt ein Schachbrett, und das Schloss ist in der Wand, das hat sich der Paul sehr
schön ausgedacht. Aber Edu war schlauer. Der hat alles rausbekommen. Das ist ganz einfach. Man piekst
in die Wand, und da kommen ganz komische Geräusche, und dann steigt herauf aus dunkler Nacht -“
„Sag man, Tine, du winnst uns wohn hinters Nicht führen“, fragte Sammi.
Tante Emmi hieb ihm auf die Schulter und sagte: „Schweig!“
„Ich verstehe kein Wort von dem, was du sagst“, erklärte Onkel Bubu. „Tresor? Schloss? Wand? Geräusche? Und ihr seid in Ligny? Und ihr piekst in die Wand? Seid ihr denn alle miteinander vollkommen,
aber vollkommen rappelig geworden?“
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„Edu“, sagte Tante Tine, „es hat keinen Zweck. Sie verstehen es nicht. Wir machen es ihnen einfach vor.
Ligny hatten wir... so, wo ist die Liste? Ach hier, ich habe sie ja in der Hand. Jetzt kommt Waterloo,
Edu!“
„Hier!“
„Stich in Waterloo! Und nun werdet ihr gleich etwas rauschen und dann klicken hören. So, Edu, hast du
Waterloo?“
Edu stand auf einem Stuhl und hatte den Degen in den roten Kreis „Waterloo“ geschoben.
Mit der flachen Hand stieß er nach. Eine tiefe Stille senkte sich herab.
„Gleich wird es rauschen!“ sagte die Tante. Aber es rauschte nichts. Es klickte auch nichts.
Tine sah Edu an, Edu sah Tine an. Tine wurde leichenblass. „Stich noch mal“, schrie sie. Edu stach noch
einmal.
Nichts. Kein Geräusch. Tante Tine sah auf das Schachbrett, aber es öffnete sich nicht.
Als erster lachte Onkel Bubu los: „Du hast uns ja wirklich einen prächtigen Zirkusakt vorgeführt, teure
Tine, aber wenn du meinst, du kannst uns dauernd hinters Licht führen, dann hast du dich geirrt. Prost
Mahlzeit!“ Er verließ das Zimmer, und dann brachen alle anderen in ein brüllendes Gelächter aus, in das
sogar der würdige Herr Kruse mit einstimmte.
„Reingefannen! Reingefannen! Ihr knugen Kinder!“ freute sich Onkel Samuel.
„Da sieht man es mal wieder, ihr habt -“ sagte Emmi. „Ihr bildet euch eben ein, dass ihr - - - aber in Wirklichkeit seid…“
Onkel Egon strich dem verdattert dastehenden Edu über den Kopf: „Na, Junge, wird schon werden. Fang
eben noch mal von vorne an.“
Dr. Hut aber sagte gar nichts. Er sah sinnend auf das Schachbrett, auf die Landkarte, auf Edu und Tine
und den Degen, der bei dem Orte Waterloo noch immer in der Wand steckte. Die Liste mit Namen, die
Tante Tine vor Schrecken auf den Boden hatte flattern lassen, befand sich längst in seiner Tasche. Aus
seinem einen offenen Auge warf er einen ironischen Blick auf die beiden Unglückswürmer, verließ das
Zimmer, drehte sich noch einmal um und sagte: „Sehr, sehr begabt.“
Als die zwei allein waren, sank Tine auf das Sofa und bekam einen großartigen Heulausbruch.
„Was haben wir nur falsch gemacht? Edu! Es ging doch alles so schön - huhu - und in dem Augenblick,
wo die liebe Familie hereinkam, war es aus - huhu. Gib mir dein Taschentuch, meins reicht nicht!“
„Wenn ich nur wüsste“, sagte Edu. Und er ballte die Finger zur Faust.
XV
„Es ist alles aus, alles aus!“ jammerte Tante Tine. „Wir haben alles verdorben. Ach, hätte ich doch nur
nicht den ganzen Trick verraten. Wir haben irgendwo oder irgendwann einen Fehler gemacht, ich weiß
nur nicht welchen. Weißt du es nicht?“
Edu schüttelte den Kopf.
Die Tante fuhr fort: „Oh, was bin ich für ein Schaf. Ich habe den anderen das ganze System verraten, und
nun können die sich dran machen.“
„Na, weißt du, Tine, verraten ist wohl nicht das richtige Wort. Du hast so konfuses Zeug geredet, dass
dich keiner richtig begriffen hat.“
„Soso, keiner, meinst du? Dieser Hut mit seiner geschwollenen Nase und dem dicken Auge, der macht
sich bestimmt einen Vers darauf. Wir müssen schnell handeln, oder - ach, ich wage gar nicht dran zu
denken.“
Es klopfte, und Onkel Egon kam herein. „Darf ich mich hinsetzen?“ fragte er.
Die Tante sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. „Ja, setz dich nur, Egon.“
„Hört mal zu“, sagte Onkel Egon, „ich muss mit euch sprechen.“
„Du willst dir wohl das ganze System noch einmal erklären lassen und dann hingehen und die Aufgabe
für dich lösen?“ fragte Tine. „Kommt gar nicht auf die Platte.“
„Du brauchst mir nichts mehr zu erklären“, war die Antwort, „ich habe schon alles verstanden. Nein, ich
will euch helfen.“
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„Du? Uns helfen?“
„Ja, erstens, weil ihr die Sache ohnehin schon fast ganz herausbekommen habt. Der Erfolg muss also auf
eurer Seite sein, das gehört sich so. Und zweitens - mir liegt an der ganzen Erbschaft nichts.“
„Was sagst du da?“ machte Tine verblüfft.
„Mir liegt an der ganzen Erbschaft nichts. Ich habe sowieso mein gutes Auskommen, ihr aber nicht. Ich ich habe jetzt erst begriffen, dass ich mich mehr um Edu hätte kümmern sollen. Er ist ein gescheiter und
netter Junge, wenn es nur mehr von der Sorte gäbe. Da habe ich was gutzumachen. Ich habe außer meinem Grundsatz von Spannung und Entspannung auch noch ein paar andere Grundsätze. Ich helfe zum
Beispiel gern anderen Menschen.“
Die beiden anderen schwiegen. Sie sahen Onkel Egon an, und der schien es wirklich ernst zu meinen.
„Egon“, sagte Tine, „ist das wahr, was du da sagst?“
„Wenn du es nicht glauben willst...?!“
„Aber wie willst du uns helfen?“
„Indem ich zuhöre, wie ihr redet. Ich werde mich dabei ganz entspannen. Vielleicht kommt mir dabei ein
Gedanke.“
Tante und Edu sahen sich an. Edu nickte. Die Tante nickte. Sie sagte: „Ich glaube, wir dürfen dir vertrauen. Edu, erzähle einmal ganz genau, wie wir verfahren sind, wie wir die Sache entdeckt haben und was
wir getan haben.“
Und Edu erzählte von Anfang an. Es tat gut, einem Menschen Vertrauen schenken zu können. Manchmal
stellte Egon eine Frage, dann nickte er und hörte weiter zu. Er hatte den Kopf auf die Sessellehne gelegt
und lag ganz schlaff, mit den Beinen ausgestreckt, darin. Seine Arme baumelten auf dem Boden.
Als Edu seinen Bericht beendet hatte, blieb Egon eine ganze Weile regungslos liegen. Es sah so aus, als
ob er schliefe.
Aber plötzlich öffnete er die Augen, sah sich blinzelnd um und lächelte.
„Ich glaube, ich habe es raus“, sagte er langsam und nachdenklich.
„Eeeegon!“ flüsterte die Tante. „Verrate es uns. Du kriegst auch ...“
„Ich will nichts von euch. Im Übrigen besagt das Testament, dass jeder Erbberechtigte nur einen Ratgeber
haben darf, und das bist du, Tine. Ihr sollt die Sache selber rausfinden. Edu, erzähle noch einmal, was
geschah, als die anderen kamen.“
„Ich hatte den Dolch oder den Degen gerade in den Schlitz mit Ligny gesteckt.“
„Weiter! Was tatest du dann?“
„Dann kamen die anderen.“
„Nein, nein, ich will wissen, was du tatest, nicht, was die anderen taten.“
Edu zerbrach sich den Kopf. Was meinte Onkel Egon bloß? Tante Tine griff wütend nach ihrem Häkelzeug und begann zu arbeiten. Sie war ärgerlich über sich selbst. Sie hatte, ebenso wie Edu, das sichere
Gefühl, direkt vor dem Geheimnis zu stehen und zu blind zu sein, es zu erkennen.
„Was tatest du? Was tatest du?“ fragte Onkel Egon und erhob sich.
„Ich steckte den Degen in Waterloo rein, und da hörte es auf.“
„Eben“. Egon ging zur Tür. „Ich weiß es, aber ich sage es euch nicht. Ich traue euch was zu. Ich werde
auch euer Vertrauen nicht missbrauchen. Aber seid vorsichtig. Ihr solltet hier nicht sitzen, sondern lieber
in das Schlachtenzimmer zurückgehen, damit andere euch nicht zuvorkommen.“
Mit diesen Worten verließ er das Zimmer.
„So eine Gemeinheit“, sagte die Tante, aber Edu schüttelte den Kopf: „Der ist nur anständig. Was kann er
nur meinen?“
„Ach was, gehen wir in das Schlachtenzimmer.“
Als sie die Tür öffneten, bemerkten sie, dass es schon besetzt war. Tante Emmi mit Samuel auf der einen
Seite stand Onkel Bubu mit Dr. Hut auf der anderen Seite gegenüber. Tante Emmi und Hut hatten je
einen der kleinen Degen in der Hand. Emmi fuchtelte damit dem Dr. Hut vor der dicken Nase herum.
„Ihr könnt nicht - - -“, sagte sie. „Wir waren zuerst da, und ihr - - -.“
„Wer zuerst da war, ist egal“, sagte Dr. Hut, und mit einem Satz war er auf das Wandgemälde zugesprungen und hatte seinen Degen in den Schlitz Ajaccio gestoßen.
Tiefe Stille. Kein Surren, kein Rauschen.
„Nanu“, sagte Onkel Samuel, „es knickt ja nichts!“
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„Verdammt“, sagte Bubu. „Stoßen Sie noch mal rin!“ Auch der erneute Versuch scheiterte. Es kam kein
Klicken. Edu verfolgte mit klopfendem Herzen die Szene. Wo lag der Fehler? Er musste den Fehler finden. Tante Emmi stach in Ajaccio hinein - nichts.
„Es knickt nichts, niebste Emmi“, sagte Onkel Samuel, bibbernd vor Erregung.
„Halt dein ---“, antwortete sie und stach wild in alle möglichen Schlitze, Paris, Waterloo, Marengo. Erfolglos. Aber nicht ganz. Denn während sie stach, kroch in Edu die Angst hoch, eine unbestimmte Angst,
die er sich selber nicht recht deuten konnte. Wie, wenn sie nun durch Zufall die richtige Stelle treffen
würde? Die richtige Stelle ... ?
Und da durchfuhr ihn ein Gedanke. Er zitterte. Sollte ... Ja, das war es, das musste es sein!
Er gab sich Mühe, ein möglichst unbeteiligtes Gesicht zu machen, fasste seine Tante an der Hand, und
diese merkte sofort, dass er bebte. Sie sah ihn freundlich an, sagte aber nichts. Tante Emmi warf wütend
den kleinen Degen auf den Boden und verließ krebsroten Angesichts das Zimmer. Edu bückte sich und
hob ihn auf. Er wackelte in seiner Hand hin und her wie ein Kuhschwanz.
„Kommen Sie, Doktor, wir wollen noch einmal nachdenken“, sagte Bubu. „Laut nachdenken, und zwar
ohne Zeugen!“
Die beiden verließen nun ihrerseits das Zimmer, Dr. Hut sehr zögernd, er schien sich nur ungern von dem
Ort der Entscheidung zu trennen. Als letzter schlich mit trübem Blick Onkel Samuel hinaus.
„Vien Gnück!“ sagte er. „Das hätte uns Onken Paun nicht antun sonnen!“
Die Tür schloss sich.
„Was ist los?“ flüsterte Tante Tine. „Warum bist du so aufgeregt?“
„Tante, was hatte ich gerade getan, als vorhin die andern dazukamen. G e t a n ! Das war Onkel Egons
Frage. Besinnst du dich?“
„Ja, du hattest in Ligny hineingestochen, da kamen sie.“
„Na und? Geht dir noch immer kein Seifensieder auf?“
Tante Tines Nüstern gingen vor Aufregung ein und aus. „Nein.“
„Ich hatte den Degen hineingestochen. G e s t o c h e n !“
„Und -“ sagte Tante Tine, wobei ein breites Grinsen über ihr Gesicht zog, „das war alles. Du hast aber natürlich, das ist es - du hast den Degen nicht hinein g e s t o ß e n . Und deshalb rauschte es nicht, und
klickte es nicht, deshalb lief der ganze Apparat nicht vorschriftsmäßig ab. Junge, das ist die Lösung!
Herzensjunge!“ Sie zog ihn heftig an sich und drückte ihn an die Brust. „Nun aber hopp hopp rauf! Nach
Ligny! Mir wird alles klar: Wenn eine einzige Station ausgelassen wird, geht es nicht weiter. Und Ligny da dachten wir bloß, wir hätten es erledigt. Rauf auf den Stuhl. Stich in Ligny, und diesmal - Junge, vergiss nicht zu stoßen. Mit Stich und Hieb , und Hieb und Stich . . .“
Von da ab ging alles blitzschnell. Edu stach den Degen noch einmal in den Ligny-Schlitz, dann hieb er
mit der flachen Hand gegen den Knauf.
Und diesmal surrte es und klickte es.
Weiter. Stich und Hieb nach Waterloo! Surren! Klicken! „Und vergiss
St. Helena nicht!“ sagte Tante Tine mit ruhiger Stimme. „Das ist da
unten ganz links eingezeichnet.“
St. Helena - Hieb und Stich - Surren, Klicken.
Und dann geschah es. Etwas ächzte und krachte, dann fiel Tante Tine
um. Sie hatte auf dem Schachbrett gestanden, das in der Mitte aufklappte
und die Tante beiseite schob, so dass sie längelang ins Zimmer fiel. Sie
war aber schnell wieder auf, wie eine Sechzehnjährige, und drehte sich
um.
Der Tresor war offen! Die beiden Hälften des Schachbrettes waren zwei
Klapptüren, und darunter lagen im Dunkeln weiße und rote
Schachfiguren.
Wie ein geölter Blitz sauste Edu darauf los, bückte sich und hob die
beiden weißen Springer, die „Schimmel“, heraus. Es waren enorme
Dinger, ihre Basis hatte tatsächlich den Umfang einer Tasse.
Mit fliegenden Fingern drehte Edu an den Figuren herum, ein Gewinde
lockerte sich, und Papierbögen fielen aus den innen hohlen Springern
heraus.
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„Tante Tine, Menschenskind, wir haben es! Hurra! Wir haben es! Geh raus und trommele!“
Die Tante gehorchte. Und nach wenigen Sekunden schon rasselte der wächserne Grenadier, dass es durch
das ganze Haus dröhnte: Rumm - rumm - tarumm!
In Nachthemden und Pyjamas kamen die Hausbewohner angelaufen.
„Herr Kruse, Herr Kruse! Wir haben es!“ brüllte Edu und schwang die Zettel.
XVI
Es regnete. Alle waren ins Haus gebannt, nur Onkel Egon ging draußen spazieren. Ein kleiner Wolkenbruch, so hatte er gesagt, habe etwas ungemein Erfrischendes für ihn.
Die anderen fühlten sich weniger erfrischt. Tine und Edu waren von ihrem Sieg erschöpft und ruhten auf
ihren Lorbeeren aus, obwohl sie das nicht hätten tun sollen; denn sie hätten sich eigentlich ausrechnen
können, dass die anderen nun mit wütender Kraft an die Lösung des dritten Rätsels gehen würden.
Die Gefahr war aber nicht allzu groß. Onkel Bubu und Dr. Hut beschimpften sich gegenseitig - man
konnte es durch den ganzen Korridor hören, wie sie sich gegenseitig Liebenswürdigkeiten an den Kopf
warfen: „Sie ausgesprochener Versager - Sie weichbirniger Doktor - Sie aufgeblasener Gangster - hätten
Sie - nein, hätten Sie . . .“
Am schlimmsten war freilich Tante Emmi dran. Sie hatte am Abend nach der Verkündigung des Ergebnisses dagesessen und vor Ärger mit den Lippen gezittert. Als Onkel Sammi sie mit den Worten trösten
wollte: „Sei doch nicht so menanchonisch, mein Niebes, Kneines!“, war sie mit weit aufgerissenem Munde auf ihn zugefahren, so, als wolle sie ihm die Nase abbeißen. Sie hatte ihn aber bloß bei der Hand gefasst und hinter sich her aus dem Zimmer geschleift. Ein komischer Anblick: Die riesenhafte, dicke Frau
mit dem kleinen Kerl im Schlepptau, der immerfort plärrte: „Aber mein Niebes, Kneines, es ist doch nicht
meine Schund!“ Und dann - man stelle sich das vor - hatte sie Baldrian genommen, um sich zu beruhigen,
und schließlich das Bett aufgedeckt, um ihre massiven Fleischmassen hineinplumpsen zu lassen.
Und da hatte sie es gesehen.
Sie stierte einen Augenblick lang sprachlos drauf, dann stieß sie kleine Rufe aus wie ein Vogel:
„Sam ... Sam ... Da ... Da ...!“
Samuel kam diensteilig herangeprescht, und da sah auch er es. Ein dunkler Klumpen lag im Bett seines
Ehegemahls. „Das ist ja eine Schindkröte“, sagte Onkel Sammi.
„Da ... Da ... Da ...” piepste Tante Emmi. Darauf stieß sie den Ruf „Hiiiiiiii“ aus. Es klang wie eine Fabriksirene, und das ganze Haus lief zusammen.
„Die Nausejungen haben meiner Nieben eine Schindkröte ins Bett genegt!“ erklärte Samuel.
Aufgeregtes Stimmengewirr brach los, aber Emmi sagte immer nur „Da ... Da ... Da ...“
Man hatte ihr schließlich ein anderes Bett in einem freien Zimmer zurechtmachen müssen. Dort war sie
bald in einen bleiernen Schlaf gesunken, nicht ohne Sammi erklärt zu haben, er sei blöde.
„Ich - bnöde?“ hatte Sammi gefragt.
„Ja, bnöde, bnöde, bnöde“, hatte Tante Emmi unaufhörlich wiederholt, bis ihr der Schlaf das Wort aus
dem Munde nahm. Kein Wunder also, dass an diesem Vormittag überall eine sehr gedämpfte und lustlose
Stimmung herrschte. Selbst die angriffsbegeisterte Tante Tine sah sich mürrisch den Zettel mit dem dritten Rätsel an.
„Ich verstehe überhaupt nichts mehr“, sagte sie. „Musik für Kaiser Napoleon! So was Dummes! Sollen
wir eine Dorfkapelle oder Furtwängler herholen? Der Trick mit der Landkarte war ja raffiniert, gebe ich
offen zu. Aber jetzt wird es mir zu bunt. Musik für den Kaiser Napoleon ... ? Ich pfeife auf die Musik.“
„Haha“, sagte Edu.
„Was heißt hier Haha?“ schrie die Tante fuchtig.
„Dass du auf die Musik pfeifen willst, also doch wieder Musik zu machen beabsichtigst. Weißt du was,
ich gehe. Mit dir ist heute nichts anzufangen. Ich habe mir das Rätsel aufgeschrieben. Und ich gehe.“
„Wohin gehst du?“
„Ein bisschen im Haus herum, vielleicht fällt mir was ein.
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„Hoffentlich“, bemerkte die Tante. „Und zwar recht schnell. Denn mir fällt nichts mehr ein. Musik! Was
für Musik?“
„Steht doch alles da, Menschenskind!“ sagte Edu und entwischte schleunigst aus dem Zimmer. Kaum war
er draußen, als die Tante auch schon ihre Brille zu suchen begann. Sie fand sie in der Mehlsuppe, die vom
Frühstück her noch auf dem Tische stand. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie die Gläser gesäubert hatte,
dann aber starrte die Tante den Zettel an, wobei ihr fast die Augen aus dem Kopfe quollen.
Plötzlich war es ihr, als höre sie Egons Stimme: „Entspannen!“ Die Tante grinste, nickte und ließ sich
zurückfallen. Sie atmete langsam ein und aus, und siehe da, es geschah etwas mit ihr. Ihr Kopf wurde
klarer, ihre Nerven beruhigten sich, und aus dem Grinsen wurde ein Lächeln. Vielleicht, vielleicht war
doch was an Egons Lehre vom Aus- und Einatmen.
Sie schloss die Augen und ließ sich die Zeilen des dritten Rätselgedichtes durch den Kopf fahren. Sie
konnte es schon längst auswendig.
Unterdessen schlenderte Edu durch das Haus und fand sich schließlich in Fritzens Zimmer.
„Warst du das mit der Schildkröte?“ fragte Edu.
„Iiich? Wie kommst du darauf? Ich dachte, du wärst es gewesen?“ lautete die Rückfrage.
„Fritz“, sagte Edu, „Lügen ist etwas Dreckiges. Das kann ich nicht leiden.“
„Ich auch nicht.“
„Na also, dann verkohl mich nicht.“
„Dämelack“, sagte Fritz, „du dämlicher Dämelack, ich verkohle dich ja gar nicht, ich war es jedenfalls
nicht.“
„Ehre?“
„Ehre!“
„Joijoijoi, dann war es wer anderes. Einer von den Erwachsenen. Aber wer?“
Fritz kniff die Augen zusammen. „Dein Onkel Bubu war gestern hier. Er tat sehr schön mit uns allen, aber
Vati hat ihn abblitzen lassen. Der wollte uns bloß ausfragen. Dabei hat er dauernd geschielt.“
„Geschielt, wieso?“
„Nach Petite, der Schildkröte. Ich will ja keinen verdächtigen, aber weißt du ...“
„Hm. Ganz unmöglich ist es nicht. Ich traue es dem schon zu. Aber lassen wir das. Sag mal: Kann man
mit einer...“ - und hier legte Edu seinen Mund dicht an Fritzens Ohr und flüsterte ein Wort - „ . . . eine
Tür aufmachen?“
Fritz sah ihn wie aus den Wolken gefallen an. „Mit einer ... ? Na du, das ist ja ein komisches Ding. Aber
warte mal. Ich habe da hier ein Buch . . .“
Er langte zu und machte „Au“. Er besah sich den Handrücken, auf dem ein kleiner roter Strich erschienen
war.
„Was ist denn los?“ fragte Edu.
„Siehst du die kleine Birne hier, mit der Spitze?“ deutete Fritz. „Da bin ich drangekommen. Gehört zu
meinem Sende- und Empfangsgerät. Wenn man da dran kommt, dann zischen die hohen Voltzahlen nur
so durch einen durch. Und da verbrennt man sich. Willst du mal dranfassen?“
„Nee, nee“, wehrte Edu ab. „Lieber nicht. Guck du mal lieber in dein Buch! Ob man . . ., na du weißt ja
schon.“
Fritz blätterte und las. Er hatte die Beine auf einen Tisch gelegt und machte ein sehr gelehrtes Gesicht.
Er las sehr lange. Dann schüttelte er den Kopf. „Nichts“, stellte er fest.
„Aber das muss es doch geben!“ empörte sich Edu.
„Muss, muss. Wenn ich es aber doch nicht weiß! Warte mal!“ Er sah nachdenklich auf sein Sendegerät.
„Ich kann ja mal jemand anderen fragen.“
„Wen denn?“
„Tja“ -- und Fritz prüfte eine Liste, „im Augenblick ist nicht viel los. Aber ich kann es mal in Rom versuchen.“
„In Rom?“
„Ja, stell dich nicht so verkalkt an. Ich spreche doch hier mit halb Europa. Eigentlich darf ich es ja nicht,
weil ich viel zu jung bin, aber ich habe die ganze Anlage auf den Namen Vatis angemeldet, und der hat
auch alles unterschrieben.“
„Also hast du doch gelogen!“
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„Jaja, das habe ich. Aber ich kann nun mal das Senden nicht lassen. Außerdem, so richtig gelogen war
das nicht. Vati hat sich eben als Amateurfunker angemeldet, mir überlässt er nur die Arbeit. Er versteht ja
nichts davon.“
„Na, weißt du, d e i n e Entschuldigungen. Aber was ist mit Rom?“
„Da sitzt ein junger Amateur, der sendet jetzt. Der spricht Französisch. Der hat was auf dem Kasten. Den
könnte man fragen.“ Fritz drehte an Knöpfen, dann quäkte eine Stimme.
„Si si, alle ore quindici. Vabbene.“
„Allo, allo“, sagte Fritz, „c'est toi, Armando?“ „Oui, qui parle?“
„Fritz!“
„Ah, bonjour, Fritz, comment ca va?“ „Pas mal!“
Edu sah Fritz mit größter Hochachtung an. Wie dieser kleine Kerl Französisch sprach, das war einfach
toll.
Nun ging ein langes Gerede los, von dem Edu, zu seiner Schande musste er es sich eingestehen, nur einen
Bruchteil verstand. Die beiden erzählten sich offenbar allerlei Lustiges, jedenfalls lachten sowohl Fritz
wie die Stimme im Lautsprecher. Edu wurde ungeduldig. Er knuffte Fritz in die Rippen. Der streckte ihm
die Zunge heraus und fuhr dann mit seinem Palaver fort.
„Apropos“, sagte er, „j'ai une question. Est-ce qu'on peut ouvrir une porte par une ... ?“
Aber hier müssen wir die beiden erst einmal verlassen. Denn jetzt wird es zu technisch, das ist das erste.
Das zweite ist, dass wir uns einmal ein bisschen nach Tante Tine umsehen müssen.
Und das dritte: Man soll nicht alles gleich verraten, auch seinen Lesern nicht. Das ist natürlich ein schriftstellerischer Trick, ein ganz gemeiner sogar, aber bitte Geduld - es kommt bald alles an den Tag.
XVII
Tante Tine hatte den Zettel in der Hand und fraß die Wörter in sich hinein. Das also war die dritte und
letzte Aufgabe, die zu lösen war, und, wie es ihr schien, die schwerste.
Die Tante legte den Zettel hin, ergriff ein Schreibheft und einen Bleistift und begann sich Notizen zu
machen. Sie schrieb: „Das Rätsel muss erst einmal in richtiges Deutsch übertragen werden. Die ersten
Zeilen besagen, dass wir Musik für den Kaiser machen sollen.“
So was Dummes, dachte die Tante. Wie kann man denn mit Musik was finden. Aber na, sehen wir mal
weiter zu. Und sie schrieb: „Es wird Musik aus der französischen Revolution verlangt. Was für eine
Musik, steht auch gleich dabei. Es handelt sich um die Marseillaise. Das französische Revolutionslied. Es
fing an mit den Worten: Allons enfants de la patrie. Das heißt auf Deutsch: Ihr Kinder des Vaterlands,
voran! Es scheint mir klar, dass also die Marseillaise gespielt werden muss.“
Nein, ich kriege es nicht raus, dachte Tine. Musik für den Kaiser Napoleon! Musik aus der großen Revolution! Ihr Kinder des Vaterlands, voran. Bis dahin ist die Sache klar. Aber was dann kommt, ist ja Unsinn: Spielt lustig auf und wartet. Wartet? „Wartet?“ schrieb sie in ihr Heft. „Wo soll man denn warten,
und auf was soll man denn warten? Onkel Paul, das rufe ich dir ins Grab nach, dass du hier zu viel von
mir verlangst. Immerhin besagt dieser Satz klipp und klar, dass man die Revolutionshymne spielen und
warten soll. Wenn ich jetzt hier ein Klavier hätte und sie spielte und dann wartete - was würde da passieren? Gar nichts. Und doch steht hier geschrieben: Dann wird auch dies Geheimnis weichen. Also - wenn
das Lied gespielt wird, weicht das Geheimnis.“
Ich verstehe es nicht, sagte sich die Tante. Wie kann denn bloß ein Geheimnis durch Musik und Warten
gelöst werden? Das geht ja nicht. Angenommen, ich hätte jetzt hier ein Klavier und spielte darauf die
Marseillaise - aber das habe ich gerade erst aufgeschrieben? Vielleicht steckt in diesem Satz der Denkfehler. Lass mal sehen: W e n n - das Wort ist richtig - i c h - na ja, um mich handelt es sich ja, denn ich
denke darüber nach - j e t z t - hm, jetzt? Jetzt würde mir das Musikmachen nichts nützen, denn es würde
in irgendeinem Zimmer stattfinden und nicht an der richtigen Stelle, an der richtigen Stelle ... h i e r - das
ist dasselbe. Es würde nicht helfen, wenn ich die Musik h i e r spielte, also ... also ... ja, ich glaube, ich
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habe es, hier sitzt der Denkfehler. Ich muss die Musik an der einen bestimmten Stelle spielen, dann lüftet
sich das Geheimnis. Aber wo ... ? Wo ist die bestimmte Stelle, an der ich Musik machen muss...?
Die Tante stand auf und ging mit raschen Schritten durchs Zimmer. Sie glaubte nun den richtigen Ansatzpunkt gefunden zu haben, aber auch nicht mehr. Sie musste erforschen, wo die Marseillaise gespielt
werden müsste.
Sie nahm, wie immer in Minuten der Aufregung, den Hut vom Kopf, stierte ihn an und setzte ihn schief
wieder auf. Dann ging sie entschlossen aus dem Zimmer. Sie wollte suchen, wo, wo, wo ...
Sie durchstreifte das ganze Haus, sah sich die Bilder an den Wänden an, betrachtete Schränke und Bücherbretter, Tische und Stühle, setzte sich an das Klavier in einem der Räume und spielte die Marseillaise: „Alons enfants de la patrie!“
Dann sah sie sich um, ob irgendetwas geschähe, aber es geschah nichts. Sie spielte das ganze Revolutionslied durch, zweimal, dreimal, es geschah nichts. Das Geheimnis lüftete sich nicht.
Verzweifelt stand Tine auf und schlich weiter durch das Haus, durch Gänge und Flure, sah sich mit blitzenden Augen um und entdeckte nichts.
Eine Treppe führte zum Boden hinauf. Tante Tine stockte. Da oben war sie noch nicht gewesen. Als sie
die erste Stufe bestieg, war es ihr, als hätte sie hinter sich einen Schritt gehört. Sie trat schnell zurück und
schaute sich um, sah aber niemand.
Ihr Herz klopfte. Sie stieg die Treppe hinauf und öffnete die Bodentür.
Der Boden war ein weit ausgedehnter Raum, ziemlich niedrig, von Balken und dicken Schornsteinen
durchzogen. Kisten, Truhen, Säcke und allerlei Gerümpel lagen in den Ecken. Der Fußboden war mit
einer dünnen Staubschicht bedeckt. Sie schritt vorsichtig weiter. Plötzlich hörte sie ein metallenes Geräusch. Was war das gewesen?
Sie drehte sich um und sah nach der Tür. Hatte sie nicht gerade eben die Tür zugemacht? Oder hatte sie
sie offen gelassen? Sie wusste es nicht mehr und ging zurück, drückte auf die Klinke – aha! Die Tür war
von außen verschlossen worden, und sie war gefangen. Sie rüttelte an der Klinke, aber die Tür gab nicht
nach. In diesem Gutshaus war alles solide gebaut. Sie ließ sich auf eine Kiste nieder und dachte über ihre
Lage nach.
Sie war also gefangen. Irgendwer hatte ein Interesse daran, sie aus dem Spiel des Rätselratens auszuschalten. Das konnten nur Bubu, Hut, Emmi oder Samuel sein. Egon traute sie so etwas nicht zu.
Sie stand auf und klopfte mit der Faust gegen die Tür. Der Laut verscholl ins Leere.
Sie sah nach den Bodenfenstern und begriff sofort, dass sie sich dort niemals durchzwängen können
würde, die Luken waren viel zu schmal.
Schöne Lage, dachte Tante Tine, hier hat mich also wer eingesperrt, und ich weiß nicht, wie ich wieder
rauskommen soll. Soll ich mich nun grässlich darüber aufregen? Nein, das tue ich lieber nicht. Denn
irgendwann wird mich ja Edu vermissen, und dann werden sie mich suchen. Sie werden schon auf die
Idee kommen, dass ich hier oben bin. Oder?
Sie sah noch einmal auf die Staubschicht am Boden und stellte fest, dass nur eine einzige Fußspur darin
war, ihre eigene. Der Boden musste also seit längerer Zeit nicht mehr aufgesucht worden sein. Niemand
wusste, dass sie hier war. Nur einer - der nämlich, der sie hier eingesperrt hatte, und der würde es wohl
nicht verraten.
Sie öffnete eine der Dachluken und versuchte hinauszusehen, dabei wurde ihr schwarzer Hut heruntergerissen, die Brille rutschte von der Nase und die Tante trat darauf. Die Gläser zerbrachen.
Die Tante merkte, wie der Zorn in ihr hochkochte. Sie fing sich aber sofort wieder und raunte sich unhörbar zu: Nur ruhig Blut! Gerade jetzt musst du den Kopf oben behalten. Infolgedessen steckte sie den Kopf
durch die Luke und schrie mit gellender Stimme: „Hilfe! Hiiilfe!“
Dann lauschte sie, aber von nirgendwo kam ein Echo. Sie schrie eine Viertelstunde lang, niemand schien
sie zu hören. Sie wurde sehr nüchtern und eiskalt. Ich muss es also abwarten, dachte sie, und in der Zwischenzeit muss ich mich hier umsehen, soweit ich das ohne Brille kann. Sie blickte sich um, der Raum
verschwamm dämmerig vor ihren kurzsichtigen Augen. Sie sah die Balken und die Schornsteine als
Nebelsäulen, tastete sich bis zu ihnen hin und lauschte. Einmal krabbelte eine Maus durch eine Ecke,
dann war wieder tiefe Stille.
Nein. Keine tiefe Stille. Da war etwas. Irgendwas war zu hören. Kaum hörbar, ein Geräusch, unregelmäßig. Was war das? Mit angespannten Sinnen lauschte sie. Es schien vor ihr zu sein. Sie tat ein paar Schrit38/47
te und berührte mit ausgestreckten Armen einen der Schornsteine. Sie legte das Ohr daran – ja ja, da war
was. Da - sprach da nicht jemand?
Sie presste das Ohr an die Backsteine, aber mehr als ein dumpfes Geräusch, das vielleicht ein Sprechen
war, konnte sie nicht vernehmen.
Mit der Nasenspitze auf dem Mauerwerk suchte sie den Schornstein ab, und da entdeckte sie etwas, das
ihr Herz höher hüpfen ließ. Etwas Eisernes. Es war eine Klappe, die in den Schornstein eingelassen war,
eine breite und hohe Klappe, die sich bequem hochziehen ließ. Die Tante tat es. Sie zerrte an der metallenen Platte und hob sie heraus, legte sie neben sich und steckte den Kopf in das schwarze, gähnende Loch,
das entstanden war.
Der Atem stockte ihr, erstens wegen des Rußgeruches, der aus der Tiefe zu ihr drang, und zweitens wegen der Stimmen, die sie jetzt ganz deutlich vernahm.
Es waren die Stimmen von Dr. Hut und Onkel Bubu.
Dass der Schornstein direkt zu dem Zimmer der beiden führen musste und in dem Kamin dort landete,
begriff Tante Tine ohne Nachdenken. Was sie hörte, nahm jedoch ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch.
„Mir ist das egal“, sagte Hut. „Die Hauptsache ist, ich kriege mein Geld, sonst lasse ich Sie hochgehen.
Ich weiß genug von Ihnen.“
„Sie ekliger Erpresser!“ knurrte Bubu.
„Was heißt hier Erpresser. Die Schiebergeschäfte haben Sie ja gemacht und nicht ich. Ich war nur Ihr
Angestellter. Jedenfalls, darauf können Sie sich verlassen: Sie fliegen rein. Mir vorzuwerfen, ich käme
nicht weiter! Strengen Sie sich doch auch mal ein bisschen an mit dieser blödsinnigen Rätselraterei. Ich
war der einzige, der Ideen gehabt hat -“
„Ja, und dieses alte Weibsstück von Tine und dieser Bengel haben schneller gedacht als Sie.“
„Ich habe sie vorhin auf dem Boden eingesperrt, damit die Beratungen der beiden erst einmal eine Weile
ausfallen“, sagte Hut. „Und was haben Sie getan?“
„Ich habe mir die Hose von dem Köter zerreißen lassen. Außerdem bin ich immer noch Ihr Chef, merken
Sie sich das, Sie – Sie!“
Tante Tine atmete so heftig, dass sie die Nase voll Ruß bekam und laut niesen musste.
„Was war das?“ hörte sie Bubu fragen.
„Weiß ich nicht“, erwiderte Hut, „vielleicht eine Katze.“
„Also mein lieber Hut. Wir wollen uns nicht zanken. Wir müssen zusammenhalten, und es wäre doch
gelacht, wenn wir diese lächerliche, alte, aufgetakelte Schachtel von Tine mitsamt ihrem lausefrechen
Edu nicht wenigstens einmal schlagen könnten.“
„Gut“, sagte Hut. „Versuchen wir es noch einmal. Aber das können Sie sich hinter Ihre abstehenden
Ohren schreiben: Meine Ansprüche bleiben, auch wenn es zum dritten Mal nicht klappen sollte. Hören
Sie zu!“
Und nun begann er fließend zu reden, und Tante Tine kroch der kalte Schweiß den Rücken herunter, als
sie es hörte. Dumm war der Hut nicht, das musste sie schon sagen.
„Die Sache ist im Grunde ebenso leicht wie die beiden anderen Rätsel. Man muss die französische Nationalhymne spielen, dann geht wieder irgendeine Klappe auf, und irgendwo drin liegt der Siegelring Napoleons. Wer den findet, bekommt den gesamten Besitz von Austerlitz selbst.“
„Irgendeine Klappe, sagten Sie?“ fragte Onkel Bubu. „Was für eine Klappe, bitte!“
„Das weiß ich nicht. Nur das Prinzip ist klar. Beim vorigen Rätsel öffnete sich das Schachbrett oder der
Tresor, als in einer bestimmten Reihenfolge in die Landkarte gestochen und geklopft wurde. Ich nehme
an, dass Onkel Paul, dieser geisteskranke Spintisierer, diesmal an etwas ganz ähnliches gedacht hat. Das
vorige Mal waren die kleinen Degen sozusagen der Schlüssel, mit dem man das Geheimnis aufschließen
konnte. Diesmal ist es natürlich -“
„Hatschiiii!“ machte Tante Tine.
„Da hat doch wer geniest?“ fragte Onkel Bubu.
„Ja, da hat wer geniest. Ich glaube wir werden belauscht. Wissen Sie was, wir gehen. Es ist ja nicht gerade notwendig, dass unser Zuhörer von mir erfährt, wie das Rätsel zu lösen ist. Kommen Sie, gehen wir.“
Tante Tine zog den Kopf zurück und begann sich die Haare zu raufen. Vor Ärger. Denn nun war sie ganz
nahe daran gewesen, zu hören, was Dr. Hut herausgefunden hatte, und sie selbst hatte sich durch ihr
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Niesen die Chance verdorben. Sie raufte sich buchstäblich die Haare, und dabei fiel ein Wölkchen von
Ruß herunter, so dass sie wieder niesen musste.
Ich mag ja schön aussehen, dachte sie. Aber egal. Jetzt muss ich schnellstens hier raus. Wollen doch mal
sehen ...
Sie griff in die Schornsteinöffnung hinein. Richtig. Da war eine eiserne Stufe eingelassen. Tante Tine
schob den ganzen Oberkörper durch die Öffnung, er ging bequem hinein. Sie tastete im Inneren nach
einem Halt und fand über sich eine weitere Stufe, tastete nach unten, ja, da waren noch mehr Stufen,
offenbar für den Schornsteinfeger angelegt.
Tante Tine kletterte in den Schornstein. Von allen Seiten klatschten Rußbrocken auf sie herunter, aber das
war gänzlich gleichgültig - nach unten stieg sie, vorsichtig mit den Füßen nach den eisernen Tritten hangelnd. Sie kam sich vor wie ein Bergsteiger. Einmal trat sie auf eine Stufe, die wohl verrostet sein musste,
denn sie brach unter ihren Füßen ab und klatschte nach unten, in die Tiefe.
Tante Tine hielt inne und lauschte dem aufprallenden Ding nach. O Gott, betete sie, ich danke dir für
alles, was du bisher an mir getan hast, und nun bitte ich dich, hilf mir auch aus diesem Schornstein heraus. Amen.
Und es gelang ihr, weiter nach unten zu kommen. Von dort her schimmerte ein heller Fleck zu ihr herauf,
das musste das Tageslicht sein, das bis in den Kamin vordrang.
Sie war diesem hellen Flecken schon recht nahe gekommen, als sie hörte, wie eine Tür geöffnet wurde.
Sie blieb hängen, sie wagte nicht, nach einer Stütze für ihre Füße zu suchen. Jemand war in das Zimmer
eingetreten und machte sich darin zu schaffen.
Dann hörte sie ganz leise Stimmen: „Schschsch ... Nicht so laut, sonst können die anderen - Guck mal im
Schreibtisch -“
Aha, dachte Tine, Tante Emmi mit ihrem Sammi. Die sind schon spionieren gekommen.
Tines Arme taten weh. Sie hatte das sichere Gefühl, dass sie nicht mehr lange in dieser hängenden Stellung sich würde halten können.
„Vielleicht hier in der Nedertasche“, quäkte Sammi.
„Sieh mal nach, ob -“ sagte Emmis Stimme.
Und da fiel Tante Tine in den Kamin. Ein Krampf hatte
ihren rechten Arm verzerrt, sie hatte losgelassen, und
nun fuhr sie mit Donnergepolter in die Tiefe. Mit ihr
zusammen fiel ein guter halber Zentner Ruß. Sie saß im
Kamin, fühlte ihre Knochen ab, und der besagte halbe
Zentner prasselte auf sie in Schüben und Stößen
herunter.
Tante Emmi stieß ein wimmerndes Gekreisch aus,
Sammi brüllte: „Der Neibhaftige! Der Neibhaftige!“ Und
gepackt von Entsetzen flüchteten die beiden aus dem
Zimmer.
Tante Tine kroch ächzend aus dem Kamin. Sie war ganz
und heil, aber sie nieste. Sie nieste unaufhörlich
schwarzen Kohlenstaub aus der Nase. Und sie fing an zu lachen, ganz für sich, heiter und losgelassen
lachte sie über die anderen und über sich und dachte: Also wirklich, Schornsteinfeger wäre kaum der
richtige Beruf für mich...
XVIII
„Fritz“, rief Frau Semmel, „willst du nicht zum Essen kommen?“ Sie hatte den Tisch bereitet und wartete
auf Antwort. Die Antwort kam nicht. Frau Semmel schüttelte den Kopf und ging auf das Bastelzimmer
ihres Sohnes zu, öffnete es und steckte den Kopf hinein. Fritz saß am Tisch, hielt einen Bleistift in der
Hand und hatte einen Kopf so rot wie Mohn. Über ihn gebeugt stand Edu.
„Fritz, das Essen ist fertig“, sagte Frau Semmel.
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„Sie können das nur, wenn eine ganz bestimmte elektrische Schwingung erreicht wird“, sagte Fritz. „Wie
bitte? Essen? Jetzt nicht, Mutti, ganz ausgeschlossen. Jetzt muss ich erst mal - aber das verstehst du nicht.
Und du“, wandte er sich an Edu, „das mit deiner Geige geht auch nicht. So schlau ist Onkel Paul bestimmt gewesen. Hör mal zu . . .“
Und er deutete mit dem Bleistift auf eine Zeichnung. Frau Semmel seufzte und schloss leise die Tür.
Sie verstand wirklich nicht, was hier vor sich ging, nur dass es etwas Geheimnisvolles war, das wusste
sie.
Etwas Geheimnisvolles ging auch noch an anderen Orten im Landhaus Austerlitz vor.
Da stand Onkel Bubu am Telefon.
„So“, sagte er, „also so ist das. Sie rufen mich sofort wieder an, wenn Sie etwas Näheres hören. Das Auto
habe ich bereit. Ich komme dann nach - na, Sie wissen schon, wohin. Ich möchte das nicht am Telefon
sagen. Aber da Sie nun schon einmal gerade am Apparat sind, so möchte ich Sie doch bitten, von dort aus
mal folgendes bei einem Radiotechniker zu erforschen. Kann man ...?“
Seine Stimme sank zu einem Flüstern herab, so dass wir leider nichts mehr verstehen können.
Umhüllt von Ruß und niesend schritt Tante Tine hastig auf ihr Zimmer zu. Mit wippenden Fersen kam ihr
ein Mann entgegen, Onkel Egon, der gerade eine seiner Übungen im Hin- und Hergehen machte.
Er blieb wie angewurzelt stehen, als er die von Ruß bedeckte Figur erblickte. Seine Augen weiteten sich
vor Erstaunen, er vergaß sogar seine Übungen, das heißt, er blieb wie angenagelt auf den Zehen stehen
und fragte: „Wer sind Sie?“
„Hatschi!“ sagte Tante Tine, „ich bin Tante Tine. Lass mich vorbei, Egon.“
„Aber was ist denn mit dir los?“ fragte Egon.
„Nichts.“
„Nichts?“ lachte Egon und ließ sich endlich auf die Hacken nieder, „na, ich danke. Du siehst ja aus wie
ein Teufel oder ein Kaminfeger, der aus Versehen in den Kamin geplumpst ist.“
„Bin ich, hatschi“, erwiderte Tine. „Aber nun lass mich vorbei. Ich brauche - hatschi - Seife.“
Aber Egon sagte. „Erst kommst du mit. Ich muss dir etwas zeigen.“
„In meinem Zustand? Ausgeschlossen. Erst muss ich - haaa!“
„Tschi“, ergänzte Egon. „Trotzdem komm her.“ Und er fasste die Tante entschlossen beim Arm und
zerrte sie fort. Über die Flure senkte sich Ruß, die roten Läufer auf der Treppe wurden von einem
schwarzen Puder bedeckt. Egon zerrte die Widerstrebende hinaus in den Hof bis zu dem Denkmal Napoleons. „Da!“ sagte er und deutete mit dem Finger darauf.
„Da? Was heißt denn Da? Bist du verrückt geworden, mich in diesem Zustand an ein Denkmal zu führen?
Nächstens verlangst du noch, ich soll als Schornsteinfeger ein Museum besuchen. Lass mich los, ich will
mich waschen.“
„Nein“, sagte Onkel Egon. „Erst musst du begreifen. Denn dein Gehirn ist doch wohl hoffentlich noch
nicht eingerußt?“
„Doch“, sagte Tante Tine, „ich bin durch und durch voller Ruß. Mein Gehirn muss schwarz sein. Ich
niese ja auch dauernd schwarze Farbe in die Umgegend.“
„Nein“, beharrte Onkel Egon.
„Also gut, was willst du von mir?“
„Da“, sagte Onkel Egon und erhob den Zeigefinger wieder gegen Napoleon.
„Da - da - da“, jammerte Tine, „du lallst ja wie ein Wickelkind. Möchtest du ein bisschen Milch trinken,
mein Hutschiputschi, oder möchte mein kleines Egonleinchen ein bisschen Schokolalla? Da - da - da?
Soll ich dich in ein Säuglingsheim einliefern?“
„Die Sache ist die, Tante Tine, dass ich nicht mehr sagen kann und will. Aber wenn du mit Edu das Rätsel raten willst, so kann ich nur das eine Wort sagen. Da! Verstehst du?“
„Nein“, knurrte die Tante, „aber vielleicht verstehe ich später, wenn ich den Ruß aus meinen Gehirnwindungen wieder raushabe. Mach's gut.“
Und sie ließ ihn stehen.
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„Du bist schuld, dass ich -“ donnerte die dicke Emmi. „Damals war doch im Rundfunk ein Vortrag darüber, aber du wolltest ja unbedingt - wegen deinem Hörspiel - so ein Quatsch - und der Vortrag war doch
so -“
„Nein, Geliebte“, jammerte Sammi, „genau umgekehrt. Ich wollte den technischen Vortrag hören, aber du
sagtest, du wolltest lieber etwas Lustiges haben, und da habe ich Leipzig eingestellt, wo sie gerade ein
Hörspiel hatten.“
„Du lügst. Du bist eben überhaupt kein - warum ich dich bloß damals geheiratet - wenn ich gewusst hätte,
welche Last -“
„Ernaube man“, erregte sich Sammi, „was heißt hier Nast? Ich wiege 110 Pfund und du wiegst zweieinhanben Zentner. Wenn wir schon von Nast reden wonnen, dann wieg du dich auf der nächsten Waage.
Nast! Haha!“
„Samuel, du wagst es, mir zu widersprechen?“ Sie stand langsam auf und näherte sich ihrem Ehegemahl
mit drohender Miene. „Du scheinst nicht zu wissen, dass dünne Frauen hässlich sind! Im Mittelalter
waren dicke Frauen schön.“
„Im Mittenanter“, seufzte Sammi, „das ist schon nange her. Aber reden wir nieber über die Nösung des
Rätsens!“
Und sie redeten.
Die Nacht kam, aber im Hause Austerlitz wurde wenig geschlafen. Dr. Hut lag angezogen auf seinem
Bette, Onkel Bubu ging aufgeregt rauchend hin und her. Er wartete auf ein Telefongespräch. Und dann
konnte noch ein zweites kommen, aber das fürchtete er. Dr. Hut sah ihm grinsend bei seinem Hin- und
Hergehen zu.
Zur gleichen Zeit reinigte Frau Semmel mit einem Staubsauger das ganze Haus vom Boden bis auf den
Hof von Ruß. Tante Tine hatte sich inzwischen in der Badewanne gründlich gesäubert und ihre Ersatzbrille aufgesetzt. Den Hut trug sie auch wieder auf dem Kopfe, der, obwohl gereinigt, zuweilen noch
winzige, schwarze Wölkchen von sich gab.
Onkel Egon freilich schlief wie ein Klotz. Er hatte seine Entspannungsübungen einfach vor dem Schlafengehen verdoppelt.
Edu und Fritz aber saßen noch immer im Bastelzimmer mit hochroten Köpfen. Zwischen Fritz und seinem Amateurfreund aus Rom hatten mehrere lebhafte Aussprachen stattgefunden. Der Tisch war über
und über mit Zeichnungen bedeckt, die aus Kreisen, Dreiecken, Zickzacklinien und allen erdenklichen
anderen Zeichen bestanden. Vater Semmel saß dabei und sah zu. Er hatte seinem Jungen erlaubt, diese
Nacht aufzubleiben, und er selber war von einer so wilden Spannung erfüllt, dass er sich gleichfalls nicht
zu Bett gelegt hatte.
Jetzt legte Fritz den Bleistift hin und gähnte. Edu und Vater Semmel sahen ihn mit fiebrig neugierigen
Augen an. Fritz tat so, als merke er nichts, sondern gähnte wieder.
„Was ist?“ fragte Edu.
„Hast du's raus?“ fragte Semmel.
„Raus? Was?“ fragte Fritz mit Unschuldsmiene. „Ach so, diese Sache da, wie man das Geheimfach öffnen kann. Ja, das habe ich raus. War ja auch eine Kleinigkeit für einen Mann wie mich!“
„Sagtest du eben: Mann?“ fragte Semmel.
„Na ja, das sagte ich, wie man es eben so sagt. Meinetwegen kannst du auch sagen: Es war eine kleine
Sache für einen Jungen wie mich. Uah, bin ich müde.“ Er stand auf und machte Miene, das Zimmer zu
verlassen.
„Nee, nee, mein Lieber“, sagte Vater Semmel, „so nicht. Du willst uns wohl jetzt hier zappeln lassen! Erst
musst du uns sagen, was du rausgefunden hast!“
„Morgen“, erwiderte Fritz, der sich sichtlich blähte im Bewusstsein, dass er etwas wusste, was die anderen nicht wissen konnten. „Morgen früh, wenn sie alle dabei sind.“
„Fritz“, flehte Edu, „wenn dir nun diese Nacht etwas passiert! Dann wissen wir nicht, wie wir das Ding
aufkriegen sollen.“
„Was soll mir denn schon passieren in meinem Bett?“ fragte Fritz.
„Vergiss nicht, dass wir es in diesem Hause mit skrupellosen Menschen zu tun haben. Wenn sie dich nun
diese Nacht entführen!“
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„Entführen?“ fragte Fritz. „Das wäre prima. Das wäre aufregend. Aber mich entführt keiner. Ich werde
ein paar Alarmdrähte um mein Bett legen und noch ein paar andere Drähte. Gefährliche Drähte, denn
wenn man da dran kommt, kriegt man einen hübschen Schlag. Nein, ich gehe ins Bett. Gute Nacht!“
„Fritz!“ bettelte Edu.
„Fritz!“ bettelte Vater Semmel.
Fritz sah sich die beiden Zappelnden an. Er grinste überlegen und sagte schließlich: „Wo hast du deine
Posaune, Vati?“
„Draußen im Schrank.“
„Könntest du da heute Nacht noch zehn Töne drauf blasen?“
„Zehn?“ schrie Semmel und sprang auf. „Hundert, tausend, wenn du willst!“
„Und schenkst du mir den Röhrensatz für meine Apparate zum Geburtstag?“ erkundigte sich Fritz mit
Unschuldsmiene.
„Jajajaja“, stieß Semmel hervor. „Und Edu wird dir sicher auch was schenken. Nicht wahr, Edu? Wenn
du geerbt hast?“
„Worauf Sie sich verlassen können!“ bestätigte Edu. „Aber nun wollen wir. . .“
Tja, liebe Leser und Leserinnen, und dann gingen sie los. Was dabei alles geschah, verraten wir nicht;
denn wir müssen uns doch noch etwas bis zum Schlusskapitel aufheben, das werdet ihr doch einsehen,
nicht?
Jedenfalls wollen wir soviel mitteilen, dass auf dem Hofe nachts um zwei plötzlich grelle Posaunentöne
ausgestoßen wurden, zehn an der Zahl. Darauf ertönte ein geheimnisvolles Surren. Eine Taschenlampe
leuchtete auf. Ein Junge stieß einen Ruf des Entzückens aus. Fenster öffneten sich, aber der Hof war
schon wieder in Dunkel gehüllt. Niemand war imstande, etwas zu sehen.
Gegen vier Uhr nachts stieß im Schlafzimmer von Fritz ein Herr namens Hut ein gellendes Geschrei aus.
Ein Geruch von verbranntem Fleisch blieb zurück, der Herr namens Hut verschwand wie ein Wirbelwind
in Richtung Hausapotheke, um sich ein paar unscheinbare, aber sehr schmerzende Brandwunden an den
Fingern mit einer Salbe zu bedecken.
Das Haus versank dann scheinbar in Ruhe. Aber das war nur äußerlich. Wütende oder triumphierende
Träume suchten die Schläfer heim, alles zitterte in großer Erregung dem kommenden Tag entgegen, der
die Entscheidung bringen sollte.
Was er brachte, sollt ihr sogleich erfahren.
XIX
Am nächsten Morgen saßen alle zum Frühstück beisammen, nur Onkel Bubu fehlte. Alle Gesichter waren
blass, und wenn ein Fremder ins Zimmer getreten wäre, so hätte er unschwer erraten können, dass alle
eine mehr oder weniger unruhige Nacht hinter sich gehabt hatten. Tante Tine, jetzt mit strahlend weißer
Haut, ließ ihre funkelnden Augen über die Gesellschaft gleiten, und beim Hin- und Herrucken ihres Kopfes klirrten die Ohrgehänge. Edu sah ein wenig blass, aber zuversichtlich aus. Onkel Egon kaute gewissenhaft jeden Bissen dreißig Mal, ehe er ihn schluckte. Tante Emmi aber saß da wie ein schnaufendes
Nilpferd. Vor sich hatte sie eine Schüssel mit kaltem Wasser stehen, in die sie von Zeit zu Zeit eine Serviette tunkte, die sie sich dann auf den Kopf legte. Allem Anschein nach hatte sie schreckliche Kopfschmerzen. Ihr Mann, Onkel Sammi, saß eingeschüchtert neben ihr und löffelte schweigend ein weich
gekochtes Ei.
Gesprochen wurde wenig, nur, was man so beim Frühstück sagt, wie etwa: „Würdest du mir mal das Salz
reichen“, oder: „Könnte ich noch etwas Kaffee haben?“
Rechtsanwalt Kruse hatte sich während des Frühstücks so häufig geräuspert, dass er eigentlich gar nicht
so recht zum Essen gekommen war. Auch schien sein Klemmer an diesem Morgen durchaus nicht auf der
Nase sitzen bleiben zu wollen. Als das Frühstück beendet war und die meisten aufstehen wollten, erhob er
sich, rückte den Klemmer zurecht und sagte.
„Ähemm, meine Damen und Herren! Ich habe Ihnen eine - ähemm - Mitteilung zu machen. Jawohl!“
Alles blieb wie erstarrt stehen und sah ihn an.
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Ehe er aber den Mund zu einer Rede öffnen konnte, erschallte vom Hof her ein merkwürdiges, jaulendes
Gewinsel, wie von einer Katze, der man auf den Schwanz getreten hat. Sie alle blickten in die Richtung
des geöffneten Fensters. Kein Zweifel, dort unten kratzte jemand auf einer Geige.
Edu schoss auf das Fenster zu und blickte hinunter. Richtig, da stand Onkel Bubu mit einer Fiedel in der
Hand und gab dieses seltsame jaulende Geräusch von sich. Es ist leicht zu erraten, wie er das machte. Er
ließ den Zeigefinger der linken Hand von unten nach oben, von der G- bis zur E-Saite hingleiten, und
schien davon etwas zu erwarten. Denn nachdem er geendet hatte, ging er auf das Napoleon-Denkmal zu
und glotzte auf die Platte, die Onkel Paul dort hatte anbringen lassen. Offensichtlich geschah aber nichts,
denn Onkel Bubu fing noch einmal zu kratzen an.
Tante Tine setzte ein überlegenes Lächeln auf, denn sie wusste. Edu hatte sie noch in der Nacht aufgeweckt und ihr die Lösung des Rätsels mitgeteilt.
Tante Emmi fing bei den schauerlichen Klängen leise zu wimmern an, planschte die Serviette nachdrücklich in die Schüssel, legte sich das triefend nasse Tuch erneut auf den Kopf.
Auf dem Hof erschien Fritz mit seinem Vater. Fritz stieß ein wieherndes Gelächter aus, als er Onkel Bubu
erblickte, und winkte zu Edu hinauf.
Nun aber erhob Rechtsanwalt Kruse noch einmal seine Stimme: „Ähemm. Meine Damen und Herren!
Einer der Erbberechtigten hat mir mitgeteilt, dass er das dritte Rätsel gelöst habe. Als Testamentsverwalter darf ich Sie alle bitten, Zeuge dieser Lösung zu sein und mir auf den Hof hinunter zu folgen. Ähemm.“
Alle fingen sogleich zu sprechen an, machten sich aber auf den Weg nach unten.
Edu rannte als erster die Treppe hinunter, als letzte folgte die keuchende und schnaufende Emmi, der das
Wasser von der Serviette über die aufgeplusterten Backenpolster rann. Man ging auf das Denkmal zu, vor
dem noch immer Onkel Bubu mit seiner Geige und einem sehr verzweifelten Gesicht stand. Als sich alles
um die bronzene Figur des großen Kaisers versammelt hatte, erschien Frau Semmel auf der Szene und
sagte zu Onkel Bubu: „Ferngespräch für Sie. Sie werden am Apparat verlangt.“
Onkel Bubu wurde erst blass und dann käsig grün. Er ließ die Geige und den Bogen einfach auf die Erde
fallen und stolperte mit großen, unsicheren Schritten fort. Dr. Hut sah ihm mit einem langen, forschenden
Blick nach. In seinen Augen saß ein Fünkchen Genugtuung; es lag aber auch etwas Drohendes drin. Man
sah es ihm gewissermaßen an, dass er sich hin- und hergerissen fühlte, d. h., dass er am liebsten seinem
Chef gefolgt wäre, dass ihn aber diese Sache am Denkmal genau so, wenn nicht noch mehr, interessierte.
Rechtsanwalt Kruse sagte. „Ähemm“ und darauf das Folgende:
„Der Erbberechtigte Eduard Biene hat mir versichert, dass er nunmehr die dritte Aufgabe lösen werde.
Und Sie alle sollen Zeuge sein. Da einer der Erbberechtigten an das Telefon gerufen worden ist, erhebt
sich die Frage, ob wir warten sollen, bis er wiederkommt, oder ob wir anfangen sollen.“
„Anfangen!“ sagten alle.
„Ja, ja; fangt nur-. Ich kann nicht mehr-. Es ist ja ents. . . -. Sammi, ich wollte, es wäre alles erst zu -. Ach,
mein armer, armer Kopf tut mir ja so -.“
Sammi erwiderte: „Arme Kleine, du tust mir ja so leid. Warte noch ein Viertelstündchen, dann ist alles
vorbei.“
„Ähemm“, machte Herr Kruse. „Dürfte ich nun Herrn Eduard Biene bitten, anzufangen?“
Edu trat errötend vor, machte eine kleine Verbeugung und fing seine Rede an:
„Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Tantens und Onkels! Ja, ich habe das dritte Rätsel gelöst.
Die Sache ist ganz einfach. Es handelt sich bloß darum, den Siegelring des Kaisers Napoleon zu finden.
Ich will ihn schon finden. Das werden Sie gleich sehen. Er liegt nämlich hier drinnen. In dem Denkmal.
Oder nein, in dem Sockel des Denkmals. Hinter der Bronzeplatte mit der Aufschrift, die Sie alle lesen
können. Da liegt er. Es ist nur nicht ganz einfach, an ihn heranzukommen. Ich habe mich mit Fachgelehrten über das Problem unterhalten.“
Fritz bekam einen puterroten Kopf, als er auf diese Weise als Fachgelehrter bezeichnet wurde. Vater
Semmel legte seinem Jungen die Hand auf die Schulter und sah sehr stolz aus.
„Onkel Paul hat bei der Anlage dieses Denkmals einen Mann hinzugezogen, der eigentlich nichts damit
zu tun hatte: Einen Radiotechniker. Und det fiel mir uff. Darf ich noch mal das dritte Rätsel vorlesen?
Dann wird alles klar:
„Musik für den Kaiser Napoleon!
Musik aus der großen Revolution!
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Ihr Kinder des Vaterlands, voran!
Spielt lustig auf und wartet. Dann
Muss auch noch dies Geheimnis weichen.
Der Erbe findet schnell das Zeichen,
Ein rundes, goldgefügtes Ding,
Des Herrschers eignen Siegelring.
Greif zu so schnell als wie ein Blitz,
Dann hast du Ring u n d Austerlitz!“
Er machte eine kleine Kunstpause und sah sich die Gesichter der Umstehenden an. Tante Emmi keifte ihn
an: „Red nicht so lange -. Mein Kopf -. Du Lümmel kriegst ja doch alles, und ich -.“
„Der Ort des Rätsels ist ja ganz klar. Auch der Dümmste müsste sofort verstehen, dass es sich darum
handelte, den Sockel des Denkmals zu öffnen. Aber wo war der Schlüssel dazu? Der Schlüssel! Das hat
mir manches Kopfzerbrechen gemacht. Und wenn ich nicht den Rat eines Fachgelehrten gehabt hätte, so
hätte ich die Sache nicht herausbekommen, jedenfalls nicht die technische Seite. Der Schlüssel, meine
verehrten Onkels und Tanten, meine Damen und Herren, ist - - eine Melodie.“
Jetzt stierten sie ihn alle mit leicht geöffneten Mündern an, einige nickten ihm zu, darunter auch Tante
Tine, die ihren Kopf so heftig in Bewegung setzte, dass ihre Ohrgehänge ein vernehmbares Klingeln von
sich gaben.
„Für Leute, die von Technik nicht viel Bescheid wissen, will ich erklären, um was es sich dreht. Aber aber ich werde es erst hinterher tun, damit mir niemand ins Gehege kommt, wenn Sie gestatten.“
Er gab Herrn Semmel einen Wink und sagte: „Herr Semmel, darf ich bitten!“
Herr Semmel, der bisher die rechte Hand hinter dem Rücken verborgen gehabt hatte, holte plötzlich aus
und brachte eine Posaune zum Vorschein, die er an den Mund setzte. Schmetternd erklang die erste Zeile
der Marseillaise. Zehn Töne. Dann nahm Herr Semmel das Instrument vom Munde, und Edu sauste auf
das Denkmal zu. Ehe die anderen begriffen hatten, was eigentlich los war, - sie stierten noch immer auf
Herrn Semmel - war eigentlich schon alles beendet. Die Bronzeplatte mit der Widmung Onkel Pauls an
Napoleon hatte sich geöffnet wie eine gewöhnliche Schranktür. Man sah in eine Höhlung hinein mit
Drähten und Röhren, und man sah, wie Edu mitten in diese Höhle hineingriff. Da lag nämlich ein rotsamtenes Kästchen, das Edu herauszog. Er hielt es einen Augenblick lang in beiden Händen wie einen kostbaren Schatz, dann hob er es hoch, so dass es alle sehen konnten.
„Da ist er drin, Leute“, sagte Edu. „Herr Kruse, ich überreiche Ihnen hiermit den Punkt auf das i, den
Ring.“
Herr Kruse räusperte sich lange und anhaltend, drückte den kleinen Knopf an der Seite des samtenen
Kästchens und entnahm diesem einen Ring. Einen Siegelring.
„Ich stelle fest“, sagte er, „dass Herr Eduard Biene mir, wie es as dritte Rätsel erfordert, den Siegelring
des Kaisers Napoleon überreicht hat. Sie können ihn alle ansehen. Es ist ein goldener Ring mit einem
geschnittenen Stein. Das Siegel stellt eine Biene dar.“
„Die Biene, das Symbol der Bonapartes“, bemerkte Egon.
„Die Biene, das Namenstier von Onkel Paul“, sagte Tante Tine, nahm vor lauter Aufregung den schwarzen Hut ab und sah ihn sich an mit großen Kulleraugen. Ihr Gesicht strahlte in einem einzigen, großen
Lächeln.
Motorlärm wurde laut und Dr. Hut spitzte die Ohren. Ein Auto entfernte sich.
„Da fährt Ihr Onkel Bubu“, sagte Dr. Hut. „Ich fürchte, er wird noch einmal einen guten Rechtsanwalt
brauchen. Der Schieber, jetzt kneift er. Aber, wenn er meint, er könne auch vor mir kneifen, so hat er sich
geirrt.“ Er sah sich um und knirschte zwischen den Zähnen hervor: „Ich gehe und lasse Sie mit Ihrem
Hokuspokus allein. Auf Wiedersehen.“ Damit verschwand er, aber niemand sah ihm nach.
Onkel Egon griff als erster das Wort:
„Liebe Freunde! Es ist nun also doch so geworden, dass Edu alle drei Rätsel gelöst hat, und dass ihm
infolgedessen das ganze Erbe zufällt. Ich für meine Person gratuliere ihm herzlich.“
„Ähemm“, meinte Rechtsanwalt Kruse, „ich auch.“
Fritz aber fuhr wie ein angeschossener Tiger auf Edu los und umarmte ihn.
„Menschenskind“, rief er, „das ist Sache! Was? Jetzt hast du es geschafft. Und zum Geburtstag kriege ich
die Röhren.“
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„Vielleicht“, meinte Onkel Egon, „könnte uns noch erklärt werden, wie das Geheimfach im Denkmal nun
eigentlich wirklich geöffnet werden konnte. Würdest du das tun, Edu?“
Aber Edu schwebte in der Luft. Genauer gesagt, Tante Tine hatte ihn hochgehoben und presste ihn an
sich. Dann fing sie an, sich im Kreise zu drehen zu einem kleinen Freudentanz und kleine Juchzer auszustoßen. Sie merkte nicht einmal, dass Edu dabei mit seinem Kopf an ihren kostbaren schwarzen Hut
geriet, der auch prompt auf die Erde fiel, und auf dem sie herumtrampelte, so dass er schließlich nur noch
wie ein zerquetschtes Bündel aussah.
Nachdem sie Edu auf die Erde gestellt hatte, zog dieser einen Zettel aus der Tasche hervor und erklärte:
„Wissen Sie, das Ganze ist ja wirklich sehr einfach. Stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten eine Geige an
der Wand in einem Zimmer hängen. Wenn Sie nun auf einer zweiten Geige Töne spielen, so schwingen
die Saiten auf der ersten Geige mit. Der ganze Apparat hier ist im Grunde nichts anderes. Alle diese
Röhren und Drähte da drinnen in dem Sockel sind wie die erste Geige. Ich muss nur die zweite Geige
dazu finden. In diesem Falle ist es nicht eine Geige gewesen, sondern eine Posaune. Es kam aber darauf
an, den Apparat da drinnen ins Funktionieren zu bringen. Hier draußen war der Schall der Posaune, drinnen war die Resonanzwirkung. Ein Mikrophon in dem Sockel verwandelt die akustischen Schwingungen
in elektrische Schwingungen, die dann noch durch einen Verstärker verstärkt werden. Hinter dem Verstärker sind elektrische Schwingkreise angebracht, - ist ja alles ganz einfach - die ähnlich wie die Geigensaiten zum Mitschwingen gebracht werden müssen.“
„Mitschwingen!“ sagte Emmi. „Mein Verstand schwingt nicht bei all dem -. Hör auf, Edu, oder -.“
„Das geschieht aber nur, wenn eine ganz bestimmte Menge elektrischer Schwingungen erreicht wird, die
immer genau den akustischen Schwingungen entspricht, die an das Mikrophon gelangen.
Der erste Ton des Liedes bringt den ersten Schwingkreis zum Schwingen. Dadurch wird eine Umschaltung betätigt, die den Schwingkreis für den zweiten Ton öffnet. Der zweite öffnet nun wieder den Schalter für den dritten, und so geht es weiter. Wie Sie sehen, alles sehr einfach!“
„Führt mich weg!“ schrie Tante Emmi. „Ich verstehe kein Wort. Ich kann das nicht mehr -. So ein Blödsinn. Das muss mir -.“ Niemand achtete auf sie, auch Onkel Sammi nicht, der den Mund vor Staunen weit
aufriss und die Stirn in Falten gelegt hatte, so regte ihn die ganze Sache offensichtlich auf.
Edu fuhr fort:
„So geht es also weiter, bis der letzte Schwingkreis beim letzten Ton den Schalter für die Tür durch ein
Relais betätigt. Sehen Sie, das ist genau das, was wir gemacht haben. Mit dem ersten Ton des Liedes fing
hier drinnen im Sockel etwas zu schwingen an und das ging so fort. Onkel Bubu hatte versucht, mit seiner
Geige etwas Ähnliches zu erreichen. Er hat angenommen, es gelänge auch, wenn er einfach sämtliche
Töne der Tonleiter spielte. Aber da hat er sich geirrt. Vielleicht kann er auch gar keine richtige Melodie
spielen. Die bestimmten Töne wurden zwar getroffen, nur Onkel Paul hat mit so etwas bestimmt gerechnet und zwei Sicherungen einbauen lassen. Einmal muss der Ton eine ungefähr dem Lied entsprechende
Zeitdauer haben. Das wurde aber bei dem kurzen Überfahren der Saiten, das wir alle gehört haben, nicht
eingehalten. Deshalb schaltete der Umschalter nicht um.“
„Der Umschalter schaltete nicht -, was für ein konfuses Zeug. Ich gehe -“, keuchte Tante Emmi, blieb
aber stehen.
„Die zweite Sicherung war, dass, wenn der nachfolgende Ton nicht direkt auf den vorhergehenden Ton
erklingt, der Umschalter wieder zurückspringt. Die ersten drei Töne der ersten Zeile des französischen
Revolutionsliedes sind F, dreimal F. Diese drei Töne mussten erst gespielt werden, dann die anderen
sieben. Onkel Paul hat alles sehr gut überlegt. Er hat auch daran gedacht, dass vielleicht ein paar Zufallstöne die Tür im Verlauf von ein paar Tagen öffnen könnten. Alles das war nicht möglich, weil er sich
gesichert hatte.“
„Ich verstehe kein Wort“, sagte Tante Tine, „aber das ist mir auch ganz egal. Hauptsache ist, dass die Tür
mit einer Melodie geöffnet wurde. Wo ist mein Hut?“
Fritz überreichte ihr das zertrampelte Etwas, das auf dem Boden lag. Sie sah es erstaunt an und machte
„püh“. Dann warf sie den Hut von sich, trat in die Mitte vor und sprach also: „Meine lieben Anverwandten, Herr Rechtsanwalt, Herr Semmel und mein lieber Fritz Semmel! Im Auftrag des Erben Eduard Biene
habe ich Ihnen eine Mitteilung zu machen. Edu hat den ganzen großen Besitz geerbt, aber er will ihn
nicht für sich haben.“
Tante Emmis Augen leuchteten auf:
„Will er uns etwa etwas davon abgeben? Ach Edu, du Guter -. Ich wusste ja immer, dass du ein lieber -.“
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„Nein, Emmi, so ist das nicht gedacht. Du bekommst nichts. Du hast ja genug, und außerdem hast du dich
um Edu niemals gekümmert. Das betrifft auch den feinen Onkel Bubu, hinter dem die Polizei jetzt wohl
schon her ist. Etwas ganz anderes soll geschehen. Edu bleibt der Besitzer von Austerlitz und dem dazugehörigen Land. Aber er wird es abgeben für einen guten Zweck. In einem Stockwerk wird ein Museum mit
allen Erinnerungsstücken an Napoleon entstehen: das Paul-Biene-Museum. In dem ganzen übrigen Gebäude wird aber ein Waisenhaus eingerichtet. Alle Einkünfte des Landbesitzes sollen diesem Waisenhaus
zugute kommen. Edu geht weiter auf die Schule und wird dann studieren. Onkel Egon wird der Direktor
des Waisenhauses.“
„Aber Tine“, sagte Onkel Egon. „Du hast mich ja nicht einmal gefragt.“
Tante Tine streckte den Arm aus und piekste Onkel Egon an den Brustkasten. „Du! Du wirst mir jetzt
nicht aus der Reihe tanzen. Du hast zwar einen herrlichen Vogel, aber das macht nichts. Du bist wenigstens ein anständiger Mensch. Und damit du die armen Waisenkinder nicht zu viel ein- und ausatmen lässt,
werden wir eine Hausvorschrift ausarbeiten, in der genau die Stundenzahl festgesetzt wird, in der die
armen Würmer nach deinem Kommando ein- und ausatmen dürfen, in denen sie sich spannen und entspannen dürfen. Nimmst du an?'
Onkel Egon zögerte, dann nickte er und sagte: „Ich muss ja sagen, das wäre eine lohnende Aufgabe.“
„Gut! Schluss! Weiter!“ rief Tante Tine jetzt mit Kommandostimme. „Der Punkt ist erledigt. Jetzt kommt
Familie Semmel dran. Familie Semmel wird die Hausverwaltung des Waisenhauses übernehmen. Ich aber
übernehme die Küche. Und das kann ich euch sagen ... Wo ist mein Hut?“
Fritz überreichte ihr wieder den verbeulten Hut mit gerümpfter Nase. Tante Tine warf ihn noch einmal
weg. „Und das kann ich euch sagen. Ich koche anständig. Edu?! Wie koche ich?“
„Prima“, sagte Edu.
„Und für die Waisenkinder werde ich auch prima kochen. Ihr seid alle eingeladen herzukommen und zu
probieren. Auch du, Emmi und Sammi.“
„Mich sieht hier keiner wieder“, sagte Tante Emmi. „Ich gehe sofort -, Sammi, dass du mir nicht -. Komm
auf der Stelle -. Wir fahren -.“
Sie wälzte sich dem Hause zu, und ihr Ehegemahl folgte ihr mit unfrohen
Schritten auf dem Fuße. Manchmal blieb er stehen und sah auf die
Gruppe zurück mit einem Ausdruck des Bedauerns im Gesicht.
„Und Fritz wird auf Kosten von Edu Radiotechnik studieren!“
„Määänsch“, sagte Fritz. „Ist das wahr?“
Als Edu nickte, schlug ihm Fritz mit solcher Wucht auf die Schulter, dass
er einknickte. „Määänsch, du bist ja tipptopp. Vati, hast du gehört?“
Herrn Semmel aber liefen die Tränen übers Gesicht. Er schnappte nach
Luft wie eine Kaulquappe und nickte mechanisch mit dem Kopf. Dann
aber riss er sich zusammen, nahm Haltung an, holte ein Taschentuch
hervor und wischte sich die salzige Feuchtigkeit vom Gesicht weg.
„Ja, ich habe es gehört“, sagte er, „Und jetzt sollt Ihr auch gleich mich
wieder hören.“
Er setzte die Posaune an den Mund, und klirrend kamen noch einmal die
Klänge der Marseillaise aus dem Instrument. Semmel spielte das ganze
Revolutionslied und mitten hinein brüllte Tante Tine:
„Es lebe Edu! Es lebe Onkel Paul mit dem Napoleonfimmel! Und es lebe
Napoleon!“
„Hurra“, riefen sie alle.
Und da wischten sie sich alle die Tränen ab. Waren es nun Tränen der Rührung oder der Freude? Wir
wissen es nicht.
So endet die Geschichte von den drei Rätseln um Napoleon.
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