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Werner Dieball Prewest Verlag Gerhard Schröder Körpersprache 209 Wahrheit oder Lüge? Sind die Unterschiede des äußeren Erscheinungsbilds zwischen den Interaktionspartnern zu groß, kann dies Spannungen erzeugen und die Kommunikation erschweren. Zwischenfazit der körpersprachlichen Alphabetisierung Die aufgezeigten körpersprachlichen Elemente tragen wesentlich zum Image der Menschen bei. Das gilt besonders für das Image eines Politikers wie Bundeskanzler Gerhard Schröder. Um seine körpersprachliche Entwicklung und seine Imageveränderungen nachvollziehen zu können, sind die vorgestellten theoretischen Grundlagen von großer Bedeutung. Sensibilisiert für die Palette nonverbaler Merkmale, können wir jetzt darauf achten, wie Schröder beispielsweise einen Saal betritt oder zu einem Rednerpult geht. Neben Gang spielen der Gesichtsausdruck, der Blickkontakt, die Kopfhaltung, die Art seines Lachens, die Gestik ebenso wie der Klang der Stimme eine aussagekräftige Rolle.Auch die Wahl der Kleidung ist ein bedeutender Faktor für die Imagebildung. Das äußere Erscheinungsbild, wozu Frisur, Brillengestell und Schmuck gehören, gibt Aufschluss über ein konservatives oder modisches Image. Dem Betrachter und potentiellen Wählern fällt es auf, ob die Farben der Krawatte im Trend liegen, ob Manschettenknöpfe getragen werden oder ob ein Taschentuch in der linken oberen Sakkotasche zu sehen ist. All diese scheinbaren Kleinigkeiten formen ein Image, das sich in den Köpfen der Menschen festsetzt. Da die Medien bei der Imagebildung eines Politikers einen hohen Stellenwert besetzen, werden wir nun am Beispiel der Symbolischen Politik die Inszenierung und Personalisierung in der Politik aufzeigen. 54 Die Medien und ihr Einfluss auf die Körpersprache in der Politik Für viele Menschen spielt sich Politik im Kopf als eine Flut von Bildern ab, mit denen Zeitungen, Illustrierte, Fernsehen und politische Diskussionen sie überschütten. Diese Bilder, meint M. Edelmann, schaffen ein bewegtes Panoptikum aus einer Welt, zu der die Massen praktisch niemals Zutritt haben, die sie aber schmähen oder bejubeln dürfen. Zur Analyse dieser nonverbalen Kommunikation eignen sich ganz besonders Fernsehdebatten. Denn anders als bei vorbereiteten Reden wie im Bundestag oder auf Parteitagen werden Politiker in Fernsehdiskussionen häufiger mit unvorhergesehenen Fragen oder Argumenten konfrontiert. Aus solchen unvorbereiteten Situationen heraus agieren oder reagieren die Diskussionsteilnehmer oft mit spontanen Gesten oder sie weisen ein unverfälschtes Mienenspiel auf. In diesen Fernsehbeiträgen besteht für die Zuschauer die Möglichkeit, genauere Schlüsse vermittels der Körpersprache zu ziehen als bei einstudierten Redebeiträgen. Den Stressmomenten bei hitzigen Fernsehdebatten können auch mediengerecht geschulte Politiker schwer entkommen, da in Stresssituationen körpersprachlich jeder so handelt, wie er persönlich ist. Die bildhafte Darstellung des Fernsehens eignet sich daher hervorragend, um viele Informationen über die Person, ihre Gefühle, ihre innere Haltung und ihre Lebenserfahrung zu erhalten. Bei den Fernsehdiskussionen geht es in erster Linie um die Zielgruppe der Wähler, die erst während des Wahlkampfes eine Entscheidung fällen und deren Stimmen oft ausschlaggebend sind. Mit zunehmender Vermischung der Parteiprogramme und Unübersichtlichkeit der Parteiziele und der ideologischen Standpunkte hat sich die Anzahl der unentschlossenen Wähler erhöht. Außerdem ist eine Lockerung der emotionalen Bindungen beträchtlicher Teile der Wähler an ihre Parteien festzustel55 fach „berieseln“ zu lassen, da sie nicht gezwungen werden,Wörter zu verstehen und richtig zu deuten. Das Fernsehen stellt das Hauptinstrument für symbolische Politik dar. Symbolische Politik am Beispiel von „Brandts Kniefall“ Eine der Definitionen für symbolische Politik in der Mediendemokratie lautet: Symbolische Politik ist strategisches Handeln zu politischen Zwecken; die Reinform symbolischer Politik ist die symbolische Aktion. Das „Victory-Zeichen“ von Winston Churchill im Zweiten Weltkrieg, Adenauer betritt den Teppich auf dem Petersberg, Chruschtschow hämmert seinen Schuh auf den Tisch oder Mitterand und Kohl Hand in Hand in Verdun sind Beispiele für symbolische Politik. Die Handwaschung des Pilatus in Unschuld oder der Canossagang Heinrichs IV sind historische Beispiele. Als Paradebeispiel für eine spontane emotionale Reaktion gilt der Kniefall von Willy Brandt an der Gedenkstätte des Warschauer Ghettos im Jahre 1970. Der damalige Bundeskanzler kommentierte: „Im Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt.“ Der Politikwissenschaftler Walther Keim analysiert: „Diese Geste ist als formale Unterordnung und Demutshandlung gegenüber den Opfern zu interpretieren. Die versteifte und kerzengerade Körperhaltung demonstriert Würde, Kraft und geballte Energie.“ Der Kniefall des Staatsmannes, der im Zweiten Weltkrieg selber ein Verfolgter gewesen war. Eine Handlung als Symbol, „die einen Diskurs zu einem anschaulichen Bild verdichtet, der so komplex und eindeutig zugleich kaum zu führen wäre“ (Th. Meyer). Diese Geste ist symbolische Politik von oben und unten zugleich. Der Bundeskanzler hat seine Position genutzt, um mit einer Geste von unten Nachdenklichkeit auf beiden Seiten freizusetzen. Die 58 symbolische Aktion brachte Willy Brandt weltweite Anerkennung, weil sie authentisch beim Betrachter ankam. Wenn ein Mensch kniefällig wird, zeigt er, dass er einen Augenblick nicht durchstehen will oder kann. Brandt führte denen, die Schuld trugen, und den Opfern gleichermaßen vor, welche Haltung angesichts des Abgrunds allein angemessen wäre. Es ist weiterhin kritisch zu verfolgen, auf welche Art und Weise symbolische Politik den Bürgern serviert wird. Einerseits kann sie überwiegend für Unterhaltungsinteressen und eine bewusst gefühlsbetonte, unpolitische Imagepflege eingesetzt werden. Andererseits besteht durch symbolische Politik die Möglichkeit der Informationsvermittlung und Problemorientierung. Da die Menschen die politische Realität größtenteils symbolisch gesendet aufnehmen, sei es über Bilder, Sprache oder auch über Gestik, ist die Einbeziehung der privaten Sphäre des darzustellenden Politikers ein effektives Instrument im Kampf um Ansehen und Wählerstimmen. Der amtierende Bundeskanzler Gerhard Schröder hat in seinem bisherigen Leben als Politiker und Privatmann schon zahlreiche Rollen gespielt und diese symbolisch instrumentalisiert. Schröders „Privates Glück“ als politisches Stilmittel Auf die Verknüpfung von Privatleben und Politik in der Öffentlichkeit, ausgedrückt durch die Medien, war und ist Gerhard Schröder in vielen Fällen bedacht. Er posierte als Familienvater, Freizeitsportler und Diskutant mit der Jugend, damit die Distanz zu den Menschen auf der Straße, zum Volk verringert wird. Als amtierender Bundeskanzler zeigte er sich im Mai und Juni 2001 über das ganze Gesicht strahlend in den Printmedien mit seinen drei Cousinen aus dem Osten. „Keine Frage, das Private hat in der Politik einen hohen symbolischen Identifikationswert“ (Der Spiegel). Schwartzenberg bezeichnet dies als Familien-Strategie. 59 Die politisch gesehen ungünstigen Aufstiegschancen als Oppositionspolitiker in Bonn nahm er zum Anlass, sich noch im selben Jahr als Nachfolger Ravens um das Amt des SPD-Spitzenkandidaten von Niedersachsen zu bewerben. Schröder wurde aber nicht wie in der SPD sonst üblich für den Posten vorgeschlagen, sondern er brachte sich selbst durch ein Zeitungsinterview ins Gespräch. Diese forsche Vorgehensweise nach dem Motto: „Allein gegen die Parteispitze“ sorgte bei den brüskierten führenden Parteigenossen für Handlungsbedarf. So musste sich Schröder sowohl mit dem Landtagsvizepräsidenten Helmuth Bosse als auch mit der ehemaligen Bundesministerin für Jugend, Gesundheit und Familie Anke Fuchs auseinandersetzen. Trotz der innerparteilichen Konkurrenzkämpfe wurde Schröder, als Vorsitzender des SPD-Bezirks Hannover, am 7. 7. 1984 offiziell zum Spitzenkandidaten für die Landtagswahl 1986 ernannt. In Graws Schröder-Biographie wird dieses Ereignis so kommentiert: „Durch seine Wahl wird er omnipräsent.“ Doch trotz erheblicher Stimmengewinne der SPD unterlag Schröder 1986 dem amtierenden CDU-Ministerpräsidenten Ernst Albrecht. Schröder machte für die Wahlniederlage seine Unschlüssigkeit in der Koalitionsfrage mit den Grünen verantwortlich. Im Bundestagswahlkampf 1986 leistete sich Schröder gegen den SPD-Spitzenkandidaten Johannes Rau einen verbalen Fauxpas. In einem missverständlichen Zeitungsinterview räumte er Rau im Wahlkampf gegen Kohl keine Chance ein und kündigte voraussehend Oskar Lafontaine als kommenden Mann in der SPD an. Diese Äußerung führte zu lang anhaltenden Spannungen zwischen Rau und Schröder.Trotz der Rückschläge und Kritik verbuchte Schröder 1986 parteipolitische Erfolge. Er wurde zum neuen Fraktionsvorsitzenden von Niedersachsen und in den Parteivorstand gewählt. Kölner Parteitag 1983 Nach dem konstruktiven Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt, das am 1. 10. 1982 zur Wahl Helmut Kohls zum Bundeskanzler einer konservativ- liberalen Koalition führte, und nach der Niederlage des Kanzlerkandidaten Hans-Jochen Vogel bei den Bundestagswahlen vom 6. 3. 1983 waren die folgenden Jahre der SPD durch eine generelle Neuorientierung gekennzeichnet. So bestimmte von nun an der linke Parteiflügel die Geschicke der SPD, was auf dem Kölner Parteitag im November 1983 durch die Beschlüsse bestätigt wurde. In Köln wurde die Nachrüstung und Stationierung von Mittelstreckenraketen abgelehnt. Mit diesem Beschluss distanzierte sich die SPD von der eigenen Regierungstätigkeit der siebziger Jahre. Außerdem debattierte man intern über Friedenspolitik, Strategien zur Sicherheitspolitik und Umweltschutz. ➠ Abb. 13 84 Bundestagswahl 1980 85 Reportagen: Der Herausforderer; Die Kampagne des Gerhard Schröder; Der Kandidat; Vom Kandidaten zum Kanzler (I. Teil) Der Dokumentarist Thomas Schadt begleitet in dem Filmbericht „Der Kandidat“ über ein halbes Jahr lang den Kanzlerkandidaten der SPD, Gerhard Schröder, während des Bundestagswahlkampfes bis hin zur Wahlnacht. Der Film dokumentiert den hektischen Alltag des Wahlkampfes: Arbeitsabläufe, Wahlauftritte, Besprechungen, Dienstfahrten. Er blickt hinter die Kulissen und zeigt auch scheinbar Nebensächliches, das in der aktuellen politischen Berichterstattung keinen Platz findet. Schröders nonverbale Kommunikation kommt in dieser und auch in den anderen Reportagen vielfältig und prägnant zum Ausdruck. Die in den Dokumentationen zusammengeschnittenen Momentaufnahmen betrachten wir auch weiterhin unter den fünf vorgegebenen körpersprachlichen Komponenten. HALTUNG UND MOTORIK Bei seinen Wahlkampfreden läuft Schröders motorisches Programm meist ähnlich ab, wie die folgende körpersprachliche Zirkulation beschreibt: Zu Beginn der Reden ist sein Oberkörper noch statisch, und nach einigen Sätzen setzt er ihn zur Begleitung der Worte mit ein, indem er sich bei gleichzeitiger Steigerung seiner Stimme über das Rednerpult nach vorne beugt (Abb. 21). Möchte er seinen Forderungen mehr Nachdruck verleihen, geht er in die Knie und federt sich selbst ab. Manchmal haben seine relativ kurzen Beine Schwierigkeiten, den im Vergleich dazu großen und breiten Oberkörper zu halten. Die Folge der Unproportionalität ist, dass die Beine nachgeben können, wenn er gewichtige Argumente präsentiert. Dabei schiebt sich sein Becken nach hinten, der Oberkörper biegt sich nach vorn, als wollte er sich gleich verbeugen. Abb. 21 128 Schröder SPD-Kanzlerkandidat, Bundestagsdebatte zur Euro-Währung 23. 4. 1998. – „Drehender Schnabel“ ➠ 129 verhandlungen (Abb. 30) mit Bündnis 90/Die Grünen, in deren Zentrum die Auseinandersetzungen um die Atompolitik und die Ökosteuer standen. Nachdem am 11. 3. 1999 Bundesfinanzminister und SPD-Parteivorsitzender Lafontaine auch von allen Parteiämtern zurücktrat, wurde Schröder am 12. 4. 1999 zum Parteivorsitzenden der SPD gewählt. Mit knapp 76% der Stimmen erzielte er das schlechteste Ergebnis der Nachkriegsgeschichte. Bei seiner ersten Auslandsrede als Bundeskanzler in Birmingham tänzelt Schröder auf seinen Füßen hin und her. Seine Oberkörperhaltung divergiert von seiner sonst üblichen statischen Haltung und ist lockerer. Er greift sich während der Rede mit dem Zeigefinger an die Nase und gestikuliert überwiegend mit der rechten Hand. Dies offenbart, dass seine Emotionen von der Ratio beherrscht werden. GESTIK Reportagen: Die ersten 100 Tage; Der Kanzler der neuen Mitte; Vom Kandidaten zum Kanzler (II. Teil) Anhand dreier Reportagen betrachten wir die ersten Monate der neuen Regierung Schröder. Es heißt bekanntlich, in den ersten 100 Tagen werden die Weichen für die zukünftige Politik gestellt. HALTUNG UND MOTORIK In einem Interview mit Dieter Schröder, dem Herausgeber der „Berliner Zeitung“, sitzt Gerhard Schröder ruhig zurückgelehnt in einem Stuhl. Während sein Oberkörper statisch wirkt, begleitet er seine Worte durch seine Kopfhaltung intensiv. Beim Zuhören nickt er zustimmend und hält den Kopf manchmal schräg. Während des Sprechens schiebt er den Kopf nach vorne, zieht die Augenbrauen hoch und legt die Stirn in Falten.Als er sagt: „Ich will Erfolg und denke deshalb nicht über ein Scheitern der Koalition nach.“, zieht er gleichzeitig die linke Fußspitze nach oben, um solch unangenehme Gedanken und Fragen „abzubremsen“.Auch als er auf die großen Schwierigkeiten der ehemaligen SPD-Bundeskanzler Willy Brandt (Guillaume-Affaire) und Helmut Schmidt (Nachrüstungsbeschluss und Haushaltspolitik) angesprochen wird, hebt er die Fußspitze an und blickt parallel hilfesuchend nach oben. 154 Als Schröder am 27. 10. 1998 von den Abgeordneten des Bundestages zum Bundeskanzler gewählt wird, wirkt er trotz der eindeutigen Rot-Grün-Mehrheit angespannt. Seine Nervosität macht sich im Vokabular der Körpersprache bemerkbar: Sein unsteter Blick schweift durch den Saal, er schaut zwei Mal hinauf zur Gästetribüne des Bundestages, dorthin, wo seine Ehefrau Doris Platz genommen hat. Im Vergleich zu den vorbeschriebenen Szenen ist die Haltung seines Torsos verändert. So belegt er seine Sitzfläche nur teilweise mit leicht gebückter Oberkörperhaltung. Dies ist ein Indiz für fehlendes Vertrauen und ein Gefühl der Bedrohung. Seine linke Gefühls-Hand liegt über seiner rechten Ratio-Hand und bedeckt symbolisch den Verstand. Mit dem linken Daumen streicht er nervös über das rechte Handgelenk. In dieser Situation ist Schröder eindeutig von Emotionen bestimmt. Nachdem das für ihn positive Ergebnis verkündet wird und er die Wahl zum Bundeskanzler angenommen hat, löst er seine Anspannung auf, indem er sich erst an sein Sakko und dann hilfesuchend an die Nase greift. Als Kohl ihm im Bundestag gratuliert, reichen sich die Kontrahenten die Hände, und Schröder „ankert“ an Kohls Unterarm, d. h., er verschafft sich die Geste eingeübter Vertrautheit. Bei der Übergabe des Kanzleramts halten sowohl Kohl als auch Schröder eine kurze Rede. Schröder hört Kohl mit strahlendem 155 Gesicht zu und bedankt sich erneut mit einem „Ankern“ an Kohls Unterarm. Im Anschluss daran richtet er einige Worte an Kohl: „Ich will mich bei Ihnen, Herr Kohl, bedanken.“ Er leckt sich dabei genussvoll über die Oberlippe, um den offiziell bestätigten Wahlsieg symbolisch nachzuschmecken und auszukosten. Nach seiner Rede berührt er erneut seine Nase, auf die sich seine Verlegenheit überträgt. Kurz vor der ersten Kabinettssitzung begrüßt er seinen Stellvertreter und künftigen Außenminister Josef „Joschka“ Fischer per Handschlag und „ankert“ auch an dessen Arm. Nach der erfolgten Wahl zum Bundeskanzler wird gezeigt, wie Schröder von Genossen und politischen Gegnern per Händedruck beglückwünscht wird. Schröder gibt energisch, selbstbewusst seine rechte Hand. „Er gibt gern die Hand, hat eine kraftvolle Hand. Er drückt zu.“ Er nimmt mit der rechten Hand die Glückwünsche entgegen und berührt mit seiner linken Hand die Gratulanten am Oberarm.Auch als er von Bundespräsident Roman Herzog die Ernennungsurkunde zum Bundeskanzler erhält, „ankert“ er bei ihm durch eine kurze Berührung am Oberarm. Diese Art von Händedruck gehört zu Schröders neuem nonverbalen Standard-Repertoire. Mit festem Augenkontakt und starkem Händedruck vollzieht er diese Manipulationsbewegung. Er schränkt damit die Bewegungsfreiheit seines Gegenübers ein und kann so mit seiner linken Hand den Weg bestimmen. Das Ankern deutet seine Gefühlsoffenheit an, aber zugleich möchte er die Reaktionen des anderen lenken. Bei dem Interview mit der „Berliner Zeitung“ ist seine Gestik sehr sparsam.Als er über eine Antwort etwas länger nachdenkt, fasst er sich mit der Hand an sein Kinn.Ansonsten hält er seine Hände im Schoß. Dabei streckt er die Finger der rechten und linken Hand so weit aus, dass die Fingerkuppen der beiden Hände sich in Pyramidenform berühren. Durch diese Suche nach Berührungspunkten wägt er gedanklich verschiedene Argumente ab und signalisiert dem Gesprächspartner die Bereitschaft zur Übereinstimmung. 156 MIMIK Zwischen einzelnen Passagen ist zu beobachten, wie Schröder seinen Worten nachschmeckt und genüsslich die Zunge über die Oberlippe gleiten lässt. In dem Interview entsteht der Eindruck, er habe ständig ein leichtes Schmunzeln auf den Lippen. Doch dies ist eine Täuschung, die durch die Schiefheit seines Mundes hervorgerufen wird. Als Schröder der Presse den zukünftigen Wirtschaftsminister Werner Müller vorstellt, lacht er in die Kameras und ist sichtlich erleichtert, einen Ersatzmann für den zurückgetretenen Jost Stollmann gefunden zu haben. KLANG DER STIMME Während des Interviews mit der „Berliner Zeitung“ wirkt Schröders Stimme noch ruhiger und gelassener als sonst. Durch die Ausgeglichenheit der Stimme demonstriert er, dass er mit der Regierungsverantwortung souverän umgehen will. ÄUSSERES ERSCHEINUNGSBILD Bei der Wahl zum Bundeskanzler ist Schröder in einen dunklen Anzug mit Krawatte und ein helles Hemd mit Manschettenknöpfen gekleidet. Außerdem ist das schwarze Armband seiner Uhr zu sehen. In dem Interview trägt er einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd und eine helle modische Krawatte. Seine Augen wirken nicht mehr so hellblau wie in der Vergangenheit. Ein möglicher Grund dafür könnte sein, dass er auf den Lidstrich verzichtet hat. Die Augenbrauen sind nun in demselben dunkelbraunen Farbton der Haare. Er trägt wie schon 1978 als Juso-Vorsitzen157 der einen Ehering am Ringfinger, dem Gefühlsfinger. „Die Konvention hat hier ihren Ursprung“ (Molcho). FAZIT Die politischen Ereignisse des ersten Regierungsjahres wie der Rücktritt des Finanzministers Lafontaine im März, der Kosovo-Krieg, massive Politik-Vermittlungsdefizite in den Unterbezirken und Kreisverbänden, das Schröder-Blair-Papier in Verbindung mit dem miserablen Ergebnis der Europawahlen (die SPD erhielt mit 30,7% der Stimmen das schlechteste Ergebnis seit 1979), die Verknüpfung des Sparpakets mit der Rücknahme der Rentenversprechen wirkten sich auf die nonverbale Kommunikation des Bundeskanzlers aus. Hinzu kam, dass der einstige Medienliebling Schröder durch die Personalisierung und ständige Medienpräsenz zeitweilig drohte, deren Opfer zu werden. Der Wahlkampfmanager Peter Radunski erkannte bereits 1980, dass überspitzte Personalisierung in Wahlkampagnen leicht zur Etikettierung der Politiker führen kann. Die ständige Medienpräsenz eines Politikers könnte zur Folge haben, dass er als leerer Stereotyp, fast als Karikatur, vor dem Wähler auftaucht. Als Paradebeispiel kann Schröders Situation 1999 herangeführt werden. Zu diesem Zeitpunkt stand er als „junger“ Bundeskanzler in der Kritik. In TV- und Printmedien erschienen zahlreiche Beiträge, die seine häufigen Medienauftritte ironisierten. Der einstige Medienstar Schröder lief in dieser Zeit Gefahr, zu einem „Medienkasper“ zu verkommen. Tyll Schönemann beschreibt die Situation: „Zigarre, Rotwein und Brioni verfestigten das Image des Luftikus, der nicht mehr zur Bewältigung beizutragen hat als gute Laune.“ Die Schröder-Biographin Krause-Burger fasst Schröders Situation treffend zusammen: „Spätestens als deutsche Soldaten in Kampfhandlungen geschickt wurden, fiel das Lebemännische von ihm ab, begann er sich zu verändern. Während der ersten schweren Monate, als er völlig unerwartet aus dem Himmel der politischen Lieblinge des Landes in den Hades der Unpopularität abstürzte, sah man den sonst so lockeren und lebensfrohen Schelm Schröder nur noch marionettenhaft auf den Bühnen der Politik. Plötzlich fehlte ihm die Leichtigkeit, die Souveränität. Schröder schaute in den Abgrund und erst mit der CDU-Spendenaffäre, dem Sparpaket von Finanzminister Hans Eichel, dem sogenannten Zukunftsprogramm und der Rettung des Holzmann-Konzerns folgte die Wende. Er redet in einer ernsthafteren Sprache, verzichtet auf populistische Sprüche.“ Auch Keim konstatiert, dass Schröder sich nach acht Monaten im Amt insbesondere in Mimik und Haltung verändert habe. Seine Körpersprache offenbare häufig: „Ich muss mich gegen den Willen anderer behaupten.“ Im Gegensatz zu dem grellen, lauten und telegenen „Krönungsparteitag“ im April 1998 in Leipzig, warten in Berlin eher Skeptiker als Jubler auf ihn, schreibt Der Spiegel im Dezember 1999. Berliner Parteitag 1999 Auf dem Berliner Parteitag 1999 hält Bundeskanzler Gerhard Schröder eine Laudatio auf die SPD-Historie und zieht ein Resümee des ersten Regierungsjahres. HALTUNG UND MOTORIK Die Medienkritik in dem Zusammenhang mit den politischen Vorkommnissen übertrug sich auf sein „körpersprachliches Management“ und führte zu einer Zäsur in Sachen Selbstdarstellung. 158 Schröder ist während seiner Lobrede auf die Geschichte der Sozialdemokratie bemüht, eine situativ angemessene, würdevolle Haltung einzunehmen. Er stützt sich mit beiden Armen aus159 178 – präsentiert sich als würdevoller Staatsmann – situativ angepasste Körpersprache Fazit – Wort, Stimme und Körpersprache asynchron – zeigt sich als Medienprofi – distinguierter Stil – Brille – geschminkt – Kerbe, senkrechte Falte – Frisur ungepflegt – konventioneller Stil – geschminkt – Kerbe ausgeprägt Äußeres Erscheinungsbild – Frisur ungepflegt – nonchalant – keine Krawatte – leichte Kerbe – italienische Anzüge – Cohiba-Zigarre – geschminkt – Kerbe voll ausgeprägt – klare Artikulation – gravitätisch – emotionslos – energisch – sonor Klang der Stimme – gleichbleibend laut – leichtes Lispeln – Modulation – jovial – Lecken, Schmecken – Lecken, Schmecken – ernster – ständiger Blickkontakt – freundlicher – ständiger Blickkontakt – häufiges Lächeln – Lecken, Schmecken – permanentes Lächeln – aktives Mienenspiel Schröder, der „Medienkanzler“ – ein Muster für die Zukunft? Die empirische Analyse der körpersprachlichen Entwicklung Gerhard Schröders vom Juso-Vorsitzenden zum „Medienkanzler“ ergibt zusammengefasst folgende Erkenntnisse: – ernst, angespannt – Blick unruhig – kein Lächeln – Lecken, Schmecken Mimik – Verlegenheitsgesten – Ratio bestimmt Emotion – sparsame Gestik – ankert – Verlegenheitsgesten – Verlegenheitsgesten – Verlegenheitsgesten – Ratio bestimmt Emotion – Ratio bestimmt Emotion – Ratio bestimmt Emotion – verschlossen – Dominanzgesten – engagiert, kämpferisch – raumgreifend Gestik – statisch – raumgreifende Schritte – tänzelnd – offensiv – lässig, entspannt – aktive Kopfhaltung Haltung und Motorik – wirkt arrogant – sucht Schutz 1998–2001 1998 1987–1997 1978–1986 Zeitzone III Zeitzone IV Zeitzone II Zeitzone I Abb. 47 Tabelle Analyseergebnis Schlussbetrachtung In der ersten Zeitzone (1978–1986) – vom Juso-Vorsitzenden zum SPD-Spitzenkandidaten Niedersachsens – war es ein besonderes Merkmal, dass Schröder den Kopf nach oben richtet und sein Kinn vorschiebt, wodurch er beim Empfänger der körpersprachlichen Botschaft den Eindruck der Arroganz hinterlässt. Durch Verschlossenheits- und Schutzgesten wie verschränkter Armhaltung und Zurückziehen des Oberkörpers erscheint er in Verbindung mit seiner lauten, selbstbewusst klingenden Stimme asynchron.Auch zu beobachten war, dass seine Gesten häufig ihre Wirkung verfehlen, da er sie nicht immer in Brusthöhe einsetzt. Sein Mienenspiel ist meistens durch Anspannung und Verkrampfung gekennzeichnet, und ein Lächeln ist bei dem analysierten Material nicht anzutreffen. Äußerlichkeiten wie lange Haare und Rollkragenpullover waren einerseits eine Modeerscheinung und sind ihm andererseits ein Mittel der Provokation. Diese nonverbalen Vokabularien, die bei den Empfängern negative Assoziationen hervorriefen, gehören in der zweiten Zeitzone (1987–1997} – vom Verfolger zum Nachfolger – nicht mehr zu seinem körpersprachlichen Repertoire. In dieser Phase gewinnt Schröder mit einem medienwirksamen Lächeln, lässiger Körperhaltung und sonorer Stimme vor allem in Talkshows Sympathien in der Bevölkerung. In diesem Abschnitt muss er aber auch Niederlagen sowie herbe Kritik von seiten der Genossen hinnehmen (1988 scheitern des Misstrauensvotums; 179