DAWAI, DAwAi - Neues Deutschland

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DAWAI, DAwAi - Neues Deutschland
Lust am Widerspruch
Nr. 16 Feb 2008
THEMA:
DIE PUTIN-JUGEND
DAWAI,
DAwA
i
DER WILDE OSTEN
ausserdem im heft:
PUTIN: TOP
ODER HOP
NASHI
PUTINS JUGEND
Foto [M]: dreamstime.com
AIDS I N RUSSL AND
Grüße aus...
EditoriAL
Wer redet denn heute noch über Jugendkriminalität?
Niemand. Die U-Bahn-Prügler sind im Wahlkampf
Opfer des hessischen Krawallmachers geworden,
nützliche Idioten, die 0,1 Prozent der schweigenden
Mehrheit angemessen aufgewühlt, empört, angemacht
und ihn möglicherweise ein weiteres Mal ins
Ministerpräsidentenamt gehievt haben.
Der Türke hat seine Schuldigkeit getan (der Grieche
übrigens auch), der Türke kann gehen. Von den
wohlfeilen Beteuerungen, Abhilfe schaffen zu wollen,
wenn junge Leute zuschlagen, vorzubeugen, verstehen
und nachvollziehen zu wollen, ist ein waberndes
Angstgefühl geblieben, wenn es dunkel wird in Berlin
Neukölln. Mission erfüllt. Darauf kann man bauen.
Die Perversion ist offensichtlich, denn die wahren
Gewalttäter machen das pensionierte Opfer und die
immigrierten Täter gleichsam zu Spielfiguren im
Politmonopoly. Eiskalt in der Parteinahme für die eine
Seite und ebenso eiskalt im Links-liegen-Lassen beider
Seiten nach erfolgtem Hochkochen.
Mit Verlaub, aber die rassistischen Pauschalurteile
an die Adressen junger Migranten haben zumindest
ein wenig Sorgsamkeit in der Analyse migrantischer
Lebensumstände mit sich gebracht – sozusagen als
Abfallprodukt eines öffentlichen Diskurses.
Wenn jetzt die öffentliche Aufmerksamkeit schwindet,
ist das das eigentliche Problem, das umso schwerer
schwiegt, weil Bild und Koch ein rassistisches
Süppchen gekocht haben, das nachschmeckt. Unnötig
zu erwähnen, dass migrantischen Jugendlichen die
Fäuste gebunden sind, wenn es darum geht, die eigenen
Lebenslagen massenwirksam zu erklären.
Was ist bloß los mit diesen Kirgisen? Kaum ist der Russe weg,
geben sie dem Ami das Land in die Hand. Und alles bleibt, wie es ist?
Unsere Autorin betrachtet den Wandel.
von Susan Diehm
Um sich hervorzutun, bleibt da nur vaterländisches
Engagement – beispielsweise am Hindukusch, wo
Gewalt, ob nun gegen Pensionäre oder Menschen
jüngeren Alters, per Bundestagsbeschluss gedeckt und
damit völlig ok ist.
Empfohlen sei auch die Lektüre unserer aktuellen
Ausgabe. In Russland (Bald sind Präsidentenwahlen,
deshalb das Thema!) machen junge Menschen vor,
wie Gewalt politisch korrekt sein und zugleich auf
Wohlwollen der Herrschenden stoßen kann. Das könnte
dann auch Roland Kochs Interesse wecken.
Thomas Feske
Foto [M]: photocase.de
Wenn der Reisende auf dem Manas-Flughafen in Bischkek
landet, sieht er zuerst Flugzeuge der U.S. Air Force. »Aha,
auch in einem weltpolitisch vermeintlich uninteressanten
Land wie Kirgistan sind die Amerikaner vertreten, was
machen die denn hier?«, fragt er sich vielleicht. Und denkt
er kurz über die Lage der kleinen Republik mit ihren fünf
Millionen Einwohnern auf der Weltkarte nach, kommt
die Erleuchtung: Das seit 1991 unabhängige Kirgistan liegt
im Herzen Zentralasiens und damit nicht weit entfernt
vom Krisenherd Afghanistan. Als Partner im Kampf
gegen den internationalen Terrorismus hat die kirgisische
Administration der Einrichtung eines US-amerikanischen
Luftwaffenstützpunktes zugestimmt, der die wichtigsten
Deviseneinnahmen des Staates erbringt.
Doch nach Verlassen des Flughafens sind die Amerikaner
auch schon vergessen, denn die im Norden liegende
Hauptstadt Bischkek ist durch und durch ein Erbe der
sowjetischen Stadtplanung. Das Zentrum ist geprägt durch
breit angelegte Straßen für die ehemals prunkvollen
Militärparaden, große repräsentative Gebäude, die
überdimensioniert und plump wirken und in naher Ferne
türmen sich die vielen monotonen Plattenbausiedlungen
auf. Der zentrale Ala-Too Platz, der in den 1970er
Jahren als Roter Platz erbaut wurde, ist Ausdruck des
Transformationsprozesses. Dort, wo früher ein LeninDenkmal stand, streckt heute die neue Freiheitsstatue
Erkindik das kirgisische Nationalsymbol Tunduk, den
Schlusskranz einer Jurte, in die Luft. Lenins neues Zuhause
hingegen ist der hintere nördliche Teil des Platzes, ein
Kompromiss zwischen den kommunistischen Kräften und
der neuen politischen Elite unter dem ersten Präsidenten
Askar Akajew. Neben dem sowjetischen Erbe entdeckt
man auch Neues als Produkt der Marktöffnung. CocaCola ist wohl in allen Ländern der Welt vertreten. Große
Einkaufszentren bieten fast alles, was das Herz begehrt
–überwiegend in China produziert. Produkte, die für den
westlichen Reisenden durchaus sehr billig zu erwerben
sind, aber für manch Kirgisen in weiter Ferne bleiben.
Erlebnisreich ist der Besuch eines Basars. Ein großer
Unterschied zwischen kirgisischen und orientalischen
Basaren besteht darin, dass der kirgisische Händler ganz
nach seiner Gemütsart ruhig an seinem Stand weilt und
nicht ständig lautstark irgendwelche Produkte anpreist.
Dennoch geht es auf den Basaren sehr lebhaft zu und sie
stellen noch immer die wichtigste Einkaufsmöglichkeit der
Kirgisen dar.
Verlässt der Reisende die Hauptstadt in Richtung Süden,
kann der Trip schnell zum kleinen Abenteuer werden.
Das große Hindernis in Kirgistan für die Infrastruktur
und den Austausch zwischen Nord und Süd stellen zwei
der größten Gebirgsketten Asiens dar: der Tien Shan
im nördlichen und zentralen Teil und der Pamir-Alai
im Süden, beide mit Höhen über 7000 Meter. Nur fünf
Prozent des Staatsterritoriums liegen unter 1000 Metern.
Daher gibt es auch nicht viel Auswahl an Reisemitteln.
Es bietet sich zum einen die Möglichkeit, mit einem
kleinen, leicht klapprigen Flugzeug direkt über die
Gipfel des Tien Shan zu fliegen oder mit Kleinbus bzw.
Inhalt
S. 2 & 3 - CCCP: Kirgistan
Illustration: Florian Bielefeldt
Lenin hat den Ala-Too Platz verlassen. Eine neue
Freiheitsstatue herrscht jetzt über den größten Platz der
kirgisischen Hauptstadt Bischkek. Es hat sich einiges
geändert in der ehemaligen Kirgisischen SSR.
S. 4 & 5 - Jugend in Putins Russland
Die Russen kommen! Und zwar nach Deutschland –
mit unterschiedlichsten Erwartungen und Erfahrungen.
Was sie hier wollen, haben sie uns erzählt.
S. 6 - Flüster mir ins Teig-Ohr
Pelmeni at its best. Ein kulinarischer Feldzug durch
die Berliner Imbisslandschaft. Dort, wo deutsche
Leckermäuler die russische Gastronomie okkupieren,
haben unsere Autoren den Selbstversuch gewagt und
sich Lenins Lieblingsgericht gewidmet.
S. 7 - ASW für Afrika
Vom Osten in den Süden. Theater gegen Aids – das
ist nur eines der Projekte der Aktionsgemeinschaft
Solidarische Welt.
S. 8 - Ein Lehrstück der Zensur
Foto [M]: photocase.de
Der Beschränkung grundlegender Bürgerrechte
sind scheinbar keine Grenzen gesetzt. Das wissen
Dokumentarfilmer in Russland genauso wie couragierte
Artikelschreiber in Deutschland.
Auto über die ramponierten Straßen zu fahren. Ein
ausgebautes Eisenbahnnetz existiert nicht. Die wichtigsten
Verkehrsachsen wurden zu Sowjetzeiten erbaut, mit den
Zielen der Ressourcenerschließung und der Versorgung
abgelegener Gebiete. Die Verkehrsinfrastruktur war
komplett auf Russland ausgerichtet, auf die Verbindungen
innerhalb Kirgistans wurde nicht geachtet. So gibt es heute
im Norden und Süden vereinzelte auslaufende Bahnlinien
und nur eine asphaltierte Straße, die Bischkek im Norden
mit Osch im Süden verbindet.
Auf dem Weg zum zweitgrößten Gebirgssee der
Welt, dem Issyk Köl, passiert man die Industrieachse
Bischkek - Kant - Balykshy. Sie ist auch heute noch von
landesweiter Bedeutung, aber seit der Unabhängigkeit
kam es zum Niedergang zahlreicher Industriezweige.
Balykshy war früher ein wichtiger Warenumschlagsplatz
und bedeutender Produktionsstandort. Doch mit dem
Ende der UdSSR fielen die meisten und wichtigsten
Handelsbeziehungen sowie Geldmittel weg und die
Industrie brach mit der Zeit zusammen. Infolge dessen
ist heute nicht nur in Balykshy, sondern in ganz
Kirgistan die Arbeitslosigkeit sehr hoch (offiziell zwölf
Prozent ohne Berücksichtigung der unterbeschäftigten
Landbevölkerung) und viele Kirgisen (über 500 000
Arbeitsmigranten leben in Russland und ca. 100 000 in
Kasachstan) suchen ihr Glück anderswo. Heutzutage ist die
Landwirtschaft der bedeutendste Wirtschaftssektor und
Arbeitgeber für über 50 Prozent der Beschäftigten.
Leicht kommt der Reisende mit Einheimischen ins
S. 9 - AIDS in Russland
Die neue Zeit bringt für Russland 87000 neuinfizierte
Aids-Kranke jährlich. Hilfsorganisationen stehen vor
einem Dilemma, denn von einer fortschreitenden
Aufklärung, einem Mehr an Wissen und Vorsicht im
russischen Alltag kann nicht die Rede sein.
Gespräch, da die Kirgisen äußerst gastfreundlich sind.
So hört man sehr oft, dass zu Sowjetzeiten vieles besser
war, aber die Freiheit für sich und ihr Land sei wichtiger.
Viele Kirgisen haben Zukunftsängste und stecken ihre
ganze Hoffnung in die eigenen Kinder, denen sie eine
gute Bildung zu ermöglichen versuchen, nicht zuletzt,
weil sie nicht nur im Rentenalter auf deren finanzielle
Unterstützung angewiesen sind. Die Tristesse der
Arbeitslosigkeit auf den Dörfern lässt viele Männer dem
Alkohol verfallen. Welch Paradoxie: der soziale Zustand
einerseits und die Natur des Landes andererseits!
Das nördliche Ufer des Issyk Köl ist noch heute ein
beliebtes Urlaubsziel nicht nur der Kirgisen sondern
auch von Russen und reichen Kasachen. Der kasachische
Präsident Nursultan Nasarbajev besitzt ein großes
Anwesen direkt am See.
S. 10 & 11 - It`s time for an attitude
Der Süden des Landes mit seinen bedeutungsvollen
Städten Osch und Dschalalabad sowie dem fruchtbaren
Ferghanatal unterscheidet sich um einiges vom Norden.
Während der Norden moderner und aufgeschlossener
ist, was vor allem auf den frühen russischen Einfluss
zurückgeht, und sich unter anderem in der freizügigen
Kleidung widerspiegelt, ist der Süden religiöser und
traditioneller geprägt.
Der Reisende erfährt von bewegter Geschichte, erlebt
aufgeschlossene, gastfreundliche Menschen und eine
wunderschöne und vielfältige Natur, die Kirgistan auch
angesichts sozialer und ökonomischer Krisen zu einem
beeindruckenden Reiseziel werden lassen.
S. 15 - »Putin dient aufrichtig
seinem Land.«
Frauen haben seit jeher eine Affinität zu Goldkettchen.
Manch eine macht ihre Leidenschaft zum Beruf –
Emanzipation im Hiphop, word!
S. 12 & 13 - Nicht einfach nur ein Job
Der sterbende Schwan quicklebendig – in Sacco und
Vanzetti spricht eine russische Ballerina über ihre Arbeit
in Deutschland und natürlich über Vladimir Malakhov.
S. 14 - Eisenzeit in Warschau
Die Wunden, die der Vernichtungswahnsinn der Nazis
gerissen hat, sind tief bei den Völkern des Ostens. Frank
Hammer hat das in Warschau erlebt und erzählt seine
Geschichte.
Putin mag die Duma-Wahlen hinter sich haben, einen
(ihm) viel versprechenden Nachfolger gefunden
haben, das dicke Ende aber kommt jetzt: Sacco und
Vanzetti bitten zum Putin-Check. Im Gespräch mit einer
russischen Ärztin und den Reportern ohne Grenzen.
S. 16 - Off
Zum Schluss grüßen Sacco und Vanzetti noch mal alle,
die uns kennen. Hallo.
4
Im Fokus: Jugend in Putins Russland
Illustration The Russian Lover: Florian Bielefeldt
RUSSISCHE
INNEN
ANSICHTEN I
Wie wir in Deutschland leben und was
wir uns für Russland wünschen.
Stefan Rudi (23, Spätaussiedler, lebt seit fünf Jahren in
Berlin, Student)
Wirst du manchmal mit Klischees von Seiten Deiner
deutschen Mitmenschen konfrontiert?
Auf jeden Fall. Besonders was Wodka angeht. Irgendwie
haben die Deutschen das Gefühl, man würde Wodka in
Russland wie Wasser trinken. Und natürlich kommen viele
mit dem Klischee, dass in Russland alle korrupt seien und
alles von der Mafi a reguliert würde.
Du kennst das Leben in Berlin und Russland. Was sind
die Gemeinsamkeiten und worin siehst Du deutliche
Unterschiede?
Hier in Deutschland sind die Menschen etwas toleranter
und vielleicht mehrsprachiger. Falls du in Russland kein
Russisch kannst, hast du keine Möglichkeit, dich mit den
Leuten zu unterhalten. Aber in den Großmetropolen wie St.
Petersburg und Moskau ist das wie hier in Berlin.
Was vermisst Du in Deutschland?
Mehr Lockerheit. Viele rennen chaotisch durch die Stadt,
du hast praktisch keine Möglichkeit andere Personen
auf der Straße kennen zu lernen. Dafür brauchst du
mindestens Internet. Ich vermisse meine Freunde hier.
Solche Freunde wie in Russland fi ndet man hier leider
nicht.
Die radikal konservative Jugendbewegung Naschi geht
sehr militant gegen Andersdenkende in Russland vor.
Kennst Du diese Bewegung?
Ja, ich kenne diese Bewegung. Die Frage ist schwer zu
beantworten. Einerseits muss man die Leute in Russland
mit etwas strengerer Innenpolitik regieren. Nur Russen
verstehen das. Für andere ist es ein unlösbares Rätsel.
Laut Naschi ist Putin genau die Person, die in Russland
regieren kann, so dass Russland nicht nur außenpolitisch
stark erscheint, sondern auch innenpolitisch stabil bleibt.
Andererseits bin ich mit diesen Methoden, die sie ausüben,
mit purer Gewalt gar nicht einverstanden. Leider schließt
die russische Regierung die Augen, wenn man Handeln
gegen Naschi verlangt. Wenn die Politiker streng gegen
die Radikal-Konservativen vorgehen würden, würden sie
Sympathie und Stimmen gewinnen. Ich kenne keinen, der
mit dieser Bewegung sympathisiert – weder hier, noch in
Russland.
Wie werden die Wahlen am 2. März ausgehen?
Ich denke mal, es ist schon entschieden. Putin bzw. die
Person, der er den Rücken stärkt, wird gewinnen. Ich hoffe
nur, dass diese Person Russland nicht aus den Gleisen
wirft.
Die Fragen stellte Claudia Goldberg.
EIN HUND FÜ
Jeder sollte ein Haustier haben dürfen. Auch Bald-nicht-mehr-Präsident Putin,
der in zwei Wochen nicht mehr für das Präsidentenamt antreten darf. Wenn es
sich hierbei allerdings um einen Kampfhund mit aggressiven Tendenzen handelt,
wäre ein Wesenstest angebracht, bevor man ihn ohne Maulkorb unter Menschen
lässt. Andererseits hat man die Dinge in Russland schon immer etwas anders
gehandhabt...
von Agata Waleczek
Am 1. März wird Nashi drei Jahre alt. Nashi, übersetzt die Unsrigen, ist momentan Russlands größte Pro-PutinJugendbewegung. Ihre Mitgliederzahlen belaufen sich auf über 100 000; etliche Anhänger, die gern dabei wären, aber
den Auswahlkriterien nicht entsprechen, nicht mitgezählt. Und Nashi wächst.
Ursprünglich war Nashi als Reaktion auf die Jugendbewegungen der Orangenen Revolution gedacht gewesen. 2004
verhalfen diese in der Ukraine dem pro-westlichen Kandidaten Wiktor Juschtschenko zum Wahlsieg. Auf russischem
Terrain käme ein ähnliches Szenario des Kremls schlimmstem Alptraum gleich. Das Letzte, was man will, ist, dass
die frische ukrainische Brise nach Russland hinüber weht und sich dort zu einem politischen Sturm ähnlichen
Ausmaßes entwickelt. Nashi versucht dem vorzubeugen, indem Regierungskritiker einfach gleich als Hochverräter
und Staatsfeinde abgestempelt werden – bedingungslose Verehrung des Staatsoberhauptes. Die durch den russischen
Politiker Vasily Jakemenko gegründete Organisation hat es sich zum Ziel gemacht, Vaterlandsstolz in die Köpfe der
jungen Russen zu hämmern und das Staatsoberhaupt vor Oppositionellen zu schützen. Und Nashi schützt Putins Politik
sehr effektiv, wobei es nicht immer bei bloßen Worten bleibt.
Als im Frühling 2007 das Denkmal eines Sowjet-Soldaten (Bronze-Soldat von Tallinn) in Estland entfernt werden sollte,
waren es junge Russen, die sich vehement dagegen wehrten, gewalttätige Übergriffe und Straßenbarrikaden inbegriffen.
Immerhin verletze das das Andenken an die gefallenen Soldaten der Sowjetarmee. Den Ausschreitungen, die 99
Verletzte und einen toten Russen forderten, folgten die Festnahmen von vier Personen, darunter auch Mark Sirok. Der
18-jährige Sirok gilt als der inoffi zielle Anführer des estnischen Arms der Putin-Jugend. Nashi selbst ist in Estland nicht
zugelassen. Sirok wusste nach seiner Freilassung aus der zweimonatigen Haft von menschenunwürdiger Behandlung im
estnischen Gefängnis zu berichten und beteuerte seine Unschuld. Andere Nashi-Mitglieder indes wurden zu Besuch und
angeregtem Gespräch bei Putins Nachfolger geladen.
Für außerordentliche Dienste bedankt sich die Regierung eben und unterstützt wohlwollend ihren Wachhund: Starthilfe
bei der Karriere, etliche Privilegien und endlose Freizeitangebote im Sinne des Kremls. Woher genau die fi nanziellen
Mittel dafür kommen, wird nicht offen gesagt, denn offi ziell ist Nashi nicht die Jugendorganisation der Putin-Partei.
Dafür aber eine spannende Alternative für viele junge Russen. Im Juli 2007 nahmen am alljährlichen Nashi-Camp 10 000
Jugendliche teil. 200 Meilen nördlich von Moskau wurde dort nicht nur militärisch gedrillt, auch Seminare gehörten zum
zweiwöchigen Pflichtprogramm. Eine hervorragende Ausbildungsstätte für zukünftige paramilitärische Kräfte. Aber
nicht nur. Auch auf die Reproduktion wird besonderer Wert gelegt.
Auf Spontanhochzeiten wurden im Nashi-Camp letzten Sommer 30 Pärchen verheiratet. Als Anreiz sponserte Nashi
Hochzeitskleider, Ringe und Zelte für die Hochzeitsnacht. Die Regierung lässt für einen saftigen Bevölkerungszuwachs
eben gern mal was springen. Aber dann auch bitte nicht weniger als drei Kinder, ganz im Sinne des Vaterlands.
Damit diese später dann wie Mami und Papi Russland voll und ganz dienen können, müssen sie aber auch so
leistungsfähig wie möglich sein. Nashi lehnt Alkohol, Nikotin und Kondome grundsätzlich ab. Auf dass
gesunde Körper gesunden Nachwuchs produzieren.
Überlegenheitsanspruch, Genussmittelverbote, absolute Ergebenheit gegenüber dem Staatsoberhaupt,
Militärsport, Verklemmtheit – vor allem der Vergleich mit der Hitler-Jugend wird von vielen bemüht. Friedrich
Ragette, der selbst Mitglied war, äußert sich in einem Leserbrief im September 2007 an Newsweek zum Thema
Nashi folgendermaßen: »[...] it is a carbon copy.« Etliche liberale russische und westliche Politiker stimmen mit
ihm überein.
Solchen bösen Vergleichen möchte die Bewegung im Voraus Einhalt gebieten. Nashi hat sich den Kampf gegen
Faschisten auf die Fahne geschrieben. An und für sich ist das eine sinnvolle und löbliche Idee, wenn
nur mit Faschisten nicht alle gemeint wären, die gegen Putin sind. Auch in anderen Punkten hat die
Organisation abenteuerliche Vorstellungen, verkehrt mithilfe massenwirksamer Propaganda Realität
in ihr genaues Gegenteil. So ist laut Nashi-Website die europäische Demokratie vom Aussterben bedroht
und Leoni Kujov, Repräsentant der Bewegung in St. Petersburg, verkündet: »Russia is developing into a
democratic country. It’s just that we don’t agree with the defi nition of democracy set by the West.«
Bleibt die Frage: Ist das alles bloßes Gebell oder handelt es sich um die Art Hund, die imstande ist, ganze Gliedmaßen
abzubeißen?
Ein wenig kritische Distanz ist in jedem Fall nicht schlecht, auch wenn das Nashi-Fußvolk von kurzsichtigen
Beobachtern noch belächelt wird. Ein Artikel in der Los Angeles Times vom 25. Dezember 2007 beschreibt hierzu eine
amüsante Szene auf einer Demonstration. Zitat einer politisch ahnungslosen, gepiercten Blondchenaktivistin: »My
boyfriend was a member, and I joined him for one of the actions and I thought it was cool.« Klar machen solche Leute
auch einen Teil der Anhänger aus. Aber Nashi selbst ist nach einer klaren Hierarchie aufgebaut. Und ganz oben stehen
die zukünftigen Elite-Politiker Russlands: vom Kreml für den Kreml an der Nashi-Uni ausgebildet. Wer braucht da noch
eine Opposition?
ÜR PUTIN
Im Fokus: Der 9. November
5
RUSSISCHE
INNEN
ANSICHTEN II
Wie wir in Deutschland lebten und was
wir uns für Russland wünschen.
Olga Petrushko (23, Austauschstudium in Berlin,
lebt in Moskau, PR-Beraterin)
Olga, Du hast ein Jahr in Deutschland verbracht. Bestimmt hattest Du einige Klischees im Kopf. Haben sich Deine
Vorstellungen über Deutsche bestätigt?
Teilweise. Ich habe immer gehört, dass die Deutschen sehr
ordentlich seien und immer bestimmten Regeln folgen. Das
hat sich auch bestätigt, wobei Berlin doch viel freisinniger
ist als die durchschnittliche, deutsche Stadt.
Du kennst das Leben in Berlin und Moskau, worin siehst
Du frappierende Unterschiede?
Der größte Unterschied besteht meiner Meinung nach
darin, dass die Berliner sich viel mehr Zeit nehmen, um
sich im Leben zu fi nden. In Moskau geht alles viel zu
schnell. Gleich nach der Schule in die Universität, dann
während des Studiums auch gleich eine Stelle fi nden
usw. Hier ziehen junge Leute praktische Berufe vor, die
viel Geld bringen können. Noch ein großer Unterschied:
Die Berliner (vielleicht auch die Deutschen allgemein)
sind viel sozialer und politisch engagiert. Immer fi nden
irgendwelche Demonstrationen oder Aktionen statt. Viele
Berliner wollen in Sozial- oder Kultureinrichtungen tätig
werden. Die Moskauer glauben weder an Politik noch
daran, dass ihre Stimme von Bedeutung ist.
Illustration Putins Cousine bei der Zeugnisausgabe: Florian Bielefeldt
Hast Du überlegt in Deutschland zu arbeiten?
Ja, erstmal wollte ich in Deutschland arbeiten. Aber dann
habe ich verstanden, dass ich Jahre brauchen würde,
um eine gute Stelle zu bekommen. Der Arbeitsmarkt in
Deutschland ist sehr konservativ. Alles geht um Zeugnisse, bestimmte Spezifi kationen und Qualifi kationen. Es
ist schwierig, von einem Arbeitsbereich zum anderen zu
wechseln. In Moskau sind die Arbeitgeber flexibel.
Inwieweit hat Dich das Leben in Deutschland verändert?
Hast Du Dinge gelernt, Kontakte geknüpft etc., von denen
Du auch noch in Russland profitierst?
Ich habe gelernt, vielseitiger und internationaler zu denken. Ich habe neue Möglichkeiten der Selbstverwirklichung entdeckt, wie z.B. die Tätigkeit in internationalen
Organisationen und NGOs. Und ich habe auch wirklich
gute Freunde gefunden, mit denen ich bis jetzt in Kontakt
bleibe.
Die konservative Jugendbewegung Naschi geht sehr
militant gegen Andersdenkende in Russland vor. Hast Du
Beispiele für Naschi-Aktionen im Kopf?
Eigentlich verfolge ich solche Sachen nicht wirklich. Aber
ich habe vor kurzem ihr Manifest gelesen – manche Ideen,
die sie propagieren, sind gar nicht schlecht. Sie sind für active citizenship, gleiche Rechte usw. Das Problem ist, dass
es eine Putin-Organisation ist, der keine alternative Jugendorganisation gegenübersteht.
Was wünschst Du Dir für den 2. März? Glaubst Du, dass
sich Dein Wunsch erfüllen wird?
Ich würde Russland einen Präsidenten wünschen, der
die Korruption besiegt, in die Regionen investiert und
tatsächlich soziale Politik macht. Ich verstehe, dass Russland nicht auf einmal zu einem europäischen Staat werden
kann, aber dass es nötig ist, sich in Richtung Demokratie
zu entwickeln. Ich bin mir nicht sicher, ob jemand von
den Kandidaten diesen Kriterien entspricht. Ich bin davon
überzeugt, dass diesen Wahlkampf Putins Nachfolger Medvedev gewinnt.
Die Fragen stellte Claudia Goldberg.
6
friss oder stirb: Flüster mir ins Teig-Ohr
DAS GOLDENE TEIG-OH R
Wladimir Putin serviert sie Angela Merkel beim Staatstreffen und Lenins Lieblingsessen sollen sie auch gewesen sein (obwohl
dieses Gerücht vermutlich jedem russischen Gericht anhängt). Jedenfalls Grund genug, dem Mysterium der Pelmeni, aus der
sibirischen Komi-Sprache für Ohr aus Teig, nachzugehen. Zumal wir uns in Berlin befinden, wo es ja bekannterweise so
irgendwie alles gibt und dazu auch einige Russen. Das mit den Pelmeni sollte also kein Problem sein.
Foto [M]: dreamstime.com/ Alexey Solovyev
von Eva Flemming
Im
vorigen Jahrhundert gingen einmal
zwei Kaufleute aus Sibirien die Wette
ein, wer von ihnen mehr Pelmeni essen
könne. Keiner wollte nachgeben. Wie
groß war die Überraschung der Zeugen dieses ungewöhnlichen Kampfes, als der Sieger, den letzten Pelmen noch
im Munde, tot unter den Tisch sank. Das gleiche Schicksal
ereilte auch den zweiten. Beide hatten sich überfressen.
Solche düsteren Geschichten beeindrucken uns nicht. Unerschrocken fi nden wir uns an einem Montagmorgen vor
dem russischen Imbiss am Ostbahnhof wieder, um uns
den Teigtäschchen zu stellen.
Zehn vegetarische und zehn Fleisch-Pelmeni schwimmen
vor uns auf einem Teller in Brühe unter saurer Sahne. Es
regnet und wir setzen uns nicht auf die geschnitzten Holzhocker, die da so verloren auf dem Platz vorm Ostbahnhof stehen, sondern in das mit russischen Bierwerbungen
dekorierte Wellblechbüdchen. Die Schwierigkeit besteht
darin, die Spinat-Pelmeni von den Pelmeni mit totem
Tier zu unterscheiden. Im Hintergrund läuft russisches
Radio, außer uns steht noch ein Typ mit einer Tschapka
am Tresen, und so hat man für nur drei Euro das Gefühl,
vielleicht nicht direkt in Russland zu sein, aber zumindest
mal irgendwie was anderes zu machen. Der Laden heißt
Lakoma und steht seit 2004 inmitten einer zumindest
halb elf morgens bizarren Imbiss-Landschaft aus Döner
-, Würstchen- und Asiabuden neben dem Bahnhofsgebäude. Die Verkäuferin ist geschminkt in den Farben von
russischem Konfekt. Wir fragen nach den Nationalitäten
der Kunden und hoffen auf eine ausschließlich russische Kundschaft, um unser Gefühl von Authentizität zu
steigern. Deutsche und Touristen kommen, ja, (auf unsere
Nachfrage) auch ein paar Russen. Mist. Der Rest muss also
irgendwo anders sein.
Ebenso müssen wir feststellen, dass es in Berlin nur
zwei Pelmeni-Imbisse gibt, wobei der zweite auch nur ein
Ableger des ersten ist und zwar am Fehrbelliner Platz. Wie
langweilig.
Um die 140 000 Berliner sind russische Muttersprachler.
Das wären dann also 70 000 pro Imbiss. So ein Andrang
ist allerdings nicht festzustellen, und das kann nicht nur
an Montagmorgen liegen. Da nehme man die Anzahl der
türkischstämmigen Berliner und proportional dazu die
Dönerläden. Ein Gefühl von Ungerechtigkeit drängt sich
auf. Dabei scheint doch russische Esskultur im Kommen
zu sein, wenn sogar McDonald’s seit Neuestem Soljanka
anbietet.
Ratlos fahren wir mit Straßenbahn Richtung Osten und
gehen erstmal einkaufen.
Der Supermarkt an der Storkower Straße nennt sich Intermarket und existiert erst seit Februar. Hier ist die Russenquote schon mal höher, wenn auch nur aufs Personal
bezogen. Die Kundschaft hingegen setzt sich aus deutschen
Rentnern mit Trolleys und Vietnamesen zusammen. Das
Obst ist billig, die Preisschilder deutsch beschriftet und
wieder dudelt russisches Radio durch die erstaunlich große
Halle. Wir wollen den Selbstversuch wagen und wandern
zur Kühltruhe. Das Fleisch/Nicht-Fleisch-Problem löst sich
durch Erdbeer-Pelmeni, die dann aber als süße Version gar
nicht mehr Pelmeni heißen, sondern Wareniki.
Zurück am heimischen Herd fällt uns auf, dass wir saure
Sahne brauchen. Es bleibt inkonsequenterweise nur der
Vietnamese um die Ecke. Jetzt kommt der entspannte Teil.
Irgendwann können wir keine Teigtaschen mehr sehen.
Man gedenke der sibirischen Kaufleute. Also erstmal Tee
trinken.
Die tadschikische Teestube als Geschenk der ehemaligen Sowjetunion an die DDR befi ndet sich im Haus der
Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft in der Straße Unter
den Linden. Nachdem wir durch rätselhafte Gänge voll
sozialistischem Gestaltungswillen geirrt sind, fi nden wir
im Obergeschoss die Teestube: ein kleiner Raum mit Holzsäulen, niedrigen Tischen und Kissen, auf denen Menschen
lagern und an Teeschalen nippen. Es ist nach 23 Uhr und
fast jeder Tisch besetzt. Auf der Karte stehen russische
Speisen und Tees. (Laut der Kellnerin läuft tadschikisches
Essen nicht besonders. Hat schon mal jemand was von
Plov gehört?)
Tee aus dem Samowar zu trinken, ist eine russische
Zeremonie. Mit Teesud brühen, Wasser zum Verdünnen
kochen, zwischendurch Wodka trinken und Rumrosinen
essen. Der Sud ist so stark, dass er angeblich als Alkoholersatz in russischen Gefängnissen getrunken wurde.
Leider ist das Ganze recht zeitaufwendig und die Teestube
schließt in einer halben Stunde. Wir entscheiden uns für
zwei Sorten von russischem Rauchtee, meiner schmeckt
nach Räucherspeck, der meiner vegetarischen Begleitung
nach Wald (jedem das Seine). Dazu löffeln wir Marmelade,
und das Schälchen mit Rumrosinen ist auch bald leer.
Die Gäste gehen nach und nach, wir versinken in unserer
Ecke, Teegeruch und Balalaika-Klänge wabern durch den
Raum. Irgendwann ist ein Zustand völliger Erschlaffung
erreicht. Das muss der Grund dafür sein, dass diese Teestube so populär ist. Es kommen hauptsächlich Deutsche,
aber auch Touristen, erzählt die Kellnerin. Die Deutsche
Bank hatte hier letztes Jahr eine Weihnachtsfeier mit
Kerzengießen – eine eigentümliche Vorstellung. Eine arabische Großfamilie feierte ihre Hochzeit mit Tee aus dem
Samowar.
Aber wo sind nur die ganzen Russen? Die können dann
wohl nur noch bei McDonald’s sein und Soljanka essen.
Oder sie sitzen einfach in einem der vielen Dönerläden um
die Ecke.
Tadschikische Teestube, Am Festungsgraben 1, Berlin
Wer wir sind: ASW
FRAUENUND
BILDUNGSPROJEKTE
IN AFRIKA
Gefördert von der Aktionsgemeinschaft
Solidarische Welt - ASW
Foto[M]: photocase.de/SODI
Anzeigen
Der farbenfrohe Markt von Bobo-Dioulasso gehört zu den
größten im afrikanischen Burkina Faso. Frauen in bunten
Pagnes (Wickelröcke) schieben sich durch die Menge,
die Marktstände quellen über von Tomaten, Zwiebeln,
Möhren, Gurken und allerlei Grünzeug. Doch der idyllische
Eindruck täuscht. Die Stadt ist gezeichnet von wirtschaftlichen Problemen und hoher Arbeitslosigkeit.
Die AFPG geht deshalb einen anderen Weg: Sie sucht das
Gespräch mit den traditionellen Autoritäten und den Beschneiderinnen. Gemeinsam mit diesen entwickeln die APFGMitarbeiterinnen als Alternative zur alten Praxis unblutige
Formen der Aufnahme der Mädchen in die Erwachsenenwelt. Die Abkehr von der Beschneidung wird meist rituell
besiegelt. Zugehörige Gegenstände werden entsakralisiert.
Besonders Jugendliche sind davon betroffen. Viele müssen
auf der Straße versuchen, Geld für die Familie zu verdienen und können nicht zur Schule gehen.
Adama Batoe will diesen Jugendlichen eine Perspektive
geben. Er führt die Arbeit fort, die sein vor zwei Jahren
verstorbener Vater begonnen hatte. Der Schauspieler,
Regisseur und Theaterpädagoge Abou Batoe begründete
2002 die Jugend-Theatergruppe Hakili So – Haus der Ideen.
Im Gegensatz zu anderen Organisationen setzt die AFPG
darauf, dass die dörflichen Gemeinschaften aus sich heraus Traditionen überprüfen und ändern können.
Die Bretter, die die Welt bedeuten: Hilfe durch Theater
Aids-Waisen, die von der Familie abgeschoben werden,
Mädchen, die die Schule nicht besuchen dürfen – die Gruppe setzt sich mit Themen auseinander, die die Jugendlichen
aus ihrem eigenen Alltag kennen. Es sind Geschichten, die
das Leben schreibt.
Im aktuellen Stück geht es um die erste Liebe und Aids. Die
Jugendlichen beschäftigen sich darin mit dem Erwachsenwerden, mit Verantwortung, Respekt und der Benutzung
von Kondomen.
Die selbst gemachten Theaterstücke ersetzen die fehlende
Aufklärung zum Thema Aids in den meisten Elternhäusern. Mit Tanz, traditioneller Musik, Rap und ihren
eindringlichen Botschaften bewegt die 17-köpfi ge Gruppe in
ihrer Heimat ganze Schulen, Dörfer und Wohnviertel und
regt das Publikum zu Diskussionen an.
Auch dank der fi nanziellen Unterstützung durch die ASW
kann für die festen Mitspielerinnen und Mitspieler der
Schulbesuch fi nanziert werden. Außerdem können die
Jugendlichen eine Starthilfe für eine berufliche Selbständigkeit anfordern. Als Ausdruck der Anerkennung erhalten
sie für ihre Auftritte eine kleine Gage.
Kultur weiterentwickeln – Kampf gegen die Beschneidung
von Mädchen
Seit 1991 unterstützt die ASW das Frauen-Ausbildungszentrum (APFG) in Burkina Faso. Ein wichtiger Schwerpunkt
seiner Arbeit ist der Kampf gegen die Beschneidung von
Frauen.
Seit 1996 ist sie in Burkina Faso verboten, doch mit Gesetzen allein kann der Kampf gegen diese grausame Praxis
nicht gewonnen werden. Trotz hoher Strafandrohungen für
Eltern, Beschneiderinnen und an der Beschneidung Beteiligten werden in Burkina Faso weiterhin Mädchen beschnitten. Schlimmer noch: Auf Grund des Verbots sogar immer
jüngere, denn diese können sich noch weniger wehren.
Texte 39 der Rosa-Luxemburg-Stiftung
So mühsam diese Arbeit scheint, sie ist erfolgreich. In der
Provinz Poni, wo die AFPG aktiv ist, ist der Prozentsatz
von beschnittenen Mädchen im Alter von 0-14 Jahren mit
15,5 Prozent um über ein Viertel geringer als in den Nachbarprovinzen. Dort liegt er teils deutlich über 20 Prozent.
Potentiale und Strukturen vor Ort fördern
Die Aktionsgemeinschaft Solidarische Welt (ASW) wurde
1957 in Berlin gegründet und gehört zu den ältesten entwicklungspolitischen Organisationen in Deutschland.
Seit ihren Anfängen entsendet die ASW keine „Entwicklungshelfer“ oder „Experten“. Alle geförderten Projekte
werden von Menschen vor Ort ins Leben gerufen und
eigenverantwortlich umgesetzt. Förderungsziel der ASW
ist, benachteiligte Gruppen vor Ort fi nanziell und ideell so
zu stärken, dass sie langfristig und unabhängig den sozialen Wandel in ihren Ländern gestalten.
Schwerpunktthemen sind die Wahrung der Menschenrechte, die Stärkung von Frauen und der Schutz der
Umwelt in den Ländern des Südens. Aktuell werden in
Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen über 60 Projekte in Brasilien, Indien und Afrika gefördert. Die Arbeit
wird zu 95 Prozent aus Spenden fi nanziert.
Der historische Gründungsaufruf der ASW von 1957, der
zur Solidarität und Unterstützung der armen Länder der
Welt aufruft, hat auch 50 Jahre später nichts an Aktualität
eingebüßt.
Zum 50. Jubiläum hat die ASW nun unter dem Motto Perspektiven für eine solidarische Welt erneut einen Aufruf
gestartet. Weil weder Wirtschaft noch Politik ausreichend
Verantwortung für globale Gerechtigkeit zeigen und
nicht die seit Jahrzehnten versprochenen 0,7 % des BIP
in die Entwicklungshilfe leiten, fordert die ASW eine
neue Solidarität. Sie ruft jeden Einzelnen dazu auf, 0,7 %
seines Einkommens engagierten Menschen im Süden zu
spenden.
Kontakt:
mailto:[email protected]
mailto:[email protected]
208 Seiten, Broschur
dietz berlin 2007
14,90 Euro
ISBN
978-3-320-02116-0
Michael Brie (Hrsg.)
Schöne neue Demokratie
Elemente totaler Herrschaft
Die Autoren analysieren Prozesse der Gegenwart, die
Zivilisationsbrüche wie die von Auschwitz wieder möglich
machen könnten, hervorwachsend aus dem Alltag neoliberalen
Gesellschaftsumbaus, imperialer Politik und ihrer neuen Kriege,
postmoderner Kulturpraxen, der neuen Angstpraxen eines
Sozialstaats des »Forderns und Förderns«. Diese »Verteidigung
des Westens« und »Antwort auf die Herausforderung der Globalisierung« erzeugen Ungeheuer, die zu bändigen und zurückzudrängen eine der Hauptaufgaben der Menschheit im frühen
21. Jahrhundert sein dürfte. Dazu bedarf es eines geschärften
Bewusstseins für die oftmals fast unsichtbare Grenzlinie in unseren Gesellschaften, die Zivilisation und Respekt für Menschenwürde und Demokratie von Entwürdigung und Barbarei trennt.
Bestellungen über:
Buchhandel
Karl Dietz Verlag Berlin
E-Mail: [email protected]
Rosa-Luxemburg-Stiftung
Tel.: 030 44310-123 · Fax: 030 44310-122
E-Mail: [email protected]
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Medien: Lehrstücke der Medienzenur
MEDIENZENSUR
AUF DER STRASSE
ZUR GLÜCKSELIGKEIT
Die russische Methode reicht bis nach Köln und verhinderte den internationalen
Vertrieb eines Dokumentarfilms.
von Claudia Goldberg
Langemann porträtiert in ihrem Film die gegensätzlichen
Bewohner der Rubljovka. Die Straße erlebt der Zuschauer
als Schauplatz lächerlicher Polizeikontrollen, nicht enden
wollender Autoschlangen und permanent tönender
Blaulichtsignale. Laut Langemann »grenzte es an ein
Wunder«,, dass sie als Deutsche eine Drehgenehmigung
erhielt. Es war eine gute Entscheidung, das ganze Projekt
als russische Filmproduktion zu tarnen. Der Dreh gestaltete
sich trotzdem schwierig. Dem Kameramann gelang es
nur heimlich, ein paar wackelige Aufnahmen von Putins
Staatskarossen, auf dem Weg zum Kreml, zu machen.
»Auf der Straße ist jeder Quadratmeter überwacht.«,
erklärt Langemann. Sobald ihr Team nicht in der Nähe
Foto [M]: photocase.de/Madochab
Auf der Rubljovka-Chaussee, in der Nähe Moskaus, prallen
die Extreme aufeinander: In der Nachbarschaft von Putin,
Staatsbeamten und zwielichtigen Neureichen leben noch
immer alteingesessene, ärmere Anwohner. Auch die 70jährige Ljubov Jermilina, die ohne Wasseranschluss und
Heizung lebt, wird noch geduldet. Sie sollte sich jedoch
in Acht nehmen, denn manchmal brennen Häuser an der
Rubljovka. Brandstiftung ist die effektivste Methode, um
Anwohner einzuschüchtern und Platz zu machen für noch
mehr sterile Villen.
Auch davon handelt der Dokumentarfilm Rubljovka
– Straße zur Glückseeligkeit, der am 13. Dezember in
den Kinos anlief. Die in Köln lebende Regisseurin Irene
eines Wachpostens filmte, fuhr eine schwarze Limousine
vor und ein Zivilist fragte nach der Drehgenehmigung.
Zu den KGB-Manieren gehörte es auch, der russischen
Aufnahmeleiterin zu drohen, ihre Produktionsfi rma könne
schnell geschlossen werden. Anders als Irene Langemann
schien ihr russisches Team wenig beeindruckt von den
Androhungen der scharf bewaffneten Beamten. »Russland
entwickelt sich zum Polizeistaat«, meinte die Regisseurin
zu diesen Episoden. Die erschwerten Drehbedingen waren
jedoch nur das Vorspiel. Zurück in Deutschland, suchte
Irene Langemann nach einem Partner, der sich um den
internationalen Vertrieb des Dokumentarfilms kümmern
sollte. Der Moskauer Geschäftsmann Alexander Esin bot
50.000 Euro für die Rechte, den Film international zu
vertreiben. Langemann willigte ein, hatte sie selbst doch
knapp 50.000 Euro aus eigener Tasche in die Produktion
investiert. Die Anrechte für den Vertrieb in Deutschland,
Österreich, Frankreich und der Schweiz hatte sie
glücklicherweise anderweitig vergeben. Esin sorgte jedoch
nicht für den Vertrieb in Russland und anderen Staaten,
sondern wollte vielmehr die Ausstrahlung des Films
verhindern, indem er die schon verkauften Vertriebsrechte
einforderte. Dazu drohte er Langemann, ihr durch seine
weitreichenden Beziehungen zukünftige Drehs in Russland
unmöglich zu machen. Die Regisseurin vermutet, dass
Esin die Ausstrahlung des Films mindestens bis zu den
Präsidentschaftswahlen in Russland boykottiert hätte.
Erst der Spiegel-Artikel Die russische Methode beendete
die Drohungen. Der zwielichtige Kunstkenner verschwand
von der Bildfl äche. Da er seinen Vertriebspflichten nicht
nachkam, kündigte Langemanns Anwalt kürzlich den
Vertrag und ebnete dadurch hoffentlich den Weg für einen
internationalen Vertrieb.
SCHWEINFURTER LEHRSTÜCK
Klar: Die Deutschen haben Angst vor den Russen. In Moskau
stellen sie autokratischen Herrschern gern mal einen
diplomatischen Persilschein aus. Zuhause aber markieren sie
den dicken Max, indem sie ob der russischen Verhältnisse
den Zeigefinger so hoch heben, dass er selbst am Ural noch
zu sehen ist. Denn my home is my castle.
Diese Posse hat sich zwar nicht in Schweinfurt
zugetragen, da wir aber besagte Mechanismen kennen,
war eine geografi sche Veränderung notwendig,
wie auch die Umbenennung unserer Protagonisten,
wie im Fall von Christian F., der am Abend des 9.
Novembers 2006 nach einer Gedenkveranstaltung zur
Reichspogromnacht auf einen jüdischen Gedenkstein
stieg und sein Geschäft verrichtete. Selbstverständlich
sorgte dieser Vorfall in Schweinfurt für große Empörung
und zeitigte eine Vielzahl von Erklärungsversuchen.
Einen davon bestritt Ulrike Müller, Jungredakteurin
der Lokalzeitung Schweinfurter Tagesblatt. In diesen
Erklärungsversuch, Titel: Fun – Frust – Jugendknast,
gehörte für sie ein Blick auf die Biografie des Täters
genauso, wie ein Wort an »die Politiker, die wenn
sie an den Jugendlichen in Schweinfurt vorbeigehen,
einfach wegschauen«, notwendigen Sozialprojekten den
fi nanziellen Boden entzögen und denen Ulrike Müller
ins Stammbuch schrieb: »Warum längst tote Menschen
ehren, statt erstmal aktuelle Probleme lösen?«
Selbstverständlich sollte ein Text dieser Art nicht
unbeantwortet blieben. Und so nahmen sich die
Vor der eigenen Tür kehren da die wenigsten. Sollten sie
aber – um die grundlegenden Bürgerrechte steht es auch
bei uns nicht zum Besten. Wenn es um Zensur geht, greifen
hier und dort die selben Mechanismen, von denen auch das
folgende Schweinfurter Lehrstück erzählt.
jungen Leute von Linksruck, ein Grüppchen linker
Schweinfurter, der Sache an. Mathias Kranich, 18 Jahre
alt, war bekannt für Frechheiten in Textform und widmete
Ulrike Müller einen Beitrag, in dem er auf Christian F.’s
Eigenverantwortung verwies und auf die Gefahr von
verharmlosender Sprache à la »Dummer-Jungen-Streich«.
Er wiederum schloss mit dem Satz »Ulrike Müller sollte,
wie Christian F., ihren Verstand bedienen, statt Nazi zu
sein bzw. das durch den Verweis auf Hoffnungslosigkeit zu
relativieren.«
Der Linksruck-Text landete auf der Homepage der
Gruppe und ward unbeachtet – bis eines schönen
Tages der Brief einer Berliner Anwaltskanzlei beim
Schweinfurter Kreisverband der Linken einging. In
Müllers Namen nun wandte man sich an Linksruck c/o
DIE LINKE und verlangte die Unterschrift unter eine
Unterlassungserklärung, die Streichung des Textes von der
Homepage und obendrein 600 Euro für den entstandenen
Aufwand. Bei Zuwiderhandlung würde sich diese Summe
auf 5000 Euro erhöhen. Eine Menge Holz, dachte sich
auch Kranich, der sofort rechtliche Beratung bei einer
stadtbekannten Antifa-Anwältin suchte.
von Thomas Feske
Die nahm Kontakt mit Müllers Anwalt auf. Der aber
gehört gar nicht zu besagter Kanzlei, die also ohne
rechtliches Mandat gehandelt hatte. Diese Berliner
Anwaltskanzlei ist im Übrigen auch die Hauskanzlei des
Schweinfurter Tagesblatt, einem überdies tiefschwarzen
Printmediums. Die Redakteure des Blattes sind bekannt
für ihren Gram über die Linke in ihrer Stadt und die
Gruppe Linkruck ist bekannt für ihre Beziehung zur
Linken. Ulrike Müller wiederum wusste nichts von den
knackigen Strafandrohungen ihrer Anwälte. Ihr ging
es lediglich um die Streichung des Textes. Linksruck
willigten, in Anbetracht der Missverständlichkeit eines
Einzelsatzes, zähneknirschend ein.
Der Rest war und ist Politik: Eine Tageszeitung, die
per Gerichtsbeschluss auf dem Rücken junger Leute
politische Stellvertreterkämpfe austrägt, eine große
Anwaltskanzlei, die ein paar Schüler – kaum volljährig –
in Angst und Schrecken versetzt, um sich eine goldenen
Nase zu verdienen, und gemeinsam mit den Kollegen
der Journalie kritische Meinungen aus dem öffentlichen
Raum verbannen will.
International: AIDS in Russland
Die Krankheit
DER ANDEREN
9
ÄNGSTLICH
VERSCHWIEG SIE
IHRE ERKRANKUNG
Sr. Elisabeth, die Caritas betreibt in Propjewsk eine Beratungsstelle für HIV-infizierte Müttern, aber das darf
niemand wissen. Warum nicht?
Auf die Bitte und den Rat der MitarbeiterInnen des
städtischen Aidszentrums und von HIV-Betroffenen
selbst, stellen wir die Arbeit dieser Einrichtung ausschließlich als Krisenzentrum für Mütter mit Kleinkindern dar. HIV-infi zierte Mütter haben uns erklärt,
dass es für sie eine absolute Horrorvision wäre,
vorübergehend in einer Einrichtung zu leben, von der
bekannt wäre, das sie für HIV-Infi zierte gedacht ist. Sie
befürchten, dass diese Einrichtung überfallen und abgebrannt wird oder sie selbst mit Steinen beworfen und
zusammengeschlagen werden.
von Anna Lehmann
AIDS ist kein Thema in Russland, sagen Vertreter von Hilfsorganisationen. Trotz milliardenschwerer Regierungsprogramme fehlen
Prävention und Aufklärung. Doch längst sind nicht mehr nur
Junkies und Homosexuelle betroffen, sondern immer stärker auch
die Mitte der Gesellschaft.
Foto [M]: photocase.de
In welcher Situation sind die Frauen, wenn sie zu Ihnen kommen?
Die Situation von HIV-infi zierten Müttern und ihren
Kleinkindern ist oftmals dramatisch. Viele von ihnen
sind sozial in keiner Weise abgesichert und leben in
wechselnden Partnerschaften. Meist sind sie in Heimen
oder in asozialen Familien aufgewachsen. Sie haben
keine abgeschlossene Schul- oder Berufsausbildung und
kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Nicht wenige der
jungen Mütter sind oder waren drogenabhängig.
W
enn Frieder Alberth nach Russland reist, dann in die Großstädte, nach St.Petersburg, nach Tomsk oder
Nowosibirsk. Dorthin, wo Junkies sich ihre Spritzen teilen und die Immunschwächekrankheit AIDS
sich am schnellsten ausbreitet. »Es ist erschreckend, wie wenig die Menschen über AIDS wissen und
wie wenig gute Behandler es gibt«, so sein Eindruck. Regelmäßige Aufklärung fehlt, genauso wie
Medikamente. Als Gründer des gemeinnützigen Vereins connect plus gibt Alberth Erfahrungen weiter, die er 22 Jahre
lang als Pionier der deutschen AIDS-Hilfe sammelte und vermittelt Schulungen für die Pflege und Behandlung AIDSKranker in Russland und der Ukraine. 2001 ließ er connect plus ins Vereinsregister eintragen, zu einem Zeitpunkt, als
die Ansteckungszahlen in Osteuropa in die Höhe schnellten. Es dauerte einige Zeit, bis sich das Virus nach dem Ende
des Sozialismus in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion bemerkbar machte – doch um die Jahrtausendwende
zählten die russischen Behörden offi ziell bereits 87 000 Neuinfektionen pro Jahr. Nirgendwo in Europa breitet sich
die Immunschwächekrankheit gegenwärtig so ungehindert aus wie in Osteuropa und Zentralasien. Dem aktuellen
Bericht der Vereinten Nationen zufolge leben neun von zehn Menschen, die sich aus diesen Regionen im vergangenen
Jahr infi zierten, in Russland oder der Ukraine. Nach Angaben der russischen Regierung steckten sich 2006 rund 39
000 Menschen mit dem Virus an, die Zahl der registrierten HIV-Positiven wuchs auf 370 000. Doch die Dunkelziffer
liegt weitaus höher, selbst die russischen Behörden leiten den VN Schätzungen von bis zu 1,6 Millionen Infi zierten
weiter. Das wäre gut ein Prozent der Bevölkerung. Die Epidemie grassiert vor allem in der Drogenszene und verbreitet
sich mit jeder unsterilen Nadel weiter. »Über die intravenösen Drogengebraucher wird die Krankheit in Russland am
stärksten verbreitet, doch wir beobachten, dass viele Drogengebraucher mittlerweile auch ihre heterosexuellen Partner
infi zieren«, berichtet der Fachbereichsleiter für AIDS und HIV am Robert-Koch-Institut Osamah Hamouda. Von den
Neuinfi zierten waren im vergangen Jahr 44 Prozent Frauen, soviel wie nie zuvor. Von den Randgruppen der Gesellschaft
dringt die Krankheit in die Mitte der Gesellschaft vor. Auch die russischen Behörden haben AIDS mittlerweile als
Problem anerkannt. Die Mittel zur AIDS-Bekämpfung wurden verzwanzigfacht, in jedem der 86 Bezirke Russlands
gibt es mittlerweile ein lokales AIDS-Zentrum. Doch viele Kranke kämen gar nicht erst ins Zentrum, aus Angst vor
gesellschaftlicher Ächtung und Repressionen. »Die Bekämpfung beruht auf rein medizinischer Herangehensweise«,
meint er. Präventionsprogramme und Aufklärungskampagnen für die Risikogruppen fehlten. Nach wie vor hat
Alberth deshalb den Eindruck, dass AIDS kein Thema in Russland sei. Nach den Statistiken der UN erreichen die
Präventionsprogramme für die Risikogruppen nur jeden 20sten Drogenuser und sogar nur jeden 100sten schwulen Mann.
Lediglich jeder fünfte HIV-Infi zierte erhält eine antiretrovirale Therapie, die den Ausbruch der Krankheit hinauszögert
oder sogar stoppen kann. Die VN mahnen daher den Ausbau von Aufklärung und Vorsorge an. »Es geht nicht recht
weiter mit der Bekämpfung«, meint auch Bernhard Hallermann von Caritas International. »Drogennutzer werden
weggesperrt und ausgesondert. Kontrollierte Drückerstuben fehlen, auch Kondome zu benutzen, ist nicht weit verbreitet«,
kritisiert Hallermann die fehlende Präventionsstrategie. Zum Test gingen viele Junkies allein aus Angst vor Strafen
nicht. Diese Einschätzung teilt auch Jörg Basten, vom katholischen Verein renovabis, welcher Aufklärung in sibirischen
Jugendclubs und eine Krankenschwesterschule in St.Petersburg fi nanziert. »Die Risikogruppen sind gesellschaftlich nicht
akzeptiert, das zivilgesellschaftliche Engagement ist gering«, berichtet er. Erst mit der Akzeptanz anderer Lebensweisen
könne eine empathische und damit Erfolg versprechende Präventionsstrategie verbunden sein, meint AIDS-Veteran
Alberth. »Die meisten AIDS-Kranken sterben sonst weiterhin zu Hause bei Muttern.« Als Todesursache werde dann
eingetragen: Lungenentzündung.
Was bedeutet es für die Mütter, wenn sich herumspricht, dass sie AIDS-krank sind oder das Virus in sich
tragen?
Nicht selten ergeht es ihnen wie Tanja. Sie ist 22 Jahre
alt und lebte mit ihrer Mutter, die seit Jahren schwere
Alkoholikerin und tuberkulosekrank ist, in einer baufälligen, nicht mehr beheizbaren Hütte. Der Prinz, mit dem
sich Tanja ein normales Leben erträumt hatte, jagte sie
weg, als sie schwanger wurde. Nach einigen Wochen
stellte sich heraus, dass er sie außerdem mit HIV infiziert hatte. Dank rechtzeitiger medikamentöser Behandlung kam die kleine Alesja zwar ohne HIV-Infektion
zur Welt. Eine Freundin, selbst allein erziehende Mutter, nahm Tanja und ihr Kind zu sich in ihre EinraumWohnung auf. Ängstlich verschwieg Tanja ihre HIV-Infektion. Doch aus Zufall hat es die Freundin eines Tages
erfahren. Sie bat Tanja, sofort mit Alesja ihre Wohnung
zu verlassen, denn sie selbst habe schließlich auch ein
Kind und sie wolle auf keinen Fall dessen Gesundheit
gefährden. Es half keine Erklärung. Gegen die panische
Angst der Freundin kam Tanja mit ihren Aufklärungsversuchen nicht an.
Wie werden die Betroffenen medizinisch versorgt und
betreut?
Die medizinische Versorgung bessert sich zusehends,
die Qualität der Beratung und Begleitung lässt jedoch in
manchen staatlichen Zentren, die es inzwischen in allen
Städten gibt, noch zu wünschen übrig. Unser Konzept als
Caritas in Westsibirien ist in der HIV-Prävention vor allem auf die Überwindung der Stigmatisation und der gesellschaftlichen Ausgrenzung HIV-infi zierter Menschen
ausgerichtet.
Unterstützt die Regierung ihre Arbeit?
Die russische Regierung ist sich ihrer Verantwortung
im sozialen Bereich sehr bewusst und nimmt diese in
den letzten Jahren auch immer deutlicher war. Die Rolle
von gesellschaftlichen und religiösen Organisationen als
Vertreter der Zivilgesellschaft und Partner für den Staat
ist in diesem Prozess noch sehr neu. Beide Seiten lernen
erst ganz allmählich, aufeinander zuzugehen.
Das Interview führte Anna Lehmann.
Info: Sr. Elisabeth Jakubowitz (48) ist Aachener Franziskanerin und lebt seit 13 Jahren in Sibirien. Sie leitet seit
2004 die Diözesancaritas des zweitgrößten Bistums der
Welt. Die Caritas betreibt in Westsibirien mehr als 60
Projekte an 20 Standorten. Ein Projekt ist speziell der
Arbeit mit HIV-Positiven gewidmet.
10
Culture Clash: Female Hip Hop and an attitude to die
IT‘S TIME FOR AN
ATTITUDE
Jeanette Petri a.k.a. Jee-Nice gibt das Female Hiphop-Magazin Anattitude heraus.
Von der Akquise über die redaktionelle Arbeit, Gestaltung bis zur Distribution
macht sie bislang noch fast alles allein.
Rezension Ina Beyer
female hiphop. Realness, Roots und Rap Models, Anjela
Schischmanjan, Michaela Wünsch (Hg.), Ventil Verlag
2007, 12,90 Euro
Der Untertitel deines Magazins lautet »Hip Hop is what
you came to represent«. Kannst Du das genauer erklären?
Es beschreibt die Haltung von Anattitude, die sich gegen
die engen Zuschreibungen im Mainstream-Hiphop wendet. Hiphop ist das, was Du repräsentierst, es ist nicht
steif und fest. Das gilt besonders für das im Mainstream
noch immer bestehende und gern repräsentierte Frauenbild. Das langweilt! Tender to all gender – das ist Hiphop!
Wie oft kommt Anattitude raus und wie ist das Heft aufgebaut? Anattitude Magazine erscheint einmal im Jahr.
Es präsentiert Porträts von Frauen, die in den Bereichen
Rap, Breakdance, Deejaying oder Graffiti aktiv sind. Inhaltlich geht es um Identität, gender, Feminismus, Politik,
Popkultur und Kunst. Daneben gibt es Beiträge zu relevanten Personen in der Hiphop-Geschichte, zu Film oder
Mode. Anattitude basiert auf ausführlichen Interviews,
Fotostrecken und einer reduzierten Gestaltung.
Dargestellt wird das Zeitlose, nicht das Brandaktuelle.
Die Interviews werden jeweils in der Muttersprache
gehalten und ins Englische übersetzt, damit möglichst
viele LeserInnen von den Inhalten profitieren können.
Zum Konzept des Hefts gehört auch, nichtdeutsche
Hiphop-Welten und -Kulturen zu erforschen und zu repräsentieren.
Foto [M]: Selbstportrait
Glaubt man den Mainstream-Medien, kommen Frauen
im Hiphop bis auf wenige Ausnahmen nur als schmükkendes Beiwerk vor, die Potenz und Errungenschaften
männlicher Akteure unterstreichen. Anjela Schischmanjan und Michaela Wünsch rücken mit ihrem Buch female hiphop dieses Bild zurecht: In dem Sammelband, der
eigene Beiträge von Hiphop-Aktivistinnen, Interviews
sowie kulturwissenschaftliche und gender-analytische
Betrachtungen vereint, wird beschrieben, auf welch
vielfältige Weisen Frauen in der Hiphop-Kultur aktiv
sind und von Beginn an waren.
Jeanette Petri a.k.a. jee-nice zeichnet in ihrem Beitrag
Here’s a little story�c einen Zeitstrahl von 1973 bis ins
Jahr 2006. Darauf markiert sie die Präsenz einflussreicher Ladies – etwa im Jahr 1979, als die R&B-Sängerin
Sylvia Robinson das Label Sugarhill Records gründete.
Sie veröffentlichte damals den Song Rappers Delight der
Sugarhill Gang, der bekanntermaßen zum ersten großen
Hiphop-Hit wurde und die Kultur ins Licht der Weltöffentlichkeit rückte.
Clara Völker und Stefanie Kiwi Menrath beschreiben,
welch unterschiedliche Rollen Frauen für sich im Hiphop besetzen. Neben Queen Bitches wie Lil’ Kim oder
Foxy Brown und den Soul Sistahs – Erykah Baduh oder
auch Lauryn Hill zählen dazu – stellen die beiden weniger bekannte Selbstentwürfe von hiphop-aktiven Frauen
in den Fokus. Gangsta-Rapperinnen wie Bo$$ oder die
Deadly Venoms etwa, die sich unantastbar cool und
aggressiv geben. Oder die True School MC, der Hiphop
als Kultur bei ihrem Schaffen besonders wichtig ist. Die
beiden Autorinnen betreiben selbst im Internet die Plattform femalehiphop.net. Über ihr Projekt erzählen sie
im Interview.
Eine allgemeine Sicht auf das, was Female Hiphop sein
könnte, gibt es am Ende nicht – Hiphop ist groß geworden, ist eine globale Kultur mit vielen verschiedenen lokalen Ausprägungen. Dieser Vielfalt kann ein einzelner
Band nicht gerecht werden – empfehlenswert ist dennoch beispielsweise der Beitrag von Annett Busch, die
ihren Blick jenseits des europäischen und US-Kontexts
nach Afrika richtet.
Und schließlich lebt Hiphop von den vielfältigen, immer
ganz individuellen Geschichten derer, die ihn tragen.
Fiva MC aus München zum Beispiel erzählt darüber, wie
sie mit dem Rappen angefangen hat, Quio beschreibt,
wie sie mit Sprache starre Geschlechtergegensätze
aufzuweichen versucht. Und Pyranja plädiert dafür,
sich »ohne wenn und aber« nicht von der männlichen
Dominanz in der Szene abschrecken zu lassen und sein
eigenes Ding zu machen. In dem Buch wird deutlich:
Hiphop ist alles andere als eine männliche Kultur. Oder
wie Salt’n’Peppa es einmal gesagt haben: »Ain’t nuthin’
but a she thing«.
Du machst ein Magazin speziell über Frauen im Hiphop.
Warum? Cause the world needs it! Bei den Recherchen zu
meinem Reader Here’s a little story �c, der alle US-amerikanischen MCs von 1976 bis 1990 zusammenfasst, musste
ich feststellen, wie wenige female MCs in den bekannten
Hiphop-Bibeln und -Magazinen auftauchen. Das hat mich
erschüttert, zumal ich ihre rhymes ja von meinen Vinylscheiben her kenne – diese Ladies existieren also. Seit den
Anfängen der Hiphop-Kultur hat es eine enorme Anzahl
sehr aktiver und einflussreicher Frauen darin gegeben –
und von Tag zu Tag werden es mehr. Warum werden sie
dann nicht erwähnt?
Auch heute schreiben die meisten Hiphop-Mags vor allem
über männliche Künstler. Deswegen ist es längst überfällig,
Frauen in der Kultur angemessen zu repräsentieren – ohne
sie vorher in Bikinis zwängen zu müssen.
Deswegen: It’s time for an attitude. So ist Anattitude Magazine 2005 entstanden. Aber vor allem ist es aus der
Liebe, Faszination und Respekt unserer Kultur gegenüber
geboren.
Jeanette Petri a.k.a. Jee-Nice gibt Handzeichen
Was waren bisherige Schwerpunkte und welchen Themen wird sich Anattitude zukünftig zuwenden? Die erste
Ausgabe legte einen großen Schwerpunkt auf gender. Sie
ist vergriffen, aber noch auf www.anattitude.net online
lesbar. Die zweite Nummer Paris Hiphop repräsentiert die
Pariser Szene anhand acht ausführlicher Interviews. Die
dritte Ausgabe, die im Mai 2008 herauskommt, wird sich
ausschließlich um Female Hiphop-Geschichte drehen und
Größen aus der ganzen Welt zu Wort kommen lassen. In
der Zukunft soll es unter anderem eine Go East-Nummer
und eine Ausgabe zu Dakar geben.
den Clubs höre. Also beschloss ich damals, selbst dafür
zu sorgen. Damit fi ng es an.
Neben Anattitude fotografiere ich und mache Ausstellungen. Gerade organisiere ich zusammen mit Catfight
Magazine (Frauengraffiti-Magazin aus Rotterdam) eine
Ausstellung und Party unter dem Titel Hiphop Ladies
with Attitude – Jammin Fresh & Def. Dieses Event wird
während des einmonatigen Frauen-Hiphop-Festivals
We*Bgirlz in Berlin im August 2008 stattfi nden. Dort
präsentieren wir Graffiti und Hiphop History – strictly by
females. Watch out! Be there!
Was machst Du, wenn Du nicht gerade an dem Magazin
arbeitest? Bist du selbst im Hiphop aktiv? Ich habe 2000
angefangen, Platten weiblicher MCs zu sammeln und unter
meinem DJ-Namen Jee-Nice aufzulegen. Ich habe mich
gefragt, warum ich die rhymes dieser tollen Ladies nie in
Anattitude ist käuflich: In Buch- und Plattenläden in
Deutschland, Frankreich, Belgien und der Schweiz.
Eine Liste gibt es auf anattitude.net.
Das Gespräch führte Ina Beyer.
11
Culture: Culture Clash
DENN SIE
WUSSTEN,
WAS SIE TATEN
MIT
SEBASTIAN
VON
BRAINWASHED
von Karsten Schmidt
Illustration[M]: Mark Knopf
Traurige Tradition der ewigen Jugend: James Dean,
River Phoenix, Heath Ledger und der frühe Abschied
in die Unsterblichkeit.
8 FRAGEN-CHECK
Foto [M]: photocase.de
Hallo Sebastian, du warst als Schlagzeuger mit der
Band Brainwashed in Russland auf Tour. Wie lange
und wo warst du auf Tour?
Wir waren in Tscheschard,
Mikun, Siktivkar, Workuta, Inta, Wolgaschor auf Tour.
Insgesamt 14 Tage mit 11 Konzerten.
Am 30. September 1955 starb James Dean – und wurde zum unsterblichen Idol. Er war 24 Jahre alt, als ihn die Lenkradstange seines Porsche Spider beim Zusammenprall mit einem Ford Sedan tödlich durchbohrte. Er hatte zu diesem
Zeitpunkt gerade drei Filme abgedreht, die ihn im Bewusstsein der Filmgeschichte fest verankern sollten: mit Elia Kazan
»Jenseits von Eden«, mit Nicholas Ray »Denn sie wissen nicht, was sie tun« und mit George Stevens »Giganten«. In diesen
Filmen verkörperte James Byron Dean das Lebensgefühl der rebellierenden Jugend der 50er Jahre, sagt der Mythos, und
als er starb, wurde er überhaupt zum Inbegriff des rebel without a cause. Dabei gab es zu dieser Zeit auch andere Jugendidole, wie etwa den wütenden Marlon Brando und wenig später Paul Newman, Robert Redford oder Dustin Hoffman.
Allerdings drehten und drehen diese Schauspieler weiterhin Filme, wurden alt oder fett oder beides und letztlich alterte
auch ihre Generation mit ihnen. Jimmy Dean aber, der hochempfindliche Narzisst und begnadete Selbstdarsteller, der
sein kurzes Leben lang nichts anderes wollte, als berühmt zu sein, sich ziel- und stilsicher von Fotografen porträtieren
ließ und auf der Straße wie im Leben stets auf der Überholspur fuhr, bekam an jenem 30. September 1955 die ewige Jugend geschenkt.
Auch Heath Ledger wird nun im kollektiven Kinogedächtnis auf ewig jung bleiben. Sein Tod am 22. Januar 2008 beendete
eine ambitionierte, doch wechselhafte Schauspielerkarriere. Anders als bei James Dean, dessen drei große Hauptrollen
wie ein kompaktes Gesamtwerk erscheinen, wird bei Heath Ledger die Erinnerung an einzelne Filme bleiben. Darin
ähnelt er River Phoenix, der am 31. Oktober 1993 mit 23 Jahren an einer Überdosis Kokain starb. Phoenix stand schon im
Alter von zehn Jahren regelmäßig vor der Kamera und spielte mal größere, mal kleinere Rollen mit wechselndem Erfolg,
etwa in dem Coming-of-age-Drama »Stand by me«, dem dritten Teil der »Indiana Jones«-Trilogie oder dem Spionagethriller »Little Nikita«. In Erinnerung blieb aber vor allem seine Darstellung des heimatlosen Strichers Mike in Gus Van Sants
»My Own Private Idaho«. Das komplexe, zerbrechliche Porträt einer verlorenen Jugend, das zwei Jahre vor seinem Tod in
die Kinos kam, offenbarte Phoenix als einen der talentiertesten Schauspieler seiner Generation.
Der Australier Heath Ledger kam als 20-Jähriger nach Hollywood – und wenn man sich in Zukunft an seine schauspielerischen Leistungen erinnern wird, muss zweifellos Ang Lees »Brokeback Mountain« zuerst Erwähnung finden. Die
Rolle des schwulen Cowboys Ennis Del Mar, der an den verinnerlichten Normen der Gesellschaft und damit an sich selbst
zu verzweifeln droht, war nicht nur seine anspruchsvollste Leistung, sie rückte ihn auch als Schauspieler endgültig in
ein anderes Licht. Der Teenie-Schwarm und poster boy, als den ihn Hollywood mit Filmen wie »10 Dinge, die ich an dir
hasse« oder »Ritter aus Leidenschaft « vermarktete, war er nicht und wollte er nicht sein, so schien es. Viele Angebote
der Studios lehnte er ab, um nicht in diese Schublade gesteckt zu werden. Stattdessen spielte er den depressiven Sohn
von Billy Bob Thornton in »Monster’s Ball« oder den Junkie im australischen Film »Candy«. Und doch, nach »Brokeback
Mountain« übernahm er die Hauptrolle in »Casanova«, die wieder dem Klischee vom romantischen Helden entsprach,
das Hollywood seinen Jungstars gerne aufzwingt. So bleibt bei Ledger wie auch bei Phoenix der Eindruck vom engagierten Schauspieler, der zwischen der Selbstauffassung als Künstler und den kommerziellen Zwängen der Filmindustrie
zerrieben wurde.
Zweimal wird man Heath Ledger in diesem Jahr noch im Kino sehen: In Todd Haynes Bob-Dylan-Film »I’m Not There«
(28.02.08) und im neuen Batman-Teil »The Dark Knight« (21.08.08). Heath Ledger hat sich selbst überlebt.
Generell, wie kann man das Tourleben in Russland
aus Sicht eines Musikers beschreiben?
Durch die Vegetation waren wir gezwungen, mit dem Zug zu reisen
und unsere komplette Backline sowie vier Personen immer wieder in ein kleines Zugabteil zu quetschen. Man
kommt schlecht mit dem Auto durch die Tundra. Das
war der unangenehme Teil. Angenehm war, dass wir
in jedem Ort, in dem wir spielten, mit einem Riesenaufwand vom Bahnhof abgeholt wurden (egal zu welcher
Tages- oder Nachtzeit). Man wird auf den Konzerten wie
ein Star gefeiert, gerade in kleinen Orten, und die dafür
angemieteten Hallen sind fast immer bis auf den letzten
Platz gefüllt.
Was ist im Gegensatz zu Deutschland anders?
Die
Veranstalter sind oft netter und dankbarer und tun
alles Erdenkliche, dass es auch einer kleinen Band aus
Deutschland gefällt und sie gerne wieder kommt. Was
den Technikbereich angeht, ist Vorsicht geboten. Oft
sind die Boxen selbst zusammengezimmert oder Mikros
und weitere Sachen defekt, da muss man dann improvisieren, aber auch da ist das russische Völkchen sehr
einfallsreich.
Eine Band, die in Russland touren will, worauf sollte
sie achten?
Am besten so viele eigene Technik wie
möglich mitnehmen, wenn man privat untergebracht
wurde, niemals das für sie gekochte Essen ablehnen
und sich vor allem gut mit Medikamenten gegen Magen/
Darm-Scheiß und Erkältung eindecken, gerade wenn
man im Zeitraum von Oktober bis April im Norden Russlands tourt.
Du spielst in der Berliner Band Vincent ebenfalls
Schlagzeug, werdet ihr auch mit dieser Band in Russland auf Tour gehen? Was sind generell eure nahen
Ziele?
Wenn es sich anbietet, machen wir diesen Schritt
bestimmt. Unser nächstes Ziel ist erstmal einen Verlag
zu finden.
Jetzt noch paar persönliche Fragen: Was war deine
erste gekaufte Platte?
Die Ärzte – Planet Punk.
Bei einem Look-A-Like-Contest, mit wem würdest du
dich vergleichen? Mit
wem wirst du verglichen?
Axel
Stein; auch John Goodman.
Welche Frage wolltest du schon immer mal gestellt
bekommen?
Hältst du dich für die Reinkarnation einer
berühmten Person?
Sebastian von Brainwashed wurde abgecheckt von
Andreas Voland.
12
S und V feat.: Iana Balova und Patricia Meeden zu Tanz und Gesang
ES IST NICHT EINFACH
NUR EIN JOB
Um beim Staatsballett Berlin tanzen zu dürfen, muss man schon über großes
Talent verfügen. Dass Iana Balova Talent zur Genüge hat, konnte sie gerade erst
beim Jerome-Robbins-Ballettabend in der Staatsoper beweisen.
In Fancy Free buhlten drei junge Matrosen um ihre Aufmerksamkeit. Wir
sprachen mit ihr über Russland, Vladimir Malakhov und natürlich übers
Tanzen.
Die Szene dem Stück Alice in Wonderland entnommen, das in der nächsten Spielzeit wieder aufgeführt wird. Natürlich tanzt Iana Balova mit.
Hallo Iana, vielen Dank, dass du dir Zeit für uns
genommen hast. Ja, gerne.
14 Uhr, dann eine halbe Stunde Mittagspause und dann
bis um 18 Uhr. Also ich denke, das geht.
Bitte erst einmal ein paar Angaben zu deiner
eigenen Person. Wie alt bist du? 16 (lacht). Nein, ich
bin 22.
Denkst du, dass es Unterschiede zwischen den
deutschen und den
russischen Tänzern gibt und wenn
ja, welche? Ich denke nicht, dass es da große Unterschiede gibt. Hier am Staatsballett trainieren wir alle
bei den gleichen Ballettmeistern, daher gleicht sich das
Niveau nach einer gewissen Zeit an.
Und woher kommst du? Ich komme aus Russland.
Aus der Stadt Ufa.
In welchem Alter hast du mit dem Ballett angefangen? Mit zehn Jahren.
Oh, ist das nicht ganz schön spät? Nein, das ist
eigentlich das normale Alter. Manche fangen schon
früher an, aber mit zehn, zwölf Jahren ist es eigentlich normal auf eine Tanzschule zu gehen.
Wie kamst du zum Tanzen? Meine Mutter hat mich
sozusagen dahin geschubst. Da ich immer überall
herum getanzt bin, habe ich in der Schule vorgetanzt
und mache seitdem Ballett.
Wo hast du schon überall getanzt? In Russland, hier
in Deutschland und in Italien, wo ich studiert habe.
Welche war deine liebste Rolle? Ich weiß nicht, ich
habe noch nicht so viele Rollen gehabt, aber ich mag
meine Rolle in Fancy Free gerne.
Wie viele Stunden am Tag probst du? Das hängt
davon ab, ob wir für Aufführungen proben oder nur
normalen Unterricht haben. Normaler Unter-richt ist
von 10:30 bis 12 Uhr und, wenn wir proben von 12 bis
Ist das Training in Russland nicht viel härter als hier?
Mit viel mehr Druck? Ich habe in einer kleineren Schule
trainiert und da war alles sehr entspannt. Ich denke
aber, dass das Training in den großen Schulen härter ist.
Warum hast du dich dafür entschieden, in Deutschland
zu arbeiten? In Deutschland gibt es eine gut entwickelte
Ballett-kultur und viele klassische Ballett-Theater. Das
hat mir gut gefallen.
Wie empfindest du die politischen Entwicklungen in
deiner Heimat? Denkst du, dass Russland auf dem
richtigen Weg ist? Das kann ich gar nicht so genau
sagen, weil ich seit acht Jahren nicht mehr in Russland
war. Die Leute sagen aber, dass es besser geworden ist.
Ich verfolge das nicht so und kann das persönlich nicht
beurteilen.
Warum nicht? Hier sind wir 89 Tänzer im Ensemble –
in Russland sind es 200. Das bedeutet, dass es dort
eine wesentlich stärkere Konkurrenz gibt. Der Druck
ist bei solch einer großen Anzahl von Tänzern einfach
größer. Und in den kleineren Ensembles ist die Bezahlung nicht so gut.
Wie groß ist die Anerkennung, die man als Balletttänzerin bekommt? Das hängt ganz vom Land ab. In Italien beispielsweise denken sie, wenn du sagst, dass du
Balletttänzerin bist, das sei nur dein Hobby und fragen
dich, was du beruflich machst. In Russland ist das
schon anders. Da sagen sie bewundernd »Ah, du bist
eine Balletttänzerin«. In Deutschland ist das ähnlich.
Zumindest hier in Berlin.
Denkst du, dass sich der Beruf der Tänzerin von anderen Berufen unterscheidet? Die meisten Tänzer sind
sehr leidenschaftlich in ihrer Arbeit, es ist wie eine
Liebesgeschichte. Es ist nicht einfach nur ein Job und
natürlich ist es etwas anderes, wenn du deinen Beruf
so liebst wie ich. Aber das kann anderen Menschen
in deren Berufen auch so ergehen – wenn sie wirklich
mögen, was sie tun.
Hast du Heimweh? Nein, eigentlich nicht. Ich bin schon
lange von zu Hause weg. Ich vermisse meine Freunde –
das auf jeden Fall. Aber ich bin gerne hier in Berlin.
Was sind die Vorteile des Lebens eines Tänzers?
Du triffst eine Menge Leute. Eine Menge unterschiedlicher Leute mit unterschiedlichen Nationalitäten. Da
kannst du wirklich deinen Horizont erweitern. Außerdem lernst du viele Orte kennen, wenn du auf Touren
bist.
Willst du irgendwann nach Russland zurückkehren?
Nein, ich denke nicht.
Und die Nachteile? Ein großer Nachteil ist auf jeden
Fall, dass man nur bis zu einem bestimmten Alter
Rubrik: Interview
13
TALENT
SETZT
SICH
DURCH
Interview mit Patricia Meeden, der
22jährigen Hauptdarstellerin des
Musicals Miami Nights
Foto [M]: Foto: Enrico Nawrath
Miami Nights greift viele Elemente aus den 80er Jahren
auf, wieso sind die 80er jetzt wieder so interessant?
Mit den 80ern verbinde ich Freiheit – in der Mode und
in der Musik. Ich denke, dass die Leute sich nach dieser
Freiheit, dem Außergewöhnlichen, dem Rebellischen
sehnen.
arbeiten kann. Danach muss man sich noch einmal orientieren und völlig neu anfangen.
Wie empfi ndest du die Arbeit mit Vladimir Malakhov?
Er ist immerhin der Name, wenn es um Ballett geht.
Er ist trotz seines Ruhmes ein bodenständiger Mensch
geblieben und es macht wirklich Spaß mit ihm zu arbeiten. Natürlich ist er der Intendant und natürlich ist er
Vladimir, aber du kannst immer mit ihm reden. Er ist
offen und freundlich. Er ist menschlich. (Stimmen von
draußen) Oh, das ist er da draußen.
Oh, wirklich. Na ja, du hast ja nichts Schlimmes gesagt. Ich weiß, aber vielleicht sollte ich alles noch einmal lauter sagen.
Ich kann dir die Frage gerne noch einmal stellen.
Also… (lacht)
Sind die anderen Tänzerinnen eine Inspiration für
dich? Ja, natürlich sind Polina (Semionova – Anm. d.
Verf.), Nadja Saidakova, Shoko Nakamura, Beatrice
Knop und alle anderen Solistinnen eine Inspiration für
mich, denn sie sind alle so unterschiedlich und talentiert. Aber auch sie sind alle sehr normal. Jeder wird hier
gleich behandelt.
Hat sich deine Beziehung zum Tanzen in all den Jahren
verändert und wenn ja, wie? Ich weiß nicht, es macht
immer noch Spaß, auf der Bühne zu sein.
Hast du irgendwelche Aufführungen gehabt, bei
denen dir eine lustige Panne passiert ist oder über die
du dich besonders geärgert hast? Nein, hier ist noch
nichts passiert. In Russland aber wurde mal bei einer
Aufführung das Mädchen, mit dem ich zusammen
getanzt habe, nicht aufgerufen. So war ich alleine auf
der Bühne und musste improvisieren. Ich hoffe, dass
mir so etwas nicht noch einmal passiert.
Hast du vor irgendetwas Angst? Verletzungen vielleicht? Bis jetzt habe ich mich noch nicht verletzt.
(klopft dreimal auf den Tisch) Aber man kann immer
fallen. Das kann einfach passieren und ist dann auch
nicht dein Fehler. Ich versuche einfach nicht darüber
nachzudenken, denn dann macht man sich nur Sorgen.
Oh, entschuldige. Ich wollte dich mit meiner Frage
nicht beunruhigen. Vergiss sie einfach ganz schnell.
Schon passiert.
Sehr gut. Was machst du eigentlich in deiner
Freizeit?
Ach, so das Übliche. Manchmal gehe ich weg oder
bleibe auch einfach nur zu Hause und schaue Fernsehen.
Zum Thema Rebellion: Pete Doherty, Amy Winehouse –
die totale Rock ´n Roll-Attitüde – wie stehst du zu
solchen Typen?
Ich bin totaler Amy Winhouse Fan und fi nde es absolut
schade, dass sie sich so kaputt macht. Ich bin extrem
gegen Drogen aller Art. Ich verstehe es, dass manche
Menschen kiffen müssen um kreativ zu sein – das ist
deren Sache. Aber sich so die Kante zu geben ist einfach
nur schlimm.
Momentan sprießen überall die Superstars. Es wird
gecastet was das Zeug hält. Was hältst du davon?
Früher fand ich Casting-Shows toll. Aber man sieht
ja was mit den Leuten passiert. Die wandern ins
Dschungelcamp. Für mich würde es nicht in Frage
kommen. Aber für jemanden, der sonst keine Möglichkeit
hat einen Musikproduzenten kennen zu lernen, stellt so
eine Show natürlich eine super Plattform dar. Allerdings
wird man diesen Stempel »ich war bei einer CastingShow« nie wieder los.
Wo siehst du deine Stärke: im Tanzen oder im Singen?
Ich bin ausgebildete Balletttänzerin. Dennoch würde
ich meine Stärke eher im Singen sehen. Natürlich tanze
ich auch gut, da haben die acht Jahre Ausbildung ihre
Wirkung gezeigt. Aber mein Herz gilt dem Singen. Zum
Tanzen Üben bin ich oft zu faul.
Dann müsstest du mal zu Detlef Soost ins Training.
Um Gottes Willen! Kann ich mir verkneifen.
Hast du einen Tipp für Neueinsteiger?
Nicht in die Ballettschule gehen! Eine Musical-Ausbildung
ist nicht schlecht. Die integriert Schauspiel, Gesang und
Tanz. Natürlich wird das Tanzen nicht so ausführlich
gelehrt, das sind nicht die Super-Tänzer, aber wer Talent
hat kann sich durchsetzen. Willensstärke ist wohl das
Wichtigste, damit kommt man überhaupt sehr weit. Egal,
ob man eine Ausbildung hat oder nicht.
Nun zur letzten Frage: Hast du für die Zukunft irgend-welche Wünsche, Hoffnungen oder Pläne? Oh.
(überlegt) Ja, natürlich möchte ich bessere und mehr
Rollen bekommen. Wie jeder vielleicht.
Miami Nights – 80er Jahre-Musical - Gastspiel im Berliner
Admiralspalast (26.02. - 16.03.2008 Friedrichstraße 101,
10117 Berlin) und in der Alten Oper Frankfurt/Main
(18.03. - 29.03.2008 Opernplatz, 60313 Frankfurt/Main)
Vielen Dank für das Interview und viel Erfolg für
deine Zukunft. Dankeschön.
Die gebürtige Berlinerin Patricia Meeden steht seit ihrem
17. Lebensjahr auf der Bühne – u.a. bei Cats. Derzeit spielt
sie in Miami Nights die Kubanerin Laura.
Das Interview führte Lisa-Sophia Preller
Das Interview führte Ruth Steinhof
14
Poetry Slam: Eisenzeit in Warschau
GESCHICHTEN
AUS DER
EISENZEIT VI
Warschauer Kunststücke
Illustration: Florian Bielefeldt
von Frank Hammer
In jener Zeit, als in unserer Weltgegend die Häuser
noch grau, aber bewohnt waren, hatte ich, was meine
Reisetätigkeit betrifft, zwei auf schnelle Einsicht
gegründete Grundsätze. Zum einen sagte ich mir: Im
Westen steht eine Mauer, da kommst du nicht rüber, also
sieh dir konsequent den Osten an. Der andere Grundsatz
war die Folge des ersten: Je weiter du nach Osten fährst,
desto mehr Leute aus dem Westen lernst du kennen. 1979
saß ich mit fünf jungen Franzosen im Garten einer kleinen
Campingplatzversorgung im Osten von Warschau. Ich
hatte mich der Gruppe als Tramp angeschlossen und wir
hatten schon eine Tour, die Ostseeküste entlang über die
masurischen Seen, hinter uns. Im Garten stärkten wir uns
für einen Tagestrip in die Altstadt. Der Tag begann sonnig
und vielversprechend. Wir redeten munter durcheinander,
wobei Jacques und Josianne, zwei angehende Lehrer,
die Übersetzung übernahmen und wir anderen uns
mehr in Gestik und Mimik übten. Wir waren so auf uns
konzentriert, dass wir gar nicht merkten, dass wir längst
die Aufmerksamkeit der übrigen Gäste erregt hatten.
Erst als ein alter Mann demonstrativ am Nebentisch
Platz nahm, fiel mir auf, dass er als Späher aus einer
Gruppe von Bauarbeitern gestartet war, denen er auch
laut seine Beobachtungen mitteilte: »Fünf Franzosen, ein
Deutscher.« Der alte Mann war durchaus eine Erscheinung:
Er hatte wallendes weißes Haar und ein markantes
Indianergesicht. In mein Tagebuch schrieb ich damals: »Er
hatte einen durchdringenden Blick, der mir eine Gänsehaut
machte. Ich habe solche Augen noch nie gesehen.«
Als es uns in der Gruppe unbehaglicher wurde und unsere
Gespräche langsam verstummten, sprach er Jacques direkt
an, um sich seine Erkenntnisse bestätigen zu lassen. Er
tat es in bestem Französisch, was meine Gefährten mit
großem Erstaunen quittierten. Als Jacques mir den Dialog
ins Deutsche übersetzen wollte, sagte der Alte leise auf
Deutsch:
»Nicht übersetzen, das ist ein Faschist!«
Es dauerte eine Weile bis die schwere der Botschaft bei
allen meinen Freunden angekommen war. Josianne
protestierte als erste:
»Er ist kein Faschist. Er ist unser Freund.« Alle meine
Reisegefährten verteidigten mich energisch. Die Stimmung
kippte, auch bei den Zaungästen an den anderen Tischen.
Schließlich bot mir der Alte – wiederum auf Deutsch – ein
Bier zur Versöhnung an.
Ich lehnte ab. Wahrscheinlich sogar sehr rigoros.
Der Mann wechselte wieder ins Französisch und bat
an unserem Tisch Platz nehmen zu dürfen. Als die
fünf die Frage bejahten, bat er Jacques, mir das, was
er jetzt zu sagen hätte, ins Deutsche zu übersetzen.
Es würde ihm – obwohl er es könne – schwer fallen,
Deutsch zu sprechen. Seine Geschichte begann er in den
zwanziger Jahren des Jahrhunderts, als seine Familie
einen berühmten polnischen Zirkus besaß. Er schilderte
uns, dass er schon als Kind in der Manege stand und
wie der Beifall ihm frühen Genuss bereitete. In der Zeit
der Weltwirtschaftskrise starben Zirkus und Vater. Die
übrige Familie zog, wie viele Polen, nach Frankreich,
um sich in den Kohlebergwerken zu verdingen. Er
wurde Lehrling und politisch aktiver Bergman. »Nous
sommes les Polonais du Nord…«, sang er uns stolz seine
Lebenshymne vor… In der Zeit der Besetzung Frankreichs
schloss er sich der Resistance an. Bald wurde er von den
Deutschen gefasst. Die triumphierten, als sie ihn hatten:
Pole, Jude, Widerstandskämpfer… Von West nach Ost
wurde er durch die Lager verbracht, bis er schließlich in
Auschwitz ankam. Hier lernte er einen Freund kennen,
einen Deutschen. Der war Schriftsteller und Kommunist:
»Der hat mich Deutsch gelehrt – nicht die Sprache der
Henker. Die Sprache von Goethe und Schiller. Der hat mir
Mut gemacht. Der war der einzige von uns, der sich getraut
hat, den Wachleuten in die Augen zu sehen. Er ist vor der
Befreiung des Lagers gestorben…«
Das sagte der alte Mann zu mir. Er sagte es in akzentfreiem
Deutsch. Als er es sagte, weinte er ein bitteres Weinen.
Irgendwann fragte er mich, ob ich jetzt ein Bier mit ihm
trinke…
»Natürlich trinken wir ein Bier«, sagte ich.
Als er sich später von uns verabschiedete, bat er ein letztes
Mal um unsere Aufmerksamkeit.
Er nahm ein altes Fahrrad vom Zaun und machte mitten
im Sommergarten einen akkuraten Handstand auf dem
Lenker desselben. Eine lange Zeit hielt er die Balance.
Erst als er abschwang verlor er sie. Er stürzte hart auf das
Pfl aster.
Bei den Bauarbeitern, die immer noch in der Nähe saßen,
löste der Sturz ein großes Gelächter aus. Unser Artist aber
schnellte in die Höhe, warf einen kurzen, verächtlichen
Blick auf seine früheren Bekannten, griff sich das Rad
am Lenker und zog es hinter sich her. Er schritt aus dem
Garten, wie man eine Manege verlässt. Wir, in unserer
kleinen Runde, konnten nicht lachen. Im Gegenteil. Einen
langen Tag schwiegen wir aus Ehrfurcht vor dem fremden
Schmerz.
Die sieben Fragezeichen: Politik und Medien in Russland
gab diesen »neuen Reichen« die Chance zum sozialen
Kapitalismus. Nicht alle nutzten sie. Chodorkowskis Fall
war eine gute Lehre für sie. Er wurde bestraft, da er
neben Gesetzesuntreue auch noch politische Ambitionen
pflegte. Auch dies fällt nicht in den Bereich von RoG.
Wie sollte sich Europa gegenüber Russland verhalten?
Es sollte seine Arroganz und Überheblichkeit
abschütteln und Russland als wirtschaftlichen Partner
mit ganz anderer Mentalität und Kultur, mit Recht auf
eine eigene Entwicklung betrachten. Der moderne
russische Staat ist extrem jung und erlebt noch einige
Wachstumskrankheiten. Es wäre schon ein Fortschritt,
wenn der »Westen«, statt argwöhnisch, neugierig und
erforschend wäre. Im Bereich der Menschenrechte
darf es keine faulen Kompromisse geben. Europa muss
darauf drängen, dass Russland seine Bekenntnisse
zu einer unabhängigen Presse und zur Wahrung der
Menschenrechte konsequent umsetzt.
Welche Eigenheiten sollten wir kennen, um Russland zu
verstehen?
Was die »russische Seele« bedeutet? Ein Thema zum
Grübeln. Vielleicht helfen Bücher von Dostojewski
und Lew Tolstoi. Gefühle sind für Russen von großer
Bedeutung. Zusammen weinen oder lachen können wir
am besten. Ab und zu sogar übertrieben, weil vieles in
Russland zu weit, außer Maßen geht. Absolut fremd ist
Fotos[M]: epa/Dmitry Astakhov/Pool
Wer steckt vermutlich hinter dem Mord an Anna
Politkowskaja?
Nur prätentiöse Beobachter können behaupten, dass
dieser Mord vom Kreml ausgeführt worden wäre. Die
Fälle Politkowskaja als auch Litwinenko sollten negatives
Aufsehen erregen, was vollkommen gelang. Ich stimme
vielen Analytikern zu, dass an der Spitze des grausamen
Unterfangens einer der Exil-Oligarchen steht. Es ist immer
noch unklar, wer Anna Politkowskaja umgebracht hat.
RoG fordert weiter hartnäckig, konsequent zu ermitteln.
Ich habe im November letzten Jahres mit dem zuständigen
Chefermittler gesprochen, der versicherte, im Frühling
Anklage zu erheben. Bis dahin müsse er schweigen.
RoG berichtete ausführlich über die Ermittlungen und
möglichen Verstrickungen der Politik in den Mord.
www.reporter-ohne-grenzen.de, www.rsf.org
15
Warum genießt Putin eine so hohe Popularität?
Putin dient aufrichtig seinem Land. Was war Russland
vorher? Ein zerfallener Staat, die Bürger von korrupten
Eliten beraubt. Alle zentralen TV-Sendungen gehörten
einzelnen Oligarchen und wurden für deren Interessen
genutzt. Dazu kam ein beispielloser westlicher Druck
auf die Energieressourcen des Landes. Putin unternahm
eine Reihe von durchgreifenden Aktionen gegen die
konkurrierenden Oligarchengruppen. Parallel führte
er eine vernünftige Wirtschafts- und Steuerpolitik,
die Steuerzahlen attraktiver als Bestechung machte,
was vorher ganz anders war. Das gewonnene Geld
wird im Rahmen nationaler Projekte ausgegeben. Der
Wohlstand und das Selbstbewusstsein sind nach den
Erniedrigungen der 90er Jahre gestiegen. Putin ist eine
charismatische Figur, vergleichbar mit Charles de Gaulle.
Mit dieser Frage beschäftigt sich RoG nicht, doch eins ist
klar: Den Menschen geht es seit dem Amtsantritt Putins
wirtschaftlich besser, und das angeschlagene nationale
Selbstbewusstsein ist erstarkt. Das Gut Pressefreiheit
besitzt leider derzeit bei vielen Menschen in Russland
keine Priorität.
Wie ist Putins Vorgehen gegen den Ölmagnaten
Chodorkowski zu verstehen?
Er gehörte zu den Oligarchen, die sich in den 90er
Jahren riesiges Kapital angeschafft und keinen sozialen
Verpflichtungen, wie Steuern zu bezahlen, nachgegangen
sind. Die durchgeführte Privatisierung war amoralisch
und wurde nie von den Menschen akzeptiert. Putin
Stichwort „Berichterstattung in den Medien“ über und
in Russland…
Ich bin nach Deutschland übergesiedelt und war
voll von idealistischen Vorstellungen vom »freien
Westen«. Dann war ich äußert schockiert von
einseitigen, sogar feindlichen Pressestimmen. Ich
habe kaum gründliche analytische Kommentare,
Berichte ohne negative politische Nuancen über
Russland gelesen, mit Ausnahme von Peter SchollLatour. Dies kann man in einem gebildeten Land
nicht durch Inkompetenz erklären. Es herrscht gezielt
Manipulation, Gehirnwäsche. Gezeigt werden entweder
besoffene Bauern, geschmacklose Reiche oder Putin
als machtgieriges, Blut trinkendes Monster. Lächerlich!
Die Pressefreiheit in Russland hat unter Wladimir Putin
extrem gelitten. Gab es in den 90er Jahren Pluralität
(wenn auch keine Unabhängigkeit), ist jetzt das gesamte
Fernsehen auf die Linie des Kreml gebracht worden.
Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen wird die Macht des
Präsidenten inszeniert; oppositionelle und kritische
Stimmen werden systematisch diskreditiert. In den
Printmedien gibt es zwar Inseln der Pressefreiheit,
aber die Verbreitung und der Einfluss von Zeitungen
ist begrenzt. Das Internet ist zum Instrument für freie
Kommunikation und Berichterstattung geworden, aber
auch hier gibt es Fälle von Zensur und Einschüchterung
(z.B. Gerichtsverfahren vorgeblich wegen extremistischer
Inhalte oder Beamtenbeleidigung). In den Provinzen
werden unabhängige Medien regelmäßig durch
Lokalpolitiker unter Druck gesetzt.
den Russen nationale Feindlichkeit, aufgrund der ca. 150
Völker auf russischem Territorium. Um uns besser zu
verstehen, müssen wir kommunizieren, Bekanntschaften
schließen. Ein Gast ist für den Russen König. Es wird
viel gegessen, getrunken, diskutiert und anschließend
Freundschaft bis zum Tod versprochen.RoG beschränkt
sich darauf, die Entwicklung der Pressefreiheit in Russland
zu kommentieren. Um diese steht es derzeit schlecht
und RoG setzt sich dafür ein, dass in Russland eine
unabhängige, pluralistische und verantwortungsbewusste
Presse entstehen kann. Um in Russland Gehör zu finden, ist
es wichtig, die Besonderheiten des Landes gut zu kennen,
RoG hat deshalb Recherche zur und Expertise für die
ehemalige Sowjetunion verstärkt.
Elina Feist, Ärztin, viel älter als 27 Jahre, seit 2000 in
Berlin. Ihre Verwandtschaft lebt in Sibirien, Moskau und
Weißrussland.
Die deutsche Sektion von Reporter ohne Grenzen (für
RoG im Interview Jakob Preuss) hat seit Juni 2007 einen
GUS- Schwerpunkt eingerichtet und arbeitet somit
verstärkt zu den Ländern der Gemeinschaft Unabhängiger
Staaten, dem Zusammenschluss von zwölf ehemaligen
Sowjetrepubliken. Wir recherchieren zu Einzelfällen,
betreiben Lobbyarbeit bei der Bundesregierung und
versuchen Journalisten in Not zu helfen.
Die Fragen stellte Maximilian Staude.
WIR SIND
ÜBERALL
ZU HABEN
In D e r N a c h s t e n
Ausgabe
ZUTRITT
VERBOTEN
OFFENTLICHE RAUME
GANZ PRIVAT
GOOD BYE, STALIN! GESCHICHTEN
AUS EINER SCHRUMPFENDEN
(EISENHÜTTEN)-STADT.
AUS ZWEI MACH EINS: DER FREEDOM
TOWER IN NEW YORK
SOZIALTREFF
SHOPPING MALL
Die nächste Ausgabe von
Sacco und Vanzetti
erscheint am 14. März 2008.
Foto [M]: photocase.de
Foto: Ruth Steinhof
impressum
Sacco und Vanzetti wird an fast allen Unis in den neuen
Ländern verteilt.
Internet: myspace.com/saccoundvanzetti
Redaktion: Thomas Feske (V.i.S.d.P.), Martin Schirdewan
Autoren dieser Ausgabe: Susan Diehm, Agata Waleczek,
Claudia Goldberg, Eva Flemming, Anna Lehmann, Ina
Beyer, Karsten Schmidt, Andreas Voland, Lisa-Sophia
Preller, Frank Hammer, Maximilian Staude. Unter
Mitarbeit von: Stefan Rudi, Olga Petrushko, Sebastian
von Brainwashed, Elina, ASW, Reporter ohne Grenzen,
PaCo, Florian Bielefeldt. Graphische Gestaltung:
Stephan König, Martin Deffner, genausoundanders.com
Herausgeber: Neues Deutschland Druckerei und Verlag
GmbH Projektmanagement: Christoph Nitz Anzeigen:
Dr. Friedrun Hardt (Leitung) (030) 2978-1841, Sabine
Weigelt (030) 2978-1842, E-Mail: [email protected],
Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 18 vom 1. Januar 2008.
Täglich. Kritisch. Anders.
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