Studying Online Love and Cyber Romance

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Studying Online Love and Cyber Romance
Studying Online Love and Cyber Romance
Nicola Döring
1
1.1
1.2
1.3
Warum sollen wir Cyberromanzen untersuchen?
Gegenstandsdefinition
Verbreitung
Forschungsfragen
2
2.1
2.2
2.3
2.4
Wie können wir Cyberromanzen untersuchen?
Beobachtungsstudien
Befragungssstudien
Erfahrungsberichte
Praxisratschläge
3
Ausblick
Dass Menschen sich im Netz verlieben und im Zuge ihrer Cyberromanzen intensive
Gefühle real erleben, ist mittlerweile zu gut bezeugt, um noch ernsthaft bestritten zu
werden. Dennoch wird oft bezweifelt, dass es im Netz wirklich echte
Liebesbeziehungen gibt. Wie ist es möglich, eine enge, intime Beziehung zu führen,
wenn die Beteiligten vornehmlich durch ihre computervermittelten Botschaften
füreinander präsent sind? Der vorliegende Beitrag plädiert im ersten Abschnitt dafür,
die Cyberromanze nicht als exotische Randerscheinung abzutun, sondern sie als
sozialpsychologischen Forschungsgegenstand ernstzunehmen. Im zweiten Abschnitt
wird dann aufgezeigt, mit welchen Datenerhebungsmethoden wir Informationen über
Cyberromanzen gewinnen können.
1
Warum sollen wir Cyberromanzen untersuchen?
Die Beschäftigung mit Cyberromanzen ist aus drei Gründen sinnvoll: Zunächst
einmal lassen sich Cyberromanzen theoretisch als reguläre soziale Beziehungen
rekonstruieren (1.1). Zudem sind sie mittlerweile unter Netzaktiven recht verbreitet
(1.2). Und schließlich werfen sie im Kontext der Beziehungsforschung eine Reihe
interessanter neuer Forschungsfragen auf (1.3).
1.1
Gegenstandsdefinition
Um zu klären, ob bzw. unter welchen Bedingungen Cyberromanzen echte
romantische Beziehungen sind oder nur Pseudo-Beziehungen darstellen, müssen wir
zunächst unseren Beziehungs-Begriff klären.
Zwischen zwei Personen entsteht eine soziale Beziehung, wenn sie wiederholt
miteinander Kontakt haben, also mehrfach zeitversetzt kommunizieren oder zeitgleich
interagieren. Im Unterschied zum sozialen Kontakt als Einzelereignis erstrecken sich
soziale Beziehungen über mehrere Zeitpunkte, so dass jeder einzelne Kontakt sowohl
von den vorausgegangenen Kontakten als auch von der Erwartung zukünftiger
Kontakte beeinflusst wird. Im Laufe der Beziehungsentwicklung lernen die Beteiligten
einander kennen und müssen eine gemeinsame Beziehungsdefinition aushandeln, etwa
indem sie wechselseitig ihre Erwartungen abklären und diese Beziehungsklärung
immer wieder aktualisieren. Da die Beziehung in den Zeiträumen zwischen den
einzelnen Kontakten weiterbesteht, spielen neben dem offenen Kommunikations- und
Interaktionsverhalten emotionale, motivationale und kognitive Begleitprozesse (z.B.
Sehnsucht empfinden, das nächste Treffen vorbereiten, gemeinsame Erlebnisse
erinnern) eine wichtige Rolle für die Qualität und Kontinuität der Beziehung. Dieses
sozialpsychologische Beziehungsverständnis (vgl. Hinde, 1997) macht keinerlei
Restriktionen hinsichtlich des Mediums der Einzelkontakte und lässt es somit
theoretisch zu, auch dann von echten sozialen Beziehungen zu sprechen, wenn die
Beteiligten ihre Kontakte vorwiegend oder ausschließlich computervermittelt
realisieren.
Solche primär auf computervermittelten Kontakten basierenden Beziehungen, bei
denen typischerweise schon der Erstkontakt im Netz stattfindet, heißen heute
Netzbeziehungen oder Cyberbeziehungen. Damit grenzt man sie von "herkömmlichen"
Beziehungen ab, bei denen der Erstkontakt und wichtige folgende Kontakte Face-toFace stattfinden. Diese herkömmlichen Beziehungen werden im Netz-Diskurs nun als
Offline-Beziehungen, Real-Life-Beziehungen, 3D-relationships oder in-person
relationships bezeichnet.
Soziale Beziehungen lassen sich grob in formale (z.B. Verkäufer-Kunde) und
persönliche (z.B. Vater-Sohn) Beziehungen unterteilen, wobei die persönlichen
Beziehungen noch in starke (z.B. Freundschaft) und schwache (z.B. Bekanntschaft)
Bindungen zerfallen. Romantische Beziehungen (weitgehend synonym: Liebes- oder
Partnerschaftsbeziehungen) sind starke persönliche Bindungen, die sich durch
Wählbarkeit von Verwandtschaftsbeziehungen und durch offene Sexualität sowohl
von Verwandtschafts- als auch von Freundschaftsbeziehungen deutlich unterscheiden.
Leidenschaft (passion), Intimität (intimacy) und Verbindlichkeit (commitment) sind
drei wesentliche Bestimmungsstücke von Liebesbeziehungen (Sternberg, 1986).
Theoretisch spricht nichts dagegen, dass eine Liebesbeziehung vornehmlich oder
ausschließlich auf Netzkontakten basiert, da sich durch den zeitversetzten oder
zeitgleichen Austausch von digitalen Text-, Ton- und/oder Bildbotschaften prinzipiell
Leidenschaft (z.B. geteilte Erregung beim gemeinsamen Ausformulieren sexueller
Fantasien), Intimität (z.B. Unterstützung bei persönlichen Problemen) und
Verbindlichkeit (z.B. regelmäßige Kontaktaufnahme) vermitteln lassen. Ob und wie
Personen im Netz tatsächlich von diesen Optionen Gebrauch machen und somit echte
romantische Netzbeziehungen (synonym: Cyberliebesbeziehungen, Cyberromanzen)
entwickeln, muss dagegen empirisch geklärt werden. Ist bei einer Cyberromanze
mindestens eine involvierte Person gleichzeitig außerhalb des Netzes partnerschaftlich
gebunden, so spricht man von einer Cyberaffäre.
1.2
Verbreitung
Wie verbreitet sind romantische Netzbeziehungen? Obwohl ein Großteil von
Netzkontakten zwischen Personen abläuft, die sich bereits außerhalb des Netzes
kennen (Verdichtung des sozialen Netzwerkes; vgl. Hamman, 1998), finden viele
Menschen nach dem Netz-Einstieg auch neue Ansprechpersonen (Erweiterung des
sozialen Netzwerkes, vgl. Wellman & Gulia, 1999). Bei den hinzukommenden
Netzbeziehungen handelt es sich jedoch überwiegend um schwache Bindungen: Man
tauscht mit Kolleginnen in Übersee Informationen aus oder kommentiert mit anderen
Fans weltweit die letzte Folge der Lieblings-Fernsehserie. Diejenigen, die im Netz
starke Bindungen in Form von Freundschaften oder romantischen Beziehungen
eingehen, stellen innerhalb der Netzpopulation eine Minderheit dar. Eine Minderheit,
die in absoluten Zahlen jedoch immer noch mehrere Millionen Menschen weltweit
umfassen dürfte: 14% von n=601 US-Bürgerinnen und -Bürgern mit Netzzugang
berichteten 1995 in einer telefonischen Repräsentativumfrage, sie hätten im Netz
Menschen kennengelernt, die sie als "Freunde" bezeichnen, wobei leider nicht nach
romantischen und nicht-romantischen Bindungen differenziert wurde (Katz &
Aspden, 1997). Befragt man gezielt Personen, die in Newsgroups aktiv sind, so steigt
der Anteil derjenigen, die enge Netzbeziehungen pflegen, auf 61% (53%
Freundschaften, 8% romantische Beziehungen; Parks & Floyd, 1996). Konzentriert
man sich auf Personen, die an MUDs (Multi User Dungeons/Domains) teilnehmen,
so steigt der Anteil derjenigen, die enge Netzbeziehungen pflegen, sogar auf 91%
(Schildmann, Wirausky & Zielke, 1995) bzw. 93% (67% Freundschaften, 26%
romantische Beziehungen; Parks & Roberts, 1997).
Es lässt sich also festhalten: Bei der romantischen Netzbeziehung handelt es sich
weder um eine exotische Randerscheinung noch um ein epidemisches
Massenphänomen, sondern um eine Erfahrung, die zum Alltag eines nennenswerten
Anteils der exponentiell wachsenden Netzpopulation gehört. Zudem ist auch eine
wachsende Zahl von Personen indirekt von Cyberromanzen und Cyberaffären
betroffen, weil Freunde, Familienangehörige, Partner oder Klienten sich online
verlieben. Ein seit Januar 1997 in der kostenlosen WWW-Zeitschrift Selfhelp &
Psychology Magazine veröffentlicher WWW-Fragebogen zu Cyberromanzen wurde
bis Oktober 1999 von n=2174 Personen beantwortet (64% Frauen, 36% Männer), die
mehrheitlich (70%) schon mindestens eine Cyberromanze im Umfeld miterlebt haben
(Maheu, 1999). Der mit klinischer und sozialpsychologischer Internet-Forschung
befasste Psychologe Storm King (1999, o.S.) liefert folgende anekdotische Evidenz
für die Veralltäglichung von Cyberromanzen:
This author has presented at several psychology conferences, talking about Internet interpersonal
relationships. At each of four presentations, the audience, composed of psychologists and
mental health workers, was asked to raise their hand if they knew of someone (friend, family or
client) that had partaken in a cyber-romance. Each time, of the approximately 50 people in the
audience, about half the hands went up.
Dass Cyberromanzen nicht selten auch Cyberaffären sind, ergibt sich aus der
sozialstatistischen Zusammensetzung der Netzpopulation, in der Singles in der
Minderheit sind. Von den n=9.177 Netzaktiven (14% Frauen, 86% Männer), die an
der WWW-Umfrage von Cooper, Scherer, Boies und Gordon (1999) teilgenommen
hatten, waren 80% partnerschaftlich gebunden und rund 50% verheiratet, was den
Verhältnissen außerhalb des Netzes entspricht: Auch die Hochtechnologie-Nationen
sind heute keine "Single-Gesellschaften".
1.3
Forschungsfragen
Wer verliebt sich eigentlich bevorzugt im Netz? Welche Netzforen sind für ein
romantisches Kennenlernen und dann für eine Beziehungsvertiefung einschlägig?
Welche Personen- und Verhaltensmerkmale sind für die interpersonale (und speziell
für die erotisch-sexuelle) Attraktion ausschlaggebend, wenn wir einander im Netz
zunächst nur in Form unserer maschinenschriftlichen Textbeiträge gegenübertreten?
Wie, wann und aus welchen Gründen einigen sich Menschen nach einem ersten
Kennenlernen per Chat, MUD oder Website darauf, zum privaten E-Mail-Kontakt,
zum Telefonat, zum Fotoaustausch und zum persönlichen Treffen überzugehen –
oder eben auf solche Medienwechsel bewusst zu verzichten und damit den
"virtuellen" Charakter der Beziehung beizubehalten? Wie gehen die in Cyberromanzen
Involvierten damit um, dass man bei der computervermittelten Textkommunikation
die eigene Selbstdarstellung viel besser kontrollieren kann als in Face-to-FaceSituationen? Welche Rolle spielen bei der Online-Liebe etwa taktische
Selbstdarstellung (z.B. bewusstes Verbergen bestimmter Merkmale der eigenen
Person oder der Lebenssituation) auf der einen und gesteigertes Misstrauen auf der
anderen Seite? Wie verbreitet ist die "Liebe auf den ersten Klick" bzw. zu welchem
Zeitpunkt im Verlaufe des medial vermittelten Kennenlernens sprechen die
Beteiligten davon, sich verliebt zu haben oder einander wirklich zu lieben? Woran
machen Online-Verliebte fest, dass sie nun offiziell ein Paar sind? Wie verbindlich
schätzen sie ihre Cyberromanzen ein? Wenn im Laufe der Vertiefung einer
Cyberromanze diverse Medienwechsel bis hin zum Face-to-Face-Treffen
stattgefunden haben, wird die romantische Beziehung zunehmend weniger als OnlineBeziehung und zunehmend mehr als Offline-Beziehung aufgefasst. Welche
Definitionskriterien legen hier die Beteiligten an, um die dichotome Konstruktion
Online- versus Offline-Beziehung auf das Kontinuum der relativen Bedeutung der
Netzkommunikation innerhalb der Beziehung abzubilden? Wie groß ist der Anteil der
binationalen und Long-Distance-Beziehungen unter den Cyberromanzen? Wie gehen
Online-Verliebte mit den (zum Teil beträchtlichen) geografischen Distanzen und
kulturellen Differenzen um? Derartige Forschungsfragen zielen zunächst einmal auf
eine detaillierte Gegenstandsbeschreibung ab. Systematische Untersuchungen mögen
dabei die Auftretenshäufigkeit und/oder die subjektive Bedeutung jener
Besonderheiten von Cyberromanzen relativieren, die in der breiten Öffentlichkeit so
oft Aufsehen erregen (z.B. Cyberhochzeit oder Online-Geschlechtertausch).
Neben einer eher gegenstandsnahen deskriptiven Auseinandersetzung mit
Cyberromanzen sind theoriegeleitete Studien wünschenswert, die den Netzkontext als
neues Bewährungsfeld für bekannte sozialwissenschaftliche Eindrucksbildungs-,
Selbstdarstellungs-, Attraktions- und Beziehungs-Theorien nutzen. Auch wenn man
andere Menschen im Netz zunächst nicht sieht, macht man sich doch aufgrund ihres
Kommunikationsverhaltens ein Bild von ihnen. Hilfsbereitschaft, Offenheit,
Spontaneität und Einfühlungsvermögen des Gegenübers sind im interpersonalen
Austausch außerhalb wie innerhalb des Netzes wertvolle Güter. Die Befürchtung,
dass egozentrische, sozial inkompetente, beziehungsunfähige Menschen im Netz
bequem und risikolos auf Knopfdruck soziale Kontakte konsumieren, ist vor diesem
Hintergrund zu hinterfragen, denn schließlich ist die wohlwollende Zuwendung zu
anderen Menschen auch im Netz Voraussetzung dafür, dass diese einen überhaupt
näher kennenlernen möchten. Konzepte wie Intimität, Selbstoffenbarung, soziale
Kompetenz oder zwischenmenschliche Nähe wären auf ihre Medienspezifität hin zu
prüfen. So wird intuitiv immer wieder behauptet, "echte" zwischenmenschliche Nähe
würde den Face-to-Face-Kontakt erfordern, ohne dass die psychosozialen
Dimensionen solcher Echtheits-Zuschreibungen geklärt sind. Fragwürdig ist auch die
verbreitete Befürchtung, dass Netzbeziehungen, die für jüngere Generationen eine
zunehmend wichtige Rolle spielen, Einbußen in der sozialen Kompetenz nach sich
ziehen. Denn schließlich erfordert computervermittelte Beziehungspflege neben
technischen Fertigkeiten der Systembedienung auch diverse soziale Fertigkeiten wie
etwa einen besonders bewussten Umgang mit Emotionen und körperlichen
Befindlichkeiten, da diese in größerem Umfang explizit verbalisiert werden müssen.
Wenn die erste Liebe bei Teenagern immer häufiger eine Online-Liebe ist, müssen
dann bestimmte entwickungspsychologische und sozialisationstheoretische Konzepte
reformuliert werden? Wenn Cyberromanzen emotionale Intimität besonders betonen,
weil die Beteiligten in der Regel tage-, wochen- und monatelang ausschließlich verbal
miteinander kommunizieren und sonst keinen gemeinsamen Aktivitäten nachgehen,
sollten sie dann als "weibliche" Bindungsformen charakterisiert werden oder wären sie
angesichts der Tatsache engagierter männlicher Beteiligung nicht ein Anlass, die These
zweier distinkter geschlechtsspezifischer Kommunikationsstile zu hinterfragen?
Nicht die wieder und wieder kolportierte Möglichkeit, auf einen
Geschlechterschwindel hereinzufallen oder sich im Netz als Neutrum zu präsentieren,
macht Cyberbeziehungen geschlechtertheoretisch so interessant, sondern eher die
Tatsache, dass wir einander im Netz einerseits explizit als Männer bzw. als Frauen
begegnen und begehren und andererseits Formen der Annäherung und
Selbstdarstellung realisieren, die von herkömmlichen Ritualen homo-, hetero- oder
bisexueller Paradigmen abweichen mögen.
Untersuchungen über Cyberromanzen sind nicht nur ein Beitrag zur
grundlagenwissenschaftlichen Beziehungsforschung, sondern sie sind auch aus
angewandter Perspektive relevant. Ein exzessives Engagement in Cyberromanzen
kann unter bestimmten Bedingungen Indikator und/oder Katalysator psychosozialer
Probleme und Störungen sein: So schränken einige Menschen im Zuge von
Cyberromanzen ihren Verhaltensraum drastisch ein und steigern ihre Netzaktivitäten
auch dann noch, wenn diese bereits ernsthafte negative Konsequenzen im
psychischen, physischen oder sozialen Bereich nach sich ziehen. Wenn eine Person
nächtelang am Rechner sitzt, um mit der Online-Liebe zu chatten, darüber alle anderen
Lebensbereiche vernachlässigt und trotzdem die Online-Zeit eher noch steigert, wird
heute nicht selten von "Online-Sucht" gesprochen (vgl. Young, 1998). Eine solche
pathologisierende Etikettierung ist jedoch problematisch. Kontrollverlust,
Toleranzentwicklung und Entzugserscheinungen sind zwar Kennzeichen der Sucht,
aber eben auch der Verliebtheit. Hinter enthusiastischer Netzaktivität steckt oftmals
keine antisoziale Technik-Begeisterung, sondern eine – mehr oder weniger
konflikthafte – Suche nach zwischenmenschlicher Nähe. Im Zusammenhang mit
problematischen
Mustern
der
Netznutzung
wären
also
stärker
Beziehungspathologien und deren Determinanten und Moderatoren zu thematisieren
anstatt das Problem auf das Medium zu projizieren. Da für einen wachsenden Anteil
in der Bevölkerung computervermittelte Kommunikation zum Alltag gehört, werden
Cyberromanzen und Cyberaffären auch häufiger im Kontext von psychologischer
Beratung und Therapie zum Thema (vgl. Cooper et al., 1999; Greenfield & Cooper,
o.J.). Ein sachkundiger Umgang mit diesen neuen Beziehungsformen und ihren
vielfältigen psychosozialen Funktionen (z.B. neben Problemflucht auch
Kompensation oder Exploration) ist deswegen wünschenswert.
2
Wie können wir Cyberromanzen untersuchen?
Wenn wir uns ein Bild von den Besonderheiten romantischer Netzbeziehungen
verschaffen wollen, können wir auf ganz unterschiedliche Datenerhebungsmethoden
zurückgreifen. Beobachtungstudien (2.1), Befragungsstudien (2.2), Erfahrungsberichte
(2.3) und Praxisratschläge (2.4) sind vier besonders wichtige Datenquellen.
2.1
Beobachtungsstudien
Die Beobachtung computervermittelter Kommunikations- und Interaktionsprozesse
ist dadurch erleichtert, dass medienbedingt eine vollständige Aufzeichnung des
interpersonalen Geschehens möglich ist, ohne dass dafür zusätzliche Technik
erforderlich wäre und ohne dass die Beobachteten den Registrierungsprozess
bemerken. So können wir beispielsweise das öffentliche Verhalten in Mailinglisten,
Newsgroups, Chat-Foren oder MUDs (Multi User Dungeons) stunden-, tage- und
wochenlang lückenlos mitprotokollieren und anhand dieser Beobachtungsdaten
Flirtverhalten, Kennenlernprozesse, aber auch die Kommunikation innerhalb von
Paarbeziehungen untersuchen. Die Auswertung der automatisch erstellten
Beobachtungsprotokolle mag qualitativ und/oder quantitativ erfolgen. Bislang sind
Beobachtungsstudien, die romantische Netzbeziehungen systematisch anhand von
automatischen Beobachtungsprotokollen untersuchen, nicht zu finden, so dass hier
die Art und Aussagekraft des Datenmaterials an zwei Protokollen von ChatInteraktionen (sog. Log-Files) exemplarisch gezeigt werden soll:
Das erste Log-File dokumentiert die Begegnung von Bekin und abc auf dem primär
deutschsprachigen Chat-Channel #germany (18.2.1999; nur die Äußerungen der
beiden Fokuspersonen werden wiedergegeben): Beide klären in den ersten zehn
Minuten des Online-Gesprächs Namen, Herkunftsorte und Freizeitinteressen ab. Die
eingestreuten Smileys signalisieren positive Stimmung, die raschen Reaktionen
wechselseitiges Interesse. Small Talk steht in Face-to-Face-Situationen ebenso wie im
Netz typischerweise am Beginn eines möglichen näheren Kennenlernens:
[18:16] <Bekin> are u here abc
[18:16] <abc> yes
[18:16] <Bekin> ok
[18:17] <Bekin> whats ur name
[18:17] <abc> Sandra
[18:17] <Bekin> my name is bekin
[18:17] <abc> Nice to meet you bekin :)
[18:17] <Bekin> and i am Türkish
[18:17] <abc> :)
[18:18] <Bekin> do u spek german
[18:18] <abc> So, when did you came into germany?
[18:18] <abc> No, I can understand, but can't speak
[18:18] <Bekin> i born here
[18:19] <abc> I have learned german language in primary school
[18:19] <Bekin> :-)
[18:19] <abc> but as I am working in english language, I have forgot lots of words
[18:19] <Bekin> and i learned English in Primary scool
[18:19] <abc> :)
[18:20] <abc> I am trying to learn German language again
[18:20] <Bekin> Wow thats great
[18:20] <abc> thanks
[18:21] <Bekin> do u speak Türkish ? :-)
[18:21] <abc> No, just Bosnian ... but we have some similar words
[18:21] <Bekin> what a words ?
[18:22] <abc> I don't know precisely but lots of Bosnian words are Turkish origin
[18:23] <Bekin> yes
[18:23] <Bekin> are u visit Germany?
[18:23] <abc> Long time ago
[18:23] <Bekin> when ?
[18:23] <abc> I was in Koeln
[18:24] <Bekin> Köln is a Wunderfull City
[18:24] <abc> 1987
[18:24] <abc> yes, it is
[18:24] <Bekin> but the city where i leave is better
[18:24] <abc> where do you live?
[18:25] <Bekin> Mannheim
[18:25] <Bekin> u know
[18:25] <abc> yes I know, but I never been there
[18:26] <abc> what are you doing except working
Das zweite Log-File dokumentiert eine Paar-Kommunikation auf dem ChatChannel #38plus-de (19.2.1999): Morrison und Janina, die sich auch persönlich
kennen und offiziell ein Liebespaar sind, sprechen sich auf ihrem Stamm-Channel mit
Kosenamen an (Morri, Jani, Schatz). Janina betont gegenüber einem Dritten
(BlueMan) die körperliche Exklusivität ihrer Beziehung zu Morrison und küsst
diesen virtuell. Morrison spielt für Janina channel-öffentlich ein Liebeslied ab. Es
wird deutlich, wie die Beteiligten bei der computervermittelten Kommunikation
verbale und nonverbale Ausdrucksmittel einsetzen, um einen freundlich-interessierten
Erstkontakt (Bekin und abc) oder ein verliebt-überschwengliches Wiedersehen (Janina
und Morrison) zu bewerkstelligen:
[15:31] *** Joins: Morrison ([email protected])
[15:31] <Morrison> moin fans :))
[15:31] <janina> morri !!!!
[15:32] <Morrison> jani, :))))))))))))))))))))))
[15:34] <Morrison> wie ist denn so die allgemeine stimmung?
[15:35] * janina is traurich, weil se bald gehen muss
[15:37] <BlueMan> janina: du mußt bald gehen???
[15:38] <janina> morri, mein schatz, warst du gestern etwa auch hier?????
[15:38] <Morrison> jani, ich doch nicht
[15:38] <janina> blue, naja, n bissel bleib ich noch
[15:39] <BlueMan> janina: *freu*
[15:39] <janina> blue, auch *freu* (aber knuddel mich nich wieder, sonst wird der morri
böse)
[15:40] <BlueMan> janina: mir doch egal *frechgrins*
* Morrison plays i can't stop loving you.mp_ 3304kb
[15:47] <janina> morri, nr. 10 is einfach der schoenste song *kuss*
[15:47] <Morrison> jani, man kann es nicht oft genug spielen
Feldbeobachtungen, die eine längere Teilnahme an einzelnen Netzforen und auch
Feldgespräche mit den Akteurinnen und Akteuren beinhalten, erlauben die
Rekonstruktion romantischer Netzbeziehungen vom ersten Kennenlernen bis zum
Happy End, zum Beziehungsabbruch oder zum Beziehungswandel. Die aktive
Teilnahme am jeweiligen Netzforum und der private Kontakt zu den
Forumsmitgliedern gewähren bei der Feldforschung Einblick in die Lebenssituation
der Beteiligten. So bringt Sannicolas (1997, o.S.) von seiner einjährigen
Feldbeobachtung in diversen Chat-Foren (SIGs: Special Interest Groups) des OnlineDienstes CompuServe folgende Informationen über die "Erfolgsquote" von ChatRomanzen mit:
"In the year that this researcher has spent visiting SIG's I have seen approximately 50
relationships form on-line. In many of those instances, one party has moved a great distance to
be with the other person, without giving much time to spend time together face to face getting
to know one another. All of the knowledge about the other person has come from their
interactions over the "puter". Thus, it is not surprising that out of these approximately 50
relationships, only a very small number (3) have worked out to last more than 6 months."
Debatin (1997, o.S.) frequentierte als teilnehmender Beobachter von Dezember
1995 bis Juli 1997 ein namentlich nicht genanntes Chat-Forum von CompuServe und
gewann dadurch Einblick in die Struktur der dort ansässigen virtuellen Gruppe sowie
in die Beziehungen zwischen den einzelnen Gruppenmitgliedern. Der Autor
präsentiert Beobachtungsprotokolle einzelner Channel-Diskussionen und interpretiert
sie vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen auf dem Channel. So kann er den
vermeintlichen Leukämietod einer Forumsteilnehmerin als dramatisierten Rückzug aus
ihrer komplizierten Online-Liebesbeziehung aufklären:
"E. litt, wie sie vielen Regulars im Vertrauen erzählte, an Leukämie und es hieß dann nach
ihrem Verschwinden aus dem Forum, daß sie gestorben sei. Ihr Tod löste im Forum große
Trauer aus und Showan, ihr Cyber-Lover, verschwand für mehrere Monate aus dem Forum.
Später stellte sich heraus, daß E. ihre Krankheit und ihren Tod nur inszeniert hatte, um so aus
der emotional zu komplizierten Affäre mit Showan herauszukommen: Der ca. 15 Jahre jüngere,
ledige Showan wollte mit E., die in einer unglücklichen Ehe lebte, ein "neues Leben" beginnen,
was für sie nicht in Frage kam. Einige Monate danach setzte sich E. aber mit Showan erneut in
Verbindung und kam dann sogar auch von Zeit zu Zeit ins Forum zurück."
Automatische Beobachtungsprotokolle dokumentieren das Verhalten der
Beteiligten in öffentlichen Foren. Mittels teilnehmender Feldbeobachtung erhalten wir
darüber hinaus Informationen über das Geschehen hinter den Kulissen und das
subjektive Erleben der Beteiligten. Wie private Netzkommunikation sich im Einzelnen
gestaltet, kann zwar nicht von Außenstehenden, wohl aber von den Involvierten
selbst registriert werden. Viele Mail-Programme speichern zunächst sowohl die
verschickten als auch die erhaltenen E-Mails, so dass eine Netznutzerin nach dem
Blick in ihre private Mailbox präzise Auskunft über die Kommunikation mit ihrer
Cyberliebe geben kann (Story
http://www.lovelife.com/CLS/):
20
im Archive of
Cyber
Love Stories:
"It has been 2 months now that we've been together and so far I have received a total of 140 email messages and he has approx. 160 from me."
Netzaktive archivieren typischerweise große Teile ihrer E-Mail-Korrespondenz,
insbesondere natürlich ihre elektronischen Liebesbriefe. Sie fertigen zuweilen auch
Protokolle ihrer privaten Online-Gespräche an, was bei vielen Chat- und MUDProgrammen problemlos möglich ist (sogar ohne dass die Gegenseite dies
mitbekommt). Damit entstehen objektive Verhaltensdaten über intime soziale
Ereignisse, die undokumentiert bleiben und allenfalls aus der Erinnerung
wiedergegeben werden können, wenn die Beteiligten auf nicht-medialem Wege
miteinander in Verbindung treten. Protokolle von privaten (und mehr oder minder
offen sexuellen) Netzkontakten im Kontext von Cyberromanzen gehen zuweilen in
Erfahrungsberichte (vgl. Abschnitt 2.3) ein. Sie lassen sich als Datenmaterial aber
auch für die empirische Sozialforschung nutzen, sofern die Beteiligten sich
einverstanden erklären, die entsprechenden Dokumente auszuhändigen.
Generell stellt die automatische Registrierung von computervermittelten
Kommunikationsprozessen eine besonders ökonomische und ökologisch valide Form
der Datenerhebung dar. Sie ist jedoch mit ethischen Problemen behaftet. Kernproblem
ist dabei die Tatsache, dass Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit in den
meisten Netzkontexten bis heute Gegenstand äußerst kontroverser Diskurse sind. So
wird im einen Extrem sowohl von Beteiligten als auch von Außenstehenden
behauptet, jegliche nicht-geschlossene Gruppenkommunikation im Netz sei
grundsätzlich öffentlich und stünde damit qua implizitem Einverständnis allen
Interessierten zur Dokumentation und Analyse frei zur Verfügung, wie das etwa bei
Fernseh-Talkshows oder Podiumsdiskussionen auf politischen Veranstaltungen der
Fall ist. Die Gegenposition proklamiert, dass Netzforen eben gerade nicht eine
disperse breite Öffentlichkeit adressieren, sondern einen internen Austausch
vollziehen, der sich nur an die aktuell Beteiligten richtet. Eine verdeckte
Protokollierung von Gruppeninteraktionen im Netz wäre also etwa gleichzusetzen
mit dem heimlichen Aufzeichnen einer Tischrunde in einem Lokal oder einer
Gesprächsrunde auf einer Party und käme damit einer unethischen Verletzung der
Privatsphäre gleich. Es erscheint sinnvoll, der Heterogenität von Netzkontexten und
Forschungsinteressen dadurch Rechnung zu tragen, dass anstelle einer Orientierung an
pauschalen Richtlinien jeweils im Einzelfall ethische Probleme bedacht und
offengelegt werden. So sind bei den beiden in diesem Abschnitt präsentierten LogFiles aus Datenschutz-Gründen die Namen und Rechneradressen aller beteiligten
Personen verändert worden. Anonymität bleibt also gewahrt, auch wenn zu
Dokumentationszwecken die Namen der Foren und die Erhebungszeitpunkte genannt
werden.
2.2
Befragungsstudien
Befragungsmethoden eignen sich zur Untersuchung romantischer Netzbeziehungen
besonders gut, da sie vergangene Ereignisse ebenso wie Zukunftserwartungen erfassen
und dabei auch jene Kontakterfahrungen einbeziehen können, die der Beobachtung
verborgen bleiben. Befragungsstudien, in denen Personen subjektive Interpretationen
über ihre Online-Romanzen mitteilen sollen, arbeiten teils mit Interviews, teils mit
Fragebögen.
Bei Interviews kommt es zu einem unmittelbaren Wortwechsel zwischen
Forschenden und Beforschten. Forschungs-Interviews lassen sich Face-to-Face, am
Telefon, per Chat oder im MUD durchführen. Standardisierte Interviews folgen dabei
einem festen Fragenkatalog und fordern von den Befragten die Wahl zwischen
vorgefertigten Antwortalternativen. Auf diese Weise lassen sich viele Personen
effizient befragen und die erhaltenen Antworten gut vergleichen (für eine
standardisierte Telefonumfrage zu persönlichen Netzbeziehungen siehe Katz &
Aspden, 1997). In halboffenen oder offenen Interviews dagegen werden die Fragen
dem Gesprächsverlauf angepasst, zudem haben die Befragten Gelegenheit, sich in
ihren eigenen Worten zu äußern. Vielfalt und Menge des auf diese Weise an relativ
kleinen Personenzahlen gewonnenen Datenmaterials gestatten zwar sehr detaillierte
Einzelfallbeschreibungen, sie lassen aber kaum Rückschlüsse darauf zu, wie verbreitet
oder typisch die gefundenen Phänomene und Konstellationen sind. Face-to-FaceInterviews, in denen unter anderem Netzbeziehungen thematisiert werden, wurden als
halboffene bzw. Leitfaden-Interviews etwa von Wetzstein, Dahm, Steinmetz, Lentes,
Schampaul und Eckert (1995) und als offene bzw. klinische Interviews von Turkle
(1995) durchgeführt. In beiden Untersuchungsberichten sind die Interviews leider nur
in Form einzelner Zitate dokumentiert. Shaw (1997) stellte seinen n=12
studentischen Informanten frei, ob sie im Rahmen seiner offenen Befragungsstudie
per E-Mail, per Chat oder per Telefon zu ihren Erfahrungen mit schwulen ChatKontakten Auskunft geben wollten. Albright und Conran (1995) interviewten n=33
Chatterinnen und Chatter über ihre Cyberromanzen und benutzten dabei einen
Leitfaden, der aus drei Themenblöcken bestand:
Initial Meeting and Attraction
Where and how did you meet the person or persons with whom you became
intimately involved? What first attracted you? What got you interested? What
fascinated you most? How did you know this person (or persons) was "right"
for you?
Development of Relationship
What was the frequency, intensity, and content of your online
communications? How did you augment and shape your messages for each
other? Did you speak on the telephone, send photos, and plan a time to
fleshmeet? If you did some or all of these, how was it decided and what
happened? How did your relationship transform, grow, or end over time? Did
you develop an offline relationship? If so, how did that evolve, and what, if
any online communication was still used?
Truth and Deception
How did you learn to trust the other or others? How quickly did you
experience a meeting of the minds, a sense of intimacy? What, if any, nice
surprises or disappointments did you experience? What, if any, fantasies or
simulations did you do online?
In Fragebogen-Studien kommt es nicht zu einem unmittelbaren Kontakt zwischen
Forschenden und Beforschten. Die Fragen sind im Fragebogen fixiert, in den die
Antworten einzutragen sind. Der Fragebogen kann auf Papier persönlich ausgehändigt
oder postalisch verschickt, als private E-Mail verteilt, als Posting in eine Mailingliste
oder Newsgroup geschickt und/oder als Online-Dokument im WWW bereitgestellt
werden. Die Wahl des Distributionsmediums steht dabei in engem Zusammenhang
mit der Stichprobenkonstruktion.
Die Kommunikationswissenschaftlerin Traci Anderson (1999a) untersucht
momentan die Erfahrung der Cyberliebe anhand eines WWW-Fragebogens, der
geschlossene Fragen (z.B. zu den verwendeten Kommunikationsmedien und zur
Beziehungsdauer) ebenso enthält wie offene Fragen (z.B. "How do you feel about
online romantic relationships compared to in-person romantic relationships?" oder
"How do you feel about your current or most recent online romantic partner?").
Ergänzend wird die generelle Einstellung zu romantischer Liebe auf einer Skala erfasst
(Beispiel-Item: "I believe that to be truly in love is to be in love forever."). In einem
zweiten WWW-Fragebogen (Anderson, 1999b) geht es um Cyberaffären. Neben
Fragen zur Quantität und Qualität der Internet-Nutzung und zu
Persönlichkeitsdispositionen wird nach direkter Beteiligung an oder indirekter
Betroffenheit durch Cyberaffären gefragt. Die seit drei Jahren laufende WWWFragebogen-Studie des Selfhelp & Psychology Magazine (Maheu, 1999) befasst sich
vor allem mit der sexuellen Dimension von Cyberromanzen (Beispiel-Item: "Can
cybersex be as satisfying as physical sex?") und lässt die Befragungspersonen auch
eine allgemeine Einschätzung "pro" oder "contra" Cyberromanzen abgeben. Die
Psychologin Pamela McManus (1999) adressiert in ihrem Online Romance Survey
unter anderem auch das Publikmachen der Cyberbeziehung im sozialen Netzwerk
(z.B. vor Eltern oder Freunden) sowie die darauf folgenden Reaktionen des Umfeldes.
WWW-Fragebogen-Studien, die mit Selbstselektions-Stichproben arbeiten, wie das
etwa bei Anderson (1999a, 1999b), Maheu (1999) und McManus (1999) der Fall ist,
werden mit höherer Wahrscheinlichkeit von Personen beantwortet, die sowohl
besonders netzaktiv sind (und somit den Fragenbogen überhaupt erst finden) als auch
besonderes Interesse an Fragen der Romantik und Erotik im Netz haben (und somit
motivierter sind, den Fragebogen
zu bearbeiten). Untersuchungen an
Selbstselektions-Stichproben überschätzen also tendenziell die Häufigkeit, Intensität
und Bedeutung von Online-Romanzen. Demgegenüber sind die mit Zufallsprozessen
arbeitenden Stichprobenkonstruktionen bei Parks und Floyd (1995) sowie Parks und
Roberts (1997) eher gegen solche Verzerrungen gefeit.
Sozialwissenschaftliche Befragungen, seien es Interview- oder FragebogenErhebungen, sind im Bereich der Netzbeziehungsforschung deutlich häufiger
anzutreffen als die in Abschnitt 2.1 dargestellten Beobachtungsstudien. Da es sich bei
wissenschaftlichen Interviews und Fragebogenerhebungen um reaktive Methoden
handelt, ist bei den freiwillig Befragten explizites Einverständnis zur
Untersuchungsteilnahme gegeben. Insbesondere im Zuge von Online-Umfragen ist
aber darauf zu achten, dass die routinemäßig zugesicherte Anonymität wirklich
gewährleistet ist und die Probanden nicht unwissentlich identifizierende
Informationen wie etwa E-Mail- oder IP-Adressen preisgeben (z.B. Verweis auf
anonyme Remailer).
2.3
Erfahrungsberichte
Erfahrungsberichte aus erster Hand tauchen vereinzelt in der sozialwissenschaftlichen
Fachliteratur auf. In den seltensten Fällen stammen sie jedoch von
Wissenschaftlerinnen oder Wissenschaftlern selbst, die beim vorherrschenden
Wissenschaftsverständnis womöglich ihre professionelle Identität gefährden würden,
wenn sie liebes- und sexualitätsbezogene Selbstaspekte zu erkennen gäben.
Stattdessen wird eher auf Gastbeiträge zurückgegriffen: So kommt im Sammelband
Wired Women die Programmiererin Ullman (1996) zum Thema E-Mail-Liebe zu
Wort; in der Online-Zeitschrift Cybersociology berichtet die anonyme Autorin Sue
(1997), die ebenfalls nicht sozialwissenschaftlich arbeitet, von ihren Cyber Liaisons.
Die Anthropologin Odzer (1997) verbindet die anschauliche und detaillierte
Berichterstattung über ihre romantischen und sexuellen Netzerfahrungen mit
feministischen und kulturkritischen Reflexionen; als Selbständige ist sie von
akademischen Normen unabhängig.
Der mit Abstand größte Fundus an authentischen Erfahrungsberichten über
Online-Liebesbeziehungen ist freilich im Netz selbst zu finden. Die Inspektion der
Erfahrungsberichte liefert keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass hier in großem Stil
fingierte Selbstdarstellungen lanciert werden, wie das unter dem Stichwort
"Maskerade" der Netzkommunikation oft unterstellt wird. Es scheint aus
psychologischer Sicht ohnehin unplausibel, warum Menschen viel Zeit und Mühe
investieren sollten, um unter einem Pseudonym fiktive Erfahrungsberichte zu
publizieren, wo sie doch im Netz die Möglichkeit haben, gerade jenes an- und
auszusprechen, was sie wirklich bewegt, ohne dabei Gesichtsverlust oder
Diskriminierung im unmittelbaren sozialen Umfeld (z.B. Familie, Kollegenkreis)
befürchten zu müssen.
Was sie unter dem Nickname Priscilla im Netz erlebt hat, insbesondere ihre
romantische Netzbeziehung mit MrNorth, verarbeitet eine Psychologie-Studentin aus
der Schweiz im Online-Tagebuch, das sie bewusst nicht mit ihrer persönlichen
Homepage verlinkt, sondern auf einer separaten Web-Site anbietet (Priscilla 1999).
Immer wieder lädt Priscilla die Leserschaft ein, auf ihre oft metareflexiven
Tagebucheinträge zu reagieren und publiziert teilweise auch die eingehenden
Kommentare, so dass Dialoge entstehen (z.B. zum Thema "Untreue"). Priscilla
schreibt von April 1998 bis Mai 1999 fast täglich in ihr Online-Tagebuch und
verabschiedet sich dann von der Internet-Welt, die ihr zunehmend als zu vergeistigt
erscheint. Ihr Studienabschluss, die Trennung von ihrem Freund und der Rückzug von
MrNorth liegen zu diesem Zeitpunkt hinter ihr und sie ist im Begriff, ihre erste
Arbeitsstelle anzutreten.
"14. Dezember 1998
Wie sehr einen Wörter in Beschlag nehmen können. MrNorth war ja so weit weg von mir, ich
kannte ihn nicht - und dennoch dachte ich so oft an ihn. Das schwenkende Fähnchen meines Email-Programms, das mir eine neue Nachricht von ihm anzeigte, wurde zum Schlüsselreiz. Und
die Abende, wo wir uns zum Chatten verabredeten, waren die Höhepunkte meiner Tage. Ich
weiss gar nicht mehr, worüber wir immer gesprochen haben. Ich weiss nur noch, dass ich
stundenlang dasass, mit leerem Magen häufig, weil mir die Zeit zu schade war, um noch etwas
zu essen zu kaufen, und lachte. Es war unglaublich. Wie absurd es mir vorkam, nachts in dem
Büro zu sitzen, weit und breit keine Menschenseele mehr, und laut loszulachen. Wir spielten
mit Worten, erfanden gemeinsame Traumwelten, verschrobene Unmöglichkeiten, wir teilten uns
in mehrere Personen auf und sprachen zu viert miteinander, wir waren Pferde, Elefanten,
Nasenbären, fuhren auf einem Wikingerschiff übers Meer - es war eine unglaublich fantastische
Spielwiese, die wir gemeinsam mit Leben erfüllten, eine Welt, wie es sie vorher noch nie
gegeben hatte, weder für ihn noch für mich. Und mit dieser Zauberwelt wuchsen auch die
Gefühle. [...]
15. Dezember 1998
Wann beginnt Untreue? Je länger je mehr kam es vor, dass ich mich dabei ertappte, wie mich
MrNorth durch den Alltag begleitete. Ich kaufte mir einen Pullover und fragte mich, ob der ihm
wohl gefallen würde. Ich ging durch die Strassen und hielt Ausschau nach Männern mit kurzen,
blonden Haaren - denn so viel hatte er mir unterdessen von sich verraten. Ich lag in den Armen
meines Freundes - und dachte an ihn, den ich nie gesehen noch gehört hatte.
Was ist Untreue? Ich hatte ein schlechtes Gewissen dabei. Eines Abends erzählte ich meinem
Freund von meinen unglaublichen Erlebnissen, wollte ihn einweihen, warnen, was weiss ich aber er erfasste nicht, was es wirklich bedeutete. Sprache ist nicht sein Ding, und er hatte wohl
keine Vorstellung davon, wie sehr mich diese Welt der seinen schon entrückt hatte. So blieb ich
weiterhin allein und versuchte, mich in diesem Neuland zurechtzufinden. [....]"
Verbreiteter als ganze Online-Tagebücher sind kürzere autobiografische Zeugnisse,
die typischerweise auf der persönlichen Homepage untergebracht werden.
Cyberliebespaare verlinken gerne ihre Homepages miteinander oder bieten gleich eine
gemeinsame Homepage an. Online-Tagebücher oder private Homepages, die
Erfahrungsberichte über Cyberromanzen enthalten, sind einzeln über Suchmaschinen
und gebündelt über entsprechende Webrings zugänglich. Einschlägige Webrings
(http://www.webring.org/) sind etwa Love On-Line (62 Homepages), Love at first
Byte (82 Homepages), Internet Romance (184 Homepages) oder I Met My Mate on the
Net (241 Homepages), wobei es meist um heterosexuelle Paare geht. Berichte über
schwule oder lesbische Cyberromanzen sind vereinzelt beispielsweise im Queer
Wedding Webring (z.B. Kim & Kellie 1999) oder im Women Loving Women Webring
(z.B. Pedds & Birdie 1999) zu finden.
Schließlich existieren diverse frei zugängliche Online-Archive, die gebündelt
Erfahrungsberichte über Online-Romanzen publizieren. Manche Archive ermöglichen
es, den eigenen Erfahrungsbericht per Online-Formular selbst in das Archiv
einzuspeisen. Auf diesem Wege sind bislang 170 Beiträge in das Archive of Cyber
Love Stories gelangt, das von einem Chat-Forum – dem Hawaii Chat Universe (HCU:
http://www.lovelife.com/CLS/) – angeboten wird (Stand: Oktober 1999). Die fehlende
redaktionelle Kontrolle dieses Archivs schlägt sich darin nieder, dass 54 der 170
Beiträge Doppel-Postings darstellen oder off-topic sind (z.B. Schilderung von
Offline-Romanzen). Die eigentliche Datenbasis besteht also aus n=116
Erfahrungsberichten über Cyberromanzen: 78% (n=89) dieser Beiträge stammen von
Frauen, 22% (n=26) von Männern; bei einem Beitrag war keine
Geschlechtszuordnung möglich. Bei allen beschriebenen Romanzen handelt es sich um
heterosexuelle Beziehungen, was darauf hindeutet, dass die generell geringe
Beteiligung von Männern am Cyberromance- und Cybersex-Diskurs nicht auf
mangelnde Erfahrung mit dem Gegenstand zurückgeführt werden kann, sondern wohl
eher auf geringere Thematisierungsbereitschaft. Das Altersspektrum der Berichtenden
reicht von 15 bis 55 Jahre, demgemäß haben die geschilderten Cyberromanzen auch
einen jeweils ganz unterschiedlichen biografischen Stellenwert. In 59% der Fälle
(n=68) ist den Berichten ein Hinweis auf die Herkunftsorte der Beteiligten zu finden,
wobei nur in 9 Fällen die geografische Distanz gering war (z.B. Nachbarort, gleiche
Stadt), während in allen anderen Fällen mehrere hundert Kilometer Distanz zu
verzeichnen und/oder sogar verschiedene Herkunftsländer und Kontinente beteiligt
waren. In knapp jeder vierten dokumentierten Cyberromanze war mindestens eine
Person verheiratet (n=15) oder unverheiratet (n=12) partnerschaftlich gebunden.
Bei anderen Archiven werden Neueinträge nur von der Archiv-Verwaltung
vorgenommen, der man das Material per E-Mail zuschicken muss. Die zentrale
Archiv-Verwaltung ermöglicht eine Selektion und Rubrizierung der Beiträge. So bietet
die Verwalterin der Web-Site Safer Dating (http://www.saferdating.com/) ein Archiv
mit n=37 True Stories an (Stand: Oktober 1999).
Es ist davon auszugehen, dass vom gesamten Spektrum an Erfahrungen mit
Cyberromanzen
in
Erfahrungsberichten
tendenziell
spektakuläre
Fälle
überrepräsentiert sind, da außergewöhnlich positive oder negative Erlebnisse am
ehesten zur Produktion und Publikation eines Beitrags motivieren. Die im WWW
publizierten Erfahrungsberichte lassen sich insofern aus ethischer Perspektive als für
wissenschaftliche Zwecke frei verfügbares (aber zitationspflichtiges) Material
interpretieren, als das via WWW adressierte Publikum eher noch größer und in seiner
Zusammensetzung unkontrollierbarer ist, als die durch eine wissenschaftliche
Publikation erreichte Zielgruppe. Eine Privatheits-Verletzung durch Verwendung von
WWW-Beiträgen liegt also nicht vor. Ohnehin beinhaltet der Verweis auf die WebQuelle häufig keine Identifizierbarkeit der Berichtenden, da diese bei Archiv-Beiträgen
in der Regel nur ihren Nickname angeben. Greift man in größerem Umfang auf die
Erfahrungsberichte Einzelner zurück und sind die betroffenen Autorinnen und
Autoren identifizierbar oder zumindest kontaktierbar, so wäre eine Information über
das Forschungsprojekt angebracht. Kritisch ist für die Autorinnen und Autoren von
Online-Beiträgen nicht nur eine möglicherweise ungewollte Verbreitung ihrer
Äußerungen vor größerem Publikum, sondern auch auch eine inhaltliche ReKontextualisierung, die Interpretationsweisen nahelegt, mit denen sie nicht
einverstanden sind (vgl. Sharf, 1999).
2.4
Praxisratschläge
Wenn wir wissen möchten, wie man im Netz erfolgreich flirtet, untreue Cybergeliebte
überführt oder das Ende von Cyberromanzen verkraftet, werden wir in der
Fachliteratur vergeblich nach Hilfestellung suchen. Dafür hat der Markt der RatgeberLiteratur dieses Thema mittlerweile aufgegriffen. Typischerweise sind es Personen
mit einschlägigen persönlichen Netzerfahrungen (z.B. Phlegar 1996, Skrilloff & Gould
1997, Theman 1997) und/oder mit psychologischem bzw. psychotherapeutischem
Hintergrund (z.B. Adamse & Motta 1996, Booth & Jung 1996, Gwinnell 1998), die
hier als Sachverständige in Erscheinung treten. Obwohl solche Ratgeber-Bücher stark
von den persönlichen Sichtweisen und Erfahrungshorizonten ihrer Autorinnen und
Autoren gefärbt sind und so manche Empfehlung fragwürdig erscheinen mag
("Cybersex: most women – if they're honest about it – have faked an orgasm or two.
Just fake one on the screen", "Check his fidelity: change your screen name and try
seducing him in your new persona", Skrilloff & Gould, 1997, 70, 97), so kann die
Ratgeber-Literatur der Forschung
Fallbeschreibungen liefern.
doch
interessante
Anregungen
und
Neben den herkömmlichen Buchpublikationen wird eine von Fachleuten verfasste
Ratgeber-Literatur auch im Netz zur Verfügung gestellt, etwa in Form von OnlineMagazinen, die sich zwar üblicherweise nicht primär, aber zumindest peripher mit
Netzromanzen auseinandersetzen. Dazu gehören etwa das Self-Help & Psychology
Magazine (http://www.shpm.com/), das Friends and Lovers – Relationship
Magazine
(http://www.friends-lovers.com/),
die
Online-Mädchenzeitschrift
Cybergrrl (http://www.cybergrrl.com/) oder die Love, Romance & Relationships
Web-Site (http://www.lovingyou.com/).
Häufiger finden sich im Netz jedoch Betroffene zusammen, um einander
wechselseitig in Diskussions-Foren und Online-Selbsthilfegruppen mit Unterstützung
beizustehen. Dies geschieht typischerweise über Newsboards im WWW,
Newsgroups im Usenet, über Mailinglisten sowie auch über Chat-Foren. Einschlägig
für Probleme mit Cyberromanzen und Cyberaffären sind etwa das Web-Newsboard
Cyber Romance (via http://members.lovingyou.com/boards/), die Mailingliste
"Cyberdating"
(via
http://www.onlinelist.com/)
und
die
Newsgroup
<alt.irc.romance>. Die folgenden Ausschnitte aus einem Thread im Web-Newsboard
Cyber Romance sprechen typische Probleme und Unsicherheiten aus verschiedenen
Perspektiven an:
1. Beitrag (5.10.1999) Subject: Am I insane or is it possible? Hi, Ok this is the story about a
month ago I was chatting on ICQ and I was in the Romance room, I usually go to these rooms
just for the fun of it. I was already seeing somone in real life so I wasn't really looking for
anything new. Well I was scrolling the names and I came across the a name that I really thought
was interesting. So I began a chat with this guy, we chatted for over five hours and neither of us
had even realized it. We were so absorbed in our conversation that time no longer seemed to
matter. During that first talk, we discovered so much about each other. It was like we could feel
each other. I don't really know how to explain it. All I knew was that from the moment I talked
with him I had this deep longing and caring for him. He felt the same for me. We've talked
every day since this first meeting, as I said about a month, and we feel more and more for each
other. I love him, I know I do, but what I'm asking is how can this be? I mean is it wrong to
care so deeply for someone I have never even met in person and have only known a short time?
We have exchanged pictures and I have to admit that having his picture and knowing what he
looks like just cements my feelings more. He lives in Italy and I live in the States so that
makes our relationship even more frustrating. The logical side of me is saying that I'm crazy and
that it isn't right, but my heart is saying how can somone who makes me feel so good about
myself and makes me happy be wrong. So can anyone give me some advice? Are things going
to fast or what??
2.
Beitrag
(5.10.1999)
Sometimes you just meet "the one". You dont know when or where. And it's not wrong to feel
this way at all. HOWEVER, you are dating someone now. How do you really feel about him?
How serious is your relationship with your bf? It's good to be friends but if you are thinking
about more then friends then you have to decide who you want. Dont let distance stop you or
your heart. My fiance is 1300 miles from me and we just celebrated our 9th month together.
Just dont start a new love relationship unless you are finished with the old.
4.
Beitrag
(5.10.1999)
Hey,
I just wanted to tell you that I think it's really cool that you met someone you have so much in
common with, and that i know how you feel. I have fallen in love with someone online, and I
know how frustrating it is, because he lives in Germany and I live in the states. So, hang in
there. It doesn't sound like you're going to fast, to me. But, it's always best to listen to your
heart. That's the easiest way to tell if you are going toofast or not, and no matter what...never
listen to anyone else's advice, comments, etc.
5. Beitrag (10.10.1999)
Believe me I know what you are feling. The same thing happened to me too. I had been happily
married for 21 yrs when I played around in a chat room and met a man that would forever
change my life. We connected right away and are now engaged. I am leaving my husband and
children in Dec. for a new life with him in Hawaii. He is also leaving his marriage and family
also. It sounds worst than it really is. Anyway, like I did, You just gotta follow your heart and
listen to No one.
7. Beitrag (13.10.1999)
First, I thought the reason that people posted in this forum was to get advice...now everyone is
saying don't follow anyone's advice (sorry I dont get it). [...] I think we all know that there is
no such thing as a "perfect" relationship and they all have their ups and downs. I've always said
that if we worked half as hard at making our current relationships work as we do complaining
about them and eyeing others life would be so much better. I think it's right that you have to do
what is in your heart...but in this case I think she knows in her heart this is not a good situation
and will only cause problems in the long run (the distance thing alone). Why cause problems for
yourself if you don't have to? I've never understood that.
Wenn hier Zitate aus einem öffentlichen asynchronen Diskussionsforum (d.h.
einem Web-Newsboards) zur Illustration herangezogen werden, so geschieht dies
jeweils mit Datumsangabe, aber ohne Namensnennung; somit sind die (ohnehin nur
mit Nicknames auftretenden) Autorinnen und Autoren der Beiträge (wenn überhaupt)
nur für diejenigen identifizierbar, die über die notwendige Kompetenz und Motivation
verfügen, die entsprechenden Netzforen selbst zu lesen. Im Unterschied zu WebBeiträgen sind bei Mailinglisten- und Newsgroup-Beiträgen immer E-Mail-Adressen
zu finden, so dass auch explizites Einverständnis für die Verwendung der Beiträge
eingeholt und die Art und Weise der Zitatation (z.B. anonym oder mit
Namensnennung) abgestimmt werden kann. Welche ethische Strategie im konkreten
Forschungsprojekt zum Einsatz kommt, mag vom Öffentlichkeits-Konzept der
Forschenden abhängen, aber auch von forschungsökonomischen oder
organisatorischen Restriktionen bestimmt sein: Werden beispielsweise Postings
analysiert, deren Publikation mehrere Jahre zurückliegt, so sind viele der angegebenen
E-Mail-Adressen bereits veraltet. Auch kann ein möglicherweise langes Warten auf
die Reaktionen der angefragten Posterinnen und Poster problematisch sein.
Andererseits mögen im Falle einer Kontaktaufnahme über die Einverständniserklärung
hinaus
auch
wertvolle
zusätzliche
Hintergrundinformationen
Interpretationsvorschläge ausgetauscht werden (vgl. Sharf, 1999, S. 251f.).
3
und
Ausblick
Für die Untersuchung von Cyberromanzen lassen sich durch Beobachtungs- und
Befragungsstudien, sowie durch die Auswertung von Erfahrungsberichten und
Praxisratschlägen vergleichsweise ökonomisch Daten gewinnen. Netzspezifisch ist die
Möglichkeit, Kommunikationsprozesse unbemerkt von den Beteiligten und ohne
jeden apparativen Aufwand automatisch zu protokollieren. Auch die Tatsache, dass
Privatpersonen ihre Erfahrungen mit und Einstellungen zu Cyberromanzen in großem
Stil online veröffentlichen, macht Netzforen zu wertvollen Datenquellen, wobei im
allgemeinen kein Anlass besteht, an der Authentizität der Äußerungen zu zweifeln.
Der Rückgriff auf Netzdokumente wirft angesichts divergierender Konzepte von
Privatheit und Öffentlichkeit ethische Probleme auf, die kontextspezifisch zu lösen
sind (z.B. durch Anonymisierung und/oder explizite Einverständniserklärung).
Obwohl sich Forschungsaktivitäten im Bereich der Cyberromanzen in jüngster
Zeit mehren und einzelne Befunde mittlerweile gut repliziert sind (z.B. beschleunigte
Selbstoffenbarung), besteht weiterhin großer Bedarf an systematischer Empirie. Die
ökonomische Datengewinnung im Netz mag einerseits zu relativ unvorbereiteten Adhoc-Studien verführen, kann andererseits aber auch Ressourcen freisetzen, die
sinnvoll in die Untersuchungsplanung zu investieren sind. So lassen sich im Kontext
von Beobachtungs- und Befragungsstudien durchaus repräsentative Stichproben
konstruieren, etwa indem im ersten Fall die Auswahl von Netzforen und
Beobachtungszeitpunkten sowie im zweiten Fall die Auswahl von
Befragungspersonen jeweils aus definierten Populationen und nach Zufallsprinzipien
erfolgt. Die Generalisierbarkeit von Analyseergebnissen, die auf Erfahrungsberichten
oder Diskussionsbeiträgen zum Thema beruhen, ist insofern eingeschränkt, als wir
noch zu wenig über die Motive wissen, die einige Netzaktive dazu veranlassen, sich
im Netz öffentlich zu artikulieren. Es wäre untersuchenswert, inwiefern
Schilderungen von Cyberromanzen, die im Netz publiziert werden, abweichen von
Schilderungen, die im Rahmen von Forschungs-Interviews gegeben werden. So ist zu
vermuten, dass die im Netz publizierten Erfahrungsberichte spektakulärer ausfallen.
Dass es sich bei der Cyberromanze nicht um ein homogenes und schon gar nicht
um ein medientechnisch determiniertes Phänomen handelt, verdeutlicht bereits die
explorative Analyse von Erfahrungsberichten, in denen die unmittelbar Beteiligten
ganz unterschiedliche Fazits ziehen (Archive of Cyber Love Stories:
http://www.lovelife.com/CLS/):
•
Love is hard. CyberLove is impossible. I have learned this. (Story 130)
•
A sad cyberlove story, but a true one. On one hand the sceptics were right, it didn't work
out, but it did for 3 months, and those three months, were among the best of my life. (Story
119)
•
I have found my one true love and for anyone that thinks that it can't happen online, you are
wrong! Love can be found online! (Story 161)
Legt man zugrunde, dass Personen sich sowohl deutlich darin unterscheiden, wie
sie soziale Beziehungen gestalten, als auch darin, wie sie mit computervermittelter
Kommunikation umgehen, so verwundert es nicht, dass eine solche Heterogenität der
Erfahrungen zustande kommt. Wenn weitere Forschungsaktivitäten diese
Heterogenität herausarbeiten, dann werden eindimensionale Erklärungsmodelle an
Überzeugungskraft verlieren, die die Existenz von Cyberromanzen entweder auf
personale Defizite zurückführen ("Vor allem beziehungsgestörte, vereinsamte
Computerfreaks suchen Liebe im Netz.") oder sie direkt von medialen Besonderheiten
ableiten ("Das Netz liefert eine kontrollierbare Scheinwelt, die die Nutzer emotional
in ihren Bann schlägt und süchtig macht.").
Die Virtualität gegen die Realität, das Latente gegen das Manifeste, oder die
Online-Beziehung gegen die Offline-Beziehung zu kontrastieren ist fragwürdig und
notwendig zugleich. Fragwürdig deswegen, weil dichotome Schematisierungen generell
den Nachteil haben, die in der Erfahrungswirklichkeit vorkommenden Unschärfen und
Übergänge durch Polarisierung zu vereindeutigen. Notwendig ist die Kontrastierung
aber deswegen, weil die Beteiligten selbst ihre Erfahrungen nicht selten in dichotomen
Konzepten interpretieren und dann beispielsweise dem "Netz" das "Real Life"
gegenüberstellen. Die These zweier distinkter Erfahrungswelten erweist sich jedoch
gerade dann als illusorisch, wenn es zu instruktiven Irritationen kommt:
Natürlich habe ich mich dann auch bald einmal gefragt, wie MrNorth aussieht. Das heisst: zuerst
hatte ich einfach ein imaginäres Bild von ihm. Ca. 1.85 m gross, braune Haare, braune Augen.
Wie kam ich bloss darauf? Lautrec sagt, er finde es nicht cool, wenn man eine neue ChatBekanntschaft gleich nach ihrem Äusseren fragt. Und doch tun es die meisten. MrNorth und ich
waren cool. Wir fragten uns lange nicht danach. Und doch kam mir irgendwann einmal
siedendheiss in den Sinn, dass er ja einen Schnauz und eine getönte Metallgestell-Brille tragen
könnte. Danach musste ich mich dann doch erkundigen. Er fragte, ob ich Cyrano de Bergerac
kenne – das sei er. Er habe weder Schnauz noch Brille, aber er sei 1.65 m gross. Wie mich das
erschreckte. Es enttäuschte mich - denn ich hatte ihn mir grösser gewünscht. Die Idee, mit
einem so kleinen Mann zu chatten, trübte meine Freude an unseren Gesprächen. Und das
erschreckte mich dann gleich nochmals. So viel bedeutete mir also sein Äusseres? Mir, die ich
doch immer die Wichtigkeit der inneren Werte betonte? Das war nun definitiv nicht cool. Und
es war alles nochmal anders. Die Sache stellte sich als Scherz heraus – mein virtueller
Gesprächspartner hatte mich auf die Probe stellen wollen. In Wirklichkeit ist er um einige
Zentimeter grösser als ich. Obwohl mich der "Scherz" ein bisschen ärgerte – er hatte gesessen.
Ich begann mir über meine Erwartungen Gedanken zu machen. Und entdeckte da bei mir so
einige ganz beschränkte Idealvorstellungen, von denen ich dachte, dass ich sie längst
überwunden habe. Das auf der einen Seite - und auf der anderen wurde mir dadurch erst richtig
bewusst, was mir am Äusseren eines Mannes wirklich wichtig ist. Dabei veränderten sich auch
einige bisher unhinterfragte Ideen." (Priscilla 1999, 09.12.1998)
Eine Online-Liebe verhilft freilich nicht automatisch zu besserer Selbsterkenntnis.
Vielmehr dürften hier wiederum medienunabhängige Dispositionen ausschlaggebend
sein (z.B. kognitive und motivationale Voraussetzungen der Selbstreflexion).
Warf man Netzkontakten vor 15 Jahren noch vor, versachlicht, entsinnlicht und
maschinenlogisch kontrolliert zu sein, so moniert man heute oft genau das Gegenteil:
Imaginativ aufgeladen, hochgradig emotionalisiert und erotisiert gefährdeten
Netzkontakte das seelische Gleichgewicht der Beteiligten und brächten allzu schnell
ihr geregeltes Ehe- und Familienleben durcheinander. Um den unvernünftigen
Versuchungen der Cyberliebe zu widerstehen, wird nun immer häufiger zu Vorsicht
und Distanz im Umgang mit den unberechenbaren Netzbekanntschaften geraten. Für
die weitere Online-Beziehungsforschung erscheint es besonders fruchtbar,
Anonymität und Intimität, physische Distanz und sinnliche Präsenz,
Kontrollierbarkeit und Unkalkulierbarkeit nicht als Gegensatzpaare zu interpretieren,
sondern jeweils in ihrer wechselseitigen Bedingtheit zu explorieren.
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