Studying Online Love and Cyber Romance
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Studying Online Love and Cyber Romance
Studying Online Love and Cyber Romance Nicola Döring 1 1.1 1.2 1.3 Warum sollen wir Cyberromanzen untersuchen? Gegenstandsdefinition Verbreitung Forschungsfragen 2 2.1 2.2 2.3 2.4 Wie können wir Cyberromanzen untersuchen? Beobachtungsstudien Befragungssstudien Erfahrungsberichte Praxisratschläge 3 Ausblick Dass Menschen sich im Netz verlieben und im Zuge ihrer Cyberromanzen intensive Gefühle real erleben, ist mittlerweile zu gut bezeugt, um noch ernsthaft bestritten zu werden. Dennoch wird oft bezweifelt, dass es im Netz wirklich echte Liebesbeziehungen gibt. Wie ist es möglich, eine enge, intime Beziehung zu führen, wenn die Beteiligten vornehmlich durch ihre computervermittelten Botschaften füreinander präsent sind? Der vorliegende Beitrag plädiert im ersten Abschnitt dafür, die Cyberromanze nicht als exotische Randerscheinung abzutun, sondern sie als sozialpsychologischen Forschungsgegenstand ernstzunehmen. Im zweiten Abschnitt wird dann aufgezeigt, mit welchen Datenerhebungsmethoden wir Informationen über Cyberromanzen gewinnen können. 1 Warum sollen wir Cyberromanzen untersuchen? Die Beschäftigung mit Cyberromanzen ist aus drei Gründen sinnvoll: Zunächst einmal lassen sich Cyberromanzen theoretisch als reguläre soziale Beziehungen rekonstruieren (1.1). Zudem sind sie mittlerweile unter Netzaktiven recht verbreitet (1.2). Und schließlich werfen sie im Kontext der Beziehungsforschung eine Reihe interessanter neuer Forschungsfragen auf (1.3). 1.1 Gegenstandsdefinition Um zu klären, ob bzw. unter welchen Bedingungen Cyberromanzen echte romantische Beziehungen sind oder nur Pseudo-Beziehungen darstellen, müssen wir zunächst unseren Beziehungs-Begriff klären. Zwischen zwei Personen entsteht eine soziale Beziehung, wenn sie wiederholt miteinander Kontakt haben, also mehrfach zeitversetzt kommunizieren oder zeitgleich interagieren. Im Unterschied zum sozialen Kontakt als Einzelereignis erstrecken sich soziale Beziehungen über mehrere Zeitpunkte, so dass jeder einzelne Kontakt sowohl von den vorausgegangenen Kontakten als auch von der Erwartung zukünftiger Kontakte beeinflusst wird. Im Laufe der Beziehungsentwicklung lernen die Beteiligten einander kennen und müssen eine gemeinsame Beziehungsdefinition aushandeln, etwa indem sie wechselseitig ihre Erwartungen abklären und diese Beziehungsklärung immer wieder aktualisieren. Da die Beziehung in den Zeiträumen zwischen den einzelnen Kontakten weiterbesteht, spielen neben dem offenen Kommunikations- und Interaktionsverhalten emotionale, motivationale und kognitive Begleitprozesse (z.B. Sehnsucht empfinden, das nächste Treffen vorbereiten, gemeinsame Erlebnisse erinnern) eine wichtige Rolle für die Qualität und Kontinuität der Beziehung. Dieses sozialpsychologische Beziehungsverständnis (vgl. Hinde, 1997) macht keinerlei Restriktionen hinsichtlich des Mediums der Einzelkontakte und lässt es somit theoretisch zu, auch dann von echten sozialen Beziehungen zu sprechen, wenn die Beteiligten ihre Kontakte vorwiegend oder ausschließlich computervermittelt realisieren. Solche primär auf computervermittelten Kontakten basierenden Beziehungen, bei denen typischerweise schon der Erstkontakt im Netz stattfindet, heißen heute Netzbeziehungen oder Cyberbeziehungen. Damit grenzt man sie von "herkömmlichen" Beziehungen ab, bei denen der Erstkontakt und wichtige folgende Kontakte Face-toFace stattfinden. Diese herkömmlichen Beziehungen werden im Netz-Diskurs nun als Offline-Beziehungen, Real-Life-Beziehungen, 3D-relationships oder in-person relationships bezeichnet. Soziale Beziehungen lassen sich grob in formale (z.B. Verkäufer-Kunde) und persönliche (z.B. Vater-Sohn) Beziehungen unterteilen, wobei die persönlichen Beziehungen noch in starke (z.B. Freundschaft) und schwache (z.B. Bekanntschaft) Bindungen zerfallen. Romantische Beziehungen (weitgehend synonym: Liebes- oder Partnerschaftsbeziehungen) sind starke persönliche Bindungen, die sich durch Wählbarkeit von Verwandtschaftsbeziehungen und durch offene Sexualität sowohl von Verwandtschafts- als auch von Freundschaftsbeziehungen deutlich unterscheiden. Leidenschaft (passion), Intimität (intimacy) und Verbindlichkeit (commitment) sind drei wesentliche Bestimmungsstücke von Liebesbeziehungen (Sternberg, 1986). Theoretisch spricht nichts dagegen, dass eine Liebesbeziehung vornehmlich oder ausschließlich auf Netzkontakten basiert, da sich durch den zeitversetzten oder zeitgleichen Austausch von digitalen Text-, Ton- und/oder Bildbotschaften prinzipiell Leidenschaft (z.B. geteilte Erregung beim gemeinsamen Ausformulieren sexueller Fantasien), Intimität (z.B. Unterstützung bei persönlichen Problemen) und Verbindlichkeit (z.B. regelmäßige Kontaktaufnahme) vermitteln lassen. Ob und wie Personen im Netz tatsächlich von diesen Optionen Gebrauch machen und somit echte romantische Netzbeziehungen (synonym: Cyberliebesbeziehungen, Cyberromanzen) entwickeln, muss dagegen empirisch geklärt werden. Ist bei einer Cyberromanze mindestens eine involvierte Person gleichzeitig außerhalb des Netzes partnerschaftlich gebunden, so spricht man von einer Cyberaffäre. 1.2 Verbreitung Wie verbreitet sind romantische Netzbeziehungen? Obwohl ein Großteil von Netzkontakten zwischen Personen abläuft, die sich bereits außerhalb des Netzes kennen (Verdichtung des sozialen Netzwerkes; vgl. Hamman, 1998), finden viele Menschen nach dem Netz-Einstieg auch neue Ansprechpersonen (Erweiterung des sozialen Netzwerkes, vgl. Wellman & Gulia, 1999). Bei den hinzukommenden Netzbeziehungen handelt es sich jedoch überwiegend um schwache Bindungen: Man tauscht mit Kolleginnen in Übersee Informationen aus oder kommentiert mit anderen Fans weltweit die letzte Folge der Lieblings-Fernsehserie. Diejenigen, die im Netz starke Bindungen in Form von Freundschaften oder romantischen Beziehungen eingehen, stellen innerhalb der Netzpopulation eine Minderheit dar. Eine Minderheit, die in absoluten Zahlen jedoch immer noch mehrere Millionen Menschen weltweit umfassen dürfte: 14% von n=601 US-Bürgerinnen und -Bürgern mit Netzzugang berichteten 1995 in einer telefonischen Repräsentativumfrage, sie hätten im Netz Menschen kennengelernt, die sie als "Freunde" bezeichnen, wobei leider nicht nach romantischen und nicht-romantischen Bindungen differenziert wurde (Katz & Aspden, 1997). Befragt man gezielt Personen, die in Newsgroups aktiv sind, so steigt der Anteil derjenigen, die enge Netzbeziehungen pflegen, auf 61% (53% Freundschaften, 8% romantische Beziehungen; Parks & Floyd, 1996). Konzentriert man sich auf Personen, die an MUDs (Multi User Dungeons/Domains) teilnehmen, so steigt der Anteil derjenigen, die enge Netzbeziehungen pflegen, sogar auf 91% (Schildmann, Wirausky & Zielke, 1995) bzw. 93% (67% Freundschaften, 26% romantische Beziehungen; Parks & Roberts, 1997). Es lässt sich also festhalten: Bei der romantischen Netzbeziehung handelt es sich weder um eine exotische Randerscheinung noch um ein epidemisches Massenphänomen, sondern um eine Erfahrung, die zum Alltag eines nennenswerten Anteils der exponentiell wachsenden Netzpopulation gehört. Zudem ist auch eine wachsende Zahl von Personen indirekt von Cyberromanzen und Cyberaffären betroffen, weil Freunde, Familienangehörige, Partner oder Klienten sich online verlieben. Ein seit Januar 1997 in der kostenlosen WWW-Zeitschrift Selfhelp & Psychology Magazine veröffentlicher WWW-Fragebogen zu Cyberromanzen wurde bis Oktober 1999 von n=2174 Personen beantwortet (64% Frauen, 36% Männer), die mehrheitlich (70%) schon mindestens eine Cyberromanze im Umfeld miterlebt haben (Maheu, 1999). Der mit klinischer und sozialpsychologischer Internet-Forschung befasste Psychologe Storm King (1999, o.S.) liefert folgende anekdotische Evidenz für die Veralltäglichung von Cyberromanzen: This author has presented at several psychology conferences, talking about Internet interpersonal relationships. At each of four presentations, the audience, composed of psychologists and mental health workers, was asked to raise their hand if they knew of someone (friend, family or client) that had partaken in a cyber-romance. Each time, of the approximately 50 people in the audience, about half the hands went up. Dass Cyberromanzen nicht selten auch Cyberaffären sind, ergibt sich aus der sozialstatistischen Zusammensetzung der Netzpopulation, in der Singles in der Minderheit sind. Von den n=9.177 Netzaktiven (14% Frauen, 86% Männer), die an der WWW-Umfrage von Cooper, Scherer, Boies und Gordon (1999) teilgenommen hatten, waren 80% partnerschaftlich gebunden und rund 50% verheiratet, was den Verhältnissen außerhalb des Netzes entspricht: Auch die Hochtechnologie-Nationen sind heute keine "Single-Gesellschaften". 1.3 Forschungsfragen Wer verliebt sich eigentlich bevorzugt im Netz? Welche Netzforen sind für ein romantisches Kennenlernen und dann für eine Beziehungsvertiefung einschlägig? Welche Personen- und Verhaltensmerkmale sind für die interpersonale (und speziell für die erotisch-sexuelle) Attraktion ausschlaggebend, wenn wir einander im Netz zunächst nur in Form unserer maschinenschriftlichen Textbeiträge gegenübertreten? Wie, wann und aus welchen Gründen einigen sich Menschen nach einem ersten Kennenlernen per Chat, MUD oder Website darauf, zum privaten E-Mail-Kontakt, zum Telefonat, zum Fotoaustausch und zum persönlichen Treffen überzugehen – oder eben auf solche Medienwechsel bewusst zu verzichten und damit den "virtuellen" Charakter der Beziehung beizubehalten? Wie gehen die in Cyberromanzen Involvierten damit um, dass man bei der computervermittelten Textkommunikation die eigene Selbstdarstellung viel besser kontrollieren kann als in Face-to-FaceSituationen? Welche Rolle spielen bei der Online-Liebe etwa taktische Selbstdarstellung (z.B. bewusstes Verbergen bestimmter Merkmale der eigenen Person oder der Lebenssituation) auf der einen und gesteigertes Misstrauen auf der anderen Seite? Wie verbreitet ist die "Liebe auf den ersten Klick" bzw. zu welchem Zeitpunkt im Verlaufe des medial vermittelten Kennenlernens sprechen die Beteiligten davon, sich verliebt zu haben oder einander wirklich zu lieben? Woran machen Online-Verliebte fest, dass sie nun offiziell ein Paar sind? Wie verbindlich schätzen sie ihre Cyberromanzen ein? Wenn im Laufe der Vertiefung einer Cyberromanze diverse Medienwechsel bis hin zum Face-to-Face-Treffen stattgefunden haben, wird die romantische Beziehung zunehmend weniger als OnlineBeziehung und zunehmend mehr als Offline-Beziehung aufgefasst. Welche Definitionskriterien legen hier die Beteiligten an, um die dichotome Konstruktion Online- versus Offline-Beziehung auf das Kontinuum der relativen Bedeutung der Netzkommunikation innerhalb der Beziehung abzubilden? Wie groß ist der Anteil der binationalen und Long-Distance-Beziehungen unter den Cyberromanzen? Wie gehen Online-Verliebte mit den (zum Teil beträchtlichen) geografischen Distanzen und kulturellen Differenzen um? Derartige Forschungsfragen zielen zunächst einmal auf eine detaillierte Gegenstandsbeschreibung ab. Systematische Untersuchungen mögen dabei die Auftretenshäufigkeit und/oder die subjektive Bedeutung jener Besonderheiten von Cyberromanzen relativieren, die in der breiten Öffentlichkeit so oft Aufsehen erregen (z.B. Cyberhochzeit oder Online-Geschlechtertausch). Neben einer eher gegenstandsnahen deskriptiven Auseinandersetzung mit Cyberromanzen sind theoriegeleitete Studien wünschenswert, die den Netzkontext als neues Bewährungsfeld für bekannte sozialwissenschaftliche Eindrucksbildungs-, Selbstdarstellungs-, Attraktions- und Beziehungs-Theorien nutzen. Auch wenn man andere Menschen im Netz zunächst nicht sieht, macht man sich doch aufgrund ihres Kommunikationsverhaltens ein Bild von ihnen. Hilfsbereitschaft, Offenheit, Spontaneität und Einfühlungsvermögen des Gegenübers sind im interpersonalen Austausch außerhalb wie innerhalb des Netzes wertvolle Güter. Die Befürchtung, dass egozentrische, sozial inkompetente, beziehungsunfähige Menschen im Netz bequem und risikolos auf Knopfdruck soziale Kontakte konsumieren, ist vor diesem Hintergrund zu hinterfragen, denn schließlich ist die wohlwollende Zuwendung zu anderen Menschen auch im Netz Voraussetzung dafür, dass diese einen überhaupt näher kennenlernen möchten. Konzepte wie Intimität, Selbstoffenbarung, soziale Kompetenz oder zwischenmenschliche Nähe wären auf ihre Medienspezifität hin zu prüfen. So wird intuitiv immer wieder behauptet, "echte" zwischenmenschliche Nähe würde den Face-to-Face-Kontakt erfordern, ohne dass die psychosozialen Dimensionen solcher Echtheits-Zuschreibungen geklärt sind. Fragwürdig ist auch die verbreitete Befürchtung, dass Netzbeziehungen, die für jüngere Generationen eine zunehmend wichtige Rolle spielen, Einbußen in der sozialen Kompetenz nach sich ziehen. Denn schließlich erfordert computervermittelte Beziehungspflege neben technischen Fertigkeiten der Systembedienung auch diverse soziale Fertigkeiten wie etwa einen besonders bewussten Umgang mit Emotionen und körperlichen Befindlichkeiten, da diese in größerem Umfang explizit verbalisiert werden müssen. Wenn die erste Liebe bei Teenagern immer häufiger eine Online-Liebe ist, müssen dann bestimmte entwickungspsychologische und sozialisationstheoretische Konzepte reformuliert werden? Wenn Cyberromanzen emotionale Intimität besonders betonen, weil die Beteiligten in der Regel tage-, wochen- und monatelang ausschließlich verbal miteinander kommunizieren und sonst keinen gemeinsamen Aktivitäten nachgehen, sollten sie dann als "weibliche" Bindungsformen charakterisiert werden oder wären sie angesichts der Tatsache engagierter männlicher Beteiligung nicht ein Anlass, die These zweier distinkter geschlechtsspezifischer Kommunikationsstile zu hinterfragen? Nicht die wieder und wieder kolportierte Möglichkeit, auf einen Geschlechterschwindel hereinzufallen oder sich im Netz als Neutrum zu präsentieren, macht Cyberbeziehungen geschlechtertheoretisch so interessant, sondern eher die Tatsache, dass wir einander im Netz einerseits explizit als Männer bzw. als Frauen begegnen und begehren und andererseits Formen der Annäherung und Selbstdarstellung realisieren, die von herkömmlichen Ritualen homo-, hetero- oder bisexueller Paradigmen abweichen mögen. Untersuchungen über Cyberromanzen sind nicht nur ein Beitrag zur grundlagenwissenschaftlichen Beziehungsforschung, sondern sie sind auch aus angewandter Perspektive relevant. Ein exzessives Engagement in Cyberromanzen kann unter bestimmten Bedingungen Indikator und/oder Katalysator psychosozialer Probleme und Störungen sein: So schränken einige Menschen im Zuge von Cyberromanzen ihren Verhaltensraum drastisch ein und steigern ihre Netzaktivitäten auch dann noch, wenn diese bereits ernsthafte negative Konsequenzen im psychischen, physischen oder sozialen Bereich nach sich ziehen. Wenn eine Person nächtelang am Rechner sitzt, um mit der Online-Liebe zu chatten, darüber alle anderen Lebensbereiche vernachlässigt und trotzdem die Online-Zeit eher noch steigert, wird heute nicht selten von "Online-Sucht" gesprochen (vgl. Young, 1998). Eine solche pathologisierende Etikettierung ist jedoch problematisch. Kontrollverlust, Toleranzentwicklung und Entzugserscheinungen sind zwar Kennzeichen der Sucht, aber eben auch der Verliebtheit. Hinter enthusiastischer Netzaktivität steckt oftmals keine antisoziale Technik-Begeisterung, sondern eine – mehr oder weniger konflikthafte – Suche nach zwischenmenschlicher Nähe. Im Zusammenhang mit problematischen Mustern der Netznutzung wären also stärker Beziehungspathologien und deren Determinanten und Moderatoren zu thematisieren anstatt das Problem auf das Medium zu projizieren. Da für einen wachsenden Anteil in der Bevölkerung computervermittelte Kommunikation zum Alltag gehört, werden Cyberromanzen und Cyberaffären auch häufiger im Kontext von psychologischer Beratung und Therapie zum Thema (vgl. Cooper et al., 1999; Greenfield & Cooper, o.J.). Ein sachkundiger Umgang mit diesen neuen Beziehungsformen und ihren vielfältigen psychosozialen Funktionen (z.B. neben Problemflucht auch Kompensation oder Exploration) ist deswegen wünschenswert. 2 Wie können wir Cyberromanzen untersuchen? Wenn wir uns ein Bild von den Besonderheiten romantischer Netzbeziehungen verschaffen wollen, können wir auf ganz unterschiedliche Datenerhebungsmethoden zurückgreifen. Beobachtungstudien (2.1), Befragungsstudien (2.2), Erfahrungsberichte (2.3) und Praxisratschläge (2.4) sind vier besonders wichtige Datenquellen. 2.1 Beobachtungsstudien Die Beobachtung computervermittelter Kommunikations- und Interaktionsprozesse ist dadurch erleichtert, dass medienbedingt eine vollständige Aufzeichnung des interpersonalen Geschehens möglich ist, ohne dass dafür zusätzliche Technik erforderlich wäre und ohne dass die Beobachteten den Registrierungsprozess bemerken. So können wir beispielsweise das öffentliche Verhalten in Mailinglisten, Newsgroups, Chat-Foren oder MUDs (Multi User Dungeons) stunden-, tage- und wochenlang lückenlos mitprotokollieren und anhand dieser Beobachtungsdaten Flirtverhalten, Kennenlernprozesse, aber auch die Kommunikation innerhalb von Paarbeziehungen untersuchen. Die Auswertung der automatisch erstellten Beobachtungsprotokolle mag qualitativ und/oder quantitativ erfolgen. Bislang sind Beobachtungsstudien, die romantische Netzbeziehungen systematisch anhand von automatischen Beobachtungsprotokollen untersuchen, nicht zu finden, so dass hier die Art und Aussagekraft des Datenmaterials an zwei Protokollen von ChatInteraktionen (sog. Log-Files) exemplarisch gezeigt werden soll: Das erste Log-File dokumentiert die Begegnung von Bekin und abc auf dem primär deutschsprachigen Chat-Channel #germany (18.2.1999; nur die Äußerungen der beiden Fokuspersonen werden wiedergegeben): Beide klären in den ersten zehn Minuten des Online-Gesprächs Namen, Herkunftsorte und Freizeitinteressen ab. Die eingestreuten Smileys signalisieren positive Stimmung, die raschen Reaktionen wechselseitiges Interesse. Small Talk steht in Face-to-Face-Situationen ebenso wie im Netz typischerweise am Beginn eines möglichen näheren Kennenlernens: [18:16] <Bekin> are u here abc [18:16] <abc> yes [18:16] <Bekin> ok [18:17] <Bekin> whats ur name [18:17] <abc> Sandra [18:17] <Bekin> my name is bekin [18:17] <abc> Nice to meet you bekin :) [18:17] <Bekin> and i am Türkish [18:17] <abc> :) [18:18] <Bekin> do u spek german [18:18] <abc> So, when did you came into germany? [18:18] <abc> No, I can understand, but can't speak [18:18] <Bekin> i born here [18:19] <abc> I have learned german language in primary school [18:19] <Bekin> :-) [18:19] <abc> but as I am working in english language, I have forgot lots of words [18:19] <Bekin> and i learned English in Primary scool [18:19] <abc> :) [18:20] <abc> I am trying to learn German language again [18:20] <Bekin> Wow thats great [18:20] <abc> thanks [18:21] <Bekin> do u speak Türkish ? :-) [18:21] <abc> No, just Bosnian ... but we have some similar words [18:21] <Bekin> what a words ? [18:22] <abc> I don't know precisely but lots of Bosnian words are Turkish origin [18:23] <Bekin> yes [18:23] <Bekin> are u visit Germany? [18:23] <abc> Long time ago [18:23] <Bekin> when ? [18:23] <abc> I was in Koeln [18:24] <Bekin> Köln is a Wunderfull City [18:24] <abc> 1987 [18:24] <abc> yes, it is [18:24] <Bekin> but the city where i leave is better [18:24] <abc> where do you live? [18:25] <Bekin> Mannheim [18:25] <Bekin> u know [18:25] <abc> yes I know, but I never been there [18:26] <abc> what are you doing except working Das zweite Log-File dokumentiert eine Paar-Kommunikation auf dem ChatChannel #38plus-de (19.2.1999): Morrison und Janina, die sich auch persönlich kennen und offiziell ein Liebespaar sind, sprechen sich auf ihrem Stamm-Channel mit Kosenamen an (Morri, Jani, Schatz). Janina betont gegenüber einem Dritten (BlueMan) die körperliche Exklusivität ihrer Beziehung zu Morrison und küsst diesen virtuell. Morrison spielt für Janina channel-öffentlich ein Liebeslied ab. Es wird deutlich, wie die Beteiligten bei der computervermittelten Kommunikation verbale und nonverbale Ausdrucksmittel einsetzen, um einen freundlich-interessierten Erstkontakt (Bekin und abc) oder ein verliebt-überschwengliches Wiedersehen (Janina und Morrison) zu bewerkstelligen: [15:31] *** Joins: Morrison ([email protected]) [15:31] <Morrison> moin fans :)) [15:31] <janina> morri !!!! [15:32] <Morrison> jani, :)))))))))))))))))))))) [15:34] <Morrison> wie ist denn so die allgemeine stimmung? [15:35] * janina is traurich, weil se bald gehen muss [15:37] <BlueMan> janina: du mußt bald gehen??? [15:38] <janina> morri, mein schatz, warst du gestern etwa auch hier????? [15:38] <Morrison> jani, ich doch nicht [15:38] <janina> blue, naja, n bissel bleib ich noch [15:39] <BlueMan> janina: *freu* [15:39] <janina> blue, auch *freu* (aber knuddel mich nich wieder, sonst wird der morri böse) [15:40] <BlueMan> janina: mir doch egal *frechgrins* * Morrison plays i can't stop loving you.mp_ 3304kb [15:47] <janina> morri, nr. 10 is einfach der schoenste song *kuss* [15:47] <Morrison> jani, man kann es nicht oft genug spielen Feldbeobachtungen, die eine längere Teilnahme an einzelnen Netzforen und auch Feldgespräche mit den Akteurinnen und Akteuren beinhalten, erlauben die Rekonstruktion romantischer Netzbeziehungen vom ersten Kennenlernen bis zum Happy End, zum Beziehungsabbruch oder zum Beziehungswandel. Die aktive Teilnahme am jeweiligen Netzforum und der private Kontakt zu den Forumsmitgliedern gewähren bei der Feldforschung Einblick in die Lebenssituation der Beteiligten. So bringt Sannicolas (1997, o.S.) von seiner einjährigen Feldbeobachtung in diversen Chat-Foren (SIGs: Special Interest Groups) des OnlineDienstes CompuServe folgende Informationen über die "Erfolgsquote" von ChatRomanzen mit: "In the year that this researcher has spent visiting SIG's I have seen approximately 50 relationships form on-line. In many of those instances, one party has moved a great distance to be with the other person, without giving much time to spend time together face to face getting to know one another. All of the knowledge about the other person has come from their interactions over the "puter". Thus, it is not surprising that out of these approximately 50 relationships, only a very small number (3) have worked out to last more than 6 months." Debatin (1997, o.S.) frequentierte als teilnehmender Beobachter von Dezember 1995 bis Juli 1997 ein namentlich nicht genanntes Chat-Forum von CompuServe und gewann dadurch Einblick in die Struktur der dort ansässigen virtuellen Gruppe sowie in die Beziehungen zwischen den einzelnen Gruppenmitgliedern. Der Autor präsentiert Beobachtungsprotokolle einzelner Channel-Diskussionen und interpretiert sie vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen auf dem Channel. So kann er den vermeintlichen Leukämietod einer Forumsteilnehmerin als dramatisierten Rückzug aus ihrer komplizierten Online-Liebesbeziehung aufklären: "E. litt, wie sie vielen Regulars im Vertrauen erzählte, an Leukämie und es hieß dann nach ihrem Verschwinden aus dem Forum, daß sie gestorben sei. Ihr Tod löste im Forum große Trauer aus und Showan, ihr Cyber-Lover, verschwand für mehrere Monate aus dem Forum. Später stellte sich heraus, daß E. ihre Krankheit und ihren Tod nur inszeniert hatte, um so aus der emotional zu komplizierten Affäre mit Showan herauszukommen: Der ca. 15 Jahre jüngere, ledige Showan wollte mit E., die in einer unglücklichen Ehe lebte, ein "neues Leben" beginnen, was für sie nicht in Frage kam. Einige Monate danach setzte sich E. aber mit Showan erneut in Verbindung und kam dann sogar auch von Zeit zu Zeit ins Forum zurück." Automatische Beobachtungsprotokolle dokumentieren das Verhalten der Beteiligten in öffentlichen Foren. Mittels teilnehmender Feldbeobachtung erhalten wir darüber hinaus Informationen über das Geschehen hinter den Kulissen und das subjektive Erleben der Beteiligten. Wie private Netzkommunikation sich im Einzelnen gestaltet, kann zwar nicht von Außenstehenden, wohl aber von den Involvierten selbst registriert werden. Viele Mail-Programme speichern zunächst sowohl die verschickten als auch die erhaltenen E-Mails, so dass eine Netznutzerin nach dem Blick in ihre private Mailbox präzise Auskunft über die Kommunikation mit ihrer Cyberliebe geben kann (Story http://www.lovelife.com/CLS/): 20 im Archive of Cyber Love Stories: "It has been 2 months now that we've been together and so far I have received a total of 140 email messages and he has approx. 160 from me." Netzaktive archivieren typischerweise große Teile ihrer E-Mail-Korrespondenz, insbesondere natürlich ihre elektronischen Liebesbriefe. Sie fertigen zuweilen auch Protokolle ihrer privaten Online-Gespräche an, was bei vielen Chat- und MUDProgrammen problemlos möglich ist (sogar ohne dass die Gegenseite dies mitbekommt). Damit entstehen objektive Verhaltensdaten über intime soziale Ereignisse, die undokumentiert bleiben und allenfalls aus der Erinnerung wiedergegeben werden können, wenn die Beteiligten auf nicht-medialem Wege miteinander in Verbindung treten. Protokolle von privaten (und mehr oder minder offen sexuellen) Netzkontakten im Kontext von Cyberromanzen gehen zuweilen in Erfahrungsberichte (vgl. Abschnitt 2.3) ein. Sie lassen sich als Datenmaterial aber auch für die empirische Sozialforschung nutzen, sofern die Beteiligten sich einverstanden erklären, die entsprechenden Dokumente auszuhändigen. Generell stellt die automatische Registrierung von computervermittelten Kommunikationsprozessen eine besonders ökonomische und ökologisch valide Form der Datenerhebung dar. Sie ist jedoch mit ethischen Problemen behaftet. Kernproblem ist dabei die Tatsache, dass Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit in den meisten Netzkontexten bis heute Gegenstand äußerst kontroverser Diskurse sind. So wird im einen Extrem sowohl von Beteiligten als auch von Außenstehenden behauptet, jegliche nicht-geschlossene Gruppenkommunikation im Netz sei grundsätzlich öffentlich und stünde damit qua implizitem Einverständnis allen Interessierten zur Dokumentation und Analyse frei zur Verfügung, wie das etwa bei Fernseh-Talkshows oder Podiumsdiskussionen auf politischen Veranstaltungen der Fall ist. Die Gegenposition proklamiert, dass Netzforen eben gerade nicht eine disperse breite Öffentlichkeit adressieren, sondern einen internen Austausch vollziehen, der sich nur an die aktuell Beteiligten richtet. Eine verdeckte Protokollierung von Gruppeninteraktionen im Netz wäre also etwa gleichzusetzen mit dem heimlichen Aufzeichnen einer Tischrunde in einem Lokal oder einer Gesprächsrunde auf einer Party und käme damit einer unethischen Verletzung der Privatsphäre gleich. Es erscheint sinnvoll, der Heterogenität von Netzkontexten und Forschungsinteressen dadurch Rechnung zu tragen, dass anstelle einer Orientierung an pauschalen Richtlinien jeweils im Einzelfall ethische Probleme bedacht und offengelegt werden. So sind bei den beiden in diesem Abschnitt präsentierten LogFiles aus Datenschutz-Gründen die Namen und Rechneradressen aller beteiligten Personen verändert worden. Anonymität bleibt also gewahrt, auch wenn zu Dokumentationszwecken die Namen der Foren und die Erhebungszeitpunkte genannt werden. 2.2 Befragungsstudien Befragungsmethoden eignen sich zur Untersuchung romantischer Netzbeziehungen besonders gut, da sie vergangene Ereignisse ebenso wie Zukunftserwartungen erfassen und dabei auch jene Kontakterfahrungen einbeziehen können, die der Beobachtung verborgen bleiben. Befragungsstudien, in denen Personen subjektive Interpretationen über ihre Online-Romanzen mitteilen sollen, arbeiten teils mit Interviews, teils mit Fragebögen. Bei Interviews kommt es zu einem unmittelbaren Wortwechsel zwischen Forschenden und Beforschten. Forschungs-Interviews lassen sich Face-to-Face, am Telefon, per Chat oder im MUD durchführen. Standardisierte Interviews folgen dabei einem festen Fragenkatalog und fordern von den Befragten die Wahl zwischen vorgefertigten Antwortalternativen. Auf diese Weise lassen sich viele Personen effizient befragen und die erhaltenen Antworten gut vergleichen (für eine standardisierte Telefonumfrage zu persönlichen Netzbeziehungen siehe Katz & Aspden, 1997). In halboffenen oder offenen Interviews dagegen werden die Fragen dem Gesprächsverlauf angepasst, zudem haben die Befragten Gelegenheit, sich in ihren eigenen Worten zu äußern. Vielfalt und Menge des auf diese Weise an relativ kleinen Personenzahlen gewonnenen Datenmaterials gestatten zwar sehr detaillierte Einzelfallbeschreibungen, sie lassen aber kaum Rückschlüsse darauf zu, wie verbreitet oder typisch die gefundenen Phänomene und Konstellationen sind. Face-to-FaceInterviews, in denen unter anderem Netzbeziehungen thematisiert werden, wurden als halboffene bzw. Leitfaden-Interviews etwa von Wetzstein, Dahm, Steinmetz, Lentes, Schampaul und Eckert (1995) und als offene bzw. klinische Interviews von Turkle (1995) durchgeführt. In beiden Untersuchungsberichten sind die Interviews leider nur in Form einzelner Zitate dokumentiert. Shaw (1997) stellte seinen n=12 studentischen Informanten frei, ob sie im Rahmen seiner offenen Befragungsstudie per E-Mail, per Chat oder per Telefon zu ihren Erfahrungen mit schwulen ChatKontakten Auskunft geben wollten. Albright und Conran (1995) interviewten n=33 Chatterinnen und Chatter über ihre Cyberromanzen und benutzten dabei einen Leitfaden, der aus drei Themenblöcken bestand: Initial Meeting and Attraction Where and how did you meet the person or persons with whom you became intimately involved? What first attracted you? What got you interested? What fascinated you most? How did you know this person (or persons) was "right" for you? Development of Relationship What was the frequency, intensity, and content of your online communications? How did you augment and shape your messages for each other? Did you speak on the telephone, send photos, and plan a time to fleshmeet? If you did some or all of these, how was it decided and what happened? How did your relationship transform, grow, or end over time? Did you develop an offline relationship? If so, how did that evolve, and what, if any online communication was still used? Truth and Deception How did you learn to trust the other or others? How quickly did you experience a meeting of the minds, a sense of intimacy? What, if any, nice surprises or disappointments did you experience? What, if any, fantasies or simulations did you do online? In Fragebogen-Studien kommt es nicht zu einem unmittelbaren Kontakt zwischen Forschenden und Beforschten. Die Fragen sind im Fragebogen fixiert, in den die Antworten einzutragen sind. Der Fragebogen kann auf Papier persönlich ausgehändigt oder postalisch verschickt, als private E-Mail verteilt, als Posting in eine Mailingliste oder Newsgroup geschickt und/oder als Online-Dokument im WWW bereitgestellt werden. Die Wahl des Distributionsmediums steht dabei in engem Zusammenhang mit der Stichprobenkonstruktion. Die Kommunikationswissenschaftlerin Traci Anderson (1999a) untersucht momentan die Erfahrung der Cyberliebe anhand eines WWW-Fragebogens, der geschlossene Fragen (z.B. zu den verwendeten Kommunikationsmedien und zur Beziehungsdauer) ebenso enthält wie offene Fragen (z.B. "How do you feel about online romantic relationships compared to in-person romantic relationships?" oder "How do you feel about your current or most recent online romantic partner?"). Ergänzend wird die generelle Einstellung zu romantischer Liebe auf einer Skala erfasst (Beispiel-Item: "I believe that to be truly in love is to be in love forever."). In einem zweiten WWW-Fragebogen (Anderson, 1999b) geht es um Cyberaffären. Neben Fragen zur Quantität und Qualität der Internet-Nutzung und zu Persönlichkeitsdispositionen wird nach direkter Beteiligung an oder indirekter Betroffenheit durch Cyberaffären gefragt. Die seit drei Jahren laufende WWWFragebogen-Studie des Selfhelp & Psychology Magazine (Maheu, 1999) befasst sich vor allem mit der sexuellen Dimension von Cyberromanzen (Beispiel-Item: "Can cybersex be as satisfying as physical sex?") und lässt die Befragungspersonen auch eine allgemeine Einschätzung "pro" oder "contra" Cyberromanzen abgeben. Die Psychologin Pamela McManus (1999) adressiert in ihrem Online Romance Survey unter anderem auch das Publikmachen der Cyberbeziehung im sozialen Netzwerk (z.B. vor Eltern oder Freunden) sowie die darauf folgenden Reaktionen des Umfeldes. WWW-Fragebogen-Studien, die mit Selbstselektions-Stichproben arbeiten, wie das etwa bei Anderson (1999a, 1999b), Maheu (1999) und McManus (1999) der Fall ist, werden mit höherer Wahrscheinlichkeit von Personen beantwortet, die sowohl besonders netzaktiv sind (und somit den Fragenbogen überhaupt erst finden) als auch besonderes Interesse an Fragen der Romantik und Erotik im Netz haben (und somit motivierter sind, den Fragebogen zu bearbeiten). Untersuchungen an Selbstselektions-Stichproben überschätzen also tendenziell die Häufigkeit, Intensität und Bedeutung von Online-Romanzen. Demgegenüber sind die mit Zufallsprozessen arbeitenden Stichprobenkonstruktionen bei Parks und Floyd (1995) sowie Parks und Roberts (1997) eher gegen solche Verzerrungen gefeit. Sozialwissenschaftliche Befragungen, seien es Interview- oder FragebogenErhebungen, sind im Bereich der Netzbeziehungsforschung deutlich häufiger anzutreffen als die in Abschnitt 2.1 dargestellten Beobachtungsstudien. Da es sich bei wissenschaftlichen Interviews und Fragebogenerhebungen um reaktive Methoden handelt, ist bei den freiwillig Befragten explizites Einverständnis zur Untersuchungsteilnahme gegeben. Insbesondere im Zuge von Online-Umfragen ist aber darauf zu achten, dass die routinemäßig zugesicherte Anonymität wirklich gewährleistet ist und die Probanden nicht unwissentlich identifizierende Informationen wie etwa E-Mail- oder IP-Adressen preisgeben (z.B. Verweis auf anonyme Remailer). 2.3 Erfahrungsberichte Erfahrungsberichte aus erster Hand tauchen vereinzelt in der sozialwissenschaftlichen Fachliteratur auf. In den seltensten Fällen stammen sie jedoch von Wissenschaftlerinnen oder Wissenschaftlern selbst, die beim vorherrschenden Wissenschaftsverständnis womöglich ihre professionelle Identität gefährden würden, wenn sie liebes- und sexualitätsbezogene Selbstaspekte zu erkennen gäben. Stattdessen wird eher auf Gastbeiträge zurückgegriffen: So kommt im Sammelband Wired Women die Programmiererin Ullman (1996) zum Thema E-Mail-Liebe zu Wort; in der Online-Zeitschrift Cybersociology berichtet die anonyme Autorin Sue (1997), die ebenfalls nicht sozialwissenschaftlich arbeitet, von ihren Cyber Liaisons. Die Anthropologin Odzer (1997) verbindet die anschauliche und detaillierte Berichterstattung über ihre romantischen und sexuellen Netzerfahrungen mit feministischen und kulturkritischen Reflexionen; als Selbständige ist sie von akademischen Normen unabhängig. Der mit Abstand größte Fundus an authentischen Erfahrungsberichten über Online-Liebesbeziehungen ist freilich im Netz selbst zu finden. Die Inspektion der Erfahrungsberichte liefert keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass hier in großem Stil fingierte Selbstdarstellungen lanciert werden, wie das unter dem Stichwort "Maskerade" der Netzkommunikation oft unterstellt wird. Es scheint aus psychologischer Sicht ohnehin unplausibel, warum Menschen viel Zeit und Mühe investieren sollten, um unter einem Pseudonym fiktive Erfahrungsberichte zu publizieren, wo sie doch im Netz die Möglichkeit haben, gerade jenes an- und auszusprechen, was sie wirklich bewegt, ohne dabei Gesichtsverlust oder Diskriminierung im unmittelbaren sozialen Umfeld (z.B. Familie, Kollegenkreis) befürchten zu müssen. Was sie unter dem Nickname Priscilla im Netz erlebt hat, insbesondere ihre romantische Netzbeziehung mit MrNorth, verarbeitet eine Psychologie-Studentin aus der Schweiz im Online-Tagebuch, das sie bewusst nicht mit ihrer persönlichen Homepage verlinkt, sondern auf einer separaten Web-Site anbietet (Priscilla 1999). Immer wieder lädt Priscilla die Leserschaft ein, auf ihre oft metareflexiven Tagebucheinträge zu reagieren und publiziert teilweise auch die eingehenden Kommentare, so dass Dialoge entstehen (z.B. zum Thema "Untreue"). Priscilla schreibt von April 1998 bis Mai 1999 fast täglich in ihr Online-Tagebuch und verabschiedet sich dann von der Internet-Welt, die ihr zunehmend als zu vergeistigt erscheint. Ihr Studienabschluss, die Trennung von ihrem Freund und der Rückzug von MrNorth liegen zu diesem Zeitpunkt hinter ihr und sie ist im Begriff, ihre erste Arbeitsstelle anzutreten. "14. Dezember 1998 Wie sehr einen Wörter in Beschlag nehmen können. MrNorth war ja so weit weg von mir, ich kannte ihn nicht - und dennoch dachte ich so oft an ihn. Das schwenkende Fähnchen meines Email-Programms, das mir eine neue Nachricht von ihm anzeigte, wurde zum Schlüsselreiz. Und die Abende, wo wir uns zum Chatten verabredeten, waren die Höhepunkte meiner Tage. Ich weiss gar nicht mehr, worüber wir immer gesprochen haben. Ich weiss nur noch, dass ich stundenlang dasass, mit leerem Magen häufig, weil mir die Zeit zu schade war, um noch etwas zu essen zu kaufen, und lachte. Es war unglaublich. Wie absurd es mir vorkam, nachts in dem Büro zu sitzen, weit und breit keine Menschenseele mehr, und laut loszulachen. Wir spielten mit Worten, erfanden gemeinsame Traumwelten, verschrobene Unmöglichkeiten, wir teilten uns in mehrere Personen auf und sprachen zu viert miteinander, wir waren Pferde, Elefanten, Nasenbären, fuhren auf einem Wikingerschiff übers Meer - es war eine unglaublich fantastische Spielwiese, die wir gemeinsam mit Leben erfüllten, eine Welt, wie es sie vorher noch nie gegeben hatte, weder für ihn noch für mich. Und mit dieser Zauberwelt wuchsen auch die Gefühle. [...] 15. Dezember 1998 Wann beginnt Untreue? Je länger je mehr kam es vor, dass ich mich dabei ertappte, wie mich MrNorth durch den Alltag begleitete. Ich kaufte mir einen Pullover und fragte mich, ob der ihm wohl gefallen würde. Ich ging durch die Strassen und hielt Ausschau nach Männern mit kurzen, blonden Haaren - denn so viel hatte er mir unterdessen von sich verraten. Ich lag in den Armen meines Freundes - und dachte an ihn, den ich nie gesehen noch gehört hatte. Was ist Untreue? Ich hatte ein schlechtes Gewissen dabei. Eines Abends erzählte ich meinem Freund von meinen unglaublichen Erlebnissen, wollte ihn einweihen, warnen, was weiss ich aber er erfasste nicht, was es wirklich bedeutete. Sprache ist nicht sein Ding, und er hatte wohl keine Vorstellung davon, wie sehr mich diese Welt der seinen schon entrückt hatte. So blieb ich weiterhin allein und versuchte, mich in diesem Neuland zurechtzufinden. [....]" Verbreiteter als ganze Online-Tagebücher sind kürzere autobiografische Zeugnisse, die typischerweise auf der persönlichen Homepage untergebracht werden. Cyberliebespaare verlinken gerne ihre Homepages miteinander oder bieten gleich eine gemeinsame Homepage an. Online-Tagebücher oder private Homepages, die Erfahrungsberichte über Cyberromanzen enthalten, sind einzeln über Suchmaschinen und gebündelt über entsprechende Webrings zugänglich. Einschlägige Webrings (http://www.webring.org/) sind etwa Love On-Line (62 Homepages), Love at first Byte (82 Homepages), Internet Romance (184 Homepages) oder I Met My Mate on the Net (241 Homepages), wobei es meist um heterosexuelle Paare geht. Berichte über schwule oder lesbische Cyberromanzen sind vereinzelt beispielsweise im Queer Wedding Webring (z.B. Kim & Kellie 1999) oder im Women Loving Women Webring (z.B. Pedds & Birdie 1999) zu finden. Schließlich existieren diverse frei zugängliche Online-Archive, die gebündelt Erfahrungsberichte über Online-Romanzen publizieren. Manche Archive ermöglichen es, den eigenen Erfahrungsbericht per Online-Formular selbst in das Archiv einzuspeisen. Auf diesem Wege sind bislang 170 Beiträge in das Archive of Cyber Love Stories gelangt, das von einem Chat-Forum – dem Hawaii Chat Universe (HCU: http://www.lovelife.com/CLS/) – angeboten wird (Stand: Oktober 1999). Die fehlende redaktionelle Kontrolle dieses Archivs schlägt sich darin nieder, dass 54 der 170 Beiträge Doppel-Postings darstellen oder off-topic sind (z.B. Schilderung von Offline-Romanzen). Die eigentliche Datenbasis besteht also aus n=116 Erfahrungsberichten über Cyberromanzen: 78% (n=89) dieser Beiträge stammen von Frauen, 22% (n=26) von Männern; bei einem Beitrag war keine Geschlechtszuordnung möglich. Bei allen beschriebenen Romanzen handelt es sich um heterosexuelle Beziehungen, was darauf hindeutet, dass die generell geringe Beteiligung von Männern am Cyberromance- und Cybersex-Diskurs nicht auf mangelnde Erfahrung mit dem Gegenstand zurückgeführt werden kann, sondern wohl eher auf geringere Thematisierungsbereitschaft. Das Altersspektrum der Berichtenden reicht von 15 bis 55 Jahre, demgemäß haben die geschilderten Cyberromanzen auch einen jeweils ganz unterschiedlichen biografischen Stellenwert. In 59% der Fälle (n=68) ist den Berichten ein Hinweis auf die Herkunftsorte der Beteiligten zu finden, wobei nur in 9 Fällen die geografische Distanz gering war (z.B. Nachbarort, gleiche Stadt), während in allen anderen Fällen mehrere hundert Kilometer Distanz zu verzeichnen und/oder sogar verschiedene Herkunftsländer und Kontinente beteiligt waren. In knapp jeder vierten dokumentierten Cyberromanze war mindestens eine Person verheiratet (n=15) oder unverheiratet (n=12) partnerschaftlich gebunden. Bei anderen Archiven werden Neueinträge nur von der Archiv-Verwaltung vorgenommen, der man das Material per E-Mail zuschicken muss. Die zentrale Archiv-Verwaltung ermöglicht eine Selektion und Rubrizierung der Beiträge. So bietet die Verwalterin der Web-Site Safer Dating (http://www.saferdating.com/) ein Archiv mit n=37 True Stories an (Stand: Oktober 1999). Es ist davon auszugehen, dass vom gesamten Spektrum an Erfahrungen mit Cyberromanzen in Erfahrungsberichten tendenziell spektakuläre Fälle überrepräsentiert sind, da außergewöhnlich positive oder negative Erlebnisse am ehesten zur Produktion und Publikation eines Beitrags motivieren. Die im WWW publizierten Erfahrungsberichte lassen sich insofern aus ethischer Perspektive als für wissenschaftliche Zwecke frei verfügbares (aber zitationspflichtiges) Material interpretieren, als das via WWW adressierte Publikum eher noch größer und in seiner Zusammensetzung unkontrollierbarer ist, als die durch eine wissenschaftliche Publikation erreichte Zielgruppe. Eine Privatheits-Verletzung durch Verwendung von WWW-Beiträgen liegt also nicht vor. Ohnehin beinhaltet der Verweis auf die WebQuelle häufig keine Identifizierbarkeit der Berichtenden, da diese bei Archiv-Beiträgen in der Regel nur ihren Nickname angeben. Greift man in größerem Umfang auf die Erfahrungsberichte Einzelner zurück und sind die betroffenen Autorinnen und Autoren identifizierbar oder zumindest kontaktierbar, so wäre eine Information über das Forschungsprojekt angebracht. Kritisch ist für die Autorinnen und Autoren von Online-Beiträgen nicht nur eine möglicherweise ungewollte Verbreitung ihrer Äußerungen vor größerem Publikum, sondern auch auch eine inhaltliche ReKontextualisierung, die Interpretationsweisen nahelegt, mit denen sie nicht einverstanden sind (vgl. Sharf, 1999). 2.4 Praxisratschläge Wenn wir wissen möchten, wie man im Netz erfolgreich flirtet, untreue Cybergeliebte überführt oder das Ende von Cyberromanzen verkraftet, werden wir in der Fachliteratur vergeblich nach Hilfestellung suchen. Dafür hat der Markt der RatgeberLiteratur dieses Thema mittlerweile aufgegriffen. Typischerweise sind es Personen mit einschlägigen persönlichen Netzerfahrungen (z.B. Phlegar 1996, Skrilloff & Gould 1997, Theman 1997) und/oder mit psychologischem bzw. psychotherapeutischem Hintergrund (z.B. Adamse & Motta 1996, Booth & Jung 1996, Gwinnell 1998), die hier als Sachverständige in Erscheinung treten. Obwohl solche Ratgeber-Bücher stark von den persönlichen Sichtweisen und Erfahrungshorizonten ihrer Autorinnen und Autoren gefärbt sind und so manche Empfehlung fragwürdig erscheinen mag ("Cybersex: most women – if they're honest about it – have faked an orgasm or two. Just fake one on the screen", "Check his fidelity: change your screen name and try seducing him in your new persona", Skrilloff & Gould, 1997, 70, 97), so kann die Ratgeber-Literatur der Forschung Fallbeschreibungen liefern. doch interessante Anregungen und Neben den herkömmlichen Buchpublikationen wird eine von Fachleuten verfasste Ratgeber-Literatur auch im Netz zur Verfügung gestellt, etwa in Form von OnlineMagazinen, die sich zwar üblicherweise nicht primär, aber zumindest peripher mit Netzromanzen auseinandersetzen. Dazu gehören etwa das Self-Help & Psychology Magazine (http://www.shpm.com/), das Friends and Lovers – Relationship Magazine (http://www.friends-lovers.com/), die Online-Mädchenzeitschrift Cybergrrl (http://www.cybergrrl.com/) oder die Love, Romance & Relationships Web-Site (http://www.lovingyou.com/). Häufiger finden sich im Netz jedoch Betroffene zusammen, um einander wechselseitig in Diskussions-Foren und Online-Selbsthilfegruppen mit Unterstützung beizustehen. Dies geschieht typischerweise über Newsboards im WWW, Newsgroups im Usenet, über Mailinglisten sowie auch über Chat-Foren. Einschlägig für Probleme mit Cyberromanzen und Cyberaffären sind etwa das Web-Newsboard Cyber Romance (via http://members.lovingyou.com/boards/), die Mailingliste "Cyberdating" (via http://www.onlinelist.com/) und die Newsgroup <alt.irc.romance>. Die folgenden Ausschnitte aus einem Thread im Web-Newsboard Cyber Romance sprechen typische Probleme und Unsicherheiten aus verschiedenen Perspektiven an: 1. Beitrag (5.10.1999) Subject: Am I insane or is it possible? Hi, Ok this is the story about a month ago I was chatting on ICQ and I was in the Romance room, I usually go to these rooms just for the fun of it. I was already seeing somone in real life so I wasn't really looking for anything new. Well I was scrolling the names and I came across the a name that I really thought was interesting. So I began a chat with this guy, we chatted for over five hours and neither of us had even realized it. We were so absorbed in our conversation that time no longer seemed to matter. During that first talk, we discovered so much about each other. It was like we could feel each other. I don't really know how to explain it. All I knew was that from the moment I talked with him I had this deep longing and caring for him. He felt the same for me. We've talked every day since this first meeting, as I said about a month, and we feel more and more for each other. I love him, I know I do, but what I'm asking is how can this be? I mean is it wrong to care so deeply for someone I have never even met in person and have only known a short time? We have exchanged pictures and I have to admit that having his picture and knowing what he looks like just cements my feelings more. He lives in Italy and I live in the States so that makes our relationship even more frustrating. The logical side of me is saying that I'm crazy and that it isn't right, but my heart is saying how can somone who makes me feel so good about myself and makes me happy be wrong. So can anyone give me some advice? Are things going to fast or what?? 2. Beitrag (5.10.1999) Sometimes you just meet "the one". You dont know when or where. And it's not wrong to feel this way at all. HOWEVER, you are dating someone now. How do you really feel about him? How serious is your relationship with your bf? It's good to be friends but if you are thinking about more then friends then you have to decide who you want. Dont let distance stop you or your heart. My fiance is 1300 miles from me and we just celebrated our 9th month together. Just dont start a new love relationship unless you are finished with the old. 4. Beitrag (5.10.1999) Hey, I just wanted to tell you that I think it's really cool that you met someone you have so much in common with, and that i know how you feel. I have fallen in love with someone online, and I know how frustrating it is, because he lives in Germany and I live in the states. So, hang in there. It doesn't sound like you're going to fast, to me. But, it's always best to listen to your heart. That's the easiest way to tell if you are going toofast or not, and no matter what...never listen to anyone else's advice, comments, etc. 5. Beitrag (10.10.1999) Believe me I know what you are feling. The same thing happened to me too. I had been happily married for 21 yrs when I played around in a chat room and met a man that would forever change my life. We connected right away and are now engaged. I am leaving my husband and children in Dec. for a new life with him in Hawaii. He is also leaving his marriage and family also. It sounds worst than it really is. Anyway, like I did, You just gotta follow your heart and listen to No one. 7. Beitrag (13.10.1999) First, I thought the reason that people posted in this forum was to get advice...now everyone is saying don't follow anyone's advice (sorry I dont get it). [...] I think we all know that there is no such thing as a "perfect" relationship and they all have their ups and downs. I've always said that if we worked half as hard at making our current relationships work as we do complaining about them and eyeing others life would be so much better. I think it's right that you have to do what is in your heart...but in this case I think she knows in her heart this is not a good situation and will only cause problems in the long run (the distance thing alone). Why cause problems for yourself if you don't have to? I've never understood that. Wenn hier Zitate aus einem öffentlichen asynchronen Diskussionsforum (d.h. einem Web-Newsboards) zur Illustration herangezogen werden, so geschieht dies jeweils mit Datumsangabe, aber ohne Namensnennung; somit sind die (ohnehin nur mit Nicknames auftretenden) Autorinnen und Autoren der Beiträge (wenn überhaupt) nur für diejenigen identifizierbar, die über die notwendige Kompetenz und Motivation verfügen, die entsprechenden Netzforen selbst zu lesen. Im Unterschied zu WebBeiträgen sind bei Mailinglisten- und Newsgroup-Beiträgen immer E-Mail-Adressen zu finden, so dass auch explizites Einverständnis für die Verwendung der Beiträge eingeholt und die Art und Weise der Zitatation (z.B. anonym oder mit Namensnennung) abgestimmt werden kann. Welche ethische Strategie im konkreten Forschungsprojekt zum Einsatz kommt, mag vom Öffentlichkeits-Konzept der Forschenden abhängen, aber auch von forschungsökonomischen oder organisatorischen Restriktionen bestimmt sein: Werden beispielsweise Postings analysiert, deren Publikation mehrere Jahre zurückliegt, so sind viele der angegebenen E-Mail-Adressen bereits veraltet. Auch kann ein möglicherweise langes Warten auf die Reaktionen der angefragten Posterinnen und Poster problematisch sein. Andererseits mögen im Falle einer Kontaktaufnahme über die Einverständniserklärung hinaus auch wertvolle zusätzliche Hintergrundinformationen Interpretationsvorschläge ausgetauscht werden (vgl. Sharf, 1999, S. 251f.). 3 und Ausblick Für die Untersuchung von Cyberromanzen lassen sich durch Beobachtungs- und Befragungsstudien, sowie durch die Auswertung von Erfahrungsberichten und Praxisratschlägen vergleichsweise ökonomisch Daten gewinnen. Netzspezifisch ist die Möglichkeit, Kommunikationsprozesse unbemerkt von den Beteiligten und ohne jeden apparativen Aufwand automatisch zu protokollieren. Auch die Tatsache, dass Privatpersonen ihre Erfahrungen mit und Einstellungen zu Cyberromanzen in großem Stil online veröffentlichen, macht Netzforen zu wertvollen Datenquellen, wobei im allgemeinen kein Anlass besteht, an der Authentizität der Äußerungen zu zweifeln. Der Rückgriff auf Netzdokumente wirft angesichts divergierender Konzepte von Privatheit und Öffentlichkeit ethische Probleme auf, die kontextspezifisch zu lösen sind (z.B. durch Anonymisierung und/oder explizite Einverständniserklärung). Obwohl sich Forschungsaktivitäten im Bereich der Cyberromanzen in jüngster Zeit mehren und einzelne Befunde mittlerweile gut repliziert sind (z.B. beschleunigte Selbstoffenbarung), besteht weiterhin großer Bedarf an systematischer Empirie. Die ökonomische Datengewinnung im Netz mag einerseits zu relativ unvorbereiteten Adhoc-Studien verführen, kann andererseits aber auch Ressourcen freisetzen, die sinnvoll in die Untersuchungsplanung zu investieren sind. So lassen sich im Kontext von Beobachtungs- und Befragungsstudien durchaus repräsentative Stichproben konstruieren, etwa indem im ersten Fall die Auswahl von Netzforen und Beobachtungszeitpunkten sowie im zweiten Fall die Auswahl von Befragungspersonen jeweils aus definierten Populationen und nach Zufallsprinzipien erfolgt. Die Generalisierbarkeit von Analyseergebnissen, die auf Erfahrungsberichten oder Diskussionsbeiträgen zum Thema beruhen, ist insofern eingeschränkt, als wir noch zu wenig über die Motive wissen, die einige Netzaktive dazu veranlassen, sich im Netz öffentlich zu artikulieren. Es wäre untersuchenswert, inwiefern Schilderungen von Cyberromanzen, die im Netz publiziert werden, abweichen von Schilderungen, die im Rahmen von Forschungs-Interviews gegeben werden. So ist zu vermuten, dass die im Netz publizierten Erfahrungsberichte spektakulärer ausfallen. Dass es sich bei der Cyberromanze nicht um ein homogenes und schon gar nicht um ein medientechnisch determiniertes Phänomen handelt, verdeutlicht bereits die explorative Analyse von Erfahrungsberichten, in denen die unmittelbar Beteiligten ganz unterschiedliche Fazits ziehen (Archive of Cyber Love Stories: http://www.lovelife.com/CLS/): • Love is hard. CyberLove is impossible. I have learned this. (Story 130) • A sad cyberlove story, but a true one. On one hand the sceptics were right, it didn't work out, but it did for 3 months, and those three months, were among the best of my life. (Story 119) • I have found my one true love and for anyone that thinks that it can't happen online, you are wrong! Love can be found online! (Story 161) Legt man zugrunde, dass Personen sich sowohl deutlich darin unterscheiden, wie sie soziale Beziehungen gestalten, als auch darin, wie sie mit computervermittelter Kommunikation umgehen, so verwundert es nicht, dass eine solche Heterogenität der Erfahrungen zustande kommt. Wenn weitere Forschungsaktivitäten diese Heterogenität herausarbeiten, dann werden eindimensionale Erklärungsmodelle an Überzeugungskraft verlieren, die die Existenz von Cyberromanzen entweder auf personale Defizite zurückführen ("Vor allem beziehungsgestörte, vereinsamte Computerfreaks suchen Liebe im Netz.") oder sie direkt von medialen Besonderheiten ableiten ("Das Netz liefert eine kontrollierbare Scheinwelt, die die Nutzer emotional in ihren Bann schlägt und süchtig macht."). Die Virtualität gegen die Realität, das Latente gegen das Manifeste, oder die Online-Beziehung gegen die Offline-Beziehung zu kontrastieren ist fragwürdig und notwendig zugleich. Fragwürdig deswegen, weil dichotome Schematisierungen generell den Nachteil haben, die in der Erfahrungswirklichkeit vorkommenden Unschärfen und Übergänge durch Polarisierung zu vereindeutigen. Notwendig ist die Kontrastierung aber deswegen, weil die Beteiligten selbst ihre Erfahrungen nicht selten in dichotomen Konzepten interpretieren und dann beispielsweise dem "Netz" das "Real Life" gegenüberstellen. Die These zweier distinkter Erfahrungswelten erweist sich jedoch gerade dann als illusorisch, wenn es zu instruktiven Irritationen kommt: Natürlich habe ich mich dann auch bald einmal gefragt, wie MrNorth aussieht. Das heisst: zuerst hatte ich einfach ein imaginäres Bild von ihm. Ca. 1.85 m gross, braune Haare, braune Augen. Wie kam ich bloss darauf? Lautrec sagt, er finde es nicht cool, wenn man eine neue ChatBekanntschaft gleich nach ihrem Äusseren fragt. Und doch tun es die meisten. MrNorth und ich waren cool. Wir fragten uns lange nicht danach. Und doch kam mir irgendwann einmal siedendheiss in den Sinn, dass er ja einen Schnauz und eine getönte Metallgestell-Brille tragen könnte. Danach musste ich mich dann doch erkundigen. Er fragte, ob ich Cyrano de Bergerac kenne – das sei er. Er habe weder Schnauz noch Brille, aber er sei 1.65 m gross. Wie mich das erschreckte. Es enttäuschte mich - denn ich hatte ihn mir grösser gewünscht. Die Idee, mit einem so kleinen Mann zu chatten, trübte meine Freude an unseren Gesprächen. Und das erschreckte mich dann gleich nochmals. So viel bedeutete mir also sein Äusseres? Mir, die ich doch immer die Wichtigkeit der inneren Werte betonte? Das war nun definitiv nicht cool. Und es war alles nochmal anders. Die Sache stellte sich als Scherz heraus – mein virtueller Gesprächspartner hatte mich auf die Probe stellen wollen. In Wirklichkeit ist er um einige Zentimeter grösser als ich. Obwohl mich der "Scherz" ein bisschen ärgerte – er hatte gesessen. Ich begann mir über meine Erwartungen Gedanken zu machen. Und entdeckte da bei mir so einige ganz beschränkte Idealvorstellungen, von denen ich dachte, dass ich sie längst überwunden habe. Das auf der einen Seite - und auf der anderen wurde mir dadurch erst richtig bewusst, was mir am Äusseren eines Mannes wirklich wichtig ist. Dabei veränderten sich auch einige bisher unhinterfragte Ideen." (Priscilla 1999, 09.12.1998) Eine Online-Liebe verhilft freilich nicht automatisch zu besserer Selbsterkenntnis. Vielmehr dürften hier wiederum medienunabhängige Dispositionen ausschlaggebend sein (z.B. kognitive und motivationale Voraussetzungen der Selbstreflexion). Warf man Netzkontakten vor 15 Jahren noch vor, versachlicht, entsinnlicht und maschinenlogisch kontrolliert zu sein, so moniert man heute oft genau das Gegenteil: Imaginativ aufgeladen, hochgradig emotionalisiert und erotisiert gefährdeten Netzkontakte das seelische Gleichgewicht der Beteiligten und brächten allzu schnell ihr geregeltes Ehe- und Familienleben durcheinander. Um den unvernünftigen Versuchungen der Cyberliebe zu widerstehen, wird nun immer häufiger zu Vorsicht und Distanz im Umgang mit den unberechenbaren Netzbekanntschaften geraten. Für die weitere Online-Beziehungsforschung erscheint es besonders fruchtbar, Anonymität und Intimität, physische Distanz und sinnliche Präsenz, Kontrollierbarkeit und Unkalkulierbarkeit nicht als Gegensatzpaare zu interpretieren, sondern jeweils in ihrer wechselseitigen Bedingtheit zu explorieren. Literatur Adamse, Michael & Motta, Sheree (1996). Online Friendship, Chat-Room Romance and Cybersex. Your Guide to Affairs of the Net. 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