Blindtext - Verband Bildungsmedien

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Blindtext - Verband Bildungsmedien
2006
Von der Reform
zum besseren Unterricht
Beiträge und Diskussionen
zur nachhaltigen Neuordnung von Lernprozessen
Eine Dokumentation zum
„forum bildung“
didacta – die Bildungsmesse 2006
Hannover, 20.2. bis 24.2.2006
Vorwort
Blindtext
„Work in progress“ – so lässt sich der derzeitige Arbeitsstand bei der Reform des deutschen Bildungswesens wohl am besten beschreiben. Einerseits sind neue Kernlehrpläne und Bildungsstandards eingeführt, die Schulinspektionen haben begonnen, innovative Formen und Inhalte der Lehrerfortbildung sind teilweise gefunden – andererseits hat
die Evaluierung der eingeleiteten Reformen gerade erst begonnen, und schon werden
neue Veränderungswünsche an das Bildungswesen herangetragen: Schule soll früher
beginnen und – zumindest im Gymnasium – früher enden; Kindertagesstätten und
Grundschulen sollen enger miteinander verbunden werden; mit der Frage nach der
Zukunft der Hauptschulen ist eine neue Schulstrukturdebatte in Gang gebracht worden.
Auch andere Themen sind noch nicht ausdiskutiert: Wie kann man den Übergang von der
Schule in den Beruf erfolgreicher gestalten? Wie können Migrantenkinder besser gefördert
werden? Wie muss die Lehrerbildung weiter professionalisiert werden? Wie selbstständig
kann und darf Schule sein?
Aus diesen Inhalten und Problembereichen bezog das diesjährige „forum bildung“, das
Leitforum der „didacta – die Bildungsmesse“, seine Themen. Das Forum fand zwischen
dem 20. und 24. Februar 2006 in Hannover statt, mit 20 Veranstaltungen und 41 Referentinnen und Referenten. Auf dem „forum bildung“ kamen erneut Bildungsspezialisten
aus Schule und Verbänden, Verantwortung tragende Politiker und Minister, prominente
Erziehungswissenschaftler und Lernforscher, Schulexperten aus dem In- und Ausland und
ausgewiesene Lernmethodiker und Wissenschaftler aus der Lehrerfortbildung sowie den
Universitäten zusammen. Sie stellten neue Konzepte und Ideen vor, präsentierten
Lösungsansätze und diskutierten sie auf kontrovers besetzten Podien und immer auch mit
dem Publikum.
Allen Referenten des „forum bildung 2006“ gilt unser herzlicher Dank – für die Offenheit,
mit der sie Positionen bezogen, für ihren Willen zum konstruktiven Dialog, für ihre
Bereitschaft, auch selbstkritisch die eigene Meinung zu hinterfragen. Sie haben an erster
Stelle dazu beigetragen, dass auf dem Forum der Stand der bildungspolitischen Reformen
kompetent diskutiert und dem Besucher veranschaulicht werden konnte.
Fünf Veranstaltungen des Forums entstanden in Kooperation mit „Focus Schule“, der
„Frankfurter Rundschau“, „NDR Info“ und der „Hannoverschen Allgemeinen“. Es waren Veranstaltungen, die in besonderer Weise Brennpunktthemen, die Schule beschäftigen, thematisierten. Unser Dank gilt hier ganz persönlich Yvonne Globert, Ulrike Heckmann, Katja
Irle, Jörg Kallmeyer und Gaby Miketta für die gelungenen Moderationen.
Wir bedanken uns ebenso herzlich bei den beiden Chefmoderatoren des Forums, Peter
Freese und Peter E. Kalb, die einfühlsam und mit Esprit auf die zahlreichen Referentinnen und Referenten eingingen. Sie brachten die Veranstaltungen gekonnt auf den jeweiligen Punkt – was ihnen besonders die Besucherinnen und Besucher dankten, die somit
konkrete Aussagen vom „forum bildung“ mitnehmen konnten.
Diese Dokumentation gibt alle Veranstaltungen wieder. Die Statements der Referentinnen
und Referenten wurden vor der Veröffentlichung redaktionell bearbeitet. Damit erhält der
Leser ein vollständiges Bild der Diskussionsreihe. Aus Platzgründen musste auf eine
Wiedergabe der ebenfalls spannenden Diskussionsbeiträge der Besucher verzichtet werden. So bleibt uns abschließend zu hoffen, dass wir durch das „forum bildung“ wie durch
diese Publikation den pädagogischen Reformprozess im wahrsten Sinne des Wortes anregend begleiten.
VdS Bildungsmedien e.V.
Andreas Baer – Rino Mikulic
Frankfurt am Main, im September 2006
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Impressum
Herausgeber:
VdS Bildungsmedien e. V.
Zeppelinallee 33, 60325 Frankfurt am Main
Verantwortlich:
Andreas Baer
Redaktion:
Elke Habicht
Gestaltung:
Schommler Engel Klocke GbR, Frankfurt am Main
Herstellung:
NK Druck + Medien GmbH
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Inhalt
Blindtext
Einleitung
Peter Freese / Peter E. Kalb: „didacta – die Bildungsmesse Hannover 2006“
6
Vorträge / Präsentationen
Bernd Busemann: Bildung ist Zukunft – Zukunft der Bildung
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Peter Struck: Schule aus der Sicht der Hirnforschung: Wie lernen Kinder mehr?
16
Hilbert Meyer: Merkmale guten Unterrichts – Empirische Befunde und didaktische Ratschläge
23
Heinz Klippert: Bildungsstandards umsetzen – aber wie? Anregungen zur schulinternen Arbeitsplanung
30
Christoph Selter: Leistungen feststellen, um Kinder zu fördern –
Was bedeutet das für den Mathematikunterricht?
38
Heinz Klippert: Lehrerentlastung – Handlungsperspektiven für Schule und Unterricht
44
Dorothee Gaile: Lesen macht schlau – Neue Lesepraxis für weiterführende Schulen
51
Dieter Breithecker: Bewegte Kinder – schlaue Köpfe
56
Podien / Diskussionen
Bernd Busemann / Ingrid Eckel / Karl-Heinz Klare / Ina Korter / Hans-Werner Schwarz:
Wegweisend oder überhastet? Die Bildungspolitik in Niedersachsen
62
Armin Lohmann / Gitta Franke-Zöllmer / Rob L. Schouten / Hans-Jürgen Vogel:
Eigenverantwortliche Schule mit externer Evaluation
72
Rainer Domisch / Eberhard Brandt:
Wie lange gemeinsam lernen? Neue Erkenntnisse und neue Ansätze zu einer alten Streitfrage
80
Olaf Köller / Klaus-Jürgen Tillmann / Heinz-Peter Meidinger:
Von den Bildungsstandards über neue Methoden der Leistungsmessung hin zu besserem Unterricht?
86
Ludwig Eckinger / Andrea Kiewel / Bernd Busemann / Barbara Loos:
Schluss mit der Gängelei – warum Deutschland selbstständige Schulen braucht
94
Jan-Hendrik Olbertz / Thomas Rauschenbach / Engelbert Siebler / Jürgen Frank:
Gerecht befähigen – Gemeinsame Verantwortung von Kirche, Schule und Gesellschaft
102
Klaus Böger / Albrecht Düsel / Wilfried Steinert / Ludwig Eckinger:
„Fordern und Fördern“ – ein Paradigmenwechsel für alle Schulformen
110
Eva Schmoll / Werner Sacher / Ulrich Thöne / Hans-Jürgen Vogel:
Elternhaus versagt – Schule repariert?
118
Ulrich Herrmann / Jan-Hendrik Olbertz / Andreas Schleicher:
PISA, PISA, PISA – Welche Konsequenzen für Schule und Unterricht kann man wirklich ziehen?
128
Barbara John / Ewald Kiel / Rita Süßmuth / Michael Griesbeck:
Durch Sprachförderung zur besseren Integration von Migrantenfamilien –
Was können Schule und Erwachsenenbildung wirklich leisten?
138
Wassilios Fthenakis / Karin Wolff: „Bildungspläne von 0 bis 10. Übergänge Kindergarten – Schule“
148
„Zukunft Schule“ – Verleihung des Cornelsen Förderpreises
152
5
Einleitung
Peter Freese
Peter Freese, Professor em. Dr. phil. Dr. h. c. mult., geb. 1939 in Bremen. Studium der Anglistik/Amerikanistik
und Germanistik in Kiel, Heidelberg und Reading/GB. Nach Professuren in Kiel und Münster seit 1979
ordentlicher Professor für Amerikanistik an der Universität Paderborn. Zahlreiche Gastprofessuren in Großbritannien, Ungarn und den USA. 1993-96 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Amerikastudien, 2000-03
DFG-Fachgutachter für Amerikanistik. Ehrendoktor der Lock Haven University of Pennsylvania und der Universität Dortmund. Träger des Bundesverdienstkreuzes am Bande. Autor von zahlreichen Büchern und Aufsätzen.
Peter E. Kalb
Peter E. Kalb, geb. 1942. Ehemals Chefredakteur von „betrifft: erziehung“. Seit 1985 Verlagsleiter des pädagogischen Fachverlags Beltz, Redakteur der Zeitschrift „Pädagogik“.
Vom 20. bis 24. Februar 2006 war Hannover mit der „didacta –
die Bildungsmesse“ wieder einmal der Mittelpunkt der pädagogischen Welt in Deutschland. Über 70 000 Besucher trafen auf
749 Aussteller, und 98,3 Prozent der Messegäste waren – wie eine
spätere Auswertung zeigte – Pädagogen aller Fachrichtungen.
Natürlich kamen die meisten von ihnen aus der Institution
jahre verlagert hat. Aussteller- und Besucherinteressen erwiesen
sich also als identisch, und so überraschte es nicht, dass alle
Beteiligten rückblickend sowohl die Quantität als auch die Qualität der Messe mit rundum großer Zufriedenheit bilanzierten.
Wie schon bei den vorausgegangenen Bildungsmessen war das
„forum bildung“ mit seinen zwanzig Veranstaltungen von Mon-
Auf der „didacta – die Bildungsmesse“ greift das „forum bildung“ als Leitforum für den Ausbildungsbereich Schule traditionell die zentralen Themen der Bildungsdebatte auf. Schwerpunkt der insgesamt
20 Podiumsdiskussionen und Vorträge des Jahres 2006 war die Wirkung und Nachhaltigkeit des sich
im Gang befindlichen Reformprozesses. Vorgestellt wurden konkrete Verbesserungen für Unterricht,
Schulentwicklung und Methodik. Bildungspolitiker der höchsten Ebene aus vier Bundesländern, die
profiliertesten Lernmethodiker und Schulentwickler sowie ausgewiesene Experten aus der Erziehungswissenschaft, der Lehrerbildung und der Bildungsverwalter und schließlich hochrangige Vertreter der
Kirchen konnten für die Veranstaltungsreihe gewonnen werden. Diese – auch im Jahr 2006 teilweise
unterstützt von Partnern aus den Medien – wurde mit bewährter Umsicht und Routine moderiert von
PETER FREESE, Professor em. für Amerikanistik an der Universität Paderborn, und PETER E. KALB,
Leiter des Beltz Verlags.
Schule, und die Mehrzahl war erwartungsgemäß an Schulen des
gastgebenden Bundeslandes tätig. Dass dabei besonders viele
Lehrerinnen und Lehrer oder Referendarinnen und Referendare
aus den Grundschulen die Messe besuchten, bestätigt einmal
mehr, dass sich der Schwerpunkt der aktuellen Bildungsdiskussion von den Abschluss- auf die lange vernachlässigten Anfangs-
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tagvormittag bis Freitagnachmittag wieder einer der Hauptanziehungspunkte der Bildungsmesse. Zu Diskussionen und Vorträgen trafen sich politisch Verantwortliche aus den Kultusministerien mit führenden Erziehungswissenschaftler(inne)n und
prominenten Praktiker(inne)n. Die dabei sichtbar werdenden
Reibungen, die zwischen Politik, Wissenschaft und Schule
„didacta – die Bildungsmesse Hannover
Blindtext
2006“
zwangsläufig entstehen, gaben den manchmal recht kontroversen Forumsveranstaltungen eine besonders abwechslungsreiche
und informative Note.
Traditionell wurde das Forum mit einem Vortrag des Kultusministers des gastgebenden Bundeslandes eröffnet, und die vielen
Fragen und kritischen Anmerkungen, die Minister Busemann
mit seinem Grundsatzbeitrag zum Stand der umfassenden Bildungsreform bei den zahlreich erschienenen niedersächsischen
Lehrerinnen und Lehrern auslöste, zeigten, wie interessant es
für die Messebesucher sein kann, einmal ‚ihren‘ Kultusminister
live zu erleben – um dabei zu beobachten, wie er argumentiert
und wie überzeugend er seine naturgemäß nicht unumstrittenen Thesen zu vertreten vermag. Solche direkten Begegnungen,
die später dann auch mit dem Kultusminister des Landes Sach-
Debatten in der Öffentlichkeit der Bundesrepublik, sondern es
machte auch die Widersprüche erkennbar, die sich zwischen
Sonntagsreden und Montagsentscheidungen auftun. So hat
etwa der „PISA-Schock“, wie er bisweilen in der Presse genannt
wird, hektische Reaktionen in allen Parteien ausgelöst, und es
gibt keinen Bildungspolitiker, der nicht wortreich verkündet
hätte, dass wir in die Köpfe unserer Kinder investieren müssen.
Dass diese eigentlich unstrittige Erkenntnis noch nicht in die
Bildungsetatplanungen aller Länder und Kommunen eingegangen ist, belegt z. B. die Entwicklung der staatlichen Ausgaben
für Schulbücher und Unterrichtssoftware: Diese fielen nach
Angaben des VdS Bildungsmedien 2005 in Deutschland von
244 Mio. Euro um 6,6 Prozent auf 228 Mio. Euro. Pro Schüler
haben Länder und Kommunen demnach lediglich 20 Euro aufgewendet; 1991 waren es noch 34 Euro – ein Minus von 41 Prozent.
„Zwar ist ersichtlich, dass es im Vergleich zur ersten PISA-Untersuchung einige Erfolge gibt,
aber auch die besten Bundesländer sind im OECD-Vergleich noch immer nur Mittelmaß. Die
Diskussion um erforderliche Veränderungen muss folglich breiter und grundlegender werden,
und das wurde bei verschiedenen Veranstaltungen des ‚forum bildung‘ deutlich.“
sen-Anhalt, dem Berliner Senator für Bildung, Jugend und Sport
und der Hessischen Kultusministerin möglich wurden, machten
zweifellos einen besonderen Reiz der Veranstaltungen auf dem
„forum bildung“ aus.
Durch das Spektrum der Vorträge und Diskussionsrunden wurde
während der Messewoche wieder genau das abgebildet, was die
an Schule und Bildungspolitik, an Pädagogik und an den in
Unterrichtsfächern abgebildeten Wissenschaften Interessierten
das ganze Jahr über beschäftigt. Das Forum thematisierte nämlich nicht nur die wichtigsten Brennpunkte der gegenwärtigen
Zweifellos ist es PISA zu verdanken, dass die Qualität von Schule in die öffentliche Diskussion geraten ist, und fraglos sind
entsprechende Aktivitäten in allen Bundesländern erkennbar.
Aber es bleibt die Frage, ob denn Veränderungen im Bildungssystem auf den Weg gebracht wurden, die tatsächlich zu Verbesserungen der Ergebnisse führen werden. Zwar ist ersichtlich, dass es im Vergleich zur ersten PISA-Untersuchung einige
Erfolge gibt, aber auch die besten Bundesländer sind im OECDVergleich noch immer nur Mittelmaß. Die Diskussion um erforderliche Veränderungen muss folglich breiter und grundlegender werden, und das wurde bei verschiedenen Veranstaltungen
des „forum bildung“ deutlich. Ein zentraler und stets umstrittener Aspekt solcher Überlegungen wurde auf einem Podium
thematisiert, das sich mit der Frage beschäftigte, wie lange
Schüler gemeinsam lernen sollen; ob eine lange gemeinsame
Lernzeit gleichsam automatisch eine Qualitätsverbesserung mit
sich bringt und ob wir endlich vor einer Lösung der alten Streitfrage stehen, welche die Diskussion schon seit der Reichsschulkonferenz Anfang der 1920er-Jahre begleitet. Zu dieser Frage
waren die Ausführungen von Rainer Domisch vom Zentralamt
für Unterrichtswesen in Helsinki besonders erhellend, weil er
als ein in Baden-Württemberg ausgebildeter Lehrer, der nun als
Beamter im finnischen Schulwesen tätig ist, Vergleichsmöglichkeiten hat, über die in der ansonsten wahrnehmbaren öffentlichen Diskussion niemand verfügt. Der aus intimer Kenntnis
beider Bildungssysteme gewonnene Vergleich machte die offenen Fragen umso deutlicher sichtbar und ließ manchen Zuhörer
einige der in Finnland praktizierten Lösungen mit Neid zur
Kenntnis nehmen.
7
Einleitung
Ein weiterer Aspekt, der im Gefolge der PISA-Untersuchungen
in Deutschland nun intensiv diskutiert wird, ist die Frage nach
allgemein akzeptierten Bildungsstandards sowie die Bewertung
der ersten Ergebnisse, welche die entsprechenden Weichenstellungen gezeitigt haben. Die Besucher unseres Forums konnten
in einer Diskussionsrunde mit dem Thema „Von den Bildungsstandards über neue Methoden der Leistungsmessung hin zu
besserem Unterricht?“ aus erster Hand erfahren, was der Direktor des Berliner Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen, das den Prozess der Standardisierung begleiten
gungen vermittelten. Auch Veranstaltungen mit schulpraktischen Diskussionsangeboten zur Förderung im Mathematikunterricht, zu neuen Ideen für eine innovative Lesepraxis oder
zu Bewegungsangeboten, die in unserer heutigen Schule
sowohl bei Schülerinnen und Schülern, aber auch bei Lehrerinnen und Lehrern zu kurz kommen, wurden von den Besuchern
des Forums erfreut aufgenommen.
Foto: Messe Hannover
Zum guten Schluss ist eine Veranstaltung herauszuheben, die
inhaltlich eine zentrale Stelle der künftigen Entwicklung im Bildungsbereich markiert: Nach PISA gibt es –
in der Politik, der Wissenschaft und der Praxis – Konsens darüber, dass eine möglichst
frühe Sprachförderung der Kinder einen
Schlüssel für die spätere Schul- und Berufskarriere darstellt. Dass die Schule und die
vermittelten Abschlüsse jeweils die soziale
Herkunft der Kinder widerspiegeln (wie es
PISA belegt), ist ein bedenkliches Zeichen
für die Ungerechtigkeiten unseres Gesellschaftssystems. Alle Bildungseinrichtungen
müssten sich folglich mehr anstrengen,
diese Fehlentwicklung zu korrigieren. Hierzu
gehören selbstverständlich auch die Kindergärten, und der Übergang von ihnen zur
Grundschule sollte ein gleitender und barrierefreier Prozess sein. Anregungen für eine
Neugestaltung dieses Prozesses gibt es
bereits viele, und auf dem „forum bildung“
wurden sie in einer Diskussion der hessischen Kultusministerin Karin Wolff mit Pro„didacta – die Bildungsmesse“ vom 20. bis 24. Februar 2006 in Hannover. Fünf Tage lang war
fessor Dr. Wassilios Fthenakis, dem Entwickdie Messe der zentrale Treffpunkt für Lehrer, Erzieher, Aus- und Weiterbilder.
ler der Bildungspläne 0 bis 10, um bedenkenswerte Vorschläge erweitert. Genau hier
dürfte wohl auch bei allen künftigen Debatund entsprechende Aufgaben entwickeln soll, zum Stand der ten ein Schwerpunkt liegen. Man wird dabei fragen müssen, ob
Dinge mitzuteilen hatte. Anschließend gab es Gelegenheit, der Kindergarten ausreichende Möglichkeiten und eine entdarüber zu streiten, wie sich denn fortan länderspezifische sprechende Personalqualität hat, um in angemessener Weise
Differenzen und bundesrepublikanische Standards miteinander mit den Kindern pädagogisch zu arbeiten, und ob er auch die
vermitteln lassen. Hier bahnen sich interessante Entwicklungen erforderliche materielle Unterstützung findet. Hier ist eine
an, und es war spannend, denjenigen zuzuhören, welche diesen große Aufbruchsbewegung spürbar, und einzelne Bundesländer
Prozess betreiben.
gehen bereits mit viel versprechenden Neuerungen voran (etwa
mit einem kostenlosen – und nach Möglichkeit auch obligatoAuf dem „forum bildung“ 2006 gehörten natürlich auch diesmal rischen – letzten Kindergartenjahr). Es wird interessant sein,
wieder jene Veranstaltungen zu den stark besuchten Höhe- die hier angelaufene Entwicklung zu überprüfen, und die nächspunkten, bei denen prominente Autoren wie Hilbert Meyer oder te Gelegenheit dazu bietet die „didacta – die Bildungsmesse“
Heinz Klippert konkrete schul- und unterrichtspraktische Anre- im Frühjahr 2007 in Köln.
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„didacta – die Bildungsmesse Hannover
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2006“
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Einleitung/ Präsentationen
Vorträge
STATEMENT
Bernd Busemann
Bernd Busemann, geb. 1952. Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Köln. Erstes juristisches
Staatsexamen 1979. Nach Referendariat beim OLG Oldenburg Zweites juristisches Staatsexamen 1982.
Seit 1982 Rechtsanwalt, seit 1985 Notar. Mitglied der CDU seit 1971. Abgeordneter im Niedersächsischen
Landtag seit 1994; Stellvertretender Vorsitzender der CDU-Landtagsfraktion seit 1998. Seit 2003 niedersächsischer Kultusminister.
Meine Damen und Herren, wer sich daran macht, unser Bildungswesen grundlegend zu verbessern, kann dies nicht mit
einem leichten und einfachen Rezept bewältigen. Neue Diskussionen um Schulstrukturen verbessern nicht die Qualität unseres Schulwesens. Das haben gerade wir Deutschen leidvoll
erfahren. Mehr Geld allein schafft noch keine neue Qualität, so
wichtig Geld natürlich in dem Zusammenhang ist. Das Schwierige an allen Reformen im Bildungswesen ist, dass wir sehr
komplex vorgehen und mehrere Dinge zugleich tun müssen.Von
1. Keine Diskussion um Schulstrukturen, sondern Verbesserung
der Qualität von Schule und Unterricht
Wir Deutschen sind Weltmeister in der Diskussion von Schulstrukturen. Alle Reformdiskussionen, besonders in den 1960erJahren, waren bei uns vor allem Diskussionen um schulorganisatorische Fragen. Wie Lernen besser gelingt, bleibt meist dem
Gespräch von Fachleuten überlassen. Wir möchten in Niedersachsen die Diskussion ausdrücklich nicht auf diese Weise führ-
Mit einem Grundsatzbeitrag zum Stand der angelaufenen Bildungsreform in Niedersachsen und den
weiteren Perspektiven des Reformprozesses eröffnete der niedersächsische Kultusminister BERND
BUSEMANN das „forum bildung 2006“. Unter der Überschrift „BILUNG IST ZUKUNFT – ZUKUNFT DER
BILDUNG“ skizzierte er in zehn Punkten seiner Zuhörerschaft, welche Maßnahmen in seinem Bundesland als Konsequenzen aus den Ergebnissen der PISA-Studien ergriffen werden: wie der gesetzlich
vorgegebene Rahmen gestaltet, welche Initiativen zur Verbesserung der Qualität von Schule und
Unterricht geplant oder in Arbeit sind und wie dabei vorgegangen wird.
der überregulierten deutschen Schule müssen wir zu einer Schule gelangen, die ein lebendiger Organismus ist, die die
Verantwortung für ihre Qualität selbst trägt und auch selbst
tragen kann. Wir haben in Niedersachsen einen solchen grundsätzlich neuen Entwurf für unser Bildungswesens erarbeitet.
Die Vorgängerregierung – das sage ich durchaus ohne parteipolitische Scheuklappen – hat ja schon einige grundsätzliche
Überlegungen dazu angestellt. Ich will Ihnen das in zehn Punkten skizzieren.
en. Wir haben vor drei Jahren die Orientierungsstufe abgeschafft, weil diese Schulform ihre Zustimmung verloren hatte;
weitere Strukturveränderungen wird es für diese Landesregierung nicht geben. Wir möchten uns darauf konzentrieren, alle
Schulen von der Grundschule bis zur Gesamtschule zu verbessern. Die innere Qualifizierung jeder Schule und jeder Schulform
ist das eigentliche Ziel unseres politischen Handelns.
Dabei ist mir durchaus bewusst, dass die meisten Länder ganz
ähnliche Wege gehen. Mir kommt es in meinem Vortrag darauf
an, Ihnen den inneren Zusammenhang der verschiedenen
Schritte deutlich zu machen. Aus diesem Grund kann ich jeden
Punkt nur sehr knapp umreißen, und ich bitte im Voraus um
Nachsicht, dass ich dabei auch etwas allgemein bleiben werde.
Wir haben uns in Niedersachsen wie viele andere Bundesländer
für ein dreigliedriges Schulsystem entschieden. Das hat historische Gründe, es hat aber auch mit unserem Schulstandortangebot zu tun, das heißt mit der Situation eines Flächenlandes,
mit der Machbarkeit und Erreichbarkeit von Schule. In Zeiten
knappen Geldes geht es gar nicht anders, als im System des
gegliederten Schulwesens zu verbleiben mit dem zusätzlichen
Angebot von Gesamtschulen. Der Verbleib im gegliederten
Schulsystem verlangt zugleich, dass unser Schulwesen besonders profiliert und qualifiziert wird. Wir haben diese Profi-
Es ist mir wichtig, Ihnen das Ganze unserer Reform zu erläutern, denn ich bin sicher, dass auch für die Bildungsreform das
Regelwort gilt, dass das Ganze die Wahrheit ist.
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2. Jeden Bildungsweg qualifizieren
Busemann: Bildung istBlindtext
Zukunft
lierung zum ersten Mal in der Geschichte unseres Landes im
Schulgesetz selbst festgelegt.
Nach unserer Vorstellung ist die Grundschule die Schule, in
der vor allem das Lernen gelernt wird. Der Erfolg in dieser
Schulform entscheidet über die Disposition zu späterem systematischen Lernen. Die Grundschule ist aber auch die erste wichtige Begegnung verschiedener Kulturen, von Kindern aus ganz
unterschiedlichen Familienverhältnissen und unterschiedlicher
sprachlicher Herkunft.
Die frühere Sonderschule, heute Förderschule genannt, ist
die Schulform, die in differenzierter Weise Kindern und Jugendlichen eine ihnen entsprechende ganz besondere Förderung
anbietet. Sie muss ihr Profil in einer profunden und sehr differenzierten Form der Förderung finden, die besonderen Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen angemessen ist.
Die Hauptschule ist nach unserer Vorstellung die Schulform,
die eine grundlegende Allgemeinbildung wie auch das Vertrautmachen mit lebensnahen Sachverhalten verbindet. Das Lernen
muss in dieser Schulform besonders handlungsbezogen erfolgen, und es muss den Jugendlichen die Chance zu einer besonderen Schwerpunktbildung ermöglichen. Zugleich muss die
Hauptschule die Verbindung zum späteren Berufsfeld möglich
und konkret erfahrbar machen (Berufsorientierung).
Das Profil der Realschule liegt in einer erweiterten Allgemeinbildung und in einer stärkeren Betonung des selbstständigen Lernens. Für viele Kinder aus eher bildungsfernen Schichten
ist die Realschule besonders in Flächenländern immer noch die
Schulform, die den Zugang zu weiterführenden Bildungschancen ermöglicht.
In der Gesamtschule schließlich wird die soziale Integration
mit der Form des Lernens verbunden. Diese soziale Integration
hat für die Gesamtschule ein besonderes Profil und ist Teil des
Schullebens.
Die Profilierung des Schulwesens konnte ich hier nur andeuten.
Jedes Land muss sie durch entsprechende Rechtsvorschriften
ausgestalten. Wir tun das in Grundsatzerlassen für den Unterricht und die tägliche schulische Arbeit. Die Profilierung, ganz
gleich wie ein Land diese organisiert, ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Kinder und Jugendliche den Bildungsweg finden, der für sie geeignet ist. Aber diese Profilierung ist
zugleich die Voraussetzung für die Qualität der Arbeit. Keine
Schule kann allen alles sein, aber jede kann ihr Angebot auf das
Beste gestalten.
3. Unterricht muss erteilt werden, zusätzliche Lehrereinstellung ist nötig
Damit meine ich die Ausgangssituation unserer Regierung, wie
wir sie 2003 vorgefunden haben. Eine bildungspolitische Diskussion darf nicht außer Acht lassen, dass es zu den wichtigsten Aufgaben eines Kultusministers gehört, dafür zu sorgen,
dass Unterricht wirklich stattfindet. Da gab es im Jahr 2003
Handlungsbedarf. Wir haben auch jetzt noch einen Schülerberg,
und deswegen haben wir seinerzeit dafür gesorgt, dass die
Vollzeitlehrerstellen um 2500 aufgestockt wurden, bei allen
Schwierigkeiten, die der Lehrermarkt damals hatte und die er
auch in diesen Tagen hat. Unser Ziel ist es immer, ausreichend
Unterricht anzubieten. Die Kinder brauchen den Unterricht
heute und nicht erst in zehn Jahren, wenn es dem Staat besser
geht. Ich weiß, dass manch einer sagt, 100 Prozent Abdeckung
des Unterrichts seien es bloß im Landesdurchschnitt. In den
Grundschulen sieht es aufgrund der veränderten Schülerzahlen
in der Tat eher etwas besser aus, in den weiterführenden Schulen ist die Situation sehr schwierig. Wir sehen durchaus, dass
wir in manchen Regionen Probleme haben, Lehrerstellen entsprechend zu besetzen, dass wir zunehmend Probleme haben,
fächerspezifisch genügend Lehrerinnen und Lehrer zu finden.
Bei manchen Fächern gibt es Überangebote, egal in welcher
Schulform, und bei anderen existieren große Probleme, Nachwuchs zu akquirieren. Da besteht durchaus Anlass zu großer
Sorge. Bei der Ausschreibungsrunde für Gymnasiallehrerinnen
und -lehrer im Jahr 2005 hatten wir beispielsweise 400 Angebote mit Facultas Deutsch – also deutlich zu viele –, für Latein
waren es noch eine Hand voll, und für Griechisch gab es nur
eine Bewerbung.
4. Das Lernen beginnt mit dem Leben
Das Gymnasium schließlich ist die Schulform einer breiten
und vertieften Allgemeinbildung, die auch die allgemeine Befähigung für ein späteres Studium umfasst. Es ist die Schulform,
in der selbstständiges Lernen und Arbeiten sowie eine breite
Fremdsprachenkompetenz vermittelt werden müssen.
Vor etlichen Jahren haben wir in Deutschland heftig über die
Frage diskutiert, ob Kinder schon im Kindergarten lernen sollten. Wer das vor zirka zehn Jahren ansprach, setzte sich dem
Vorwurf aus, er wolle den Kindern die Kindheit rauben, einen
Schonraum kaputtmachen, mit der Schule schon im Kindergarten beginnen. Sein Ziel seien Kinder, die mit Wissen vollge-
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pfropft seien, aber die Chance verpasst hätten, langsam zu
wirklichen Menschen zu reifen. Heute wissen wir aus wissenschaftlichen Untersuchungen, dass dies eine Scheindiskussion
war. Lerntheorie und Neurobiologie haben uns gelehrt, dass
Kinder zu allen Zeiten lernen wollen, dass sie dies nur auf
altersgemäß verschiedene Weise tun. Wir wissen, dass Spielen
eine bestimmte Form des Lernens ist, darum ist Spielen so
wichtig und durch nichts zu ersetzen. Wir wissen, dass Kinder
nicht über-, aber auch nicht unterfordert werden dürfen. Sie
wollen in jedem Alter immer weiterkommen, sie wollen ihre
Fähigkeiten und Stärken erproben, sie wollen Neues erleben
und lernen. Zugleich wissen wir, dass in bestimmten Altersstufen das Fenster des Gehirns für bestimmte Kompetenzen
besonders weit geöffnet ist und sich später immer mehr
Ganze bildungspolitisch einen Sinn ergeben soll, ist eine Beitragsbefreiung nur im dritten Kita-Jahrgang möglich, weil sie
auf die Grundschule hin orientiert sein muss. Es kann nicht
richtig sein, den Kita-Besuch im ersten Jahr zu subventionieren, dann zwei Jahre auszusetzen und mit der Grundschule wieder neu zu beginnen. Also wenn, spricht alles, auch das bildungspolitische Anliegen, für den dritten Kita-Jahrgang.
5. Für jeden Schüler individuelle Förderwege gestalten
Dass Schule zu Leistungen führen und diese beurteilen muss, ist
unstreitig. Wir wissen aber aus den erfolgreichen PISA-Ländern
längst, dass dies allein nicht genügt. Schule muss immer auch
ganz individuelle Fördermöglichkeiten für jedes Kind und jeden
„Die meisten Länder in Deutschland haben verstanden, dass Probleme des Bildungswesens in
unserem Land auch daraus resultieren, dass wir unsere Schulen zu sehr von außen steuern.
Die Regulierung fast aller Bereiche der Schule und des Schullebens wirkt wie eine Entmündigung derer, die Schule gestalten. Es nimmt ihnen Verantwortung für die Qualität schulischer
Arbeit ab und dispensiert sie von den Ergebnissen. …Wir gehen in Niedersachsen wie in
Deutschland insgesamt inzwischen einen anderen Weg.“
schließt, zum Beispiel für den Spracherwerb. Diese Erkenntnis
der Neurobiologie verpflichtet uns, Lernchancen im jeweils
richtigen Alter anzubieten. Wir betrügen unsere Kinder, wenn
wir sie ruhig stellen und vor – seien es auch noch so teure –
technische Geräte abschieben. Wir helfen ihnen, wenn wir sie
an die Hand nehmen und weiterführen, denn Lernen bedeutet,
wie Hartmut von Hentig einmal gesagt hat: „Bring mich ein
Stück weiter.“ Darum muss die Kindertagesstätte der Raum
sein, in dem altersgemäß angemessene Dinge erprobt und
gelernt werden. Das Sprechen, die Kommunikation mit anderen, die friedfertige Partnerschaft, das offene und freundliche
Aufnehmen von Fremdartigkeit und vor allem das ständige
Erproben dessen, was das Kind jetzt alles kann. Wir haben in
Niedersachsen zusammen mit den Kindertagesstätten einen
entsprechenden Orientierungsplan erarbeitet und regen alle
Träger an, die Kindertagesstätten danach neu auszurichten. Ich
glaube, das ist eine Maßnahme, die überall umgesetzt wird und
entsprechend im Kita-Alltag wirkt.
Ein abendfüllendes Thema wäre in diesem Zusammenhang die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf. In diesen Tagen ist häufig
von Beitragsbefreiung für alle Kita-Jahrgänge oder zumindest
für einen die Rede. An diesem Thema müssen wir dranbleiben,
aber nur Geld zu investieren und dann zu sagen, alles sei ideal
gelöst, das reicht mir nicht. Wenn wir für den Kita-Bereich
etwas tun, muss dabei auch das bildungspolititsche Ziel verfolgt werden. In Niedersachsen diskutieren wir darüber, wo wir
angesichts unserer knappen Mittel anfangen sollen. Wenn das
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Jugendlichen bereithalten. Das setzt voraus, dass Schule stets
diagnostisch vorgehen und die Lernausgangslage eines Kindes
mit Beginn seiner Schulzeit beschreiben können muss sowie
diesen Ausgangspunkt regelmäßig fortschreiben soll. Dabei
müssen Stärken und Schwächen jedes Kindes genau beobachtet
werden. Zugleich muss die Schule für Defizite in jedem Einzelfall Fördermöglichkeiten eröffnen. Sie muss beratend tätig werden und den Erfolg der Maßnahmen auch immer wieder überprüfen – ein gewaltiger Anspruch. Das verlangt von den Lehrerinnen und Lehrern ganz gewiss eine intensivere Ausbildung im
diagnostischen Bereich. Dazu gehört das rechtzeitige Erkennen
von Defiziten oder gar Lernstörungen, das Wissen um angemessene Fördermöglichkeiten und schließlich die Fähigkeit, im
Unterricht durch Binnendifferenzierung solche Fördermaßnahmen individuell auszurichten.
In Niedersachsen beginnen wir gerade damit, die Schulen auf
diese neuen Herausforderungen vorzubereiten. Wir werden zum
nächsten Schuljahresbeginn im ersten Schuljahr der Grundschule sowie in der Klasse 5 aller weiterführenden Schulen dieses System einführen und dann Jahr für Jahr wachsen lassen.
6. Von der überregulierten deutschen Schule zur eigenverantwortlichen Schule
Die meisten Länder in Deutschland haben verstanden, dass
Probleme des Bildungswesens in unserem Land auch daraus
resultieren, dass wir unsere Schulen zu sehr von außen steuern.
Busemann: Bildung istBlindtext
Zukunft
Foto: Messe Hannover
Die Regulierung fast aller Bereiche der Schule und des Schullebens wirkt wie eine Entmündigung derer, die Schule gestalten. Es
nimmt ihnen Verantwortung für die Qualität
schulischer Arbeit ab und dispensiert sie von
den Ergebnissen. Häufig fragen Lehrkräfte in
einer solchen Schule dann nicht, was richtig
ist und was sie tun müssen, damit Schule
gelingt, sondern sie fragen zuerst, was im
Erlass steht. Wir gehen in Niedersachsen wie
in Deutschland insgesamt inzwischen einen
anderen Weg. In maßvollen Schritten übertragen wir den Schulen die Verantwortung
für die Organisation des Lernens, für die
Ergebnisse und vor allem für die Verbesserung der Qualität. Zugleich machen wir aber
auch deutlich, dass die Ergebnisse schulischer Arbeit überprüft werden können und
müssen, und wir unterstreichen, dass die
Schule – und das heißt Schulleitung, Lehrkräfte, Eltern, Schülerinnen und Schüler –
gemeinsam die Verantwortung dafür trägt,
dass die schulische Arbeit von guter Qualität
ist. Sie haben auch die Verantwortung dafür,
Der niedersächsische Kultusminister Bernd Busemann (ganz rechts im Bild) mit Bundesdass, wenn Defizite bestehen, etwas besser
bildungsministerin Dr. Annette Schavan und dem niedersächsischen Ministerpräsidenten
gemacht wird. Ich glaube, dass diese UmorChristian Wulff beim Messerundgang.
ganisation der Schule eine Art Mentalitätswechsel von unseren Lehrkräften verlangt.
Sie müssen neu lernen, dass die Frage von
Organisation und Gestaltung von Unterricht, Unterrichtszeit, gutes Stück Zufriedenheit und Erfüllung im eigenen Beruf. Und
Beurteilung und Leistungsmessung und viele weitere Fragen Sie kennen die guten Beispiele von Schulen, in denen solche
nicht schon entschieden sind, sondern zur Planung von gutem Arbeit geleistet wird und die deswegen immer wieder und zu
Unterricht dazugehören. Sie müssen neu lernen, dass die Ergeb- Recht durch unsere Zeitungen gehen. Ich wünsche mir, dass
nisse der Schule überprüft werden können: Wie viele Schüler solche guten Beispiele mit den Jahren zur Regel werden.
erreichen das Ziel und den Abschluss der Schule? Wie hoch ist
7. Schulen von außen überprüfen
z. B. die Abbrecherquote? Welche Fächer sind meist Ursache
dafür oder für Nichtversetzung? Wie entwickelt sich die Leistungsbeurteilung einer Schule im Vergleich zu anderen und im In meinem Bundesland wollen wir alle Schulen gesetzlich zur
Vergleich zum Landesdurchschnitt? Was sind die Gründe für ein Qualitätsentwicklung verpflichten. Mit der Kontrolle ist es
schulisches Scheitern von Kindern und Jugendlichen? Bei der jedoch wie mit dem Blick in den Rückspiegel des Autos. Man
Messung und Feststellung dieser Ergebnisse wird man Stärken hat immer auch einen toten Winkel. Deswegen werden wir in
der Schulen feststellen und solche Bereiche, in denen die Arbeit Niedersachsen eine Schulinspektion zur regelmäßigen Überprüverbesserungswürdig ist. Dann muss nach unserer Überzeugung fung unserer Schulen von außen nach genauen und identischen
die Schule selbst die Verantwortung für Verbesserung überneh- Kriterien einführen. Diese Inspektion wird alle vier Jahre stattmen. Auch für Schule gilt der Grundsatz, den die meisten finden; sie wird die Ergebnisse der schulischen Arbeit in AugenArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land kennen schein nehmen, den Unterricht, das Schulleben, die Leitungsund ohne Zögern beherzigen: Es gibt auf Dauer keine gute ebene und deren Arbeit, die Sicht der Schule von außen durch
Eltern, Schülerinnen und Schüler sowie durch den Schulträger.
Arbeit ohne Controlling.
Auf der Grundlage von mehr als 100 einzelnen Kriterien erhält
Auch wenn diese Veränderung der schulischen Arbeit vielen jede Schule dann ein genaues Bild von sich und ihrer Arbeit,
ungewohnt erscheinen wird, bin ich überzeugt, dass sich und ebendieses genaue Ergebnis ist die Grundlage dafür, Qualidadurch die Arbeitszufriedenheit erhöht. Mehr gemeinschaft- fizierung in den Bereichen anzustreben, die verbesserungswürlich arbeiten, eigene Vorstellungen von guter Schule verwirk- dig sind. Wir haben in bislang mehr als 100 Überprüfungen in
lichen können, Verantwortung für Kinder und Jugendliche im Niedersachsen unsere Instrumente erprobt, Lehrkräfte unseres
konkreten Vollzug übernehmen, erleben, dass man selbst Schu- Landes zu Schulinspektorinnen und -inspektoren ausgebildet
le mitgestalten kann – dies und anderes bringt, glaube ich, ein und eigene Erfahrung mit Inspektion gesammelt. Die Einrich-
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tung der Schulinspektion beginnt jetzt zu arbeiten, das Institut
ist gegründet und hat seinen Sitz in Bad Iburg.
Ich bin durchaus ein wenig stolz darauf, dass Niedersachsen das
erste Bundesland ist, das Schulinspektion als Außenevaluation
jeder Schule verbindlich einführt und dafür eine eigene Einrichtung sowie besonders qualifiziertes Personal hat. Inzwischen partizipieren etliche Bundesländer von unserer Schulinspektion, und wir lassen die anderen auch gern an unseren
Erfahrungen teilhaben.
8. Beratung und Unterstützung bereithalten
Nach erfolgter Inspektion müssen unsere Schulen in eigener
Verantwortung daran arbeiten, ihre Stärken weiter auszubilden
und etwa vorhandene Defizite auszugleichen. Nach unserer
Überzeugung ist das eine ganz zentrale Leitungsaufgabe. Darum werden wir auch die Schulleitung in die Verantwortung
nehmen; wir werden die gesetzlichen Möglichkeiten schaffen
und die Schulleiterinnen und Schulleiter dafür besonders und
eigens qualifizieren. Uns liegen inzwischen mehrere Gesetzesentwürfe aller Fraktionen des Landtages vor, und wir haben zu
klären, wie in Zukunft die Kompetenzen der Schulleitungen
unter Beibehaltung der Gesamtkonferenz an den Schulen aus-
9. Das Personal qualifizieren
Schulleiterinnen und Schulleiter tragen, wie schon erwähnt,
die Verantwortung für die gesamte Qualität. Deswegen haben
wir ein eigenes Programm entwickelt, das in den nächsten zwei
Jahren alle Schulleiterinnen und Schulleiter des Landes erfassen
soll; über die Qualifizierung von besonderen Lehrkräften zur
Beratung und Qualifikation von Unterricht habe ich ja eben
schon gesprochen. Diese Qualifizierungsmaßnahme ist für mich
ein besonderes Beispiel für die Neuorientierung der Lehrerfortbildung. Die meisten Länder haben in den 1960er-Jahren eigene
Einrichtungen geschaffen, um Lehrerfortbildung in eigener
Zuständigkeit zu organisieren und durchzuführen. Diese Einrichtungen leisten zumeist auch gute Arbeit, denn sie spiegeln
den Grundsatz wider, dass Fortbildung eine Form von Führung
des Personals durch den Dienstherrn darstellt.
Ich glaube jedoch, dass wir die Akzente in der Lehrerfortbildung
verändern müssen. Grundsätzlich halte ich es für richtig und
nötig, dass Fortbildung nachfrageorientiert organisiert wird.
Lehrkräfte und Schulen müssen Anfragen stellen und ihre Bedürfnisse formulieren. Auf diese Bedürfnisse muss dann flexibel,
möglichst zeitnah und in Verbindung mit anderen Schulen reagiert werden. Dabei halte ich es für nützlich, uns der Kompe-
„Ich habe versucht, Ihnen durch diese skizzierten zehn Punkte deutlich zu machen, an
welchen Reformen die Politik arbeitet. Und wenn etwas als notwendig erkannt ist, dann
können wir uns mit der Umsetzung nicht ewig lange Zeit lassen, das wird uns die Schülergeneration dieser Tage nicht verzeihen.“
sehen werden. Wir wissen aber – und das ist immer noch das
Entscheidende, Gott sei Dank –, dass gute Schule und Lernerfolge vor allem von gutem Unterricht abhängen. Darum werden
wir besondere Instrumente herausbilden, die nach erfolgter
Schulinspektion für alle Schulen unseres Landes, spezifiziert
nach Schulformen, Beratung und Qualifikation, für Unterricht
bereithalten. Wir glauben, dass es hierfür Lehrkräfte braucht,
die als Trainerinnen und Trainer in unseren Schulen tätig werden. Sie müssen wohnortnah, schulformspezifisch und über
eine längere Zeit arbeiten. Guten Unterricht kann man weder
einfach befehlen noch theoretisch erklären. Man muss ihn einüben, sich selbst beobachten, seinen eigenen Stil finden, mit
anderen erproben und immer wieder üben. Dazu braucht man
Begleitpersonal, das hierfür besonders geschult ist. Wir bilden
dieses Personal aus und orientieren uns dabei an Methoden von
Unterrichtsentwicklern, die in Nordrhein-Westfalen und BadenWürttemberg schon exemplarisch erprobt worden sind. Natürlich ist das eine sehr aufwändige und teure Form, zur Unterrichtsverbesserung beizutragen, aber dies ist nötig, weil es um
ein Herzstück unserer Schule, den guten Unterricht, geht.
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tenz von Einrichtungen zu bedienen, die im Umgang mit Erwachsenen mehr Erfahrungen haben – das sind Einrichtungen
der Erwachsenenbildung und Universitäten. Sie in die Organisation und Durchführung von Fortbildung einzubeziehen und
ihnen ihrem Profil gemäß eine eigene Zuständigkeit zu übertragen
bereichert, finde ich, die Lehrerfortbildung, setzt neue Akzente, bietet wohnortnah ganz andere Methoden und Inhalte an.
10. Die Lehrerausbildung neu gestalten
In allen Bundesländern beginnt man, die Lehrerausbildung in
der ersten, der universitären Phase neu zu organisieren nach
der Struktur des Bachelor und Master. Die KMK hat die entsprechenden Vorgaben verabschiedet, und die Länder setzen sie
mit eigenen Akzenten um. Die oft beschriebenen neuen Ziele
dieser Lehrerausbildung kann und will ich hier nicht erörtern.
Aus unserer Sicht sind dabei jedoch folgende Dinge zu beherzigen: Die Länder dürfen mit dieser Neuorganisation die staatliche Verantwortung auch für die erste Phase der Lehrerausbildung nicht abgeben. Diese Verantwortung kann man unter-
Busemann: Bildung istBlindtext
Zukunft
schiedlich wahrnehmen, aber man muss sie wahrnehmen. Wir
tun dies dadurch, dass wir das Prüfungsgeschehen der ersten
Phase mit einer eigenen staatlichen Einrichtung evaluieren.
Und wir sorgen uns besonders um die Inhalte der zweiten Phase
der Lehrerausbildung, die uns als eigene Phase wichtig ist und
nicht zur Disposition steht. Ich möchte auch betonen, dass wir
durch die Neuorganisation der universitären Phase auf keinen
Fall das insgesamt gute Niveau der deutschen Lehrerausbildung
reduzieren dürfen.
Ich habe versucht, Ihnen durch diese skizzierten zehn Punkte
deutlich zu machen, an welchen Reformen die Politik arbeitet.
Und wenn etwas als notwendig erkannt ist, dann können wir
uns mit der Umsetzung nicht ewig lange Zeit lassen, das wird
uns die Schülergeneration dieser Tage nicht verzeihen.
Abschließend möchte ich noch eines sagen: Ich glaube, es ist
wichtig, dass wir die Eigenverantwortlichkeit von Schule auch
gesetzlich verbriefen. Dahinter stehen ja Freiheiten bei der
Unterrichtsorganisation, die Frage der Budgetierung, die Frage
von Personalmanagement, die Frage der Qualitätswege und anderes mehr. In diesem Punkt wiederum ist meine Richtung, dass
man es mit dem Tempo nicht übertreiben darf. Wir müssen erst
einmal die Beteiligten qualifizieren. Deshalb sage ich: das gesetzliche Fundamentieren – ja, aber die anderen Schritte in Maßen.
Die Schulen sollten selber das Tempo der Reform bestimmen.
Immer, wenn sie sich fit fühlen für neue Formen der Unterrichtsorganisation, sollten sie dies dem Kultusminister mitteilen, und
er würde dann grünes Licht geben. Aber alles befehlsmäßig morgen früh beginnen zu lassen und jeden erst einmal ins kalte
Wasser zu werfen, das wäre mir, der ich ja die staatliche Verantwortung für das Schulwesen trage, zu gewagt. Ich als Kultusminister, der im Ruf steht, zu viele und zu schnelle Reformen
durchzuführen, werde mich in den nächsten Monate also etwas
zum Bremser entwickeln. Aber auch das gehört manchmal zur
Politik, wenn wir das Notwendige installiert haben.
15
STATEMENT
Peter Struck
Peter Struck, Dr. phil., geb. 1942, war zehn Jahre Volks- und Realschullehrer, danach vier Jahre lang Schulgestalter in der Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung in Hamburg. Seit 1979 ist er Professor für
Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg. Arbeitsschwerpunkte: Sozial- und Schulpädagogik,
Bildungspolitik, Jugendforschung, Familienerziehung und Medienpädagogik. Seit 1980 Forschung mit einem
Lehrer-Schüler-Betreuungsprojekt an der Gelenkstelle von Familie und Schule. Zahlreiche Publikationen, u. a.:
„Die 15 Gebote des Lernens – Schule nach PISA“.
Ich beginne meinen Vortrag mit einigen provozierenden Thesen:
Die Lernpsychologen sagen uns, kleine Kinder, z. B. unsere
Grundschüler, könnten etwa doppelt so viel lernen, wenn sie
TU München – sagen uns seit Jahren, wir müssten das Lernen
anders organisieren. Sie sagen uns etwa, dass kleine Kinder
ohne Noten besser lernen, ältere Jugendliche dagegen besser
mit Noten.
Nach dem PISA-Schock hat eine Entideologisierung der Schuldebatte stattgefunden: Hirnforscher und
Lernpsychologen sagen den Bildungspolitikern, Schulleitern, Lehrern, Eltern und Schülern, wie junge
Menschen in kürzerer Zeit mehr lernen können. Beispiele aus Schulen in Kanada, Skandinavien und
Deutschland zeigen, wie der Weg von der Belehrungsanstalt zur Lernwerkstatt erfolgreich beschritten
werden kann. In seinem Vortrag „SCHULE AUS DER SICHT DER HIRNFORSCHUNG: WIE LERNEN KINDER
MEHR?“ bringt dies Professor Dr. PETER STRUCK, Erziehungswissenschaftler an der Universität
Hamburg, ausgehend von einigen provozierenden Thesen, auf den Punkt.
dabei nicht auf einem Stuhl sitzen müssten, sondern auf dem
Teppich sitzen oder liegen könnten. Bei Jugendlichen dagegen
sei es genau umgekehrt. Wir diskutieren über ADHS und wissen,
dass viele der betroffenen Kinder hochbegabt sind. Solche Kinder bekommen bisweilen Ritalin oder Medikinet, also eine Droge, die im Bundesbetäubungsmittelgesetz aufgeführt ist. Ein
neunjähriger hyperaktiver Junge musste bisher 45 Minuten auf
dem Stuhl sitzen. 80 Prozent seiner Konzentration waren mit
dem Gedanken beschäftigt, was er mit seinem Körper anfangen
soll, mit 20 Prozent konnte er sich gerade noch auf die Worte
der Lehrerin konzentrieren. Wenn er seine Position beim Lernen
selbst bestimmen und entscheiden dürfte, ob er dabei beispielsweise auf dem Bauch liegen will, dann könnte er sich tatsächlich besser auf die Worte der Lehrerin konzentrieren.
Als in Schleswig-Holstein die SPD vor der letzten Landtagswahl auf ihrem Landesparteitag beschlossen hatte, die 9- oder
10-jährige Grundschule ohne Noten und ohne Sitzenbleiben bei
möglichst gleichzeitiger Abschaffung der Sonderschulen einzuführen, was sich bei PISA in skandinavischen Ländern als
Erfolgsmodell herauskristallisiert hatte, haben die Mütter
gesagt: „Neun Jahre ohne Noten wie in Schweden und Norwegen, da kann man ja gar nichts lernen.“ Die Hirnforscher oder
auch die Lernpsychologen – ich berufe mich im Wesentlichen
auf Manfred Spitzer, der in Ulm wirkt, und Ernst Pöppel an der
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Wir bringen in Deutschland Kinder nach Geburtsjahrgängen
in Schulklassen unter. Das war eine Erfindung der vormilitärischen Erziehung Preußens. In Skandinavien, wie jetzt zum
Glück auch in manchen Bundesländern, z. B. Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und ansatzweise auch Hamburg und Schleswig-Holstein, gibt es die so genannten Flexklassen, also die flexible Eingangsphase, d. h., man hat die beiden ersten Klassen abgeschafft und ersetzt sie durch eine flexible Eingangsphase, die das Kind nun eins, zwei oder drei Jahre
lang besuchen kann. Danach kommt es in Klasse 3. Die Kinder
sind dann ähnlich leistungsfähig, aber unterschiedlich alt; eine
beschämende Niederlage durch Sitzenbleiben ist ihnen so erspart geblieben. Dazu gehört auch das, was wir „jahrgangsübergreifende Lernfamilien“ nennen: Zwei oder drei Jahrgänge lernen zusammen in einem Raum. Da kommt der Lehrer gar nicht
auf die Idee, dass die Kinder alle gleich leistungsfähig seien.
In Skandinavien geht die Ganztagsschule bis 15 Uhr, man
kann sie aber auch bis 17 Uhr besuchen. Wer bleibt bis 17 Uhr?
Derjenige, der irgendwo schwach ist, oder der, der sich für
irgendwas besonders stark interessiert. Die Oberstufe heißt
dort Gymnasium, und sie umfasst die Klassen 10, 11, 12. In
Schweden besuchen z. B. 90 Prozent eines Schülerjahrgangs
diese Oberstufe, die in zwei, drei oder vier Jahren durchlaufen
werden kann. Danach macht man Abitur.
Struck: Wie lernen Kinder mehr?
Es gibt, je nachdem ob in Schweden oder Finnland, immer
für drei Monate oder sechs Wochen einen Stoffplan, der aber nur
50 Prozent der Zeit abdeckt. Die anderen 50 Prozent füllt der
Schüler selbst mit dem Stoff, in dem er schwach ist, oder mit dem,
wofür er sich besonders stark interessiert. Damit werden auch
hier, so weit es geht, Beschämungen und Niederlagen vermieden.
In Deutschland gibt es noch Schulen, in denen die Schüler
um Punkt 8 Uhr 29 vor einer verschlossenen Klassenraumtür
stehen, bis um 8 Uhr 30 eine Lehrerin kommt, die die Tür aufschließt. Alle strömen hinein und setzen sich an die Tische. Die
Lehrer der Bodenseeschule in Friedrichshafen, die letztes Jahr
als die beste deutsche Schule galt, bezeichnen eine solche Schule als typische Unterrichtsvollzugsanstalt mit einem belehrenden Lehrer. Die Bodenseeschule versteht sich dagegen als eine
gastgebende Lernwerkstatt in einem kundenorientierten
Ein deutscher Schüler spricht zurzeit im Bundesdurchschnitt in
einer Unterrichtsstunde (45 Minuten) eine Minute lang. Und
dabei kann es schon sein, dass Karl-Heinz drei Minuten spricht,
aber Annegret null; im Schnitt ergibt dies eben eine Minute. Ein
finnischer Schüler spricht in einer Unterrichtsstunde (40 Minuten) acht Minuten lang. Was ich Ihnen damit sagen möchte, hat
schon Konfuzius ausgedrückt, und ich erweitere den Satz sogleich: „Erzähle es mir, und ich vergesse es wieder. Zeige es mir,
und ich erinnere mich, wenn es mir wieder jemand zeigt. Lass
es mich tun, und ich verstehe es für immer.“
Und das Zweite, was ich Ihnen aufzeigen möchte, ist dies:
1. Die Lernpsychologen sagen uns, dass alle Kinder, die zur
Welt kommen, geborene Lerner sind, das gilt sogar für Autisten. Manchmal gelingt es uns – d. h. meistens der Schule -, dass
aus dem einen oder anderen Kind ein Lernversager wird.
2. Alle Kinder, die auf die Welt kommen, möchten zunächst
anderen Menschen gefallen. Aber wenn ein Kind nach vielen
Jahren zu dem Schluss kommt, dass es eigentlich niemandem
gefällt, dann kann ich verstehen, dass es wenigstens einigen
Gleichgesinnten als Skinhead, S-Bahn-Surfer oder Graffiti-Sprüher gefallen möchte.
Dienstleistungsbetrieb. Der Schulleiter Alfred Hinz, der gerade
pensioniert wurde, meint, das Erste, was man an einer modernen Schule machen müsse, sei, ein Taschentuch zwischen Klöppel und Klingel der Schulglocke zu stopfen, weil Kinder nicht in
45-Minuten-Takten lernen.
3. Alle Kinder, die auf die Welt kommen, möchten etwas leisten und etwas können. Das Ideal einer Schülerin ist ja die kleine Lotta bei Astrid Lindgren, die hüpfend und freudestrahlend
aus der Schule kommt und laut ruft: „Ich kann so viel!“ Das liegt
auch daran, dass es in der schwedischen Sprache das böse Wort
„Streber“ nicht gibt. Streber gibt es immer nur da, wo man Kinder früh benotet.
Und nun kommt das Entscheidende: Die Hirnforscher sagen uns,
dass von dem, was ein Kind liest, auf Dauer im Schnitt 10 Prozent haften bleiben (siehe Abb. 1). Es kann schon sein, dass es
Ein Kind behält im Durchschnitt:
10 % von dem, was es liest
20 % von dem, was es hört
30 % von dem, was es sieht
50 % von dem, was es hört und sieht
80 % von dem, was es anderen erklärt hat
Abb. 1
Eine aktuelle Studie des psychologischen Seminars der Uni Hamburg hat genau dasselbe festgestellt wie das berühmte Psychologen-Ehepaar Anne-Marie und Reinhard Tausch vor 35 Jahren:
bei Annegret 16 Prozent und bei Karl-Heinz 7 Prozent sind, im
Schnitt sind es aber eben 10. Von dem, was ein Kind nur hört –
und nun bedenken Sie, dass die deutsche Schule beim Lernen
17
im Wesentlichen auf das Zuhören vertraut –, bleiben auf Dauer
im Schnitt 20 Prozent haften. Von dem, was ein Kind anschaut,
also einen Stummfilm oder einen Demonstrationsversuch im
Physikunterricht, bleiben auf Dauer 30 Prozent haften. Wenn
Sie Sehen und Hören verknüpfen – das ist zum Beispiel beim
Fernsehen der Fall, wo ja nicht alles Mist ist –, dann bleiben auf
Dauer 50 Prozent haften. Wenn ein Mensch etwas dauerhaft
lernen soll, muss man dafür sorgen, dass er es ausspricht, noch
besser, dass er es anderen zu erklären hat. Denn dann bleiben
80 Prozent haften. Die beiden letzten Punkte werden im deutschen Schulsystem vernachlässigt.
1. Wir haben die ungünstigste Lernbandbreite von allen untersuchten 42 OECD-Ländern, d. h., wir haben besonders viele
schwache Schüler, ebenso viele Mittelmäßige und besonders
wenig besonders gute! Das ist keine Gauß'sche Normalverteilungskurve. Aus Zeitgründen etwas schwarz-weiß zusammengefasst, sagen uns neutrale Menschen wie die Kommissare der
OECD in Paris, die PISA koordiniert haben, das liege in Deutschland im Wesentlichen daran, dass wir die schwachen Schüler zu
früh von den mitreißenden Effekten der guten abkoppeln.
2. Wir haben bei 15-Jährigen weltweit die höchste Koppelung
zwischen familiärer Sozialisation und Schülerleistung. Diese
Koppelung ist größer als die Abhängigkeit vom Intelligenzquotienten. Das heißt, die schulischen Leistungen der 15-Jährigen
spiegeln im Wesentlichen ihr familiäres Herkunftsmilieu wider,
völlig unabhängig davon, welchen IQ sie haben. Wenn das so ist
– könnte man böse sagen –, dann hat die Schule bei einem 15Jährigen wenig zustande gebracht.
Cartoon: Mester
Es gibt in der Geschichte der deutschen Schulpädagogik zwei
klassische Aussagen. Die erste ist: Das schwierigste schulpädagogische Problem in Deutschland besteht darin, dass sich
Mama, das Kind und die Hausaufgabe an einem Tisch befinden.
Das geht selten gut – vielleicht allenfalls noch in der ersten
Klasse. Das zweite große Problem verbirgt sich hinter der Frage:
Wer lernt eigentlich mehr beim Nachhilfeunterricht, der Nachhilfelehrer oder der Nachhilfeschüler? Wenn ich schon so frage,
lautet die Antwort natürlich: der Nachhilfelehrer. Das allein ist
ja noch nicht so interessant. Wichtig ist vielmehr die Frage, wie
Aus den Ergebnissen der PISA-Studien waren drei Punkte zentral für uns, allesamt haben sie etwas mit Lernen zu tun, und
sie haben Deutschland erschüttert.
viel Mal mehr lernt der Nachhilfelehrer? Er lernt in der Tat neun
Mal so viel, aber nur im Schnitt, nicht im Einzelfall und vorausgesetzt, der Erwachsene ist der Nachhilfelehrer und nicht
etwa ein gleichaltriges Kind. Wenn es zwei Gleichaltrige sind,
dann lernt der gute Schüler viereinhalb Mal so viel. Warum?
Weil Kinder von anderen Kindern etwa doppelt so viel lernen
wie von noch so guten Erwachsenen. Also müssen Sie das, was
der Gute lernt, bezogen auf den Erwachsenen, halbieren, und
bei den Schwachen ist es eben doppelt so viel.
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3. Das liegt im Wesentlichen daran, dass wir
Halbtagsschulen haben, und Halbtagsschulen
sind für Jugendliche deshalb besonders problematisch, weil der Halbtagsrhythmus nicht
mit der Leistungskurve der Jugendlichen
korrespondiert. Jugendliche haben die erste
Hauptleistungsphase zwischen 10 und 12 Uhr
und dann wieder eine zwischen 14.30 und
16.30 Uhr nachmittags. Wir haben in Deutschland Schulen, wo Jugendliche über 14 um
8 Uhr, manchmal sogar um 7 oder 7.10 Uhr zu
einer Frühstunde erscheinen müssen. Sie
können aber vor 10 Uhr gar nicht gut lernen,
weshalb das Ganze ein volkswirtschaftlicher
Unsinn ist. Kanada ist das erste Land der
Welt, in dem Kinder bis etwa 13 Jahren um
8 Uhr in die Schule kommen und Jugendliche
ab etwa 14 aufwärts um 10 Uhr. Das können
Sie natürlich nur in Ganztagsschulen machen,
wo man dann die zweite Hauptleistungsphase am Nachmittag für einen Leistungskurs
etwa in Latein nutzen kann.
Das Entscheidende ist aber, dass Sie, wenn
Sie in Europa immer weiter nach Süden gehen, feststellen werden, dass die Menschen innerhalb der Schule immer weniger
sprechen – dafür umso mehr außerhalb der Schule. Je weiter Sie
nach Norden kommen, desto weniger sprechen die Menschen
außerhalb, aber umso mehr innerhalb der Schule.
Sigmund Freud hat vor über 100 Jahren seine Patienten auf die
Couch gelegt, und dann hat er Fragen nach der frühen Kindheit
gestellt. Damit hat er den dort liegenden Patienten gezwungen,
Struck: Wie lernen Kinder mehr?
seine frühe Kindheit zu verstehen, indem er das Erinnerte aussprach.
Und wenn Ihre beste Freundin Sie anruft, weil ihr Mann nur
mal Zigaretten holen wollte und nicht wiedergekommen ist,
was müssen Sie tun? Nur den Hörer halten. Gelegentlich mal
„Ja“ sagen oder „Hm“ oder manchmal auch „Natürlich ist es
nicht deine Schuld.“ Und wenn Ihre Freundin nach einer Stunde das Gespräch beendet hat, muss sie die nächste Freundin
anrufen. Was tut sie da? Sie versucht, ihre Lage zu begreifen,
indem sie ihre Geschichte immer und immer wieder erzählt.
erklärt den neunfach größeren Redeanteil der Schüler an den
skandinavischen Schulen gegenüber den deutschen. Es geht mir
nicht darum, dass wir finnische oder schwedische Schulverhältnisse über Deutschland stülpen, sondern dass wir uns anregen
lassen, mehr zu reden, zu mehr Partnerarbeit und, als Letztes,
zu mehr „Lernen durch selber tun, machen, bauen, reparieren“,
handeln also und präsentieren. Es gibt in Deutschland zwei
Schulformen, die besonders viel mit Präsentieren arbeiten, das
sind erstens die Handelsschulen und zweitens die Waldorfschulen. Ansonsten machen das häufig überbetriebliche Ausbildungsstätten und die Ausbildungsabteilung der Großbetriebe.
„Es geht mir nicht darum, dass wir finnische oder schwedische Schulverhältnisse über
Deutschland stülpen, sondern dass wir uns anregen lassen, mehr zu reden, zu mehr Partnerarbeit und, als Letztes, zu mehr ,Lernen durch selber tun, machen, bauen, reparieren‘,
handeln also und präsentieren.“
Langer Rede kurzer Sinn: Wenn wir unsere Schulen angucken,
müssen wir vieles von dem, was wir heute machen, weiter
machen. Manches müssen wir aber tatsächlich auch reformieren. Aber wir müssen sogar Uraltes wiedererfinden: Gedichte
auswendig lernen und vortragen, Merksätze mit Rhythmus und
Reim. Meine Oma hat vor 110 Jahren eine kleine Schule in
einem dänischen Dorf namens Othmarschen besucht, das heute
ein Stadtteil von Hamburg ist. Dort mussten die Schüler immer
Merksätze sprechen wie „Iller, Isar, Lech und Inn fließen rechts
zur Donau hin. Wörnitz, Altmühl, Naab und Regen fließen ihr
von links entgegen“ oder „Wer ‚brauchen‘ ohne ‚zu‘ gebraucht,
braucht ‚brauchen‘ überhaupt nicht zu gebrauchen“, und zwar
im Chor. Die Sätze konnte sie auch noch mit 87, weil sie sie
immer aussprechen musste.
In dem berühmten Film von Reinhard Kahl über die finnischen
und schwedischen Schulen sieht man, wie die Lehrerin in der
dritten Fremdsprache Deutsch mit einem Kassettenrekorder in
die Klasse kommt, und auf dem Band spricht ein Mann „Verwandte im Volkswagen vergessen verrückte Vögel“, weil es für
die Finnen schwer ist, V, W und F auszusprechen. Die Lehrerin
wiederholt das einmal, und dann sprechen alle im Chor: „Verwandte im Volkswagen vergessen verrückte Vögel.“ Das ist für
11-Jährige ein bisschen peppiger als „Peter and Mary are playing
with the ball.“ Und dann – zwei alte Lehrertricks –, dann sagt
sie, „Das möchte ich ein bisschen lauter hören“ und danach:
„Das war so schön, das möchte ich noch einmal hören.“ Sprache
lernt man durch Sprechen und nicht durch Zuhören.
Weiterhin sollten Schüler so oft wie möglich zusammen Aufgaben lösen, zum Beispiel fünf Mathe-Aufgaben am Computer.
Dabei reden sie nämlich miteinander. Partnerarbeit plus möglichst viel Im-Chor-Sprechen bedeutet: Viel reden, und das
In Finnland gibt es zum Beispiel alle sechs Wochen oder alle
zwei Monate einen Elternabend, bei dem Fernbleiben mit Bußgeld belegt ist. Das heißt, wenn nicht zumindest die Oma
kommt, müssen die Eltern zahlen. Das hat jetzt auch der Kanton Zürich eingeführt, aber nur vier Mal im Jahr. Jeder Elternabend beginnt damit, dass die Schüler den Eltern präsentieren,
was sie in den letzten Wochen gelernt haben. Ich vermute, dass
sie ihren Stoff deshalb so gut können.
Jetzt komme ich zu den wichtigsten Geboten des Lernens.
Bildung beginnt nicht mit der Einschulung, sondern mit der
Geburt. Minister Busemann hat vom Lernfenster gesprochen,
das bei kleinen Kindern noch weit offen ist und später immer
mehr geschlossen wird. Es kommt also auf den Anfang an. Nehmen wir an, wir setzten unsere besten Lehrer in die Vorschule,
die immer zur nächsten Schule gehört. Die Vorschullehrer sind
wie in Skandinavien akademisch ausgebildet. Jede Klasse hat
zwei Räume zur Verfügung. Es sind in einer Klasse mit 15 Kindern immer zwei Lehrerinnen und eine Schulassistentin, das ist
eine werdende Lehrerin, die die Hälfte der Zeit in der Uni, die
andere Hälfte in einer zugeordneten Klasse verbringt. In jeder
dritten Stunde kommt außerdem eine Sonderpädagogin. In
Skandinavien gibt es dreimal so viele Sonderpädagogen wie in
Deutschland, aber keine oder kaum Sonderschulen.
Noten fallen nicht einfach nur weg, wie die Mütter in Schleswig-Holstein befürchteten, sondern werden durch drei andere
Dinge ersetzt:
1. In der letzten Vorschulklasse, der Klasse 0, in die alle Sechsjährigen kommen, lernen die Kinder, ihre Gefühle angemessen
zum Ausdruck zu bringen, nicht zu schreien, nicht zu weinen,
nicht beleidigt wegzulaufen, sondern zu warten, bis man dran ist.
19
2. Die Kinder lernen, sich selbst angemessen einschätzen zu
können, was man übrigens genauso mühselig und lange lernen
muss wie Rechnen. Und jetzt sage ich Ihnen einmal einen ganz
bösen Satz: Wir leben in einer modernen Demokratie, nämlich
in Deutschland im Jahre 2006. Und wir sind immer noch dabei,
junge Menschen von außen zu bewerten, statt ihnen zu helfen,
sich selbst angemessen einschätzen zu können. Und angemessen einschätzen heißt nicht überschätzen und nicht unterschätzen.
halten können. Die Zukunft wird weiblich sein, wenn wir nicht
etwas ändern. 54 Prozent eines Jahrgangs, der in Niedersachsen
das Abitur ablegt, sind Mädchen und nur noch 46 Prozent sind
Jungen, obwohl am Beginn der Klasse 5 des Gymnasiums noch
viel mehr Jungen als Mädchen sitzen, weil immer noch einige
Eltern glauben, für ein Mädchen würde auch der Realschulabschluss reichen. Dieser Vorsprung ist schnell verbraucht. Der
Notendurchschnitt der Mädchen im Abitur liegt zurzeit bundesweit um 0,8, also fast eine ganze Note, über dem der Jungen.
„Wenn Sie sich in Deutschland besonders gute Schulen angucken, können Sie vier immer wiederkehrende Merkmale erkennen: Erstens eine ziemlich starke Schulleiterpersönlichkeit, zweitens einen Konsens im Lehrerkollegium. Mit diesem Konsens verknüpft ist drittens, dass wir
viele verschiedene Profile nebeneinander brauchen. So findet jeder Lehrer irgendwo seine
Nische. Und das Letzte, was wir vorfinden, ist eine besonders enge und aktive Zusammenarbeit zwischen Lehrerschaft und Elternschaft.“
3. Die Kinder lernen, zu zweit etwas zu erarbeiten und den
anderen zu präsentieren. (Darin ist übrigens Bremen bundesweit führend, das sage ich an dieser Stelle nur, weil Bremen
sonst immer so weit unten steht.) Das wird verknüpft mit Portfolios, das sind Mappen, Ordner oder Kartons, in denen alles
aufbewahrt wird, was das Kind macht. Es wird also eine Art
Bildungskarriere-Dokumentation erstellt, und was zu groß ist,
wird fotografiert. Wenn beispielsweise – und jetzt übertreibe
ich einmal ein wenig – ein Viertklässler ein Diktat schreibt,
dann steht da nicht in Rot 5- drunter, sondern die Fehler werden zwar markiert, aber anschließend heftet der Schüler einen
Zettel dran, wie er selbst sein Diktat findet. Dazu kommt ein
zweiter Zettel, auf dem vermerkt ist, wie die Lehrerin das Diktat findet. Es gibt einen dritten Zettel mit einer Beurteilung
der beiden Nachbarn und schließlich noch einen vierten, worauf die Eltern notieren, wie sie das finden. Es ist interessant,
wenn man sich das nach fünf Jahren anguckt, vor allem, wenn
man mit 80 Fehlern begonnen hat und dann über 60, 40 bei 20
Fehlern landet. Das ist ja ein enormer Fortschritt, aber vielleicht ist man immer noch so schlecht, weil man Legastheniker
ist. Dann ist man nicht so sehr beschämt, sondern man sieht
eher den eigenen Fortschritt.
Selbstlernen bringt mehr als belehrt zu werden. Also müssen wir
unsere Belehrungsanstalten, wie Andreas Schleicher von der
OECD-Kommission in Paris über die deutschen Schulen sagt,
endlich in Lernwerkstätten umwandeln. Lernen durch Sprechen
und Handeln bringt viel mehr als Lernen durch Zuhören, also
müssen wir doch eigentlich dafür sorgen, dass mehr durch Sprechen und Handeln gelernt wird – das kostet gar nicht mehr Geld.
Wir haben in Deutschland weiterhin das Problem, dass bei den
15-Jährigen die Jungen nicht mehr mit den Mädchen Schritt
20
Dadurch haben wir in Hamburg an der Uni mit der Lehrerbildung insofern Probleme, als bei einem Numerus Clausus von
1,3 die Jungen diese Hürde oft gar nicht mehr überwinden, was
wiederum zur Feminisierung des Lehrerberufes beiträgt. Aber
Sie wissen auch: Zwei Drittel der deutschen Sitzenbleiber sind
Jungen, zwei Drittel der Rückläufer vom Gymnasium zur Realschule, von der Realschule zur Hauptschule sind Jungen; von
den 11,8 Prozent, die es bundesweit nicht mal bis zum Hauptschulabschluss schaffen, sind etwas über 72 Prozent Jungen,
und an den wenigen deutschen Schulen für Erziehungsschwierige, Verhaltensgestörte oder Erziehungshilfe sind fast 95 Prozent Jungen.
Wir haben in Deutschland ein Problem mit den Jungen, die aber
bei uns genau so zur Welt kommen wie in anderen Völkern, also
zum Beispiel in Schweden oder Finnland. Dort aber können
Sie im Allgemeinen beim Schülerleistungsverhalten keine geschlechtsspezifischen Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen feststellen. Warum? Weil dort das Lernen anders gehandhabt wird. Wir reduzieren die Kinder beim Lernen in Deutschland meist auf die linke Hirnhälfte, wo das Verstandesmäßige,
das Logische, das Vernünftige, das Rationale, das Zahlenverständnis, das Raumvorstellungsvermögen und die technischen
Anteile von Sprache sitzen. In der rechten Hirnhälfte dagegen
sitzt das Emotionale, Musische, Kreative, Atmosphärische,
Kommunikative und Soziale. Und mit der breiten Brücke, die
Mädchen schon immer zwischen der linken und rechten Hirnhälfte hatten – ein Neuronen-Synapsen-Geflecht, das bei Mädchen viermal so dick ist wie bei den Jungen –, haben Mädchen,
die linkshirnig erzogen und beschult werden, eine große Chance, dass das, was links ankommt, auch ein Stück weit nach
rechts gelangt, sodass indirekt die rechte Hirnhälfte ein Stück
weit mit entwickelt wird.
Struck: Wie lernen Kinder
Blindtext
mehr?
Bei den Jungen bleibt das Gelernte nur links. Im Falle von Frust
finden sie in sich keinen Ausgleich, müssen es in Form von
Aggression rauslassen. Wir müssen beim Lernen die rechte Hirnhälfte genauso mitentwickeln wie die linke. Das schaffen die
Skandinavier, aber auch die Kanadier und Niederländer. Und
jetzt kommen wir zu diesem Satz, den die Finnen immer aussprechen. Sie sagen:
1. Eine gute Schule erkennt man nicht daran, dass die Lehrer
Fragen stellen, sondern daran, dass die Schüler das können.
2. Die wichtigsten Lehrer für Kinder sind andere Kinder, die
zweitwichtigsten Lehrer sind die Lehrkräfte, die drittwichtigsten Lehrer sind die Räume mit dem Interieur und der viertwichtigste Lehrer ist die Rhythmisierung, der ständige Wechsel
von Anspannung und Entspannung, so wie Sie das zu Hause bei
der Steuererklärung machen. Die erledigen Sie auch nicht in
einem Rutsch, sondern Sie gehen zwischendurch mal an den
Kühlschrank, werfen sich aufs Bett, hören ein bisschen Mozart,
dann telefonieren Sie mit jemandem und gucken in die Zeitung, und danach machen Sie jeweils weiter.
einem Gesprächskreis, dem so genannten Stuhlkreis, eine Viertelstunde, damit die Kinder zuhören lernen, was bei Gleichaltrigen besser funktioniert; damit sie reden und Gesprächsregeln lernen nach 30 Stunden actionreichen, farbigen und
schnell wechselnden Bildern am Wochenende. Danach können
Sie wie bisher eine Stunde Mathe machen. Anschließend muss
eine Stunde Bewegung oder Sport folgen. Und wenn Sie dann
eine Stunde Englisch halten, muss darauf eine Stunde Musik
kommen, nach einer Stunde Deutsch, eine Stunde Theater oder
Rollenspiel, und im Anschluss können Sie einen pädagogischen
Mittagstisch anbieten. Und wenn Sie dann nachmittags von
14.30 Uhr bis 16.30 Uhr einen Leistungskurs Englisch ansetzen,
funktioniert das wieder außerordentlich gut. So wird nichts
abgewertet, sondern alles ist rhythmisiert.
Kinder, die im multimedial vernetzten Kinderzimmer aufgewachsen sind, haben bereits eine andere Fehlerkultur als wir
Erwachsene, die wir anders groß geworden sind, sagen die
Hirnforscher. Das heißt, Kinder lernen über Trial and Error,
durch Versuch und Irrtum. Und die Anthropologen sagen uns,
kleine Mädchen seien viel eher als kleine Jungen geneigt, die
Foto: VdS Bildungsmedien
In Hamburg hat der Senat beschlossen, dass zum 1. August 2004 alle
Gymnasien von heute auf morgen
Ganztagsschulen werden. Natürlich
wegen der Reduktion des Gymnasiums auf acht Schuljahre, weil da
mehr Stunden erforderlich sind und
weil es das 4-Milliarden-Euro-Programm der Bundesregierung zur Förderung von 10 000 der 45 000 deutschen Schulen zu Ganztagsschulen
im Laufe von vier Jahren gibt. Und
was haben die Gymnasien gemacht?
Zunächst haben sie nur am Dienstag
und am Donnerstag nachmittags Unterricht angeboten und vormittags
alles gelassen, wie es ist: Erste StunMit Verve präsentierte Professor Peter Struck dem interessierten Publikum im „forum bildung“ seine
de Mathe, zweite Englisch, dritte
Gedanken zu der Frage, wie mehr und besser gelernt werden kann.
Latein, vierte Physik, fünfte Chemie,
dann pädagogischer Mittagstisch mit
minderwertig aufgewärmtem angeliefertem Essen, verpackt in Alufolie, und danach hat man nach- Erwartungen ihrer Bezugspersonen zu erfüllen, d. h., sie haben
mittags ein paar Kurse in Musik, in Kunst, in darstellendem ein etwas höheres Anpassungspotenzial als kleine Jungs. Diese
Spiel, in Sport, in Technik, ein bisschen Informatik und Haus- wollen durch Ausprobieren die Welt verstehen. In der Schule
aufgabenhilfe angebaumelt wie Eisenbahnwaggons, womit allerdings kann ausprobieren heißen, mit viel roter Tinte eine
man automatisch alles, was am Nachmittag stattfindet, in den Fünf zu bekommen, und das multimedial vernetzte KinderzimAugen der Schüler als eher minderwertig abqualifiziert hat.
mer führt bei Jungen dazu – das hat die letzte OECD-Studie
ergeben –, dass sie eine sehr gute Fehlerkultur draufhaben, also
Deshalb müssen wir uns an dieser Stelle wieder die Bodensee- sehr gut in der Lage sind, durch Fehlermachen zu lernen. Desschule angucken. Als Erster ist morgens um 7.30 Uhr der Lehrer halb dürfen wir nicht immer bestrafen, denn dann werden sie
im Klassenraum, die Kinder können zwischen 7.30 und 8.00 Uhr irgendwann resignieren. Sie kennen das, Mama hat Abitur, hat
kommen. Wer zu Hause kein Frühstück hat, frühstückt mit dem Physik studiert und ist Managerin in einem weltweit
Lehrer, das sind dort nur drei Schüler, in Hamburg St. Pauli operierenden Großkonzern; sie hat sich im „Mediamarkt“ ein
wären es alle. Und um 8.00 Uhr beginnt der Unterricht mit elektronisches Bügeleisen gekauft und versucht es seit einer
21
Dreiviertelstunde mit der schlecht aus dem Koreanischen übersetzten Gebrauchsanweisung in Gang zu kriegen. Da kommt ihr
9-jähriger Sohn, der weder Abitur gemacht noch Physik studiert
hat, der auch gar nicht in die Gebrauchsanweisung schaut,
sondern mit ein bisschen Trial and Error sagt: „Guck mal, Mama,
so geht das.“
Und die Ausbildungsleiter des Volkswagenwerks in Wolfsburg
sagen uns, dass die Schule diese wunderbare Fehlerkultur nicht
einfängt. In den Zeugnissen der Bewerber vermissen sie so genannte Schlüsselqualifikationen, Selbstständigkeit, Teamfähigkeit, Handlungskompetenz, Konfliktfähigkeit, Kreativität, Fähigkeit zum vernetzten Denken usw. Sie schauen auf drei Fächer,
Deutsch, Mathe und Physik, das andere interessiert sie nicht.
Lieber veranstalten sie viertägige Aufnahmeprüfungen, um festzustellen, über welche Qualifikationen die Bewerber verfügen.
Herr Busemann hat ja Recht, wenn er sagt, wir müssten die
Schulen in die Selbstständigkeit entlassen, weil sie sich mit Personalhoheit und eigener Budgetierung im Sinne eines Schulprogramms oder Schulprofils besser Schwerpunkte setzen können.
Wir brauchen einen Wettbewerb der Profile. Das bunteste
Schulsystem der Welt haben die Niederlande. Dort gibt es etwa
500 unterschiedliche Profile: musisch, sprachlich, wirtschaftlich, technisch, altsprachlich, neusprachlich, mathematisch,
sportlich usw. Und da kommt keiner mehr auf die Idee zu
fragen, was höherwertig, mittelmäßig und minderwertig ist.
Solange wir über das dreigliedrige Schulsystem debattieren,
kommen wir nicht richtig weiter. Sie haben jahrelang gehört,
eine integrierte Gesamtschule sei Gleichmacherei. Wenn Sie in
unserem Schulsystem jedoch eine achte Realschulklasse mit
27 Schülern haben, dann weiß deren Klassenlehrerin oder
Klassenlehrer unbewusst, dass da eben 27 Schüler einer achten
Realschulklasse sitzen. Die sind nicht in der neunten, nicht in
der siebten Realschulklasse, die sind nicht im Gymnasium und
die sind nicht in der Hauptschule. Die Schüler sind von vier Seiten eingemauert. Die Lehrerin oder der Lehrer ist der Meinung,
sie seien etwa alle gleich leistungsfähig. Das ist Gleichmacherei.
Ein deutscher Gymnasiallehrer weiß, dass er seinen Schüler
Karlheinz jederzeit wieder loswerden kann: Er kann ihn die
Klasse wiederholen lassen, auf eine Sonderschule verweisen
oder mit Hilfe von fünf anderen Lehrern von der Schule werfen.
Ein finnischer Lehrer z. B. weiß, dass er seinen Schüler Janne
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nie wieder los wird. Es gibt kein gegliedertes Schulsystem, es
gibt kein „sitzen bleiben“, es gibt keine Sonderschulen, und die
nächste Schule ist 280 Kilometer entfernt, weil Finnland nach
EU-Richtlinien ein unbesiedeltes Land ist. Der Lehrer beginnt
sich auf Janne einzustellen, und der Seiltanz der skandinavischen Schulen besteht darin, wie Herr Busemann auch gesagt
hat, möglichst viel Individualisierung plus Gemeinschaft zu
schaffen. Das bekommen wir nicht hin.
Gesellschaftliche Integration gelingt über Schulen oder sie
misslingt über Schulen. In Schleswig-Holstein gelingt es gerade
durch den großen Druck der Eltern, der Wähler, mit der großen
Koalition eine Gemeinschaftsschule, eine längere Grundschule
zu schaffen. Sie wissen ja infolge von IGLU, dass die deutschen
Grundschulen das Beste sind, was wir haben, und das brauchen
wir nur fortzusetzen.
Wenn sich an Schule etwas verbessern soll, dann ist das immer
nur von unten möglich, d. h. nicht nur von der Grundschule
her, sondern von jeder einzelnen Schule. Ich sage einmal etwas
plakativ: Wenn Sie sich in Deutschland besonders gute Schulen
angucken, können Sie vier immer wiederkehrende Merkmale
erkennen: Erstens eine ziemlich starke Schulleiterpersönlichkeit, zweitens einen Konsens im Lehrerkollegium. Mit diesem
Konsens verknüpft ist drittens, dass wir viele verschiedene Profile nebeneinander brauchen. So findet jeder Lehrer irgendwo
seine Nische. Und das Letzte, was wir vorfinden, ist eine besonders enge und aktive Zusammenarbeit zwischen Lehrerschaft und Elternschaft.
Und nun komme ich zum Schluss: Wenn wir uns die oben
stehenden Länder bei TIMSS, PISA, IGLU und wie die Studien
alle heißen, angucken, dann stellen uns diese vor die Wahl, uns
entweder zurück in die 1950er-Jahre des letzten Jahrhunderts
zu orientieren, d. h. wir müssten Angst und Selektion beim Lernen erhöhen wie die Länder Südkorea, Japan, Singapur oder
Hongkong, die auch an der Spitze stehen. Das haben wir ja auch
250 Jahre lang gemacht. Oder wir entscheiden uns anders und
gehen stattdessen 20 Jahre in die Zukunft. Dann dürfen wir
nicht die Angst beim Lernen erhöhen, sondern die Motivation,
nicht Selektion, sondern Integration, womit die anderen oben
stehenden Länder, Finnland, Schweden, Kanada und die Niederlande z. B., ihren Erfolg begründet haben.
Meyer:
Struck:
Merkmale
Wie lernen
gutenKinder
Unterrichts
Blindtext
mehr?
STATEMENT
Hilbert Meyer
Hilbert Meyer, geb. 1941, ist seit 1975 Professor für Schulpädagogik an der Carl von Ossietzky Universität
Oldenburg mit den Schwerpunkten Allgemeine Didaktik (seit 1975), Unterrichtsmethodik (seit 1982) und
Schulentwicklung (seit 1992); 1994 Gründung der Forschungswerkstatt „Schule und LehrerInnenbildung“;
2000 Leiter des BLK-Modellversuchs „Lebenslanges Forschendes Lernen im Kooperationsverbund Schule,
Seminar und Universität“. Hilbert Meyer ist Autor zahlreicher Publikationen. Meyer ist Vorsitzender der
Jury Cornelsen Förderpreis Zukunft Schule.
Vorbemerkung
Begriffsklärungen
Mein wichtigstes Ziel für den heutigen Vortrag besteht darin,
Ihnen Anregungen zu geben, Ihre persönliche Theorie guten
Unterrichts in Kenntnis empirischer Forschungsergebnisse
weiterzuentwickeln. Voraussetzung dafür, dass dies überhaupt
funktionieren kann, ist, dass Sie eine gewisse reflexive Distanz
zu Ihrem eigenen Unterrichtshandeln herstellen. Dieses Sichselbst-beim-Unterrichten-über-die-Schulter-Schauen ist ganz
wichtig. Gerade Lehrerinnen und Lehrer, die viel Routine
Ich will vorweg die für meinen Vortrag zentralen Begriffe
„Unterricht“, „guter Unterricht“ und „Merkmale guten Unterrichts“ erläutern.
1. Ich verwende einen sehr weiten Unterrichtsbegriff und
unterscheide dabei drei wichtige Grundformen: zuerst den lehrgangsförmigen, zumeist fachbezogenen Unterricht; zweitens
einen stärker individualisierenden Unterricht, wie er z. B. in
Die internationale Unterrichtsforschung hat in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte gemacht.
Deshalb wissen wir nun besser als früher, welche Faktoren Lernen fördern und welche es stören. Professor Dr. HILBERT MEYER, Schulpädagoge an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, hat aus vielen
Studien zehn empirisch abgesicherte Gütekriterien für guten Unterricht herausdestilliert. Wer sich
daran orientiert, hilf Schülerinnen und Schülern, ihre fachlichen Leistungen ebenso wie ihre sozialen
und methodischen Kompetenzen zu verbessern. In seinem Statement „MERKMALE GUTEN UNTERRICHTS – EMPIRISCHE BEFUNDE UND DIDAKTISCHE RATSCHLÄGE“ erläuterte der Referent, wie Lehrer
ihre persönlichen Vorstellungen guten Unterrichts überprüfen und gezielt weiterentwickeln können.
haben, sollten es hin und wieder tun. Das ist aber, wie wir aus
empirischen Erhebungen, z. B. von Ewald Terhart, wissen, nicht
einfach. Warum? Die wichtigste Steuerungsinstanz für das
unterrichtliche Handeln von Lehrerinnen und Lehrern ist ihr in
langen Berufsjahren angereichertes, erstaunlich stabiles Erfahrungswissen – 93 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer haben zu
Protokoll gegeben, sich im Wesentlichen daran zu orientieren.
Theoriewissen spielt demgegenüber eine untergeordnete Rolle.
Nur 7 Prozent sagten, sich regelmäßig an Theoriewissen aus der
Zeit der Ausbildung oder aus Fortbildungsveranstaltungen zu
orientieren. Das ist unbefriedigend. Deshalb spreche ich von
einer persönlichen Theorie guten Unterrichts immer dann,
wenn eine Lehrerin oder ein Lehrer bereit und in der Lage ist,
ihr bzw. sein Erfahrungswissen durch theoretische Impulse ein
Stück weiterzuentwickeln. Ich rechne also nicht damit, dass Sie
meinen Vortrag eins zu eins in Ihre Unterrichtspraxis umsetzen.
Ich möchte Sie vielmehr dazu verleiten, ein wenig an Ihrer persönlichen Theorie guten Unterrichts zu „schnitzen“.
Form von Freiarbeit, Werkstattarbeit oder – in der gymnasialen
Oberstufe – durch die Anfertigung von Facharbeiten praktiziert
wird; und drittens alle projektförmigen Arbeitsformen.
Alle drei Grundformen sind für mich gleich wichtig, auch wenn
sie im Schulalltag unausgewogen praktiziert werden – der lehrgangsförmige Unterricht dominiert fast überall. Es wäre aber
sinnvoll, langfristig eine quantitative und qualitative Drittelparität zwischen den Grundformen herzustellen. Diese Empfehlung kann auch empirisch belegt werden. Es gibt zwei bekannte
Schulen in Deutschland, die bereits Drittelparität ihrer unterrichtlichen Grundformen in dem von mir definierten Sinne hergestellt haben: die Helene-Lange-Schule in Wiesbaden und die
Laborschule Bielefeld. Diese zwei Schulen haben den PISA-Test
für alle Schüler ihres 10. Jahrgangs wiederholt und dabei sehr
gut abgeschnitten (zum Teil oberhalb der finnischen Ergebnisse).
2. Was ist „guter Unterricht“? Als ich vor zwei Jahren mein Buch
gleichen Titels zu schreiben anfing, dachte ich, ich bräuchte
23
nur in die damals vorliegenden Bücher zu diesem Thema zu
schauen und würde sofort eine akzeptable Definition finden.
Aber nichts da! Was ich fand, waren zahllose Erläuterungen,
warum es schwierig, ja unmöglich sei, guten Unterricht zu
definieren. Das fand ich unbefriedigend. Ich habe dann das
getan, was ich immer in solchen Fällen tue. Ich habe Schüler und
Lehrer befragt, was sie unter gutem Unterricht verstehen. Hier
eine erste Stellungnahme, die mich zunächst allerdings sehr
geärgert hatte:
Markus, ein siebzehnjähriger Grundkurs-Geschichte-Schüler
aus Hamburg, erklärt: „Unterricht ist dann gut, wenn ich
mit minimalem Aufwand einen maximalen Ertrag erziele.“
Dieser Schüler war an Geschichte nicht interessiert. Er ist zu
seinem Geschichtslehrer gegangen und hat ihn gefragt, was er
tun müsse, um die Mindestpunktzahl zu erhalten. Der Lehrer
sagte ihm: „Nicht stören, die Klausur mitschreiben und
mindestens fünf Punkte machen!“ Markus hat ein Arbeitsbündnis mit seinem Lehrer geschlossen, und das finde ich
wiederum sehr vernünftig – auch wenn es sich in diesem
Falle auf dem denkbar niedrigsten Niveau bewegt. Wir können nicht von Schülern verlangen, dass sie in allen 12 Unterrichtsfächern mit glühendem Herzen dabei sind.
Bei jüngeren Schülern gibt es zumeist kein formelles
Arbeitsbündnis. Sie kommen gern in die Schule, und sie
möchten etwas lernen. Auch dazu habe ich eine Stellungnahme mitgebracht. Sie stammt von Mariah, einem achtjährigen aufgeweckten Mädchen aus einer kleinen ländlichen Grundschule in Niedersachsen. Die Lehrerin hatte
den Schülern gesagt, sie sollten aufschreiben, was guter
Unterricht sei. Mariah schreibt:
„Am Sachunterricht z. B. finde ich einfach toll, dass wir eine
so tolle Lehrerin bekommen haben. Sie ist so supernett, und
die Themen sind auch so spannend, dass ich mich einfach
daran beteiligen muss. Ich sage euch, Sachunterricht ist das
beste Fach des ganzen Universums.“
Die Schülerin zeigt sehr deutlich, dass das Schülerbild vom
guten Unterricht fast immer durch die Wahrnehmung der Lehrerpersönlichkeit vermittelt wird. Das ist ein ganz wichtiger, ja
entscheidender Faktor für unser Nachdenken über guten Unterricht. Aber was folgt daraus? Wenn die Theoretiker den Praktikern nicht mehr zu sagen haben, als dass sie erst einmal ihre
Lehrerpersönlichkeit umkrempeln müssten, dann kann man das
Ziel der Qualitätsverbesserung auch gleich wieder vergessen.
Denn die Persönlichkeitsbildung ist bei fast allen Menschen
mit ungefähr 25 Jahren abgeschlossen. Eine Empfehlung wie
„Werden Sie etwas humorvoller“ ist also kaum umsetzbar. Deshalb habe ich in die nachfolgende Sammlung von Merkmalen
guten Unterrichts in diplomatisch-didaktischer Absicht nur
solche Faktoren aufgenommen, die im Unterricht selbst durch
die gemeinsame Anstrengung von Lehrern und Schülern stark
gemacht werden können.
24
Ich kann meine Fokussierung auf jene Faktoren, die im Unterricht selbst bearbeitet werden können, auch noch anders
begründen: Wenn ich die Stärke der Lehrerpersönlichkeit oder,
auf der Schülerseite, die Intensität der Lernmotivation zu zentralen Faktoren guten Unterrichts gemacht hätte, dann wäre ja
Unterricht in einem gymnasialen Leistungskurs, bei dem eine
hohe Lern- und Leistungsmotivation der Schüler vorausgesetzt
werden kann, per definitionem guter Unterricht, während Unterricht an einer Sonderschule für Erziehungs- oder Lernhilfe per
definitionem schlechter Unterricht wäre – eine unsinnige und
unbarmherzige Argumentation! Ich muss die Güte des Unterrichts also immer im Blick darauf bestimmen, was Lehrer und
Schüler in gemeinsamer Anstrengung geschafft haben.
Ich habe nun auf der Grundlage dieser und weiterer Stellungnahmen und unter Einbezug meiner eigenen bildungstheoretischen Überzeugungen die folgende Arbeitsdefinition formuliert:
Guter Unterricht ist ein Unterricht, in dem
im Rahmen einer demokratischen Unterrichtskultur
auf der Grundlage des Erziehungsauftrags
und mit dem Ziel eines gelingenden Arbeitsbündnisses
eine sinnstiftende Orientierung
und ein Beitrag zur nachhaltigen Kompetenzentwicklung
aller Schülerinnen und Schüler geleistet wird.
Die PISA-Studie hatte sich auf Punkt 5 kapriziert und die
Punkte 1 bis 4 vernachlässigt. Das muss beim Nachdenken
über guten Unterricht korrigiert werden: Unterricht soll trotz
all seiner inneren Widersprüche Demokratie für Schüler und
Lehrer erfahrbar machen. Unterricht soll so konstruiert sein,
dass es den Schülern leicht gemacht wird, ein Arbeitsbündnis
mit ihren Lehrern zu schmieden. Anders formuliert: Im guten
Unterricht wird die didaktische Kompetenz der Schüler voll
genutzt. Guter Unterricht ist erziehender Unterricht. Er trägt
dazu bei, den heute immer brüchiger, aber auch immer wichtiger werdenden Erziehungsauftrag der Schule wahrzunehmen.
Er ist nicht kündbar – auch dort nicht, wo wir es mit Schülern
zu tun haben, die gar nicht erzogen werden wollen. Schließlich
soll Unterricht sinnstiftend wirken; ich hätte mit einem altertümlichen Wort auch sagen können: Er soll bilden.
3. Eine letzte Begriffsklärung: Ich spreche von „Merkmalen
guten Unterrichts“ so, wie dies die empirischen Unterrichtsforscher auch tun. Merkmale guten Unterrichts sind empirisch
erforschte Ausprägungen von Unterricht, die zu dauerhaft
hohen kognitiven, affektiven und/oder sozialen Lernergebnissen beitragen. Und ich ergänze, dass diese Merkmale nicht nur
empirisch abgesichert, sondern auch bildungstheoretisch
gewichtet und begründet werden müssen.
Meyer: Merkmale guten Unterrichts
Blindtext
Merkmale guten Unterrichts
Die empirische Unterrichtsforschung hat in den
letzten 15 Jahren erhebliche Fortschritte gemacht. Die Forscher sind heute in der Lage, bestimmte Faktoren zu benennen, die in den von
ihnen untersuchten Schulklassen das Lernen nachweislich befördert haben. Ich habe aus den zahlreichen Studien zehn Merkmale guten Unterrichtsherausgefiltert, die m. E. die von Lehrern
und Schülern bei der Qualitätssicherung zu lösende Gesamtaufgabe angemessen abbilden. Bei
meiner Lektüre musste ich hier und dort umlernen, und an diesem Umlernprozess möchte ich
Sie gerne beteiligen. Vielleicht haben Sie in meinem Zehnerkatalog das Merkmal „Disziplin“ vermisst. Ich habe es absichtlich weggelassen –
nicht weil Disziplin unwichtig wäre, sondern
weil es kein Merkmal, sondern eine Folge guten
Unterrichts ist. Wenn ich klar strukturiere, wenn
ich die Lernzeit für kostbar halte, wenn ich ein
gutes Klima schaffe usw., dann wächst auch die
Disziplin des Lehrers und der Schüler.
Zwei Anmerkungen zum Geltungsanspruch dieses Katalogs: Erstens, der Katalog ist nicht vollständig, es fehlen z. B. fachdidaktische Merkmale und auch die Erziehungsaufgaben sind unterbelichtet. Ich habe beides nicht mutwillig weggelassen. Vielmehr ist die empirische Forschung
in diesen Punkten noch nicht so weit.
1. Klare Strukturierung des Unterrichts (Ziel-, Aufgaben-, Prozessund Rollenklarheit).
2. Hoher Anteil echter Lernzeit (das ist die Zeit, aus der z.B. die
Regulierung von Disziplinkonflikten oder die Regelung von Organisationskram herausgerechnet ist).
3. Lernförderliches Klima (d. h. gegenseitiger Respekt, verlässlich
eingehaltene Regeln, Verantwortungsübernahme, Gerechtigkeit und
Fürsorge).
4. Inhaltliche Klarheit (durch Verständlichkeit der Aufgabenstellung, Plausibilität des thematischen Gangs und natürlich Klarheit
der Ergebnissicherung).
5. Sinnstiftendes Kommunizieren (durch Planungsbeteiligung,
Gesprächskultur, Sinnkonferenzen, Schülerfeedback).
6. Methodenvielfalt (Reichtum an Inszenierungstechniken; Vielfalt
der Handlungsmuster, Variabilität der Verlaufsformen und Ausbalancierung der methodischen Großformen).
7. Individuelles Fördern (durch Freiräume, Geduld und Zeit; durch
innere Differenzierung; durch individuelle Lernstandsanalysen und
abgestimmte Förderpläne, besondere Förderung von Schülern aus
Risikogruppen).
8. Intelligentes Üben (durch Bewusstmachen von Lernstrategien,
passgenaue Übungsaufträge und gezielte Hilfestellungen).
9. Transparente Leistungserwartung (durch ein an Bildungsstandards und Leistungsvermögen der Schüler orientiertes Lernangebot
Zweitens: Der Katalog gilt für herkömmlichen,
und Rückmeldungen zum Lernfortschritt).
didaktisch und methodisch traditionellen Unterricht ebenso wie für „modernen“, stark differen10. Vorbereitete Umgebung (mit verlässlicher Ordnung, geschickter
zierenden Unterricht. Dem liegt eine Prämisse
Raumregie, Bewegungsmöglichkeiten, brauchbarem Lernwerkzeug).
zugrunde, die ich in meinen früheren Veröffentlichungen nicht genannt, aber immer vorausgesetzt habe: Es gibt guten herkömmlichen und
schlechten herkömmlichen ebenso wie guten
offenen bzw. schülerzentrierten und schlechten
offenen Unterricht. Diese These haben einige Leser meines auf den Lernerfolg ist. Seit ich vor 40 Jahren in Niedersachsen
Buches zum guten Unterricht so gedeutet, als ob ich einen in einer Klasse mit gut 40 Schülerinnen und Schülern als Junggrundlegenden Schwenk gemacht hätte und nun dem offenen, lehrer gearbeitet habe, ist mir dieses Merkmal vertraut und
dem schüler- oder handlungsorientierten Unterricht abge- wichtig. Was ist darunter zu verstehen?
schworen hätte. Das ist Unsinn.
1. Klare Strukturierung erwächst aus der Rollenklarheit. Der
Ich erläutere Ihnen nun die zehn Merkmale ein wenig ausführ- Lehrer weiß, wann er dran ist und wann er sich zurückhalten
licher: Wer es noch genauer wissen will, kann in dem Buch muss, und die Schüler wissen, wann sie dran sind.
„Guter Unterricht“ nachschauen.
2. Klare Strukturierung bezieht sich auf die Aufgabenklarheit. Es
1. Klare Strukturierung des Unterrichts
reicht nicht, dass sich der Lehrer die Aufgabe klar gemacht hat –
sie muss beim Schüler angekommen sein. Unterricht ist mithin
Ich war überrascht und erfreut, als ich in der empirischen Lite- dann gut, wenn ein fremder Besucher in den Klassenraum
ratur entdeckte, dass klare Strukturierung der absolute Spit- gehen und einen beliebigen Schüler fragen kann, was er da tue
zenreiter unter den Unterrichtsmerkmalen mit starkem Einfluss und warum, und eine sachbezogene Antwort erhält.
25
und Baden-Württemberg deutlich bessere Leistungen zeigen als
die Bremer. Die Bremer Schülerinnen und Schüler haben aber bis
zur 10. Klasse ein ganzes Schuljahr weniger an Unterricht absolviert – kein Wunder, dass sie leistungsmäßig schlechter
dastehen. (Die Bremer haben das inzwischen aber korrigiert.)
Guter Unterricht fängt pünktlich an, und er endet am Stundenschluss – nicht früher. In meinem Buch zum guten Unterricht habe ich ein einfaches Rechenbeispiel vorgelegt. Heute
kostet eine Unterrichtsstunde den Staat
ungefähr 75 Euro, eine Turnhallenstunde
das Doppelte. Ein A-13-Lehrer am Gymnasium, der drei Mal am Vormittag den
Lernprozess mit fünf Minuten Verspätung startet, hat also schon eine Drittel
Unterrichtsstunde verspielt und 25 Euro
in den Sand gesetzt. Und eine Gymnasiastin, die den Staat ungefähr 5000 Euro
pro Jahr kostet, hat den Staat ebenfalls
um 25 Euro geprellt, wenn sie einen Tag
lang schwänzt. Wir sind es nicht
gewohnt so zu denken, aber wir sollten
an deutschen Schulen mehr Kostenbewusstsein entwickeln.
Foto: VdS Bildungsmedien
3. Eine klare Prozessstrukturierung ist ebenso wichtig. Der
bekannte amerikanische Unterrichtsforscher Jacob Kounin
spricht hier von der notwendigen „Reibungslosigkeit“ der
Unterrichtsführung. Man hätte auch „Eleganz“ sagen können.
Gute Lehrer können viele Störungen im Umfeld regulieren, sie
können zügig von einem Unterrichtsschritt zum nächsten
umschalten usw. Und noch bessere Lehrer sorgen dafür, dass die
Schüler diese didaktische Kompetenz erwerben.
Mit „echter Lernzeit“ ist aber noch mehr
als die physische Anwesenheit gemeint.
Durch aktives Einbeziehen der Zuhörerinnen und Zuhörer verstand es Professor Meyer, seinen
Man muss auch lernbereit und aufmerkVortrag noch anschaulicher zu gestalten.
sam dabei sein. Echte Lernzeit ist deshalb
der Anteil an der im Unterricht zugebrachten Zeit, in dem die Schüler wirklich bei
Klare Strukturierung hat für das Lernergebnis wichtige Folgen. der Sache sind. Das kann Einzel- und Gruppenarbeit, aber selbstSie führt zu einem hohen Anteil echter Lernzeit, zur Reduzie- verständlich auch eine lehrerzentrierte Phase sein, in der Schürung von Störungen und zu hoher Schüleraufmerksamkeit. Ich ler intensiv einem Lehrervortrag lauschen. Es ist unschwer aushabe in den letzten 30 Jahren viele Gespräche mit Mentorinnen zumachen, wer die „Zeitkiller“ in deutschen Klassenzimmern
und Mentoren geführt, bei denen ich zusammen mit Studie- sind: die mangelhafte Vorbereitung der Schüler und des Lehrers,
renden den Unterricht besucht habe; wenn dann eine Klasse die zunehmenden Disziplinstörungen und die wuchernden
sehr unaufmerksam war, kam der Lehrer hinterher zu mir und Organisationsaufgaben, von denen ein erheblicher Teil m. E.
sagte: „Entschuldigen Sie, aber das ist eine Klasse aus einem auch außerhalb der Unterrichtsstunde geregelt werden könnte.
wirklich schwierigen sozialen Umfeld, und der viele Lehrer3. Lernförderliches Klima
wechsel hat der Klasse auch nicht gut getan.“ Umgekehrt, wenn
eine Klasse gut bei der Sache war, habe ich das hinterher angesprochen. Dann sagten die Lehrer fast immer: „Ja, daran habe Ein gutes Klima ist für mich in erster Linie durch gegenseitigen
ich auch hart gearbeitet.“ Wer hat Recht? Die Wahrheit wird Respekt, also den vollständigen Verzicht auf eine Demütigung
irgendwo in der Mitte liegen. Last, not least: Klare Strukturie- der Schüler und ein Verächtlichmachen der Lehrer gekennzeichrung darf nicht mit autoritärem Lehrerverhalten verwechselt net. Vielleicht kennen einige hier im Raum Mats Ekholm, einen
werden. Sie muss immer vom Schüler her gedacht werden. Und bekannten schwedischen Unterrichtsforscher und guten Kenner
sie kann durch das, was heute als „kooperative Klassenführung“ der deutschen Schullandschaft. Wir haben ihn einmal gefragt,
was ihm an deutschen Schulen besonders auffällt. Seine Antbezeichnet wird, wirkungsvoll gestärkt werden.
wort: 1. fehlender Respekt der Schulleiter vor dem Kultusminis2. Hoher Anteil echter Lernzeit
ter, 2. fehlender Respekt der Lehrer vor dem Schulleiter und 3.
merkwürdige Verhältnisse zwischen Lehrern und Schülern. Mit
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Lernzeit einen mess- dieser Kritik hat er sicherlich nicht gemeint, dass die Schulleibaren Einfluss auf den Lernerfolg hat – eigentlich eine Selbst- ter und Lehrer alles akzeptieren müssen, was die Obrigkeit
verständlichkeit, aber es ist gut, dies noch einmal empirisch befiehlt. Auch ein Kultusminister muss mit seinen Lehrern resbestätigt bekommen zu haben. Wir wissen ja aus der PISA- pektvoll umgehen, und das erkennt man – so Mats Ekholm –
Länderstudie, dass die Schüler der Bundes-Siegerländer Bayern insbesondere daran, dass er seinen Lehrern keine Auflagen
26
Meyer: Merkmale guten Unterrichts
macht, wenn nicht zuvor die erforderlichen Rahmenbedingungen geschaffen worden sind. Zum lernförderlichen Klima gehören verlässlich eingehaltene Regeln und gemeinsam geteilte
Verantwortung. Auch hierfür gibt es empirische Belege und
überzeugende Beispiele aus der Geschichte der Schule: Wo die
Schüler viel Verantwortung übertragen bekommen, lernen sie
besser und mehr.
Schließlich gehören Gerechtigkeit und Fürsorge dazu. Diese beiden Variablen können schnell in Widerspruch zueinander geraten. Ich weiß noch, wie ich als junger Lehrer mit mir gerungen
habe: Ich hatte eine Schülerin, die ich für sehr intelligent hielt,
die aber von ihrer Mutter schrecklich unter Druck gesetzt
wurde, gute Noten zu produzieren. Sie war beim Diktatschreiben immer sehr aufgeregt; sie hatte mal wieder eine 5 geschrieben, und die Gesamtnote 5 wurde wahrscheinlich. Ich habe
dann einfach zwei Fehler ihres Diktats korrigiert, so dass sie
eine 4 minus bekommen konnte. Natürlich kollidiert das mit
meiner Pflicht, alle Schüler gerecht zu behandeln – aber ein
professioneller Lehrer muss zwischen Fürsorge und Gerechtigkeit ausbalancieren können. Ich sehe keine andere Lösung: Weil
in der Schule in sich widersprüchliche Ziele verfolgt werden
müssen, können gute Lehrer auch mal über ihren eigenen
Schatten springen. So werden sie Profis im Ausbalancieren.
4. Inhaltliche Klarheit
Dieses Merkmal hätte ich auch zu einem Unterpunkt von Merkmal 1 machen können. Aber dann wäre Nr. 1 zu einem Megakriterium geworden. Und das wollte ich nicht.
Inhaltliche Klarheit bezieht sich auf den gesamten Unterrichtsprozess, also auf die Aufgabenklärung zu Beginn, auf die Klärung der Sachfragen und auf die Klarheit und Verbindlichkeit
der Ergebnissicherung. Um inhaltliche Klarheit für die Schüler
herbeizuführen, muss der Lehrer erstens den Lernstand der
Schüler im Detail ermitteln und zweitens die Struktur der zu
lösenden Aufgabe klären. Das ist schwierig, auch wenn es seit
jeher das Hauptgeschäft der Fachdidaktiker war.
Inhaltliche Klarheit wird insbesondere durch das gefördert, was
seit Kurzem mit dem Schlagwort des „kumulativen“ oder „vernetzenden Lernens“ bezeichnet wird. Dabei geht es um die Verknüpfung des schon Beherrschten mit der neuen Aufgabe und
um die Übung, Anwendung und den Transfer in benachbarte
Lernbereiche. Verknüpfen mit dem schon Beherrschten nennt
man auch den vertikalen Transfer, Üben und Anwenden den
horizontalen Transfer. Wir haben gestern hier auf der „didacta –
die Bildungsmesse“ bei der Verleihung des Cornelsen-Förderpreises „Zukunft Schule“ das nächste Förderthema mitgeteilt,
zu dem Sie alle Projekte einreichen können. Es lautet „Vernetztes Lernen fördern“. Damit ist nicht gemeint, dass zwei PCs
miteinander verbunden werden, sondern dass der Aufbau des
Wissens und Könnens der Schüler stärker als bisher üblich vernetzt wird. Wir laden Sie herzlich ein, hier Entwicklungsarbeit
zu leisten und sich zu bewerben.
5. Sinnstiftendes Kommunizieren
Damit bezeichne ich den Prozess, in dem die Schülerinnen und
Schüler im Austausch mit ihren Lehrern dem Lehr-/Lernprozess
und seinen Ergebnissen eine persönliche Bedeutung geben.
Es dürfte Sie nicht überraschen, dass dieses fünfte Merkmal
empirisch noch nicht gut abgesichert ist. Mir ist bei meinen
Recherchen nur ein einziger Autor begegnet, der sich dazu
äußert: Jere Brophy aus den USA. Er sagt, er könne empirisch
nachweisen, dass in Klassen, in denen „sinnstiftende Unterrichtsgespräche“ geführt wurden, auch hinterher höhere kognitive Lernerfolge eintraten. Aber ich hätte dieses Kriterium auch
ohne diesen Beleg aus der Literatur aufgenommen, da es für
mich das wichtigste von allen ist. Wir wollen ja nicht nur
mechanisch Wissen vermitteln, sondern Sinn stiften und
dadurch einen kritischen Optimismus der Schüler für ihre Zukunft fördern. Je schlechter die Berufs- und Lebensperspektiven
der Schüler sind, umso wichtiger wird das fünfte Merkmal,
umso schwieriger wird es aber auch, es einzulösen.
6. Methodenvielfalt
„Mischwald ist besser als Monokultur“ – das ist mein kürzestes
Fazit aus der empirischen Forschung zu den Effekten von
Unterrichtsmethoden. Vor 30 Jahren haben die empirischen
Unterrichtsforscher die Idee aufgegeben, man könne die eine
Methode finden, die alle anderen aussticht. Es gibt sie nicht.
Wir können also auch empirisch nachweisen, dass dort, wo den
Schülerinnen und Schülern vielfältige methodische Angebote
gemacht werden, bessere Lernergebnisse eintreten. Das ist kein
Wunder, denn die wachsende Heterogenität der Schülervoraussetzung legt Methodenvielfalt nahe.
7. Individuelles Fördern
Seit PISA wissen wir, dass wir in Deutschland einen besonderen
Nachholbedarf in diesem Punkt haben. Und das gilt für die
strukturellen Voraussetzungen des Förderns ebenso wie für die
Förderhaltung jedes einzelnen Lehrers, jeder einzelnen Lehrerin. Mein Neffe war vor Kurzem in den USA. Am zweiten Tag,
an dem er dort zur Schule ging, riefen bereits zwei Lehrer bei
ihm an und fragten, ob er klarkomme. Und das wird dort nicht
nur bei Gastschülern so gemacht, sondern auch bei den einheimischen. Wir müssen in Deutschland mehr Fantasie beim individuellen Fördern entwickeln. Andere Nationen – insbesondere
die PISA-Siegerländer – sind uns da weit voraus. Z.B. gibt es in
Schweden in fast jeder Klasse Mathebücher für lesestarke und
für leseschwache Schüler. Schauen Sie mal, wo Sie an einem
deutschen Gymnasium ein Mathebuch für Leseschwache finden. Da wird lieber gesagt: „Du gehörst woanders hin.“
Ich habe seit Kurzem eine deutsche Kollegin, die vorher
30 Jahre lang in Schweden Lehrerin war. Sie war an einer kleinen ländlichen Schule mit 220 Schülern in der Nähe von Uppsala. Es gab an dieser Schule eine Lernwerkstatt, an der eine
Dyskalkulie-Fachfrau, eine Legasthenie-Fachfrau und eine Sozi-
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alpädagogin auf halber Stelle nur für diese Schule arbeiteten. Die drei haben individuelles Fördern praktiziert – immer nur punktuell, also den
förderbedürftigen Schüler für eine Stunde hergeholt und dann wieder zurück in den Unterricht
geschickt. Ela, die erwähnte deutsche Lehrerin,
sagte, sie hätte dort das halbe Gehalt von dem,
was in Deutschland üblich ist, bekommen, aber
wenn sie noch einmal wechseln könnte, würde
sie wieder zurückgehen. Die schulischen Arbeitsbedingungen sind in Schweden deutlich besser,
und das zählt für sie mehr als ein höheres
Gehalt.
8. Intelligentes Üben
räumlicher Ausstattung zu sehr guten Lernerfolgen kommen.
Bei leistungsschwachen Lehrern dürften sich die durch schlechte Medien, zu volle Räume und fehlende Regelabsprachen ausgelösten Effekte natürlich doppelt negativ auswirken. Die
Anhänger kleiner Klassen sollten einmal die neu erschienene
empirische Studie von Gritt Arnold zu diesem Thema lesen: Sie
zeigt, dass die Schüleranzahl in keinem direkten Zusammenhang zur Qualität des Lernergebnisses steht (wohl aber mit dem
Arbeitsaufwand des Lehrers korreliert).
9. Transparente Leistungserwartung
Ein didaktischer Theorierahmen
Wir wissen, dass Leistungsdruck in aller Regel kontraproduktiv
ist. Deshalb liegt die Betonung bei diesem Merkmal auf „transparent“. Wie man Transparenz herstellt, ist ein sehr weites Feld,
und es ist Knochenarbeit, Leistungserwartungen immer wieder in
allen Details, körpersprachlich und verbal zu vermitteln und nicht
bloß dadurch, dass mitgeteilt wird, was in der Klausur drankommt.
Ich nähere mich dem Schluss meines Vortrags und möchte
Ihnen in vier Unterpunkten erläutern, von welchen Voraussetzungen ich bei der Definition meines Zehnerkatalogs ausgegangen bin und welche offenen Theoriefragen es noch gibt. Das ist
sinnvoll, damit Sie meinen Katalog kritisch beurteilen und für
eigene Zwecke (z. B. für Ihr Schulprogramm oder für die kollegiale Hospitation) weiterentwickeln können.
Skizze: Prof. Meyer
Pauschales Üben ist unintelligent. Das obere
Drittel der Schüler kann‘s schon und entwickelt
Langeweile; dem unteren Drittel fehlen die Voraussetzungen für das Üben, und das mittlere
Drittel wird vom oberen und unteren gestört.
Intelligentes Üben ist deshalb immer ein hoch
differenziertes Üben. Wir müssen lernen, die
Übe-Praxis genauer auf die Übungsziele zu beziehen. Wir wissen darüber hinaus, dass es besonders viel hilft,
wenn Schüler sich die eigenen Lernstrategien bewusst machen.
Und gerade die letzten 20 Prozent der in der PISA-Studie erfassten deutschen Schüler hatten in diesem Bereich erhebliche
Defizite. Wir sollten dem Üben im Klassenzimmer wieder mehr
Zeit und Gewicht geben. Deshalb träume ich davon, dass eine
Schule einmal im Jahr ein Übe-Festival macht, bei dem die
Schüler ihre Lernstrategien vorführen und wo die 20 Schüler
mit den pfiffigsten Übe-Ideen prämiert werden.
10. Vorbereitete Umgebung
Das Wort stammt ursprünglich von Maria Montessori; sie hat
sich schon vor 80, 90 Jahren kluge Gedanken darüber gemacht.
Ich denke dabei an die gute Ordnung im Klassenzimmer, an
funktionale Einrichtungen, an ausreichend Licht, gute Luft und
brauchbare Medien. Die Mehrzahl dieser Variablen kann vom
Lehrer und seinen Schülern beeinflusst werden. Und die nicht
beeinflussbaren Variablen sind weniger einflussreich, als viele
Lehrer und Eltern meinen. Die empirische Forschung zeigt, dass
die Klassengröße und der Zustand der Gebäude nur einen geringen Einfluss auf den Lernerfolg haben. Anders formuliert: Gute
Lehrer können auch mit schlechten Medien und ungenügender
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1. Nach welchen „Spielregeln“ ist der Zehnerkatalog konstruiert?
1. Ich habe immer darauf geachtet, dass meine Merkmale eine
äußere, für jedermann und jede Frau sichtbare und eine innere,
nur durch kluge Interpretation erschließbare Seite haben. Die in
meinem Buch zum guten Unterricht enthaltenen Indikatorenlisten helfen, die Beobachtbarkeit der äußeren Seite der zehn
Merkmale zu sichern. Beim Merkmal 1 ist die äußere Seite das,
was die Amerikaner Classroom-Management nennen; die innere
Seite besteht aus dem, was man als „roten Faden“ einer Unterrichtsstunde bezeichnet.
Meyer: Merkmale guten Unterrichts
2. Persönlichkeitsmerkmale des Lehrers und der Schüler sind
wesentliche Voraussetzungen guten Unterrichts, zählen für
mich aber nicht zu den Merkmalen selbst. Sie fehlen also im
Katalog (s. o.).
4. Der Katalog gilt für alle Fächer, Schulstufen und -formen. Bei
mir an der Universität verfasst gerade eine Studentin eine
Hausarbeit. Sie will eine Orchesterprobe anhand der zehn Merkmale guten Unterrichts kontrollieren. Ihrem Zwischenbericht
zufolge geht das problemlos; auch in einer Orchesterprobe tauchen alle zehn Merkmale auf.
Stärken beim anderen kompensieren können. Allerdings ist zu
vermuten, dass auch in den sechs Best-Practice-Klassen der
SCHOLASTIK-Studie noch bessere Schülerleistungen entstanden
wären, wenn die sehr starken Lehrer auch ihre Schwachpunkte
noch behoben hätten. Das führt zum Teil zu irritierenden Forschungsergebnissen. So ist durch mehrere Studien belegt, dass
in Klassen mit schlechten Unterrichtsklima dennoch verhältnismäßig viel gelernt wird. Die zehn Merkmale bilden sozusagen
ein Qualitätsnetzwerk guten Unterrichts mit zahlreichen, empirisch allerdings noch nicht genau untersuchten Synergieeffekten. Das gilt selbst für so wichtige Punkte wie die fachwissenschaftliche Kompetenz der Lehrenden. Andreas Helmke konnte
in der MARKUS-Studie für die Sekundarstufe I nachweisen, dass
Lehrer, die fachfremd Mathematik an Haupt- und Realschulen
unterrichteten, keinen schlechteren Unterricht gaben als jene,
die ein Mathe-Examen gemacht hatten. Wie ist das zu erklären?
Ich vermute, dass die fachfremd unterrichtenden Lehrer stärker
mit ihren Schülern kooperieren, sie also zu ihren Verbündeten
machen und ihre didaktische Kompetenz nutzen.
2. Wie kommen die zitierten Forschungsergebnisse zustande?
4. Wie hoch ist der Anteil des Lehrers am Lernerfolg?
Ich habe nun schon ein gutes dutzend Mal gesagt, die Wissenschaft habe dies und das festgestellt. Wie kommen solche Aussagen zustande? Ich will das anhand einer bekannten deutschen
Studie, der SCHOLASTIK-Studie von Franz Weinert, Andreas
Helmke u. a. erläutern. Die Wissenschaftler haben vier Jahre
lang 52 Grundschulklassen begleitet und zwei Jahre lang eine
harte Testphase gehabt. Sie haben die Eingangsvoraussetzungen der Schüler in Deutsch und Mathe getestet und nach zwei
Jahren überprüft, wie sie sich entwickelt haben. Und sie haben
immer wieder im Unterricht nachgeschaut, welche Methoden
der Lehrer einsetzt, wie das Klima ist usw. Dabei kam es zu
einem überraschenden Ergebnis: Die sechs Klassen mit den
allerbesten Ergebnissen hatten nämlich Lehrerinnen und Lehrer,
die oft in Einzelpunkten, z. B. bei der Methodenvielfalt oder
beim individuellen Fördern, deutliche Defizite zeigten. Dennoch
hatten die Schüler Spitzenergebnisse. Was folgt daraus? Gerade
Unterricht von starken Lehrerinnen und Lehrern hat ein je individuelles Profil. Qualitätssicherung im Kollegium darf also nicht
mit Gleich-macherei verwechselt werden. Die Autoren schreiben
es selbst: Viele Wege führen nach Rom. Was dieses Forschungsergebnis für leistungsschwache Lehrer und Lehrerinnen bedeutet, ist unklar. Leider, wirklich leider haben die deutschen Kultusminister die Teilnahme an dem von der OECD in den nächsten Jahren durchgeführten so genannten Lehrer-PISA wieder
abgesagt. Angeblich aus Geldgründen, ich denke aber, sie haben
Angst vor den Konflikten mit den Lehrern und den Lehrerverbänden.
Dass der Lehrer nicht für 100 Prozent des Lernerfolgs verantwortlich ist, dürfte unmittelbar einleuchten. Aber wie hoch ist
der Anteil dann? 75 Prozent? Oder nur 10? Lässt sich das überhaupt statistisch seriös berechnen? Ich habe lange gefahndet,
aber dann doch einige Antworten gefunden. Die Forschungen
gingen los mit einem Paukenschlag. Im Jahr 1971 behaupteten
Christopher Jencks und sein Forschungsteam: Ein Prozent des
Lernerfolgs der Schüler wird durch die Lehrer und die Qualität
des Unterrichts herbeigeführt. Zehn Jahre später hieß es zehn
Prozent, dann 20 Prozent. Vor einem Jahr habe ich den Vortrag
eines britischen Unterrichtsforschers gehört, der meinte, es
seien rund 25 Prozent. Ein ähnlicher Schätzwert (24 Prozent)
stammt von Ewald Terhart. Ich schließe mich diesen Schätzungen an: Der durchschnittliche Lehreranteil liegt also bei
25 Prozent. Das mag für viele von Ihnen überraschend niedrig
klingen, aber es ist eine ganze Menge, um die es sich zu kämpfen lohnt. (Schließlich geht es um einen Durchschnittswert, in
den auch jene Lehrer, die sehr wenig oder gar nichts bewirken,
eingerechnet sind.) Es ist gut für die Psychohygiene der Lehrkräfte, wenn wir wissen, dass wir nicht als Einzige für die Lernerfolge der Schüler verantwortlich sind. Kluge Schüler lernen
auch bei saumäßigem Unterricht noch eine ganze Menge – aber
schlechte Schüler haben es umso schwerer. Nur die Biertischpolitiker vergessen das manchmal, wenn sie über die Lehrer herfallen.
3. Nicht nur die Lehrkräfte, auch die Schülerinnen und Schüler
können einen Beitrag zum Starkmachen der zehn Merkmale
leisten. Das wurde mir klar, als ich die 17-jährige Sonja befragte, was für sie das wichtigste Merkmal guten Unterrichts sei.
Sie antwortete: „dass ich gefördert werde“. Auf meine Frage,
was sie damit meine, sagte sie: „Na ja, dass ich in einer Clique
bin, wo wir uns gegenseitig helfen.“
3. Kann man Schwächen beim einen Merkmal durch Stärken
beim anderen kompensieren?
Die eben zitierte SCHOLASTIK-Studie belegt, dass starke Lehrerinnen und Lehrer Schwächen bei einem der Merkmale durch
Ich komme zum Schluss und formuliere eine zusammenfassende These: Guter Unterricht geht von einer nüchternen Einschätzung der Rahmenbedingungen aus, aber er versucht, den
Lernerfolg zu erhöhen, indem die Schüler zu Verbündeten
gemacht werden und ihre didaktische Kompetenz genutzt
wird.
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STATEMENT
Heinz Klippert
Heinz Klippert, geb. 1948, Dr. rer. pol.; Dipl.-Ökonom; Lehrerausbildung und -tätigkeit in Hessen; seit 1977
Dozent am Lehrerfortbildungsinstitut der Evangelischen Kirche in Rheinland-Pfalz (ERWI) mit Sitz in Landau.
Trainer, Berater und Ausbilder in Sachen „Pädagogische Schulentwicklung“. Zahlreiche Publikationen zur
Didaktik und Methodik des wirtschafts- und sozialkundlichen Unterrichts, zum Arbeitsfeld „Schulentwicklung“
sowie zum Methoden- und Kommunikationstraining für Schülerinnen und Schüler. Trainer, Berater und Ausbilder für „Pädagogische Schulentwicklung“.
Das Thema Bildungsstandards ist ein Thema, das derzeit ganze
Lehrerscharen bundesweit beschäftigt. Es werden Arbeitspläne
zur Umsetzung der Bildungsstandards entwickelt, und ich habe
den Eindruck – zumindest für Rheinland-Pfalz, wo ich herkomme –, dass das ein gigantisches Arbeitsbeschaffungsprogramm
außerhalb des Unterrichts ist. Es werden Lernziele neu geordnet, Stoffe neu geordnet, es wird sozusagen eine neue didaktische Komposition entwickelt, die aber deshalb noch lange nicht
den Unterricht erreicht.
Meine These ist, dass sich die erwähnten alltagstauglichen Routinen in hohem Maße aus dieser lehrerzentrierten, stofforientierten Arbeit speisen. Wir haben Vortragsroutinen, Routinen
im Bereich des Fragen entwickelnden Verfahrens, des lehrergelenkten Unterrichtsgesprächs; das bekommen wir auch ohne
nennenswerte Vorbereitung hin. Wir haben Routinen im
Bereich der Tafelbildentwicklung und Routinen im Bereich des
Sanktionierens und Disziplinierens. Es sind allesamt lehrerzentrierte, hochgradig stressige Routinen, weil wir mittlerweile
Das Thema neue Bildungsstandards beschäftigt bundesweit die in der Schule Lehrenden – allerdings
ohne dass das praktische Repertoire zur kompetenzorientierten Umgestaltung des Unterrichts bereits
hinreichend vorangetrieben wird. Dr. HEINZ KLIPPERT, Dozent am Lehrerfortbildungsinstitut Landau,
demonstrierte in seinem Vortrag „BILDUNGSSTANDARDS UMSETZEN – ABER WIE? ANREGUNGEN ZUR
SCHULINTERNEN ARBEITSPLANUNG“, wie die von den neuen Standards geforderten Kompetenzen
ebenso kleinschrittig wie konsequent in der Praxis vermittelt werden können. Praktische Beispiele
und Handlungsanleitungen für die Unterrichtsplanung, -durchführung und Fortbildungsorganisation
runden das Bild ab.
Meiner Ansicht nach verlieren wir im Augenblick relativ viel
Zeit, ohne dass das Repertoire für die kompetenzorientierte Umgestaltung und Weiterentwicklung des Unterrichts hinreichend
vorangetrieben wird. Die alten Strickmuster für die alltägliche
Unterrichtsplanung und -gestaltung sind für die Vermittlung
von modernen Bildungsstandards unbrauchbar. Ich habe selber
in Hessen Lehrerausbildung gemacht. Da wurden didaktische
Analysen betrieben, Lernziele analysiert, der Stoff wurde intellektuell sehr sauber seziert. Aber wie man die Schüler am nächsten Tag zum Denken, zum Arbeiten, zum Problemlösen, zum
Anwenden von Methoden bringt, war in dieser didaktischen
Analyse noch nicht angelegt. Wir haben bis heute Routinen im
Bereich der traditionellen Unterrichtsgestaltung, die nach wie
vor hochgradig stabil sind. Neuere Untersuchungen zeigen, dass
gut 80 Prozent der Unterrichtszeit im Bereich der Sekundarstufen mit lehrerzentrierter Wissensvermittlung ausgefüllt sind.
Man kann sich die Frage stellen, warum wir nach 100 Jahren
reformpädagogischer Literatur nicht weiter gekommen sind.
30
immer weniger Schüler haben, die für diese Hyperaktivität ihrer
Lehrkräfte dankbar sind. So gesehen brauchen wir neue Wege,
und die Bildungsstandards weisen in die richtige Richtung.
Es geht um eine Erweiterung des Bildungsanspruchs, des Bildungsbegriffs; es geht um eine Erweiterung des Kompetenzspektrums der Schüler und Schülerinnen. Etwas vorübergehend
zu wissen bedeutet noch nicht, dass die Schüler langfristig
etwas können. Schreiben Sie eine Klassenarbeit nach 14 Tagen
noch einmal, werden Sie in der Regel erleben, dass ganz viel
zuvor Gewusstes gelöscht wurde. Wir vermitteln viel „totes“
oder „träges“ Wissen, wie Franz Weinert das nennt.
Wenn wir hier weiterkommen wollen, müssen wir nachhaltigere Wissensvermittlung betreiben. Punktuell ist das schon immer
einmal geschehen. Aber wir müssen es konsequenter angehen,
und ich will Ihnen in diesem Vortrag verdeutlichen, wie. Das,
was ich Ihnen hier präsentiere, ist Gegenstand der Arbeit in
aktuell mehr als 500 Schulen, die systematische Unterrichtsentwicklung zu ihrem Schulprogramm gemacht haben. Die
Klippert: BildungsstandardsBlindtext
umsetzen
Standards für das Fach Mathematik etwa verlangen nach einem
Unterricht, der selbstständiges Lernen, die Entwicklung von
kommunikativen Fähigkeiten und Kooperationsbereitschaft
sowie eine zeitgemäße Informationsbeschaffung, Dokumentation und Präsentation von Lernergebnissen zum Ziel hat. Das
ist schon ungewöhnlich. Es geht nicht nur darum, mathematische Operationen nach Anweisung und nach gewissen Regeln
vollziehen zu können, sondern es geht um Kommunikationsfähigkeit und Präsentationsfähigkeit in Mathematik, um Informationsbeschaffung und -verarbeitung und auch um Teamentwicklung in diesem Bereich, damit Helfersysteme zur Verfügung stehen. Dem liegt ein erweiterter Bildungsbegriff zu Grunde, der einiges für sich hat. Die Frage ist nur, wie wir das so
umsetzen können, dass es alltagstauglich wird. Vieles von dem,
was derzeit im Bereich von Projektarbeit oder Wochenplanarbeit läuft, ist viel zu aufwändig vorzubereiten.
Ich werde Ihnen im Rahmen des Vortrags anhand von Beispielen deutlich machen, dass man sowohl bei der Vorbereitung
als auch bei der Umsetzung der Bildungsstandards sehr viel
arbeitssparender und -ökonomischer vorgehen kann. In den
verschiedensten Fächern, in denen die Bildungsstandards bis
dato formuliert wurden, gibt es keine flächendeckende Beschreibung von Inhalten mehr, sondern es gibt Wahlmöglichkeiten, Dispositionsmöglichkeiten innerhalb der verschiedenen
Inhaltsfelder. Wir haben Kernthemen oder Kernideen in den
Fächern, und zu diesen Kernideen sollen die Schüler immer
wieder, möglichst oft recherchieren, lesen, nachschlagen,
exzerpieren usw. Sie sollen häufiger konstruieren, d. h.
Aufgabenkonstellationen entwickeln, bestimmte Sachverhalte
strukturieren oder auch modellieren, wie es im naturwissenschaftlichen Bereich heißt. Es geht darum, dass die Schüler
häufiger zum Kommunizieren innerhalb des Fachs angehalten
werden, also um fachspezifische Kommunikationsfähigkeit.
Wenn jemand in Mathematik einen kleinen Vortrag halten, ein
Schaubild in Physik erläutern soll, ist das etwas anderes, als
wenn er zu einem selbst gezeichneten Bild im Kunstunterricht
eine Präsentation macht. Es muss immer verbalisiert werden,
aber der Kontext ist fachbezogen.
Insofern müssen wir viel stärker als bisher im Fach Kommunikationsanlässe stiften. Die Schüler sollten häufiger visualisieren, vortragen, auch Rollenspiele, Planspiele inszenieren. Es
muss stärker kooperiert werden, unterstützt, geregelt, in der
Gruppe dann auch verbindlich mitgearbeitet werden. Es gibt in
diesem Unterricht, den wir realisieren wollen, Regelwächter,
Zeitwächter, Fahrplanüberwacher, eine sehr differenzierte
Zuständigkeitsregelung, sodass eine gewisse Mitverantwortung
praktiziert werden kann. Schüler sollen immer besser lernen,
Probleme zu lösen. Einer der Hauptkritikpunkte bei PISA ist ja
gewesen, dass unsere Schülerinnen und Schüler gewohnt sind,
nach Schema F zu rechnen. Wehe, wenn eine bestimmte zu
suchende Größe im Test nicht mit B benannt ist, die vorher in
der Übungsphase mit B benannt wurde, dann geben sie auf und
beginnen, sich zurückzuziehen. Es wird also mehr Kreativität
und Problemlösungsfähigkeit gebraucht, aber dann müssen wir
den Schülern auch Probleme an die Hand geben, um eine halbe
Stunde daran zu arbeiten, nachzuschlagen, im eigenen Hausheft nachzulesen, im Schulbuch, in einer Formelsammlung, im
Lexikon usw. Dazu gehört weiterhin, dass wir den Schülerinnen
und Schülern größere Arbeitsstrecken zumuten, und das wird
auch der Hebel sein, über den wir Lehrerentlastung erreichen.
Ein großes Handicap ist in Deutschland der 45-Minuten-Takt. In
dieser Zeitspanne können Sie im Prinzip nur einen recht drängenden lehrerzentrierten Unterricht inszenieren. Wenn Sie
nach 45 Minuten zu einem Tafelbild kommen wollen und zu
einem Hefteintrag, können Sie keine langen Arbeitsstrecken
vorsehen. Daher brauchen wir hier veränderte Rahmenbedingungen, unter anderem die Doppelstunde als Grundtakt. Das
Reflektieren von Methoden und Inhalten, also nicht nur von
inhaltlichen Ergebnissen, sondern auch von methodischen Verfahrensweisen, sollte stärker gewichtet werden und darüber
hinaus in so genannte Kompetenzstufen gegliedert sein. Diejenigen, die sich in der letzten Zeit mit den Bildungsstandards
beschäftigt haben, wissen, dass die gängigen Kompetenzstufen
der alten Taxonomie folgen, wie sie die älteren Kolleginnen und
Kollegen auch noch kennen.
Erster Anforderungsbereich:
Wiedergeben, also elementares Sach- und Verfahrenswissen
wiedergeben beziehungsweise routiniert anwenden.
Zweiter Anforderungsbereich:
Verarbeiten, d. h. Konstruktionsarbeit im weitesten Sinne –
Sprachkonstruktion, Tabellenkonstruktion, Schaubildkonstruktion, Versuchskonstruktion –, die mit Verarbeitung
von Informationen und Wissen verbunden ist.
Und die dritte, höchste Stufe:
Reflektieren von Inhalten und Verfahrensweisen.
Wir benötigen Kompetenzförderung – aber wie? Wir brauchen
anspruchsvollere Aufgabenstellungen, da sind sich, glaube ich,
bundesweit alle einig. Es gibt im Bereich Naturwissenschaften
hochkarätige Aufgabenstellungen, die ich mir fasziniert
anschaue. Ich frage mich nur immer, wo die Schülerinnen und
Schüler sind, die diese Aufgabenstellung bewältigen können,
31
weil sie sehr vieles voraussetzen, was im alltäglichen Unterricht
so noch nicht anzutreffen ist. Wenn wir also die Aufgabenstellung anspruchsvoller gestalten, dann müssen die Schüler auch
entsprechende Mikrokompetenzen haben. Wir müssen sie langsam an diese Aufgabenkultur heranführen. Genauso wenig, wie
man ohne Vorbereitung Projektarbeit machen kann, kann man
den Schülerinnen und Schülern plötzlich eine hochkarätige
mehrstündige Aufgabenstellung in Physik geben, die Recherche, Konstruktionsarbeit, Helfersysteme und Ähnliches voraussetzt. Wenn wir verstärkt neue Kompetenzen vermitteln wollen, ist ein entscheidender Punkte, dass wir kleinschrittig vorgehen und dass wir Fördern und Fordern verbinden, andernfalls
werden zu viele Schüler schnell überfordert sein.
Weiterhin geht es darum, das eigenverantwortliche Arbeiten
und Lernen zum jeweiligen Kernthema zu forcieren und zur
Untermauerung des Ganzen Basisfertigkeiten im Bereich von
Kommunikation, Präsentation und Rhetorik sowie im Bereich
Wir kommen jetzt auf die zweite Kompetenzstufe bei dieser
Bearbeitung einer Kurzgeschichte. Die Schüler sollen eine knappe Inhaltsangabe anfertigen, und zwar in Tandems, wobei jeder
seine Inhaltsangabe selbstständig formulieren muss. Aber das
Helfersystem ist da: Sie sitzen in Tandems, die über Zufallsverfahren gebildet werden. Es folgt, wieder auf der zweiten
Kompetenzstufe angesiedelt, die Besprechung von Unklarheiten in Zufallstrios. Wir müssen nicht meinen, dass dann, wenn
Schüler eine Kurzgeschichte gelesen und nach eigenem Gusto
zusammengefasst haben, bereits alles klar ist. Es entstehen
Fragen im Zuge der eigenen Tätigkeit, deshalb brauchen wir so
etwas wie organisierten Nachhilfeunterricht. Hier gibt es die
Möglichkeit, dezentral zu fragen, die eigene Unsicherheit zu
überwinden. Denn das Problem bei unserem traditionellen
Unterrichtsskript ist, dass vielfach die Fragen dem Lehrer ins
Plenum hinein gestellt werden müssen. Diejenigen Schüler aber,
die es nötig hätten, Fragen zu stellen, trauen sich in der Regel
nicht, selbstbewusst aufzuzeigen und den Lehrer zu fragen.
„Rainer Domisch hat vor einiger Zeit einmal gesagt, die Deutschen seien Weltmeister im Planen und Konzipieren von Reformen, aber Dilettanten im Bereich der praktischen Umsetzung.
Ich denke, da ist etwas dran.“
der Kooperation oder der Gruppen- und Partnerarbeit verstärkt
aufzubauen. Wir stellen nämlich fest, dass ein solches Fundament bei vielen Schülern nicht hinreichend vorhanden ist. Dieses Fundament trägt überhaupt erst das eigenverantwortliche
Arbeiten und Lernen. Wir stellen häufig fest, dass Schüler
bereits beim Markieren von Sachverhalten scheitern. Es wird
viel zu viel und es wird sehr unsystematisch markiert. Wir brauchen also unterstützende Sockeltrainings, Methodentraining,
Kommunikationstraining, Präsentationstraining, Teamtraining,
damit wir in Summe zu dem kommen, was wir wahrscheinlich
alle wollen: mehr Lernkompetenz und, zum Zweiten, nachhaltigeren Lernerfolg. Die Schüler sollen auch nach einem Jahr noch
etwas von dem Gelernten wissen und nicht nur morgen, wenn
die Klassenarbeit geschrieben wird.
Lernspiralen als neues Unterrichtsskript
Ich habe ein Beispiel aus dem Deutschunterricht genommen:
Kurzgeschichte. Der erste Schritt besteht darin, die Kurzgeschichte zu lesen und zu markieren, unter der Voraussetzung,
dass Markieren und Lesen geübt wurden. Das ist dann zunächst
eine einfache Anforderung. Einfach ist auch noch das Nächste:
einige ausgewählte Wissensfragen, die der Lehrer auf einem
Arbeitsblatt zusammengestellt hat, beantworten. Es geht letztlich darum, den Text noch mal auf diese Fragestellungen hin
auszuleuchten. Das sind die unteren Ebenen.
32
Also brauchen wir die Möglichkeit der Klärungsarbeit in solchen
Zufallstandems, Zufallstrios oder auch Zufallsgruppen. Das ist
von der Unterrichtsablaufsplanung her etwas ganz Wichtiges.
In einem weiteren Schritt sollen die Schülerinnen und Schüler
einen Spickzettel zur Wiedergabe ihrer Kurzgeschichte gestalten. Dies wird dadurch noch ein bisschen erschwert, dass
gesagt wird, es dürften höchstens zehn Wörter auf diesem
Spickzettel stehen, damit sie auch tatsächlich reduzieren.
Wenn man diese Vorgabe nämlich nicht macht, wird auf dem
kleinen Spickzettel meist so klein geschrieben, dass wieder alles
drauf ist. Schüler haben in der Regel Angst vor der Reduktion
von Information, und diese Angst bewirkt, dass sie vieles nicht
behalten können, denn zentrale Voraussetzung für das Behalten
von Information ist die Reduktion und die kognitive Formgebung, die jeder Spickzettel, jedes Schaubild verbindet. So
gesehen müssen wir die Schülerinnen und Schüler ermutigen,
aber auch qualifizieren, diese Reduktionsarbeit zu leisten.
Dann gibt es eine verbale Anwendung, immer noch im mittleren Kompetenzbereich angesiedelt. Es handelt sich um eine
Sprachkonstruktion, also die Verarbeitung von Wissen durch
einen kleinen Vortrag, den die Schüler anhand ihres Spickzettels halten, und zwar im Doppelkreis. Da stehen sich immer
zwei Schüler gegenüber, und es gibt zeitgleich 15 kleine Vorträge, immer gegenüber einem Zufallspartner. Dann wechselt
das Ganze und alle, die vorher zugehört haben, werden zu
Klippert: Bildungsstandards Blindtext
umsetzen
Akteuren und halten ihrerseits einen Vortrag, sodass wir eine
viel dichtere sprachliche Anwendung des Wissens haben. Kleist
hat einmal einen schönen Essay geschrieben: „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“. Ich finde,
das ist ein tolles pädagogisches Programm, denn in dem
Augenblick, wo ich dem anderen etwas erläutere, muss ich mir
klar werden über meine Wissensstruktur. Deshalb brauchen wir
mehr Anwendungssituationen. In unserem Beispiel haben wir
eine solche Anwendungssituation in dezentraler Form. Wenn
ein Schüler nach vorne an die Tafel geholt wird, um dort vorzutragen, müssen 29 andere schweigen. Wenn alle zuhören
würden, wäre das immer noch in Ordnung, das Problem ist
nur, dass, sobald jemand rausgepickt wird, die anderen
abschalten und sich mit etwas anderem beschäftigen. Im traditionellen Unterrichtsskript gibt es zu viele Gelegenheiten,
aus dem Unterricht zu flüchten: Man bleibt zwar körperlich
präsent, aber gedanklich stiehlt man sich davon. Es gab in
Amerika Untersuchungen darüber, was im Rahmen einer lehrerzentrierten Phase in den Köpfen der Kinder passiert. Es
wurde ein Klingelzeichen oder ein Signalton verabredet, und
die Schüler mussten immer dann, wenn der Signalton erklang,
aufschreiben, was ihnen gerade im Kopf herumging. Das Resultat war fatal und entmutigend für die Lehrkräfte.
Jetzt kommen wir auf die dritte Kompetenzstufe, Beurteilung,
Reflexion, d. h. hier Interpretation und Bewertung der Kurzgeschichte, zunächst einmal in Einzelarbeit. Anschließend der Vergleich dieser Kurzgeschichte mit einer früheren in Tandemarbeit. Die ermittelten Befunde, diese Vergleichsbefunde sollten
visualisiert und anschließend die beiden Kurzgeschichten in
einer Präsentation gewürdigt werden. Die beiden Gruppen, die
ihre Ergebnisse präsentieren sollen, werden durch das Los ausgewählt. Wenn ich immer diejenigen drannehme, die sich melden, habe ich meist diejenigen, die das schon relativ gut können. Es ist daher wichtig, dass potenziell alle drankommen
können, aber man sollte frühzeitig ankündigen, dass am Ende
eine Präsentation erfolgt.
Sie sehen an unserem Beispiel, dass die Schüler ständig aktiv
sein müssen, denn viele der Kompetenzen, die wir heute vermitteln sollen, können nicht entwickelt werden, wenn die
Schüler schweigen oder hirnlos ein Tafelbild abschreiben, sondern sie müssen im weitesten Sinne des Wortes konstruktiv
arbeiten. Durch diese Lernspirale ist das systematisch vorgesehen. Letztlich muss die Leitfrage bei der Unterrichtsvorbereitung sein, wie ich die Schüler variantenreich zum Arbeiten und
zur Anwendung unterschiedlichster Methoden veranlassen
kann. Bisher haben wir bei der Unterrichtsvorbereitung anders
gefragt: Was will ich mit welcher Zielsetzung durchnehmen und
am Ende an der Tafel respektive im Heft haben?
Solche Lernspiralen dauern mindestens eine Doppelstunde. Der
Ablauf wird den Schülern eingeblendet, wenn der Unterricht
beginnt, sodass sie genau wissen, dass sie am Ende Probleme
bekommen, wenn sie in Phase eins nicht lesen und markieren.
Und zwar weniger mit dem Lehrer, sondern mit wechselnden
Mitschülern, von denen sie immer wieder in die Pflicht genommen werden. Diese Strategie nenne ich das Aufbauen von
Erwartungsdruck von den Schülern her. Wenn der Lehrer oder
die Lehrerin als Einzige Erwartungsdruck aufbauen, also von
den Schülern diszipliniertes Arbeiten und bestimmte Ergebnisse
erwarten, ist das im Prinzip eine hochgradig stressige und
meist auch enttäuschende Angelegenheit, weil zu viele Schüler
diesen Erwartungen dann doch nicht entsprechen. Ergo brauchen wir dezentrale Kontrollen, dezentrale Helfersysteme, und
die Schüler müssen von ihrem jeweiligen Lernpartner auch
etwas erwarten. Das ist geschwisterliche Erziehung auf hohem
Niveau, die sehr dazu beiträgt, dass Lehrkräfte Assistenten oder
Tutoren bekommen. Wir haben ein Heer von potenziellen Helfern und Miterziehern, das wir viel zu wenig nutzen. Der beste
Beleg, dass das nicht nur statthaft, sondern für die betreffenden Schüler auch hilfreich ist, stammt aus der Nachhilfeforschung. Hier hat sich gezeigt, dass vom Nachhilfeunterricht
diejenigen am meisten profitieren, die ihn erteilen. Warum? Sie
lernen, durch die Fragen, die gestellt werden, manches noch
einmal zu überdenken. Die fachliche Souveränität wächst. Es
wird nichts Neues gelernt, aber das, was sie fachlich wissen,
wird erweitert. Zum Zweiten erwerben sie Selbstvertrauen,
Selbstwertgefühl. Sie lernen zuzuhören, Fragen zu erfassen,
Probleme zu lösen, Eigeninitiative zu entwickeln und vieles
andere mehr. Da sind wir wieder im Bereich der Kompetenzen,
die durch die modernen Bildungsstandards eingefordert
werden.
Doch nun kurz zu einem zweiten Beispiel für Mathematik,
damit Sie sehen, wie das gleiche Muster in Zusammenhang mit
der Flächenberechnung angewandt wird.
1. Die Schüler bekommen einen Einführungstext zur Flächenberechnung, den müssen sie lesen – nicht mehr, nicht weniger.
2. Klärung offener Fragen in Zufallsgruppen. Das ist die Nachhilfephase, denn es ist klar, dass beim Lesen manche Schüler
Schwierigkeiten mit einzelnen Begriffen oder bestimmten Operationen haben. Deshalb müssen sie dezentral die Möglichkeit
haben, ihre Fragen loszuwerden, und zwar auch banale Fragen,
die die Schüler sich nie trauen würden, im Plenum dem Lehrer
zu stellen. Sie müssen geschützt fragen können, und das geht
am besten in einer solchen dezentralen Situation.
3. Rechnung im Doppelkreis erläutern. Es gab im Einführungstext eine Beispielrechnung zur Flächenberechnung, es ging um
den Nachvollzug eines Algorithmus, der vorgegeben war, und
dieses Beispiel sollte jetzt einem Zufallspartner gegenüber im
Doppelkreis erläutert werden. Das ist noch nicht Verarbeitung
von Wissen, sondern einfach Nachvollzug, deshalb liegt es auf
der unteren Ebene.
4. Berechnung unterschiedlicher Flächen. Jetzt wechseln wir
die Ebenen, wir gehen auf die zweite Kompetenzstufe. Die
Schüler erhalten ein Blatt mit bestimmten Aufgabenstellungen
und müssen Flächen berechnen.
33
5. Vergleich und Beratung in Zufallstandems, also auch hier
greift jetzt nach der Einzelarbeit wieder dezentral das Kontrollund Helfersystem. Denn was passiert denn, wenn wir im lehrergelenkten Unterrichtsgespräch einen Schüler rausnehmen?
Vielleicht erwischen wir jemanden, der das sehr präzise gerechnet hat. Was haben die anderen davon? Erwischen wir aber
jemanden, der Fehler gemacht hat, dann verheizen wir ihn an
der Tafel, indem wir die Fehler entsprechend korrigieren. Was
ist in diesem Fall mit den anderen? Deshalb müssen wir sehr viel
stärker Lernaktivitäten dezentral in Tandems, Trios, Kleingruppen bei heterogener Zusammensetzung dieser Gruppen vorsehen. Heterogenität ist eine Riesenchance, um ein solches Helfer- und Erziehungssystem zu mobilisieren. Wenn die Schüler
alle gleich sind, passiert nichts. Da sind wir in Deutschland aufgefordert, über die Chancen der Heterogenität nachzudenken.
6. Nächster Schritt in diesem mittleren Kompetenzbereich:
Drei Flächenberechnungsaufgaben sollen analog konstruiert
werden – das ist wieder eine Nummer anspruchsvoller. Danach
tauschen die Schülerinnen und Schüler die Aufgaben aus, also
Gruppe A gibt die Aufgaben an Gruppe B und umgekehrt, dann
müssen sie sie berechnen. Ich habe das in die mittlere Ebene
eingeordnet, weil das Konstruktions- und Problemlöseaufgaben
in schlichter Form sind.
7. Auf der höchsten Stufe haben wir Kritikgespräche der Korrespondenzteams, also: Zwei Schüler geben ihre Aufgabe an
zwei andere. Anschließend kommen alle vier zusammen, und
wenn das eine Team die Aufgabe des anderen nicht richtig verstanden hat oder mit irgendetwas nicht klar gekommen ist,
dann muss Kritik geübt werden, weil die Aufgabenstellung
nicht präzise ist, weil nicht alle Faktoren angegeben wurden,
die nötig gewesen wären, um die Aufgabe zu berechnen und
umgekehrt. Das heißt, diese vier Schüler, die Aufgaben ausgetauscht haben, müssen die Aufgabenkonstruktion problematisieren und die entsprechenden Vorgaben kritisch unter die Lupe
nehmen. Dann wird der gesamte methodische Ablauf noch einmal unter die Lupe genommen und dieses ganze gestufte Verfahren, die Methode, beurteilt. Am Ende gibt es vertiefende
Hinweise und Tipps von Lehrerseite.
Auch dies ist ein Beispiel, das mit minimaler Lehrervorbereitung zu bewältigen ist, denn der erwähnte Einführungstext
stand im Schulbuch. Die Aufgabenstellung, die die Schüler bearbeiten müssen, stand im Schulbuch. Die Aufgaben, die sie selber konstruieren, kosten mich keine Vorbereitungszeit. Der
gesamte Arbeitsablauf ist hochgradig kompetenzorientiert und
gleichzeitig arbeitssparend für die Lehrkräfte. In diese Richtung
müssen wir das Unterrichtsskript, das Ablaufmuster verändern.
Zum Schluss noch ein Beispiel für Englisch, immer nach dem
gleichen Strickmuster. Ich hatte eine Hörkassette zu London,
auf der Sehenswürdigkeiten vorgestellt und angepriesen wurden, damit man da möglichst auch hingeht. Diese Kassette
musste also nicht von mir geschnitten und vorbereitet werden.
34
Die Schüler hören die Kassette und bekommen anschließend ein
Arbeitsblatt mit Richtig-/Falsch-Aussagen zu dem gehörten
Text. Einige der Aussagen sind durch die Hörkassette gedeckt,
und einige sind falsch. Da müssen sie zunächst rekapitulieren,
was sie gehört haben. Das ist, obwohl für manche Schüler schon
sehr anspruchsvoll, von den Kompetenzstufen her eigentlich
unteres Niveau. Dann sollen sie zu bestimmten Sehenswürdigkeit recherchieren, die ihnen zugelost werden. Wir haben meinethalben Hydepark auf vier Kärtchen; wer ein entsprechendes
Kärtchen zieht, muss zu Hydepark recherchieren, und zwar im
Schulbuch – nicht gleich im Internet – sowie in einer Broschüre über London.
Der nächste Schritt in diesem mittleren Kompetenzbereich
besteht darin, die gefundenen Infos in Stammgruppen, also in
themengleichen Gruppen zu besprechen. Das ist wieder die
Nachhilfephase. Diejenigen, die Hydepark gezogen und dazu
recherchiert haben, müssen überlegen, was für ihr Thema wichtig ist. Es geht darum, den Informationsstand im Gespräch
anzureichern. In den Gruppen müssen die Schülerinnen und
Schüler zu ihrer Sehenswürdigkeit eine kleine Visualisierung
mit Kärtchen vorbereiten. Sie sollen sich vorstellen, einen dreiminütigen Vortrag zum Hydepark halten zu müssen, wobei sie
das Wichtigste in möglichst ansprechender Form darbieten sollen. Dafür dürfen sie sich runde, ovale oder rechteckige Kärtchen aus einem Sortiment aussuchen, aber wir machen die Vorgabe, dass sie maximal beispielsweise sieben Kärtchen verwenden dürfen. Ob sie nun drei ovale nehmen und zwei rechteckige, das ist ihre Sache. Sie sollen ein Bild aufbauen, das Wie müssen sie selber gestalten können.
Im nächsten Schritt werden Tandems aus diesen Vierergruppen
herausgelost, die im Plenum anhand ihrer Visualisierung ihre
Sehenswürdigkeit in freier Rede mit Hilfe der entsprechenden
Kärtchen vorstellen.
Jetzt kommen wir in den Bereich der dritten Kompetenzstufe.
Die Schülerinnen und Schüler bekommen zur Aufgabe, einen
kritischen Kommentar zu dem Treiben im Hydepark zu schreiben. Das ist Beurteilung. Zusätzlich sollen sie ein Flugblatt zu
Sehenswürdigkeiten in London gestalten. Wenn ich dafür ein
DIN-A4- oder DIN-A3-Blatt zur Verfügung habe, kann ich nicht
alle Sehenswürdigkeiten vorstellen, sondern es muss wiederum
beurteilt werden, welche Sehenswürdigkeiten bedeutsam sind,
welche weniger bedeutsam. Deshalb habe ich diese Phase im
Bereich Beurteilen und Reflektieren angesiedelt.
Dann kommt die Methodenreflexion, bei der die freie Präsentation unter die Lupe genommen und entsprechend problematisiert wird, falls das notwendig ist. Am Ende steht, wie ganz
häufig, eine vertiefende lehrerzentrierte Phase. Auch das
umfasst wieder mindestens eine Doppelstunde. Sie merken,
wenn Sie solche Arbeitsstrecken haben wollen, kommen Sie mit
45 Minuten gnadenlos in Schwierigkeiten. Deshalb werden die
Schulen auch in diesem Punkt Neues versuchen müssen.
Klippert: Bildungsstandards umsetzen
Mein Ziel war es, Ihnen deutlich zu machen, wie man die Kompetenzstufen operationalisieren kann; wie man einen vielschichtigen Arbeitsprozess der Schüler gestalten und das Ganze
mit einer minimalen Vorbereitung der Lehrkräfte verbinden
kann. In der Konsequenz bedeutet das, dass ein Unterricht
nicht deshalb schlecht ist, weil ich eine Doppelstunde in vielleicht zehn Minuten vorbereitet habe. Es geht um intelligente
Vorbereitungsarbeit, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die
Schüler zunächst einmal mit dem arbeiten, was zur Verfügung
steht. Man kann den Schülern natürlich auch einen Vortrag
halten – Weinert nennt das eine gut vorbereitete Instruktion –,
aber danach lassen Sie sie bitte schön 80 Minuten variantenreich kompetenzorientiert mit ihrem Vortrag arbeiten: Rekonstruktion, Reverbalisierung, Lernkärtchen zum Vortrag entwickeln usw. Man kann vielfältige Anschlussarbeiten der Schüler
begründen, die im Lichte der modernen Kompetenzanforderung
auch legitim sind. Solange es nur um Inhalte ging, musste man
sich fragen, ob diese nächste Phase noch effizient genug war.
Wenn ich aber den breit gefächerten Kompetenzentwicklungsansatz verfolge, kann ich rechtfertigen, dass wir eine Doppelstunde lang an dieser Kurzgeschichte oder in drei oder sechs
Aufgaben im Bereich der Flächenberechnung bleiben. Inhaltlich
treten wir vor allem am Anfang mehr auf der Stelle, um a) die
Inhalte tiefer gehend zu verankern und b) weitere Kompetenzen zur Anwendung bringen zu lassen. Dazu müssen wir in den
Schulen noch einiges vereinfachen.
men, aber Dilettanten im Bereich der praktischen Umsetzung.
Ich denke, da ist etwas dran. Vieles wird in Deutschland so
abstrakt und perfektionistisch gemacht, dass das Gros der Lehrkräfte abgeschreckt wird. Ich will noch einen Wermutstropfen
in Sachen Lernzirkelarbeit ausgießen. Ich hatte vor einiger Zeit
bei einem Seminar drei junge Leute, die mir ganz stolz berichteten, sie hätten in Deutsch gerade einen Lernzirkel realisiert.
Je länger sie mir von ihrer Arbeit berichtet haben, umso unsicherer wurde ich im Hinblick auf die Alltagstauglichkeit dessen,
was die da gemacht hatten. Ich habe sie dann gebeten, mir am
nächsten Tag die Materialien mitzubringen. Sie kamen mit 36
DIN-A4-Seiten, perfekt gestaltet, Informationsblätter zu diesem Thema, Differenzierungsblätter, Arbeitsblätter, Selbstkontrollblätter. Das Erste, was ich enttäuschend fand: Es gab Blätter, Blätter, Blätter. Ich habe sie gefragt, wie lange sie gesessen
hätten, um die 36 Seiten vorzubereiten. Das haben sie wohl als
Kompliment verstanden und mir ganz stolz berichtet, sie hätten zu dritt zwei Wochenenden damit verbracht. Und einen
Freitagnachmittag und -abend. Dann kam die unvermeidbare
Anschlussfrage: Und wie lange beschäftigt das die Schüler?
Wenn die jetzt die Unterrichtsvorbereitung für ein halbes Jahr
gehabt hätten, wäre das Aufwands-/Ertragsverhältnis in Ordnung gewesen, aber der Lernzirkel sollte drei Stunden dauern.
Für drei Stunden hatten sie zwei Wochenenden verschossen.
Das kann es nicht sein. Wenn eine Reform gelingen soll, muss
sie alltagstauglich, machbar und mit einem minimalen Vorbe-
„Mein Ziel war es, Ihnen deutlich zu machen, wie man die Kompetenzstufen operationalisieren
kann; wie man einen vielschichtigen Arbeitsprozess der Schüler gestalten und das Ganze mit
einer minimalen Vorbereitung der Lehrkräfte verbinden kann. In der Konsequenz bedeutet das,
dass ein Unterricht nicht deshalb schlecht ist, weil ich eine Doppelstunde in vielleicht zehn
Minuten vorbereitet habe. Es geht um intelligente Vorbereitungsarbeit, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die Schüler zunächst einmal mit dem arbeiten, was zur Verfügung steht.“
Wenn ich zu Beginn gesagt habe, dass derzeit Arbeitspläne zur
Umsetzung der Bildungsstandards in den Schulen entwickelt
werden, dann liegen diese Arbeitspläne in der Regel weit oberhalb dieser Ebene. Was ich Ihnen nur empfehlen kann und was
ich mir auch wünsche, ist, dass wir uns ein Lehrplanthema oder
Kernthema vornehmen, dass wir dieses Kernthema in Arbeitsfelder der Schüler aufgliedern (also in Deutsch etwa „Kurzgeschichte erschließen“ oder in Mathematik „Flächenberechnung
üben“) und diese Arbeitsfelder dann kompetenzorientiert in solche Lernspiralen aufgliedern. Dann haben wir etwas für den Vormittag zwischen 9.30 und 11 Uhr, andernfalls bleiben wir trotz
intensiver Konferenzarbeit weit oberhalb dieser Ebene, die den
Unterricht faktisch verändern hilft.
reitungsaufwand zu bewältigen sein. Das will ich mit diesen
Lernspiralen deutlich machen. Diese sind ein ganz zentrales
Instrument im Rahmen der Entlastungsstrategien, die wir in
den Schulen verfolgen. Nach einem Jahr bekommen wir aufgrund dieser Arbeitsprozesse und dieser vielschichtigen Lerntätigkeiten der Schüler und Schülerinnen erwiesenermaßen eine
gravierende Entlastung im Unterricht zu spüren. Die Basis des
Ganzen ist das Methodentraining, das will ich nur noch mal der
Vollständigkeit halber in den Blick bringen.
Rainer Domisch hat vor einiger Zeit einmal gesagt, die Deutschen seien Weltmeister im Planen und Konzipieren von Refor-
Das heißt, das rasche Finden von Informationen, Nachschlagetechniken, Recherchetechniken (das kann je nach Alters-
Während es bei den Lernspiralen darum ging, Inhalte zu klären,
geht es bei den so genannten Trainingsspiralen um ein Sockeltraining zur Klärung des betreffenden Methodenfelds.
35
stufe mit dem Schulbuch laufen, mit einem Lexikon, mit einer
Formelsammlung, mit irgendwelchen sonstigen Medien, die zur
Verfügung stehen).
Weiterhin Heftführung und Heftgestaltung, auch ein
Thema, das viele Lehrkräfte seit Jahr und Tag beschäftigt.
Damit hier gewisse Standards verinnerlicht werden, genügen
keine Appelle; es muss ein Stück weit in das Hirn der Schüler
hinein, wie man solche Verfahren der Heftführung und Heftgestaltung anwendet.
Einfache Strukturmuster erstellen von der Tabelle über Mind
Map bis zum Flussdiagramm – auch so etwas muss geübt, angewandt, reflektiert werden.
Es geht also um Methodenklärung. Ich will Ihnen anhand eines
Beispiels zum Markieren deutlich machen, wie so ein Trainingstag abläuft. Bei den Sockeltrainings, die in den Schulen in der
Regel in eine Projektwoche eingebunden werden, steht nicht
ein bestimmter inhaltlicher Projektbereich im Vordergrund,
sondern ein Methodenfeld. Wir beginnen damit, einen vorgegebenen Text versuchsweise zu markieren. Die Schülerinnen und
Schüler dürfen Fehler machen, Trial and Error. Im nächsten
Schritt werden die markierten Texte in Zufallsgruppen
verglichen. Daraufhin hält man – dritter Schritt – Markierungsregeln fest, die sich daraus ableiten lassen, und diese Regeln
werden dann auf Kärtchen notiert. Anschließend gibt es eine
Kartenpräsentation. Vierter Schritt: Es folgt ein vertiefender
Lehrervortrag mit Beispielen. Dafür sammle ich mir aus Heften
von Schülern irgendwelche markierten Seiten und hänge sie
aus. (Es dürfen keine Seiten aus der Klasse sein, in der ich das
mache, sondern immer Seiten, die aus anderen Klassen stammen.) In meinem Lehrervortrag kann ich das Anschauungsmaterial problematisieren, zum Beispiel: Warum ist ein gelber breiter Textmarker durchaus empfehlenswert? Weshalb ist beim
Markieren weniger mehr? All das muss man ein wenig erläutern.
Es folgt wieder eine Anwendungsphase, in der die Schüler einen
markierten Text erhalten, den sie problematisieren sollen, wie
ich das vorher getan habe. Entscheidend ist, dass so etwas wie
ein Methodenbewusstsein aufgebaut wird. Wenn wir den Schülern die sieben Regeln des Markierens benennen, heißt das noch
nicht, dass diese auch begriffen und verinnerlicht wurden.
Deshalb die recht intensive Arbeit an der Methodenklärung. In
der folgenden Phase soll die erarbeitete Kritik einem Partner
erläutert werden, das ist wieder die sprachliche Anwendung der
Einsichten. Jetzt werden die Regeln ausgehängt, und abschließend muss ein neuer Sachtext regelgebunden markiert werden.
Sie sehen also, wie redundant das ist, wie ein Training im
Sport. Denn wenn Sie ein guter Hochspringer werden wollen,
können Sie sich nicht einfach einen Film darüber anschauen,
wie jemand über 1,80 springt, und es anschließend nachmachen. Sondern Sie werden springen und springen, bis der Bewegungsablauf sich einigermaßen automatisiert hat. So ähnlich
ist das beim Lernen auch. Ich sagte zu Beginn, dass wir in über
36
500 Schulen das ganze Programm systematisch umsetzen.
Zentral ist dabei, dass wird diese Basisarbeit im Bereich des
Methodentrainings, die nachher den Fachlehrern so zugute
kommt, entweder von Anfang an umsetzen, oder wir schleppen
bestimmte methodische Unzulänglichkeiten über Jahre hinweg
bis in die Oberstufe weiter.
Wie kann man konkret damit beginnen? Die meisten Lehrkräfte
arbeiten nun einmal nicht in Modellschulen, sondern in Schulen,
wo sie teilweise ganz allein anfangen müssen. Wenn das so ist,
kann ich Ihnen nur den Rat geben, in einer Klasse anzufangen,
in der Sie interessierte Mitstreiter haben. Wenn Sie mit drei bis
fünf Stunden in einer Klasse sitzen und versuchen, die ganze
Basisarbeit in Angriff zu nehmen und die anderen Lehrkräfte das
nicht weiterpflegen, dann müssen Sie sich nicht wundern, wenn
Sie immer wieder bei null landen. Das ist Sisyphus-Arbeit im
schlimmsten Sinne des Wortes, wie sie nach meiner Wahrnehmung in unseren Schule ohne Ende geleistet wird. Daraus
erwächst eben die Empfehlung: Wenn Sie anfangen, schauen
Sie, in welcher Klasse Sie potenzielle Mitstreiter haben. Besser in
einer Klasse richtig als in fünf Klassen ein bisschen.
Zweitens: Beantragen Sie bei der Schulleitung Workshops
mit Teilfreistellung, denn solche Lernspiralen muss man x-mal
entwickelt haben, bis sich Routine einstellt. Es geht darum, die
Schüler mit gängigen Medien, Materialien und Lehrer-Inputs
arbeiten zu lassen, kompetenzorientiert und vielschichtig.
Wenn Sie den Grundgedanken ernst nehmen, die Schüler zunächst einmal mit dem arbeiten zu lassen, was vorhanden ist,
müssen Sie keinen gigantischen Vorbereitungsaufwand betreiben. Wenn Sie nachher Lust haben, einen tollen Lernzirkel vorzubereiten, will ich nicht dagegenreden, aber das darf nicht die
Conditio sine qua non für die Reformarbeit sein, sonst werden
viele gar nicht erst beginnen.
Wir haben in der Regel fünfstündige Workshops – so viel Zeit
ist nötig, um produktiv zu werden. Und da bekommen wir pro
Tandem tatsächlich ein bis zwei Lernspiralen à eine Doppelstunde pro Lernspirale hin. Wenn Sie mit sechs Fachlehrern
zusammensitzen, sich ein Lehrplanthema oder ein Kernthema
nehmen, Arbeitsfelder definieren und diese in Tandems als Lernspiralen ausarbeiten, dann haben Sie am Ende dieses Workshops
sechs bis zwölf Unterrichtsstunden mit Anlagen fertig. Das ist
deshalb interessant, weil Sie so etwas zu Hause, auf sich allein
gestellt, in der Regel nicht hinkriegen. Meist bleibt man dann
im eigenen Fahrwasser hängen, und es fallen einem immer die
Dinge ein, die man sonst auch macht, das kennt jeder. Im Rahmen der Workshops solche Lernspiralen erstellen, gegebenenfalls einschlägige Fortbildungsseminare besuchen kann so
etwas kann nur helfen. Den Unterricht entsprechend umgestalten, die 45 Minuten zumindest hin und wieder überwinden.
Selbst im Anfangsunterricht Englisch mit vier Wochenstunden
bin ich absolut dafür, eine Doppelstunde und zwei Einzelstunden und nicht vier Einzelstunden zu haben. Es bleiben methodisch viel zu wenig Möglichkeiten, wenn Sie immer auf die Einzelstunde festgelegt sind. Die Schüler müssen tagtäglich so
Klippert: Bildungsstandards Blindtext
umsetzen
gefordert und gefördert werden, damit das Erlernte selbstverständlich wird, und deshalb arbeiten wir mit Klassenteams. Der
Klassenlehrer plus zwei Satellitenlehrer mit Hauptfächern, die
viele Stunden in Summe unterrichten, bilden die Kernmannschaft in einer Klasse. So wird sichergestellt, dass an jedem Tag
jemand da ist, der die neu erlernten Standards auffrischt und
wiederbelebt. Schüler brauchen Wiederholung, das wissen wir
alle, sie brauchen Redundanz, damit sich bestimmte Fertigkeiten und Fähigkeiten festigen.
pitationen können potenzielle Mitstreiter gewonnen werden.
Manche Lehrkräfte sind im Lehrerzimmer noch skeptisch, wenn
sie aber hospitieren und sehen, wie sich eine Lehrkraft schonen
kann und die Schüler trotzdem intensiver arbeiten, dann wird
das nachdenklich machen. Wenn Sie nächstes Jahr mehr Teams
für sich zur Verfügung haben wollen, müssen die Weichen
rechtzeitig gestellt werden. Achten Sie deshalb darauf, dass mit
Blick auf das nächste Schuljahr solche Teamkonstellationen
gebildet werden.
Weiterhin möchte ich Ihnen empfehlen, fächerübergreifende
Trainingstage für diese Methodenklärung einzuführen: drei
oder vielleicht auch fünf Trainingstage im Block, wenn eine Projektwoche existiert. Es ist wirklich lohnend. Durch gezielte Hos-
Mein Ziel war es, Ihnen deutlich zu machen, dass die Umsetzung der Bildungsstandards nicht nur sinnvoll, sondern auch
möglich ist, und zwar mit alltagstauglichen Mitteln. Ich hoffe,
das ist angekommen.
37
STATEMENT
Christoph Selter
Christoph Selter, Dr. paed., geb. 1961; Grundschullehrer; Hochschullehrer für Mathematikdidaktik,
von 1996 bis 2005 an der PH Heidelberg, seit 2005 an der Universität Dortmund. Zahlreiche Publikationen
zum Lehren und Lernen von Mathematik im Grundschulalter. Autor u. a. der Bücher ‚Wie Kinder rechnen‘,
‚Kinder & Mathematik‘ (beide mit Hartmut Spiegel), ‚Beurteilen und Fördern im Mathematikunterricht‘
(mit Beate Sundermann).
Erfreulicherweise wird in Deutschland seit einigen Jahren vergleichsweise intensiv über Bildung und Erziehung diskutiert.
Der Grund dafür liegt sicherlich nicht nur, aber wesentlich auch
in der Auseinandersetzung mit den PISA-Studien. Ich habe allerdings manchmal den Eindruck, als würden mit dem bestenfalls
mittelmäßigen Abschneiden der deutschen Mittelstufenschülerinnen und -schüler Forderungen begründet, die unterschiedlicher kaum sein könnten.
In der Tat wird PISA sowohl als Beleg für die Notwendigkeit der
Abschaffung des gegliederten Schulwesens als auch für dessen
Erhalt herangezogen. Glaubt man der einen Seite, so ist ein
Schulsystem nach PISA nur weitestgehend ohne Ziffernnoten
fühlen müssen, um lernen und leisten zu können. Der finnische
Parlamentspräsident Paavo Lipponen hat es in der ZEIT vom
18. August 2005 so ausgedrückt: „Das finnische Schulsystem
steigert das Innovationspotenzial der Gesellschaft, indem es zu
selbstständigem Arbeiten anspornt und stures Auswendiglernen
sowie Leistungswettbewerb zwischen Schülern vermeidet. Laut
OECD ist das finnische Bildungssystem so erfolgreich, weil es
sozialen Ausgleich durch Bildung erreicht, ohne dabei die gezielte Unterstützung der besonders Begabten zu vernachlässigen. Als
kleine Volkswirtschaft sind wir darauf angewiesen, uns um
jedes einzelne Mitglied der Gesellschaft zu bemühen. In Zeiten
sinkender Bevölkerungszahlen ist dies auch für größere Volkswirtschaften eine immer wichtigere Erkenntnis.“
Leistungsfeststellungen in der Schule sollten primär erfolgen, um eine begründete Basis für individuelle
Fördermaßnahmen zu schaffen. Dabei umfasst Mathematikleistung weit mehr, als es flächendeckend
verordnete Lernstandserhebungen, Klassenarbeiten herkömmlicher Art oder die häufig eher beiläufig
erhobene so genannte mündliche Mitarbeit zum Ausdruck bringen können. In seinem Beitrag „LEISTUNGEN FESTSTELLEN, UM KINDER ZU FÖRDERN – WAS HEISST DAS KONKRET FÜR DEN MATHEMATIKUNTERRICHT?“ konkretisiert Professor Dr. CHRISTOPH SELTER, Mathematikdidaktiker an der Universität
Dortmund, diese Leitvorstellung anhand von Beispielen aus dem Unterricht der Grundschule und kommt
von dort aus zu der übergreifenden Fragestellung, welche Konsequenzen sich daraus für Leistungsfeststellungen von Schule(n) ergeben.
denkbar, was von der anderen Seite als ungeeignete Reaktion
kategorisch abgelehnt wird. Manche Personen sehen in klar
definierten und eindeutig abprüfbaren Standards die primär zu
ziehende Konsequenz; andere wiederum verweisen auf die
negativen Folgen, die die damit verbundene Einführung zentraler Lernstandserhebungen in Ländern wie den USA oder England nach sich gezogen hat.
Informiert man sich hingegen direkt ‚an der Quelle‘, so wird
beispielsweise von finnischen Kolleginnen und Kollegen als immer wiederkehrendes Merkmal angeführt, dass ihr Land nicht
zuletzt deshalb vergleichsweise gut abgeschnitten hat, weil es
dort eine Kultur der Ermutigung gibt. Man geht davon aus, dass
Schülerinnen und Schüler sich ernst genommen und wohl
38
In Finnlands Schulen wird keine ‚Kuscheleckenpädagogik‘ betrieben – natürlich müssen die Schülerinnen und Schüler Leistung zeigen. Nur existiert aufgrund der erst vergleichsweise
spät einsetzenden Notensystematik weniger Konkurrenzdruck
zwischen den Kindern, und es gibt ein größeres Interesse an
den Inhalten als in Ländern wie beispielsweise Deutschland.
In Finnland werden zudem die Leistungsanforderungen von
Anfang an transparent gemacht. Die Hauptaufgabe der Lehrpersonen besteht darin, die Kinder ausgehend von ihren individuellen Fähigkeiten dabei zu unterstützen, die angestrebten
Kompetenzen zu erwerben und ihre Lernerfolge zu überprüfen.
Solche Leistungsfeststellungen erfolgen, um eine Grundlage
für individuelle Fördermaßnahmen zu erhalten, nicht unter der
Selter: Leistungen feststellen, um Kinder zu fördern
primären Zielsetzung, Kinder auszulesen. So heißt ein Leitspruch des finnischen Schulsystems: ‚Kein Kind soll zurückbleiben.‘ Diese Grundgedanken scheinen mir eine hilfreiche Orientierung zu bieten. Ich möchte sie eingangs wie folgt zusammenfassen:
1. Leistungsfeststellungen sollten kompetenzorientiert sein: Da
Äußerungen und Handlungen von Kindern (aus deren Sicht) oft
vernünftiger und organisierter sind, als es aus der Erwachsenensicht scheint, sollten Lehrerinnen und Lehrer ihre Wahrnehmung verstärkt darauf ausrichten, was das einzelne Kind kann
und welche Denkwege es wählt, und nicht so sehr darauf, welche Fehler es macht oder wozu es noch nicht im Stande ist.
Die primäre Funktion der Leistungsfeststellung in der Schule besteht darin, Lernentwicklungen und Lernergebnisse vor
dem Hintergrund individueller Vorerfahrungen einerseits
und verbindlicher Anforderungen andererseits zu dokumentieren. Für Lehrerinnen und Lehrer dient dieses als
Grundlage der individuellen Förderung. Aus der Sicht der
Kinder stellt dieses eine Hilfe bei der (Mit-)Planung und
der (Mit-)Steuerung des eigenen Lernprozesses dar.
Die deutsche Zahlwortbildung kann hier als aufschlussreiches
Beispiel dienen. Im Zahlenraum bis 100 spricht man bekanntlich zunächst die Einer und dann die Zehner (acht-und-dreißig). Jenseits der 100 wird das Prinzip ,von klein nach groß‘
dann nicht mehr eingehalten (einhundert-acht-und-dreißig).
Natürlich wäre es konsequenter, wenn unsere Zahlwörter
immer ,von groß nach klein‘ (einhundert-dreißig-und-acht) oder
stets ,von klein nach groß‘ (acht-und-dreißig-hundert) gesprochen würden. Aber so hat sich unsere Sprache nicht entwickelt.
Daher ergeben sich immer wieder kleinere Stolpersteine. Fast
jedes Kind produziert beispielsweise irgendwann einmal die
Zahlwortreihe ‚achtundneunzig, neunundneunzig, hundert,
einhundert, zweihundert‘. In den weitaus meisten Fällen sind
aber nicht einhundert und zweihundert, sondern hunderteins
und hundertzwei gemeint.
Natürlich gehört es auch zum Auftrag von Schule, Entscheidungen über Versetzungen und Nichtversetzungen, über Schullaufbahnen, über Abschlussniveaus zu treffen – in Deutschland
bedauerlicherweise schon in recht jungem Alter. Schule kann
dieses Spannungsverhältnis von Entwicklungsfunktion und Ausle-
sefunktion schlichtweg nicht beseitigen. Aber sie kann trotz
dieses Dilemmas versuchen, mit den Leistungen der Kinder
verantwortlich umzugehen, also durch individuelle Förderung
die Lernfreude der Kinder zu erhalten und deren Leistungsfähigkeit zu entwickeln. Das ist das Konzept der pädagogischen
Leistungsschule.
Allerdings reicht die Orientierung an solchen pädagogischen Leitvorstellungen nicht aus. Um in der Praxis wirksam werden zu
können, müssen diese fachbezogen konkretisiert werden. Der
vorliegende Beitrag unternimmt einen solchen Versuch für das
Beurteilen und Fördern im Mathematikunterricht. Hierzu formuliere ich sieben Leitideen und illustriere sie durch Beispiele
aus der Grundschule.
Die Kinder sagen ,einhundert‘ bzw. ,zweihundert‘, weil sie die
Regel ,Erst die Einer sprechen‘ aus ihrer Sicht konsequent auf
einen Bereich übertragen, in dem diese allerdings nicht gilt.
Unsere Zahlwortbildung hält noch weitere Unregelmäßigkeiten
bereit. So sagen manche Kinder Nullzehn zur Zehn oder Einszehn zur Elf, da es ja auch Vierzehn oder Fünfzehn gibt. Warum
heißt die Zwanzig eigentlich nicht Zweizehn? Wenn es Dreißig
und Vierzig gibt, warum soll dann die Zwanzig nicht Zweizig
heißen, die Hundert Zehnzig oder die Hundertzehn Elfzig?
Wieso sagt man zur Hundertfünfundzwanzig nicht Fünfundzwanzighundert? Alle diese und weitere hier nicht genannte
Sprachschöpfungen könnte man natürlich aus der Erwachsenensicht als fehlerhafte Zahlwortbildungen verstehen.
Diese Grundeinstellung, das Denken und Lernen der Kinder vorwiegend defizitorientiert wahrzunehmen und zu interpretieren,
ist bedauerlicherweise weiter verbreitet, als es für alle Beteiligten gut ist. Dabei orientiert man sich hauptsächlich an der
Norm. Abweichungen davon bewertet man dann als Fehler, die
es schnellstmöglich zu korrigieren oder im Vorfeld zu verhindern gilt.
Man kann die Äußerungen von Kindern aber immer auch aus
kompetenzorientierter Perspektive als Ergebnisse prinzipiell vernünftigen Denkens ansehen und sich in diesem Sinne fragen:
Was könnten sie sich gedacht haben? Was sind die Hintergründe eines aus unserer Sicht falschen Vorgehens? Was können sie
schon alles? Wie kann man sie dazu anregen, ihr augenblickliches Denken und Wissen weiterzuentwickeln?
2. Leistungsfeststellungen sollten kontinuierlich erfolgen: Da
eine punktuelle, auf beispielsweise sechs Termine im Jahr kon-
39
zentrierte Leistungsfeststellung den vielschichtigen Lernentwicklungen der Kinder nicht gerecht wird, sollten auch deren
‚Alltagsleistungen‘ mit vertretbarem Aufwand regelmäßig dokumentiert werden.
Einen kontinuierlichen Einblick in individuelle Leistungsstände
erhält man beispielsweise, indem man einen so genannten
Mathebriefkasten einrichtet – einen mit gelbem Papier beklebten Schuhkarton mit Schlitz. In diesen Briefkasten werfen die
Kinder individuelle Aufgabenbearbeitungen, die nicht länger als
fünf bis zehn Minuten in Anspruch genommen haben sollten.
Vorab hat die Lehrerin am Ende oder zu Beginn einer Unterrichtsstunde, eines Tages oder einer Lerneinheit eine A5- oder
A6-Karteikarte bzw. ein entsprechend großes Blatt Papier ausgeteilt. Darauf notieren die Schüler zunächst Datum und
Namen sowie die Antwort auf eine Frage bzw. die Bearbeitung
einer Kurzaufgabe.
Im vorliegenden Beispiel wurden die Schüler jeweils im Abstand
mehrerer Wochen gebeten, die Aufgabe 8 x 9 zu lösen. Dabei
konnten sie Material oder Papier und Stift zur Hilfe nehmen.
Das Beispiel von Achim deutet an, wie viel man durch diese
Dokumente über seinen Lernprozess ausgehend von der mühsamen Addition einzelner Summanden über den Aufbau anschaulicher Vorstellungsbilder, das Ausnützen der Einmaleinsreihen
hin zum Verwenden von Rechenstrategien lernen kann – selbst
wenn ihm im Juni der keineswegs untypische Fehler „9 x 9 =
81, also ist 8 x 9 um 8 weniger“ unterlief (siehe Abb. 1).
3. Leistungsfeststellungen sollten transparent sein: Da die Kinder bereits in der Grundschule lernen sollen, in zunehmendem
Maße über ihr eigenes Lernen nachzudenken, es zu bewerten
und selbst zu steuern, sollte ihnen ein altersangemessenes Maß
an Transparenz ermöglicht werden, das sich förderlich auf das
Gelingen von Lernprozessen und die Qualität der Leistungsfeststellungen auswirkt.
Solche Transparenz sollte selbstverständlich nicht darin bestehen, dass den Kindern die Zielformulierungen eines schriftlich
ausgearbeiteten Unterrichtsentwurfs vorgelesen werden. Stattdessen bedarf es Formen, die für die Kinder verständlich sind.
Im Folgenden möchte ich dazu mit dem Blitzrechenposter ein
Beispiel geben (siehe Abb. 2). Unter Blitzrechnen (auch schnelles
Rechnen genannt) werden die Anteile des Kopfrechnens verstanden, deren Verfügbarkeit im Gedächtnis regelmäßiger,
anfangs anschauungsgebundener Übung bedarf. Im vorliegenden Beispiel erstellte die Lehrerin für ihre Erstklässler ein Poster im DIN-A2-Format, das im Klassenzimmer ausgehängt
wurde. Zudem erhielten die Eltern und die Kinder jeweils eine
Version davon im DIN-A4-Format.
Neben dem Namen der jeweiligen Übung wurden zur Illustration auch die dem Schulbuch entnommenen bildlichen Darstellungen verwendet. In der letzten Spalte wurde jeweils angegeben, auf welchen Seiten die einzelnen Übungen dort vorkamen.
Ergänzend sind hier auch entsprechende Verweise auf Arbeitshefte oder sonstige Übungsmaterialien denkbar. So wissen Kin-
Achim
Abb. 1
40
Abb. 2
Selter: Leistungen feststellen, um Kinder zuBlindtext
fördern
der und Eltern, wo Übungsmaterial gefunden werden kann bzw.
ab wann das Üben einer dieser Grundfertigkeiten zu Hause bzw.
in der Schule verbindlich wird.
Ein Blitzrechenposter kann aber nicht nur der Transparenz dienen, sondern auch zur Motivation im Übungsprozess herangezogen werden. Schließlich besteht die Möglichkeit, nach Beherrschung aller aufgelisteten Anforderungen den Blitzrechenpass
zu erwerben, in dem im Anschluss an kleine Prüfungen nach
und nach festgehalten wird, welche Übungen die Kinder bereits
beherrschen.
5. Leistungsfeststellungen sollten prozessorientiert sein: Da im
Mathematikunterricht nicht nur die inhaltsbezogenen, sondern
auch die prozessbezogenen Kompetenzen geschult werden, sollten Aufgaben die Kinder vermehrt dazu anregen, Zusammenhänge zu erkennen und zu übertragen, eigene Überlegungen zu
beschreiben oder Begründungen anzugeben.
4. Leistungsfeststellungen sollten informativ sein: Da es in
Mathematik um mehr als um ‚richtig oder falsch‘ geht, sollten
Aufgaben vermehrt so angelegt sein, dass die Kinder zur Artikulation ihres Denkens angeregt werden und man auf diesem
Wege Informationen über ihre Denkwege gewinnen kann.
Um zu erfahren, wie Kinder rechnen, kann man sie bei geeigneten Aufgaben bitten, nicht nur das Ergebnis, sondern auch
ihren Lösungsweg anzugeben. Es folgen einige aufschlussreiche
Dokumente von Drittklässlern, die gebeten wurden, ihre Vorgehensweise bei den Aufgaben 54 – 36 und 71 – 68 zu notieren
(siehe Abb. 3).
Schaut man sich die verschiedenen Beispiele an, so ergeben
sich aussagekräftige Informationen über die Rechenstrategien
und die bei manchen Kindern vorhandenen Fehlvorstellungen.
Mira
Lissy
Abb. 4
Im Beispiel der Abb. 4, das einer Klassenarbeit entstammt, sollten die Kinder zunächst zwei zusammenhängende Aufgaben
ausrechnen, wozu inhaltsbezogene Kompetenzen im Bereich
der schriftlichen Subtraktion erforderlich waren, bevor in den
beiden folgenden Teilaufgaben die prozessbezogenen Kompetenzen des Beschreibens und Begründens angesprochen wurden
(siehe Abb. 5 folgende Seite).
Hassan
Dominik
Jenny
Michael
Chiara
Maximilian
Abb. 3
41
Einen von drei Punkten gab es für
Antworten, bei denen ansatzweise auf
die Zusammenhänge zwischen den
Minuenden und den Subtrahenden der
beiden Aufgaben Bezug genommen
wurde.
Zwei Punkte erhielten diejenigen Schülerinnen und Schüler, die eine
Erhöhung der Einer um 1 erwähnten,
aber nicht deutlich zum Ausdruck
brachten, dass Minuend und Subtrahend jeweils um dieselbe Zahl vergrößert wurden.
Die Maximalpunktzahl schließlich
wurde vergeben, wenn dieser
Zusammenhang angeführt wurde.
Abb. 5
Für die Begründung wurde kein Punkt vergeben, wenn das Antwortfeld leer blieb oder die Schülerinnen und Schüler Äußerungen notierten, die nicht dazu geeignet waren, die Gleichheit
der Ergebnisse (verstehbar) zu erklären.
Ähnlich wie im Deutschunterricht das Beurteilen der Texte von
Kindern in der Regel aufwändiger ist als die bloße Beurteilung
der Fertigkeiten im Rechtschreiben, ist die Beurteilung von
Aufgaben(teilen), die die prozessbezogenen Kompetenzen
ansprechen, häufig komplizierter als die reine Bewertung des
(End-)Resultats. Aber Ersteres ist erforderlich und – ausgehend
von einem Kriterienkatalog – auch leistbar, wobei man sich
durchaus der unvermeidlichen Subjektivität der eigenen Wahrnehmungen bewusst, aber mit kompetenzorientiertem Blick
um individuelle Gerechtigkeit bemüht sein sollte.
42
Grad der erforderlichen Transferleistungen
Grad der Anforderungen beim Beschreiben und Begründen
(s. o.)
7. Leistungsfeststellungen sollten umfassend angelegt sein: Da
Klassenarbeiten und Tests allein nicht geeignet sind, um ein
authentisches Bild dessen, was Kinder leisten, zu erhalten, sollte daneben ein breites Spektrum an Instrumenten zum Einsatz
kommen: beispielsweise beiläufige und systematische Beobachtungen, Standortbestimmungen, Arbeitsprodukte, Sammelmappen, Präsentationen, Forscherhefte, Wochenblätter usw.
6. Leistungsfeststellungen sollten differenziert erfolgen: Da aufgrund individueller Unterschiede nicht von allen Kindern innerhalb eines vorgegebenen Zeitraums dieselben Leistungen
erwartet werden können, sollten unterschiedliche Leistungsanforderungen gestellt werden, also beispielsweise das Aufgabenangebot nach Grundanforderungen und weiterführenden Anforderungen differenziert werden.
Beispielhaft sollen hier die Expertenarbeiten erwähnt werden.
Darunter verstehe ich von Schülergruppen oder manchmal auch
von einzelnen Schülern (mit)geplante, über einen längeren
Zeitraum durchgeführte und den Mitschülern vorgestellte Vorhaben, in deren Zentrum die produktive Auseinandersetzung
mit einer komplexeren Aufgabe steht, wie etwa
das Erstellen eines Plakats oder eines Infoblattes,
das Halten eines Referats oder einer Unterrichtssequenz,
die Konzeption einer Lernstation oder eines Arbeitsblatts oder
die Durchführung einer Ausstellung oder Präsentation.
Die zuletzt angeführte Aufgabe kann auch zur Illustration dieses Punktes herangezogen werden. Der Aufgabenteil, der eine
Begründung vorsah, wurde in einer für die Kinder bekannten
Weise (Sternchen) als den weiterführenden Anforderungen
zugehörig kenntlich gemacht. Dabei kann die Unterscheidung
zwischen Grundanforderungen und weiterführenden Anforderungen anhand unterschiedlicher Kriterien erfolgen:
Anzahl der (Teil-)Aufgaben
Schwierigkeitsgrad der Aufgabendaten (Zahlraum, Rechenanforderungen …)
Komplexität der Aufgabenstellung (Anzahl der Lösungsschritte, Abstraktionsgrad …)
Präsentationsform (Textmenge, unterstützende Abbildungen,
Existenz von Hilfsaufgaben oder Beispielen …)
Mögliche Beurteilungskriterien sind:
Verständlichkeit und Anschaulichkeit: Wird das Thema
nachvollziehbar bearbeitet? Werden hilfreiche Beispiele verwendet?
Übersichtlichkeit und Sauberkeit: Werden Prozesse und
Produkte klar und ansprechend dargestellt?
Korrektheit und Souveränität: Werden die Sachverhalte
richtig dargestellt? Werden Erläuterungen sicher gegeben?
Eigenständigkeit und Originalität: Hat die Gruppe selbstständig gearbeitet? Ist sie bei der Bearbeitung und Darstellung eigene Wege gegangen?
Engagement und Kooperationsfähigkeit: Zeigen die Gruppenmitglieder ‚Einsatz‘? Arbeiten sie gut zusammen (ausreden lassen, Aufgaben übernehmen …)?
Selter: Leistungen feststellen, um Kinder zu fördern
Damit die Leistungen gefördert und angemessen beurteilt werden können, ist es auch hier wichtig, den Kindern die Hauptbewertungskriterien in verständlicher Weise nahe zu bringen.
Nicht immer müssen natürlich alle der o. a. Kriterien erfüllt sein
oder zur Beurteilung herangezogen werden. Sie sollten – auch
unter Einbezug der Kinder, z. B. bei der Erstellung eines Posters
oder Plakats – noch spezifischer ausgearbeitet werden: Inwieweit wird Farbe als Strukturierungshilfe verwendet? Wird sauber geschrieben? Werden die einzelnen Teilaspekte sinnvoll
angeordnet? Etc.
Zum Abschluss möchte ich noch einen ganz entscheidenden
Punkt ansprechen: Es ist nicht nur meine Befürchtung, dass das
Instrument verpflichtender zentraler Lernstandserhebungen mit
nachfolgender Veröffentlichung der Ergebnisse der Einzelschulen bei manchen positiven Auswirkungen auch die Gefahr mit
sich bringt, mittels des dadurch erzeugten Drucks von außen
die Weiterentwicklung der eingangs umrissenen pädagogischen
Leistungsschule zu behindern oder gar zu verhindern.
Denn angesichts der Bedeutung, die zentralen Lernstandserhebungen in Deutschland zukünftig vermutlich zukommen wird,
ist die Annahme nicht völlig abwegig, dass sich der Unterricht
in vielen Klassenzimmern – zumindest in den ‚heißen Phasen‘
vor der Durchführung der zentralen Tests – mehr und mehr auf
die Testvorbereitung konzentrieren wird. Dann hätten wir ein
,teaching to the test‘, wie wir es aus England oder den USA
kennen.
Das dort vorherrschende, der Wirtschaft entlehnte und für die
Schule m. E. nur bedingt taugliche Konkurrenzmodell führt
dazu, dass Schulen durch die Publikation von Leistungsdaten in
Rankings unter Druck gesetzt werden. In der US-amerikanischen Literatur wird allerdings deutlich, dass die Orientierung
an Teststandards die erwarteten Erfolge bislang nur ansatzweise erbracht hat. Im Gegenteil kann festgehalten werden:
Tests messen nicht immer das, was sie vorgeben zu testen;
schwache Schulen und schwache Schüler werden z. T. noch
schwächer; nicht wenige Lehrer und Schüler werden demotiviert; die Testinstitute werden immer mehr zu den heimlichen
Agenten des Unterrichts; die erhofften Leistungssteigerungen
treten nicht im erwarteten Maße ein usw.
Und so komme ich abschließend zu meinem ersten Punkt
zurück: Was für die Leistungsfeststellung in der Schule gilt, sollte auch für die Leistungsfeststellung von Schule relevant sein:
Die primäre Funktion der Leistungsfeststellung von Schule
besteht darin, Unterrichtsentwicklung und Unterrichtsergebnisse vor dem Hintergrund schulbezogener Rahmenbedingungen einerseits und vorgegebener Anforderungen
andererseits zu dokumentieren. Für Schulberater dient dies als
Grundlage für schulbezogene Unterstützungsmaßnahmen.
Aus der Sicht der Lehrerinnen und Lehrer stellt es eine Hilfe
bei der Weiterentwicklung des eigenen Unterrichts dar.
43
STATEMENT
Heinz Klippert
Heinz Klippert, geb. 1948, Dr. rer. pol.; Dipl.-Ökonom; Lehrerausbildung und -tätigkeit in Hessen; seit 1977
Dozent am Lehrerfortbildungsinstitut der Evangelischen Kirche in Rheinland-Pfalz (ERWI) mit Sitz in Landau.
Trainer, Berater und Ausbilder in Sachen „Pädagogische Schulentwicklung“. Zahlreiche Publikationen zur
Didaktik und Methodik des wirtschafts- und sozialkundlichen Unterrichts, zum Arbeitsfeld „Schulentwicklung“
sowie zum Methoden- und Kommunikationstraining für Schülerinnen und Schüler. Trainer, Berater und Ausbilder für „Pädagogische Schulentwicklung“.
Mein Ansatz im Rahmen dieses Vortrages ist, einmal zu schauen, wo wir in der Schule Gestaltungsmöglichkeiten haben, die
uns Entlastungsperspektiven eröffnen. Ich betreue seit vielen
Jahren Steuerungsteams von Schulen, mit denen ich auch
immer darüber nachdenken musste, wie wir in den betreffenden Schulen Entlastung organisieren können, weil ansonsten
die Schmerzgrenze bei den Kolleginnen und Kollegen sehr
schnell erreicht ist. Aus diesem langjährigen Nachdenken über
praktische Entlastungsmöglichkeiten ist letztlich mein Buch
„Lehrerentlastung“ entstanden, das ich Ihnen hier auszugsweise vorstellen möchte.
zwischen eigenen Ansprüchen und der eher bescheidenen Realität tagtäglich eine permanente Dissonanz. Diese Diskrepanz
ist auf Dauer zermürbend. Etwa 23 Prozent setzen auf Schonung, das sind die Lehrkräfte, die psychisch gut über die Runden kommen, weil sie irgendwo den schulischen Alltag in die
zweite Position geschoben haben und sich an anderen Aktivitäten auf- und ausrichten. Nur 17 Prozent – und das halte ich
eben für dramatisch – sagen von sich, dass sie problemlos
zurechtkommen. Schaut man sich die Altersstruktur an, spricht
vieles dafür, dass es jüngere Lehrkräfte sind, die noch mit einer
gewissen Euphorie meinen, die Dinge auf lange Sicht bewälti-
In 500 Schulen in derzeit sieben Bundesländern betreut das Lehrerfortbildungsinstitut Landau Steuerungsteams bei der Umsetzung systematischer Unterrichtsentwicklung mit dem Ziel, die Schülerinnen
und Schüler zeitgemäßer zu qualifizieren und Entlastungsperspektiven für Lehrkräfte zu entwickeln.
Der Vortrag von Dr. HEINZ KLIPPERT, Dozent des genannten Instituts, zeigt auf, wie sich Lehrkräfte
und Leitungspersonen schulintern Entlastung verschaffen können. Dr. Klippert hat erst kürzlich ein
Buch zum Thema veröffentlicht und stellt in seinem Vortrag „LEHRERENTLASTUNG – HANDLUNGSPERSPEKTIVEN FÜR SCHULE UND UNTERRICHT“ bewährte Strategien zur wirksamen Arbeitserleichterung in Schule und Unterricht vor, wie sie in der Praxis entwickelt und realisiert wurden.
Das, was hinter diesen ganzen Überlegungen steht, spielt sich
derzeit in über 500 Schulen in verschiedenen Bundesländern
ab. Wir arbeiten in sieben Bundesländern, in Niedersachsen,
Berlin, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, BadenWürttemberg und auch in Bayern, an der Umsetzung systematischer Unterrichtsentwicklung mit dem Ziel, die Schüler zeitgemäßer zu qualifizieren und auch und nicht zuletzt Entlastungsperspektiven für Lehrkräfte zu entwickeln.
Neueren Studien zur Lehrerbelastung von Uwe Schaarschmidt
und anderen besagen, dass 60 Prozent der bundesdeutschen
Lehrerschaft sich mehr oder weniger stark überlastet fühlen.
Wenn das so ist, wird auch der Unterricht nicht optimal laufen
können, und deshalb muss, im Interesse einer insgesamt effektiveren Schule, an Entlastungsperspektiven gearbeitet werden.
29 Prozent der Lehrerschaft sind im Stadium des Burn-out
angelangt; rund 30 Prozent, erleben aufgrund der Diskrepanz
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gen zu können. Ich will das nicht weiter vertiefen, es ist nur die
Ausgangssituation.
Was sind die zentralen Belastungsfaktoren?
Interessant ist, dass der wichtigste Belastungsfaktor mit dem
Unterricht direkt zusammenhängt: Friktion im Unterricht. Das
heißt Desinteresse der Schüler, Bequemlichkeit, unflätiges Verhalten, hoher Lärmpegel, wenig Sanktionsmöglichkeiten der
Lehrkräfte, all die Verhaltensauffälligkeiten und Störmanöver,
die den Unterricht behindern und für die Lehrpersonen sehr
stressig sind. Hinzu kommt der 45-Minuten-Takt. Der dadurch
bedingte rasche Wechsel führt dazu, dass wir die Friktion
besonders deutlich erleben, weil wir an einem Vormittag sechs
verschiedene Klassen mit unterschiedlichen Verhaltensauffälligkeiten und unterschiedlichen destruktiven Mustern haben. Das
ist nachgewiesenermaßen die Hauptbelastungsquelle.
Klippert: Lehrerentlastung
An zweiter Stelle stehen die schlechten Rahmenbedingungen,
also die großen Klassen, die vielen Wochenstunden, die kleinen
Klassenräume. Wenn Sie moderne Unterrichtsformen praktizieren wollen, müssen Sie zwingend zumindest phasenweise Partner- und Gruppenarbeit veranstalten. Wenn Sie aber eine Frontalsitzordnung haben, dann ist es schier unmöglich, in 45
Minuten alles umzuräumen, um es am Ende der Zeit wieder auf
den alten Stand zu bringen. Deshalb sind viele Forderungen, die
derzeit im Zusammenhang mit den Bildungsstandards erhoben
werden, unrealistisch, da sie von den Bedingungen, die wir in
den Schulen vorfinden, zu sehr abstrahieren. Ein weiteres
Manko ist die Ausstattung. Hier auf der Messe haben wir die
neuen Medien, E-Learning usw., was könnte man sich damit
alles vorstellen! Nur hat die Schule in der Regel irgendwo drei
Computerräume, und es ist schwierig, im normalen Fachunterricht unter solchen Bedingungen systematisch Computernutzung zu betreiben. Bis Sie umgezogen sind, bis Sie die Rechner
hochgefahren haben, sind schon wesentliche Teile der 45 Minuten um. Auch hier kann und muss sich einiges ändern.
Der dritte Problembereich betrifft den politischen Aktionismus.
Es werden ungemein viele Forderungen an die Schule gerichtet,
und das Dilemma ist, dass wir letztlich nur Innovation bewerk-
die Schlüsselgröße in diesen ganzen Innovationsprozessen, die
derzeit anstehen, das Unterstützungssystem. Wir wissen inzwischen, dass wir neue Handlungskompetenzen aufbauen müssen. Wenn Sie jedoch nur gelernt haben, Stoffe und lehrerzentrierten Unterricht zu inszenieren, dann werden Sie sich schwer
tun mit dem Vermitteln von Kommunikationskompetenz, Teamkompetenz, Methodenbeherrschung oder was auch immer.
Daher müssen wir mit dem praktischen Repertoire der Akteure
in den Schulen auf einen Stand kommen, auf dem die Ansprüche endlich realisiert werden können. Wenn die Lehrkräfte ständig diese Diskrepanz zwischen den immer neuen Ansprüchen
und den eigenen Möglichkeiten erfahren, ist das zermürbend
und führt häufig zu einer massiven Verweigerungshaltung. Das
sollten Politiker bedenken. Die Frage muss lauten: Wie kriegen
wir eine Stimmung in den Schulen, sodass die Menschen dort
etwas bewegen wollen?
Und das letzte große Feld ist die Selbstüberforderung. Der Perfektionismus der Lehrkräfte ist für mich ein Riesenproblem,
weil dadurch auch die Angst vor dem Fehler des Schülers
wächst. Wir haben infolge unserer Lehrerbildung und durch
unsere eigene Sozialisation über Jahrzehnte, Jahrhunderte hinweg eine lehrerdominante Unterrichtsführung implementiert,
wodurch Stress in hohem Maße entsteht. Wir übernehmen uns
selbst durch unsere überzogenen Ansprüche und unseren Perfektionismus.
Lehrerentlastung – aber wie
Ich will Ihnen hier die fünf Felder, die mir aufgefallen sind und
in denen wir uns in den Schulen selbst helfen können, auflisten.
1. Entlastung durch verbessertes Selbstmanagement
stelligen können, wenn wir eine Reduktion von Komplexität
erreichen. Wir brauchen so etwas wie ein Lean Management,
ansonsten haben wir die klassische Überforderungssituation,
mit der wir nicht fertig werden. Wir betreiben vieles so aufwändig nebeneinander, jeder für sich, dass wir über Gebühr
Zeit und Energie investieren, ohne dass das Kollegium insgesamt
etwas davon hat. Wir brauchen eine Zusammenführung der verschiedenen separaten Projekte, und daran kann schulorganisatorisch sehr effektiv gearbeitet werden. Wir haben die Möglichkeit, Dinge zu verbinden, zu bündeln und nicht nebeneinander
von unterschiedlichen Personengruppen bearbeiten zu lassen.
Was helfen uns die Bildungsstandards, wenn der faktische
Unterricht sich nicht in alltagstauglicher Weise verändert? Was
helfen uns Schulinspektionen, wenn die Unterstützungssysteme fehlen, um dasjenige Handwerkszeug zu vermitteln, das die
Realisierung der neuen Anforderungen ermöglicht? Für mich ist
Wir müssen einen gewissen Realismus, eine gewisse Frustrationstoleranz in unserem eigenen Interesse lernen. Gesund bleiben nachgewiesenermaßen die Lehrkräfte, die eine realitätsbezogene Gelassenheit entwickeln können, die zwar anspruchsvoll
sind, aber die Realitäten akzeptieren; die einen gewissen Dilettantismus der Schüler akzeptieren und damit auch gut fertig
werden. Das gehört in den Bereich des Selbstmanagements.
Dazu gibt es in meinem Buch eine ganze Reihe von Arbeitsmaterialien und Informationen, auf die ich aber hier nicht näher
eingehen will.
2. Entlastung durch gezielte Schülerqualifizierung
Die ist für mich ein zentraler Punkt. Wir haben letztlich in den
Klassen ein Heer von potenziellen Helfern und Miterziehern, ein
Heer von Tutoren, die wir stärker zur Entlastung der Lehrkräfte
einbinden müssen.
3. Entlastung durch verstärkte Lehrerkooperation
Ich halte es für fatal, dass im Augenblick jeder versucht, die
Reformansätze mehr oder weniger im Alleingang zu bewältigen.
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Wir schaffen es nicht alleine, sondern müssen Arbeitsteilung
praktizieren und deshalb auch verstärkt Kooperationsbeziehungen eingehen. Wir arbeiten in den Schulen mit Workshops,
fünfstündig oder auch ganztägig, bei denen Lehrkräfte in Fachteams oder Klassenteams ihre gemeinsame Unterrichtsvorbereitung nach bestimmten Strickmustern durchführen, Materialien
austauschen können, die archiviert werden, und auf diese
Weise auch Entlastung erfahren. Wir haben in der Schule bislang so gut wie keine Arbeitsteilung, und daher kommt es bei
der derzeitigen Situation zwangsläufig zu einer Überlastung.
4. Entlastung durch intelligentes Schulmanagement
Ich sehe auch, dass die Schulleitungen eine ganze Menge dazu
beitragen können, die Lehrerentlastung in den Systemen zu
befördern. Es wird nicht nur zu viel Formalismus und Bürokratismus praktiziert, es wird auch in anderen Bereichen, wenn es
etwa um Konferenzeffizienz geht, gegen diesen Entlastungsgrundsatz verstoßen. Viele Konferenzen haben ein denkbar
schlechtes Image, weil für den Einzelnen wenig oder gar nichts
dabei herauskommt. Wir brauchen also produktive Konferenzen. Eine Konferenz muss Ergebnisse erbringen, die ich zu
Hause im Alleingang nicht erzielen kann. Es sind andere, produktive Formen der Zusammenarbeit notwendig. Wir verlieren
in den Konferenzen unendlich viel Zeit, weil Rituale gepflegt
werden und weil es nicht um eine ergebnisorientierte, produktive Arbeit geht. Zur effektiveren Konferenzgestaltung und
Konferenzmoderation kann die Schulleitung einiges beitragen.
Wir brauchen weiterhin vermehrt schulinterne Freistellungen
der Lehrkräfte für bestimmte innovative Entwicklungsarbeiten,
für Fortbildung. Ich halte es für eine recht gewagte Angelegenheit, dass die Politik im Augenblick die Fortbildungen
zusammenstreicht und das Ganze in das Belieben der Einzelnen
stellt. Wenn wir eine konzertierte Entwicklung in der Schule
haben wollen, müssen wir auch eine konzertierte Qualifizierung
erreichen. Insofern halte ich die gegenwärtig propagierte Verabsolutierung der Unterrichtsversorgung für fragwürdig, denn
ich kann mir auch einen Unterricht vorstellen, der tapfer gehalten wird, ohne dass die Kinder davon profitieren. Der Bundeselternrat hat das einmal in einer Presseerklärung sehr schön auf
den Punkt gebracht und formuliert. Es gebe viele Stunden in
Deutschlands Schulen, so hieß es dort, die besser nicht gehalten worden wären. Damit will ich nicht den Eindruck erwecken,
dass ich gegen das Durchführen von Unterricht bin, aber es
geht um Prioritätensetzung. Wenn die Akteure, die diesen
Unterricht verändern sollen, im Blick auf Bildungsstandards
nicht Lernzeit zugestanden bekommen, dann müssen wir uns
nicht wundern, wenn alles so bleibt, wie es ist.
Eine weitere Belastungskomponente ist das schlechte Lehrerimage in der Öffentlichkeit. Wenn wir also weiterkommen wollen, brauchen wir eine offensive Öffentlichkeitsarbeit im Blick
auf Eltern und andere interessierte Gruppierungen in der jeweiligen Region, im Umfeld der Schule. Da haben wir einige Möglichkeiten, die wir verstärkt nutzen sollten.
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5. Entlastung durch bildungspolitische Stützmaßnahmen
Ich wünschte mir, dass die Politik sich über den Weg der Innovation etwas genauer Gedanken macht – und nicht nur über die
Ziele der Innovation. Denn ob die Ziele realisiert werden, entscheidet sich letztlich auf dem Weg dorthin.
Fazit: Wirksame Lehrerentlastung verlangt, dass verstärkt auf
Bordmittel zurückgegriffen wird. Ich bin pragmatisch und
denke, wenn uns auf kurze Sicht von außen nicht geholfen
wird, müssen wir schauen, was wir im eigenen Regiebereich
bewerkstelligen können, damit es leichter und entlastender
wird. Das will ich jetzt noch etwas präzisieren. Für mich ist das
Methodenlernen, die Schülerqualifizierung ein zentraler Ansatzpunkt. Wir brauchen eine verstärkte Methodenschulung, weil
viele Schüler und Schülerinnen nicht in der Lage und auch nicht
bereit sind, in eigener Regie zu arbeiten. Es gibt ein erhebliches
Maß an Unselbstständigkeit, die den Kindern nicht angeboren
ist, sondern angelernt wurde. Durch eine erdrückende Fürsorglichkeit vieler Eltern im Kleinkindalter entwickeln viele Kinder
eine Arbeitgebermentalität. Sie geben ihren Müttern – ihren
Vätern manchmal auch – Arbeit, indem sie Hilflosigkeit signalisieren, und in der Schule treiben sie das gleiche Spiel mit hoher
Erfolgswahrscheinlichkeit weiter. Das Helfersyndrom der Lehrkräfte sorgt dafür, dass vorschnell geholfen wird. Wenn Sie aber
heute nach zehn Sekunden helfen, müssen Sie damit rechnen,
dass morgen nach neun Sekunden geholfen werden muss. Viele
Schüler fragen bereits: „Was soll ich denn machen?“, bevor sie
den Arbeitsauftrag gelesen haben. Wir sind insofern an dem
ganzen Spiel beteiligt, als wir diese erdrückende Fürsorglichkeit
förmlich anbieten. Wenn Sie zu der ersten Gruppe hingehen, die
gerade in der Konstituierungsphase ist, die das Schulbuch in die
Hand nehmen und sich den Arbeitsauftrag anschauen muss,
werden die Schüler sofort die Bücher beiseite legen und Fragen
stellen. Es gibt eine pfiffige Impulstechnik, die die Schüler
beherrschen. „Was sollen wir denn eigentlich genau machen?“
ist die klassische Eingangsfrage. Eine solche Frage halten Lehrkräfte meist nicht aus, und sie wiederholen nicht nur den
Arbeitsauftrag, sondern geben häufig auch schon Hinweise,
wie das Ergebnis aussehen könnte. Diese Strategie kultivieren
die Schüler in hohem Maße.
Eine unserer Töchter hat mir das einmal sehr plastisch vor
Augen geführt. Sie, damals in der 9. Jahrgangsstufe, kam mittags nach Hause und war sichtlich vergnügt. Ich habe mir dieses In-sich-Hineinkichern eine Weile angeschaut und irgendwann etwas entnervt gefragt: „Na, habt ihr heute so einen
schönen Tag gehabt?“ „Nein“, sagt sie, „schön war es eigentlich
nicht, aber interessant.“ „So, was war interessant?“ Sie antwortet mit einem verschmitzten Lächeln: „Drei Fragen haben ausgereicht, ihn eine Doppelstunde zu beschäftigen.“ „Er“ war der
Schulleiter dieses Gymnasiums, der Geschichte unterrichtete.
Es war genau die geschilderte Strategie, die die Schüler offensichtlich beherrschten und auch vorsätzlich praktizierten. Ich
habe dann so reagiert, wie Sie vielleicht als Mutter oder Vater
auch reagieren würden. Ich habe gesagt: „Ihr habt sie doch
Klippert: Lehrerentlastung
Blindtext
nicht alle. So lernst du doch auch nichts.“ „Macht nichts.“ Ich
sage: „Die nächste Klassenarbeit kommt bestimmt.“ Sagt sie: „Er
ist fair.“ Ich fragte: „Was meinst du damit?“ „Er prüft nur, was
er an die Tafel bringt. Wir haben ihn eine Doppelstunde davon
abgehalten, etwas an die Tafel zu bringen.“
aber auch unterstützende Lehrerfortbildung, weil wir gemerkt
haben, dass das Ganze sich nicht von selbst reguliert. Wir können zwar schöne Ziele formulieren, trotzdem müssen die Akteure in den Schulen erst einmal alltagstaugliche Werkzeuge und
Instrumentarien entwickeln. Für mich sind die Lernspiralen,
„Neueren Studien zur Lehrerbelastung von Uwe Schaarschmidt und anderen besagen, dass
60 Prozent der bundesdeutschen Lehrerschaft sich mehr oder weniger stark überlastet fühlen.
Wenn das so ist, wird auch der Unterricht nicht optimal laufen können, und deshalb muss, im
Interesse einer insgesamt effektiveren Schule, an Entlastungsperspektiven gearbeitet werden.“
Sie sehen, dass Schülerinnen und Schüler sehr wohl strategische Kompetenzen haben, nur sind es teilweise Arbeitsvermeidungskompetenzen. Wenn wir also weiterkommen wollen,
müssen wir die Schüler auf die Füße bringen. Oft reicht es
schon, wenn Sie nach einer Auftragsübergabe drei Minuten lang
den Blickkontakt zu den Schülern vermeiden. Nach dieser Zeit
haben diese in der Regel den Arbeitsauftrag allmählich erfasst
und merken plötzlich, dass sie die Lehrkraft gar nicht brauchen,
sondern das auch allein hinkriegen. Das ist es, was wir erreichen müssen.
Dann brauchen wir eine defensive Lehrerrolle und Schüler, die
über gewisse Skills, über Werkzeuge, verfügen, die ihnen Erfolgswahrscheinlichkeit sichern. Wir müssen die Schüler mit
entsprechenden Arbeitstechniken, Lerntechniken, Kooperationstechniken, Kommunikationstechniken, Präsentationstechniken
ausstatten. Über viele Jahre hinweg konnten wir beobachten,
dass Schüler in dem Maße, wie sie im Bereich des eigenverantwortlichen Arbeitens über Kompetenzen verfügen, das dann
auch gerne machen. Die Lernpsychologie nennt das Kompetenzmotivation, also Motivation aus dem Gefühl heraus, etwas
zu können und zu wissen, wie es geht. Auf den erwähnten
Sockelkompetenzen ruht das eigenverantwortliche Arbeiten
und Lernen. Dieses beginnt bereits rund um den Lehrervortrag,
rund um das Tafelbild, rund um den Physikversuch des Lehrers.
Es muss nicht gleich von Anfang an Projektarbeit oder Monatsplanarbeit sein. Ich habe den Eindruck, Deutschland steht immer
in der Gefahr, gleich zu den Hochformen zu greifen und nicht die
vielen kleinen Zwischenschritte ernst zu nehmen. Wir wollen
nicht gleich Orchideen züchten, um das mal bildhaft zu sagen,
sondern was wir letztlich brauchen, sind Gänseblümchen, die
winterresistent sind. Wir benötigen alltagstaugliche Routinen.
Wo wollen wir hin?
Es geht um Entlastung im alltäglichen Unterricht, die durch
diese Kompetenzentwicklung und durch die kleinschrittige Förderung des eigenverantwortlichen Arbeitens und Lernens der
Schüler unterstützt und vorangetrieben wird. Wir brauchen
wie Sie sie auch in meinen Büchern finden können, ein wichtiger Hebel, um Entlastung zu erreichen (vgl. auch den Vortrag zum
Thema „Bildungsstandards umsetzen – aber wie?“ in der vorliegenden Dokumentation mit Beispielen solcher Lernspiralen). Und wenn
es in der Klasse so etwas wie eine gemeinsame Haftung gibt, ist
dies ein zentrales Element der Lehrerentlastung.
Ich kann das an einem Beispiel verdeutlichen: In der 11. Jahrgangsstufe ging es um Konjunkturtheorien, also wie Konjunkturschwankungen erklärt werden aus keynesianischer Sicht, aus
neoklassischer Sicht usw. Es gab heterogene Stammgruppen,
und jede Gruppe bekam einen theoretischen Ansatz zugelost. Es
waren etwa vier Seiten zu lesen und zu exzerpieren. Anschließend sollten die Schülerinnen und Schüler eine zehnminütige
Präsentation vorbereiten und entsprechend visualisieren – also
ein hoher Anspruch in einer durchaus geübten Klasse. Kaum war
das ganze Szenario geschildert, also die Auftragsübergabe
erfolgt, kam ein Schüler zu mir und fragte: „Herr Klippert, was
heißt denn eigentlich Konjunktur?“ Und ich habe gemerkt, wie
in mir das Helfersyndrom aufflammte. Ich wollte ihm das sagen,
weil ich dachte: „Was soll der von dir denken, wenn du das
nicht weißt?“ Sie merken, welche Fallen hier lauern. Ich habe
mich daran erinnert, dass in der Klasse ein Algorithmus eingeführt war, nämlich: „Wenn du selber etwas nicht weißt, frage
erst deinen Tischpartner oder deinen Lernpartner, dann ziehe
das Lexikon zu Rate und erst dann gegebenenfalls die Lehrkraft.“
Entsprechend habe ich reagiert und geantwortet: „Hast du deinen Lernpartner schon gefragt?“ – „Der weiß es auch nicht.“ –
„Dort hinten stehen Wirtschaftslexika, hast du da schon mal
nachgeschlagen?“ „Ich find’s nit.“ Das kennen wir alle. Ich konnte ihm nicht das Gegenteil beweisen, weil ich ihn in dieser
Phase nicht beobachtet hatte. „Hast du deine Tischgruppe
gefragt?“ Und da hatte ich das Gefühl, dass er unsicher wurde.
Wir sind dann zur Tischgruppe hingegangen, und es stellte sich
heraus, dass er noch gar nicht gefragt hatte. Damit war klar,
dass das Problem bei der Gruppe bleiben konnte. Ich habe mich
dann mit freundlichen Worten und mit einem Lächeln auf dem
Gesicht auf meinen Platz zurückgezogen. Ich bin sicher, der
Schüler wäre in der nächsten Stunde nicht wieder so vorschnell
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zu mir gekommen. Nur: In der nächsten Stunde war ein neuer
Lehrer da. Und ich garantiere Ihnen, dass der Schüler das gleiche Muster bei dem neuen Lehrer wieder praktizieren und mit
hoher Wahrscheinlichkeit sofort Hilfe erfahren wird. Deshalb
haben wir diese zermürbenden Löscheffekte. Einer baut etwas
auf, der nächste löscht es wieder. Wenn wir also weiterkommen
wollen, brauchen wir in der Schule Kooperation, um eine konzertierte Arbeit des Forderns und Förderns umzusetzen.
Für die gemeinsame Haftung innerhalb der Klasse ist es von
großer Bedeutung, dass in den Arbeitsteams Heterogenität
gewährleistet ist. Wenn die Schülerinnen und Schüler sich
einen Neigungspartner aussuchen dürfen, müssen wir damit
rechnen, dass sie sich einen aussuchen, der auch nichts
gemacht hat, und dann haben wir ein Problem, weil der Erwartungsdruck fehlt. Wir brauchen Heterogenität, damit sich
Erwartungsdruck aufbaut.
Ein Merksatz, den ich nur immer wieder wiederholen kann, ist,
dass unsere Schülerinnen und Schüler in den Schulen zu wenig
und die Lehrkräfte im Gegenzug zu viel arbeiten. Lernen hat
immer auch etwas mit Arbeit zu tun. Kognitive Wissensnetze
bilden sich nicht dadurch, dass die Kinder hirnlos ein Tafelbild
abschreiben, sondern dadurch, dass sie selber zu Konstrukteuren
von Wissensmustern werden, dadurch, dass sie einen kleinen
Vortrag halten, um auf diese Weise ihr Wissen zu ordnen. Solche Arbeitsschritte sind notwendig, damit die Schüler nachhal-
gestalten können, dann kommen sie auch nicht damit zurecht,
eine Folie oder ein Plakat zu gestalten. Sie brauchen dazu
gewisse grundlegende Fertigkeiten im Bereich der Visualisierung, die wir mit ihnen trainieren müssen, damit sie später im
Fachunterricht angewandt werden können. Beim Thema Heftgestaltung läuft das etwa folgendermaßen ab: Den Schülerinnen und Schülern wird eine defizitäre Heftseite, die aus einer
anderen Klasse kommt, zu einem Thema, das ihnen vertraut ist,
vorgelegt. Diese haben sie neu zu gestalten, zunächst experimentell, ohne Vorgaben, Trial and Error. Dann werden die Produkte verglichen, die Schüler entwickeln daraus Regeln zur
Heftgestaltung. Anschließend erhalten sie eine oder zwei Seiten
Text zu einem neuen Thema, das zum Stoff der Klasse passt,
und sollen daraus eine anschauliche Heftseite gestalten. Es ist
recht schwierig, wenn Sie einen Fließtext in eine grafisch
anspruchsvoll gestaltete Heftseite überführen müssen, deshalb
gibt es eine Entwurfsphase. Am Anfang entwerfen die Schülerinnen und Schüler individuell mit Bleistift so etwas wie ein
Layout. Sodann wird die Entwurfsfassung in Gruppen reflektiert. Danach erfolgt die endgültige Gestaltung in Einzelarbeit,
und am Ende steht eine Art Museumsrundgang, bei dem die
Schüler ein Feedback zu den gestalteten Seiten geben können
(Was ist auf einer Seite besonders gut gelungen? Was ist weniger gelungen bei dieser Seite?), sodass das, worauf es bei der
Gestaltung von Heftseiten ankommt, auf Schülerseite geklärt
wird. Am Ende kommen ergänzende Tipps und Hinweise von der
Lehrperson.
„Kooperation gewährleistet ein höheres Problemlösungspotenzial, vermittelt darüber hinaus
Sicherheit und soziale Geborgenheit, gewährt psychische Entlastung in diesen Reformprozessen.
Reformen sind auch deshalb so schwierig, weil man im Alleingang immer wieder weiche Knie
bekommt, weil man nicht genau weiß, ob man noch auf dem rechten Weg ist. Fazit: Erfolgreiche
Lehrerentlastung verlangt nach konsequenter Zusammenarbeit auf Fach- und Klassenebene.“
tiger lernen. In dem Augenblick, wo ich einem anderen ein
Schaubild beschreibe, einen Rechengang erläutere, werde ich
gleichzeitig mein Fachwissen ordnen und vertiefen müssen. Das
sind entscheidende Arbeitsschritte, und deshalb müssen die
Schüler mehr arbeiten, damit sie nachhaltiger lernen, und die
Lehrkräfte sollten nicht nur im Interesse der Lehrerentlastung,
sondern auch der Lerneffizienz auf Schülerseite weniger arbeiten. Dies gelingt allerdings nur, wenn die Schüler selbstständig
genug sind, wenn sie Methoden beherrschen und mit den Regularien, also bestimmten Abläufen, vertraut sind – in unserem
Beispiel: Erst kommt der Einzelne dran, dann der Lernpartner,
dann die Tischgruppe, dann das Lexikon. Wir brauchen solche
Regelsysteme.
Basis des Ganzen ist die Methodenschulung, ich will das an
einem Beispiel deutlich machen: Wenn Schüler ihr Heft nicht
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Eine Entlastung des Lehrers erfolgt also einmal durch die kleinschrittige Förderung von eigenverantwortlichem Arbeiten und
Lernen bei den Schülerinnen und Schülern und außerdem durch
das Trainieren von grundlegenden methodischen Fertigkeiten.
Entlastung kann weiterhin erreicht werden, indem die Schüler
als Lernberater in den Phasen eingesetzt werden, in denen der
eine etwas weiß, der andere nichts weiß, also in so genannten
organisierten Nachhilfephasen. Oder Schülerinnen und Schüler
werden als Regelwächter eingesetzt, wo es in Partnerarbeit und
Gruppenarbeit darum geht, bestimmte Regeln einzuhalten usw.
Um eine Überforderung der Schüler zu vermeiden, teilen wir die
Überwachungsfunktionen auf, es gibt dann einen Fahrplanüberwacher für Gruppenarbeit, es gibt einen Gesprächsleiter und
einen Präsentator, und das sind verschiedene Personen. Wenn
wir in einer Lerngruppe fünf Schüler haben, bekommt jeder
neben der Sachaufgabe eine Teilfunktion im Bereich der Gruppen-
Czerwenka: Lasst den
Klippert:
PhilippLehrerentlastung
doch mal
Blindtext
zappeln
steuerung, und schon haben wir Assistenten in den Gruppen,
die es uns abnehmen, immer wieder zu intervenieren, wenn in
den Gruppen etwas schief läuft. Also wir brauchen Tutoren, wir
brauchen Assistenten, damit es insgesamt leichter wird.
Cartoon: Mester
Dazu braucht es natürlich bestimmte Prämissen. Wenn Sie so verfahren wollen, muss
stärker mit Zufallsgruppen gearbeitet werden, denn in Neigungsgruppen sind die
Schüler zu ähnlich, dann fehlt der Erwartungsdruck, wie ich oben angedeutet habe.
Es müssen Regeln definiert sein, damit ein
Regelwächter tätig werden kann. Die „Sieben goldenden Regeln“ der Gruppenarbeit
oder der Präsentation müssen geklärt sein,
sodass die Schüler ihre Miterzieher-Aufgabe
wahrnehmen können. Die Teamaufgaben
sind so zu konzipieren, dass Zusammenarbeit notwendig wird. Manche Gruppenarbeit
ist deshalb eine Farce, weil jeder allein arbeiten kann. Es braucht also Aufgabenstellungen, bei denen die Schüler aufeinander angewiesen sind, dann habe ich eine gescheite
Teamaufgabe; defensives Lehrerverhalten
und immer wieder Reflexions- sowie Feedbackphasen, um die Schüler dafür zu qualifizieren, dass sie in eigener Regie zurechtkommen. Maria Montessori hat das in den bekannten Satz gefasst, es sei unser
höchstes Ziel, die Schüler dahin zu bringen, dass sie es selbst
tun können: „Hilf mir, es selbst zu tun.“ Das ist eine edle pädagogische Zielsetzung.
automatisiert hat, zu lösen, das geht nicht zwischen Tür und
Angel. Und deshalb brauchen wir Kooperation, eine konzertierte Aktion, damit wir diesen Anspruch durchsetzen können –
auch gegenüber Eltern durchsetzen können. Es gibt nämlich
Lehrerkooperation ist bei alledem der Königsweg. Sie ermöglicht Arbeitsteilung und höhere Produktivität, denn wenn wir
Lernspiralen, Trainingsspiralen entwickeln und eine konzertierte Arbeit in der Klasse sicherstellen wollen, dann geht das nicht
im Alleingang; wir brauchen diese Kooperation, weil das eine
notwendige Voraussetzung für eine konzertierte Entlastung ist.
Kooperation fördert außerdem die methodische Kreativität der
Lehrkräfte, denn wenn man alleine zu Hause sitzt, fällt einem
eigentlich immer nur das ein, was man schon gemacht hat. Wir
sind hochgradig erfahrungsgeleitet, und deshalb tun wir uns
mit wirklich innovativen Lehr-/Lernverfahren so schwer. Wir
reproduzieren das, was wir intensiv erfahren haben: die Methoden unserer eigenen Lehrer, die recht einförmigen Methoden
der ersten Phase an der Universität und die kleinen Versatzstücke, die wir in der zweiten Phase noch kennen gelernt haben.
Wo ist denn der Grundstock, um heute erfahrungsgestützt
moderne Unterrichtsformen zu praktizieren? Wer von Ihnen hat
ein Rhetoriktraining, Präsentationstraining, Teamtraining oder
Visualisierungstraining absolviert? Das versuche ich auch den
Politikern deutlich zu machen: Wir brauchen eine Weiterbildungsoffensive, ein Trainingsprogramm, damit Lehrkräfte
umlernen können, und zwar in alltagstauglicher Weise. Ich habe
Verständnis für jeden, der sagt, bei laufendem Schulbetrieb
kriege ich die Kurve nicht. Sich von einem Paradigma, das man
auch Eltern, die sagen: „Was, Sie haben meinem Kind nicht
geholfen? Wir werden prüfen, ob der Rechtsanwalt eingeschaltet werden kann.“
Kooperation begünstigt die Verbindlichkeit im Reformprozess.
Damit meine ich, dass wir uns auch gegenseitig an die Ansprüche erinnern müssen, sonst vergisst man im Alltag manches
sehr schnell. Deshalb arbeiten wir mit Klassenteams (dem Klassenlehrer plus zwei Satellitenlehrern aus den Hauptfächern) mit
hohem Stundendeputat bei drei Leuten. So hat man im Lehrerzimmer immer jemanden, der fragt: „Hast du an dieses gedacht,
hast du an jenes gedacht?“ Nur so kann man dem eigenen Vergessen entgegenwirken. Kooperation gewährleistet ein höheres
Problemlösungspotenzial, vermittelt darüber hinaus Sicherheit
und soziale Geborgenheit, gewährt psychische Entlastung in diesen Reformprozessen. Reformen sind auch deshalb so schwierig,
weil man im Alleingang immer wieder weiche Knie bekommt,
weil man nicht genau weiß, ob man noch auf dem rechten Weg
ist. Fazit: Erfolgreiche Lehrerentlastung verlangt nach konsequenter Zusammenarbeit auf Fach- und Klassenebene.
Intelligentes Schulmanagement
Ich bin der Ansicht, dass auch die Schulleitung an den Entlastungsmaßnahmen beteiligt sein sollte. Wir brauchen schlicht
mehr Doppelstunden. Der 45-Minuten-Takt ist, wie schon
erwähnt, der klassische Stressfaktor im alltäglichen Unterricht,
weil die Arbeitsstrecken der Schüler zu kurz sind. Wenn Sie in
dieser Zeitspanne zu einem bestimmten Ergebnis mit Tafelbild
und Hefteintrag kommen wollen, müssen Sie ständig drängen,
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gezielt fragen, in jeder Sekunde hochgradig präsent sein, um
die Schüler dort hinzubringen. Also müssen wir auch vor dem
Hintergrund der neuen Bildungsstandards überlegen, wie wir
die Lernsituation so verändern, dass gedeihliche kompetenzorientierte Arbeitsstrecken der Schüler möglich werden. Wenn
ich in einem Entwurf für eine Lehrprobe sehe, dass 8 Minuten
Gruppenarbeit vorgesehen sind, dann frage ich mich, wie das
funktionieren soll. Bis alle richtig am Platz sind und den
Arbeitsauftrag gelesen haben, ist die Zeit um. Es gibt meist
irgendwelche hellen Schüler, die sich vielleicht vorher schon
etwas gedacht haben und uns dann ein Ergebnis präsentieren.
Wir kriegen mit einzelnen Schülern scheinbar gute Ergebnisse,
und dann wird verallgemeinert: „Die Schüler haben gelernt … “
Ich habe mich früher als Lehrer manchmal gefragt, wer außer
mir noch etwas gelernt hat, weil ich ständig aktiv war, ständig
organisiert, strukturiert, verbalisiert habe. Ich war derjenige,
der konstruktiv gearbeitet hat. Im Sinne der Lehrerentlastung
und der Lerneffizienz muss sich dies im Verhältnis umkehren,
aber dazu brauchen wir mehr Doppelstunden.
Abschließend noch ein paar Stichpunkte:
Wir brauchen weniger Gesamtkonferenzen, dafür mehr produktive Fachkonferenzen. Wenn Sie drei Gesamtkonferenzen
pro Jahr in einer Schule streichen und dafür die neun Stunden,
die frei werden, für Workshops nutzen, haben Sie etwas Produktives für den Fachunterricht getan.
Wir brauchen die Freistellung einzelner Lehrkräfte, damit
diese Lernprozesse möglich werden. Und wir brauchen Lehrkräfte, die im Team Fortbildungen besuchen, Workshops
machen, Unterricht erproben.
Wir brauchen in den Schulen feste Zeitfenster für Teamsitzungen, weil die üblichen, von Fall zu Fall getroffenen Vereinbarungen zermürbend sind; dadurch entsteht viel Wirkungslosigkeit und in der Folge auch mangelnde Kooperation.
Innovationsprojekte zu bündeln, das habe ich eingangs
schon gesagt, ist für mich ein wichtiger Ansatz, damit wir
Boden unter die Füße bekommen. Jürgen Habermas hat von der
verheerenden Wirkung der neuen Unübersichtlichkeit im politischen Bereich gesprochen; das können wir auf Pädagogik übertragen. Je unübersichtlicher das Feld, desto geringer ist die
Handlungsbereitschaft der Akteure. Ich kann den Führungskräften in den Schulen nur empfehlen, zu bündeln, zusammenzuführen oder bestimmte Dinge auch auszumisten und vorübergehend wegzulassen.
50
Wir brauchen die Einbindung der Eltern, weil viele Reformansätze viel besser gelingen, wenn die Eltern überzeugt davon
sind. Eltern sind gerade im Bereich von Unterrichtsentwicklung
die besten Bündnispartner, wenn sie wissen, worum es geht.
Diese Aufgabe kann nicht landesweit geregelt werden. Eltern
für diese Innovationsprozesse zu gewinnen, die hier oder dort
auch mit Teilfreistellung verbunden sind, gehört auf die einzelschulische Ebene.
Umverteilung der Entlastungsstunden. Es gibt in vielen
Schulen Poolstunden – wenn wir die mal auf den Prüfstand stellen, merken wir, dass solche Entlastungsstunden zum Teil für
Zwecke vergeben werden, die man zumindest mit Fragezeichen
versehen muss. Auch hier vermag man schulorganisatorisch
etwas zu verbessern.
Studientage als Workshoptage. Ich halte es für ganz gefährlich, dass die Studientage bundesweit in zunehmendem Maße
gestrichen werden. Wie soll ein Schulentwicklungsprogramm in
die Köpfe eines Kollegiums eindringen, wenn keine Kompaktfortbildung stattfindet. Eine Sparstrategie, bei der die Lehrkräfte nicht weiterlernen können, ist eine fatale Sparstrategie,
weil sie die Schule letztlich stigmatisieren würde. Das kann
nicht das Ziel sein.
Für unsere Klassenteams brauchen wir hohe Stundenzahlen,
das muss schulorganisatorisch geregelt werden.
Und der letzte Punkt: Wir brauchen so etwas wie offensives Fundraising. Wenn wir Präsentationstraining mit Schülern
machen wollen, fehlt es teilweise an Pinwänden, an PinwandBespannungspapier, an Stiften oder an irgendwelchen kleineren
Utensilien, die für eine sinnvolle Visualisierung nötig sind. Es
sind gar nicht so große Summen, die fehlen. Wenn die Schulträger aber nicht genügend Geld geben können, müssen wir
zusehen, wie wir diese Ressourcen sicherstellen, weil uns
andernfalls viele Möglichkeiten von vornherein verbaut sind.
Wenn Sie ermutigt worden sind, am Montag anzufangen,
würde ich mich freuen. Selbst ist die Frau, selbst ist der Mann,
ist ein geflügeltes Wort. Wir können nicht alles selbst regeln,
aber wir haben einige Möglichkeiten im eigenen Regiebereich,
die Lehrerentlastung voranzutreiben. Packen Sie es an. Ich wünsche Ihnen ganz viel Erfolg.
Gaile: „Lesen macht schlau“
STATEMENT
Dorothee Gaile
Dorothee Gaile ist Gymnasiallehrerin für Neue Sprachen und Lehrerfortbildnerin am Amt für Lehrerbildung
in Frankfurt am Main. Sie leitet das Projekt „Lese- und Sprachförderung“ mit Fokus auf der Sekundarstufe I.
Arbeitsschwerpunkt: Internationale Best-Practice-Modelle der Leseförderung, insbesondere des angloamerikanischen Raums.
Problemstellung: Leseförderung in weiterführenden Schulen –
zu spät oder „just in time“?
Man müsse, so kann man in einem Erziehungsratgeber lesen,
sein Kind „in Wörtern baden“. Dass es zur Förderung von Kindern
durch Sprechen und Lesen kaum zu früh sein kann, ist unstrittig.
Überzeugend umgesetzt wurde diese Erkenntnis im englischen
aber als magische Fähigkeit betrachten, über die sie eben nicht
verfügen. Ein solch negatives Selbstkonzept wird oft durch eine
misserfolgsbelastete Bildungslaufbahn genährt und bleibt nicht
auf Schülerinnen und Schüler in Hauptschulen und Integrierten
Gesamtschulen beschränkt. Jugendliche, die sich selbst eine
Identität als Nichtleserinnen und Nichtleser zuschreiben, sind
in allen Schulformen zu finden. Gestützt wird die Auffassung,
In ihrem Vortrag „LESEN MACHT SCHLAU: NEUE LESEPRAXIS FÜR WEITERFÜHRENDE SCHULEN“ stellt
DOROTHEE GAILE, Leiterin eines Projekts zur Lese- und Sprachförderung am Amt für Lehrerbildung/
Frankfurt am Main, einen in Kalifornien erfolgreich eingesetzten Leselehrgang vor, der leseungeübten
und -unwilligen Jugendlichen neue Zugänge zum Wissenserwerb in allen Fächern eröffnet und selbst
gute Leser noch ein Stück weit voranbringt. Der praxisorientierte, ganzheitliche Förderansatz bietet
eine Vielzahl von Zugängen zu unterschiedlichsten Texten sowie innovative Wege zum Beurteilen und
Fördern von Leseleistungen.
Bookstart-Programm (vgl. http://www.bookstart.co.uk), das
seit 2000 alle englischen Neugeborenen kostenlos mit einer
Erstausstattung an Büchern und die beteiligten Eltern mit
Anleitungen zum Vorlesen versieht.
Wie aber steht es mit denjenigen jungen Menschen, die in ihrer
Kindheit nicht in den Genuss des eingangs erwähnten „Wörterbades“ kamen ? Wie steht es mit denen, deren Schul- und späterer Berufserfolg nicht zuletzt aufgrund von Motivations- und
Kompetenzproblemen im Lesen gefährdet ist? In Deutschland
ist unverändert beinahe ein Viertel der untersuchten Jugendlichen nicht imstande, einfachste Leseaufgaben zu bewältigen.
Die seit dem Bekanntwerden der PISA-Ergebnisse geführte
intensive Diskussion geht u. a. der Frage nach, ob und wie es
möglich ist, bei dieser nicht zu übersehenden Gruppe leseschwacher bzw. leseunwilliger Mädchen und Jungen in weiterführenden Schulen eine Richtungsänderung zu bewirken und
so deren Ausbildungs- und Lebensperspektiven im Sinne einer
„zweiten Chance“ entscheidend zu verbessern.
Nicht alle Teilnehmer der Diskussion vertreten eine optimistische Sicht. Zu den Pessimisten gehören häufig die Jugendlichen
selbst, die Lesekompetenz gleichsam als biologische Größe oder
dass es zum Lesenlernen für Jugendliche eigentlich bereits zu
spät sei, auch dadurch, dass kompetentes Lesen überwiegend
als Voraussetzung, nicht aber als Ziel schulischer Lernprozesse
in Mittel- und Oberstufe betrachtet wird. Unzureichende Lesekompetenz wird mithin gerne als ein Versäumnis der Grundschule qualifiziert.
Angesichts des vorab skizzierten verbreiteten „Starrens auf
die Defizite“, wie es die Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft
für Lesen und Schreiben, Renate Valtin, in einem Interview mit
der Tageszeitung formuliert hat, haben wir uns im hessischen
Lehrerfortbildungsprojekt mit Fokus auf der Sekundarstufe I auf
die Suche nach Erfolg versprechenden Best-Practice-Modellen
für die von uns adressierte Altersgruppe begeben. Bei dieser
„pädagogischen Schatzsuche“ eröffnete das Credo einer Gruppe kalifornischer Leseförderer neue Perspektiven auch für leseschwache und leseunwillige deutsche Jugendliche. Es lautet:
„If Johnny can’t read in class 9 it’s not too late.“ Mit dieser Formel
präsentierte sich der Förderansatz Reading Apprenticeship (zu
Deutsch: Fachausbildung im Lesen), der beim Schulforschungsinstitut WestEd in San Francisco beheimatet ist. Er erschien
passgenau, sozusagen: just in time, für die Jugendlichen, denen
unser besonderes Augenmerk gilt.
51
Was ist das Neue und Besondere an diesem Förderansatz?
Bei einem ersten Studium dieses Programms treten vier Merkmale besonders hervor:
1. Reading Apprenticeship stellt sich dar als eine ganz und gar
zukunftsgerichtete „Leseausbildung“, die so genannte „Leselehrlinge“ in einer „kognitiven Meisterlehre“ zu Leseexpertinnen
und Leseexperten werden lässt. Es geht also nicht (negativ)
um die bohrende Analyse von Defiziten in der Lesekompetenz
Jugendlicher, sondern (positiv) um die tatkräftige Ausrichtung
auf Ziele.
2. Innovativ erscheint auch der konsequent auf alle sprachbasierten Fächer, gerade auch die Sachfächer, und jeweils die
gesamte Lerngruppe bezogene Förderansatz der Leseausbildung.
3. Bemerkenswert ist zudem der hohe Erfolgsgrad, überzeugend nachvollziehbar am Motivations- und Kompetenzzuwachs
der nach diesem Ansatz unterrichteten Jungen und Mädchen.
Diese veränderten innerhalb eines Zeitraums von nur sieben
Monaten ihre Einstellung zum Lesen grundlegend. Außerdem
erreichten sie im Schnitt einen Kompetenzzuwachs im Lesen
von zwei akademischen Jahren. Fortschritte wurden von lesestarken wie leseschwachen Schülerinnen und Schülern erzielt,
wobei die Leistungsschwachen in besonderem Maße profitierten. Sie konnten ihren Rückstand in den Ergebnissen standardisierter landesweiter Tests vollständig aufholen.
Die qualitativ wie quantitativ zu verzeichnenden Erfolge
erscheinen umso beachtlicher, als sie unter schwierigen pädagogischen Rahmenbedingungen erzielt wurden. Das Programm
wurde zuerst angewendet bei ethnisch und leistungsmäßig
stark heterogenen Neuntklässlern einer Highschool in einem
der ärmsten Viertel der Millionenstadt San Francisco, unter
ihnen ein hoher Prozentsatz von Lernenden mit Migrationshintergrund und mit belasteter Bildungskarriere. Angesichts der
anspruchsvollen Curricula dieser Highschool mit mathematischnaturwissenschaftlichem Schwerpunkt sowie angesichts der in
Standards und zentralen Tests festgeschriebenen Erwartungen
an die Jugendlichen waren neue Wege gefragt, um die jungen
Menschen „an die Texte“ zu bringen.
4. Beispielhaft erscheint das Engagement einer kleinen Gruppe von Lehrerinnen und Wissenschaftlerinnen um die Leseforscherinnen Dr. Cynthia Greenleaf und Ruth Schoenbach, die
sich zwei Jahre lang freiwillig am Wochenende in Klausur
begab, um nach produktiven Lösungen zu suchen. Im Ergebnis
entstand ein Qualitätszyklus für die Schulentwicklung mit folgenden Elementen:
einer gemeinsamen Konzeptentwicklung durch Leseforscherinnen und Unterrichtspraktikerinnen,
der umfassenden schulpraktischen Erprobung und soliden
Evaluation des Konzepts in der genannten Pilotstudie und
mehreren Folgestudien,
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der Einbettung in ein Netzwerk der Lehrerfortbildung,
und nicht zuletzt der anschaulichen Dokumentation des
Projekts in Buchform, die den Nachvollzug des Vorgehens
in den einzelnen Arbeitsschritten ermöglicht.
Was begründet den hohen Erfolgsgrad des Förderprogramms?
Diese Dokumentation von Cynthia Greenleaf und Ruth Schoenbach kann ich Ihnen heute in Buchform in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Lesen macht schlau – Neue Lesepraxis für
weiterführende Schulen“ – erschienen bei Cornelsen Scriptor –
vorstellen. Sie gibt Auskunft darüber, was in der Summe und im
Detail den hohen Erfolgsgrad des Programms begründet:
Den Ausgangspunkt bildet die feste Überzeugung, dass die
Entfremdung der Schüler von den schulischen Lesewelten prinzipiell aufhebbar ist. Dabei wird Lesen als aktiver komplexer
Problemlöseprozess verstanden, der im schulischen Rahmen
dann gelingt, wenn neben der Expertise der Unterrichtenden
auch die oft verkannten Stärken und vielfältigen Lebenserfahrungen der Jugendlichen genutzt werden. In einer Lebenssituation, in der Jugendliche neue Identitäten ausprobieren und annehmen, können sie nur durch entsprechende Wertschätzung
und Motivation dazu ermuntert werden, eine neue Identität als
Leserinnen und Leser zu erproben und sich auf diese Weise
zunehmend zu Expertinnen und Experten ihrer eigenen Leseund Lernprozesse entwickeln.
Vor diesem Hintergrund entsteht ein umfassender Referenzrahmen für das Lesen, basierend auf den vier zentralen Dimensionen
des Unterrichtsgeschehens – der sozialen, der personalen, der
kognitiven und der inhaltlich-fachlichen Dimension. Die „soziale Dimension“, das Herstellen eines Sicherheit stiftenden WirGefühls im Klassenraum, ist eine unverzichtbare Gelingensbedingung für dieses Programm. So entstandenes Vertrauen erst
macht den Lernenden Mut zum intensiven Austausch über das
Gelesene, in dem auch Verständnisprobleme und Fehler als
(Um-)Wege des Textverstehens ihren Platz haben und in dem
die Konstruktion von Textbedeutung als gemeinsame Aufgabe
von Lehrern und Schülern verstanden wird.
Im vitalen Austausch mit den anderen entwickelt sich ein
Bewusstsein der eigenen Biografie als Leserin oder Leser, der
eigenen Lesegewohnheiten, Vorlieben, Abneigungen beim
Lesen, die „personale Dimension“. Dabei wird die Bedeutung
des Lesens in Abhängigkeit von der eigenen kulturellen-, Gender- und Peer-Group-Zugehörigkeit sowie den eigenen Lebensund Berufszielen bewusst wahrgenommen und neu definiert.
(Stellvertretend sei hier ein Zehntklässler zitiert, der die Leseausbildung rückblickend als den „Wendepunkt“ seiner Laufbahn
bezeichnete.)
Sicherheit erlangen die Jugendlichen durch ein ganzes Bündel
mentaler „Werkzeuge“, das ihnen das Verstehen von Texten und
die Behandlung von Problemstellen (Stolpersteinen des Verstehens) in der „kognitiven Dimension“ erleichtert. Zentral ist
Gaile: „Lesen macht schlau!“
dabei die Vorstellung, dass nicht nur sichtbare Aktivitäten wie
das Fahrradfahren oder das Kochen sozial vermittelt werden
können, sondern dass dies ebenso für unsichtbare kognitive
Aktivitäten wie Denken, Lesen, Rechnen gilt. In der Tradition
des russischen Psychologen Lem S. Wygotski werden auch diese
als prinzipiell darstellbar und damit durch kompetente Andere
vermittelbar betrachtet. Nicht durch theoretisches Erläutern,
sondern durch Modellieren, d. h. kleinschrittiges Demonstrieren
und lautes Denken, praktiziert der Lehrer in einem kognitiven
Training als kompetenter Anderer die methodischen Textzugänge. Diese erproben die Schüler unter seiner Anleitung anschließend – gleichsam an einem Haltegeländer, um sie zunehmend selbstständiger anzuwenden und zu verinnerlichen. Als
kompetente Andere sind alle Fachlehrerinnen und Fachlehrer
gefragt. Gute Informationsverarbeitung – so wird es den Schülern
in allen Fächern bewusst gemacht – beruht auf „strategischem“,
d. h. aufgaben- und zielbezogenem Einsatz von Lesetechniken.
Die bewusste Auswahl dieser Werkzeuge wird bei der Interpretation eines Gedichts anders ausfallen müssen als beim Erschließen einer historischen Quelle, beim Studium einer Versuchsanleitung in Chemie anders als bei einem Diagramm in einem sozialkundlichen Fachbuch. Das Förderprogramm hält daher einen
ganzen „Werkzeugkasten“ für verstehendes Lesen bereit, mit
Strategien zur Optimierung der Prozesse vor, während und
nach der Begegnung mit den Texten.
So wächst die Fähigkeit und Zuversicht der Jugendlichen,
anspruchsvolle Inhalte in Schule und Freizeit gedanklich verarbeiten zu können und sich Kenntnisse über Textstruktur, fachspezifische Denkmuster und fachliche Inhalte zunehmend
selbstständiger anzueignen, „die wissensbildende Dimension“.
Die Orchestrierung des hier vorgestellten interaktiven Lernund Lehrumfelds im Unterricht ist Grundlage des Erfolgs der
strategischen Leseausbildung gemäß „Lesen macht schlau“.
Wie gestaltet sich die Umsetzung von „Lesen macht schlau“
in der unterrichtlichen Praxis?
Im Praxisbuch werden Organisationsmodelle für die unterrichtliche Umsetzung des Förderkonzepts vorgestellt, die stets im
heterogenen Klassenverband geschieht. Die Autoren geben
zunächst einen Überblick über das Curriculum eines einjährigen
Intensivkurses mit den Bausteinen „Persönliche und gesellschaftliche Bedeutung des Lesens“, „Lesen als Zugang zur
Geschichte“, „Die vielfältigen Lesewelten der Medien“ sowie
„Lesen im Bereich von Naturwissenschaften und Technik“. Auch
als Komponente des regulären Unterrichts, z. B. in den Fächern
Englisch, Mathematik oder Sozialkunde, entfaltet die „Leseausbildung“ große Wirksamkeit. Dies wird anhand zahlreicher Praxisbeispiele verdeutlicht.
Ein entscheidender Faktor ist die Entwicklung eines langen
Leseatems, also eine Art Ausdauertraining beim und durch Lesen. Seinen didaktischen Ort hat das Viellesen in regelmäßigen
„Stilllesephasen“, der so genannten „freien Lesezeit“ während
des Unterrichts, in dem die Schüler selbst gewählte Bücher –
laut Lernvertrag mindestens 200 Seiten pro Monat – erlesen
und ihre gedankliche Auseinandersetzung mit dieser Lektüre in
Lesetagebüchern, durch Buchpräsentationen u. a. dokumentieren. Lesen macht Lust auf Lesen: Nur so ist die Tatsache zu interpretieren, dass die Schüler den Umfang ihrer Freizeitlektüre
laut Ergebnis der Fragebögen zu ihrem Leseverhalten im Laufe
der Leseausbildung verdoppelten.
„In Deutschland ist unverändert beinahe ein Viertel der untersuchten Jugendlichen nicht imstande, einfachste Leseaufgaben zu bewältigen. Die seit dem Bekanntwerden der PISA-Ergebnisse geführte intensive Diskussion geht u. a. der Frage nach, ob und wie es möglich ist, bei
dieser nicht zu übersehenden Gruppe leseschwacher bzw. leseunwilliger Mädchen und Jungen
in weiterführenden Schulen eine Richtungsänderung zu bewirken und so deren Ausbildungsund Lebensperspektiven im Sinne einer ,zweiten Chance‘ entscheidend zu verbessern.“
Eng verknüpft werden die vier Dimensionen durch den gedanklichen Austausch über das eigene und fremde Denken und Lernen, das so genannte „metakognitive Gespräch“. Es besitzt eine
innere Seite, nämlich die individuelle Zwiesprache mit dem
Text, und eine äußere Seite, die im Aushandeln von Bedeutungen in der Gruppe besteht. Lebenspraktische Erfahrungen kommen dabei ebenso zur Sprache wie emotionale Reaktionen auf
Texte oder verwendete Strategien. Dieser Diskurs ermöglicht
die Regulation der eigenen Leseprozesse ebenso wie die Einschätzung eigener und fremder Zugangswege zu Texten.
Zum Lesen verführt auch während des regulären Unterrichts
die Vielfalt der Textwelten. Ein klassischer Roman hat in dieser
Ausbildung ebenso seinen Platz wie ein Hypertext, die Lyrik
eines Rap-Songs ebenso wie der Sportteil der Zeitung, so
genannte „Torhüter“-Texte wie landesweite Vergleichsarbeiten
sind gleichermaßen Lese- und Studienobjekte wie die multimedialen Botschaften der Werbung. Dieser Textkosmos holt die
Schüler bei ihren Leseerfahrungen und -interessen ab und lädt
ein zu selbstständigem, Kenntnis wie Genuss vermittelnden
Lesen in Schule und Freizeit.
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Die anspruchsvollen fachlichen Inhalte werden durch Routinen
des Verstehens zugänglich gemacht. Hier nimmt der klar strukturierte Gruppenprozess des Lernens durch reziprokes Lehren
nach den amerikanischen Lesedidaktikerinnen Palincsar und
Brown einen hohen Stellenwert ein. Dabei übernehmen alle
Schüler abwechselnd die Rolle des Lehrers oder Experten in
ihren Kleingruppen und trainieren dabei Schlüsselstrategien
wie z. B. das Formulieren von Fragen an den Text, Zusammenfassen, Vorhersagen des weiteren Textinhalts und Klären von
Verständnisproblemen.
Eine häufig praktizierte Form des kooperativen Lernens bei der
„Leseausbildung“ ist auch der Dreischritt aus individueller Reflexion, Austausch im Paargespräch und anschließender Plenumsarbeit (Think – Pair – Share). Abwechslungsreiche Sozialformen
des Lesens wie der „literarische Zirkel“ oder das Buddy Reading
(Lernpartnerschaft im Lesen) sprechen die verschiedenen Lerntypen an.
Die eigenen Lese- und Lernprozesse sind Gegenstand fortlaufender Reflexion, etwa in Form von Lesetagebüchern und Beobachtungsbögen zum Textverstehen. Zusammen mit Unterrichtsmitschnitten, Interviews zum Lesen und Portfolios zu
Leseprojekten bieten sie den Lehrern umfassende Einblicke in
individuelle Kompetenzentwicklung. Momentaufnahmen der
Lese- und Verstehensprozesse liefern den Unterrichtenden wert-
Assoziationen, Hypothesen, Beurteilungen zutage. Als Experten
können auch Schülerinnen und Schüler fungieren, die Fachtexte ihrer Interessensgebiete wie etwa Zeitschriftenartikel, technische Manuale oder Internet-Materialien vor den Augen und
Ohren der Mitschüler entschlüsseln. Ein solcher Blick „hinter
den Vorhang beim Lesen“ hilft schwachen Leserinnen und
Lesern besonders.
Übungssequenzen machen die Jugendlichen mit dem veräußerlichten lauten Denken vertrauter. Zunehmend verinnerlicht wird
dieser Prozess durch das „Denken auf Papier“, das sich schließlich beim routinierten Lesen unsichtbar vollzieht.
„Lesen macht schlau“ – eine sinnvolle Ergänzung deutscher
Förderansätze?
Der ganzheitliche, nicht zuletzt auch auf intensive Schulentwicklung zielende Ansatz von „Lesen macht schlau“ entfaltet in
der Synthese seiner zahlreichen Komponenten eine Dynamik,
von der auch die deutschen Bildungsstrategen sowie die Pädagogen vor Ort profitieren können. Denn bei genauem Hinsehen
zeigt sich, dass die inzwischen zahlreichen deutschen Förderprogramme zur Verbesserung der Lesekompetenz kaum eigens
auf die Zielgruppe der leseschwachen Schülerinnen und Schüler
abgestellt sind. Das ergab eine Expertise, die das Berliner Max
Planck Institut für Bildungsforschung im Auftrag des Bundes-
„Die Umsetzung der Vision, Schüler zu eigenständigen, kritischen und interessierten Lesern
zu machen, erfordert auch weiterhin die produktive Zusammenarbeit von Lehrern und Wissenschaftlern. Um das Konzept weiter zu verbessern, möchten wir die vielfältigen Erfahrungen unserer Leserinnen und Leser nutzen und diese zu einem Gesprächsaustausch einladen.“
(Cynthia Greenleaf und Ruth Schoenbach)
volle Bausteine der Lernprozessanalyse. Herkömmliche Leistungsmessungen können mit diesen förderdiagnostischen
Instrumenten sinnvoll ergänzt werden.
Eines der vielen vorgestellten „mentalen Werkzeuge“, mit denen
eine solche Förderung in Gang gesetzt werden kann, ist die
Routine des lauten Denkens. Dabei eröffnen die Leseexpertinnen
den Schülern einen Blick hinter die Kulissen ihres eigenen
Lesens, lassen sie teilhaben an den „Geheimnissen ihrer Kunst“.
Als Fachleute verfügen sie über domänenspezifische Zugänge,
häufig, ohne diese bewusst einzusetzen. So etwa wird ein
Geschichtslehrer andere Routinen des Lesens entwickeln als ein
Mathematiklehrer. Ein Naturwissenschaftler wird einem Text
Klarheit und Eindeutigkeit abverlangen, während schillernde
Vieldeutigkeit für einen Sprachlehrer gerade den Reiz eines Textes ausmachen mag. Beim „lauten Denken“ fördern die Leseexperten ihre gewöhnlich verborgenen gedanklichen Routinen,
54
ministeriums für Bildung und Forschung im Jahre 2005 erstellt
hat. Die Expertise Förderung der Lesekompetenz hat – neben den
äußerst umfangreichen positiven Förderansätzen, die sehr stark
auf „Lesekultur“ und „Lesemotivation“ ausgerichtet sind, einige
„weiße Flecken“ auf der Deutschlandkarte der Leseförderung
ausgemacht. Genannt werden etwa
die Koordinierung der Leseförderung als Auftrag aller Fächer
und Schulstufen,
die Differenzierung der Fördermaßnahmen für schwache
Leserinnen, z. B. für Schülerinnen anderer Muttersprachen,
oder für männliche Jugendliche,
die Vermittlung von strategischen Textzugängen.
Die Berliner Bildungsforscher weisen darauf hin, dass just den
Strategien „verstehenden Lesens“, bei denen der eigene Leseprozess thematisch ist, ein hohes Potenzial zugeschrieben wer-
Gaile: „Lesen macht
Blindtext
schlau“
den muss. Es fehlt jedoch häufig, was andererseits für bedeutsam erachtet wird. Genaue Vorgehensweisen beim „verstehenden Lesen“ werden in den Schulen noch zu selten vermittelt,
obwohl erwiesenermaßen gerade die leseschwachen Schülerinnen und Schüler von strategischen Zugangswegen zu Texten
besonders profitieren.
Im Lichte dieser Widersprüchlichkeiten, die die Deutschlandkarte der Leseförderung sichtbar macht, kommt dem vorgestellten Projekt im Kontext unserer Bildungslandschaft seine
eigentliche Bedeutung zu. Denn die Leseausbildung nach
Schoenbach und Greenleaf wird von einem Konzept getragen,
welches Textverständnis (im Sinne von „verstehendem Lesen“)
ganz groß schreibt und sozusagen schon gestern den heutigen
Desideraten deutscher Bildungsforscher entsprochen hat.
Die Mitarbeiter des Projekts „Lese- und Sprachförderung“ am
hessischen Amt für Lehrerbildung betrachten es daher als einen
ausgesprochenen Glücksfall, dass sich in den vergangenen drei
Jahren eine intensive transatlantische Kooperation mit den
kalifornischen Leseexpertinnen aufbauen ließ. Bei gemeinsamen Veranstaltungen hier in Deutschland und bei der Teilnahme an einem intensiven Trainingsprogramm in den USA konnten wir das kalifornische Konzept in Theorie und Praxis eingehend kennen lernen und dieses für unsere Multiplikatorenschu-
lung als „ansteckendes positives Bild“ für die Lehrerfortbildung
nutzen. Dies umso mehr, als dem Projekt großer Erfolg beschieden ist. Aus der vorab erwähnten kleinen Gruppe von Leseförderern erwuchs ein tragfähiges Netzwerk in der Lehrer(fort)bildung, das inzwischen in 28 Staaten der USA in den Klassen 6
bis 12 sowie in mehreren Universitäten zum Einsatz gelangt.
Erst unlängst wurde das Projekt vom US-Bildungsministerium
mit einem hoch dotierten Forschungspreis ausgezeichnet, mit
dessen Hilfe zurzeit die Bedingungen seines außergewöhnlichen Erfolgs untersucht werden.
Ich leite daher abschließend sehr gerne die folgende Einladung
der kalifornischen Leseexpertinnen, die sie im Epilog ihres Praxisbuchs aussprechen, an Sie weiter. Dort heißt es: „Die Umsetzung der Vision, Schüler zu eigenständigen, kritischen und
interessierten Lesern zu machen, erfordert auch weiterhin die
produktive Zusammenarbeit von Lehrern und Wissenschaftlern.
Um das Konzept weiter zu verbessern, möchten wir die vielfältigen Erfahrungen unserer Leserinnen und Leser nutzen und
diese zu einem Gesprächsaustausch einladen.“
Gemeinsam mit den amerikanischen Autorinnen lade ich Sie
herzlich ein, die im Praxisbuch „Lesen macht schlau“ vorgestellten Ideen und Materialien zu erproben und uns an Ihren
Erfahrungen teilhaben zu lassen.
55
STATEMENT
Dieter Breithecker
Dieter Breithecker, Dr. phil., MA, geb. 1953, studierte Sport, Anglistik und Pädagogik in Gießen. Seit 1981
hauptamtlicher Mitarbeiter, jetzt Leiter der Bundesarbeitsgemeinschaft für Haltungs- und Bewegungsförderung e. V. in Wiesbaden. Seit 1993 Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für gesundheitsfördernde
Schulen, hier: Leiter der Arbeitsgruppe „Bewegte Schule“; seit 1993 Gründungsmitglied des Internationalen
Forums für Bewegung - Repräsentant und Projektleiter für die „Bewegte Schule“ in Deutschland. Seit 1999
nebenamtlich Lehrbeauftrager für die „Bewegte Schule“ am Institut für Sportwissenschaften der Universität
Karlsruhe. Zahlreiche Veröffentlichungen. Vortragstätigkeit im In- und Ausland.
Dosierte Bewegung verbessert den Prozess des Lernens –
Bewegte Kinder – schlaue Köpfe
Natürlich können auch unbewegte Kinder schlaue Köpfe
bekommen, aber von der Physiologie des Menschen her
betrachtet ist Bewegung ein Teil der Entwicklung, auch der
Gehirnentwicklung. Sie wissen ja, dass Bewegungsmangel
heute ein Problem darstellt, nicht nur für die junge, sondern
ist eine Strategie der Kinder, um körperlich und geistig zu überleben. Wenn wir wache Kinder haben wollen, wird auch das
Thema Schulmöbel ein wichtiges Thema für die Zukunft sein
müssen.
Bewegungsmangel ist ein gesellschaftliches Problem. Schon in
den Kindergärten gibt es die Medienpädagogik, um diese jungen Kinder sukzessive an die Technik heranzuführen. Und es
Körper, Geist und Seele leben von der Bewegung. Nur durch Bewegung können sie sich ganzheitlich
und harmonisch entwickeln, ohne dass einer der drei Aspekte benachteiligt wird. Und diese Entwicklung benötigt Zeit, um zu ihrem Abschluss zu kommen. Dies alles wird in der Schule heute noch viel
zu wenig berücksichtigt. Unterstützt durch praktische Demonstrationen, bei denen die Zuhörerinnen
und Zuhörer die aufmunternde Wirkung von Bewegung „am eigenen Leib“ erfahren konnten, zeigte der
Sport- und Bewegungswissenschaftler Dr. DIETER BREITHECKER in seinem Vortrag „BEWEGTE KINDER –
SCHLAUE KÖPFE“ Alternativen zur statisch-passiven Sitzschule auf. Dynamisches Sitzen sowie bewegungsgesteuerte Unterrichtssituationen bewirken, dass Kinder nicht „sitzen bleiben“, sondern
besser lernen.
auch für die mittlere und ältere Generation. Freilich ist bei der
jungen Generation das Problem besonders gravierend, weil sie
sich noch im Heranwachsen befindet. Das, was ich und viele
von Ihnen in der Kindheit erfahren haben, vier, fünf Stunden
körperliche Aktivität im Wald, auf der Wiese, auf Bäumen, das
erfahren die Kinder heute nicht mehr. Sie werden anders sozialisiert, und das hat natürlich auch Auswirkungen auf ihre ganzheitliche Entwicklung, auf Körper, Geist und Seele.
Natürlich müssen wir als Verantwortliche in Kindergarten und
Schule uns heute Gedanken machen, wo wir die Kinder denn
noch bewegen können. In der Schule gibt es die Aktion „Bewegte Schule“, die den Schulalltag rhythmisieren möchte und die
Bewegung nicht nur auf den Pausenhof, sondern auch ins Klassenzimmer bringen will. Das können sportive Elemente sein,
aber – und das wird später noch Thema sein – auch das
Bewegen während der Sitzzeiten. Sie alle haben sicher schon
die leidige Erfahrung gemacht, dass Ihnen irgendwann mal ein
kippelndes Kind mit dem Stuhl umgefallen ist. Doch das Kippeln
56
stehen dafür schon optimale Ressourcen zur Verfügung; die Kinder dürfen sich dort auch noch bewegen, zwei Mal am Vormittag müssen sie ins Freie. Aber das entspricht nicht dem psychomotorischen Bedürfnis eines Kindes, vor allen Dingen nicht seinem Rhythmisierungsbedürfnis. Der Mensch wird vom Tag seiner Geburt an immer mehr mit der Statik konfrontiert, und Statik ist etwas, das der Körper gar nicht gut verträgt. Kinder brauchen primär nicht einmal Sport, sondern Bewegung. Erst über
die Bewegung finden Sie den Zugang zum Sport, und erst durch
Bewegung sichert man auch den Beruf des Sportlehrers. Wenn
Kinder nicht balancieren oder nicht Ball spielen, werden sie
auch nie einen positiven Zugang zum Ballsport oder zu sportlichen Techniken haben, bei denen die Gleichgewichtsfähigkeit
eine wichtige Rolle spielt.
Aber zurück zur Statik: Wenn Sie jetzt einmal Ihren rechten Arm
heben und ihn oben behalten, praktizieren Sie eine statische
Arbeit gegen die Erdanziehungskraft. Wenn Sie das so statisch
machen, findet keine Durchblutung statt, und schon nach kur-
Breithecker: Bewegte Kinder – schlaue Köpfe
zer Zeit spüren Sie ein Prickeln in den Fingern, am liebsten würden Sie den Arm wieder herunternehmen, was Ihnen auch
gestattet sei. Wenn Sie anschließend den linken Arm heben, ihn
aber bewegen und auch den Körper rhythmisch dazu bewegen,
dann ist das die gleiche körperliche Arbeit, aber das Ganze ist
jetzt dynamisch, d. h., Sie haben eine regelmäßige Ver- und
Entsorgung der arbeitenden Organe, und das können Sie viel,
viel länger durchhalten. Irgendwann wird es langweilig, und
Langeweile erzeugt auch Ermüdung, deswegen brechen wir das
jetzt ab.
Sie haben durchaus gespürt, dass es einen Unterschied zwischen statischer Belastung und dynamischer Belastung gibt. Die
Qualität, das Funktionieren der Organe, auch des Gehirns, lebt
von der Dynamik. Wenn zu lange Statik herrscht, dann ermüden
die Organe, sie verkümmern. Durch zu viel Statik gerät der
Mensch immer mehr in eine Trägheitsfalle, d. h., das Blut staut
sich in seinen Blutgefäßen, das Kalzium schwindet aus den
Knochen. (Wir finden heute schon Jugendliche, die aufgrund
von Bewegungsmangel erste Osteoporose-Erscheinungen auf-
weisen. Auch der Knochen braucht für seine Entwicklung Bewegung.) Der Geist weicht aus dem Gehirn; der Körper wird
schlapp und träge; der Lebensmut weicht aus der Seele. Hier
geht es um das Ganzheitliche. Geist, Körper und Seele müssen
in der Balance sein, und diese Balance wird der Mensch nur
erlangen, wenn er seine Balancefähigkeit trainiert.
Wir sind von unserer Entwicklungsgeschichte her körperliche
Höchstleister. Im Schnitt sind wir in früheren Zeiten 17 Kilometer am Tag gegangen, das war die Grundlage des Überlebens.
Heute gehen wir im Schnitt gerade einmal 700 Meter. Aber wir
tragen das genetische Erbe unserer Vorfahren noch in uns.
Erstaunlicherweise durchlaufen Kinder die Entwicklungsgeschichte vom Vierfüßler zum Zweifüßler noch einmal, die Nutzung der Fingermotorik, das Training des Balancesystems. Dies
ist die Voraussetzung auch für hirnphysiologische Entwicklungsprozesse. Deswegen müssen Kinder klettern. Klettern ist
etwas, das wir in unseren Genen haben. Es ist vorprogrammiert. Wer das nicht entfaltet, der wird insgesamt Probleme
mit seiner Entwicklung haben. Kinder müssen balancieren, und
zwar nicht dort, wo alles abgesichert ist, sondern gerade dort,
wo es wagnisbesetzt, ja teilweise auch riskant ist.
Wir alle können von Kindern lernen. Wer von Ihnen kommt
denn auf die Idee, in eine Pfütze hineinzuspringen? Sie verbinden mit der Pfütze sofort Schmutz, Nässe und eventuell Erkältungskrankheit. Aber das Kind rennt hin und springt mit Wonne
hinein. Sein wachsendes Gehirn, das über das Auge die Information „Pfütze“ bekommt, sagt dann zum Körper: „Jetzt spring
hier hinein“, weil es weiß, dass es ebenso wie der Körper nur
über Entwicklungsreize seine biologische Ausdifferenzierungsqualität erhält. Ähnlich verhält es sich mit dem kippelnden
Kind. Auch bei ihm sagt das Gehirn zum Körper: „Beweg dich,
damit mein Organismus Impulse bekommt.“
Wenn Sie jetzt Ihre beiden Hände flankierend rechts und links
zu den Augen führen, können Sie Ihre Nachbarinnen und Nachbarn nicht mehr sehen, ohne den Kopf nach links oder rechts
zu drehen. Ohne den Schutz der Hände können Sie sie aus dem
peripheren Winkel gerade noch erkennen. Erwachsene haben
eine periphere Sehfähigkeit von ca. 180 Grad. Kinder verfügen,
wenn sie in die Schule kommen, nur über eine periphere Sehfähigkeit von 120 Grad. Das Auge braucht wie jedes Sinnesorgan
eine lange Zeit, bis seine endgültige Entwicklungsqualität erreicht ist. Beim Einschulungstest können 30 Prozent der
Kinder nicht mehr 10 Sekunden oder länger sicher auf einem
Bein stehen, weil ihr Gleichgewichtsorgan nicht altersgemäß
trainiert ist. Was ganz wichtig ist und was uns bewusst werden
muss: Heranwachsen bedeutet nicht nur, jedes Jahr ein paar
Zentimeter größer werden, es bedeutet, dass sich organische
Funktionen biologisch ausdifferenzieren müssen, und das dauert 18, 19 Jahre.
Struktur- und Leistungsfähigkeit der Organe – auch des Gehirns –
werden bestimmt durch das Maß ihrer Beanspruchung. Wenn
die Kinder auf die Welt kommen, wollen sie sich lustvoll freiwillig schinden. Dafür werden sie das angemessene Maß finden,
weil sie so ihre organische Entwicklung organisieren. Sie
fordern sich, damit die organische Entwicklung gefördert wird.
Der Erwachsene greift hier störend, hemmend ein: „Sei vorsichtig, fall da nicht runter, mach dich nicht schmutzig!“ Kinder, die kein Wagnis eingehen können, die nichts riskieren können, werden auch keine Risikokompetenz entwickeln. Kinder,
denen wir alles absichern, werden auch keine Selbstsicherungsfähigkeit entwickeln können. Kinder, die sich nichts trauen
dürfen, werden auch kein Selbstvertrauen entwickeln können.
Das sind ja die Kernkompetenzen, die in den ersten 10, 11
Lebensjahren erworben werden. In dieser Zeitspanne wird die
Basis für das Leben gelegt, hat das Gehirn seine sensibelste Entwicklungsphase.
Säuglinge haben mit dem Tag der Geburt etwa 100 Milliarden
Nervenzellen, die zwar schon vernetzt sind, aber im Laufe der
nächsten Jahre ihre Synaptogenese, also die neuronale Vernetzung, optimieren. Vernetzte Strukturen werden freigelegt, und
57
deswegen müssen Kinder Dinge tun, die dynamisch sind, da
sich diese hirnphysiologische Qualität sonst nicht ausdifferenzieren könnte. Kinder nutzen – anders als Erwachsene – einen
Stuhl als Turngerät, und das ist elementar für ihre Entwicklung.
Es sind ganz bestimmte Bewegungen, die Kinder brauchen,
etwa balancieren. Kinder haben einen vestibulären Reizhunger.
Jeder, der ein Kind hat, hat es vermutlich schon einmal hochgeworfen und natürlich wieder aufgefangen. Wie war die Reaktion? Ein Juchzen, ein Quieken, ein Schreien. Ein Erwachsener
würde wahrscheinlich nicht so reagieren, für Kinder aber ist das
elementar – für ihre Hirnentwicklung, für ihre persönliche, individuelle Intelligenzentwicklung. Kinder, die man hochwirft und
wieder auffängt, juchzen allerdings nicht nur, weil sie einen vestibulären Reizhunger haben, sondern weil hierbei auch die Emotionen positiv entfaltet werden. Sie tun das gerne.
Bein zu stehen, dann wären Sie für die nächste Viertelstunde
wieder hellwach geworden.
Jetzt wissen Sie auch, warum Kinder in der Schule so viel Lust
auf solche Bewegungen wie das Kippeln, das Schwingen und
Schaukeln auf dem Stuhl haben. Daher müssen wir hinsichtlich
unserer Bewegungsförderung in den Turn- und Sporthallen
umdenken. Kinder balancieren heutzutage nicht mehr auf
Baumstämmen. Folglich müssen wir solche Segmente, Bewegungslandschaften, Balancierlandschaften, in den Kindergarten
und in den Sportunterricht integrieren. Die Kinder brauchen
Herausforderungen. Wenn man im Unterricht statt immer nur
zu denken einmal aufsteht und sagt, wir gehen ein bisschen frische Luft schöpfen, entstehen häufig die besten Gedanken.
Beim Spazierengehen, bei der Gartenarbeit hat man tolle
„Durch zu viel Statik gerät der Mensch immer mehr in eine Trägheitsfalle … Der Geist weicht
aus dem Gehirn; der Körper wird schlapp und träge; der Lebensmut weicht aus der Seele. Hier
haben Sie das Ganzheitliche. Geist, Körper und Seele müssen in der Balance sein, und diese
Balance wird der Mensch nur erlangen, wenn er seine Balancefähigkeit trainiert.“
Wer von Ihnen regelmäßig joggt – dazu zählt auch Walken,
Fahrradfahren, Schwimmen –, wird wissen, dass man sich
danach wohlfühlt. Wissen Sie auch, warum? Weil Sie dabei zwei
Drittel Ihrer gesamten Körpermuskulatur einsetzen. Damit wird
so viel Blut in den Körper hineingepumpt, dass noch die letzte
Zelle mit Sauerstoff versorgt wird – auch Gehirnzellen. Bei
bestimmten körperlichen Aktivitäten sind Hormone beteiligt,
und das sind bei moderaten Ausdauerbelastungen Glückshormone, die Endorphine.
Als anderes Beispiel nenne ich Ihnen das Schwingen, Schaukeln
und Balancieren der Kinder. Wenn Sie sich auf ein Bein stellen
und für ein paar Sekunden die Augen schließen, ist dies eine so
genannte Gleichgewichtsaufgabe. Wir stellen damit eine verstärkte Anforderung an unsere Sensomotorik. Unter einer solchen Herausforderung kommt ein Hormon zum Tragen, das
Neurotrophin (,Neuro‘, die Nervenzelle, und ,Trophin‘, der Aufbau). Es sorgt dafür, dass die Synaptogenese, die ihre sensibelste Entwicklungsphase im Alter bis zum zehnten, elften Lebensjahr hat, unterstützt und bei einem Erwachsenen erhalten
wird. Und dass das Gehirn auf eine hohe Funktionstüchtigkeit
gebracht wird. Wenn Sie schon den einen oder anderen Vortrag
miterlebt haben, der eine Stunde dauerte, dann haben Sie
wahrscheinlich die Erfahrung gemacht, dass Sie nach 25, 30
Minuten nicht nur immer krummer dasaßen, sondern auch,
dass Ihre Aufmerksamkeit abnahm. Wenn Sie die Körpersensorik
nicht aktivieren, ermüden Sie; das nennt man die Trägheitsfalle. Hätte der Referent Sie dann aufgefordert, aufzustehen
und für ein paar Sekunden mit geschlossenen Augen auf einem
58
Einfälle. Bewegung aktiviert die Körpersensorik, die wiederum
dafür sorgt, dass das Gehirn in einen Wachzustand gebracht
wird. Diese Erkenntnisse sind heute neurowissenschaftlich
abgesichert: Bewegung führt zur Veränderung neuronaler Formund Funktionsstrukturen. Und das können wir von den Kindern
lernen.
Aber wir wissen auch, dass Bewegung keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Kinder, das ist untersucht worden, bewegen sich
heute im Grundschulalter im Schnitt bloß eine Stunde am Tag,
sitzen aber zehn Stunden in der Schule und zu Hause vor den
Medien. Ich kann nur mit dem Neurophysiologen Manfred Spitzer mahnend sagen: „Vorsicht Bildschirm!“ Die Sozialisation der
Kinder ist eine Sozialisation, bei der sie verstärkt, ja im Übermaß Fern-Sehen und Zu-Hören, ganz bewusst betont, denn
dadurch werden primär die Fernsinne wie Auge und Ohr aktiviert. Es gibt wissenschaftliche Belege dafür, wie Sie bei Spitzer
finden können, dass eine sehr enge Kausalität besteht zwischen
der Quantität und der Qualität des Fernsehens und ADS/ADHS,
aber auch Übergewicht.
Doch wir haben noch mehr Sinne als Auge, Ohr, Nase, Mund,
Haut, unsere fünf Sinnesorgane. Es gibt noch ein ganz wichtiges Sinnessystem, unser sechstes Sinnessystem, das Gleichgewichts-, Muskel- und Bewegungssystem, das für die Koordination zuständig ist. Und das ist genauso bedeutsam wie die übrigen fünf Sinne. Aber es wird heute zu wenig beansprucht, und
deswegen haben Kinder, schon wenn sie in die Schule kommen,
Probleme nicht nur beim Einbeinstand, sondern auch bei solch
Breithecker: Bewegte Kinder – schlaue
Blindtext
Köpfe
einfachen doppelkoordinativen Aufgabenstellungen wie z. B.
einen Hampelmann springen. Diese Kinder werden auch
Schwierigkeiten mit dem Rechnen- und Schreibenlernen haben.
Ganz provokativ gesagt: Diejenigen, die nicht sicher rückwärts
gehen können, werden auch Schwierigkeiten haben, vorwärts
zu denken.
Einheitsmobiliar. Das allein ist vielleicht nicht das Problem,
aber es ist belastend. Es sind immer die Summen der Belastung
zusammen mit einer noch geringen Belastungsverträglichkeit.
Schon ist das Ganze nicht mehr ausgewogen und es kommt zu
Entwicklungsstörungen beim Kind. Ossifikation ist die Entwicklung vom Knorpel zum Knochen; wir sprechen manchmal
Foto: VdS Bildungsmedien
Eine ausgewogene Ernährung ist wichtig für die
gesunde Entwicklung von Kindern, das wissen
wir alle. Aber wenn wir keine ausgewogene Sinneskost haben und nur die Fernsinne aktivieren,
dann gerät das Gehirn, das ja noch in seiner
biologischen Ausdifferenzierungsphase ist, in
Unordnung. Dementsprechend sind multiple
Entwicklungsstörungen – Verhaltensstörungen,
Haltungsstörungen, Bewegungsstörungen, Wahrnehmungsstörungen – hier neben anlagebedingten Faktoren vorprogrammiert.
Bewegung ist Leben, Leben ist auch Bewegung.
Doch sobald die Kinder in die Schule kommen,
wird aus dem bewegungsfreudigen Spielkind ein
Sitzkind. Seit man die Bundesarbeitsgemeinschaft für Haltungs- und Bewegungsförderung
im Jahre 1961 gegründet hat, haben vor allem
In seinem Vortrags animierte Dieter Breithecker sein Publikum zum Mitmachen und
die Orthopäden immer wieder mahnend den Findemonstrierte so die insgesamt aktivierende Wirkung von Bewegung.
ger gehoben und gesagt, dass die Kinder, wenn
sie nicht zwischendurch mal aufstehen und sich
bewegen, Rückenprobleme bekommen werden.
Aber es entwickelt sich ja nicht nur der Rücken, es entwickelt davon, dass Kinder noch Gummiknochen haben, das heißt, sie
sich das Kind als ganzes, Körper, Geist und Seele. Und Bewe- haben höhere Knorpelanteile. Wenn wir aber junge Menschen
gung ist eben die Grundlage für eine ausbalancierte körperliche, verstärkt in passive, krumme, sitzende Körperhaltungen zwingeistige und seelische Entwicklung. Wir finden heute Stühle in gen, dann ist der Deformationsprozess vorprogrammiert. Die
den Schule, die noch das gleiche Design aufweisen wie vor 40, Heranwachsenden von heute haben zudem eine geringere
50 Jahren. Die Funktion dieser Stühle war es eigentlich, dem Belastungstoleranz, weil sie ihre Organe nicht adäquat belastet
körperlich schwer arbeitenden Menschen eine Pause zu ver- und damit in ihrer Entwicklung unterstützt haben. Immer mehr
schaffen. Deswegen haben die Stühle eine Rückwärtsneigung, Kinder klagen über Kopfschmerzen, Rückenschmerzen und
eine Mulde, in der das Gesäß aufgefangen und fixiert wird; der haben Konzentrationsprobleme in den Schulen.
Rücken lehnt sich an die meist starre Rückenlehne, und das
Gehirn sagt zum ganzen Körper: „Pause!“ So ist Sitzen ja auch Lust auf Schule, Lust auf Lernen – was brauche ich dafür? Etwa
konzipiert, als Ruhehaltung. Sehr schnell wird dabei der Rücken einen Unterricht, der statisch ausgerichtet ist, bei dem nach
rund, weil die muskuläre Spannung aufgehoben wird. Das ist an 20, 25 Minuten oder noch früher, ausgelöst durch statische
sich kein Problem. Das Problem ist die Zeitdauer zwischen Hin- Rahmenbedingungen, das geistige Vagabundieren anfängt? Kinsetzen und Aufstehen, die in den letzten 20, 30, 40 Jahren ein- der fühlen sich wohl, wenn sie nicht ständig sitzen, sondern
fach länger geworden ist. Nach einer gewissen Zeit sackt der auch einmal stehen, und wenn sie Stühle haben, auf denen man
Rumpf immer weiter nach unten, das Becken muss dann nach dynamisch sitzen kann. Bewegung heißt, den körperlichen
vorne geschoben werden, damit der Rumpfschwerpunkt unter- Bewegungsbedürfnissen adäquate Rahmenbedingungen zu
stützt wird. In einer solchen Haltung kann ein Schüler nicht geben. Wir könnten lange darüber diskutieren, was eine gesungeistig wach sein. Auch wenn wir immer nur den Kopf des Kin- de Schule oder eine gute Schule ist. Mit Sicherheit braucht eine
des in die Schule schicken wollen, geht dennoch immer das gute Schule auf der einen Seite Zufriedenheit und auf der andeganze Kind. Und wenn der Körper passiv ist, kann das Gehirn ren Seite adäquate geistige Beanspruchung, wobei ja Zufrienicht aktiv sein.
denheit auf mehreren Komponenten basiert. Deswegen ist es
wichtig, dass wir immer wieder die Bedürfnisse des Menschen,
Ein weiterer Aspekt ist, dass die Kinder unterschiedlich groß vor allen Dingen des Schülers berücksichtigen: z. B. Dynamik,
sind. Bei zwei 14- oder 13-Jährigen kann der Größenunterschied Bewegung, Veränderung der Körperhaltung. Dann die Verhältbis zu 60 Zentimeter betragen. Trotzdem sitzen sie auf einem nisse, die wir der Einfachheit halber Bewegungsergonomie nen-
59
nen, d. h. anpassbare Produkte, Stühle und Tische, Stehoptionen, Alternativen. Und natürlich auch das, was der Lehrer leisten sollte: Bewegung in den Unterricht, in die Kognition mit
integrieren – aus all dem resultiert Zufriedenheit.
Ihre Bewegungsergonomie regeln die Schüler im Großen und
Ganzen selbst. Wenn sie in sich zusammensacken, fangen sie
nach einer gewissen Zeit an, auf dem Stuhl zu wippen und das
Becken zu drehen. Sie erinnern sich, was ich anfangs gesagt
habe, dass das Gehirn dann den Körper aktiviert und sagt: „Tu
Stühle, auf denen man auch verkehrt herum sitzen konnte; die
Tischplatten waren schräg, damit Bewegung möglich wurde.
Die Kinder konnten wahlweise Stehen, und es gab Liegemöglichkeiten. Im Unterricht und in den Pausen standen Geräte zur
Verfügung, die es den Schülerinnen und Schüler ermöglichten,
zu klettern und zu balancieren. Die Unfallkasse hat dies zuerst
nicht erlaubt, doch der Schulleiter hat sich durchgesetzt, weil
Klettern, wie er sagte, ein Bestandteil seines Schulprojekts
gesunde, gute Schule sei. Bewegung ist für die Kinder ein wichtiger Aspekt der Schulzufriedenheit.
„Bewegung aktiviert die Körpersensorik, die wiederum dafür sorgt, dass das Gehirn in einen
Wachzustand gebracht wird. Diese Erkenntnisse sind heute neurowissenschaftlich abgesichert:
Bewegung führt zur Veränderung neuronaler Form- und Funktionsstrukturen. Und das können
wir von den Kindern lernen.“
was, damit ich geistig und körperlich überleben kann.“ Und deswegen berücksichtigen gute Schulen solche Bedürfnisse, indem
sie Möbel zur Verfügung stellen, die relativ einfach an die Körpergröße des Kindes anzupassen sind, bei denen sich der Körper
auch einmal bewegen darf und diese Bewegung sich auch entfalten kann.
Wenn Sie stehen, haben Sie die Freiheit, ihre Körperhaltung zu
verändern. Das ist gut so, weil dann eine rhythmische Entlastung möglich ist und die Körpersensorik aktiviert wird. Aus diesem Grund sagen wir, dass Stehen physiologischer ist als Sitzen.
Irgendwann werden aber die Beine müde, und dann ist wiederum das Sitzen temporär durchaus akzeptabel. Wenn Sie nur
zehn Minuten sitzen, ist dafür auch eine Apfelsinenkiste geeignet, aber wir sitzen heute längere Zeit, weshalb wir dem Körper die Optionen, die er beim Stehen hat, auch beim Sitzen bieten müssen. Das Becken muss seine Position verändern können,
denn das Becken ist die Basis der gesamten Haltung. Wenn sich
seine Position ändert, bewegt sich die Wirbelsäule und
bewegen sich die unteren Extremitäten mit. Wenn Kinder wippen, signalisieren sie uns ihre körperliche Bedürftigkeit nach
Bewegung. Beim Wippen wird der Kopf hin und her bewegt. Das
Gleichgewichtsorgan und die Körpersensorik werden dadurch
aktiviert und bringen das Gehirn wieder in einen entsprechenden Wachzustand. Und dann haben Sie natürlich die Beinbewegung, die garantiert, dass die Blutzirkulation angeregt wird,
denn das Blut ist in die unteren Extremitäten herabgesackt.
Sobald Sie die Wadenpumpen aktivieren, ist auch wieder Blut
im Organismus.
An der Fridtjof-Nansen-Schule in Hannover haben wir über vier
Jahre ein Pilotprojekt veranstaltet unter dem Motto: „Wie sieht
das Klassenzimmer der Zukunft aus?“ Dabei ging es vorwiegend
um den Aspekt Bewegung. Die Schüler bekamen beispielsweise
60
Auch im Unterricht kann ich kognitive Dinge mit spielerischer
Bewegung unterstützen (etwa durch Spiele im Englischunterricht, bei denen zugleich die Bezeichnungen für die Körperteile eingeübt werden). Zu diesem Thema gibt es auch Bücher, die
deutlich machen, wie man beim Lernen alle Sinne mit integrieren kann. Bewegtes Lernen heißt handlungsorientiertes Lernen.
Lehren heißt, nicht nur optisch und akustisch, sondern auch
über die Körpersensorik Inhalte zu vermitteln.
In der erwähnten Pilotschule haben wir über vier Jahre hinweg
untersucht, wie das Körperverhalten mit erweiterten dynamischen Möglichkeiten im Klassenzimmer im Vergleich mit einer
ganz „normalen“ Grundschule aussieht. In der Pilotschule haben
über 50 Prozent der Kinder durch die bewegten Verhältnisse
nicht statisch, sondern dynamisch gesessen; die Kinder suchten
sich diese Sitzposition natürlich auch selbst aus. Dann haben wir
es durch Stehoptionen immerhin geschafft, dass 20 Prozent der
Kinder auch im Stehen gearbeitet haben. Es gab ein Stehpult,
das in den Unterrichtsprozess integriert wurde. Projektarbeit,
Freiarbeit, Wochenplanarbeit konnten die Kinder im Liegen,
aber auch im Stehen erledigen. Und dann waren es durch diesen
bewegten Unterricht immerhin 20 Prozent, bei denen körperliche Aktivitäten zum Tragen kam; marginal war das Liegen. Und
es blieben nur 4,8 Prozent Situationen übrig, in denen die Kinder mehr als drei Minuten statisch gesessen haben.
Die Kontrollgruppe, in der es keine besonderen Bewegungsoptionen gab und deren Lehrer auch nicht entsprechend geschult
waren, zeigte zu über 60 Prozent belastende statisch-passive
Körperverhaltensweisen. Natürlich macht man in der Grundschule heute bewegten Unterricht, aber die Frage ist immer,
was subjektiv als ausreichend empfunden wird und was objektiv für die Entwicklung der Kinder notwendig ist. Für den Büroalltag von Erwachsenen fordert man heute, sie sollten nur zu
Breithecker: Bewegte Kinder – schlaue
Blindtext
Köpfe
50 Prozent sitzen, zu 25 Prozent stehen und die übrigen 25 Prozent ihrer Arbeitsplatzsituation so organisieren, dass körperliche Dynamik zum Tragen kommt. Sie können sich vorstellen,
mit welchem Aufwand wir arbeiten müssten, um annähernd an
diese Forderung heranzukommen.
In Bezug auf die Konzentrationsfähigkeit hat unsere so genannte Pilotschule mit ihren Bewegungsoptionen während der
Unterrichtszeiten hochsignifikant besser abgeschnitten. Bewegung hat förderliche Auswirkungen auf den Prozess des Lernens, das ist inzwischen wissenschaftlich belegt. Fingerbewegungen, Grimassen schneiden, Kaugummi kauen, Wippen auf
Stühlen oder auf Gymnastikbällen, Balanceaufgaben – das alles
sind ja symbolische Aufgaben, bei denen die Körpersensorik
oder die Fingermotorik aktiviert wird. Das wirkt sich, wie
berichtet, auf Stoffwechselprozesse im Gehirn, auf die Durch-
blutung, auf hormonelle Ausschüttungen und auf die Synaptogenese aus. Insofern kann man sagen, dass Bewegung nicht nur
vom Kopf kommt, sondern auch dem Kopf nutzt. Wenn Sie Kinder befragen, welchen Vorteil sie persönlich spüren, wenn sie
sich bewegen dürfen, dann kommen Aussagen zum Tragen wie:
„Das Gedächtnis wird ein wenig heller“, „Ansonsten rostet das
Gehirn ein“ und „Man kann auch nicht vernünftig denken,
wenn man immer nur so passiv da sitzt“ und vor allen Dingen
auch das Emotionale: „Das macht mehr Spaß“. Da sollte uns
schon ein Licht aufgehen hinsichtlich der Tatsache, dass Bewegung und Rhythmisierung förderlich sind. Auf der Website
www.haltungundbewegung.de können Sie sich diese Informationen in vertiefter und ausdifferenzierter Form herunterladen
und auch die geeigneten Medien dazu finden, wie Sie bewegte
Unterrichtsformen gestalten können.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
61
Podien / Diskussionen
Mit dem Regierungsantritt 2003 hat die neue Landesregierung in einer zuvor kaum gekannten
Geschwindigkeit umfassende Maßnahmen der Bildungsreform bis hin zu schulstrukturpolitischen
Änderungen durchgeführt. Der niedersächsische Kultusminister BERND BUSEMANN und die bildungspolitischen Sprecher der niedersächsischen Landtagsfraktionen INGRID ECKEL (SPD), KARL-HEINZ
KLARE (CDU); INA KORTER (Bündnis 90/Die Grünen) und HANS-WERNER SCHWARZ (FDP) diskutierten
und stritten über das Erreichte und die weiteren Perspektiven: „WEGWEISEND ODER ÜBERHASTET?
DIE BILDUNGSPOLITIK IN NIEDERSACHSEN“.
Moderation: Jörg Kallmeyer, Hannoversche Allgemeine Zeitung
Bernd Busemann
Bernd Busemann, geb. 1952. Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Köln. Erstes juristisches
Staatsexamen 1979. Nach Referendariat beim OLG Oldenburg Zweites juristisches Staatsexamen 1982. Seit
1982 Rechtsanwalt, seit 1985 Notar. Mitglied der CDU seit 1971. Abgeordneter im niedersächsischen Landtag
seit 1994; stellvertretender Vorsitzender der CDU-Landtagsfraktion seit 1998. Seit 2003 niedersächsischer
Kultusminister.
Ingrid Eckel
Ingrid Eckel, geb. 1944. Studium der Germanistik, Geografie und Pädagogik in Saarbrücken und Mainz.
Danach Realschullehrerin in Speyer; 1977-98 in Wolfsburg. Seit 1972 Mitglied der SPD; 1991-96 Erste
Bürgermeisterin, 1996-2001 Oberbürgermeisterin der Stadt Wolfsburg; seit 2001 Vorsitzende des Schulausschusses. 1998 Einzug in den niedersächsischen Landtag; bildungspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion
Niedersachsen.
Karl-Heinz Klare
Karl-Heinz Klare, geb. 1948. Lehre als Bankkaufmann. Erlangung der Hochschulreife über den 2. Bildungsweg. Studium an der PH Münster. Grund- und Hauptschullehrer in Diepholz. Bis 1986 Schulamtsdirektor in
den Landkreisen Schaumburg und Osnabrück. Mitglied der CDU seit 1974. Seit 1986 Kreistagsabgeordneter
im Landkreis Diepholz; Mitglied des niedersächsischen Landtages seit 1986; seit 2003 stellvertretender Vorsitzender der CDU-Fraktion und deren bildungspolitischer Sprecher im niedersächsischen Landtag.
62
Busemann/Eckel/Klare/Korter/Schwarz: Bildungspolitik in Niedersachsen
Blindtext
Ina Korter
Ina Korter, geb. 1955. Studium und Referendariat in Gießen; nach dem Zweiten Staatsexamen Haupt- und
Realschullehrerin mit den Fächern Geschichte und Kunst/Visuelle Kommunikation. Seit 2000 Lehrerin an
einer Schule für Erziehungshilfe. Mitglied der Grünen seit 1982; 1991-96 Kreistagsabgeordnete im Landkreis
Wesermarsch; 1996-98 im Stadtrat von Nordenham. 1998 Wahl in den Landesvorstand von Bündnis 90/Die
Grünen; 1998-2003 Beisitzerin im niedersächsischen Landesvorstand, dort frauenpolitische Sprecherin.
2003 Wahl in den niedersächsischen Landtag. Stellvertretende Vorsitzende der Landtagsfraktion von Bündnis
90/Die Grünen in Niedersachsen.
Hans-Werner Schwarz
Hans-Werner Schwarz, geb. 1946. Grund- und Hauptschullehrer mit den Fächern Mathematik, Sport und Erdkunde. Bis 2003 Lehrer in Diepholz. Mitglied der FDP seit 1973. Seit 1980 Ratsherr, 1996-99 und seit 2003
Bürgermeister der Stadt Diepholz. Seit 1984 Vorsitzender des FDP-Kreisverbandes Diepholz. Seit 1986 im
Kreistag des Landkreises Diepholz. 1996-2003 stellvertretender Landrat. Stellvertretender Vorsitzender des
FDP-Bezirks Osnabrück. Mitglied des Landesvorstandes der FDP Niedersachsen. 2003 Wahl in den niedersächsischen Landtag; dort stellvertretender Vorsitzender der FDP-Fraktion.
STATEMENT
Bernd Busemann
Ich bin seit heute morgen 9.00 Uhr hier auf der „didacta – die
Bildungsmesse“ unterwegs an den Ständen, habe mehrere Veranstaltungen besucht, und mir scheint sich eine Art Leitthema
herauszukristallisieren, dem man hier auf der Messe wie auch in
der gesamten Diskussion immer wieder begegnet: Wie wird es
in Zukunft, wie sieht die eigenverantwortliche Schule aus, welche Schritte sind wann zu erwarten? Die Szene scheint hier
nach vorne zu denken, nicht nach rückwärts zu schauen. Ich
sehe mich in diesen Tagen der Kritik aus unterschiedlichsten
Richtungen ausgesetzt. Die einen sagen: „Er hat drei Jahre
nichts getan, der gehört weg“, und die anderen sagen: „Der
macht so viel, er muss sich langsam mal schonen, die Dinge
müssen sich setzen können.“ Vielleicht liegt die Wahrheit in der
Mitte.
Ich will einmal drei, vier Jahre zurückblenden. Die riesige Belastung im Lande durch die Strukturdebatten musste irgendwann
geklärt werden, was auch geschehen ist. Wir haben nach der
letzten Landtagswahl mit dem Auftrag der Wähler ein Schulgesetz gemacht, in dem nach langer, reiflicher Überlegung festgeschrieben wurde, dass wir in Niedersachsen im System des
gegliederten Schulwesens bleiben. Die Gesamtschulen, die wir
haben, lassen wir unangetastet, die Orientierungsstufe schaffen wir ab, aber wir machen keinen vollständigen Systemwechsel und führen plötzlich ein schulisches System wie in Finnland,
Frankreich, Korea oder sonst wo ein. Das hätte ja auch niemand
bezahlen können, es hätte Standorte gekostet, Schulträgerbelange gestört und, und, und.
63
Zugleich waren wir uns darüber im Klaren, dass einiges an
Reformen zu leisten war. Ich will einige Bereiche einmal ansprechen, und es ist doch eine ganze Menge, was da in den letzten
Jahren stattgefunden hat. Durchaus auch mit Vorarbeiten durch
die Vorgängerregierung, man war auch ein Stück weit gemeinsam unterwegs. Was haben wir also gemacht? Wir haben die
Kindertagesstätten dem Schulministerium zugeschlagen, weil
wir wissen, dass wir am Fundament anfangen müssen, wenn
wir ein Schulwesen insgesamt verbessern wollen. In den Kitas
Unternehmen, eine Firma, eine Schule arbeitet, desto besser
das Ergebnis – wenn die Ressourcen stimmen. Und es ist unser
Ziel, für unsere Schülerinnen und Schüler die bestmöglichen
Bildungswege, die bestmöglichen Abschlüsse entsprechend zu
organisieren. Nun herrscht sehr oft noch Unklarheit, was man
sich eigentlich unter einer eigenverantwortlichen Schule vorzustellen hat. In der Szene weiß man das, doch der Normalbürger
auf der Straße oder am Stammtisch kann sich darunter nichts
Rechtes vorstellen.
„Dann ist es jetzt an der Zeit, dass wir den in der Reformbewegung wesentlichen Punkt der
eigenverantwortlichen Schule regeln. Dabei wollen wir jetzt nicht über Begrifflichkeiten,
ob autonom, selbstständig oder eigenständig usw., streiten. Wir konnten aus PISA die Lehre
ziehen - das sagt uns im Übrigen auch die Wirtschaft: Je eigenverantwortlicher ein Unternehmen, eine Firma, eine Schule arbeitet, desto besser das Ergebnis - wenn die Ressourcen
stimmen. Und es ist unser Ziel, für unsere Schülerinnen und Schüler die bestmöglichen
Bildungswege, die bestmöglichen Abschlüsse entsprechend zu organisieren.“
wurde nicht nur die Sprachstandsfeststellung eingeführt, sondern auch unsere Sprachförderung mit 300 Vollzeitlehrerstellen
umgesetzt. Sprachförderung, mehr Unterricht an den Grundschulen, Abschaffung der Orientierungsstufe, die Regelung der
Durchlässigkeit in den Klassenstufen 5 und 6, das ist ja in der
Tat ein komplizierter Bereich für die Hauptschule, Berufsorientierung in den Ganztagsschulen, wie auch generell mehr Ganztagsschulen, mehr Stunden in der Realschule. Den gymnasialen
Bereich haben wir anders organisiert, das Abitur nach Klasse 12
ist schon verinnerlicht. Wir werden 2011 den letzten 13er- und
den ersten 12er-Abitursjahrgang haben und, und, und.
Wir haben also schon eine ganze Menge miteinander geleistet,
und ich weiß, dass ich der Lehrerschaft, den Schulen, den
Schulträgern, allen Beteiligten mit unterschiedlicher Gewichtung eine ganze Menge aufgebürdet habe. Ich weiß, dass gerade die Schulleitungen sehr stark strapaziert waren, aber die
Lehrerschaft insgesamt hatte natürlich diesen Umstrukturierungsprozess auszuhalten. Das ist mir völlig klar. Aber wenn wir
durch PISA wissen, dass Handlungsbedarf da ist, dann kann ich
mich nicht darauf herausreden, dass es fünf oder zehn Jahre
dauert, bis es politisch opportun oder von der Finanzierbarkeit
her machbar ist. Man muss es tun, selbst wenn man die Schule
als Ganzes belastet.
Dann ist es jetzt an der Zeit, dass wir den in der Reformbewegung wesentlichen Punkt der eigenverantwortlichen Schule
regeln. Dabei wollen wir jetzt nicht über Begrifflichkeiten, ob
autonom, selbstständig oder eigenständig usw., streiten (da
stecken manchmal im kleinen Begriff schon große Botschaften). Wir konnten aus PISA die Lehre ziehen – das sagt uns im
Übrigen auch die Wirtschaft: Je eigenverantwortlicher ein
64
Eigenverantwortliche Schule heißt zunächst einmal, in der
Schulverfassung zu regeln, was die Schulleitung, was die
Gesamtkonferenz und die anderen Beteiligten zu tun, zu lassen
und zu sagen haben. Es wird eingeführt, und das wurde mit
dem letzten Schulgesetz 2003 schon angelegt, dass Qualitätsentwicklung an jeder Schule stattzufinden hat und auch in der
Schule verantwortet werden muss. Zur eigenverantwortlichen
Schule gehört auch das große Thema Unterrichtsorganisation.
Wenn die Bildungsstandards, wenn die Messlatten richtig
gesetzt sind, dann ist dem Kultusminister relativ egal, wie die
Schule das macht. Nur muss er am Ende verantworten, dass das
Gesamtergebnis stimmt. Budgetierungsmöglichkeiten gehören
zur Eigenverantwortlichkeit wie auch das ganze Thema Personalmanagement, das Komplizierteste an dem Ganzen.
In welchen Schritten gehen wir vor? Ich habe mich, wenn Sie
so wollen, für den geringstnotwendigen Eingriff entschieden.
Ich will keine völlig neue Schulverfassung machen, nicht alles
durcheinanderwirbeln, keine völlig neuen Formen. Ich sage,
dass es für das Anliegen, Eigenverantwortlichkeit und Qualitätsentwicklung selber auszuüben, ausreicht, wenn wir die
Schulleitung insofern stärken, als der Schulleiter oder die Schulleiterin auch als Vorgesetzte der dort beschäftigten Lehrerinnen
und Lehrer, aller dort Tätigen agieren. Das bedingt entsprechend, dass der Zuständigkeitskatalog der Gesamtkonferenz in
gewisser Hinsicht zurückzufahren ist. Zwar bleibt deren Kompetenz so, wie sie in der Grundverfassung festgeschrieben ist,
weil sie über Schulprogramm, -versuche und Haushalte mitzubestimmen hat, ihr also viel, viel mehr an Rechten zukommt,
als man in manchen Blättern liest. Das will ich in der Grundstruktur so belassen, um diesen entscheidenden einen Eingriff
zu machen.
Busemann/Eckel/Klare/Korter/Schwarz: Bildungspolitik in Niedersachsen
Blindtext
Wir müssen Schulleiterinnen und Schulleiter auf die neuen Aufgaben vorbereiten, dafür brauchen wir etwa zwei Jahre, zeitliches Ziel der Landesregierung ist der Schuljahresbeginn 2007.
Wir haben etwa 3300 Schulen, und wir müssen über 2000 Lehrerinnen und Lehrer als Schulleitungskräfte fit machen für die
neuen Anforderungen. In dieser Zeit möchte ich die Schule
nicht unter Druck setzen. Und wenn das System dann steht, in
Schritten, die am besten die Schulen selber bestimmen, mögen
die anderen Schritte entsprechend nachkommen. Wir schaffen
die rechtlichen Voraussetzungen dafür, dass das dann auch
geht. Also mehr Freiheit, mehr Leine für die Schule, aber alles
zu seiner Zeit. Der Faktor Ruhe für die Schulen, Ruhe an den
Schulen ist bei mir jetzt wieder vorhanden, und ich entdecke
mich in diesen Tagen als einen, der von einem „Reformenrambo“ eher zu einem wird, der sagt: „Hier nun mal langsam, alles
zur rechten Zeit und nichts überstürzen.“ Das war es zur Eigenverantwortung der Schule, und darüber können wir ja trefflich
streiten.
Danke schön.
STATEMENT
Ingrid Eckel
Ich möchte Ihnen erklären, weshalb wir bei der „selbstständigen“ Schule bleiben und uns nicht auf die „eigenverantwortliche“ Schule umetikettieren lassen wollen. Das hat damit zu tun,
dass die Anfänge der selbstständigen Schule zur Zeit der Amtsvorgängerin von Herrn Busemann gelegt wurden, und darum
gibt es auch eine ganze Reihe von Ähnlichkeiten zwischen dem
gibt, aber es gibt ganz, ganz wesentliche Unterschiede, die für
uns sehr wichtig sind. Sie liegen vor allen Dingen in zwei Bereichen, nämlich zum einen im Bereich Gesamtkonferenz und Schulleitung, im Austarieren von beiden, und zum anderen darin,
dass wir die Gestaltungsfreiheit, die wir Schulen geben wollen,
sehr viel gewichtiger und höher ansetzen, als es in dem Regierungsentwurf der Fall ist. Wir verändern den Paragrafen 32 und
sagen, dass jede Schule auf der Grundlage ihres Schulprogramms,
der Ziele, die sie sich darin gesetzt hat, Erlasse auswählen
kann, an die sie sich weiterhin halten möchte, oder eben auch
sagen kann – und das ist das Wichtige –, dass diese Erlasse für
sie nicht gelten. Das soll in der Gesamtkonferenz beschlossen
und der Landesschulbehörde zur Kenntnis gegeben werden.
Grenzen werden dadurch gesetzt, dass es natürlich darum geht,
die Vorgaben von Bildungsstandards und Richtlinien einzuhalten. Auch die Vergleichbarkeit von Schulabschlüssen muss
natürlich weiterhin gegeben sein, sonst würden wir den Schülerinnen und Schülern ja Riesenprobleme bereiten. Wir gehen
sogar noch ein Stück weiter und sagen, dass auch rechtliche
Verwaltungsvorschriften von den Schulen – allerdings nur mit
Rücksprache bei der Landesschulbehörde – außer Kraft gesetzt
werden können. Ich nenne als Beispiel die Versetzungsordnung.
Eine Schule könnte mit Zweidrittelmehrheit der Gesamtkonferenz entscheiden, dass sie versuchen will, ohne Klassenwiederholung auszukommen. Wenn sie genügend Stunden hat, um zu
fördern und zu fordern, kann das ja gelingen. All diese Unternehmungen müssen freilich auch zielführend sein, und die
Schule muss die externe und die interne Evaluation durchführen, sonst klappt das Ganze nicht. Stellt eine Schule nach der
Evaluation fest, dass es so nicht geht, kehrt sie zu diesem
„Wir sind der Meinung, dass das, was wir jetzt erleben, ein verfestigtes mehrgliedriges
System, uns nicht weiterbringt, auch wenn es hier und da Verbesserungen gibt, wie die
Sprachförderung oder die eigenverantwortliche bzw. selbstständige Schule. Sobald man
richtig ernst macht mit Veränderungen, etwa der individuellen Förderung, dann kann man
in der Mehrgliedrigkeit eigentlich nicht verharren.“
Entwurf, den Herr Busemann vorlegt, und demjenigen, den die
SPD-Fraktion am kommenden Mittwoch in den Landtag einbringen wird. Wir haben das natürlich auch mit Bedacht so
gelassen. Eigenverantwortlich, meine ich, ist jeder, der in einer
Schule tätig ist. Wir alle sind eigenverantwortlich für das, was
wir tun, und auch in einer unselbstständigen Schule wird eigenverantwortlich gehandelt. Deswegen sehen wir tatsächlich
einen inhaltlichen Unterschied zwischen diesen beiden Begriffen und sind bei der selbstständigen Schule geblieben.
Herr Minister Busemann weist immer gern auf die Ähnlichkeiten hin, auf die Parallelitäten, die es bei unseren Entwürfen
Erlass, zu dieser rechtlichen Vorschrift zurück. Aber sie hatte
die Möglichkeit, sich rauszunehmen und tatsächlich Gestaltungsfreiheit zu praktizieren.
Es gibt zwischen den Fraktionen keinen Streit darüber, dass
Gestaltungsfreiheit, dass Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit ein wichtiges Segment von Qualitätsentwicklung
ist. Wir setzen das ganz hoch an, und deswegen geht unsere
Gestaltungsfreiheit sehr viel weiter als die in den anderen Entwürfen, auch als im Entwurf von Bündnis 90/Die Grünen, die
zwar auch möchten – das wird Frau Korter sicherlich gleich
noch darstellen –, dass Erlasse abgewählt werden können, aber
65
nur wenn die Landesschulbehörde zustimmt. Ich könnte noch
ganz viel dazu sagen, aber ich glaube, wir sollten, nachdem ich
diesen wichtigen Punkt der Gestaltungsfreiheit erläutert habe,
die Schulkonferenzen und Schulleitungen, die Verbundenheit
zwischen beiden und ihr Verhältnis zur Selbstständigkeit dann
doch etwas genauer betrachten.
Aber ich sitze jetzt hier für die SPD-Fraktion und nicht für die
Partei, die dieses Papier vorgelegt hat. Es wird nötig sein, im
nächsten halben Jahr innerhalb der Partei Überzeugungsarbeit
zu leisten, und dann wird unser Entwurf stehen. Wir sind der
Meinung, dass das, was wir jetzt erleben, ein verfestigtes mehrgliedriges System, uns nicht weiterbringt, auch wenn es hier und da Verbesserungen gibt, wie die Sprachförderung oder die eigenverantwortliche bzw. selbstständige Schule.
Sobald man richtig ernst macht mit
Veränderungen, etwa der individuellen Förderung, wenn man genug
Ressourcen hat, um dies in Schulen
durchzuführen, dann kann man in
der Mehrgliedrigkeit eigentlich nicht
verharren. Wir werden sehen, wie
sich das entwickelt. Unseres Erachtens kann ein gutes Beispiel auch
Eltern, Schüler, Schülerinnen, Lehrer
und Lehrerinnen überzeugen. Darauf
hoffen wir.
Foto: Hannover Messe
Für uns bleibt die Gesamtkonferenz weiter das wichtigste Gremium in der Schule und das Herz der Schule. Es ist sicherlich
jetzige mehrgliedrige Schulsystem erst mal bestehen lassen. Wir
hoffen, dass nach und nach immer mehr Eltern die gemeinsame
Schule fordern.
Zur selbstständigen Schule oder
eigenverantwortlichen Schule hätte
ich eigentlich gerne noch zwei Dinge
Auf der „didacta – die Bildungsmesse“ 2006 in Hannover wurde deutlich, wie aus Reformen besserer
nachgeschoben. Auch wir haben die
Unterricht wird. Im Bereich Schule/Hochschule präsentierten insgesamt 351 Aussteller einen ÜberSchulleitungen gestärkt, und zwar
blick der aktuellen Lehr- und Lernangebote.
darüber, dass sie ganz viele Aufgaben
bekommen, die von den Bezirksregierungen an die Schulen verlagert werrichtig, dass eine Schulstrukturdiskussion von denen, die an den. Aber die Schulleitungen sind bereits weisungsbefugt, das
Schule beteiligt sind, kaum gewünscht wird. Was wir in den ist ja überhaupt nichts Neues. Wir meinen, wenn die Schule
letzten Jahren erfahren haben, ist natürlich, dass die Verfesti- sich verändern soll, wenn ein Schulprogramm Ziele nennt, die
gung der Mehrgliedrigkeit, die geringere Durchlässigkeit, das erarbeitet werden sollen, dann muss das immer im breiten KonAbkoppeln der Hauptschule, die Tatsache, dass die Gleichwer- sens geschehen. Dann kann nicht einer sagen, so machen wir
tigkeit der Sekundar-I-Abschlüsse aufgegeben wurde, dass das es, und die anderen tanzen nach, das wird nicht gehen. Jeder
alles einen denken lässt, es wäre schön, wenn man es anders Schulleiter, mit dem ich in den letzten Wochen und Monaten
machen könnte. Aber eine Strukturreform 2008 würde keiner gesprochen habe, hat gesagt, geschickterweise müsse man
durchhalten, das wissen wir auch. Trotzdem hat die SPD einen immer das Kollegium hinter sich bringen, wenn man etwas verEntwurf zur gemeinsamen Schule abgeliefert, aber gleichzeitig wirklichen, etwas verändern wolle, und darum geht es uns.
gesagt, dass es nicht darum geht, die jetzige Struktur zu beseitigen und die andere dagegenzusetzen. Vielmehr steht in dem Deshalb wollen wir, dass die Gesamtkonferenz weiterhin das
Entwurf – der übrigens noch bis Juni in allen Parteigremien wichtigste Gremium bleibt. Wir sagen aber auch, dass die
gründlich diskutiert werden muss und sich daher noch verän- Gesamtkonferenz z. B. an großen Systemen das Delegationsdern kann –, dass der Weg zur gemeinsamen Schule durch Über- prinzip einführen und eine Schulkonferenz bilden kann. Und
zeugung freigemacht werden soll, d. h. indem man zeigt, wie innerhalb dieser Schulkonferenz ist es möglich, auf Beschluss
es gehen kann. Wenn man all das, was uns die PISA-Siegerlän- der Gesamtkonferenz etwa die Parität zu verändern. Eine
der vorgemacht haben, verwirklicht, also: eine lange gemeinsa- Gesamtkonferenz kann bereits heute beschließen, die Anteile
me Beschulung, individuelle Förderung usw., und schaut, was von Schülern und Schülerinnen oder Eltern zu verändern, das
entsteht dann in einer Schule, was ist möglich, wie wirkt sich ist nichts Neues. Aber sie soll es selbst entscheiden, weil das
das auf Kinder aus? Das wollen wir zeigen und gleichzeitig das unserer Meinung nach dazugehört, wenn wir eine Schule selbst-
66
Busemann/Eckel/Klare/Korter/Schwarz: Bildungspolitik in Niedersachsen
Blindtext
ständig machen. Ich freue mich darauf, dass wir im Ausschuss
darüber diskutieren werden, und es gibt noch ein paar andere
Stellen, bei denen wir abwarten wollen, was die Diskussion
ergibt. Vielleicht lassen sich da und dort weitere Gemeinsamkeiten finden, die sich jetzt noch nicht abzeichnen.
STATEMENT
Karl-Heinz Klare
Die Schulreform ist in unseren Augen sicherlich nicht überhastet, sondern sie ist wegweisend und auf jeden Fall dringend
notwendig gewesen. Für diese Notwendigkeit gibt es sehr klare
Indizien, über die wir gar nicht mehr reden oder reden wollen,
weil es uns ein bisschen peinlich ist. Wir haben im Jahre 2003
eine Ausgangslage für unsere niedersächsischen Schülerinnen
und Schüler vorgefunden, bei der unsere Kinder in nationalen
und internationalen Vergleichstests immer die Verlierer waren,
und das konnte nicht so bleiben. Es mussten Paradigmenwechsel erfolgen. 25 Prozent eines Jahrgangs, die durch die Schulen
gelaufen sind, Abschlüsse gekriegt oder auch nicht gekriegt
haben, waren nicht in der Lage, im Beruf ihren Mann oder ihre
Frau zu stehen. Sie sind gar nicht angenommen worden. Das ist
sozialer Sprengstoff, über den wir noch gar nicht lange genug
nachgedacht haben.
Das ist Realität, und die Zahlen sind nicht bestritten worden.
Wenn wir nicht sofort ein neues Schulgesetz gemacht hätten,
wäre die „Gabriel’sche Förderstufe“ eingeführt worden. Dann
wäre mit einem Losverfahren entschieden worden, welche Kinder auf weiterführende Schulen hätten gehen können und welche nicht, also Auslese nicht nach Leistung oder Begabung, sondern aus dem Lostopf heraus, wie auf dem Rummelplatz. Das
war damals die Realität, und wir mussten sofort reagieren. Ich
bitte Sie, sich das noch einmal zu vergegenwärtigen.
macht. Ich kann das nach den Erfahrungen, die ich in der Schulpolitik gemacht habe, so schnell nicht beurteilen und Sie eben
auch nicht. Der Kindergartenbereich, der frühkindliche Bereich
steht da wie noch nie zuvor. Auch das ist eine Frage der Zeit.
Bei der SPD, bei Frau Jürgens-Piper, sind zwar Konzepte
gemacht, aber sie sind nicht umgesetzt worden, weil sie nicht
finanziert werden konnten. Jetzt haben wir die Sprachförderung usw. eingeführt. Das kann man doch einmal deutlich
sagen.
Die Schaffung von langfristigen Bildungsgängen im Sekundarbereich I oder die Stärkung der frühkindlichen Bildung, die
Schaffung von mehr Durchlässigkeit – wir merken, dass das
jetzt funktioniert. Die Stärkung von Grundfertigkeiten im
Grundschulbereich, Deutsch, Mathe z. B., wird sich hoffentlich
positiv auswirken, aber wir haben auch hier natürlich noch
keine Ergebnisse. Was mir besonders wichtig ist: Wir haben zum
ersten Mal verpflichtend den Dialog von Schule zu Elternhaus
gesetzlich verankert. Ich bin davon überzeugt, dass gerade beim
Übergang zu weiterführenden Schulen, bei der Beratung mit
Grundschulen der Dialog mit den Eltern eine große Rolle spielen kann und dass wir hier „Falschzuweisungen“ vermeiden können, wie auch immer sie zustande gekommen sind.
Meine Damen und Herren, ich bin davon überzeugt, dass wir
mit der eigenverantwortlichen Schule auf einem richtigen Weg
sind. Wir haben ja einen breiten gesellschaftlichen Konsens. Alle
Fraktionen, alle Parteien, alle Lehrergruppen mit unterschiedlichen Nuancen halten das für richtig, und die PISA-Siegerländer sind diesen Weg gegangen. Verbindliche Vorgaben, die Einführung von Instrumenten regelmäßiger Qualitätskontrolle,
eines großen Spielraums wird meiner Überzeugung nach die
Arbeit nachhaltig verbessern. Eigenverantwortliche Schule
heißt größter Gestaltungsspielraum, doch auch die Ergebnisse
müssen am Ende stimmen. Wir setzen auf Professionalität der
Lehrkräfte, und wir setzen darauf, dass die entsprechenden
„Ich weiß ja nun ein bisschen darüber, was das System verträgt, was die Schulen vertragen,
was sie nicht vertragen. Wenn die SPD jetzt wieder das Fass aufmacht, Frau Korter, das alles
sei falsch, eine gemeinsame Schule von 5 bis 10, die Grundschule vielleicht auch noch gemeinsam, müsse her, dann bringt das den Kessel zum Platzen. Dann entsteht wirklich Unruhe an
der Basis, in den Standorten, in der Lehrerschaft, überall, und man muss endlich einmal
sagen, dass es jetzt reicht.“
Wenn wir die Hauptschule mit Sozialarbeiterstunden, mit Profilierung im Arbeitsbereich stärken, wie wir sie gestärkt haben,
dann ist das ein neuer Weg, um zu besseren Ergebnissen zu
gelangen. Wenn wir das evaluieren, werden wir sehen, was
dabei herauskommt. Aber es ist unsinnig, schon nach einem
Jahr zu sagen, das sei alles Murks oder etwas werde kaputtge-
gesetzlichen Grundlagen und die staatliche Verantwortung
letztendlich bleiben. Ich glaube, auch darin besteht Übereinstimmung.
Zur Stärkung der Schulleitung: Der Schulleiter muss der Chef im
Ring sein, doch das ist er bereits heute, auch gesetzlich; seine
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Position wird jedoch gestärkt. Die Gesamtkonferenz muss als
Mitbestimmungs- und Mitwirkungsorgan weiter einen vernünftigen Anteil haben, und das ist meiner Ansicht nach in unserem
Gesetz auch gegeben, doch darüber können wir gerne noch ein
bisschen streiten.
Was mich an dieser Frage viel mehr bewegt, ist nicht nur das
Formale, das Gesetzliche. Ich glaube, wir müssen uns immer
wieder fragen, was am Ende für den einzelnen Schüler oder die
einzelne Schülerin dabei herauskommt. Wir können per Gesetz
alles verordnen, keine Frage, und dann haben wir es zum
1. August 2007. Wir müssen weiter wissen, was für den einzelnen Lehrer und die einzelne Lehrerin herauskommt. Eigenverantwortung darf keine reine Organisationsangelegenheit bleiben, sondern sie bedeutet, dass jeder, der im System Schule
arbeitet, diese Verantwortlichkeit aufnimmt, empfindet, aus
ihr heraus handelt und diese so an die Schüler heranträgt.
Ich weiß ja nun ein bisschen darüber, was das System verträgt,
was die Schulen vertragen, was sie nicht vertragen. Wenn die
SPD jetzt wieder das Fass aufmacht, Frau Korter, das alles sei
falsch, eine gemeinsame Schule von 5 bis 10, die Grundschule
vielleicht auch noch gemeinsam, müsse her, dann bringt das
den Kessel zum Platzen. Dann entsteht wirklich Unruhe an der
Basis, in den Standorten, in der Lehrerschaft, überall, und man
muss endlich einmal sagen, dass es jetzt reicht. Wir können in
der Sache miteinander streiten und inhaltlich weiterkommen,
doch weiß Gott nicht diese Schulstrukturdiskussion neu anfangen. Das will auch keiner hören, da bin ich mir relativ sicher.
Ich will den Kolleginnen von SPD und Grünen keine Nachhilfe
in Sachen Gesetzestechnik geben, aber ein Gesetz hat abstrakt
zu sein. Ein Gesetz ist kein gedrucktes Parteiprogramm; all die
vielen schönen bunten Dinge, die wir von dort so kennen und
wissen, gehören nicht ins Gesetz. Ich habe mich für den
geringstnotwendigen Gesetzeseingriff entschieden, nur zwei,
drei Paragrafen sind davon betroffen. Stichworte: eigenverantwortliche Schule, Schulleiter stärken, Gesamtkonferenz bleibt.
Ich wollte keine Verfassungsspielchen machen, denn es gibt ja
auch Berufsschulen, die ohne Gesamtkonferenz auskommen,
usw. Doch das sollte nicht mein Thema sein. Hier geht es um ein
inhaltliches Ziel, und das ist mit wenigen Eingriffen machbar.
Vieles von dem, was Sie unter mehr Freiheit, mehr Gestaltungsfreiheit usw. buchen, kann ich teilen. Doch es gehört
nicht ins Gesetz, und es gibt auch untergesetzliche Rechtsnormen: Erlasse, Verordnungen, rein administrative Dinge, durch
die man das entsprechend regeln kann.
Der Vorwurf von Frau Eckel, ich würde weniger Gestaltungsfreiheit wollen, stimmt nicht. Ich habe dazu noch gar nichts
gesagt. Vielleicht werde ich Sie sogar überraschen und mit Freiheiten aufwarten, über die Sie sich wundern werden. Bei Ideen
wie Schule ganz ohne Noten und ganz ohne Sitzplan usw. ist
mein Einfallsreichtum ein bisschen gebremst. Nehmen Sie das
Thema Schulwechsel, nehmen Sie das Thema Abschlüsse usw.,
ganz ohne Noten wird es da nicht gehen. Aber es ist immerhin
68
ein spannendes Thema, das aber bitte nicht ins Gesetz hineingehört. Das geht gerade auch an die Grünen. Und ich kann alle
nur warnen, neue Schulstrukturdebatten vom Zaun zu brechen.
STATEMENT
Ina Korter
Zunächst möchte ich ein paar Sätze zu Herrn Busemann sagen,
der ja die Grundzüge seiner gesamten Bildungspolitik vorgestellt hat. Schnelligkeit ist nichts Falsches, wenn sie denn gut
begründet ist und sauber gearbeitet wird. Und wenn die Ziele
richtig sind, sollte man nicht zu lange reden, sondern Dinge
wirklich umsetzen. Aber die Richtung der Schulpolitik in
Niedersachsen ist aus meiner Sicht falsch, und das möchte ich
an sechs Punkten kurz erläutern.
1. Die frühe Trennung nach Klasse 4 ist ein bildungspolitischer
Rückschritt, der sich noch ganz schlimm rächen wird, weil wir
Talente in Schulformen aussortieren, die später keine Chance
mehr haben.
2. Diese Landesregierung versetzt den Hauptschulen den
Todesstoß mit ihrer Politik der frühen Trennung und ihrem klaren Bildungsauftrag der Hauptschulen, abgegrenzt von anderen
Schulen unter Abschaffung der Durchlässigkeit nach oben.
3. Durch den ideologischen Kampf gegen Gesamtschulen
sowie das Neugründungsverbot wird undemokratisch eine
Schulform abqualifiziert und ausgegrenzt.
4. Der Bildungsauftrag der Kindergärten, das wissen wir genau
und das wird hier auf vielen Veranstaltungen deutlich, muss
wirklich gestärkt werden. Da fehlt noch alles. Wir haben einen
Orientierungsplan, aber keine verbindlichen Richtlinien für die
Kindertagesstätten. Wir haben immer noch keine Erzieherinnenausbildung auf Hochschulniveau, da besteht erheblicher
Nachbesserungsbedarf, und wir haben erst recht noch kein kostenloses Kindergartenjahr für Fünfjährige, was die CDU vor der
Wahl versprochen hatte.
5. Die konzeptionslose Genehmigung von Ganztagsschulen in
Niedersachsen.
6. Die Glaubwürdigkeit dieses Kultusministers schwindet
zunehmend. Er spricht von hundertprozentiger Unterrichtsversorgung, und die Eltern sowie die Lehrkräfte im Lande wissen,
dass das nicht so ist. Dann muss man es auch zugeben, Herr
Busemann.
Ich komme jetzt zu unserem Konzept der eigenverantwortlichen Schule. Wenn man den Schulen mehr Freiheiten geben
will, und das ist Konsens in allen Fraktionen, dann muss man
auch tatsächlich einen Freiheitsgedanken haben. Wenn Sie
nämlich die Neugründung von Gesamtschulen verbieten, die
Hauptschulen von den anderen Schulen abtrennen, die kooperativen Haupt- und Realschulen verbieten und, und, und, wenn
Sie also so vieles erst einmal regeln und verbieten: Wie wollen
Sie dann eigentlich einen Freiheitsgedanken in die Schulen tragen? Freiheit in den Schulen setzt voraus, dass man den Lehr-
Busemann/Eckel/Klare/Korter/Schwarz: Bildungspolitik in Niedersachsen
Blindtext
kräften und den an Bildung Beteiligten vor Ort auch etwas
zutraut. Und das wollen wir mit unserem Gesetzentwurf. Darin
gibt es ganz zentrale Punkte.
1. In dem Gesetz muss, was Frau Eckel eben angesprochen hat,
tatsächlich drinstehen, welche Freiheiten die Schulen sich nehmen können und von welchen Erlassen sie sich befreien lassen
können. Das steht in unserem Gesetzentwurf nicht unter Vorbehalt der Landesschulbehörde, Frau Eckel, sondern die Landesschulbehörde muss den Antrag einer Schule immer genehmigen, wenn nicht die Vergleichbarkeit der Abschlüsse oder die
Bildungsstandards gefährdet sind. Das ist Mindestvoraussetzung, damit wir verschiedene Schulabschlüsse auch miteinander vergleichen können. Ich denke, das ist bei Ihnen auch Standard.
2. Wir wollen – und da sind wir entschieden anderer Meinung
als alle anderen Fraktionen – bei mehr Eigenverantwortlichkeit
auch mehr Mitverantwortung aller Beteiligten, deswegen schaffen wir in unserem Gesetzentwurf als höchstes Entscheidungsgremium der Schule eine Schulkonferenz, die paritätisch
besetzt wird. Da sind die Eltern stärker vertreten, und auch die
Schüler, soweit sie das altersentsprechend mitmachen können,
sind entsprechend vertreten. Das ist unsere demokratische Vorstellung einer neuen Schule, einer Schule der Zukunft und nicht
einer, die in der Vergangenheit verhaftet ist.
glaube ich, dass unser Gesetzentwurf der einzig Richtige ist,
und ich hoffe, Sie werden vieles davon übernehmen.
Zur Frage der Schulstruktur möchte ich doch noch einmal Stellung nehmen. Herr Busemann und Herr Klare wollen natürlich
eine Schulstrukturdebatte vermeiden. Doch wenn man sich verantwortlich fühlt für die Schülerinnen und Schüler in Niedersachsen, muss man darüber reden, denn alle PISA-Siegerländer,
Herr Busemann, haben eine längere gemeinsame Beschulung
und trennen nicht nach Klasse 4, das gibt es nur noch in Österreich und der Schweiz. Ich kann nicht nachvollziehen, weshalb
Sie in der Schulpolitik einen solchen Rückschritt machen. Wir
brauchen alle Talente, wir können es uns nicht leisten, schon
mit zehn Jahren bestimmte Kinder auf das Abstellgleis zu schicken, zu dem Sie die Hauptschule gerade machen. Diese Kinder
haben keine Chance mehr, einen höherwertigen Bildungsabschluss zu erreichen, wenn sie erst später merken, was sie an
Schule interessiert, was sie an Inhalten interessiert. Was
machen Sie mit den aufmerksamkeitsgestörten Kindern, die
sich vielleicht erst viel später entwickeln, mit Kindern mit Teilleistungsstörungen? Sie alle sortieren Sie nach Klasse 4 aus, und
das ist zutiefst ungerecht. Wir haben einen demokratischen
Staat und ein demokratisches Niedersachsen, in dem jedes Kind
und jeder Jugendliche erwarten kann, dass er, solange es geht,
genauso gut gefördert wird wie jeder andere.
„Wenn Sie nämlich die Neugründung von Gesamtschulen verbieten, die Hauptschulen von den
anderen Schulen abtrennen, die kooperativen Haupt- und Realschulen verbieten und, und,
und, wenn Sie also so vieles erst einmal regeln und verbieten: Wie wollen Sie dann eigentlich
einen Freiheitsgedanken in die Schulen tragen? Freiheit in den Schulen setzt voraus, dass man
den Lehrkräften und den an Bildung Beteiligten vor Ort auch etwas zutraut.“
3. Wir wollen eine pädagogische Konferenz anstelle der
Gesamtkonferenz installieren.
4. Wir wollen, dass die Schulinspektion gesetzlich verankert
wird mit ihren Rechten und auch mit der Verpflichtung, dem
Landtag alle zwei Jahre einen Bildungsbericht vorzulegen.
5. Die Stärkung der Schulleitung ist nicht zu vergessen, das
möchte ich natürlich auch erwähnen.
6. Bei der Anhörung zum Gesetzentwurf eigenverantwortliche
Schule oder in der Vorbereitung des Gesetzentwurfes ist von
allen gesagt worden, die Schulen brauchten auf ihrem Weg in
die Eigenverantwortung Beratung und Unterstützung. Das
möchten wir im Gesetz verankert haben. Dann ist unser Gesetzentwurf aus meiner Sicht derjenige, der mit der Verfassung der
regionalen Kompetenzzentren am ehesten kompatibel und vergleichbar ist. Das ist ein Erfolgsmodell bei den berufsbildenden
Schulen in Niedersachsen, und ich meine, die allgemein bildenden Schulen und die berufsbildenden Schulen müssen kompatible Verfassungen und kompatible Möglichkeiten haben. Deshalb
Und dann frage ich mich auch, warum die Schulen im Rahmen
der Eigenverantwortung nicht entscheiden dürfen, ob sie integrativ länger beschulen. Das werden Sie Ihnen verbieten. Da zeigen Sie doch bitte Ihren Freiheitsbegriff. Hier bin ich neugierig,
wie die FDP Stellung beziehen wird. Die FDP will ohnehin den
freien Elternwillen abschaffen und Aufnahmeprüfungen durchführen, da kann ich keine Linie erkennen.
Wir niedersächsischen Grünen verfolgen schon seit zwei Jahren
die Zielsetzung, eine gemeinsame neunjährige Basisschule für
alle Kinder einzuführen. Wir werben mit diesem Konzept, bereisen alle Kreisverbände und Landkreise und stellen uns bei Podiumsdiskussionen und Elternabenden der Diskussion über eine
solche Schulform. Wir wollen alle Kinder mitnehmen und niemanden aussortieren. Das ist die entscheidende Frage, Herr
Busemann. Die Struktur ist nicht egal, die Struktur entscheidet
darüber, was ich im Kopf habe, wie ich Kinder mitnehmen und
fördern will. Wenn ich sie nicht in vier Schubladen sortieren
69
kann, dann muss ich alle fördern und mitnehmen, doch nicht
alle im Gleichschritt, sondern jedes, wie es seinem Lerntempo
entspricht. Das ist mein zutiefst menschlicher, demokratischer
Ansatz von Schulpolitik. Dafür werden wir werben. Die Anwahl
der Hauptschulen und die hohen Ablehnungszahlen bei den
Gesamtschulen zeigen inzwischen, dass Sie mit Ihrem schulpolitischen Weg nach und nach von den Eltern abgewählt werden.
Eltern wollen nämlich nicht, dass ihre Kinder mit zehn Jahren
weg vom Fenster sind; sie wollen ihnen möglichst lange alle
Chancen offen halten. Und wer verschiedene Kinder mit verschiedenen Anlagen hat, der kann das nachvollziehen. Ich kann
das aus eigener Anschauung.
Noch ein Wort zur eigenverantwortlichen Schule. Wenn man
eine so entscheidende Änderung einführen will, hin zu mehr
Selbstständigkeit, mehr pädagogischer Freiheit, und wir mit
allen Fraktionen dahinterstehen, ist das ein ganz wichtiger
schulpolitischer Weg. Dann muss ich aber auch den Mut haben,
die Beteiligten mitzunehmen. Nicht Lehrerinnen und Lehrer
alleine machen Schule, Eltern, Schülerinnen und Schüler gehören dazu. Dann beteiligen sie sich auch entsprechend.
STATEMENT
Hans-Werner Schwarz
Ich rede zunächst tatsächlich zum Thema und gehe nicht auf
das ein, was Frau Korter soeben vorweggeschickt hat, obwohl
es mich wahnsinnig reizt, darauf zu antworten.
Ich möchte zunächst einmal sagen, dass eine eigenverantwortliche Schule in Zukunft ohne die Mitarbeit der Eltern völlig
unmöglich erscheint. Wir haben als FDP-Fraktion immer die
Auffassung vertreten, dass das Bildungssystem nicht nur in
Niedersachsen, sondern in der Bundesrepublik insgesamt alleine von der Schule nicht mehr in die richtige Richtung zu brin-
Das ist aber nicht der einzige Weg und nicht der einzige
Bestandteil, aus dem eine eigenverantwortliche Schule für die
Zukunft besteht. Wir haben uns deswegen für die eigenverantwortliche Schule entschieden, weil wir gesehen haben, dass mit
autonomen Schulen gute Erfahrungen gemacht wurden. Wir
haben insbesondere im skandinavischen Raum festgestellt, dass
die Schulen, die in eigener Verantwortung ihren Unterricht
gestalten bzw. den Bildungsweg beschreiten, erfolgreich sind.
Übrigens nicht nur im skandinavischen Raum, es gibt solche
Ansätze sehr konkreter Art auch in anderen deutschen Bundesländern, zum Beispiel in Baden-Württemberg, wo wir feststellen, dass diejenigen Schulen, die in Eigenverantwortung gestellt werden, auch sehr erfolgreich sind.
Dazu gehört natürlich, dass man diese eigenverantwortlichen
Schulen entsprechend vorbereitet. In erster Linie geht es
darum, die Schulleitung dafür zu qualifizieren. Wir haben zurzeit eine Situation, in der die Schulleiter einerseits sehr gerne
die eigenverantwortliche Schule umgesetzt wissen möchten,
aber andererseits ein wenig in der Luft hängen und noch nicht
ganz genau wissen, wie das in der Praxis aussehen soll. Wir
müssen hierfür die entsprechende Qualifizierung schaffen, und
ich bin dankbar, dass Herr Busemann bereit ist, das Ganze nach
und nach zu entwickeln. Wir können nicht einfach verkünden,
dass wir ab 1. August 2007 überall die eigenverantwortliche
Schule einführen: Das muss konsequent und am besten in aller
Ruhe vorbereitet werden, Schritt für Schritt. Ich habe Verständnis dafür, dass zurzeit eine gewisse Unsicherheit an den
Schulen herrscht, weil sie mit hohen Anforderungen überfrachtet worden sind, die allerdings glänzend bewältigt wurden.
Aber jetzt möchte man auch einmal Luft zum Atmen haben,
möchte Ruhe haben und sich auf die neue Situation einstellen
können.
Aus unserer Sicht ist weiterhin wichtig, dass die Gesamtkonferenz in einer vernünftigen Form gegliedert wird. Ich bin ja
selbst Kollege, habe jahrzehntelang Schule gemacht und konn-
„Ich möchte zunächst einmal sagen, dass eine eigenverantwortliche Schule in Zukunft ohne
die Mitarbeit der Eltern völlig unmöglich erscheint. Wir haben als FDP-Fraktion immer die
Auffassung vertreten, dass das Bildungssystem nicht nur in Niedersachsen, sondern in der
Bundesrepublik insgesamt alleine von der Schule nicht mehr in die richtige Richtung zu bringen ist. Wir brauchen die Unterstützung von außen, da gibt es überhaupt keine Frage.“
gen ist. Wir brauchen die Unterstützung von außen, da gibt es
überhaupt keine Frage. In Niedersachsen ist in der Vergangenheit ja auch schon der eine oder andere erfolgreiche Versuch
gestartet worden, indem sich Eltern in die Schulgestaltung mit
eingebracht, beispielsweise Elternschulen eingerichtet und ihr
Kind auf seiner Schullaufbahn begleitet haben.
70
te dort feststellen, dass unsere Gesamtkonferenzen häufig
unbeweglich und schwerfällig waren. Da wünsche ich mir ein
effektiveres Arbeiten für die Zukunft. Deswegen begrüße ich
die Idee der Einrichtung eines Schulbeirates. Das kann ein Gremium sein, das sich aus wenigen Personen zusammensetzt,
allerdings begleitet von allen, die in Schule involviert sind. Es
Busemann/Eckel/Klare/Korter/Schwarz: Bildungspolitik in Niedersachsen
Blindtext
müssen Eltern dabei sein, Schülerinnen und Schüler, es müssen
natürlich Lehrerinnen und Lehrer dabei sein, weiterhin der
Schulträger, und ich halte es auch für richtig, dass man jemanden von außen hinzuzieht, der sein Know-how nicht allein aus
dem Bildungsbereich, sondern eben auch aus dem Bereich der
Weiterbildung bzw. von betrieblicher, wirtschaftlicher Seite
einbringt und bereit ist, sich für die Schule zu engagieren. Das
halte ich insgesamt für sinnvoll.
Vielleicht eine abschließende Bemerkung. Ich bin der Überzeugung, dass alle Fraktionen hier übereinstimmend auf dem Weg
zu einem guten Konsens sind. Wir wollen alle im Prinzip das
Gleiche, doch seitdem Detailfragen herausgearbeitet werden,
will jeder für sich ein bisschen Honig saugen; das halte ich für
überflüssig. Wir sollten gemeinsam an dieser Aufgabe arbeiten
und versuchen, das Vorhaben nach vorne zu bringen. Ich bin
mir sicher, dass wir dann auch erfolgreich sein werden.
71
Schule soll heute mehr Eigenverantwortung übernehmen. Im Zuge dieser Verselbstständigung gewinnt
Evaluation durch externe Schulinspektoren an Gewicht. In Kooperation mit dem niederländischen
Unterrichtsministerium wurde in Niedersachsen ein Modellversuch durchgeführt, der europaweit
richtungweisend sein könnte. Im Rahmen des Podiums „EIGENVERANTWORTLICHE SCHULE MIT EXTERNER EVALUATION“ sprachen über ihre Erfahrungen ARMIN LOHMANN, Referatsleiter im niedersächsischen Kultusministerium, GITTA FRANKE-ZÖLLMER, Landesvorsitzende des Verbands Bildung und Erziehung in Niedersachsen, ROB L. SCHOUTEN, Schulinspektor aus den Niederlanden, der zahlreiche
Inspektionen auch an deutschen und österreichischen Schulen vorgenommen hat, und HANS-JÜRGEN
VOGEL, Vorsitzender des Landeselternrats Niedersachsen.
Armin Lohmann
Armin Lohmann war 14 Jahre lang Leiter einer hessischen Versuchsschule (Steinwaldschule in Nordhessen).
Er ist ausgebildeter Schulentwicklungsberater, Koordinator im Internationalen Netzwerk Innovativer Schulsysteme der Bertelsmann Stiftung und Referatsleiter für schulische Qualitätsentwicklung, Evaluation und
eigenverantwortliche Schule im niedersächsischen Kultusministerium in Hannover.
Gitta Franke-Zöllmer
Gitta Franke-Zöllmer, geb. 1943. Studium der Fächer Deutsch, Englisch, Geschichte für das Lehramt an
Grund- und Hauptschulen. Zunächst als Lehrerin im Primar- und Sekundarstufe-I-Bereich tätig. Später in
der Schulleitung eines Schulzentrums. Seit 1997 Schulleiterin einer Grundschule. Landesvorsitzende des
Verbands Bildung und Erziehung Niedersachsen (VBE), Mitglied des Bundesvorstands, dort auch Leiterin
des Referats Gleichstellung.
STATEMENT
Armin Lohmann
Wir haben einen so genannten Referenzrahmen, einen Orientierungsrahmen für Schulqualität entwickelt, der die Schule als
Ganzes definiert und ihre Qualität ausdrückt. In sechs Qualitätsbereichen wird darin genau definiert, was das Land unter
einer guten Schule versteht. Wenn wir eine solche Orientierung
über Bildungsstandards, zentrale Prüfungen und Vergleichsarbeiten vorgeben, stellt sich natürlich zum einen die Frage, wie
die Schule für sich feststellen kann, dass sie sich in diesem Rahmen bewegt, und zum anderen, wie der Staat, also hier das
Land Niedersachsen, feststellen kann, dass die Schule diese
Qualität auch wirklich nachweist.
72
Es geht also um interne und externe Evaluation. In diesem
Zusammenhang haben wir versucht, aus Erfahrungen, die in
Modellprojekten gewonnen wurden, ein Verfahren zu entwickeln, das eine systematische Selbstbewertung ermöglicht.
Eltern, Schüler und Lehrer sollen für sich selber einschätzen
können, ob sie im Sinne dieser Qualitätsorientierung richtig liegen. Dieses Verfahren, „Selbstevaluation in Schule“, kurz SEIS,
wurde in Zusammenarbeit mit der Bertelsmann Stiftung entwickelt.
Externe Evaluation bezweckt eine Überprüfung und Bewertung
des erreichten Qualitätszustands durch den Blick von außen. Zu
diesem Zweck haben wir vor knapp vier Jahren begonnen, ein
Verfahren zu entwickeln, das in den Niederlanden schon gründlich erprobt ist und darauf hinausläuft, die Schule extern zu
prüfen, und zwar unter folgenden Gesichtspunkten:
Lohmann/Franke-Zöllmer/Schouten/Vogel: Externe Evaluation
Rob L. Schouten
Rob L. Schouten war Lehrer und Schulleiter an Schulen in sozialen Brennpunkten in Den Haag und Rotterdam. Er ist Inspektor für Schulen in Utrecht (NL) bei der Inspectie van het Onderwijs, einer Abteilung des
niederländischen Bildungsministeriums. Er führt selbst Schulinspektionen im Sekundarschulbereich durch
und ist als Projektleiter verantwortlich für die Kontakte der niederländischen Schulinspektion zu deutschsprachigen Ländern. Er hat in verschiedenen deutschen Bundesländern und in Österreich Qualitätsuntersuchungen durchgeführt.
Hans-Jürgen Vogel
Hans-Jürgen Vogel, geb. 1953. 1972-79 Studium der Chemie, Abschluss Diplom. 1979-87 Wissenschaftlicher
Mitarbeiter an der TU Braunschweig, Institut für Organische Chemie. Seit 1992 schulische Elternmitarbeit,
ab 1996 Mitglied im Stadtelternrat Braunschweig. 2000-04 dessen Vorsitzender. Ab 2000 Mitglied im
Landeselternrat; seit 2003 dessen Vorsitzender.
1. Wie sieht der Qualitätszustand und die Qualitätsentwick-
lung der Schule als einzelne aus?
2. Wie wird Lernen und Lehren in der Schule vollzogen, gemessen an dieser Qualitätsorientierung?
3. Wie wird mit den Ressourcen umgegangen?
4. Wie sieht es mit der Zufriedenheit der Abnehmer in dieser
Schule aus?
In Kooperation mit der Schulinspektion in den Niederlanden
wurden Teams für die Schulen ausgebildet, die das Verfahren,
das wir uns von den Niederlanden abgeschaut haben, auf
niedersächsische Schulkultur und Realität übertragen sollen.
Dabei geht es darum, der Einzelschule einen Blick auf ihre
jeweilige Qualität zu bieten, die an den vorgegebenen Kriterien
gemessen wird. Diese externen Teams sollen der Schule den
Stand ihrer Qualitätsentwicklung zurückspiegeln, und dazu
erhält die Schule etwa zwei Tage nach dem Besuch des Inspektionsteams eine sofortige Rückmeldung, ein Qualitätsprofil, in
dessen Rahmen verschiedene Kriterien mit den Noten eins bis
vier bewertet sind. Vier ist die beste Note, eins diejenige, die
Entwicklungsbedarf signalisiert. Sechs Wochen später folgt
dann ein Inspektionsbericht, in dem im Einzelnen alles genau
aufgeführt wird, was das Inspektionsteam festgestellt hat. Dieser Inspektionsbericht dient als Arbeitsgrundlage, als Stimulanzpapier, wenn Sie so wollen, das die Schule für sich nutzen
soll, um ihre Stärken weiter zu pflegen, aber auch um Bereiche,
in denen sich Entwicklungspotenziale ergeben haben, in Angriff
zu nehmen und dafür einen Maßnahmenplan in Abstimmung
mit dem Schulprogramm aufzustellen unter der Fragestellung:
Wie will sich die Schule hier in den nächsten zwei, drei Jahren
weiterentwickeln?
73
Jetzt kommt natürlich der Status der eigenverantwortlichen
Schule ins Spiel, und das bedeutet, dass die Schule Rahmenbedingungen braucht, um mit einem solchen externen Evaluationsbericht umzugehen. Sie soll, was das Prozedere, den
Umgang mit den Ressourcen, den Personaleinsatz, die Entwicklung innerhalb der Schule betrifft, nicht nur über ein
Schulprogramm in kurz-, mittel- und langfristigen Schritten
entscheiden, sondern für sich selber Gestaltungsspielräume
eigenverantwortlich ausloten. Damit sie dazu in der Lage ist,
wird ihr der Status einer eigenverantwortlichen Schule eingeräumt, die für diese Qualitätsentwicklung selbst einzustehen
hat. So in Kürze das Modell. Die Inspektion ist seit Mai 2005
eingerichtet und befindet sich nicht mehr in der Modellphase,
also der Schulinspektion. Diese wird organisatorisch von der
Kernaufsicht getrennt.
Ich bin gefragt worden, ob man das nicht besser erst machen
sollte, wenn die eigenverantwortliche Schule etabliert ist. Ich
denke, wir befinden uns eindeutig in einem Aufbauprozess, und
wenn wir jetzt erst jeden einzelnen Schritt abwarten, dann
werden uns die Eltern, die Abnehmer, in fünf, sechs Jahren fragen, was wir eigentlich getan haben, weshalb wir in der Qualitätsentwicklung und in der -sicherung noch nicht so weit sind,
dass wir erkennen können, wie Schulen mit dem Qualitätsverständnis, das das Land durch die Bildungsstandards vorgibt,
umgehen, wie dieses eigentlich umgesetzt wird. Es ist die klare
„In allen knapp 200 Schulen, die bisher in Niedersachsen extern evaluiert worden sind,
haben wir auch ein Feedback eingeholt. Wir lassen die externen Evaluatoren, die
Inspektionsteams, durch die Schule im Sinne einer Rückmeldung bewerten. Die Rückmeldungen ergaben eine generelle Zufriedenheit des Kollegiums und auch der Schulleitung
mit dem Evaluationsprozess.“
sondern führt in Niedersachsen bereits ganz regulär externe
Evaluation durch. In dem Zusammenhang stehen auch die Qualitätsorientierung und der Status der eigenverantwortlichen
Schule.
Entscheidung gefällt worden, dass wir mit der Feststellung der
Qualität beginnen, um sowohl für die Einzelschulen als auch für
das Gesamtsystem zu erkennen, wie und was wir an dieser Stelle umsteuern müssen.
Es stellt sich immer die Frage, was zuerst da war, das Ei oder
die Henne, oder vielmehr, wie man beginnen soll. Ich denke, es
steht einer Landesregierung, einem Minister Busemann ganz
eindeutig zu, hier Entscheidungen zu treffen, damit der Prozess der Qualitätsfeststellung und -entwicklung überhaupt
beginnt. Zu dieser Grundsatzentscheidung gehört, dass wir mit
der Schulinspektion als erstem Schritt beginnen. Das Mutige am
Vorgehen Niedersachsens war es, dabei auch Grundsätzliches zu
klären. Diese externe Evaluation stellt ja in ganz Deutschland
ein völlig neues Verfahren dar. Niedersachsen ist das erste
Bundesland, das sich dem so systematisch gestellt hat.
Der Orientierungsrahmen ist 2001 zum ersten Mal vorgegeben
worden, woraufhin es sehr, sehr viele Rückmeldungen gegeben
hat. Wir haben in diesem Punkt von anderen Ländern, z. B. von
Skandinavien, Kanada oder Schottland, gelernt, dass es wichtig
ist, ein Qualitätsverständnis vorzugeben. Das Land muss sagen,
was es unter einer guten Schule versteht. Dieser Orientierungsrahmen wird derzeit revidiert und soll dann wieder ins Land
gegeben werden mit der Zielvorstellung, drei Jahre lang einen
Dialog zu führen, um anschließend die Erfahrungen, die wir
anhand dieses Orientierungsrahmens entwickelt haben, auszuwerten und uns zu fragen, ob man die Verzahnung, die hier vorgenommen worden ist, auch so stehen lassen kann.
Unsere Fragestellung war, ob die bisherige traditionelle Schulaufsicht, die berät, die auch so etwas wie Fachaufsicht ist und
teilweise Disziplinarrecht hat, gleichzeitig die Qualitätsfeststellung durchführen soll. Wir haben ins Ausland geschaut, wie
unsere Nachbarn verfahren – mit den Niederlanden besteht
hier schon seit Jahrzehnten eine ganz enge, vertrauensvolle
Zusammenarbeit –, und haben sie um Rat und Hilfe gebeten.
Das ist der Hintergrund. Es ging nicht darum, die Kulturen
abzustimmen oder Ähnliches, sondern wir haben versucht, sehr
pragmatisch an diese Frage heranzugehen, und wir haben eine
Sache klar entschieden: Schulaufsicht bekommt keine zwei
Hüte aufgesetzt, sondern es wird getrennt zwischen der Schulaufsicht im traditionellen Sinne und der externen Evaluation,
74
Was gehört zu dieser Verzahnung? Dazu gehören zum einen die
Kriterien der Schulinspektion in Niedersachsen. Das Zweite ist,
dass auch für die Selbstbewertung, die Selbstevaluation, die die
Schulen ja als Vorbereitung vornehmen sollen, eine Hilfestellung gegeben worden ist, indem man einen Bezug zu Selbstbewertungsverfahren, die sehr systematisch sind, wie FQM oder
SEIS, hergestellt hat, damit die Schulen nicht auf eine falsche
Ebene geraten. Hier sind klare Entwicklungsstränge angeboten
worden. Als Nächstes kommt der Prozess der Unterstützung.
Wir haben zur Vorbereitung der eigenverantwortlichen Schulen
ganz systematisch ein Qualifizierungskonzept für das Management, für die Schulleitung entwickelt. In diesem Rahmen wird
Lohmann/Franke-Zöllmer/Schouten/Vogel: Externe Evaluation
Blindtext
unter anderem in Qualitätssicherung, in Qualitätsmanagement
und in Personalentwicklung eine systematische Ausbildung
angeboten, und es ist uns gelungen in den letzten anderthalb
Jahren alle Schulleitungsanfänger derart zu qualifizieren. Das
werden wir auch weiter betreiben, sodass wir nach und nach –
schätzungsweise bis zum Jahr 2008 – dahin kommen, mit dieser Qualifizierung alle Schulen zu erreichen.
Was die Professionalisierung der Lehrer betrifft, wollen wir
nicht zentral Schritte vorgeben, sondern abwarten, was die
Evaluation extern und intern an Bedarf aufdeckt. An dieser Stelle werden wir natürlich auch begleitend eine Qualifizierung
anbieten, indem wir Trainerinnen und Trainer für die Professionalisierung des Unterrichts ausbilden, aber auch für Teamarbeit
und für andere Schwerpunkte. Das Land hat hier ganz eindeutig eine Umsteuerung in Aussicht gestellt und wird in diesem
Bereich in den nächsten Jahren 41 Millionen Euro investieren.
Was die Einbindung der Normen und Standards betrifft, befinden wir uns am Anfang eines Prozesses. Wir wollen zunächst
einmal Erfahrungen sammeln – in diesem Jahr sollen die ersten
400 Schulen extern evaluiert werden –, dann werden die Ergebnisse ausgewertet, und vielleicht finden wir so einen Weg, wie
wir mit Schulen, die unterhalb des Standards oder über dem
Standard liegen, umgehen. Die externen Evaluatoren, also die
Schulinspektionsteams, schauen sich eine Schule anhand der
Qualitätskriterien nach einem ganz systematischen Verfahren
an, ohne eine Einzelbewertung vorzunehmen. Die Schule erhält
anschließend eine systematische Rückmeldung, wenn ein Entwicklungsbedarf besteht. Das wird in den Bericht geschrieben,
und die Schule wird aufgefordert, das für sich in Angriff zu nehmen. Nach einem Jahr erfolgt dann unter Umständen eine
Nachinspektion. Andernfalls wird diese externe Evaluation in
der Regel erst nach drei bis vier Jahren wieder durchgeführt.
Wir haben also noch keine Standardform für Schulen, die sich
unterhalb der Norm befinden, wie das z. B. in England der Fall
ist, weil der Prozess bei uns erst begonnen hat.
Die genaue Kenntnis und Klarheit über den Qualitäts- und Entwicklungszustand der Schule wurde begrüßt. Ihre Zufriedenheit
äußerten zwischen 75 und 85 Prozent der Befragten. Das Verfahren erweist sich somit als fair und gibt also genau in unserem Sinne der Schule einen Impuls zur Weiterentwicklung.
STATEMENT
Gitta Franke-Zöllmer
Ich finde es recht spannend, dass sich Niedersachsen nach
einem Partnerland umschaut und von dort Bewährtes, in dem
Fall die Schulinspektion, übernimmt, obwohl dort ja völlig
andere Kultur- und damit auch Schultraditionen vorliegen.
Nach PISA haben wir diese Konsequenz ja nicht gezogen, sondern immer gesagt, die Siegerländer seien ganz anders geartet,
hätten ein ganz anderes Bildungsverständnis. Das, was in Finnland gelte, könne bei uns gar nicht gelten, wir hätten ganz
andere Voraussetzungen. Aber vielleicht sind die Niederländer
als unsere Nachbarn da auch angenehmer als der kalte Norden.
Das nur zur Einleitung.
Ich möchte in zwei Punkten auf das eingehen, was nach den
vorliegenden Berichten in der Praxis hierzulande anders ist.
Zunächst sind die Lehrerinnen und Lehrer hier in Niedersachsen nicht grundsätzlich gegen eine externe Evaluation, da sind
wir uns alle einig. Nur gibt es ein paar Bedingungen, die man
damit verknüpfen müsste. Für unseren Verband, den VBE, gilt,
dass wir eine Schulinspektion nach Inkrafttreten der eigenverantwortlichen Schule für unterstützenswert halten. Das ist das
Erste. Herr Lohmann hat ja gerade ausgeführt, dass die Diskussion um die Einführung der Schulinspektion in engstem
Zusammenhang mit der Verwaltungsreform in Niedersachsen
steht, nämlich der Auflösung der Bezirksregierung, der Neudefinition der Schulaufsicht. Die neue Schulaufsicht haben wir
immer noch nicht definiert, aber als einen Teil davon haben wir
„Und jetzt will ich auf den vorliegenden Abschlussbericht zurückkommen. Da heißt es
nämlich, dass in den Niederlanden ausführlich darüber diskutiert worden sei, was die Merkmale einer als gute Schule definierten Einrichtung sein sollten. Das finde ich in Ordnung.
Mir ist jedoch nicht bekannt, dass wir das bei uns schon einmal öffentlich oder auch in Schulkreisen diskutiert hätten …“
In allen knapp 200 Schulen, die bisher in Niedersachsen extern
evaluiert worden sind, haben wir auch ein Feedback eingeholt.
Wir lassen die externen Evaluatoren, die Inspektionsteams
durch die Schule im Sinne einer Rückmeldung bewerten. Die
Rückmeldungen ergaben eine generelle Zufriedenheit des Kollegiums und auch der Schulleitung mit dem Evaluationsprozess.
schon einmal die Schulinspektion abgesplittet, die ja nun auch
schon seit geraumer Zeit arbeitet. Die eigenverantwortliche
Schule ist in der Anhörung, ist also noch gar nicht umgesetzt.
Wir haben einen Orientierungsrahmen Bildungsqualität, von
dem Herrn Lohmann gesprochen hat, der nie in der Diskussion
mit den Lehrerinnen und Lehrern war, der aber Voraussetzung
75
Und jetzt will ich auf den vorliegenden Abschlussbericht
zurückkommen. Da heißt es nämlich, dass in den Niederlanden
ausführlich darüber diskutiert worden sei, was die Merkmale
einer als „gute Schule“ definierten Einrichtung sein sollten. Das
finde ich in Ordnung. Mir ist jedoch nicht bekannt, dass wir das
bei uns schon einmal öffentlich oder auch in Schulkreisen diskutiert hätten, außer in den Netzwerkschulen. Es gibt Verbünde, die waren immer schon privilegiert,
und dort hat das sicherlich stattgefunden, aber für die Mehrheit der Schulen
gilt das nicht. Und die Konsequenz daraus, dass es vorher einen breiten Diskurs
gegeben hat, ist sicherlich in der Akzeptanz des Verfahrens wiederzufinden, so
wie es hier im Abschlussbericht steht.
Dort heißt es nämlich, dass „die Qualitätsmerkmale mit den Indikatoren der
Gesprächsleitfaden und der Beobachtungsbogen den Schulleitungen und
Lehrkräften“, ich betone das ausdrücklich, „bekannt sind und von ihnen auch
akzeptiert werden …“. Unter diesen Bedingungen kann ich natürlich auch eine
Schulinspektion nach niederländischem
Vorbild sofort akzeptieren.
Foto: Hannover Messe
für die Fragebögen und die Überprüfungskriterien der Schulinspektoren und -inspektorinnen ist. Das heißt, wir fangen mal
wieder von hinten an. Wir stecken also nicht erst den Rahmen
ab und machen dann, nachdem alles implementiert ist, die
Schulinspektion wirklich zum Messinstrument, sondern wir
installieren erst die Schulinspektion, und das andere kommt
hinterher.
Der zweite Punkt, auf den ich hinweisen
möchte: Es wurde gesagt, in den Niederlanden habe es schon immer die Schulinspektion gegeben. Nun hatte ja Niedersachsen ein völlig anderes Schulaufsichtssystem. Es gab bei uns nicht nur die Aufsichtsbeamten, die kamen, eine Prüfung abnahmen und zensierten, sondern unsere Schulaufsicht war zu einem großen Teil
für die Beratung zuständig. Das haben wir aber schon im ersten
Teil der Schulverwaltungsreform teilweise verloren, und in der
gegenwärtigen Phase ist es überhaupt nicht mehr vorgesehen.
Inspektion und Aufsicht sind in dem neuen Konstrukt voneinander getrennt. Wenn Sie aber voneinander getrennt sind,
müssen sie gleichwohl irgendwie zusammenwirken, denn auch
in Niedersachsen gibt die Schulinspektion nur einen Bericht.
Sie spiegelt das zunächst mal der Schulleitung. Dies ist auch
etwas, das auf unser völliges Unverständnis trifft, weil zuvor
Gespräche mit allen Gruppierungen geführt werden müssten.
Die erste Rückspiegelung erfolgt aber nur an die Schulleitung,
an den Schulleiter, die Schulleiterin, und diese alleine sollen
auch dazu Stellung nehmen.
Beim „forum bildung“, dem zentralen Treffpunkt auf der „didacta – die Bildungsmesse“,
diskutierten an allen Messetagen verantwortliche Bildungsminister, bekannte Erziehungswissenschaftler und Lernmethodiker, Bildungsforscher sowie Lehrer- und Elternvertreter.
Das Gleiche gilt für die Unterstützungsmaßnahmen. Das Einzige, was wir bislang haben, ist ein Programm zur Fortbildung
der Schulleiterinnen und Schulleiter. Nun kann man sich ja vorstellen, dass man bei einer Zahl von etwa 3500 Schulen die
Schulleiterinnen und Schulleiter alle entsprechend vorbereiten
muss. Berücksichtigt man zusätzlich die nicht geringe Fluktuation, wird das Potenzial der fortzubildenden Schulleiterinnen
und Schulleiter von Jahr zu Jahr höher. Ich habe also nicht nur
die schon im Dienst Befindlichen fortzubilden, sondern diejenigen, die jedes Jahr dazukommen, auch wieder neu. Das scheint
mir auch für das NiLS (Niedersächsische Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung) ein Problem zu sein, und es
ist auch eine Ressourcenfrage, wie man das in annehmbarer
Zeit umsetzen kann. Das will ich gar nicht in Abrede stellen.
Aber man muss die Wirklichkeiten sehen. Es steht gar nichts
von der Fortbildung der Lehrerinnen und Lehrer im Programm.
Und es gibt auch noch keine Einrichtungen dafür. Unsere bestehende regionale Fortbildung ist in ihrer Existenz noch immer
bedroht. Sie macht zwar noch Angebote, aber was daraus
zukünftig werden soll, wenn die Schulverwaltungsreform bis
zum Ende durchgeführt ist, weiß niemand. Das heißt, hier fehlt
eine ganze Reihe von Bedingungen, in deren Rahmen eine
Schulinspektion allererst einen Sinn ergäbe.
76
Warum werden aber zuvor nicht auch die Kollegen, der Personalrat, Eltern, Schülerinnen und Schüler gefragt? Traut man sich
nicht, oder ist das zu viel Arbeit? Dies alles sind Dinge, die wir
in der Anhörung noch zu klären haben. Zudem ist die Transparenz, die ja wohl auch im niederländischen Schulwesen in
Bezug auf die Inspektion vorhanden ist, in Niedersachsen noch
nicht erkennbar. Diese wünschen wir uns sehr, damit wir auch
wissen, nach welchem System man die Schulen aussucht, die
Lohmann/Franke-Zöllmer/Schouten/Vogel: Externe Evaluation
Blindtext
inspiziert werden. Wird gewürfelt, oder bestimmt jemand, welche Schule angeschaut wird? Wenn alle Schulen erfasst werden
sollen, muss doch ein transparentes System vorhanden sein, das
regelt, wie das Ganze erfolgen soll. Und je weniger Transparenz
vorhanden ist, desto mehr Unzufriedenheit herrscht an der
Basis. Ich kann nur immer wieder auf diese Stellen aus dem
Abschlussbericht der Niederlande verweisen, wo es heißt, dass
dort alles vorher geregelt wurde. Hier besteht bei uns enormer
Nachholbedarf.
Auf einen pikanten Punkt will ich noch verweisen: Bei uns
heißt es, die Schulinspektion stelle fest, wenn eine Schule
unter dem Standard liege. Aber nehmen wir einmal an, man findet eine Schule, auf die das zutrifft. Dann muss sich die neue
Schulaufsicht mit dem Schulleiter oder der Schulleiterin in Verbindung setzen, und man hat gemeinsam zu überlegen, wie der
Mangel behoben werden kann. Es heißt, dass man in diesem
Fall auf Unterstützungsmaßnahmen zurückgreifen soll. Auf welche denn, Herr Lohmann?
Aber gehen wir einmal davon aus, diese seien vorhanden, dann
kommt in einem Jahr oder eineinhalb die Schulinspektion wieder und überprüft das Ganze. Was passiert, wenn das Ergebnis
im schlimmsten Fall wieder negativ ausfällt? Dann, so steht es
im Schlusssatz, veranlasst die neue Schulaufsicht das Nötige.
Was das sein könnte, darauf sind wir alle sehr gespannt, und
damit will ich hier schließen.
STATEMENT
Rob L. Schouten
Ich freue mich über die Gelegenheit, hier etwas über die
Zusammenarbeit mit Niedersachsen erzählen zu können. In
Holland hat die Schulinspektion eine 200-jährige Tradition seit
der napoleonischen Zeit, aber erst seit zehn Jahren haben wir
unser Verfahren geändert. Der Anlass dafür, nach 190 Jahren
anders zu arbeiten, waren Anfragen im Parlament infolge der
In einem solchen Fall wird sofort die Schulinspektion gefragt,
ob sie darüber informiert ist. Wir mussten die Antwort schuldig
bleiben. Wir wussten nichts davon, weil die Kontakte zwischen
Schule und Schulinspektion damals noch anders aussahen. Oft
ist der Schulinspektor nur bis ins Zimmer des Direktors gelangt
und nicht weiter. Was in den Klassenräumen stattfand, ahnten
wir zwar, aber wir konnten darüber keine fundierte Auskunft
geben. Folglich hat die Inspektion ein Instrumentarium entwickelt, um sofort mit einer integralen Messung von Schulqualität
beginnen zu können. Wir haben uns dabei an vergleichbaren
Arbeiten orientiert, die in England und Schottland durchgeführt worden waren. Seit 1996 werden in den Niederlanden die
7000 Schulen im Primarbereich, die 1400 im Sekundarbereich
und die 70 Schulen im berufsbildenden Bereich systematisch
alle vier Jahre auf ihre Stärken und Schwächen hin inspiziert.
Eine Frage, die ich in Deutschland häufig höre, ist, ob man
Unterrichtsqualität überhaupt messen kann. Für uns ist die
Frage längst beantwortet, wir sagen vollmundig: Ja. Wir veröffentlichen die Berichte, die nach den Schulbesuchen geschrieben werden. Alle Eltern können sich im Internet darüber informieren. Man kann beispielsweise alle Gymnasien in einer Stadt
abfragen und genau nachlesen, welche Abiturergebnisse eine
Schule hat, wie die Qualität der Lernprozesse in einer Schule
bewertet ist und ob eine Steuerung der Unterrichtsqualität,
also Qualitätsmanagement, stattfindet. Die große Angst hier in
Deutschland ist, was passieren wird, wenn der Inspektor
kommt. Die Lehrer zittern, die Schulleitung ist unsicher in
Bezug auf das Ergebnis. Hat Schulinspektion überhaupt Einfluss
auf die Verbesserung von Schulqualität? Auch da kann ich aus
unserer zehnjährigen Erfahrung sprechen. Wir in den Niederlanden haben gemerkt, dass durch die Inspektionen mehr Konkurrenz zwischen den Schulen entstanden ist. Besonders die
Schulen in den gehobenen Wohngegenden haben große Angst,
dass ihnen aus den Inspektorenbesuchen und der Veröffentlichung der Ergebnisse im Internet Nachteile erwachsen. Also tut
jede Schule ihr Möglichstes, um sich zu verbessern. Positiv
gewendet ist das eine Anregung, eine Stimulation zur Qualitätsentwicklung.
„Viele Lehrer befürchten, wie wollten den einzelnen Lehrer beurteilen. Das resultiert aus
der hier zu Lande bestehenden Tradition von Schulaufsicht. Doch es ist wichtig zu betonen,
dass Schulinspektion nichts mit Schulaufsicht zu tun hat. Wir legen den Fokus nicht auf den
einzelnen Lehrer, vielmehr wollen wir einen Eindruck von der Qualität des Lernprozesses
gewinnen.“
Krise in einer kleinen holländischen Primarschule an der deutschen Grenze. Die Ministerin ist seinerzeit gefragt worden, ob
ihr bekannt sei, dass in einer bestimmten Schule schwache Qualität geboten wird, dass Eltern unzufrieden sind und Ähnliches.
Nun zu den Unterrichtsstunden. Viele Lehrer befürchten, wie
wollten den einzelnen Lehrer beurteilen. Das resultiert aus der
hier zu Lande bestehenden Tradition von Schulaufsicht. Doch es
ist wichtig zu betonen, dass Schulinspektion nichts mit Schul-
77
aufsicht zu tun hat. Wir legen den Fokus nicht auf den einzelnen Lehrer, vielmehr wollen wir einen Eindruck von der Qualität des Lernprozesses gewinnen. Unsere Fragestellung lautet:
Ist man an dieser Schule pädagogisch auf einem guten Weg,
herrscht hier ein stimulierendes Klima, wird man als Schüler
ermuntert und motiviert, ist die Qualität des methodischen
Vorgehens in Ordnung, gibt es nur Frontalunterricht wie früher
in den Niederlanden, oder kann man eine gewisse Abwechslung
erkennen, werden die neuen Medien eingesetzt? Hinterher
kommt dann die Rückmeldung, indem wir beispielsweise
berichten: Diese Schule ist pädagogisch auf dem richtigen Weg,
aber nicht so stimulierend, wie sie sein könnte. An einer anderen Schule ist der Unterricht im Allgemeinen gut, es wird gut
erklärt, aber es gibt zu wenig methodische Abwechslung, da
könnte man sich noch verbessern. Solcher Art ist unser Feedback, eine Drohung gegenüber einzelnen Lehrern ist ganz ausgeschlossen.
Was kommt nun nach dem Besuch? Das berührt die Frage der
Unterstützung. In Deutschland scheint mir hier noch Bedarf
vorhanden zu sein. Das Land Niedersachsen hat eigens ein Budget, damit Schulen sich Unterstützung einkaufen können. In
Holland ist es üblich, dass jede Schule ihr eigenes Budget hat,
um sich nach dem Besuch der Schulinspektion Hilfe bei Fortbildungsinstituten einkaufen zu können. Ich will aber auch nicht
verschweigen, dass viel Entwicklungspotenzial in den Schulen
selber steckt. Ich habe Schulen in Göttingen, in Oldenburg, in
Osnabrück gesehen und in vielen Schulen sehr interessante Lehrer getroffen, die auch für ihre Kollegen wegweisend wirken
könnten. Man muss gar nicht immer auf kostenintensive Hilfe
von oben hoffen: Es steckt häufig viel – manchmal verborgenes – Potenzial in den Schulen selbst.
Ich möchte noch kurz auf einige Punkte eingehen, die uns hinsichtlich der Unterrichtsqualität im Vergleich zwischen Niedersachsen, aber auch Nordrhein-Westfalen und den Niederlanden
aufgefallen sind. Die Zeit, die ein Schüler im Unterricht verbracht hat, ist in den Niederlanden bei 15-Jährigen um 20 Prozent höher als in Deutschland. Das hat damit zu tun, dass unsere Kinder schon mit vier, fünf Jahren in eine Privatschule gehen
und dort seriösen Unterricht bekommen. Zwar spielen sie auch,
aber es wird abgewechselt mit Rechnen und Sprachunterricht
in der Muttersprache. Alle Schulen in Holland haben auch Ganztagsunterricht, und am Nachmittag wird nicht nur gespielt,
sondern auch richtig gelernt.
Zweitens ist die Rolle der Schulleitung in Deutschland eine
wesentlich andere als bei uns. In den Niederlanden gibt es ein
Schulmanagement, das für die Qualität des Unterrichts einer
Schule verantwortlich ist. Hier ist eigentlich der Schulleiter
mehr Primus inter Pares, ein Kollege unter Kollegen. Aber er ist
auch der Vorgesetzte der Lehrer. Dadurch können wir immer,
wenn wir zur Inspektion kommen, den Manager im Hinblick auf
die Schulqualität ansprechen. Letztendlich sind die deutschen
Lehrer zwar auf dem Weg dorthin, aber bei uns ist man hier
78
schon weiter fortgeschritten. Beispielsweise ist die Fachkonferenz in Holland sehr verpflichtend. Alle Englischlehrer treffen
eine Absprache über ihr Programm, haben longitudinale und
vertikale Ziele, Vereinbarungen darüber, wie auf dem Weg von
Stufe 1 nach Stufe 10 vorzugehen sei; diese Ziele sind auch verbindlich. Am Ende stehen landesweite Zentralprüfungen für die
Realschule, für die Hauptschule und das Zentralabitur. Jeder
kann bei uns im Internet nachschauen, wie die Ergebnisse der
einzelnen Schulen ausgefallen sind. Die Eltern nutzen das und
schauen genau hin, ob eine Schule gut oder nicht gut ist.
STATEMENT
Hans-Jürgen Vogel
Ich muss mich im vorab dafür entschuldigen, dass Sie nun einiges vielleicht doppelt hören werden, aber das geht leider nicht
anders.
Im Grundsatz finden wir Eltern Schulinspektion gut, wir haben
dazu auch entsprechend Stellung genommen. Aber wir wollen
damit nicht die Lehrkräfte kontrollieren, sondern unserer
Ansicht nach sollte dadurch das System Schule in Augenschein
genommen werden, wie es arbeitet, wie es zusammenarbeitet,
wie es insgesamt wirkt und wie gut die Input-Steuerung des
Landes die Lehrkräfte, die dort arbeiten, erreicht, wie gut sie
es den Schülern vermitteln, was dabei herauskommt. Es geht
nicht um den Blick, den Fokus auf die einzelne Lehrkraft, sondern um den Fokus auf die gesamte Schule. Dass eigenverantwortliche Schule dazugehört, hat Herr Lohmann bereits gesagt.
Ich könnte ebenfalls noch eine Menge dazu sagen, weil wir
Eltern uns in dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf sehr übergangen fühlen, aber es wurden noch andere Punkte angesprochen, der Orientierungsrahmen Schulqualität etwa, der nirgendwo diskutiert worden ist. Er existiert seit 1999, danach
wird jetzt inspiziert. Die Frage ist aber, ob die Merkmale, die
darin stehen, mit allen Beteiligten abgesprochen worden sind,
ob jeder über das Gleiche redet, wenn man sich ein Qualitätsmerkmal ansieht. Das müsste auf jeden Fall in nächster Zeit diskutiert werden.
Wenn man den Schulen sagt, dass sie in bestimmten Bereichen
nicht so gut arbeiten, dann muss man ihnen dort auch Hilfe
anbieten. Das fordern wir schon seit Längerem. Wir brauchen
dringend ein Beratungs- und Unterstützungssystem. Wir können nicht mit der Kontrolle, mit der Inspektion anfangen, ohne
den Lehrkräften und der Schulleitung ein Hilfesystem an die
Hand zu geben. Das wird jetzt an dem Modellprojekt mit Bertelsmann deutlich: Wir haben für die etwa 25 Schulen, die in
Braunschweig im Bertelsmann-Projekt mitarbeiten, zwei Schulentwicklungsberaterinnen. Wenn wir das einmal auf das Land
hochrechnen, wie viele Schulentwickungsberater und -beraterinnen bräuchten wir dann? Ist das überhaupt realistisch? Wie
gut kann dieses Unterstützungssystem arbeiten?
Lohmann/Franke-Zöllmer/Schouten/Vogel: Externe Evaluation
Blindtext
Ich bin mir sicher, dass wir am Anfang, wenn die ersten ein,
zwei Runden der Inspektion laufen, erhöhten Bedarf haben
werden. Und nicht jede Schule wird die Mängel, die man feststellt, auch aus eigener Kraft beheben können. Damit kommen wir zu einem weiteren Punkt, den Herr Lohmann und
Herr Schouten nicht ausgeführt haben, der aber sehr häufig
von der Spitze des Hauses zitiert wird. In den Niederlanden
liegen drei bis fünf Prozent der Schulen unterhalb der Qualitätsnorm. Ist das jetzt eine Vorgabe für Niedersachsen, oder
gehen wir einmal ganz objektiv an die Sache heran und schauen, wo sich überall Mängel finden. Und was passiert, wenn
wir bei zehn, fünfzehn Prozent unter dem Strich ankommen
sollten? Wird dann irgendwo bei fünf Prozent gedeckelt? Das
kann es auch nicht sein, denn in diesem Fall könnten wir uns
unsere Schulinspektion auch sparen. Wir brauchen wirklich
eine ganz objektive Herangehensweise, wir müssen sehen, wo
überall Mängel liegen, und den Schulen muss an dieser Stelle
geholfen werden.
„Wenn man den Schulen sagt, dass sie in bestimmten Bereichen nicht so gut arbeiten, dann
muss man ihnen dort auch Hilfe anbieten. Das fordern wir schon seit Längerem. Wir brauchen
dringend ein Beratungs- und Unterstützungssystem. Wir können nicht mit der Kontrolle, mit
der Inspektion anfangen, ohne den Lehrkräften und der Schulleitung ein Hilfesystem an die
Hand zu geben.“
79
Im längeren gemeinsamen Lernen aller Schülerinnen und Schüler liegt die Chance, Heterogenität – zum
Beispiel bei der Leistung – pädagogisch zum Vorteil aller zu nutzen. Wie und warum wird dies im PISASiegerland Finnland in die Tat umgesetzt? Und wie könnte ein neues Modell aussehen, das der Debatte
um die Schulzeitverkürzung Rechnung trägt und dennoch längere gemeinsame Lernzeiten vorsieht?
Von Finnland aus warf RAINER DOMISCH vom finnischen Zentralamt für Unterrichtswesen in Helsinki
einen Blick auf das deutsche Schulwesen; sein Diskussionspartner auf dem Podium war EBERHARD
BRANDT, Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Niedersachsen. Gemeinsam
stellten sie sich dem Thema: „WIE LANGE GEMEINSAM LERNEN? NEUE ERKENNTNISSE UND NEUE
ANSÄTZE ZU EINER ALTEN STREITFRAGE“.
Rainer Domisch
Rainer Domisch, geb. 1945 in Schwäbisch Hall. Lehrerstudium in den Fächern Deutsch und Englisch. Lehrer
im baden-württembergischen Schuldienst. 1979-89 Entsandter Lehrer der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen an der Deutschen Schule in Helsinki. 1989-91 Rückkehr in den Schuldienst in Baden-Württemberg. Seit 1991 Entsandter Fachberater für Deutsch im Rahmen der deutschen auswärtigen Kulturpolitik.
Seit 1994 in der obersten Schulbehörde Finnlands, dem Zentralamt für Unterrichtswesen in Helsinki,
zuständig für Lehrerfortbildungsmaßnahmen für Deutschlehrer in Finnland.
Eberhard Brandt
Eberhard Brandt, geb. 1951. Gesamtschullehrer seit 1978 an der Heinrich-Nordhoff-Gesamtschule in
Wolfsburg. Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Niedersachsen seit 2003. Mitglied
des Schulhauptpersonalrats.
STATEMENT
Rainer Domisch
Zunächst möchte ich die besten Grüße aus Helsinki vom finnischen Zentralamt für Unterrichtswesen, dem finnischen Ministerium für Erziehung, überbringen und möchte Ihnen sagen,
dass Sie hier eine ganz fantastische Messe haben. Das würde
sicher auch viele finnische Schüler und Lehrer und viele meiner
Kollegen interessieren.
Auf die Frage, wo das deutsche Schulsystem steht, kann ich
natürlich wenig sagen. Ich kann Ihnen schildern, wo das finnische steht. Das finnische Schulsystem stand vor 40 Jahren auch
dort, wo das deutsche heute steht. Inzwischen führt man in
Finnland keine Strukturdiskussionen mehr, weil man die Schule
80
für alle weit fortentwickelt hat und weiter fortentwickeln wird.
Nach den für Finnland unerwarteten positiven Ergebnissen von
PISA sieht man keine Notwendigkeit, zu etwas zurückzukehren, was sich historisch nicht bewährt hat. Ich meine das
gegliederte System. Ich glaube, dass ein integriertes Schulsystem über kurz oder lang auch in Deutschland das allgemeine
System darstellen wird. Es ist eine Frage der Zeit. Genauso
wenig wie man heute die Wahlrechte von Frauen oder Bürgern
einschränken kann, genauso wenig kann man Bildung für alle
durch Systeme in verschiedenen Bildungsebenen erreichen. Bildung gehört allen, und man muss alle Kinder und alle Schüler
eines Schülerjahrgangs so weit bringen wie nur möglich.
Der Umbau des finnischen Bildungssystems hat seinerzeit dort
angefangen, wo die Frage gelöst werden muss, nämlich im Parlament. Strukturfragen sind eine politische Angelegenheit, und
Domisch/Brandt: Wie lange gemeinsam
Blindtext
lernen?
es gab in den 1960er-Jahren einen breiten parlamentarischen
Konsens einer bürgerlich-sozialdemokratischen Regierung darüber, eine Schule für alle einzuführen. Es hat dann fünf Jahre
gedauert, von 1972 bis 1977, bis man die Schulreform abgeschlossen hatte; angefangen hat man in Lappland, wo die
wenigsten Menschen wohnen und damit auch der geringste
Widerstand zu erwarten war, und geendet 1977 in Helsinki. Die
Peruskoulu, das ist eine Grundschule für alle von Klasse 1 bis 9,
ist bis zum heutigen Tag die Schule in Finnland und wird es
auch bleiben. Kein Mensch hat Sehnsucht nach der früheren
Differenzierung. Man hat dann in den 1980er-Jahren die äußere Differenzierung, also die Kursniveaudifferenzierung, als
Norm abgeschafft, weil durch diese Differenzierungsformen die
Gliederung durch die Hintertür wieder eingeführt wurde, und
seither gibt es diese Niveaus nicht mehr.
Die neue Schulform wurde von der Bevölkerung in der Mehrheit
angenommen und ist bis zum heutigen Tage die einzig akzeptierte Form. Man kann sich gar nichts anderes mehr vorstellen.
Doch in den 1970er-Jahren, vor allem während der Einführungsphase, wurde sie von Eltern mit akademischem Bildungshintergrund und von Gymnasiallehrern sehr heftig bekämpft.
Man sagte eine Nivellierung und ein Absinken der Leistungsfähigkeit der Schulen voraus. All das hat sich nicht bewahrheitet,
ganz im Gegenteil. Man hat durch Evaluierungen über Jahrzehnte hinweg festgestellt, dass das Leistungsvermögen aller
Schüler eher zugenommen hat; und die PISA-Studie war insofern keine große Überraschung, weil man durch Evaluierung
nun schon sehr lange weiß, was Schulen und was Schüler zu
leisten imstande sind.
Man hat sich am Anfang – und das ist glaube ich ein wesentlicher Bestandteil der finnischen Bildungsplanung – ständig an
der Zukunft orientiert, nicht an der Vergangenheit, denn wenn
Kinder heute eingeschult werden, dann nützt ihnen der heutige Zustand der Gesellschaft relativ wenig, sondern man muss
vorausplanen, wie die Umgebung in 15, in 20 oder 25 Jahren
aussehen wird. Deshalb hat man Anfang der 1990er-Jahre im
Zuge der Schulreform die Zuständigkeit, auch die inhaltliche,
den Kommunen übertragen. Seither sind die Kommunen bzw.
die Schulen die Organisatoren von Bildung. Der Staat hat sich
aus der Schulaufsicht zurückgezogen. Anfang der 1990er-Jahre
wurde die Schulinspektion abgeschafft, was übrigens auf Anraten der Schulinspektoren selbst geschah, die festgestellt hatten, dass Schulinspektion, wie sie damals durchgeführt wurde,
zu keiner Qualitätsverbesserung an den Schulen selbst führte.
Eine solche müsse vielmehr durch die Schulen, durch den Schulträger, die Lehrer, die Schüler und die Eltern erfolgen und
könne nicht von außen gesteuert werden.
Ein Instrument der Qualitätsverbesserung ist die Evaluierung,
die sich in Finnland seit etwa Anfang der 1990er-Jahre als Bildungsplanung durch Weitergabe von Information versteht, also
durch die Weitergabe der Evaluationsergebnisse, die keine
Rangliste der Schulen vorsieht, anders als in Schweden und in
Norwegen. Finnland würde einen solchen Weg nie gehen, auch
das gehört zur Qualitätsentwicklung. Es gibt ein schönes finnisches Sprichwort: „Man lernt zwischen den Ohren“, also die
Menschen müssen erst selbst lernen. Man kann nicht für sie
etwas lernen oder ihnen etwas vorgeben – sie müssen es selbst
tun. Und das klappt auch ganz gut. Doch es ist notwendig,
ständig aktiv zu sein durch Evaluierung wie auch Selbstevaluierung und den Schulen Mut zu machen, sich zu entwickeln.
Noch einmal zurück zu den Ranglisten. In Finnland wird der
Landesdurchschnitt bei den nationalen Evaluierungen veröffentlicht und in der Öffentlichkeit, in den Medien auch sehr
stark beachtet. Aber es gibt keine Ranglisten, sondern die Schulen bekommen den Landesdurchschnitt und ihre eigenen sehr,
sehr differenzierten Ergebnisse mitgeteilt. Auf dieser Grundlage
sind die Schulen verpflichtet, ihre Schule und die Qualität weiter zu entwickeln, und das hat dazu geführt, dass die Qualitätsunterschiede zwischen den Schulen in Finnland am allergeringsten sind von allen OECD-Ländern.
Man hat mit der Schulreform in den 1970er-Jahren auch die Bildungsfinanzierung auf neue Beine gestellt. Die Schulbildungsfinanzierung erfolgt bezogen pro Schüler, und zwar in einer
Mischfinanzierung des Staates und der Kommunen. 57 Prozent
dessen, was ein Schüler kostet, bekommt die Kommune vom
Staat, und 43 Prozent muss sie in der Regel selbst aufbringen.
In Finnland gibt es direkte Kommunalsteuern. Man kann im
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Internet nachgucken, was ein Schüler in einem Dorf in Lappland kostet, das sind etwa 12 000 Euro in einer kleinen Schule,
und ein entsprechender Schüler in Helsinki kostet vielleicht nur
3200 Euro. Allerdings bekommen die Kommunen dann für Schüler mit pädagogischem Sonderbedarf oder für Kinder mit einer
anderen Muttersprache mehr zugewiesen, mehr Ressourcen,
damit mehr Personal eingestellt werden kann bzw. kleinere
Gruppen gebildet werden können. Grundsätzlich sind Schüler in
der Grundstufe teurer. Die Gruppen sind kleiner als in den Gymnasien, und es wird auch mehr Personal für Stütz- und Fördermaßnahmen eingestellt. Für das Fundament, um eine ordentliche Bildungspopulation zu bekommen, braucht man also mehr
finanzielle Mittel.
nicht vorgeschrieben, anders als etwa in Schweden, wo es ja
eine Präsenzpflicht für alle Lehrer bis 16 Uhr gibt und die Schulen Lehrerarbeitsplätze einrichten. Ich kenne viele finnische
Lehrer, die ganz gerne einen Freiraum für sich beanspruchen
und zu Hause arbeiten, aber ich kenne wieder andere, die,
wenn sie aus der Schule kommen, lieber alles fertig haben
möchten und wissen, dass zu Hause der Feierabend anfängt.
Einen Anspruch auf Lehrerarbeitsplätze in der Schule gibt es
nicht, aber viele Kommunen richten so etwas ein. Schulleitung
und Kommune, der Schulträger, sprechen sich ab, wie man das
in den Schulen handhabt.
Auch in Finnland klagen die Kommunen über zu geringe Mittel
und Ressourcen, doch es spricht niemand darüber, das kostenlose warme Mittagessen in allen Schulen von Klasse 1 bis 12
infrage zu stellen. Niemand denkt daran, die Lernmittelfreiheit,
die auch Utensilien umfasst, von Klasse 1 bis 9 abzuschaffen.
Wenn jemand das infrage stellte, würde er aus der Reihe derer
ausscheren, die Bildung als ein wichtiges gesellschaftliches
Gebiet ansehen, und das würde in der Bevölkerung nicht akzeptiert. Daher vertritt niemand solche Ansichten.
Erzieherinnen in dem Sinne wie in Deutschland gibt es in Finnland nicht mehr. Man spricht dort von Kindergartenlehrern oder
-lehrerinnen, die an der Universität ausgebildet werden und in
Erziehungswissenschaften den Magisterabschluss haben. Daneben gibt es die Grundschullehrer- oder Klassenlehrerausbildung
für die Klassen 1 bis 6. Das wird in Zukunft mit den Fachlehrern
etwas mehr integriert werden. Die Lehrer werden ebenfalls an
den Universitäten ausgebildet und müssen in einem Fach ihren
Magisterabschluss haben. Sie unterrichten etwa fünf bis sechs
Fächer, aber schwerpunktmäßig dieses eine Fach als Hauptfach.
Daneben gibt es Fachlehrer, die von Klasse 7 bis 12 unterrichten.
Was mich immer erschüttert, wenn ich nach Deutschland
komme oder deutsche Zeitungen aufschlage, ist die völlig
unsinnige Einrichtung kommerzieller Nachhilfe, wofür die
Eltern bezahlen müssen, zusätzlich zu den Steuern, die sie ja
für den Unterhalt der Schulen aufzubringen haben. Das würden
sich die Eltern in Finnland nicht gefallen lassen. Ich glaube,
man nimmt hier einfach zu viel hin.
In der Lehrerausbildung ist ständig etwas in Bewegung. So hat
man zum Beispiel das Referendariat, wie es in Deutschland existiert, vor ein paar Jahren ersatzlos gestrichen, weil man die
Fortbildung der Lehrer als lebens- oder berufsbegleitend ansieht
und nicht innerhalb von eins, zwei Jahren als abgeschlossen
betrachten möchte. Die Lehrer bekommen drei unterrichtsfreie
Tage im Schuljahr als Pflichtfortbildungstage, aber die meisten
„Auch in Finnland klagen die Kommunen über zu geringe Mittel und Ressourcen, doch es
spricht niemand darüber, das kostenlose warme Mittagessen in allen Schulen von Klasse 1
bis 12 infrage zu stellen. Niemand denkt daran, die Lernmittelfreiheit, die auch Utensilien
umfasst, von Klasse 1 bis 9 abzuschaffen. Wenn jemand das infrage stellte, würde er aus
der Reihe derer ausscheren, die Bildung als ein wichtiges gesellschaftliches Gebiet ansehen,
und das würde in der Bevölkerung nicht akzeptiert.“
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In Finnland sind etwa 10 Prozent der Schulen gebundene Ganztagsschulen, wie das hier zu Lande wohl heißt, aber 90 Prozent
dauern halt den ganzen Tag – mit warmem Mittagessen. Und
man diskutiert nicht darüber, wie das generell organisiert wird
oder wie lange die Schüler bleiben müssen usw., sondern das
kann jede Schule nach Bedarf selbst einrichten. In einer ländlichen Schule wird es anders aussehen als in einer Industriestadt oder in einer Großstadt.
absolvieren aus eigenem Interesse sehr viel mehr Fortbildung.
Sie tun dies aber auch, um sich qualitativ fortzubilden, um also
etwa als Grundschullehrer ein Fachstudium zu absolvieren oder
umgekehrt. Es gibt auch kein sonderpädagogisches Grundstudium mehr. Ich kenne einige Fachlehrer oder Gymnasiallehrer,
die ein sonderpädagogisches Zusatzstudium machen, berufsbegleitend an den Fortbildungsabteilungen der Universitäten. Im
Grunde ist eben alles möglich.
Für die Lehrer gibt es teilweise Arbeitsplätze an den Schulen,
aber manche arbeiten auch lieber zu Hause. Das ist ebenfalls
Das Strukturmodell halte ich für interessant und für eine Entwicklungsmöglichkeit. Es kommt allerdings nicht darauf an,
Domisch/Brandt: Wie lange gemeinsam
Blindtext
lernen?
Gymnasium gestellt. Anforderungen, die eigentlich an Schüler
gestellt werden müssten, damit sie sich entwickeln können,
werden aber von ihnen ferngehalten. Da heißt es etwa, die
Hauptschule besuchten diejenigen, die mehr praxisorientierte
Foto: VdS Bildungsmedien
wie eine Institution heißt, sondern wie darin gearbeitet wird.
In Finnland werden Kinder mit sieben Jahren eingeschult, und
kein Mensch denkt darüber nach, diese Einschulung vorzuziehen oder Kinder früher einschulen zu wollen. Es gibt ein flächendeckendes Kindertagesstättennetz, alle Kinder sind
irgendwo in Familienbetreuung oder in Kindertagesstätten. Schon allein, weil über 80 Prozent der Frauen arbeiten müssen und wollen. Die Vorschule existiert in Finnland als Einrichtung erst seit dem Jahre 2001. Es gab
immer schon Vorschulunterricht in den Kindertagesstätten, nur wurden im Jahre 2001 Standards geschaffen,
nach denen die Vorschuleinrichtungen und Kindertagesstätten nun vorgehen müssen. Es gibt verschiedene
Lernfelder, die aber vor Ort selbst gefüllt werden müssen. Natürlich können 50 Prozent der Kinder, wenn sie
in die erste Klasse kommen, lesen oder schreiben, aber
es spielt ja keine Rolle, niemand würde bei uns darauf
drängen, früher mit der Schule beginnen zu müssen.
Ich glaube, es wäre viel wichtiger, die Kinder länger
zusammen lernen zu lassen, also bis zur 8. oder 9. KlasIm Vergleich zwischen den beiden Schulsystemen Finnlands und Deutschlands
se, um ebendas zu erreichen, was meine finnischen Kolwurde u. a. die Frage „Wie lange gemeinsam lernen?“ beleuchtet.
legen – die Experten von der Evaluierung, die sich seit
vielen Jahren damit beschäftigen – beschreiben. Sie antworten auf Fragen von deutschen Gästen sehr zurückhaltend, dass man keine gute Qualität in die Schulen bekomme, Bildung brauchten; gewisse andere Bildungsansprüche stellt
wenn man zu früh selektiert. Das war der eine Punkt, und der man an sie gar nicht mehr. Und man orientiert sich an einem
zweite ist: Man bekommt keine ausreichende Qualität, wenn merkwürdigen Mittelmaß und Mittelstandard, der auch auf
man Bildung auf verschiedene Stufen verteilt, also Standards dem Gymnasium dazu führt, dass die Schüler, die mehr Entschulartbezogen festschreibt. Standards sollten auch keine Min- wicklung vertragen könnten, ausgebremst werden. Ich sehe keideststandards sein, sondern Standards der guten Kompetenz nerlei positive Konsequenzen aus den Ergebnissen von PISA,
müssen für alle Schülerinnen und Schüler eines Jahrgangs gel- aber auch aus der alten qualitativen Schulforschung in der
ten, wodurch sowohl die guten Schüler als auch die schwachen Bundesrepublik Deutschland.
Schüler besser werden. Wenn man das nicht macht, dann werden die guten nicht besser und die schwachen werden eher Was also müsste sich alles ändern? Die Schülerinnen und Schüschlechter.
ler an den Hauptschulen unseres Landes sind nicht etwa dort,
weil sie weniger begabt wären als andere, sondern weil sie aufgrund ihrer soziokulturellen Herkunft sich selbst zu wenig
zutrauen und weil sie zu wenig Mut haben, sich Leistungsanforderungen zu stellen. Eine solche Selbstattribuierung
beginnt, wie man nach allen Bildungsuntersuchungen weiß,
schon in der Kindergartenzeit, in der Zeit der ElementarbilDie im Titel unserer Veranstaltung formulierte Frage würde ich dung. Schon dort fühlen diese Kinder sich abgehängt. Die
gerne in zwei Teilen beantworten. Der niedersächsische Kultus- Untersuchungen von IGLU zeigen, dass die Grundschule es zwar
minister Busemann hat gesagt, man würde ab jetzt nie wieder nicht vermag, soziale Unterschiede auszugleichen, dass sie aber
über Schulstrukturen reden. Diese Debatte sei ein für allemal denjenigen hilft, die mit Diskriminierungen auf die Welt
erledigt. Nachdem die Orientierungsstufe abgeschafft worden gekommen sind. In der Sekundarstufe I beginnt dann in der Tat
sei, hätte man ein begabungsgerechtes Schulsystem. Er hat die stärkere Auseinanderentwicklung. Wenn ein Schüler mit bileinen neuen Terminus kreiert: die „begabungsgerechte indivi- dungsbürgerlichem Hintergrund auf dem Gymnasium ein Probduelle Förderung“ – ein Widerspruch in sich, aber man will lem hat, kommt er dennoch irgendwie durch, weil er vom
offenbar gegenwärtig in Bezug auf die Schulstrukturen nichts Elternhaus entsprechend gestützt wird. Ein Kind, das sich
lernen, und man verstärkt die Abgrenzung der Schulformen wenig zutraut, wird ständig darin bestärkt, dass es eigentlich
voneinander, indem man deren jeweilige Bildungsanforderun- aus sich selbst heraus nichts kann. An dieser Selbstattribuiegen getrennt formuliert. In den neuen curricularen Vorgaben, rung ist das gegliederte Schulsystem schuld, und sie ist dort
die gerade in der Anhörung sind, werden sehr unterschiedliche auch nicht aufzuheben. Darum brauchen wir eine integrierte
Anforderungen an die Schüler von Hauptschule, Realschule und Sekundarstufe I, die alle Bildungsgänge enthält und alle Bil-
STATEMENT
Eberhard Brandt
83
dungsmöglichkeiten so lange wie möglich, also bis Klasse 10,
offen hält. Wir brauchen aber auch Veränderungen in der Oberstufe. Wenn wir ehemalige Schülerinnen und Schüler in ihrer
Entwicklung beobachten, können wir sehen, dass viele, denen
man in der Schule immer wieder ihr Scheitern prognostizert
Foto: VdS Bildungsmedien
rinnen und Lehrern haben will, dann kann man das auf die
Dauer nur mit drei- bis vierzügigen kleinen integrierten
Gesamtschulen erreichen. Das hätte den großen Vorteil, dass
der gymnasiale Bildungsgang dann auch denen zur Verfügung
stünde, die auf dem Lande wohnen, die weit von einem Kreisgymnasium entfernt leben, nicht nur was die Fahrtzeiten angeht (Stichwort: Flächenland Niedersachsen),
sondern auch was die soziokulturelle Distanz zum Gymnasium angeht. Das wäre ein Weg.
Herr Domisch hat gesagt, wir müssten in die
Zukunft sehen. Die rückgängigen Schülerzahlen sind ein
Teil der Zukunft, ein anderer Teil besteht darin, dass der
Anteil der Kinder von Migrantinnen und Migranten, je
weiter man in den Jahrgängen zurückgeht, immer größer wird. Das sind diejenigen, die vom bisherigen dreigliedrigen Schulsystem eindeutig nicht so gefördert
werden, dass ihnen wirklich alle Bildungsabschlüsse zur
Verfügung stehen. Auch hierzu muss man sich etwas
einfallen lassen, um die Förderqualität des Schulsystems
in diesem Punkt zu erhöhen.
Und das Dritte: Wir brauchen Entwicklungsfreiheit
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nutzten auch die Gelegenheit zu Gesprächen
für die Gesamtschulen. Sie bilden eben, wie Herr
nach Abschluss des offiziellen Teils der Veranstaltung.
Domisch das aus der finnischen Vergangenheit berichtet
hat, intern über äußere Fachleistungsdifferenzierung
noch viel zu stark das gegliederte Schulsystem ab. Es
hat, es später über die berufliche Bildung und über Fortbil- gibt moderne Formen des Unterrichts, die andere Fördermögdungsmöglichkeiten doch noch schaffen. Also brauchen wir lichkeiten bieten und die jene Entwicklungsschranken, die in
auch in der Sekundarstufe II eine Durchlässigkeit, die mehr den Gesamtschulen durch die Kurszuweisung durchaus besteWege zum Studium und zu anderen Bildungsgängen ermög- hen, überwinden können. Gesamtschulen müssen sich entwilicht, als wir das bisher in der Trennung zwischen allgemein bil- ckeln können. Dann, denke ich, wird dieser Schultyp sehr
dender gymnasialer Oberstufe und beruflicher Bildung haben.
attraktiv sein.
Wir haben in unserem Schulgesetz die Gesamtschulen auf zweierlei Art eingeschränkt und behindert.
Erstens haben die Eltern nicht mehr das Recht, für ihr Kind
die Einrichtung einer Gesamtschule zu fordern. Das ist erstaunlich, denn der Minister spricht davon, dass die Eltern die Wahlfreiheit für eine Schulform haben sollen. Gesamtschulgründungen sind davon aber ausgeschlossen. Man müsste von dieser
Regierung verlangen, die Eltern wirklich ernst zu nehmen und
Kommunen und Eltern die Einrichtung von Gesamtschulen zu
ermöglichen. Dass dies sinnvoll ist, zeigt sich unter anderem
daran, dass da, wo Gesamtschulen bestehen, die Anwahlquote
bis 40 Prozent geht. In Hannover ist mit derzeit sieben integrierten Gesamtschulen die Situation relativ ausgeschöpft. Die
Gesamtschulen haben da ihren Platz gefunden. Wenn man in
Hannover feststellt, dass jeder dritte Schüler an einer Gesamtschule Abitur macht, weil viele Realschulabsolventen nach
ihrem Abschluss die gymnasiale Oberstufe einer Gesamtschule
besuchen, dann haben sie einen festen Platz.
In anderen Regionen des Landes überlegen Kommunen, wie sie
mit dem Problem des Schülerrückgangs klarkommen können,
die Schülertransportkosten steigen, die Schulsysteme werden
bei rückgängigen Schülerzahlen kleiner. Wenn man wirtschaftlich zu betreibende Schulen mit sinnvollem Einsatz von Lehre-
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Die Frage, weshalb Bildung in dem Sinn kein Thema für Eltern
ist, dass sie in einer organisierten Form politischen Druck ausüben würden, ist eine knifflige Frage. Die engagierten Vertreter
der Elternschaft, die sich gut ausdrücken können, sorgen schon
dafür, dass ihre Kinder das kriegen, was sie brauchen, und dann
haben sie ihr Ziel erreicht. Das ist kein Vorwurf, das ist einfach
eine empirische Feststellung. Diejenigen, die den Ton angeben,
sind die Vertreter der gymnasialen Elternschaft, und wenn die
ihr Kind aufs Gymnasium gekriegt haben und da die Bedingungen stimmen, dann kümmern sie sich um die Bedürfnisse, die
Notwendigkeiten der anderen nicht mehr wirklich. Und es gibt
bei uns eine große Akzeptanz privater Finanzierung: bei Schulbüchern, beim Mensaessen selbstverständlich und auch bei
Nachhilfeinstitutionen. Forderungen an den Staat werden hier
fast nicht gestellt. Das führt dazu, dass man einerseits die einzelne Einrichtung betriebswirtschaftlich in Bezug auf die Kosten untersucht, aber die sehr hohen Systemkosten – ich nenne
gleich ein paar Beispiele dafür –, die sind überhaupt nicht in
der Rechnung enthalten.
Was passiert mit Schülerinnen und Schülern, die das Ziel eines
Jahrgangs nicht erreichen? Da heißt es, ohne dass es entsprechende Hilfen gibt: Einfach noch einmal machen – eine päda-
Domisch/Brandt: Wie lange gemeinsam
Blindtext
lernen?
gogisch vollkommen unsinnige Maßnahme. Nach allen empirischen Erhebungen bleibt sie ohne nennenswerten Erfolg, von
Ausnahmefällen abgesehen. Da wird enorm viel Geld verschleudert. Wenn man das Geld, das für Wiederholungen ausgegeben
wird, in Förderunterricht und in zusätzliche Lehrkräfte stecken
würde, dann hätte man schon andere Möglichkeiten. Eine noch
viel größere Geldvernichtung findet nach der Sekundarstufe I
statt, wenn diejenigen in die Endloswarteschleifen der beruflichen Bildung kommen, die keinen Schulabschluss haben, der
es ihnen ermöglicht, eine anspruchsvolle moderne Berufsausbildung zu machen. Und es hört ja nicht auf, wenn die jungen
Leute aus dem Berufsschulwesen draußen sind. Es geht weiter
mit den Maßnahmen der Arbeitsverwaltung. All dies setzt man
gar nicht in Beziehung, sondern man tut so, als sei es ein
Naturgesetz, dass man auf diese Weise ineffektiv und ohne
positive Resultate Geld ausgibt.
In der Tat bräuchten wir, so wie das Herr Domisch gesagt hat,
in der Grundschule, in der Elementarbildung, in den Kindergärten, eine ganz andere personelle und finanzielle Ausstattung.
Ein aktuelles Beispiel aus Niedersachsen: Zu Recht stellt der
Kultusminister fest, dass wir mehr als bisher Sprachförderung
in den Kindertagesstätten bräuchten. Nun müsste man annehmen, dass mehr Erzieherinnen systematisch für die Sprachförderung fortgebildet werden. Das passiert aber nicht. Stattdessen werden Lehrkräfte aus dem Sprachförderunterricht der
Grundschule abgezogen und in die Kindergärten geschickt. Aber
auch die Kinder in der Grundschule brauchen von der ersten bis
zur vierten Klasse weiterhin intensive Sprachförderung. Und so
wird bei uns Flickschusterei betrieben, anstatt ganz anders mit
Professor Jürgen Oelkers propagiert zur Verlängerung der
gemeinsamen Lernzeit die Einführung einer achtjährigen so
genannten Primarstufe, das heißt einer auf sechs Jahre verlängerten Grundschule plus einer zweijährigen Vorschule, die den
heutigen Kindergarten ersetzen würde. Ich glaube jedoch, dass
dieses Modell genauso schwer durchsetzbar ist wie die flächendeckende integrierte Sekundarstufe I. Doch es hilft alles nichts:
Man wird meines Erachtens um eine Entscheidung über die
integrierte Sekundarstufe I nicht herumkommen. Das zur politischen Einschätzung. – Zur pädagogischen Einschätzung: Wir
haben in Niedersachsen längere Zeit darüber diskutiert, ob die
Abschaffung der Orientierungsstufe sinnvoll ist oder nicht.
Möglich und sinnvoll kann sie sein, aber die Frage ist, was
danach kommt. Ich denke, für uns ist es wichtiger, dass wir
über die Veränderung der Grundschule und der Elementarstufe
sprechen und da einige Anregungen aufnehmen. Ich würde
gerne einmal lesen, welche Anregungen Professor Oelkers hierzu gibt.
Die Gesamtschulen könnten auch von Klasse 1 bis 13 gehen.
Diese Zuordnung gibt es in anderen Bundesländern, in Hamburg etwa, bei der Hälfte der Gesamtschulen. Das ist meiner
Meinung nach ein ganz interessantes Modell, um Schulwechsel,
die ja immer ein Problem sind, günstiger zu gestalten. Die
Debatte darüber, ob ein Einschnitt in der Pubertät, also der
Wechsel nach sechs Klassen, glücklicher ist, das ist noch einmal
ein Feld für sich.
Ich finde es sehr sympathisch, wenn Herr Domisch sagt, in
Finnland gehe man in Bezug auf die Kindertagesstätten ganz
„Bei uns wird teilweise erwogen …, die Grundschule bereits mit dem fünften Lebensjahr
anfangen zu lassen und die gymnasiale Schulzeit zu verkürzen. Nach diesem Modell hätte
man sein Abitur mit 16 Jahren, könnte ganz jung an die Universität gehen, die sich dann
gewaltig umstellen müsste. Dem liegt die Vorstellung zu Grunde, Schulzeit und Bildungszeit
in staatlichen Einrichtungen seien gestohlene Lebenszeit. Ich meine, von dem gelassenen
Umgang Finnlands könnten wir uns noch manche Scheibe abschneiden.“
personellen Ressourcen umzugehen. Erzieherinnen müssten
andere Ausbildungschancen bekommen, als das bisher der Fall
ist. In anderen Staaten ist es selbstverständlich, dass Erzieherinnen nicht nur in Fachschulen ausgebildet werden, sondern
man hat ihre Ausbildung in eine Fachhochschulausbildung
umgewandelt. Damit wird nicht nur die Ausbildungszeit verlängert, sondern auch das Niveau angehoben, um nachher die Fördermöglichkeiten in den Gruppen zu verbessern. Natürlich muss
eine qualifiziertere Ausbildung auch besser bezahlt werden. Die
Frage ist, ob diese Gesellschaft auf eine solche qualifizierte
Arbeit in den Kindertagesstätten verzichten will, ob wir uns das
leisten können.
gelassen vor. Diese bereiten im letzten Jahr auch schon auf
Schule vor, aber man diskutiert nicht darüber, früher anzufangen. Bei uns wird teilweise erwogen – auch in dem neuen Programmentwurf der SPD hier in Niedersachsen –, die Grundschule bereits mit dem fünften Lebensjahr anfangen zu lassen
und die gymnasiale Schulzeit zu verkürzen. Nach diesem Modell
hätte man sein Abitur mit 16 Jahren, könnte ganz jung an die
Universität gehen, die sich dann gewaltig umstellen müsste.
Dem liegt die Vorstellung zu Grunde, Schulzeit und Bildungszeit
in staatlichen Einrichtungen seien gestohlene Lebenszeit. Ich
meine, von dem gelassenen Umgang Finnlands könnten wir uns
noch manche Scheibe abschneiden.
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Mit neuen Bildungsstandards und mehr Leistungsmessung soll Deutschland fit gemacht werden für
einen Spitzenplatz im internationalen Vergleich. Doch führen die Reformmaßnahmen tatsächlich zu
einem besseren Unterricht? Und geraten Fächer, in denen keine Bildungsstandards abgeprüft werden,
nicht automatisch ins Hintertreffen? Unter der Überschrift „VON DEN BILDUNGSSTANDARDS ÜBER
NEUE METHODEN DER LEISTUNGSMESSUNG HIN ZU BESSEREM UNTERRICHT?“ diskutierten Professor
Dr. OLAF KÖLLER, Direktor des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen, Berlin, Professor
Dr. KLAUS-JÜRGEN TILLMANN, Wissenschaftlicher Leiter der Laborschule in Bielefeld, und HEINZPETER MEIDINGER, Vorsitzender des Deutschen Philologenverbandes, wie die Konsequenzen eines
Teaching-to-the-tests umgangen werden können.
Olaf Köller
Olaf Köller, geb. 1963, ist Professor für Empirische Bildungsforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin
und Direktor des von den Ländern der Bundesrepublik Deutschland eingerichteten Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB). Psychologiestudium bis 1991, bis 1996 am Institut für die Pädagogik der
Naturwissenschaften in Kiel, 1996-2002 am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin tätig.
2002-04 Lehrstuhl für Psychologie an der Universität Erlangen-Nürnberg. Seit 2004 Stiftungsprofessor an
der Humboldt-Universität zu Berlin.
Klaus-Jürgen Tillmann
Klaus-Jürgen Tillmann, Professor Dr. paed., geb. 1944. Hauptschullehrer im Ruhrgebiet, 1971-78 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Schulentwicklungsforschung in Dortmund; 1979-90 Professor für
schulische Sozialisation an der Universität Hamburg und 1991/92 Gründungsdirektor des Pädagogischen
Landesinstituts Brandenburg. Seit 1992 Universitätsprofessor für „Pädagogik und Didaktik der Sekundarschule“, seit 1994 zugleich Wissenschaftlicher Leiter der Laborschule in Bielefeld.
Heinz-Peter Meidinger
Heinz-Peter Meidinger, geb. 1954. Studium der Germanistik, Geschichte, Soziologie, Politikwissenschaft und
Philosophie für das Lehramt an Gymnasien in Regensburg. Seit 1984 im Schuldienst, seit 1997 in der Lehrerausbildung tätig als Seminarleiter für Deutsch; seit 2003 Direktor des Robert-Koch-Gymnasiums in Deggendorf; 1990-93 Bundesvorsitzender der Jungen Philologen im DPhV; seit 2001 stellvertretender Vorsitzender
des Deutschen Philologenverbandes (DPhV); seit 2003 Bundesvorsitzender des DPhV.
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Köller/Tillmann/Meidinger: Bildungsstandards und Leistungsmessung
STATEMENT
Olaf Köller
Ich will Ihnen zunächst kurz berichten, was wir im Institut zur
Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) im Hinblick auf
zwei wesentliche Aufgaben tun. Zum einen betreiben wir
natürlich Qualitätssicherung, zum anderen bringen wir aber
auch zumindest Versuche auf den Weg, Qualität zu entwickeln,
Unterrichtsqualität zu steigern.
Ich beginne mit unserer Arbeit zur Entwicklung von Aufgaben
für die Überprüfung der länderübergreifenden Bildungsstandards und komme anschließend auf die Entwicklung von Unterrichtsmaterialien zum kompetenzorientierten Unterricht zu
sprechen. Dabei bin ich mir durchaus dessen bewusst, dass Messen allein zwar wichtig ist, aber keineswegs Wege aufzeigt, wie
man Unterricht optimiert. Ich erwähne in diesem Kontext auch
das SINUS-Programm (Programm der Bund-Länder-Kommission
zu „Steigerung der Effizienz des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts“), weil ich SINUS für einen der Kernbausteine erachte, die notwendig sind, um Reformen im Unterricht überhaupt etablieren zu können. Was SINUS im Wesentlichen leistet, ist, in Kollegien ganz neue Formen des Umgangs,
der Kooperation zu etablieren, d. h., es geht dabei um die
Weiterentwicklung der Unterrichtsmethodik primär durch
Kooperation: Gemeinsames Reflektieren über das eigene Agieren im Unterricht, das gemeinsame Arbeiten an ausgesuchten
Fragestellungen in den Fachkollegien, die Güte, die Qualität des
eigenen Unterrichts zu hinterfragen, aber auch neue Unterrichtskonzepte gemeinsam zu erarbeiten und zu erproben,
indem sich etwa der Klassenraum öffnet, indem Kolleginnen
und Kollegen hospitieren und anschließend Rückmeldung geben
können. Es finden Videoaufzeichnungen statt, Material wird
ausgetauscht, um Synergien herzustellen. Damit verbunden ist
außerdem ein breites Fortbildungsangebot für Lehrkräfte. Ohne
solche Maßnahmen werden die Bildungsstandards, an denen
wir in Berlin arbeiten, wenig Eingang in die Unterrichtspraxis
finden.
Ich komme damit zu meinem eigentlichen Anliegen, nämlich
den Bildungsstandards. Zur Erinnerung sei gesagt, dass es hierbei primär um fachbezogene Kompetenzen geht. Kompetenzen,
die Schülerinnen und Schüler zu einem bestimmten Zeitpunkt
ihrer schulischen Karriere, etwa am Ende der Jahrgangsstufe 4
bzw. am Ende der Sekundarstufe I, erreicht haben sollten, und
zwar im Kernbereich des jeweiligen Faches. Es handelt sich um
eine Auswahl von Fächern – Deutsch und Mathematik für die
Grundschule; Deutsch, Mathematik, die Naturwissenschaften,
Englisch und Französisch im Bereich der Sekundarstufe I. Und
es geht dabei im Wesentlichen um Leistungsstandards oder Performance-Standards, wie es in der internationalen Diskussion
heißt. Die Standards sind in der Regel in die Formulierung
gefasst: „Der Schüler, die Schülerin soll Folgendes können am
Ende der Sekundarstufe I“ bzw. „am Ende der Grundschule …“
Und sie sind so aufgeschrieben, dass man sie in Aufgaben übertragen kann. Mit diesen Aufgaben können die Standards
zugleich überprüft werden.
Eine zweite Aufgabe dieser Standards – und darauf werde ich
gleich noch eingehen – ist natürlich, dass sie der Förderung der
Schülerinnen und Schüler dienen sollen. Dadurch dass vorgegeben wird, was Schulen zu bestimmten Zeitpunkten erreicht
haben sollen, erhofft man sich, dass Schulen Wege entwickeln,
um Schülerinnen und Schüler zur Erreichung ebendieser Standards zu führen. Und die Hoffnung, die mit der Kompetenzorientierung verbunden ist, ist natürlich die Verbesserung der
Aufgaben und der Unterrichtskultur.
Worum es im Wesentlichen bei der Arbeit des IQB geht, ist, die
Bildungsstandards weiterzuentwickeln, aber vor allem auch
methodisch zu präzisieren, in Aufgaben zu gießen und dann
natürlich auch in den Ländern zu überprüfen. Dies geschieht
dadurch, dass wir zunächst einmal eine große Sammlung von
Testaufgaben entwickeln, dass wir empirische Studien durchführen, in denen wir versuchen, nationale Skalen zu definieren,
z. B. eine nationale Skala für Deutsch und für Mathematik am
Ende der Grundschule bzw. am Ende der vierten Klasse usw.
Danach soll in den einzelnen Ländern überprüft werden, ob die
87
Schülerinnen und Schüler diese Standards erreichen. Intendiert
ist, dass diese Aufgaben direkt in die Schulen gehen. Die Schulen sollen selbst Werkzeuge an die Hand bekommen, mit denen
sie überprüfen können, ob ihre Schülerinnen und Schüler die
Vorgaben erreicht haben. Schließlich geht es auch um die
Bereitstellung von Unterrichtsmaterialien und Aufgaben für
einen kompetenzorientierten Unterricht. Das ist unser zweites
Ziel. Insofern geht es uns auch um Unterrichtsentwicklung,
und zwar in folgendem Sinne.
Unserer Ansicht nach gibt es drei tragende Säulen der Optimierung von Lehr-/Lernprozessen. Die erste Säule ist Optimierung
oder Weiterentwicklung einer kompetenzorientierten Aufgabenkultur, die zweite Säule ist die Entwicklung oder Etablierung einer neuen Unterrichtskultur, eben auch im Sinne der
Kompetenzorientierung. Und das Dritte ist genau das, was
SINUS tut, nämlich in den Kollegien eine Kultur der Kooperation zu schaffen, eine Kultur des gemeinsam Reflektierens darüber, wie Unterricht zu gestalten ist, wie welche Aufgaben
ausgewählt werden können, damit es gelingt, Kompetenzen
aufseiten der Schülerinnen und Schüler zu fördern.
ganze Palette der Kompetenzen anhand eines Aufgabestammes
durchzubuchstabieren, je nachdem welche Intention ein Lehrer
oder eine Lehrerin im Unterricht hat, welche Einzelkompetenz
sie möglicherweise gerade fördern will. Wir haben im IQB also
nicht nur die Überprüfung, das Normieren im Blick, sondern es
geht uns ganz klar auch um Angebote für den stärker kompetenzorientierten Unterricht in der Hoffnung, damit nachhaltigeres Lernen zu ermöglichen.
Ich möchte aber noch auf fünf Punkte eingehen, die immer wieder kritisiert werden, seit es die Bildungsstandards gibt.
Der erste Punkt betrifft die Frage Mindeststandards / Regelstandards. Niemand weiß im Grunde, was Regel- und was Mindeststandard ist. Wenn wir Lehrer fragen, was denn die Schüler
mindestens können sollten, bekommen wir ganz unterschiedliche Antworten. Legt man es in der Kommission normativ fest,
gerät man in die Gefahr, dass trotz aller Definitionen von Mindeststandards viele Schüler dahinter zurückbleiben. Das heißt,
die Diskrepanz zwischen dem, was man normativ gerne als Mindeststandard hätte, und dem, was sich empirisch ergibt, ist
a priori überhaupt nicht abzuschätzen. Insofern tut man gut
„Unserer Ansicht nach gibt es drei tragende Säulen der Optimierung von Lehr-/Lernprozessen. Die erste Säule ist Optimierung oder Weiterentwicklung einer kompetenzorientierten Aufgabenkultur, die zweite Säule ist die Entwicklung oder Etablierung einer neuen
Unterrichtskultur, eben auch im Sinne der Kompetenzorientierung. Und das Dritte ist genau
das, was SINUS tut, nämlich in den Kollegien eine Kultur der Kooperation zu schaffen …“
Ich möchte Ihnen dies an einer Aufgabe demonstrieren: „Eine
Firma für Kleinbildfilme hat sich eine besondere Verpackung
ausgedacht, die fast aussieht wie ein Fußball. Jeweils vier Filme
sollen in dieser Schachtel verpackt sein.“ Man hat das Ganze im
Jahr der Fußball-WM also in einen Stimulus, einen aktuellen
Kontext eingebunden, und dann werden zu diesem Stamm der
Aufgabe eine ganze Reihe von Fragen gestellt. Die erste Frage
ist: „Aus wie vielen Quadraten und Dreiecken besteht die Verpackung?“ Diese Aufgabe kann man beliebig variieren. Das Erste
war im Grunde genommen eine geometrische Frage: „Raum und
Form“ heißt die Leitidee in den Bildungsstandards. Man kann
jetzt beliebige weitere Aufgaben zu diesem Stamm formulieren.
Die Bildungsstandards definieren für das Fach Mathematik im
Wesentlichen sechs Kompetenzen, u. a. mathematisches Problemlösen, mathematisches Modellieren, Argumentieren, Kommunizieren, und die Idee der Etablierung einer neuen Aufgabenkultur für den Unterricht ist, einen Stamm zu wählen, einen
Aufgabenstamm, der möglichst an die Umwelt, an den Alltag
der Schülerinnen und Schüler angelehnt ist, und dann Teilaufgaben zu entwickeln, um die verschiedenen Kompetenzen schulen zu können. Es geht also im Grunde genommen darum, die
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daran, alles offen zu lassen, und das versuchen wir im IQB. Das
heißt, wir arbeiten an nationalen Skalen, die es irgendwann
erlauben werden, Mindeststandards in einem bestimmten Leistungsbereich einzuschlagen, Regelstandards in einem entsprechend höheren Bereich, und dann sind wir im Grunde genommen wieder bei den Philologen, bei Idealstandards und der
Frage: Wo sollte sich das System hinbewegen? Das heißt, diese
ganze Debatte kann man im Grunde genommen aufgeben. Es
wird vermutlich auch eine Frage der ersten empirischen Ergebnisse sein, wo wir die Standards verankern, und es kann sogar
sein, dass wir nebeneinander Regel-, Mindest- und Idealstandards haben werden. Aber ich plädiere dafür, erst einmal abzuwarten, was tatsächlich bei den Arbeiten des IQB herauskommt, bevor man diese Diskussion fortführt.
Der zweite Streitpunkt sind abschlussbezogene Standards.
Es ist mittlerweile Konsens in der KMK, dass die Überprüfung
der Bildungsstandards beispielsweise in der Grundschule in
Jahrgangsstufe 3 stattfinden wird, d. h., wir haben hier einen
Disput oder eine Diskussion, die im Grunde genommen überflüssig ist. Die Überprüfung wird ganz bewusst in der dritten
Klasse angesetzt. Die Schulen bekommen Instrumente an die
Köller/Tillmann/Meidinger: Bildungsstandards und Leistungsmessung
Blindtext
Hand, um in Jahrgangsstufe 3 eine Lernstandsfeststellung
durchzuführen und dann im Hinblick auf den Übergang gegensteuern zu können. Ganz analog wird das im Sek-I-Bereich
geschehen. Natürlich werden wir auch Maßnahmen ergreifen,
um beispielsweise in Jahrgangsstufe 10 oder 4 eine Messung an
Normen zu ermöglichen. Aber es ist längst Konsens, dass die
abschlussbezogenen Standards die Chance oder die Option öffnen, früher anzusetzen, und genau das wird umgesetzt.
Der dritte Punkt betrifft die Diskussion „Bildung ist mehr
als die Bildungstandards“. Dem stimme ich völlig zu. Das ist
überhaupt keine Frage. Die Frage ist aber, was ist Bildung? Und
dieser Aspekt kommt mir in der Diskussion zu kurz. Der Bildungsbegriff wird ja nicht nur im Sinne von Allgemeinbildung
oder in Anlehnung an Humboldt diskutiert, sondern auch innerhalb der Fächer, im Sinne des Bildungsverständnisses eines
Faches. Für mich sind da die Mathematikstandards paradigmatisch. Sie demonstrieren, was die Mathematik unter mathematischer Bildung versteht. Dabei geht es nicht bloß um mathematische Grundbildung, es geht vielmehr um eine ganz bewusste Orientierung des Faches an seinem eigenen Bildungsbegriff.
Ein weiterer Punkt zur Bildung: Ich halte es für legitim, das
Ganze Bildungsstandards zu nennen, weil damit Kompetenzen
gemeint sind, die Schülerinnen und Schülern, wenn sie über
diese Kompetenzen verfügen, den Zugang zur Bildung, nämlich
zum Erwerb von Weltwissen ermöglichen. Die erfolgreiche
Begegnung mit der Welt wird erst möglich, wenn man über die
Kompetenzen verfügt, die in den Bildungsstandards aufgeschrieben sind.
Und ein letzter Punkt zum Vorwurf einer Hierarchisierung
der Fächer durch Bildungsstandards. Eine solche Hierarchisierung gibt es schon immer. Erstens durch Stundentafeln und
zweitens durch die Versetzungsrelevanz. Wer in Musik und
Kunst eine Fünf hat, wird versetzt; wer aber in Deutsch und
Mathematik eine Fünf hat, muss die Klasse wiederholen. Das
heißt, wir haben schon immer eine Hierarchisierung der Fächer,
es gibt schon seit jeher „wichtigere“ und „unwichtigere“ Fächer.
Das macht sich nicht erst an Bildungsstandards fest. Im Übrigen beobachte ich, dass sich viele andere Fächer mittlerweile
auf den Weg gemacht haben, um auch Bildungsstandards zu
generieren. Vielen Dank.
STATEMENT
Klaus-Jürgen Tillmann
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen, Kollegen, meine
Rolle soll es heute sein, etwas Wasser in den Wein zu gießen
und ein Stück weit zu hinterfragen, ob immer mehr Standards,
immer mehr Tests und Leistungsmessung tatsächlich die zentrale Antwort auf die ohne Zweifel vorhandenen Probleme in
unseren Schulen, der entscheidende Schritt in Richtung mehr
Schulentwicklung sein kann. Das Thema dieser Veranstaltung
suggeriert dies ja ein wenig. Von den Bildungsstandards über
neue Methoden der Leistungsmessung hin zu besserem Unterricht – mit Fragezeichen, das wir dann auch ernst nehmen wollen –, an dieser Aufzählung wird deutlich, dass die Bildungsstandards und die neuen Methoden der Leistungsmessung
eigentlich nur dann einen Sinn ergeben, wenn daraus auch besserer Unterricht entsteht.
Ich beginne mit einer kleinen Anekdote, um einmal deutlich zu
machen, warum ich da meine Zweifel habe. Als eine der ersten
Leistungsvergleichsstudien gemacht wurde, die LAU-Untersuchung von Reiner Lehmann in Hamburg, hat man die Ergebnisse auch an die Schulen rückgemeldet. Einige Hamburger
Gymnasien bekamen Leistungsergebnisse für ihre sechsten und
siebten Klassen, die deutlich unter den Erwartungen lagen.
Dann ist in diesen Gymnasien diskutiert worden, was nun zu
tun sei. Einige Schulen sind zu dem Ergebnis gekommen, dass
das schlechte Ergebnis nicht am Unterricht in der Schule läge,
sondern daran, dass man die falschen Schüler aufnehme. Konsequenterweise müsse man demnächst bei der Schüleraufnahme rigider sein, dürfe die, die eigentlich nicht dorthin gehörten, auch nicht mehr aufnehmen, dann würden beim nächsten
Mal auch die Leistungen besser. Also aus dem Feedback dieser
Daten ist kein Schulentwicklungsprozess hervorgegangen, sondern eine Verschärfung von Auslese.
Das sage ich, um zu verdeutlichen, dass kein Grund zu der
Annahme besteht, es gäbe einen Automatismus zwischen der
Messung von Leistungsergebnissen, der Rückmeldung der
Ergebnisse eines Kollegiums und einer anschließenden Verbesserung von pädagogischer Praxis. Was wir über diesen
Zusammenhang wissenschaftlich wissen, ist gegenwärtig noch
relativ dürftig, und an dieser Stelle herrscht eigentlich mehr
das Prinzip Hoffnung als eine gesicherte Erkenntnis.
Das Zweite: PISA hat ja eine ganze Menge in Bewegung
gebracht. Die Kultusministerkonferenz hat unmittelbar nach
den PISA-Ergebnissen einen Handlungskatalog mit insgesamt
sieben Handlungsfeldern verabschiedet. Ich nenne ein paar
davon: Verbesserung der Sprachkompetenz in unterschiedlichen
Feldern, bessere Verzahnung von Vor- und Grundschule, frühzeitigere Einschulung und Qualitätssicherung durch verbindliche Standards und Evaluation. Was aber ist denn eigentlich in
welchen Bundesländern bezogen auf diese sieben Felder tatsächlich passiert? Bei allen Differenzen zwischen den Ländern
kann man eines sagen: Es gibt kein Feld, in dem so viel, so entschlossen und so schnell etwas getan worden ist wie im Punkt
verbindlicher Standards, Evaluation und Leistungsmessung. Das
bedeutet, dass die Hauptreaktion der Kultusminister auf die
PISA-Probleme weniger darin bestand, in Richtung Förderung
aktiv zu werden, sondern vielmehr darin, in Richtung von Zielsetzung, von Unterrichtsergebnissen und Messung von Unterrichtsergebnissen zu gehen.
Damit will ich ja gar nicht sagen, dass solche Definitionen und
Ansätze falsch sind, sie werden nur falsch, wenn sie in einer
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solchen Ungleichgewichtigkeit betrieben werden. In NordrheinWestfalen beispielsweise, dort, wo ich herkomme, gab es im
Jahr 2000 vor PISA nirgendwo zentrale Abschlussprüfungen, es
gab keine verpflichtenden Lernstandserhebungen. 2004 kurz
vor den Wahlen hatte die alte sozialdemokratische, inzwischen
abgewählte Regierung sechs mehr oder weniger verbindliche
zentrale Bestandteile von Lernstandserhebungen beschlossen,
und zwar:
1. Erste vergleichende Leistungsprüfungen können in der dritten Klasse erfolgen. Parallelarbeiten in Deutsch und Mathe.
2. Ein Jahr später, im vierten Schuljahr, erfolgen zentrale Lernstandserhebungen in den gleichen Fächern, die verpflichtend sind. Sie beziehen sich auf die KMK-Bildungsstandards
der vierten Klasse. Im gleichen Jahr fällt dann auch die Entscheidung für den Übergang in die weitere Schulform.
3. Im siebten Schuljahr gibt es verpflichtende Parallelarbeiten
in Deutsch, Mathe und erster Fremdsprache.
4. Im neunten Schuljahr zentrale Lernstandserhebung in
Deutsch, Mathe und erster Fremdsprache.
5. Erstmals 2007 erfolgen am Ende des zehnten Schuljahres
teilzentrale Abschlussprüfungen mit zentralen Aufgaben in
Deutsch, Mathe und erster Fremdsprache.
6. Erstmals 2007 steht am Ende des dreizehnten Schuljahres
das Zentralabitur.
Eine solche Geschwindigkeit bei der Durchsetzung eines Programms habe ich in meinen langen Erfahrungen als Mensch, der
Selektivität – angemessen zu reagieren, sind konzentrierte Fördermaßnahmen in unterschiedlichen Bereichen erforderlich.
Von der Frühförderung im Kindergarten bis zur Nachalphabetisierung von Jugendlichen. Das wird im Prinzip auch von der
KMK so gesehen, deswegen hat sie ja den thematisch durchaus
vielfältigen Handlungskatalog vorgelegt. Wenn man aber
schaut, auf welche Maßnahmen sich die Umsetzung bisher konzentriert hat, wo die 16 Kultusminister koordiniert und stringent vorgehen, dann sind das vor allem Standardsetzungen und
Leistungsevaluation. Dies verbindet sich mit einer zum Teil
massiven Vernachlässigung der anderen Bereiche, in denen es
jeweils um die Verstärkung von Lerngelegenheiten und um die
gezielte Förderung von Heranwachsenden geht. Von der Sache
her lässt sich das kaum rechtfertigen, ich finde, dass da wesentlich mehr Balance notwendig wäre. Wenn das Vorgehen also von
der Sache her nicht gerechtfertigt ist, was können die Gründe
dafür sein? Ich finde nur politische Gründe. Denn selbst großflächige Leistungsevaluationen sind immens viel billiger als
etwa der durchgängige Ausbau der Ganztagsschule oder die flächendeckende Einführung von Förderstunden.
Großflächige Leistungsevaluation und zentrale Abschlussprüfungen sind öffentlich hochpopulär. Wir haben das in unserem
Forschungsprojekt auch aufzeigen können. In der Presse werden in allen Bundesländern, die wir untersucht haben, die
Minister, sobald sie solche zentralen Leistungsprüfungen ein-
„Ich kritisiere die Dominanz dieser Standard- und Messentwicklung. Um auf die in PISA festgestellten Defizite – mangelnde fachliche Kompetenz und ein hohes Maß an sozialer Selektivität – angemessen zu reagieren, sind konzentrierte Fördermaßnahmen in unterschiedlichen
Bereichen erforderlich. Von der Frühförderung im Kindergarten bis zur Nachalphabetisierung von Jugendlichen. Das wird im Prinzip auch von der KMK so gesehen, deswegen hat sie
ja den thematisch durchaus vielfältigen Handlungskatalog vorgelegt. Wenn man aber
schaut, auf welche Maßnahmen sich die Umsetzung bisher konzentriert hat …, dann sind
das vor allem Standardsetzungen und Leistungsevaluation.“
bildungspolitisch interessiert ist, höchst selten erlebt. Wir
haben also eine äußerst schwungvolle Entwicklung in einem
bestimmten Bereich, und der Kollege Köller, den ich sehr schätze, ist Teil dieser Entwicklung, weil die Kultusministerkonferenz natürlich auch beschlossen hat, ein solches zentrales Institut zu gründen, in dem die Aufgaben für die ganzen Überprüfungen entwickelt werden. Wenn man ein solches Konzept hat,
braucht man in der Tat ein kompetentes Institut.
führen, durchgängig bejubelt. Von der „taz“ im Fall Bremens bis
hin zu schlichten regionalen Zeitungen in Rheinland-Pfalz. Deshalb führen solche Maßnahmen zum politischen Punktegewinn.
Mit meiner Einschätzung will ich ja gar nicht suggerieren, dass
Standardsetzung und Leistungsevaluation nicht auch sinnvolle
Maßnahmen sein können. Doch mir scheint es wenig angemessen zu sein, diese Maßnahmen so stark in den Vordergrund zu
rücken und zugleich die angekündigten Förderaktivitäten deutlich bescheidener zu betreiben.
Was habe ich an dieser Stelle zu kritisieren?
1. Ich kritisiere die Dominanz dieser Standard- und Messent-
wicklung. Um auf die in PISA festgestellten Defizite – mangelnde fachliche Kompetenz und ein hohes Maß an sozialer
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2. Weiterhin kritisiere ich, dass es abschlussbezogene Regelstandards gibt statt der Mindeststandards, die von der Kommission um den Kollegen Klieme vorgeschlagen wurden. Hierzu
muss ich ein wenig ausholen. Diese Klieme-Kommission geht
Köller/Tillmann/Meidinger: Bildungsstandards und Leistungsmessung
Blindtext
davon aus, dass die Definition von Standards und die darauf
bezogene Leistungsprüfung dann sinnvoll sind, wenn sie einen
Beitrag zur Sicherung und Entwicklung der Schulqualität leisten und wenn dadurch Lernprozesse und Lernergebnisse positiv
beeinflusst werden. Standards sollen vor allem dazu beitragen,
dass immer weniger Schüler und Schülerinnen die notwendigen
zogenen Leistungserhebungen überprüfen sollen, wie gut ein
Schulsystem, wie gut eine einzelne Schule den Bildungsauftrag
erfüllt. Es geht somit um Systemmonitoring, es geht um Schulevaluation und nicht um die Zensierung oder gar die Auslese
der einzelnen Schülerinnen und Schüler. Dazu das Gutachten:
„Von einer Verwendung der Standards bzw. standardbezogener
Tests für Notengebung und Zertifizierung
wird abgeraten.“ Und weiter: „Dies ist mit
ein Argument dafür, Testeinsätze nicht in
den Abschlussjahrgängen durchzuführen.“ So
weit also das Gutachten der Kommission,
die von Bundesregierung und KMK selber in
Kraft gesetzt worden ist.
Foto: VdS Bildungsmedien
Festzuhalten ist nun aber, dass die KMK alle
diese Empfehlungen souverän beiseite
geschoben hat. Sie hat keine Mindeststandards formuliert, sondern Regelstandards für
den so genannten mittleren Abschluss, und
diese Regelstandards sind bewusst auf
Abschlüsse und Abschlussprüfungen bezogen. Abschlussbezogene Regelstandards
heißt es dann auch offiziell, und die entsprechenden Tests dazu finden kurz vor dem
Übergang statt. Das heißt, die Hoffnung der
Engagiert, aufmerksam und kritisch verfolgten auch in diesem Jahr die Zuhörerinnen und
Klieme-Kommission, man könne StandardZuhörer die zahlreichen Veranstaltungen beim „forum bildung“.
formulierungen so schaffen, dass man den
Selektionsprozess an Schulen nicht verfeinert und verschärft, ist gleich in der ersten
Basisqualifikationen verfehlen. Eine solche Orientierung bedeu- Runde den Bach runtergegangen. Wir haben jetzt Standards,
tet zugleich eine klare Absage an Standards als Instrument einer die sich eindeutig auf Schulabschlüsse beziehen und diese
effektiveren Auslese. Entsprechend formuliert die Klieme-Kom- Abschlussperspektive effektiver machen sollen.
mission, die Funktion von Bildungsstandards „besteht nicht
3. Ich will jetzt hier nicht die gute Klieme-Kommission gegen
darin, den individuellen Leistungs- und Selektionsdruck auf
Schüler zu verstärken. Im Vergleich mit anderen Staaten zeich- die böse KMK in Stellung bringen, vielmehr ist mindestens ein
net sich Deutschland ohnehin dadurch aus, dass die Schüler Punkt kritisch anzusprechen, der beide in gleicher Weise
mehr Leistungsdruck als Unterstützung wahrnehmen“. So weit betrifft. Sowohl Klieme-Kommission als auch KMK sprechen ja
die Klieme-Kommission. Diese Position hat dazu geführt, dass von Bildungsstandards. Tatsächlich aber geht es um Kompetendie Kommission an zwei besonders wichtigen Stellen eindeuti- zen und Leistungsanforderungen in den drei Unterrichtsfächern
ge Empfehlungen formuliert hat. Erstens wird sehr dringend Deutsch, Mathe, der ersten Fremdsprache und jetzt auch in
empfohlen, Standards als Mindeststandards zu entwickeln, Naturwissenschaft. Bildung, das wissen wir alle, umfasst mehr.
d. h., es soll dargelegt werden, wozu die Schulen, die Lehrer Hier gerät nur ein bestimmter eng ausgewählter Bereich der
verpflichtet werden, um Qualifikation bei den Schülern auf schulischen Arbeit in den Blick. Das Qualitätsverständnis, das
einer Mindestbasis herzustellen, unterhalb deren kein Schüler von den Bildungsstandards transportiert wird, ist betont fachetwa die 9. oder 10. Klasse verlassen soll. Es sind Standards, die spezifisch, und es richtet sich auf eine ausgewählte Zahl von
die Anforderungen an den von der Schule zu erreichenden Lern- Fächern. Das mag pragmatisch sinnvoll sein, ist zugleich aber
prozess formulieren. Jeder Schule, jedem Lehrer sollte klar sein, mit der großen Gefahr eines pädagogischen Reduktionismus
welche Mindesterwartungen gestellt werden. Angesichts der verbunden. Die Schule hat eben mehr als drei oder vier Fächer,
Tatsache, dass unser Bildungssystem Schwächen vor allem im und viele wichtige Aufgabenstellungen liegen jenseits des Fachunteren Leistungsbereich zeigt, kommt diesem Merkmal beson- unterrichts. Es kommt hinzu, dass die von der KMK vorgelegten
Bildungsstandards auch fachbezogen heftig kritisiert werden.
dere Bedeutung zu.
Insbesondere den Deutschstandards wird vorgeworfen, den BilDie Klieme-Kommission warnt ausdrücklich davor, Regelstan- dungsauftrag des Faches nicht angemessen abzubilden. Hiedards zu formulieren, weil damit immer auch Gewinner und rüber gibt es eine breite Debatte unter den Deutsch-DidaktiVerlierer produziert werden. Das war der eine Punkt. Zum Zwei- kern. Deshalb haben wir es auch mit der Gefahr zu tun, dass die
ten macht die Kommission sehr deutlich, dass die standardbe- ohnehin bestehende Hierarchie von Fächern durch diese Stan-
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dards und die darauf bezogene Überprüfung um ein Vielfaches
verschärft wird.
Mein Ergebnis, meine Einschätzung: Die Standards bieten eine
gewisse Chance, auf die Erfüllung von Mindestleistungsanforderungen stärker zu achten und Entwickungsprozesse in Gang
zu setzen. Ob diese Chancen tatsächlich genutzt werden oder
ob die Gefahr, Unterricht schlechter zu machen, stärker durchschlägt, ist aus meiner Sicht noch sehr, sehr offen. Danke
schön!
STATEMENT
Heinz-Peter Meidinger
Ich werde versuchen, mich auf einige wenige Kernpunkte zu
beschränken. Herr Professor Tillmann hat es ja unternommen,
Wasser in den Wein der Bildungsstandards zu gießen. Ich möchte kein neues Wasser hineingießen, aber vielleicht einige Relativierungen vornehmen. Wir vom Philologenverband hätten es
lieber gesehen, wenn der Begriff Bildungsstandards durch den
Begriff Wissens- und Kompetenzstandards ersetzt worden wäre,
weil der Bildungsbegriff viel weiter gefasst ist als das, was in
den Bildungsstandards abgebildet wird. Ich mache keinen Hehl
daraus, dass die Bildungsstandards einen kleinsten gemeinsamen Nenner in der Kultusministerkonferenz darstellen, der
auch von uns mitgetragen wird. Wir haben an den Bildungsstandards mitgearbeitet, es gab ein breites Anhörungsverfahren, und grundsätzlich ist dieser Weg weg von der Input-Orien-
deststandards in der Schulpraxis zu Regelstandards werden.
Doch wer besser werden will, und Deutschland möchte ja besser werden, darf die Messlatte nicht zu tief legen. Und wir dürfen nicht vergessen, dass wir ja nicht nur die Risikogruppen am
unteren Ende des Leistungsspektrums fördern müssen, sondern
dass wir auch eine zu geringe Spitze haben. Ich halte es daher
für besser, den Blick auf den Regelstandard zu richten, ohne die
Risikogruppen zu vernachlässigen.
Ein paar weitere Anmerkungen:
1. Bildungsstandards sind kein Wundermittel. Man kann
gegenwärtig den Eindruck gewinnen, als hätten wir mit der
Einführung der Standards die größte Wegstrecke auf dem Weg
nach oben im PISA-Ranking schon hinter uns. Doch das war nur
der erste und wahrscheinlich sogar der einfachste Schritt. Die
Leistungsverbesserung zwischen PISA 2000 und PISA 2003 ist
sicher nicht auf die Verabschiedung der Bildungsstandards
zurückzuführen, dafür war der Zeitrahmen viel zu knapp. Auch
sind die Bildungsstandards in der Regel noch gar nicht in den
Lehrplänen implementiert. Die Verbesserung ist meiner Ansicht
nach eher der verstärkten Anstrengung von Lehrern und Schülern geschuldet. PISA 2003 wurde ernster genommen.
Vieles ist nicht neu an den Bildungsstandards; die TaxonomieEbenen gab es auch schon früher, ich erinnere an die curricularen Lehrpläne der 1970er-Jahre. Wir haben auch die größere
Kompetenzfixierung schon mal gehabt; neu ist in erster Linie
die enge Bindung an konkrete Aufgabenpools und natürlich
auch die Evaluierung, die durch das Institut von Herrn Köller
maßgeblich erfolgen soll.
„Der Punkt ist, dass man über die Bildungsstandards natürlich auch wieder eine größere Vergleichbarkeit der Noten erreichen könnte, d. h. das, was ein nicht erfüllter Standard ist, was
ein „mangelhaft“ ist, könnte wieder mit größerer Genauigkeit bestimmt werden.“
tierung hin zur Output-Orientierung auch der richtige. Der
genauere Blick darauf, was beim Schüler ankommt bzw. was die
Schüler und Schülerinnen können (müssen), ist in den letzten
Jahrzehnten zu stark vernachlässigt worden.
Meines Erachtens ist es zwar grundsätzlich richtig, den Fokus
stärker auf die Risikogruppen, nämlich die, die diese Standards
nicht erfüllen, zu richten und hier die nötige Förderung zu entwickeln. In der Frage Regelstandards oder Mindeststandards,
die ja von Herrn Professor Tillmann nochmals thematisiert worden ist, haben wir vom Philologenverband allerdings einen
etwas anderen Standpunkt, weil man im Falle von Mindeststandards das Augenmerk allein auf die Frage richten würde,
welche Schüler die Minimalansprüche nicht erfüllen und gefördert werden müssen. Dabei besteht die Gefahr, dass diese Min-
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2. Die Verabschiedung der Bildungsstandards ist nur der erste
Schritt, die größte Wegstrecke steht noch bevor. Die Implementierung der Bildungsstandards in Lehrpläne, in Unterrichtsmaterialien muss noch erfolgen, auch bei den Aufgabenpools
stehen wir erst am Anfang, das sind ja erst Rudimente, die in
den Bildungsstandards als Anlage angefügt sind. Gleiches gilt
für die zaghaft beginnende Evaluierung, und, ganz wichtig, wir
brauchen natürlich auch eine verstärkte Fortbildung der Lehrer,
derjenigen, die mit den Bildungsstandards arbeiten müssen.
Hier besteht noch ein großes Desiderat.
3. Es wird immer wieder gesagt, Bildungsstandards böten die
Chance für einen größeren pädagogischen Freiheitsspielraum
der Lehrer. Es komme eine erhöhte Verantwortung auf Lehrer
zu, die jetzt nicht mehr Punkt für Punkt ihren Lehrplan abar-
Köller/Tillmann/Meidinger: Bildungsstandards und Leistungsmessung
Blindtext
beiten müsten, sondern die den Blick auf die zu erreichenden
Kompetenzen richten und nunmehr den Unterricht stärker in
eigener Kompetenz, in eigener Professionalität gestalten müssten. Wenn wir einen Blick auf Länder werfen, in denen Bildungsstandards schon eine größere Rolle spielen, muss ich der
Befürchtung Ausdruck geben, dass auch der gegenteilige Effekt
eintreten könnte. Und diese Gefahr ist gar nicht so gering. Die
Ausarbeitung – Herr Köller könnte das sicher noch genauer ausführen – von solchen Aufgabenpools mit exakten TaxonomieEbenen und der getrennten Erfassung unterschiedlichster Kompetenzbereiche ist ein hochkomplexer Vorgang, eine Aufgabe,
die im Endeffekt der Unterrichtswissenschaft vorbehalten bleiben muss. Es besteht dann aber die große Gefahr, dass das Subjekt Lehrer nur noch Ausführender oder Handlanger sein wird,
um diese Aufgabenpools im Unterricht umzusetzen, weil es gar
nicht mehr in der Lage ist, die entsprechenden Prüfungsaufgaben auszuarbeiten. Der Lehrer könnte sozusagen zum bloßen
Organisator und „Umsetzer“ der in vielen Bundesländern schon
beschlossenen und durchgeführten Orientierungsarbeiten und
Jahrgangsstufentests degradiert werden.
4. Die Frage der Inhalte. Wir haben, Professor Tillmann hat das
angesprochen, natürlich eine Kompetenzorientierung bei den
Standards. Im Bereich der Mathematik ist eine Trennung von
Inhalt und Kompetenz kaum gegeben. Es ist völlig klar, mit welchen Inhalten die zu erreichenden Kompetenzen verbunden
sind. Im Fach Deutsch ist es schon erheblich schwieriger, d. h.,
man hat dort bei den Bildungsstandards etwa den ganzen
Bereich des literarischen Kanons weit gehend ausgespart und
ihn beschränkt auf Sprachkompetenzen, auf Sachtext, Interpretation, auf grammatisches Wissen. Wir sind der Auffassung,
dass in einer Gesellschaft, die so stark unter Modernisierungsdruck steht, die so vielfältig, multikulturell geworden ist, die
Konzentration auf feste Gegenstände, d. h. auf feste Bildungsinhalte gerade im Fach Deutsch, aber auch in anderen Fächern
eher gestärkt werden muss. Es ist auch kein Zufall, dass Fächer
wie Geschichte oder Geografie etwa ohne Bildungsstandards
geblieben sind. Stellen Sie sich einmal vor, was es bedeuten
würde, Geschichte kompetenzorientiert in Bildungsstandards
umzusetzen. Das wird so allgemein, dass die Inhalte weit
gehend beliebig werden, damit kann niemand im Unterricht
arbeiten.
5. Wir befürchten wie Herr Professor Tillmann auch eine Verengung des schulischen Bildungsauftrags. Wenn man bei PISA
besser abschneiden will, wenn das utilitaristisch umgesetzt
wird, heißt das ja, dass ich mich auf drei schulische Fachgebiete konzentriere: Deutsch, Mathematik und die Naturwissenschaften. Wir kennen Länder, in denen diese drei Fächer 80 Prozent des Unterrichtsvolumens ausmachen. Einige von ihnen
sind nicht umsonst in solchen Tests dann sehr weit oben. Das
kann es aber nicht sein. Wir haben erstens auch andere wichtige Fächer, und wir haben natürlich einen ganz anderen, umfassenderen Bildungs- und Erziehungsauftrag, wenn man etwa das
ganze Gebiet der Werteerziehung sieht. Wir müssen aufpassen,
dass über die Konzentration auf Bildungsstandards dieses weite
Spektrum des Bildungsauftrags und die Werteerziehung nicht
unter die Räder geraten.
6. Ich habe bislang eher ein paar Bedenken geäußert, am
Schluss möchte ich auch noch eine Chance anführen, die sich
aus der Einführung von Bildungsstandards ergeben könnte: Wir
wissen aus einer Reihe von Untersuchungen, dass Noten eine
relativ geringe Aussagekraft haben, vor allem im Ländervergleich. Das berühmte Beispiel lautet, dass eine Zwei in Bayern
eine Drei in Baden-Württemberg und eine Vier in NordrheinWestfalen ist. Das kann man auch über die Schularten hinweg
noch differenzieren, dann schöpfen wir das gesamte Notenspektrum aus. Ähnliches gilt aber manchmal schon für zwei
benachbarte Gymnasien, das ist bekannt. Es gilt auch schon für
zwei verschiedene Klassen, weil es solche pädagogischen Mittelungen immer gibt. Der Punkt ist, dass man über die Bildungsstandards natürlich auch wieder eine größere Vergleichbarkeit
der Noten erreichen könnte, d. h. das, was ein nicht erfüllter
Standard ist, was ein „Mangelhaft“ ist, könnte wieder mit größerer Genauigkeit bestimmt werden.
7. Bildungsstandards sind gut, auch die Implementierung
muss folgen. Das Allerwichtigste ist aber, dass, wenn Defizite
festgestellt werden, natürlich auch die Ressourcen da sein müssen, um eine entsprechende Förderung geben zu können. Das
Beste an Bildungsstandards für die Politik ist – und deswegen
ging das so schnell –, dass sie fast nichts kosten. Teuer wird es,
wenn es darum geht, auch die Förderressourcen aufzubringen,
um die erkannten Defizite abzustellen. Aber darüber ist leider
noch in keinem Bundesland Sinnvolles gesagt worden.
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In immer mehr Bundesländern starten Projekte für selbstständige Schulen, die mehr Gestaltungsspielräume, Eigenverantwortlichkeit und bessere Budgetplanung versprechen. Welche Voraussetzungen
müssen erfüllt sein, damit diese Versuche gelingen? Wie sieht die Umsetzung in der Praxis aus, welche
Probleme, Möglichkeiten, Chancen bestehen? Welche Auswirkungen hat die Selbstständigkeit auf
Lernklima und Unterrichtsqualität? Diese Fragen beherrschten die Veranstaltung „SCHLUSS MIT DER
GÄNGELEI – WARUM DEUTSCHLAND SELBSTSTÄNDIGE SCHULEN BRAUCHT“. Auf dem Podium saßen
Dr. LUDWIG ECKINGER, Bundesvorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung, ANDREA KIEWEL,
ZDF-Moderatorin, BERND BUSEMANN, niedersächsischer Kultusminister, und BARBARA LOOS, Schulleiterin des Max-Born-Gymnasiums in Germering.
Moderation: Gaby Miketta
Eine Veranstaltung von
Ludwig Eckinger
Ludwig Eckinger, Dr., geb. 1944. Ausbildung zum Volksschullehrer an der PH Regensburg. Nach dem 2. Staatsexamen wissenschaftlicher Assistent an der Universität Regensburg. Promotion nach einem Aufbaustudium
der Pädagogik und Politischen Wissenschaften. 1982-94 Leiter der Grundschule Saal a. d. Donau. Seit 1993
Bundesvorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE). Seit 1996 Vorsitzender der Expertenkommission Schule, Bildung und Wissenschaft des Deutschen Beamtenbundes (dbb); seit 2003 stellvertretender Vorsitzender der dbb Akademie. Zugleich Vizepräsident des Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverbandes (BLLV).
Andrea Kiewel
Andrea Kiewel, ehemaliges Mitglied der DDR-Schwimmnationalmannschaft. Pädagogikstudium in Berlin.
1988-91 Lehrerin in Berlin Hellersdorf. Tätigkeit für verschiedene Fernsehsender seit 1991. ZDF-Moderatorin,
Fernsehgarten und Frühstücksfernsehen.
STATEMENT
wie Herr Busemann es tut. Aber ich habe eine andere Rolle. Ich
bin fest davon überzeugt, dass man einen ganzen Wust von
Erlassen und Verordnungen einfach streichen könnte, um zu
sagen: Schule mach, Hauptsache, das Ergebnis stimmt.
Wenn man der Schule mehr Eigenverantwortung zusprechen
will, dann sollten die Lehrerinnen und Lehrer auch wirklich Verantwortung tragen dürfen und nicht permanent verantwortlich
gemacht werden. Deswegen müsste bereits in der Ausbildung
eine ganze Menge passieren, damit sich Lehrerinnen und Lehrer zu Personen, ja Persönlichkeiten ausbilden können, die zur
Freiheit erziehen sollen, die deshalb auch pädagogische Freiheit
beanspruchen dürfen und müssen. Deshalb bin ich sehr sicher,
dass die Lehrerinnen und Lehrer unter der ständigen Gängelei
eher leiden. Und ein Minister muss das natürlich so darstellen,
Überhaupt leben wir ja in einer Zeit, in der dereguliert und
dezentralisiert werden muss, d. h. Entscheidungen sollten von
den Betroffenen gefällt werden können. An den Schulen brauchen wir zwar Beratung, Systemberatung von außen, vor allem
pädagogische Beratung, aber wir müssen innerhalb der Schule
diejenigen sein, die die kleine Polis aufbauen, und davon sind
eigentlich drei Gruppen betroffen. Das sind als Allererstes die
Schülerinnen und Schüler, die Lehrerinnen und Lehrer und die
Eltern. Wenn man die machen ließe und Vertrauen hätte, dann
Ludwig Eckinger
94
Eckinger/Kiewel/Busemann/Loos: Selbstständige
Blindtext
Schulen
Bernd Busemann
Bernd Busemann, geb. 1952. Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Köln. Erstes juristisches
Staatsexamen 1979. Nach Referendariat beim OLG Oldenburg Zweites juristisches Staatsexamen 1982. Seit
1982 Rechtsanwalt, seit 1985 Notar. Mitglied der CDU seit 1971. Abgeordneter im niedersächsischen Landtag
seit 1994; Stellvertretender Vorsitzender der CDU-Landtagsfraktion seit 1998. Seit 2003 niedersächsischer
Kultusminister.
Barbara Loos
Barbara Loos, geb. 1944. Studium der Germanistik und Anglistik in Bonn, Hull/GB und München. 1970
Gymnasiallehrerin. 1983-86 Lehrbeauftragte an der Universität Passau. Seit 1988 Direktorin des Max-BornGymnasiums in Germering. 1990 Landesvorsitzende der Bayerischen Direktorenvereinigung. Seit 2001 Vorsitzende der Bundesdirektorenkonferenz. 1998 Leitung des Forums „Schulentwicklung und Qualitätssicherung“ auf dem Bildungskongress des bayerischen Kultusministeriums. Seither Mitglied der Projektgruppe
„Schulentwicklung“ im Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus.
würde alles viel, viel besser laufen, als das zurzeit der Fall ist.
Ich spreche für die Lehrerinnen und Lehrer, die mehr Verantwortung wollen. Über die Lehrerausbildung ist hier noch eine
Menge zu bewegen, aber ich denke, dass wir das nicht von
heute auf morgen anpacken können.
tionen stattfinden, die der Schulentwicklung dienen, denn
wenn es so weitergeht wie bisher, dann habe ich eher den Eindruck, dass wir in Zukunft statt „Guten Morgen“ „Heute schon
evaluiert?“ sagen sollen, und das ist eine Methode, die ich nicht
akzeptieren kann.
Ein Paradebeispiel für Gängelei ist der Umgang mit Bildungsstandards und Evaluation. Die Kultusminister in Deutschland
haben offenbar überhaupt nicht mitbekommen, dass die Bildungsstandards, die aufoktroyiert wurden, bis jetzt nicht in der
Schule angekommen sind, aber es wird schon von interner und
externer Evaluation geredet. Es hätte jetzt bloß noch gefehlt,
dass von Visitation gesprochen würde. Doch die Zeiten sind
vorbei, und zwar endgültig. Das heißt also, es müssen Evalua-
Ich wünsche mir, dass Bildungsstandards so definiert werden,
dass sie nicht nur als Überschriften von Lehrplänen dienen, sondern dass sie bei den Lehrerinnen und Lehrern auch ankommen,
denn keine Reform in der Geschichte der Pädagogik hat je funktioniert, ohne dass Überzeugungsarbeit bei den eigentlich
Betroffenen, nämlich den Lehrerinnen und Lehrern, geleistet
worden ist. Das ist bisher nicht geschehen, die Bildungsstandards sind in der Praxis nicht angekommen. Deswegen brau-
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chen wir auch noch gar nicht so viel von Evaluation zu reden,
wenngleich wir uns dazu bekennen. In der Primärerklärung 2000
haben alle Lehrergewerkschaften Deutschlands mit der Kultusministerkonferenz unterschrieben, dass wir interne und externe
Evaluation wollen, allerdings mit der Einschränkung, dass sie die
Schulentwicklung weiterbringen soll. Schule soll eine lernende
Organisation sein können, dann kommen wir auch auf dem Weg
einer verantwortlichen, einer selbstverantwortlichen, einer
mündigen Schule weiter.
Ich glaube, dass wir eine neue Schulkultur brauchen, zu der letzten Endes natürlich auch die Einbindung der Eltern gehört. Ich
nen wir Lehrerinnen und Lehrer allein nicht leisten. Deshalb
meine ich, dass zu einer Schule auch Schulsozialarbeit usw.
gehört. Die Zusammenarbeit mit den Eltern jedenfalls funktioniert noch nicht so gut, wie es sein müsste, und wir können hier
noch eine Menge tun. Übrigens auch, das sage durchaus selbstkritisch, in der Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer. In der
Zwischenzeit gibt es Module für alles Mögliche, aber bezeichnenderweise nicht für Elternbildung. Wenn ich Eltern aber nicht
auf Augenhöhe begegne, dann ist u. U. Aggressivität schon vorprogrammiert. Also auch da gibt es noch eine Menge zu tun.
Aber ohne Eltern, ohne Elternmitwirkung, werden wir in der
Schule keine Eigenverantwortung erreichen.
„Ich wünsche mir, dass Bildungsstandards so definiert werden, dass sie nicht nur als Überschriften von Lehrplänen dienen, sondern dass sie bei den Lehrerinnen und Lehrern auch
ankommen, denn keine Reform in der Geschichte der Pädagogik hat je funktioniert, ohne
dass Überzeugungsarbeit bei den eigentlich Betroffenen, nämlich den Lehrerinnen und
Lehrern, geleistet worden ist. Das ist bisher nicht geschehen, die Bildungsstandards sind
in der Praxis nicht angekommen.“
stimme mit Minister Busemann darin überein, dass wir eine
gestufte Verantwortlichkeit brauchen, und da haben die Eltern
eine wesentliche Funktion. Ohne Elternmitarbeit wird die kleine
Polis nicht funktionieren, d. h. wir brauchen ein neues Vertrauensverhältnis, und dazu gehört auch die gleiche Augenhöhe. Das
betrifft sowohl die Einzelgespräche, dass ich etwa als Lehrerin,
als Lehrer gegenüber den Eltern Transparenz in Bezug darauf herstellen muss, warum ich eine Note X gegeben habe. Das muss
von den Professionals geleistet werden, das gehört dazu. Aber
auch das Einbinden der Eltern insgesamt in das Schulleben ist
wichtig, und da genügt es nicht, dass man nur Wurstsemmeln
verkaufen darf, sondern man muss wirklich das Schulleben mitgestalten dürfen, mitwirken können. Dann erst entsteht eine
kleine Polis, die ich für einen großen Fortschritt im Hinblick auf
eine eigenverantwortliche Schule halte. Auch in diesem Punkt
bin ich ganz optimistisch. Wenn man Elternabende anberaumt
und dann nur über Nebensächliches redet, ist das viel zu wenig.
Man braucht eine Tagesordnung, die spannend sein kann, und
die Eltern müssen den Eindruck haben, dass sie eingebunden
werden sollen, dass sie mitentscheiden können.
Auf der anderen Seite erwarten die Lehrerinnen und Lehrer
natürlich auch einen Umgang mit Anstand. Wenn Sie sich vorstellen, wie viele Kinder heute, auch in die Grundschule, ohne
Frühstück kommen, wie viele Kinder vollkommen übermüdet
sind, wie viele Jugendliche mit einer „Null-Bock-Mentalität“ in
die Schule kommen und vielleicht auch zu Hause noch aufgefordert werden, nichts zu tun, dann ist das schrecklich. Hier muss
man den Aspekt der Erziehung und Bildung wirklich wieder in
den Vordergrund rücken und Mut zur Erziehung haben. Das kön-
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Ich habe persönlich sehr gute Erfahrungen mit Schulprogrammen gemacht, in die auch Abmachungen mit Eltern, Erziehungsprogramme integriert sein können. Ich habe zum Beispiel
selbst mal ein Programm durchgeführt mit den Eltern, Schülerinnen und Schülern, den Lehrerinnen und Lehrern. Da gab es nicht
nur eine Bachpatenschaft, was man auch machen kann, sondern
weit darüber hinaus etwas, das hieß: Wir wollen eine Schule der
Toleranz sein. Wir haben selber schnell gemerkt, dass man nicht
mal eben in der dritten Unterrichtsstunde zur Toleranz erziehen
kann, sondern dass da eine Atmosphäre, ein Klima der Toleranz
sein muss. Das hat uns alle unglaublich gefordert. Doch nach
einem Jahr konnte jeder äußere Beobachter sagen: „Ja hoppla,
die nehmen aufeinander Rücksicht“, nicht nur auf Migranten,
sondern der Umgang miteinander war insgesamt freundlicher,
man hat aufgepasst, man hat sich in der Frühe gegrüßt, sodass
das Attribut „freundliche Schule“ schon einigermaßen gestimmt
hat. Dazu möchte ich Schulen auffordern, das ist vielleicht wichtiger als irgendwelche Aktionen in Richtung kognitiver Leistung,
die wir auch haben müssen. Andernfalls droht der rücksichtsvolle Umgang miteinander, der bei PISA natürlich überhaupt nicht
gemessen wurde, in Deutschland unterzugehen.
STATEMENT
Andrea Kiewel
Ich fand das Beispiel der Schule aus Berlin-Kreuzberg typisch, in
der in Zusammenarbeit mit Eltern, Schülern und der Schulleitung sehr unpopulär beschlossen wurde, dass auf dem Schulhof
Deutsch gesprochen wird, obgleich 100 Prozent der Schüler nicht deutscher Abstammung sind, auch nicht Deutsch sprechen.
Das Ganze war einen Tag lang in der Zeitung,
alle haben sich darauf gestürzt. Doch was
hat das mit Selbstständigkeit zu tun? Ich
sitze als Mutter davor und denke, dass da
wieder viel geredet wird, und wenn dann
tatsächlich einer etwas initiiert, fallen alle
drüber her. Das Nächste, was an der Selbstständigkeit besonders schwer sein wird, ist,
dass der Schulleiter ja dann nicht mehr bloß
Schulleiter ist, sondern Manager sein soll.
Und ein Problem wird sein, dass im Moment
– so jedenfalls mein Empfinden und mein
Erleben in Bezug auf das Gymnasium meines
Sohnes – zwischen Lehrerschaft und Elternschaft ein Klima herrscht wie zu Zeiten des
Kalten Krieges. Die Krieger sind die Nato, die
Eltern sind Warschauer Pakt, und einer will
dem anderen beweisen, dass er Recht hat
und besser ist. Solange diese Kluft nicht
überwunden werden kann, fehlt das Gemeinsame. Da muss viel mehr Unterstützung
kommen, auch von den Schulleitern, und
weniger Verordnung, finde ich als Mutter.
Foto: VdS Bildungsmedien
Eckinger/Kiewel/Busemann/Loos: Selbstständige Schulen
Dr. Ludwig Eckinger und Andrea Kiewel während der Diskussion auf dem Podium.
Ich bin Mutter eines Sohnes, der kurz vor dem Abitur steht. Bei
der Frage, wie sich Eltern selber in der Schule einbringen können, muss ich bekennen, dass ich ein bisschen elternabendgeschädigt bin. Auf dem letzten Elternabend in Klasse 12 haben
wir 40 Minuten darüber diskutiert, ob auf der Klassenfahrt Cola
getrunken werden darf oder nicht. Dafür ist mir meine Zeit
wirklich zu schade. Ansonsten muss ich sagen, dass mein großer Sohn Max in der Schullehrerlotterie eigentlich fast immer
einen Sechser oder zumindest den Fünfer mit Zusatzzahl gezogen hatte. Die Lehrer, mit denen er es zu tun bekam, waren
sehr engagiert und offen für Anregungen von uns Eltern. Ich
persönlich finde es gar nicht verkehrt, dass der Schulleiter,
wenn in einer Klasse in einem Fach permanent von vielen Schü-
nen wollen. Der Schulleiter muss ihm dann klar machen, dass es
sein Job ist, nicht nur den Stoff so zu vermitteln, dass gelernt
wird, sondern auch so, dass die Schüler Spaß beim Lernen
haben. Mein Sohn Max ist wie gesagt im 13. Schuljahr, seine
Mitschülerinnen und Mitschüler werden im Sommer alle 20
sein. 90 Prozent von ihnen wissen überhaupt nicht, wie es nach
der Schule weitergeht. Und da läuft, finde ich, irgendwas ganz,
ganz schief.
Ich selbst bin sehr gerne zur Schule gegangen, ich war immer
eine Einser-Schülerin, Abitur mit Auszeichnung, Studium auch.
Aber ich war keine Streberin, es fiel mir einfach leicht. Ich bin
jedoch auch erst mit sieben eingeschult worden. Deswegen
finde ich dieses Wort PISA-Schock und die daraus resultierenden Überlegungen, die Kinder mit fünfeinhalb einzuschulen,
„Es erschreckt mich sehr, in welchem Maß Eltern ihr Bauchgefühl verloren haben. Irgendwie
wurschteln wir uns alle durch. Früher, in den 1970er-, 1980er-Jahren waren die einen antiautoritär und die anderen autoritär; jetzt ist irgendwie gar nichts. Jetzt brauchen wir plötzlich Supernannys, die uns sagen, dass man am Tisch still sitzt und nicht dazwischenquatscht,
wenn Eltern reden. Meine Eltern wussten das noch, und so alt sind die auch nicht.“
lern schlechte Noten geschrieben werden, seinen Lehrer auch
einmal fragt, woran das liegt. Der Lehrer sagt dann, er könne
doch nichts dafür, wenn die Schülerinnen und Schüler nicht ler-
komplett falsch. Ich habe einen Sohn, der gerade fünf ist und
der ja dann im Sommer in die Schule gehen müsste. Er trägt
nachts noch Windeln. Ich stelle mir vor, wie mein Erstklässler
97
im Heimatkundeunterricht sitzt und Windeln anhat. Er ist einfach noch zu klein, und ich habe als Lehrerin selbst gemerkt,
dass die Kinder, die sechseinhalb und sieben sind, wirklich gut
bereit waren zu lernen, auch sozial und emotional in der Lage
dazu waren, während diese kleinen Fünfeinhalb- und Sechsjährigen immer ein Jahr hinterherhingen. Das ist meine Erfahrung
als Lehrerin und jetzt auch als Mutter eines kleinen Jungen.
Das Stichwort Elternschule hört sich fast so an, als müsste man
in Zukunft einen Elternführerschein ablegen, bevor man überhaupt schwanger werden darf. Ich bin total dagegen. Ich glaube, alle Eltern sollten sich zunächst einmal darauf besinnen,
dass an allererster Stelle sie für die Erziehung ihres Kindes
zuständig sind und nicht die Schule. Und es erschreckt mich
sehr, in welchem Maß Eltern ihr Bauchgefühl verloren haben.
Irgendwie wurschteln wir uns alle durch, früher, in den 1970er-,
1980er-Jahren waren die einen antiautoritär und die anderen
autoritär; jetzt ist irgendwie gar nichts. Jetzt brauchen wir
plötzlich Supernannys, die uns sagen, dass man am Tisch still
sitzt und nicht dazwischenquatscht, wenn Eltern reden. Meine
Eltern wussten das noch, und so alt sind die auch nicht.
Außerdem sollten Lehreramtsstudenten an den Unis vielleicht
irgendein entsprechendes Zusatzfach haben, zusätzlich zur
Didaktik. Und das Dritte ist, dass ich als Mutter vom Lehrer –
auf dessen Seite ich immer hundertprozentig bin, weil ich ihm
ja besten Wissens und Gewissens für sechs, sieben Stunden am
Tag mein Kind anvertraue, weil ich ihm Wissen nicht so vermitteln kann, wie es ein Lehrer vermag – dann auch erwarte,
dass eine Klassenarbeit nicht erst nach sechs Wochen kontrolliert zurückgegeben wird, sondern wenigstens nach einer
Woche. Ich verstehe bis heute nicht, dass mein 19-jähriger
Sohn, der gerade eben, Ende Januar, drei schriftliche Abiturprüfungen abgelegt hat, das Ergebnis erst Ende Mai bekommt.
Das ist, als bekäme ich ein Kind und nach vier Monaten sagte
der Arzt zu mir: „Frau Kiewel, herzlichen Glückwunsch, es ist
ein Junge.“ Das, finde ich, geht nicht.
Ich fände es schön, wenn das Thema selbstständige Schulen
auch beinhalten würde, dass zum Beispiel so genannte Stundentafeln anders gebaut werden. Ich stehe als Mutter immer
ratlos davor, wenn Montag früh gleich zwei Stunden Sport
stattfinden und in der 7. und 8. Stunde Französisch. Dann weiß
ich genau, dass das hier rein und da raus geht. Dasselbe gilt für
das so genannte G 8, also Abitur nach 12 Jahren, in Baden-Württemberg: In der Schule eines befreundeten Jungen wurde der
Sportunterricht abgeschafft, um ebendiese Stunden reinzuholen. Dafür ist jetzt im Januar Schulschwimmen, was bedeutet,
dass die Hälfte der Klasse permanent mit Husten und Schnupfen am Beckenrand sitzt. Wer denkt sich so etwas aus, frage ich
mich. Wenn dann die Schulen selbstständig sagen können,
Schulschwimmen machen wir im Mai, und Sport findet trotzdem statt, und dafür packen wir irgendwoanders was zusammen, bin ich ab sofort hundertprozentig für selbstständige
Schulen.
98
STATEMENT
Bernd Busemann
Das Thema eigenverantwortliche Schule und alles, was damit
zusammenhängt, Qualitätsentwicklung z. B., ist absolut aktuell
und bestimmt auch die Gespräche hier auf der „didacta – die
Bildungsmesse“. Das Ganze hat eine Vorgeschichte und wurde
ausgelöst durch den Schock, den PISA uns zu Beginn dieses
Jahrzehnts zu Recht verpasst hat. Wir haben uns in der bildungspolitischen Landschaft der OECD-Länder, aber auch im
Vergleich der Bundesländer an einem Tabellenplatz wiedergefunden, mit dem wir nicht gerechnet hatten. Als Bildungspolitiker in Verhandlung mit Finanzministern ist es mir manchmal
ganz lieb, dass wir diesen Schock bekommen haben, sodass wir
hier zumindest nicht gedrosselt werden, sondern dass man
sagt: Für Bildung wollen wir was tun. In der Folge sind diese
Überlegungen natürlich forciert worden. Wir mussten überlegen, wie wir ein Bildungssystem insgesamt effektiver machen
können, wie sich bessere Schulabschlüsse erzielen lassen. Eine
Grundüberlegung bestand darin zu sagen, wir schauen uns im
Ausland, in der Wirtschaft um. Was sagt die PISA-Studie, was
sagen die OECD-Auswertungen zu unserer Frage? Es zeigte sich,
dass offenbar die Systeme, die Schulstandorte, die sich mit
mehr Eigenverantwortung selber organisieren können, unter
dem Strich die besseren Ergebnisse bringen. Also wird man das
akzeptieren müssen.
Rein administrativ ist es nicht einfach, ein System, das über
hundert Jahre gewachsen ist, in wenigen Jahren umzustülpen
und dabei alle Beteiligten auch mitzunehmen. Aber wir müssen
diesen Weg miteinander gehen, und wir brauchen die Unterstützung durch entsprechende Ressourcen. Ich glaube, es geht
in die richtige Richtung, wenn wir nur die Schrittfolge einhalten: Mehr Eigenverantwortung ja, doch der Staat setzt
zunächst die Rahmenbedingungen. Wir haben uns mittlerweile
auf Bildungsstandards verständigt, und der Staat lässt dann
schrittweise Leine. In diesen riesigen Systemen – mit allein
etwa 80 000 Lehrern in Niedersachsen – können Sie nicht mit
dem Finger schnippen und sagen: Morgen seid ihr selbstständig
und dürft selber bestimmen, wofür kein Geld da ist. Die Veränderungen müssen in Schritten erfolgen.
Auch das Thema Budgetierung an den Schulen wollen wir alle
gerne angehen. Die Schulen sagen, wenn der Schulträger, aber
auch das Land genügend Geldmittel geben und wir genug Lehrerressourcen bekommen, dann werden wir damit schon fertig.
Wenn aber der Staat diese Eigenverantwortlichkeit – manche
sagen Selbstständigkeit, Autonomie oder Eigenständigkeit –
dazu nutzt zu sagen: Wunderbar, die können das ja alles alleine,
jetzt setzen wir die Daumenschrauben an und versuchen, das
Ganze billiger zu fahren, dann kann das nicht funktionieren.
Also die Ressourcenfrage muss geklärt sein, aber wir müssen
uns davor hüten, das als Möglichkeit für Einsparungen anzusehen.
Eckinger/Kiewel/Busemann/Loos: Selbstständige
Blindtext
Schulen
Ein Mehr an Eigenverantwortlichkeit stellt eine größere Anforderung insbesondere an die Schulleitungen dar. Sie sagen mir:
„Schule soll ja ohnehin alle Probleme der Gesellschaft nebenbei
lösen, wir stoßen da an Leistungsgrenzen, Kultusminister, wie
stellst du dir das vor? Da muss in Form von Geld oder Stunden
oder Leitungszeit irgendetwas kommen.“ Und ich antworte:
„Okay. Ich glaube, das können wir leisten, daran wird der Staat
nicht fiskalisch kaputtgehen.“ Das jetzige Niveau zu halten,
vorsichtig zu steigern, das bekommen wir mit vernünftigen
Ressourcen vernünftig hin. Am Ende müssen wir bei einer
eigenverantwortlichen Schule schauen, wie die Ergebnisse aussehen, ob wir besser geworden sind. Die Einführung von eigenverantwortlichen Schulen kann jedoch nicht bedeuten, dass wir
die staatliche Verantwortung völlig aufgeben. Wir haben Ressourcenverantwortung, aber wir haben auch die Verantwortung
dafür, Bildungsstandards zu setzen, die Messlatte zu legen und
zu definieren, wo wir hinwollen. Es soll ja besser werden. Daher
müssen wir eine Kultur von regelmäßig stattfindenden Vergleichsuntersuchungen entwickeln, d. h. beispielweise für unser Land, dass überall dort, wo ein Abschluss vergeben wird,
auch eine Abschlussprüfung gemacht werden muss. Im Frühling
dieses Jahres gibt es in Niedersachsen erstmals das Zentralabitur. Und wir müssen auch zwischendurch in gewissen Abstän-
Dass wir die Selbstevaluation in der Schule auch wirklich angehen, merken Sie z. B. in Niedersachsen daran, dass wir seit zwei
Jahren mit der Bertelsmann Stiftung kooperieren. 120 Schulen
nutzen bereits das Instrument „Selbstevaluation in Schulen“
(SEIS). Andere Schulen, unsere Berufsschulen mittlerweile alle
und demnächst wahrscheinlich ein großer Teil der allgemein bildenden Schulen, nutzen das EFQM-(European Foundation for
Quality Management)-Modell zur Selbstüberprüfung. Das muss
und soll in den Schulen selber stattfinden, ohne dass der Staat
kommt.
Aber ich will vielleicht noch eins zu Herrn Eckinger sagen. Da
und dort mögen wir unterschiedlicher Meinung sein, aber vom
Staat wird doch erwartet, dass er, wenn er mehr Möglichkeiten
zur Qualitätsentwicklung, mehr Freiheiten an die Schulen gibt,
trotzdem dafür sorgt, dass das Gesamtsystem funktioniert.
Wenn die Politik anfängt, Bildungsstandards in die Curricula zu
implementieren, die von der KMK und anderen entwickelt worden sind, dann müssen wir doch dafür sorgen, dass das Schulwesen auch funktioniert. Das betrifft bei uns 10 Millionen
Schüler, 800 000 Lehrer, zigtausend Schulstandorte, da dürfen
wir Minister nicht alles dem Zufall überlassen. Also müssen wir
die Mechanismen der Evaluation, der Qualitätsentwicklung, der
„Am Ende müssen wir bei einer eigenverantwortlichen Schule schauen, wie die Ergebnisse
aussehen, ob wir besser geworden sind. Die Einführung von eigenverantwortlichen Schulen
kann jedoch nicht bedeuten, dass wir die staatliche Verantwortung völlig aufgeben. Wir
haben Ressourcenverantwortung, aber wir haben auch die Verantwortung dafür, Bildungsstandards zu setzen, die Messlatte zu legen und zu definieren, wo wir hinwollen.“
den prüfen – und das am besten bundesweit vergleichen, landesweit allemal –, wo wir stehen, denn wir wollen ja PISA nicht
noch einmal erleben.
Dabei ist ein Instrument ganz wichtig, die Schulinspektion, im
Volksmund einfach Schul-TÜV genannt. Wir kommen mit unseren Experten etwa alle drei bis vier Jahre in die Schule, überprüfen sie als Ganzes, vom Hausmeister bis zur Schulleitung. Es
gibt Unterrichtsvisiten in großer Zahl, um die Unterrichtsqualität festzustellen. Über diese Schulinspektion erfolgt eine Art
Messung, ob wir besser werden oder ob wir nachlassen. Solche
Kontrollen und Unterstützungsmechanismen sind aus der staatlichen Verantwortung heraus unerlässlich. Wir fangen jetzt flächendeckend im ganzen Land damit an, und zwar so, dass es
etwas bringt. Da kommt nicht der Knüppel von oben, sondern
die Schulen sollen selber merken, dass sie an sich arbeiten müssen und dass sie in drei, vier Jahren, wenn die Schulinspektion
mal wiederkommt, auch besser sein wollen. Die Schulinspektion
ist die letzte Stufe des ganzen Paketes.
Prüfung im Griff behalten, damit das Ganze nicht aus dem
Ruder läuft. Alle Kultusminister, parteiübergreifend, sind da in
Deutschland gut unterwegs und guten Willens, es muss bloß
organisiert werden. Denn wenn etwas schief geht, wissen wir
ja, wer schuld ist.
Es darf also kein Öffnen in die Beliebigkeit stattfinden. Aber so,
wie Schule gewachsen ist, kann es auch nicht bleiben. Wir kennen das aus der Vergangenheit, dass die Schule sich von der
Gesellschaft nicht großartig in die Karten schauen lassen wollte. Forschung und Lehre tragen uns das auch immer vor. Ich
glaube, das müssen wir auch zum Wohle der Schule etwas aufbrechen. Schule muss sich öffnen, sie ist Teil des gesellschaftlichen Umfeldes, sie steht irgendwo auch im Wettbewerb. Da
muss man zulassen, dass Eltern und andere sich mehr als bisher
einbringen, dass Öffentlichkeit sich kümmert. Man will schließlich auch Steuergelder einfordern. Wir sollen mehr für Bildung
tun? Da muss man sagen: jawohl. Wir machen Qualitätsentwicklung, wir sind gut, wir sind selbstbewusst, wir stehen im
99
Wettbewerb, und wir können das, was wir machen. Die Schulen
in Niedersachsen und anderswo in Deutschland haben auch
etwas vorzuzeigen. Es ist notwendig, ein bisschen offener miteinander umzugehen, Dinge wie den Schul-TÜV zuzulassen und
selbstbewusst damit umzugehen.
Ein schwieriges Thema ist es, wie wir die Eltern mehr in die Verantwortung nehmen können, und zwar nicht nur die Interessierten, die sowieso zum Elternabend oder zum Sprechtag kommen, sondern auch die vielen anderen, die ihre Kinder vernachlässigen oder sich überhaupt nicht um sie kümmern und
denken, der Staat regele alles. Ich habe dafür keine Patentrezepte, kann das Problem nicht ideal lösen. Wir arbeiten in diesen Tagen in Niedersachsen an einer Änderung des Schulgesetzes. Wir wollen zu der bisherigen Vertretungsebene – in der
Gesamtkonferenz sind die Eltern ja vertreten –, einen weiteren
Schulbeirat schaffen, in dem die Schule Rechenschaft ablegen
muss über die Grundsätze, ihr Programm, auch über Haushaltsfragen. Hier müssen die Eltern Teilhabe bekommen, damit sie
wissen, was in diesem „Betrieb“ der neuen Struktur entsprechend los ist. Erfahrungsgemäß sitzen in solchen Gremien häufig Elternfunktionäre. Die breite Masse, die ganz normalen
interessierten Eltern wollen noch anders angesprochen sein.
Das müssen die Schulleitung und die Lehrerschaft noch etwas
besser hinkriegen.
Die Forderung nach Schulsozialarbeit unterstreiche ich voll. Ab
2007 bekommt jede Hauptschule einen Sozialarbeiter. Das sehe
ich als unterrichtsstützende Leistung an, und es ist eine sehr
fruchtbare Geschichte. Gut wäre es, wenn man das verbreitern
könnte, aber da stoßen wir an Grenzen der Bezahlbarkeit.
Weiterhin gibt es die sog. harten Fälle – auch bei den Eltern –,
diejenigen, die sich überhaupt nicht interessieren, null Bock,
kein Interesse. Wir haben hier in Hannover das Kriminologische
Institut, Herrn Professor Pfeifer, der übrigens den Vorschlag
gemacht hat, Elternschulen einzurichten. Das hört sich schon
wieder nach Schule und Organisation an, aber ich glaube, wenn
man von diesem Begriff mal ein bisschen weggehen und
bestimmte betroffene Kreise einmal zusammenziehen würde,
um ihnen beizubringen, was sie für ihre Kinder zu tun und zu
lassen haben, damit der schulische Erfolg besser gelingen kann,
wäre das vielleicht gar keine so schlechte Idee.
STATEMENT
Barbara Loos
Meine Schule ist vor wenigen Jahren den Weg in die Selbstständigkeit gegangen, und mir geht es sehr gut dabei. Nicht
zuletzt deshalb, weil an meiner Schule Elternschaft, Lehrerschaft und Schülerschaft zusammenarbeiten und wir uns das
anders eigentlich gar nicht mehr vorstellen können. Als wir in
Modus 21 („MODell Unternehmen Schule im 21. Jahrhundert“)
eingestiegen sind, war die Voraussetzung, dass alle drei Gruppen zusammen mit den Sachaufwandsträgern natürlich damit
100
einverstanden sind, und zwar mit mindestens Zweidrittelmehrheit, dass wir in diesen Schulversuch einsteigen. Modus 21
beruht auf drei Prämissen, die eine davon ist die verfassungsrechtliche Verantwortung des Staates für die Bildung. Deshalb
kann der Staat sich auch nicht einfach aus der Verantwortung
ziehen. Aber die Schulen müssen herausfinden, was staatlicherseits vorgegeben sein muss und was besser vor Ort in der Schule geregelt werden kann. Und es ist ein Ziel von Modus 21, das
herauszufinden.
Die zweite Prämisse: Das, was wir machen, muss einen Einfluss
auf die Qualität von Schule und Unterricht haben. Alles andere
ist in dem Zusammenhang eine Verschwendung der Arbeitszeit
von Lehrern. Die dritte Prämisse ist, dass die Entwicklung von
unten her erfolgen muss. Bei Modus 21 haben die Schulen vier
Arbeitsbereiche vorgegeben bekommen:
Qualität von Unterricht
Zusammenarbeit mit externen Partnern
Personalentwicklung und Personalverantwortung
Budget, Sachmittel
Was wir in diesen vier Bereichen in Angriff genommen haben,
welche Modelle wir entwickelt haben, lag dann an der einzelnen Modus-Schule. Auf diese Art und Weise konnten wir als
Schule uns genau auf das konzentrieren, was in unserer eigenen
Schule wesentlich war. Wir werden von der Stiftung Bildungspakt Bayern gefördert, bekommen ein paar Anrechnungsstunden oder Ermäßigungsstunden, und wir bekommen ein bisschen Geld, haben allerdings die Verpflichtung, unsere Maßnahmen so vorzubereiten, dass sie von anderen Schulen übernommen werden können. Wir müssen zur Verfügung stehen, um
anderen Schulen weiterzuhelfen, sie fortzubilden usw. Es geht
mir als Schulleiterin sehr gut, weil ich so ganz andere Steuerungsmöglichkeiten habe. Tatsächlich müssen jedoch zwei
Dinge bei aller Eigenverantwortlichkeit dazukommen, das eine
ist ganz ohne Frage Evaluation, und das zweite ist Führung.
Deshalb ist es ganz logisch, dass nach Modus 21 jetzt der Modus
Führung kommt, wobei wir neue Führungskonzepte erarbeiten,
Konzepte zu den Fragen, wie man die Arbeit, die sicherlich
zugenommen hat, auf mehr Schultern verteilt, ob man eine
mittlere Führungsebene einzieht, ob man Leitungsassistenz
einführt usw.
Zum Thema Einbeziehung der Eltern kann ich sagen, dass sich
mit Modus 21 auch hier sehr viel geändert hat. Bevor ich das
darstelle, möchte ich jedoch noch ein Wort zu Frau Kiewel
sagen, weil mir das ein wirklich wichtiger Punkt ist. Es sagt
sich so leicht, dass Schule Spaß machen muss, aber ich würde
ganz gerne propagieren, dass sie nicht Spaß, sondern Freude
machen muss. Leistung beispielsweise macht Freude, Erfolg
macht auch Freude. Spaß suggeriert immer, dass vorne einer
steht und möglichst wie ein Showmaster herumhüpft. Vielleicht können wir uns daher auf das Wort Freude verständigen.
Dass die Eltern natürlich von Anfang an mit im Boot sein mussten, war klar. Eltern haben inhaltlich in Arbeitsgruppen mitgearbeitet, die sich mit allen möglichen Weiterentwicklungsfragen befassten. Selbstverständlich sind in diesen Gruppen immer
Schülerinnen, Schüler, Eltern, Lehrerinnen und Lehrer. Wir
Foto: VdS Bildungsmedien
Eckinger/Kiewel/Busemann/Loos: Selbstständige Schulen
Mehr Selbstständigkeit für die Schulen – dass dies sein muss, ist inzwischen Konsens.
Im Bild Gaby Miketta von Focus Schule, Minister Busemann und Barbara Loos (von links
nach rechts).
haben sowohl von den Eltern als auch von den Schülern sehr,
sehr interessante Anregungen bekommen – selbst von den
Fünftklässlern. Die sind viel ernsthafter, wenn es um solche
Dinge geht, als man das für gewöhnlich meint. Unser Elternbeirat hat zum Beispiel ein Branchenbuch entwickelt: Die
Eltern konnten sagen, welche Fähigkeiten, Verbindungen, Möglichkeiten sie der Schule zur Verfügung stellen können. Das
reicht von der tatkräftigen Mithilfe bis zu irgendwelchen
Expertenfähigkeiten oder Verbindungen, die sie zu bestimmten
Firmen haben, wordurch wir etwa billiger einkaufen können
usw. Dieses Branchenbuch hilft uns auch, im Unterricht Eltern
heranzuziehen, wenn wir ganz bestimmte Fähigkeiten brauchen, die wir selber nicht haben. Das bedeutet für die Schule
eine sehr weite Öffnung. Freilich könnte man fragen, ob das
alles richtig und gewollt ist. Wenn man Schule öffnet, muss
man vielleicht auch mit Sachen leben, die man nicht unbedingt
möchte.
Bevor man das alles in Angriff nimmt, muss man sich Gedanken
über die Rolle von Lehrerinnen und Lehrern sowie Eltern
machen. Die meisten Konflikte, die wir in Schulen zwischen
Eltern und Lehrern haben, entstehen daraus, dass dieses Rol-
lenverhältnis nicht geklärt ist. Dabei geht
der jeweils andere stets von seinem eigenen
Rollenverständnis aus und meint, sein
Gegenüber habe das gleiche. Also Lehrer sind
die Experten für Unterrichten, für Wissensvermittlung, für Erziehung innerhalb des
Unterrichts. Eltern sind die, die sozusagen
die Basiserziehung liefern. Und wenn wir
von diesem Rollenverständnis ausgehen und
jeder der Beteiligten sich dieser Rolle
bewusst ist, dann sehe ich eigentlich nur
noch in extremen Fällen Konfliktpotenzial.
Wenn wir uns öffnen, dann nicht so, dass
wir den Eltern den Unterricht überlassen,
dafür werden sie auch nicht bezahlt; sondern wir öffnen uns insofern, als wir wissen,
dass wir umgeben sind von einer Fülle von
Fähigkeiten, auf die wir zurückgreifen können, wenn wir sie brauchen. Das ist der
Punkt. Wir öffnen uns nicht in die Beliebigkeit, um das völlig klar und deutlich zu
sagen.
Natürlich gibt es am Max-Born-Gymnasium auch Eltern, die
meckern, oder Eltern, die Lehrer kritisieren. Und das Entscheidende ist dann, dass da ein Schulleiter ist, der hinter seinen
Lehrern steht und sagt, es gibt bestimmte Dinge, über die kann
nicht mehr debattiert werden. Das ist der erste Punkt. Der
zweite Punkt: Wir haben morgen einen pädagogischen Tag, an
dem wir uns über die Frage unterhalten wollen, wie wir miteinander umgehen. Wir hören zunächst einen Vortrag zum
Thema Pubertät, und danach gehen wir in die Arbeitsgruppen,
in denen Eltern, Schüler und Lehrer nach einem bestimmten
vorgegebenen System erst einmal darüber debattieren, welches
Rollenverständnis sie haben und welche Rezepte für jede Jahrgangsstufe, um zu einem respektvollen Umgang miteinander zu
kommen. Da haben selbstverständlich die Eltern das Recht mitzureden, aber auch die Schüler und die Lehrkräfte. Und auf
diese Art und Weise fühlen sich alle angenommen. Wir haben
beispielsweise eine Lehrerfortbildung innerhalb der Schule zum
Thema Elterngespräche gemacht, und der Elternbeirat macht
das Gleiche für die Eltern: Wie redet man mit Lehrern? Danach
setzen wir uns zusammen und versuchen das abzugleichen. Auf
diese Art und Weise nähern wir uns einander an.
„Modus 21 beruht auf drei Prämissen, die eine davon ist die verfassungsrechtliche Verantwortung des Staates für die Bildung … Die zweite Prämisse: Das, was wir machen, muss einen
Einfluss auf die Qualität von Schule und Unterricht haben. Alles andere ist in dem Zusammenhang eine Verschwendung der Arbeitszeit von Lehrern. Die dritte Prämisse ist, dass die Entwicklung von unten her erfolgen muss.“
101
Die Frage nach Bildungsgerechtigkeit bewegt sich im Spannungsfeld von Ökonomisierung und öffentlicher Verantwortung. Welchen Beitrag haben Bildungswesen, Politik und außerschulische Akteure für
eine Befähigungs- und Beteiligungsgerechtigkeit zu erbringen? Reicht es aus, sich für Chancen auf
dem Arbeitsmarkt bestmöglich schulisch zu qualifizieren? Oder geht es verstärkt um die Fähigkeiten
zu Selbstorganisation und Partizipation mit dem Ziel der Überwindung sozialer Ungerechtigkeit in
unserer Gesellschaft? Diese Fragen, zusammengefasst unter der Überschrift „GERECHT BEFÄHIGEN –
GEMEINSAME VERANTWORTUNG VON KIRCHE, SCHULE UND GESELLSCHAFT“, diskutierten auf dem
Podium Professor Dr. JAN-HENDRIK OLBERTZ, Kultusminister des Landes Sachsen-Anhalt, Professor
Dr. THOMAS RAUSCHENBACH, Direktor des Deutschen Jugendinstituts e. V., München, Weihbischof
ENGELBERT SIEBLER, Vorsitzender der Bildungskommission der Deutschen Bischofskonferenz, und
Oberkirchenrat Dr. JÜRGEN FRANKE, Leiter der Abteilung „Bildung“ im Kirchenamt der EKD.
Jan-Hendrik Olbertz
Jan-Hendrik Olbertz, Professor Dr., geb. 1954. 1974-78 Lehramtsstudium an den Universitäten Greifswald
und Halle, Fächer Deutsch und Musik. 1978-81 Forschungsstudium Erziehungswissenschaft in Halle. 1981
Promotion. 1989 Habilitation in Halle. 1990 Gastprofessur an der Universität Bielefeld. 1992 Professor für
Erziehungswissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. 1993-2002 Mitglied des Landesschulbeirats Sachsen-Anhalts. 1994-2002 im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft
(DGfE). 1995-97 Mitglied der Enquetekommission „Schule mit Zukunft“ des Landtags von Sachsen-Anhalt.
1996-2000 Gründungsdirektor des Instituts für Hochschulforschung (HoF) Wittenberg. 2000-02 Direktor der
Franckeschen Stiftungen zu Halle. Seit 2002 Kultusminister des Landes Sachsen-Anhalt.
Thomas Rauschenbach
Thomas Rauschenbach, Professor Dr. Ab 1971 Studium der Fächer Erziehungswissenschaft, Soziologie und
Psychologie an der Universität Tübingen; 1978 Diplomprüfung in Erziehungswissenschaft, Studienrichtung
Sozialpädagogik; 1981 Promotion zum Dr. rer. soc.; 1980-83 Wissenschaftlicher Angestellter und Geschäftsführer am Institut für Erziehungswissenschaft I der Universität Tübingen; 1983-89 Akad. Rat im Arbeitsbereich Sozialpädagogik der Universität Tübingen; seit 1989 Professor und Lehrstuhlinhaber für Sozialpädagogik an der Universität Dortmund; seit 2002 Vorstand und Direktor des Deutschen Jugendinstituts e. V.
STATEMENT
Jan-Hendrik Olbertz
Was könnte die Politik unternehmen, um der Ungerechtigkeit
in Bezug auf die Bildungschancen ein Ende zu bereiten? Ich
denke, das Erste, was wir unternehmen müssen, ist, die Diskussion zu versachlichen und zu qualifizieren. Sonst werden wir
bloß eine nächste Runde in den Strukturdebatten einläuten, die
uns seit den 1970er-Jahren eigentlich kontinuierlich vom Entscheidenden abgehalten haben, nämlich von nachhaltigen und
tief greifenden inneren Schulreformen. Für mich sind diese
immer von Neuem beginnenden Debatten Ausdruck einer um
sich greifenden Fantasie- und Einfallslosigkeit sowohl in der
102
Pädagogik als auch in der Politik. Dabei wird nicht thematisiert,
wie wir Gerechtigkeit eigentlich definieren wollen.
1. Sie können natürlich leicht sagen, ein System sei dann
gerecht, wenn darin immer mehr Kinder immer länger gemeinsam lernen. Das klingt zunächst gut, aber ich würde doch gerne
wissen, was sie lernen und wie sie lernen in dieser Gemeinsamkeit. Dann stellt sich nämlich heraus, dass auch in einer solchen
Gemeinsamkeit gravierende Ungerechtigkeit herrschen kann,
wenn es keine individuellen Förderkonzepte gibt, wenn es
keine Ideen gegen individuelles Zurückbleiben gibt, wenn die
Schwachen sich Maßstäben stellen müssen, denen sie einfach
nicht gewachsen sind, wenn der Lehrplan nicht reformiert wird
und wir alle in der allgemeinen Stofffülle ersticken.
Olbertz/Rauschenbach/Siebler/Frank: Gerecht befähigen
Blindtext
Engelbert Siebler
Engelbert Siebler, Weihbischof, geb. 1937. 1963 Priesterweihe in Freising. 1965-66 Dekanatsjugendseelsorger
im Landkreis Erding. 1966-71 Präfekt des Erzbischöflichen Studienseminars Traunstein. 1971-72 Hauptamtlicher Religionslehrer am Gymnasium in Traunstein und Traunreut. 1972-76 Studienrat am Gymnasium in Bad
Reichenhall. 1976-85 Direktor des Studienseminars in Traunstein. 1985-86 Ordinariatsrat und Leiter des
Schulreferats I des Erzbischöfl. Ordinariats München. Seit 1986 Weihbischof und Bischofsvikar für die Seelsorgsregion München des Erzbistums München und Freising, seit 2001 Vorsitzender der Kommission für
Erziehung und Schule der Deutschen Bischofskonferenz.
Jürgen Frank
Jürgen Frank, Dr., Theologiestudium in Göttingen, Heidelberg und Marburg. 1978 Gemeindepfarrer in Fuldatal
bei Kassel. 1986 Studienleiter für die Vikarsausbildung am Predigerseminar in Hofgeismar. 1991 Direktor des
Pädagogisch Theologischen Instituts in Kassel und Lehrbeauftragter an der Universität GH Kassel. Seit 1997
Vorsitzender der Liturgischen Kammer der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck. Seit 2000 Leiter der
Abteilung „Bildung“ im Kirchenamt der EKD und Vorsitzender der EKD-Schulstiftung.
2. Ich könnte sagen, und das höre ich auch immer wieder, das
System sei umso gerechter, je mehr Kinder das Gymnasium
besuchen. Wenn wir uns einen solchen Unsinn erzählen lassen,
dann brauchen wir uns nicht zu wundern, dass die Diagnose
entsprechend ausfällt. Man müsste dann den Bildungsgang
komplett neu definieren und das Ziel der allgemeinen Hochschulreife und Wissenschaftspropädeutik verabschieden. Die
andere Möglichkeit bestünde darin, die Ansprüche und Maßstäbe des Gymnasiums zu nivellieren und zu sagen, Chancengleichheit entstehe auch dann, wenn alle gleich mittelmäßig
sind.
So kann es also nicht gehen. Das heißt: Sobald wir herausgefunden haben, was Gerechtigkeit ist, muss eine gesunde Balan-
ce gefunden werden, um einerseits ein vielfältiges und andererseits ein zugangsoffenes System zu entwickeln. Offen zu
gestalten ist es, damit immer wieder Korrekturen möglich sind
und die Kinder je nach ihrem Entwicklungsstand, ihren individuellen Stärken, ihrem Leistungsvermögen, ihrem Förderbedarf
usw. durch ein System geführt werden können, das an ihre Stärken anknüpft und damit Erfolg erlebbar macht. Die integrierten
Systeme in Deutschland sind ja allesamt den Nachweis schuldig
geblieben, dass es dort gerade den Schwächeren deutlich besser
geht. Das stimmt ja leider gerade nicht, wobei ich gerne einräume, dass das auch systemische Gründe hat, so dass man
einen solchen Befund nicht isoliert betrachten kann. – Gleichwohl, die Lösung kann es nicht sein, und wenn wir jetzt, wie
erst kürzlich durch einen UN-Inspektor praktiziert, Gerechtig-
103
keit ableiten aus der Analyse der äußeren Strukturen, dann
kann das meiner Meinung nach nicht genügen, um wirklich zu
beurteilen, ob das System gerecht ist und wie gerecht es ist.
Wir haben in der Tat erhebliche Defizite bei der Förderung der
dass der Kindergarten ein Bildungsort ist, wenn wir die Bildungsbiografie eines Kindes im Ganzen sinnvoll mitgestalten
wollen, gehört das alles in eine Hand und muss sich auf ein
übergreifendes Bildungskonzept gründen.
„Der Grundsatz ,Jedes Kind kann etwas, kein Kind kann nichts und niemand kann alles‘
müsste das Credo einer jeden guten Schule sein, egal in welcher Struktur.“
lernschwachen Schülerinnen und Schüler. Allerdings ist schon
das Attribut „lernschwach“ strittig, denn oft handelt es sich ja
nur um Schüler, deren Stärken und besondere Potenziale unter
den obwaltenden Bedingungen des Systems Schule einfach
nicht zur Geltung kommen (können). Auf jeden Fall haben wir
insgesamt erhebliche Defizite im Innern der Schule, u. a. in
Bezug auf moderne Unterrichtsmethoden, die Lehrer/ElternKooperationskultur, den Lehrplan (das gilt interessanterweise
an allen Schulen gleichermaßen), wir fangen bei Weitem nicht
früh genug an mit der Förderung, und das System ist auch eher
ratlos in Bezug auf den Umgang mit Kindern, die, aus welchen
Gründen auch immer, Lernschwierigkeiten haben. Sie fallen in
unserem System viel zu spät auf, werden beiseite geschoben,
die nächstfolgende Bildungseinrichtung wirft der jeweils vorangegangenen Versagen vor. Das kann man durchgängig feststellen, nur um das Versagen kümmert sich keiner.
Das alles sind aber keine Strukturfragen, jedenfalls nicht primär, und deswegen hat für mich in Sachsen-Anhalt immer der
Grundsatz gegolten: Keine Strukturreform, ohne dass sie sich
durch einen nachhaltigen Effekt im Innern der Schule legitimiert. Dann und nur unter dieser Voraussetzung bin ich offen
für solche Debatten. Ist diese Voraussetzung nicht gegeben,
argumentiere ich lieber als Pädagoge denn als Politiker und
sage, es gibt überhaupt kein Kind, das gänzlich unbegabt ist
und nur Schwächen aufzuweisen hat, es gibt aber unzählig
viele Kinder, deren spezifisches Potenzial, deren Stärken einfach nicht entdeckt, dann nur halbherzig oder zu spät aufgegriffen werden und die aus diesen Gründen die Schule nicht
mehr als Ort wahrnehmen können, wo man Erfolg erleben und
sich wohlfühlen kann, wo man vorankommt. Der Grundsatz
„Jedes Kind kann etwas, kein Kind kann nichts und niemand
kann alles“ müsste das Credo einer jeden guten Schule sein,
egal in welcher Struktur.
Wir müssen uns auch fragen, wo die Wissenschaft ansetzen
kann, um die Frage zu klären, wie Ungleichheit entsteht. In
jedem Fall muss Bildung früh ansetzen. Das halte ich für absolut wichtig und kommuniziere das auch im Land. Bei uns sind
die Kultusminister erst ab der Grundschule für Bildung zuständig, nicht davor. Wenn wir ernst machen mit der „Neuentdeckung“, die in Wahrheit eigentlich schon auf Fröbel zurückgeht,
104
STATEMENT
Thomas Rauschenbach
Ich würde gerne noch einmal beim Gedanken meines Vorredners
ansetzen, ihn aber etwas weiterführen. Wenn wir die Frage der
Gerechtigkeit vorrangig moralisch diskutieren, setzen wir meines Erachtens am falschen Punkt an. Ich würde das ganze
Thema eher in die Frage nach sozialer Ungleichheit und nach
sozialer Benachteiligung transformieren und damit bei dem
ansetzen, was nicht nur moralisch, sondern auch praktisch eine
Herausforderung für eine Demokratie darstellt: die fehlenden
Möglichkeiten, Fähigkeiten und Ressourcen, im Erwachsenenalter sein Leben einigermaßen selbstständig zu meistern. Dies
scheint mir die offenkundigste Folge von sozialer Ungleichheit
und Benachteiligung zu sein. Dazu möchte ich kurz drei Hinweise geben.
1. Auch wenn es banal klingt, müssen wir als Erstes die Frage
der Feststellung von Ungleichheit klären. Zunächst einmal ist
doch unbestreitbar: Diese Gesellschaft produziert Ungleichheit.
Jede Gesellschaft produziert Ungleichheit. Deshalb ist zu fragen: Über welche Formen der Ungleichheit reden wir? Und
woran machen wir diese Ungleichheit fest? Meines Erachtens
lassen sich drei Ausprägungen von Ungleichheit unterscheiden:
Erstens gibt es Ungleichheit in den Ausgangsbedingungen.
Kinder haben nicht durchgängig die gleichen Startchancen,
Familien befinden sich nicht immer in der gleichen Ausgangslage. Dies kann ich kaum ändern, allenfalls bedauern.
Ungleichheit offenbart sich aber – zweitens – auch in
bestimmten ungleichen Wirkungen. Wir können feststellen,
dass nicht alle ins Gymnasium kommen, wie Kollege Olbertz
dies formuliert hat, oder dass manche überhaupt keinen
Schulabschluss schaffen, obgleich ihre Startbedingungen
vielleicht gar nicht so weit auseinander lagen. Aber auch
diese Effekte werden wir wohl kaum je vermeiden können.
Eine dritte, mir sehr viel sympathischere Zugangsform zielt
unterdessen auf den Prozess des Umgangs mit Ungleichheit:
Ungleichheit in diesem Sinne ist dann vor allem in der
ungleichen Förderung begründet. Das heißt, wo investiert
werden müsste, damit sich anbahnende oder vorhandene
Olbertz/Rauschenbach/Siebler/Frank: Gerecht befähigen
Blindtext
Ungleichheit verhindert oder wenigstens ein Stück weitabgebaut werden kann, wird nicht genug investiert.
Wir müssten, wenn wir nicht in die Diskussionen von vor 20,
30 Jahren und in die gleichen Muster und Antworten verfallen
wollen, uns somit bei dem gestellten Thema präziser darüber
Gedanken machen, über welche Art von Ungleichheit wir reden,
welche Implikationen darin stecken und was für Schlüsse daraus
zu ziehen sind.
2. PISA hat unzweifelhaft bestehende Ungleichheiten festgestellt. Das ist auch nicht wirklich strittig. Deshalb ist die viel
interessantere Frage, wo die Ursachen von Ungleichheit liegen,
wie sich diese Ungleichheit erklären lässt. Dazu hat PISA im
Grunde genommen nicht allzu viel beigetragen. Oder anders
formuliert: Ich glaube, dass einfache Faktoren wie Einkommen,
Migration oder Schicht als solche zwar zentrale und notwendige, aber dennoch keine zureichenden Erklärungen für Ungleichheit und Benachteiligung sind. Dazu müssen wir einfach genauer hinschauen, dazu wissen wir letztendlich viel zu wenig über
die jeweilige Wirkungsmacht bei den Entstehungszusammenhängen. PISA konnte mit seiner Methode der Querschnittsbefragung diesem Punkt nicht weiter nachgehen. Es wäre jedoch
eine Aufgabe von Wissenschaft, hier viel genauere und präzisere Zusammenhänge ausfindig zu machen. Wir müssen die Frage
der Ungleichheit so zureichend formulieren können, dass sich
auch die Antworten daran messen lassen. Es ist eben nicht einfach nur der ökonomisch-berufliche Status als solcher, der alles
erklärt, ansonsten dürften gar keine erwartungswidrigen Biografien zustande kommen; es ist nicht einfach die Migration als
solche, die verantwortlich ist, ansonsten gäbe es nicht so große
Unterschiede zwischen bestimmten Migrationsgruppen – wenn
3. An dritter Stelle stünde für mich schließlich die Frage nach
dem Abbau von Ungleichheit. Wie kommen wir aus der
Ungleichheit heraus? Das ist aus meiner Sicht der im Moment
wirklich brisante Punkt. Hierzu möchte ich zwei Thesen in den
Raum stellen:
1. Wir fangen zu spät mit der Förderung an.
2. Wir setzen viel zu eng und zu immanent an.
In diesem Punkt teile ich die Ansicht von Herrn Olbertz, würde
aber weiter gehen: Wir setzen viel zu immanent bei der Schule
an. Wir können doch nicht allen Ernstes bei PISA feststellen,
dass die soziale Herkunft eine Einflussvariable ist, die mehr
erklärt als die Schule selbst, um dann bei der Frage nach den
Konsequenzen wieder nur über Schule und Schulstrukturen zu
reden. Das will mir wissenschaftlich nicht einleuchten. Wir
müssen über eine schulimmanente oder an das Bildungssystem
gebundene Sichtweise hinausgehen. Nicht im Kindergarten,
sondern in der Familie müssen wir ansetzen und uns viel konsequenter Gedanken darüber machen, wie wir es in einer Gesellschaft, in der Kinder in ungleiche Ausgangslagen von Familien
hineingeboren werden, schaffen, Familien bereits am Anfang so
zu unterstützen, dass die in den Familien ablaufenden Bildungsprozesse nicht schon so weit auseinander klaffen, dass es
für jedes weitere folgende System enorm schwierig ist, diese
Disparitäten wieder abzubauen.
Wenn manche Kinder tagtäglich zu Hause eine Förderung, Anregung, Unterstützung ihrer Neugier erleben, Antworten auf ihre
Fragen bekommen und andere Kinder all dies nicht erfahren,
dann ist das wie in der Ökonomie: Die einen mehren jeden Tag
ihre Gewinne und ihr Guthaben, während sich bei den anderen
die Schulden und Hypotheken unaufhaltsam anhäufen. Mit diesen ungleichen Lasten gehen sie ins Leben, und das ist ihre
„Wir können doch nicht allen Ernstes bei PISA feststellen, dass die soziale Herkunft eine
Einflussvariable ist, die mehr erklärt als die Schule selbst, um dann bei der Frage nach den
Konsequenzen wieder nur über Schule und Schulstrukturen zu reden. Das will mir wissenschaftlich nicht einleuchten. Wir müssen über eine schulimmanente oder an das Bildungssystem gebundene Sichtweise hinausgehen. Nicht (erst) im Kindergarten, sondern (bereits)
in der Familie müssen wir ansetzen …“
man beispielsweise Griechen, Spanier oder Italiener in ihrem
Bildungsverhalten vergleicht. Und es ist auch nicht der bloße
Bildungsstatus allein; auch in dieser Hinsicht zeigen sich immer
wieder Abweichungen von den erwartbaren Durchschnittswerten. Ich plädiere deshalb dafür, auf einer zweiten Ebene sehr
viel genauer hinzusehen und durch Forschung mehr über die
Frage herauszufinden, wie diese Ungleichheiten entstehen, wie
wir sie produzieren. Dann kommen wir möglicherweise auch
gar nicht so schnell auf die zu einfachen Antworten, die Herr
Olbertz zu Recht kritisiert hat.
ungleiche Ausgangslage. Deshalb muss aus meiner Sicht die
Konsequenz darin bestehen, viel mehr über das Thema Bildung
in der Familie, Bildung durch die Familie und auch Bildung der
Familie zu sprechen: Wie können wir Familien selber unterstützen, und zwar nicht erst dann, wenn die Familie bereits als solche besteht, sondern schon vorher, also bei jungen Paaren, den
potenziellen Eltern? Eine ganz andere Frage ist freilich, auf welche Weise wir das bewerkstelligen können. Herr Fthenakis hat,
wie ich finde, in einer hoch plausiblen Studie gezeigt, was
junge Elternschaft bedeutet, welche Risiken sie in sich birgt,
105
welche Schwierigkeiten in der Kommunikation zwischen jungen Vätern und Müttern liegen. Wir müssen das Thema Bildung
in der, durch die und für die Familie weitaus ernster nehmen,
als dies bislang der Fall war.
„Alle Menschen, gleich welcher Herkunft, welchen Standes und
Alters, haben kraft ihrer Personwürde das unveräußerliche
Recht auf Erziehung (und Bildung).“ Das ist der Kernsatz der
Erklärung des II. Vatikanischen Konzils über die christliche
Erziehung „Gravissimum educationis“. Der Gedanke ist sicher
nicht neu. Wir finden ihn auch in den internationalen Menschenrechtserklärungen. Für die katholische Kirche ist er seit
40 Jahren der Leitgedanke, an dem sich das kirchliche Bildungsengagement in Theorie und Praxis orientiert.
Die Orientierung an der Menschenwürde und den Menschenrechten scheint auf den ersten Blick eine Selbstverständlichkeit
und wenig spektakulär zu sein. Der zweite Blick aber wird
schnell erkennen, dass unsere bildungspolitische Diskussion von anderen Leitbegriffen
beherrscht wird. Bildung wird heute oft ökonomisch als Investition in „Humankapital“
verstanden. Die hohe Arbeitslosigkeit und
die berechtigte Sorge vieler Eltern, ob ihre
Kinder einen Ausbildungsplatz finden, verleiten dazu, das Schulsystem und die Bildungsangebote danach zu bewerten, ob sie
die Jugendlichen fit für den Arbeitsmarkt
machen. Nun muss man sich hier sicher vor
falschen Alternativen hüten. Zur schulischen
Bildung gehört auch der Erwerb von Qualifikationen und Kompetenzen, die der Einzelne braucht, um am Arbeitsleben teilzunehmen. Auch die Frage nach der Effektivität
und Effizienz unseres Bildungswesens ist
notwendig und sinnvoll. Angesichts leerer
Kassen in Staat und Kirche ist es legitim,
unser Bildungswesen auch unter ökonomischen Gesichtspunkten zu betrachten und
zu bewerten. Es ist jedoch gefährlich, wenn
der Wert von Erziehung und Bildung mit
dem wirtschaftlichen Nutzen gleichgesetzt wird. Eine solche
funktionale Sicht von Bildung fördert, ob gewollt oder nicht,
auch ein funktionalistisches Menschenbild. Hier kann nun der
menschenrechtliche Gedanke, dass Bildung unabhängig von
Nutzenkalkülen ein Persönlichkeitsrecht darstellt, zum kritischen Korrektiv werden. Die bildungsökonomische Perspektive
wird damit nicht bedeutungslos; sie muss jedoch der Orientierung an der Menschenwürde untergeordnet werden.
Foto: VdS Bildungsmedien
Ein Zweites und Letztes: Ich würde den „Ernst des Lebens“
nicht mit dem Eintritt in die Schule beginnen lassen, sondern
sehr viel früher ansetzen und die Kinderbetreuung in Deutschland endlich zu einem bildungsbasierten Ansatz und Konzept
machen. Deren Hauptziel liegt gegenwärtig darin, wie man das
im süddeutschen Raum nennt, auf Kinder „aufzupassen“, also
Kinder zu hüten. Die Philosophie der Zukunft sollte stattdessen
sein, von Anfang an diese Betreuung zugleich als einen zentralen Prozess der Bildung von Kindern zu betrachten, und zwar
im Sinne eines Anregungspotenzials, das dazu führt, dass Kinderbetreuung nicht als zweit- oder drittbeste Lösung betrachtet wird, sondern als ein Zugewinn an Möglichkeiten, an
STATEMENT
Engelbert Siebler
Gestaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten für alle Kinder.
Deshalb müssen wir im Westen dieser Republik konsequent die
bildungsrelevanten und bildungsfähigen Angebote für Kinder
weiter ausbauen. Darin liegt eine wesentlich größere Chance
des Abbaus von Ungleichheit als in einer allein monetären Familienpolitik. Wenn man Eltern aus berechtigten Gründen mehr
Geld für ihre Kinder gibt, kommt es leider nicht immer bei den
Kindern an. Oder anders formuliert: Dadurch, dass Eltern Geld
bekommen, lernt kein Kind mit Migrationshintergrund
Deutsch. Das gelingt nur dadurch, dass es frühzeitig mit anderen Kindern zusammenkommt, dass wir für Kinder Angebote
und Möglichkeiten der Begegnung schaffen. Ich bin überzeugt,
dass diese Form der sozialen Integration immer noch die beste
Form des Abbaus von sozialer Ungleichheit ist.
106
Eine Orientierung der Bildungspolitik an der Menschenwürde
hat sehr praktische Konsequenzen, und zwar sowohl in bildungstheoretischer als auch in sozialethischer Hinsicht, also für
die Frage nach der Bildungsgerechtigkeit. In bildungstheoretischer Hinsicht dienen Erziehung und Bildung der Entfaltung
der menschlichen Person in allen Dimensionen. Dazu gehört
auch, das Bewusstsein für die eigene Würde und die Würde des
Olbertz/Rauschenbach/Siebler/Frank: Gerecht befähigen
Blindtext
Anderen zu fördern. Eine an der Personwürde orientierte Bildung umfasst die Beherrschung der Verkehrssprache und Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaften. Zu ihr
gehört aber auch die Befähigung zur Teilnahme am politischen
und kulturellen Leben unserer Gesellschaft. Dazu gehören
Geschichte und Politik, Kunst, Musik und Literatur. Ein wesentliches Kennzeichen der Würde des Menschen ist schließlich
seine Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden und die Frage
nach Sinn und Zweck seines Lebens und der Welt zu stellen.
Eine Bildungskonzeption, die die Fragen nach dem Woher,
Wohin und Wozu unseres Lebens ausklammert, wird der Würde
des Menschen nicht gerecht. Deshalb ist der Religionsunterricht für eine ganzheitliche Bildung schlechterdings unverzichtbar.
3. Weil die familiäre Lebenswelt einen so entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen hat, sollten wir die Zusammenarbeit von Elternhaus und Schule stärker
fördern. Wir brauchen eine Schulgemeinschaft, in der Lehrer,
Eltern und Schüler sich jeweils zu ihrem Teil, aber doch gemeinsam für den Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler verantwortlich wissen. Nichts ist abträglicher für Erziehung und Bildung als das Desinteresse von Eltern und Lehrern an den Kindern und Jugendlichen.
Wenn wir das Recht auf Bildung jedes Einzelnen besser verwirklichen wollen als bislang, dann brauchen wir eine Kultur
der Bildungsverantwortung in der Familie, in der Schule und in
unserer Gesellschaft.
„Ein wesentliches Kennzeichen der Würde des Menschen ist schließlich seine Fähigkeit, Gut
und Böse zu unterscheiden und die Frage nach Sinn und Zweck seines Lebens und der Welt
zu stellen. Eine Bildungskonzeption, die die Fragen nach dem Woher, Wohin und Wozu unseres Lebens ausklammert, wird der Würde des Menschen nicht gerecht. Deshalb ist der Religionsunterricht für eine ganzheitliche Bildung schlechterdings unverzichtbar.“
Zu den Grundfragen gegenwärtiger Bildungspolitik gehört die
Frage nach der Bildungsgerechtigkeit. PISA und andere internationale Studien haben die Gerechtigkeitsdefizite im deutschen
Bildungswesen offen gelegt. Der Bildungserfolg ist zu eng an
die soziale Herkunft gekoppelt. Besorgnis erregend ist der vergleichsweise hohe Anteil der Jugendlichen, die mit so geringen
Kenntnissen und Fähigkeiten die Schule verlassen, dass sie eine
Berufsausbildung nicht erfolgreich abschließen können. Große
Defizite gibt es auch bei der Integration von Kindern und
Jugendlichen mit Migrationshintergrund in unser Bildungssystem. Die Frage der Bildungsgerechtigkeit ist komplex. Ich
möchte mich deshalb mit drei Hinweisen begnügen.
1. Wir müssen die individuellen Stärken und Schwächen, die
Begabungen und Interessen der Kinder und Jugendlichen pädagogisch ernster nehmen als bislang. Wir sollten das Recht auf
Bildung als Recht auf individuelle Förderung verstehen und verwirklichen. Dabei ist zu betonen, dass dieses Recht unabhängig
von dem zu erwartenden wirtschaftlichen Nutzen auch den
Schwachen in unserem Bildungswesen zusteht. Ich denke hier
z. B. an behinderte Kinder und Jugendliche. Auch sie haben ein
Recht auf pädagogische Förderung und Bildung.
2. Wir dürfen den Blick nicht auf die Schule verengen. Erziehung und Bildung beginnen nicht in der Schule, sondern in der
Familie. Hier werden die Grundlagen für die Lebensführung und
für die schulische Bildung und Erziehung gelegt. Wir werden die
Gerechtigkeitsdefizite deshalb nur beheben können, wenn wir
die Erziehungskompetenz der Familien stärken. Eine gute Familienpolitik ist auch eine gute Bildungspolitik.
STATEMENT
Jürgen Frank
Ich konzentriere mich auf zwei aus evangelischer Perspektive
wesentliche Punkte, nämlich erstens auf die Kernfrage, die sich
mir auch nach den ersten Veröffentlichungen des Berichts des
UN-Beobachters gestellt hat: Wie kommt Bewegung in die
Szene? Und zweitens die Frage: Warum ist eigentlich so lange
nichts passiert? Beide Fragen zielen auf blockierende Mentalitäten, die eine Blockade der Strukturveränderungen zur Folge
haben. Man kann bei dem Thema Bildungsgerechtigkeit, dem
wir uns heute stellen, sehr gut an sich selber prüfen, was bei
einem selbst Betroffenheit, Wut oder Zorn auslöst.
Beginnen wir mit der Frage nach der Blockade: Warum ist so
lange nichts passiert? Es gibt zum Thema Chancengerechtigkeit
einen Cartoon von Hans Traxler, entstanden vor etwa 30 Jahren.
Die Zeichnung zeigt verschiedene Tieren, die alle vor einem
Baum stehen und auf diesen Baum hinaufklettern sollen: der
Elefant, der Fisch im Glas, der Affe und der Seehund. Sie werden aufgefordert, zum Zwecke einer gerechten Auslese auf den
Baum zu klettern. So wenig wie dies inzwischen der Elefant
geschafft hat, so wenig besucht das durch seine Familiensituation benachteiligte Kind heute das Gymnasium.
Vor etwa drei Jahren wurde Traxlers Klassiker mit den Tieren
neu gezeichnet und denjenigen, die das Ganze bislang eher spaßig betrachtet und sich an der Idee gefreut haben, dass ein Ele-
107
lichen Möglichkeiten, und wahrgenommen wird in seiner Würde.
Cartoon: Traxler
So wichtig Bildung in Gestalt von
Bildungsabschlüssen auch ist: Wir
machen uns für ein integriertes
Bildungsverständnis stark. Bildung verstehen wir als Zusammenhang von Wissen, Können,
Haltung und Handlungsfähigkeit,
das Ganze konzentriert in der
Biografie. Insofern greifen alle
Reformanstrengungen, die alles
nur der Schule als Aufgabe anlasten und nicht das weitere Umfeld
sehen, zu kurz. Insofern drängt
die evangelische Kirche darauf,
dass man bei den Bildungsplanungen die Bildungsausgangslage der Betroffenen ausreichend
berücksichtigt. Es reicht nicht, nur den einzelnen Jugendlichen
in den Blick zu nehmen. Entscheidend für die Bildungslaufbahn
sind die informellen Lernorte. Ohne diesen sozialräumlichen
Ansatz laufen viele Maßnahmen ins Leere.
fant das Klettern lernen soll, vor Augen geführt, wie sich die
Situation im richtigen Leben darstellt. Der Brillenträger mit
dem Geigenkasten, der Sportfreak mit Seil und Wurfanker –
bestens ausgestattet für diese Aufgabe –, dann das knöchellang
verschleierte Mädchen neben der übergewichtigen Couch-Potatoe. Und wieder sollen nun alle der Chancengleichheit wegen
auf den Baum klettern. Fazit: Zu wenig hat sich in rund einem
Vierteljahrhundert geändert, und andererseits: Zu viel hat sich
seither verändert. Zu den alten Ungleichheiten sind neue
Benachteiligungen hinzugekommen. Die Zahlen der Bildungsbenachteiligten sind Ihnen alle bekannt, sie müssen hier nicht
noch einmal genannt werden. Die Zahlen dienen aber oft nur
dazu, das Angstpotenzial zu schüren: Hier liege sozialer Sprengstoff. Der Blick auf die fackelnden und Steine werfenden
Jugendlichen in Frankreich wird quasi zu Hilfe genommen, um
Motivation in Gang zu setzen.
In dieser Situation greift die evangelische Kirche an zwei Punkten in die gegenwärtige Bildungsdiskussion ein. Die zentrale
Rolle des Bildungssystems und seine Qualität, das ist das eine,
der Blick auf die Jugendlichen als Personen das andere, wozu
Der Beitrag der Kirchen in dieser Frage kann nicht nur sein, den
Finger in die Wunde zu legen und zu sagen: Da ist ein Problem.
Nun, bitte, Gesellschaft, Wissenschaft, Politik bringt das in
Ordnung. Die Glaubwürdigkeit der Kirchen hängt daran, ob sie
das, was wir als wissenschaftlich begründete Einsichten ansehen, nur wiederholen und in den verschiedensten Zusammenhängen immer wieder neu erläutern oder ob sie ihren Beitrag
bei der Umsetzung, bei der Realisierung dieser Ziele leisten.
Denn inhaltlich und von der Perspektive her stimmen die Ziele
mit dem überein, was beide christliche Kirchen wollen. Das
steht nicht in Frage, und wer will, kann das auch nachlesen.
Für mich ist zur Beurteilung dieser Situation eine Erfahrung
von Bedeutung, die ich beim Besuch einer Grundschule
gemacht habe. In einem Morgenkreis, wo lange aufgestaute
„Uns als evangelischer Kirche liegt daran, dass unser Schulsystem, unser Bildungssystem
erlebt und erfahren wird als ein Ort, in dem jeder willkommen ist mit seinen Potenzialen,
mit seinen unterschiedlichen Möglichkeiten, und wahrgenommen wird in seiner Würde ...
Insofern drängt die evangelische Kirche darauf, dass man bei den Bildungsplanungen die
Bildungslage der Betroffenen ausreichend berücksichtigt.“
eben Bischof Siebler das Seine gesagt hat. Uns als evangelischer
Kirche liegt daran, dass unser Schulsystem, unser Bildungssystem erlebt und erfahren wird als ein Ort, in dem jeder willkommen ist mit seinen Potenzialen, mit seinen unterschied-
108
Fragen gestellt wurden, wurde ich gefragt: „Ist Gott in echt?“
Bezogen auf unsere gesamten Publikationen stellt sich die
Frage, wie echt sind sie, wie ernst sind sie eigentlich gemeint?
Oder verbreiten wir nur kluge Gedanken? Glücklicherweise –
Olbertz/Rauschenbach/Siebler/Frank: Gerecht befähigen
Blindtext
und das betrifft beide Kirchen gemeinsam – haben wir
genug Praxisfelder, auf denen wir zeigen können, wie
ernst wir es meinen mit dem, was hier unter Chancengerechtigkeit vertreten wird.
Cartoon: Traxler
Wir tragen einen Großteil der Verantwortung im Bereich
der Kindertagesstätten, denn die beiden großen Kirchen
sind zusammengenommen Träger der Hälfte dieser Einrichtungen. Wir sind hier angesprochen nicht nur, was
die Qualifikation der dort Arbeitenden anbetrifft, sondern desgleichen, was die Integration der Eltern in diese
Erziehungsarbeit betrifft. Man wird nicht umhinkommen, die Elternkompetenz zu stärken, und sollte dies
nicht als eine zusätzliche Last empfinden, sondern als
einen systemisch integrierten Teil. Ich kann mir gut vorstellen, dass man natürlich sofort Applaus für diese Forderung bekommt. Nur ist es ein völlig anderes Geschäft,
die Eltern kompetent zu machen, für die Kinder etwas
zu tun, damit eine Motivation und ein entsprechendes
Lernumfeld aufgebaut werden kann. Hierfür muss man
diejenigen, von denen man eine solche Leistung erwartet, auch entsprechend qualifizieren. Es sind Kompetenzen erforderlich, um in einer Abstand nehmenden,
reflektierenden Weise Entwicklungsgänge von Kindern
zu analysieren, und darüber hinaus auch die Fähigkeit,
das in die verschiedensten Kulturen, aus denen die
Eltern stammen, zu vermitteln.
Eine Schlussbemerkung zu diesem Gedankengang von
meiner Seite: Wer isoliert nur einen Aspekt in den Blick
nimmt und nur Forderungen erhebt, aber sich nicht
gleichzeitig klar macht, wo die Aufgaben im weiteren
Feld liegen, springt zu kurz. Sofern man es für richtig
hält, dass die Eltern mit einbezogen werden müssen,
muss man gleichzeitig die Institutionen stärken, die diese Kompetenz vermitteln. Es wird künftig Teil des Profils evangelischer
Kindertagesstätten sein müssen, dass wir die Aufgabenfelder
unserer Kindertagesstätten erheblich verändern. Die Frage ist
nur, ob die Gesellschaft bereit ist und in ihr die Kirche, diesen
Aufwand auch zu tragen. Hier kommt der Finger in die Wunde:
Die Kirche hat in dieser Situation die Aufgabe, immer wieder
auf diese Differenz zwischen Anspruch und realer Praxis hinzuweisen und bei diesem Hinweis gleichzeitig sich selbst auch
immer wieder in Frage zu stellen.
109
Stärker als je zuvor beklagt die Wirtschaft die mangelnde Ausbildungsreife der Schulabgänger von
Haupt- und Realschulen. Kritiker bemängeln, dass das Reformparadigma des Forderns und Förderns
weit gehend nur auf den gymnasialen Bildungsweg Anwendung findet, und befürchten eine Abwertung
der anderen Bildungsgänge. „‚FORDERN UND FÖRDERN‘ – EIN PARADIGMENWECHSEL FÜR ALLE SCHULFORMEN“, über dieses Thema sprachen KLAUS BÖGER, Senator für Bildung, Jugend und Sport in Berlin,
ALBRECHT DÜSEL, Leiter des Personalservicecenters der Volkswagen AG, Wolfsburg, zuständig unter
anderem für die berufliche Erstausbildung, sowie WIlFRIED STEINERT, Vorsitzender des Bundeselternrates, sowie Dr. LUDWIG ECKINGER, Bundesvorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung.
Klaus Böger
Klaus Böger, geb. 1945. 1968-72 Studium der Fächer Politologie und Staatsrecht an der FU Berlin, 1972
Diplompolitologe. 1972-76 Wissenschaftlicher Assistent an der FU. Ab 1976 Dozent und Fachbereichsleiter
für Politik beim Lette-Verein. Seit 1968 SPD-Mitglied. Seit 1989 Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses.
1990-94 stellv. Vorsitzender, 1994-99 Vorsitzender der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus. Seit 1999 Bürgermeister von Berlin und Senator für Schule, Jugend und Sport, seit 2002 für Bildung, Jugend und Sport.
Albrecht Düsel
Albrecht Düsel ist Leiter des Personalservicecenters der Volkswagen AG, Wolfsburg; er ist zuständig unter
anderem für die berufliche Erstausbildung.
STATEMENT
deutsche Kinder aus bildungsfernen Familien kommen und –
man denke z. B. an Migrantenkinder aus einem ostanatolischen
Dorf – zudem enorme kulturelle Unterschiede bewältigen müssen. Das ist eine riesige gesellschaftliche Herausforderung.
„Fördern und Fordern“ ist die moderne Zauberformel für viele
Politikfelder. Jeder stellt sich etwas anderes darunter vor, und
viele beklagen dann immer die Defizite. Wenn es um Fordern
und Fördern im deutschen Bildungssystem geht, müssen wir
zunächst feststellen, dass wir immer noch einen hohen Prozentsatz von Schülerinnen und Schülern haben, die unsere
Schulen ohne jeden Abschluss verlassen. Man könnte es sich
einfach machen und sagen, die können es einfach nicht. Für
mich hingegen liegt darin eine Aufforderung zum individuelleren und damit besseren Fördern von Schülern, damit sie einen
Abschluss erreichen. Die Prozentzahlen sind Ihnen bekannt, sie
liegen bei etwa 10 Prozent, und sie liegen höher bei Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund, die häufiger als
Wenn man mit Vertretern der Wirtschaft diskutiert, wird häufig beklagt, dass sehr viele Absolventen unseres Bildungssystems nicht ausbildungsfähig seien. Die Noten seien häufig
Schall und Rauch. Ich bin ein Anhänger des Dialoges mit der
Wirtschaft und vor allem ehrlicher und vergleichbarer Abschlüsse, denn wir müssen den Dingen in die Augen sehen. Bei manchen Wirtschaftsvertretern kommt mir jedoch der Verdacht,
dass über diese Aussage kaschiert werden soll, dass es objektiv
zu wenige Ausbildungsplätze gibt. Das ist nämlich so. Auf der
anderen Seite muss man aber attestieren, dass wir tatsächlich
Schülerinnen und Schüler haben, die die Schule zwar mit einem
Abgangszeugnis verlassen, aber in der Tat nicht ausbildungsfä-
Klaus Böger
110
Böger/Düsel/Steinert/Eckinger: Fordern undBlindtext
Fördern
Wilfried Steinert
Wilfried Steinert studierte nach einer technischen Lehre Theologie und war Pfarrer in Essen und Minden
sowie Religionslehrer in Berlin. 1991-2002 im Konsistorium der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg
und als Kirchenschulrat zuständig für die Fachaufsicht über den Religionsunterricht an Schulen. Seit 2002
Schulleiter der Waldhofschule Templin, einer Förderschule für geistig Behinderte. Seit 1999 im Bundeselternrat, seit Mai 2004 dessen Vorsitzender. Wilfried Steiner ist Vater von zwölf Kindern und Pflegekindern, von
denen fünf noch zu Hause leben.
Ludwig Eckinger
Ludwig Eckinger, Dr., geb. 1944. Ausbildung zum Volksschullehrer an der PH Regensburg. Nach dem
2. Staatsexamen Wissenschaftlicher Assistent an der Universität Regensburg. Promotion nach einem Aufbaustudium der Pädagogik und Politischen Wissenschaften. 1982-94 Leiter der Grundschule Saal a. d.
Donau. Seit 1993 Bundesvorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE). Seit 1996 Vorsitzender
der Expertenkommission Schule, Bildung und Wissenschaft des Deutschen Beamtenbundes (dbb); seit 2003
stellvertretender Vorsitzender der dbb Akademie. Zugleich Vizepräsident des Bayerischen Lehrerinnen- und
Lehrerverbandes (BLLV).
hig sind, sei es aufgrund ihres Sozialverhaltens und der persönlichen Tugenden, sei es aufgrund eines zu niedrigen Kenntnisstandes. Das gilt für Berlin, aber auch für andere Bundesländer.
Dem müssen wir uns stellen. Zu diesem Zweck haben wir
gemeinsam mit den Dach- und Fachverbänden der Wirtschaft
ein Treffen gehabt. Die Kultusministerkonferenz wird infolge
dieses Treffens zusammen mit der Wirtschaft ein Papier veröffentlichen, in dem gewisse Anforderungen präzisiert, Schritte
festgelegt und Best-Practice-Beispiele benannt werden, wie
man die Zusammenarbeit zwischen Schule und Wirtschaft verstärken kann. Hierbei sind allerdings die deutschen Schulen in
der Tat auf einem sehr guten Weg. Sie suchen die Partnerschaft
mit der Wirtschaft sowohl durch Schnupperpraktika als auch
mit Coaching. Schülerinnen und Schüler sollen erkennen, was
der Arbeitgeber eigentlich verlangt. In Berlin haben wir ein beispielhaftes Netzwerk aufgebaut. Dabei geben wir den originä-
ren Bildungsauftrag nicht auf und sagen: Schule hat sich komplex den jeweiligen Anforderungen der Wirtschaft zu unterwerfen. Das hielte ich für falsch. Wir haben einen eigenständigen
Bildungsauftrag, aber er muss sich eben auch in der Gesellschaft und damit in der Arbeitswelt widerspiegeln.
Fördern und Fordern ist auch eine Anforderung an unsere Schulstruktur. Ich glaube nicht, dass unsere aktuellen Schulstrukturen das verhindern. Auch das gegliederte Schulsystem lässt ein
Fördern und Fordern zu. Besser geht es sicherlich in einem
Gesamtschulsystem, wo alle Schülerinnen und Schüler zusammen sind. Ich glaube, die Förderung muss ihren Schwerpunkt
vor der Schule in den Kitas und in der Primarstufe haben, weil
hier die größten Potenziale sind.
1. In der Kita und in der Grundschule kann man die Chancen
eines Kindes frühzeitig optimieren, Entwicklungsdefizite
ausgleichen, Begabungen fördern, Anregung geben.
111
2. Wir dürfen beim Fördern auch nicht das Fordern vergessen.
a) Wir haben Schülerinnen und Schüler, die erhebliche
Potenziale haben und große Lernfortschritte machen, die
man nutzen und optimieren muss. Diese Begabungsförderung ist nicht unumstritten. Aber ich bin davon überzeugt,
dass sie ein wichtiges Feld für Förderung ist. Berlin hat ein
differenziertes Hochbegabtenförderungskonzept, das zugleich hohe Forderungen stellt.
b) Aber auch bei Kindern mit Defiziten hat Forderung neben
der Förderung ihren Platz. Eine Gesellschaft, die viel in Förderung investiert, muss erwarten können, dass auf der
anderen Seite – bei Kindern und deren Eltern – auch
Anstrengungsbereitschaft und Mittun vorhanden ist. Deshalb habe ich in Berlin beispielsweise den verbindlichen
Sprachtest für alle Viereinhalbjährigen im Zusammenhang
mit der Schulanmeldung eingeführt. Kinder mit Defiziten
sind zu einem halbjährigen kostenlosen Sprachkurs vor
Schuleintritt verpflichtet, damit sie bei Schuleintritt dem
Unterricht überhaupt folgen können. Die Teilnahme setze
ich auch konsequent durch. Das heißt für mich Fördern und
Fordern.
Ansonsten ist dieser Zusammenhang von Fördern und Fordern
eine überragende Aufgabe im Unterricht, wobei sich im Kern
überhaupt keine generalisierten Leitsätze bestimmen lassen.
Selbstverständlich ist Unterricht und sind die Rahmenbedin-
In der Literatur zum Thema Fordern und Fördern ist immer mal
wieder die Rede von der Gefahr, dass dadurch die Leistung
nivelliert oder gesenkt wird, weil man sich immer am
Schwächsten orientiere. Ich halte das für ein Scheinproblem,
eine Gespensterdiskussion. Sie werden als Lehrerin oder Lehrer
relativ rasch merken, wo die Stärken eines Kindes sind, wo
eventuelle Schwächen sind, und dann können Sie Ihr Leistungsprofil darauf abstellen. Binnendifferenzierung ist doch keine
methodisch-didaktische Erfindung seit PISA, sondern ein alter
und wohl bewährter Hut. Sie muss nur praktiziert und z. B. im
Blick auf die Schulanfangsphase weiter entwickelt werden. Es
ist doch selbstverständlich, dass man in einer Klasse unterschiedliche Niveaus hat, das muss sich nur in einem Rahmen
bewegen. Insofern sehe ich eine Nivellierungsgefahr überhaupt
nicht. Apropos Standards: Das Institut zur Qualitätsentwicklung
im Bildungswesen (IQB), beginnt jetzt mit der Pilotierung von
Aufgaben. Das dürfte für uns alle sehr spannend werden.
Es wird häufig gefragt, ob die Schule unter den heutigen Bedingungen vom Zeitaufwand her eigentlich in der Lage ist, individuelle Förder- und Lehrpläne für jeden einzelnen Schüler im
Lernprozess zu entwickeln, abzusprechen, am Laufen zu halten
und zu korrigieren. Sicher, das ist ein hoher Anspruch – aber
Hand aufs Herz: In welchem Job werden in heutiger Berufswelt
keine hohen Ansprüche gestellt? Was die schulischen Rahmenbedingungen betrifft, so ist das eine schwierige Frage. Sicher-
„In der Literatur zum Thema Fordern und Fördern ist immer mal wieder die Rede von der
Gefahr, dass dadurch die Leistung nivelliert oder gesenkt wird, weil man sich immer am
Schwächsten orientiere. Ich halte das für ein Scheinproblem, eine Gespensterdiskussion. Sie
werden als Lehrerin oder Lehrer relativ rasch merken, wo die Stärken eines Kindes sind, wo
eventuelle Schwächen sind, und dann können Sie Ihr Leistungsprofil darauf abstellen. Binnendifferenzierung ist doch keine methodisch-didaktische Erfindung seit PISA, sondern ein alter
und wohl bewährter Hut. Sie muss nur praktiziert und z. B. im Blick auf die Schulanfangsphase weiter entwickelt werden.“
gungen des Unterrichts die bedeutsamste Stellschraube – angefangen bei der Qualität des Unterrichts über Lehrer/SchülerRelationen, Ganztagsunterrichtsangebote, Sozialarbeiter an
Schulen bis zur Frage, welche Unterstützungssysteme es über
das engere Schulgeschehen hinaus gibt. Und wenn wir das Musterbeispiel Finnland nehmen, dann muss man attestieren, dass
es dort unter den Kollegen sowohl ein anderes Verständnis von
Schule gibt, aber eben auch bessere und stärkere Unterstützungssysteme. Und ohne entsprechende personelle Ressourcen
können weder Fördern noch Fordern so verbessert werden, wie
wir es für die Zukunft unseres Landes brauchen. Bessere Bildung kann es nicht zum Nulltarif geben. Damit stelle ich nicht
in Abrede, dass im Rahmen bestehender Ressourcen auch noch
viel an besserer Qualität entwickelt werden kann und muss.
112
lich wäre es optimal, wenn die Lehrkräfte eine bessere Unterstützung hätten, d. h. durch Schulsozialarbeit oder Schulpsychologen. In Berlin haben wir auf 7000 Schüler einen Schulpsychologen, im Bundesdurchschnitt sind es 12 000. Nun gibt es
in der Bundesrepublik ganz unterschiedliche Grundbedingungen: Migrationshintergrund ist nicht gleich Migrationshintergrund. Wenn in Berlin die Hälfte der Kinder mit Migrationshintergrund aus der Türkei kommt, überwiegend aus bildungsfernen Schichten, und es bereits Schulen gibt, an denen kein deutsches Kind mehr lernt, so ist das sicher eine Herausforderung,
die es in dieser Verdichtung kaum irgendwo sonst in Deutschland gibt. In Anbetracht dessen haben wir natürlich zu wenige
Schulsozialarbeiter und Schulpsychologen, aber wir sind Haushaltsnotlageland.
Böger/Düsel/Steinert/Eckinger: Fordern und Fördern
Cartoon: Mester
Die nächsten Fragen, die sich bei
den Rahmenbedingungen dann
stellen, sind die klassischen Fragen nach der Arbeitszeit, nach
Klassengrößen usw., die konkreten Rahmenbedingungen einer
Schule. Es gibt Schulen in so
genannten Problemquartieren,
die im Grunde genommen durchgängig Schulsozialarbeit leisten
müssen, weil die Elternhäuser
ihrer Verantwortung überhaupt
nicht mehr nachkommen. Deshalb ist klar: Neben der Verbesserung von Qualität oder Qualitätssicherung müssen alle Kultusminister um bessere Ressourcen für
das Bildungssystem kämpfen.
Der Gesamtanteil dessen, was wir
an Ressourcen für Bildung zur
Verfügung stellen, und der Stellenwert von Bildung in der allgemeinen Gesellschaft ist disproportional. Das ist meine Auffassung. Doch ich kann das nicht
ändern, indem ich einen Hebel umlege. Ich setze sehr darauf
und beobachte deshalb auch sehr genau, was auf Bundesebene
passiert, zum Beispiel im Hinblick auf die Bedeutung von Kindergärten, von vorschulischer Bildung. Es ist noch gar nicht
lange her, da hieß es: Kindergärten seien reine Betreuungseinrichtungen, und die brauche auch gar nicht jeder. Ich finde es
ermutigend, das sich gerade hier viel bewegt hat. In Berlin sind
wir da mit über 90 Prozent der Kinder in Kitas und unserem
Kitabildungsprogramm Vorreiter.
Neben vielem Leistbaren, das nichts mit mehr Geld zu tun hat,
bleibt eine Kernforderung – dass wir in der Bundesrepublik
Deutschland mehr und gezielter in die Bildung investieren müssen.
STATEMENT
Albrecht Düsel
Unsere Personalplanung, das konnten Sie der Presse entnehmen,
zeigt deutlich, dass wir in der nächsten Zukunft nicht unbedingt Ausgebildete benötigen, aber dennoch haben unsere jungen Auszubildenden bei uns einen tarifvertraglichen Anspruch,
im Anschluss an ihre Ausbildung übernommen zu werden. Dem
soll auch Rechnung getragen werden, allerdings haben wir tariflich auch entsprechende Anreize geschaffen, indem wir sie während der gesamten Ausbildungszeit fordern, Leistung zu zeigen.
Ausbildung kostet Geld, ist aber wichtig, um die Zukunft unseres Landes und unseres Unternehmens zu sichern. Aufgrund die-
ser Tatsache achten wir auf die Zeugnisse und führen einen
Berufseignungstest durch. Ferner werden Einzelinterviews
geführt, um die Stärken und Schwächen zu sehen, und abschließend wird eine werksärztliche Untersuchung durchgeführt.
Diese ist deshalb wichtig, weil wir feststellen, dass Schülerinnen
und Schüler zunehmend Haltungsschäden haben oder mittlerweile stark übergewichtig sind. Wir sind nun einmal ein Industriebetrieb, in dem diese jungen Menschen anschließend auch in
der Automobilfertigung arbeiten müssen.
Wir können im Grunde genommen 550 Auszubildende auf
einem sehr hohen Niveau auswählen und ausbilden. Unsere
Bewerber für den kaufmännischen und gewerblichen Bereich
setzen sich aus Gymnasiasten, Realschülern und Hauptschülern
zusammen. Bei uns haben Hauptschüler im gewerblich-technischen Bereich noch eine Chance, im kaufmännischen Bereich
dagegen nicht mehr.
Wir werden zukünftig einen wesentlich stärkeren Fokus auf die
Studenten im Praxisverbund legen. Bis 2004 haben wir im Praxisverbund jährlich ca. 60 bis 70 Studierende eingestellt und
haben diese Zahl für 2005 auf 300 erhöht. Wir haben uns entschlossen, in die Ausbildung dieser Gruppe zu investieren, da
sie gern gesehene Kandidaten für Fachaufgaben sind. Sie absolvieren in vier bis viereinhalb Jahren eine Ausbildung, gekoppelt
an ein Studium an der Fachhochschule, ihr Notendurchschnitt
an der FH Wolfenbüttel liegt bei 1,8.
Unsere Bewerber können sich bei uns informieren, einmal
durch drei- und einwöchige Praktika, den Tag der offenen Tür,
113
und wir gehen auch mit diversen Projekten an die Schule. Die
Abbrecherquote im Vergleich zu den sonst zitierten 20 bis 25
Prozent ist bei uns gering. Wir haben bei den Auszubildenden
über die Jahre 1,5 Prozent Fluktuation. Das hängt sicherlich
auch damit zusammen, dass man – egal, um welchen Beruf es
geht – anschließend eine Übernahmegarantie von bislang 100
Prozent, neuerdings nur noch 85 Prozent erhält. Die 15 Prozent,
hige. Aber es werden dort nur Auszubildende vermittelt, die
mittlerweile in der so genannten „Warteschleife“ sind und mindestens ein Jahr nach dem Haupt- oder Realschulabschluss eine
Berufsschule besucht haben. Sie werden dort auch pädagogisch
vom RVA betreut, der das Ganze mit finanziert, und die Übernahmequote dieser Gruppe in den Handwerksbetrieben liegt
etwa bei 70 Prozent.
„Die Zeugnisnoten sind uns nach wie vor wichtig. Dass sie denn objektiv sind, wird im Berufseignungstest nicht immer bestätigt, wenn ich nur einmal an das Fach Mathematik denke. Was
wir auch prüfen, ist die Konzentration. Und beim Thema Interview kann deutlich werden,
dass eine Note im Zeugnis oder auch ein Ergebnis im Berufseignungstest nicht alles ist.“
die zukünftig von der Mutter Volkswagen nicht übernommen
werden, werden innerhalb des Konzerns weiterbeschäftigt.
Nun zur Ausbildung. Wir haben innerhalb der Ausbildung ein
EFA-Programm, d. h. „Entwickeln und Fördern von Auszubildenden“, in dessen Rahmen die Auszubildenden halbjährlich
durch ihre Stammausbilderin oder ihren Stammausbilder beurteilt werden. Dieses Instrument ist bei der zukünftigen Personaleinsatzplanung äußerst wichtig, weil wir uns daran stärker
orientieren als an den Berufsschulnoten, denn dort werden insbesondere die betrieblichen Fertigkeiten, die Prozesskenntnisse
und Ähnliches mit berücksichtigt. Das zum Thema Volkswagen.
In Wolfsburg hat sich eine Projektgruppe damit beschäftigt,
Orientierungshilfen zu entwickeln, um sie jeder Schülerin,
jedem Schüler an die Hand zu geben. Sie sollen lernen, sich
selbst in ihren Stärken und Schwächen einzuschätzen, und
erhalten in denselben Kriterien mehrfach eine Fremdeinschätzung durch den Lehrer sowie durch die teilnehmenden Praktikumsbetriebe im Rahmen zweier Praktika, um sich im Hinblick
auf die Berufswahl an ihren Stärken orientieren zu können. Eine
hohe Anzahl an Wolfsburger Betrieben einschließlich der
VW AG, haben sich bereit erklärt, in der 8. Klasse zusätzlich ein
einwöchiges Schnupperpraktikum anzubieten. Die Betriebe
wollen, wenn dies in der Fläche eingeführt ist – und das wird
im nächsten Jahr erstmalig der Fall sein –, die so genannte
Schüler-Profil-Card mit der Selbst- und Fremdeinschätzung bei
der Auswahl und Einstellung von Auszubildenden mit berücksichtigen. Denn der, der seine Stärken kennt, kann mit einer
hohen Motivation gute Leistungen erbringen. „Nur wer weiß,
woher er kommt, weiß, wohin er geht“ (Theodor Heuss).
Für die benachteiligten Jugendlichen unserer Region gibt es
den Regionalverbund für Ausbildung (RVA), der auch durch die
VW AG mit unterstützt wird, wo junge Menschen unter 25 Jahren einen Ausbildungsplatz finden. Dabei handelt es sich
sowohl um nicht ausbildungsfähige als auch um ausbildungsfä-
114
STATEMENT
Wilfried Steinert
Wir wollen als Eltern, dass unsere Kinder bestmöglich ausgebildet werden, die Wirtschaft will die bestmöglich qualifizierten
Jugendlichen für ihre Ausbildungsstellen haben, und als Gesellschaft können wir es uns überhaupt nicht leisten, irgendein
Kind auf der Strecke zu lassen, weil wir dann bei der gemeinsamen Gestaltung unserer Zukunft an die Grenze gelangen werden. Was uns überhaupt nichts kosten wird, ist eine neue Einstellung zur Bildung. Wir sollten Schule vom Kind her denken:
Was braucht das jeweilige Kind? Wie muss ein Kind gefördert,
ja zunächst überhaupt wahrgenommen werden? Was braucht
es, und wie kann es gefördert und herausgefordert werden? Wir
betrachten unsere Kinder, unsere Schülerinnen und Schüler viel
zu selten unter dem Aspekt, welche Stärken sie haben, welche
Schwächen, wie Schule für diese Kinder gestaltet werden kann.
Ich will dennoch zwei positive Beispiele nennen. Wer mich
kennt, weiß, dass ich viele Kinder habe. Als ich vor zwölf Jahren von Berlin nach Brandenburg gezogen bin, hat die Grundschule, die sechs meiner Kinder besuchen sollten, eine Konferenz aller Lehrer einberufen, die diese Kinder in Zukunft unterrichten würden. Wir haben miteinander überlegt, was zu tun
sei, damit diese Kinder – Pflegekinder, die es nicht ganz einfach haben – den Wechsel von Berlin in die Grundschule im
Land Brandenburg verkraften und gestalten können. Daraus hat
sich ein sehr individuelles Lernbild für diese Kinder ergeben,
und das Ganze hat sich bislang so gut entwickelt, dass einer
meiner Pflegesöhne, der in Berlin als lernbehindert diagnostiziert worden war, letzten Sommer sein Abitur mit 2,4 gemacht
hat. Das ist mit Unterstützung von Schule und Elternhaus
gelungen.
Das zweite Beispiel betrifft ebenfalls den Umzug eines Kindes.
Bekannte haben das gerade erlebt. Ihr Kind musste ein Schuljahr
Böger/Düsel/Steinert/Eckinger: Fordern undBlindtext
Fördern
wiederholen, und sie mussten sehr viel in Nachhilfe investieren,
weil es in der neuen Stadt kein Gymnasium mit Latein als zweiter Fremdsprache gab. Der betroffene Schüler musste in der 9.
Klasse Französisch als zweite Fremdsprache nachholen. Die Schule hat versucht, ihn an eine andere Schule zu verweisen, hat
Zweifel geäußert, ob er überhaupt Abitur machen könne, ob es
nicht besser sei, er würde auf eine Gesamtschule gehen, mit der
10. Klasse abschließen und versuchen auf dem zweiten Bildungsweg Abitur zu machen. Dies als eine Negativerfahrung.
Eine weitere positive Erfahrung: Mein Sohn ist letzten Sommer
in Finnland gewesen und hat seine 11. Klasse dort absolviert. Die
dortige Schule hat mit ihm zusammen überlegt, was geschehen
muss, damit er möglichst schnell am Unterricht der Klasse teilnehmen kann. Wie könnte man organisieren, dass für ihn ins
Englische übersetzt wird, damit er dem Unterricht folgen kann,
und wie wäre ein Deutschkurs einzurichten? Wo könnte er kurzfristig Finnisch lernen, um am Unterricht teilzunehmen? Das
wünsche ich mir als Kultur in deutschen Schulen: dass wir schauen, ganz gleich ob ein Schüler neu hinzukommt oder bereits an
ein das machen kann. Der Bundeselternrat kämpft seit 1984
darum, eine ständige Geschäftsstelle zu bekommen. Es gibt
einen entsprechenden Antrag bei der Kultusministerkonferenz.
Mit jedem Vorsitzwechsel muss unsere gesamte Organisation
von einem Bundesland in ein anderes umziehen. So kann man
natürlich die Energien klein halten. Wir versuchen uns einzumischen. Wir haben in Deutschland 800 000 Klassenelternsprecher, das ist eigentlich die Lobby. Wir sind als Bundeselternrat
von unten gewählt, und in den letzten Jahren sind wir auch
sehr viel mehr wahrgenommen worden. Aber dieses Beispiel,
dass wir ehrenamtlich arbeiten müssen und keine ständige
Geschäftsstelle haben, zeigt, dass unsere Arbeit fast unmöglich
zu organisieren ist. Ich muss schließlich auch meinem Beruf
nachgehen. Ich habe das Glück, dass mein Arbeitgeber mir
gestattet, das zu tun, und ich muss nicht einmal einen Dienstreiseantrag stellen. Andernfalls könnte ich heute nicht hier sitzen. Aber daran wird deutlich, wie wenig die politische Gesellschaft uns wahrnimmt und unterstützt. Man redet zwar immer
davon, wie wichtig die Eltern sind, aber an den Stellen, wo es
zur Nagelprobe kommt, ist das zu wenig.
„Das wünsche ich mir als Kultur in deutschen Schulen: dass wir schauen, ganz gleich ob
ein Schüler neu hinzukommt oder bereits an der Schule ist, welche Stärken er hat, welche
Schwächen, welche Unterstützungsmechanismen die Schule aufbauen muss. Wenn wir so
vorgehen, haben wir schon eine ganze Menge gewonnen.“
der Schule ist, welche Stärken er hat, welche Schwächen, welche
Unterstützungsmechanismen die Schule aufbauen muss. Wenn
wir so vorgehen, haben wir schon eine ganze Menge gewonnen.
Das Kind sollte im Mittelpunkt stehen, und wir sind gefordert.
Um das auch in die Praxis umzusetzen, wäre unsere Anregung
und Forderung, dass man in der ersten Klasse regelmäßig ElternKind-Gespräche mit den Lehrern führt, nicht nur über das Kind,
sondern mit dem Kind zusammen. Da könnte man dann auch
gern auf die Halbjahreszeugnisse verzichten, weil man im
Gespräch ist und sieht, was das Kind vonseiten der Eltern und
Lehrer braucht.
STATEMENT
Ludwig Eckinger
Unsere Förderkultur besteht häufig darin, dass wir bloß darauf
schauen, welche Defizite ein Kind hat, es mit diesen Defiziten
immer wieder behaften, ausschließlich darin fördern und dass
wir es so im Grunde genommen in einer Abhängigkeit behalten.
Wir müssen dahin kommen, dass das, was Forderung und Herausforderung ist, sehr viel mehr in den Vordergrund gestellt
wird. Aber das geht nur, wenn wir wirklich bei den Stärken des
Kindes ansetzen.
Bis jetzt gilt in Deutschland immer noch die Ausrede des mangelnden Geldes, und wir haben nicht annähernd die Unterstützungssysteme, die wir bräuchten, z. B. Schulsozialarbeit, Schulpsychologie. Aber ich will nicht jammern. Tatsache ist, dass wir
einen sehr hohen Prozentsatz von Kindern und Jugendlichen
haben, die in erster Linie gefördert werden müssen, bevor sie
überhaupt gefordert werden können. Und andererseits gibt es
Schulen, in denen vor allem gefordert werden kann und dann
auch noch zusätzlich gefördert werden muss. Dieses Wechselspiel hat Senator Böger auch herausgearbeitet. Wir müssen zur
Kenntnis nehmen, dass in Deutschland die Schulverdrossenheit
groß ist, auch prozentual groß, dass es sehr viele schulmüde
Schülerinnen und Schüler, sehr viele Problemschüler gibt, dass
ein ganz hoher Prozentsatz nicht das Niveau erreicht, um
erfolgreich eine Lehre absolvieren zu können. Das weiß der Personalchef von VW sehr gut.
Hier wurde gefragt, warum es keine breite, wahrnehmbare
Elternlobby gibt, die den Kultusministern bei diesen Forderungen den Rücken stärkt, noch intensiver, als ein gewählter Ver-
Was können wir tun? Das Thema, das Sie gestellt haben, diese
beiden Pole zueinander zu bringen, ist meiner Meinung nach
schulpolitisch, bildungspolitisch das zentrale Thema überhaupt.
115
Die Professionalität der Lehrerinnen und Lehrer wird natürlich
schnell brüchig, wenn wir die angesprochene Unterstützung
von außen nicht bekommen, durch Schulsozialarbeit usw. für
alle Schulformen, nicht nur für Brennpunktschulen. Dabei ist es
notwendig, das ist der eigentliche Paradigmenwechsel, vom
Entwicklungsstand des einzelnen Jugendlichen auszugehen und
von Fall zu Fall zu entscheiden, wie am besten gefordert und
gefördert werden kann. Das deutsche Schulsystem muss sich
flexibel auf unterschiedliche Begabungen einstellen. Ich muss,
denke ich, noch einmal darauf hinweisen, dass alle Kinder und
Jugendliche ein Recht haben, durch die Schule gefordert und
gefördert zu werden. Deshalb muss erstens nicht die Schule
die Staatskanzleien. Es ist ziemlich tragisch, dass der Stellenwert von Bildung, wie Herr Böger gesagt hat, nach wie vor viel
zu gering ist, nicht nur im Vergleich zu Finnland, sondern insgesamt, und daran hängt auch der Stellenwert der Profession
der Lehrerin oder des Lehrers. Man denkt, dass man sie als fünftes Rad am Wagen in den Universitäten abfertigen kann. Aber
das ist ein weites und anderes Thema.
Ich will noch zu zwei Punkten etwas sagen: Erstens zur Gefahr
der Nivellierung. Diese besteht, aber die pädagogische Meisterschaft von uns Lehrerinnen und Lehrern macht es durchaus
möglich, dass wir den Umgang mit der Heterogenität packen.
„Ich muss, denke ich, noch einmal darauf hinweisen, dass alle Kinder und Jugendliche ein
Recht haben, durch die Schule gefordert und gefördert zu werden. Deshalb muss erstens
nicht die Schule oder der Stoff, sondern das Individuum im Mittelpunkt des Lehr- und Lernansatzes in kognitiver, sozialer und emotionaler Hinsicht stehen. Und ein ganz zentraler
und besonders wichtiger, gravierender Punkt im deutschen Bildungssystem ist, dass wir
diesbezüglich eine andere Philosophie brauchen, die nicht das Sortieren und Selektieren,
sondern die Förderung aller Begabungen in heterogenen Schülergruppen im Blick hat.“
oder der Stoff, sondern das Individuum im Mittelpunkt des
Lehr- und Lernansatzes in kognitiver, sozialer und emotionaler
Hinsicht stehen. Und ein ganz zentraler und besonders wichtiger, gravierender Punkt im deutschen Bildungssystem ist, dass
wir diesbezüglich eine andere Philosophie brauchen, die nicht
das Sortieren und Selektieren, sondern die Förderung aller
Begabungen in heterogenen Schülergruppen im Blick hat. Das
ist natürlich eine große Herausforderung für uns Lehrerinnen
und Lehrer, für die Lehrerfortbildung, aber auch für die Lehrerausbildung an den Universitäten. Wir müssen, liebe Kolleginnen
und Kollegen, einfach immer wieder klar feststellen, dass die
Erfahrung des Scheiterns, ganz egal wo und auf welchem
Niveau, Leistungsdruck schafft, aber keine Leistungsmotivation. Deshalb hat es überhaupt keinen Sinn, drumherum zu
reden: Es geht um die Scharnierstelle in der Sekundarstufe I,
und wir müssen unseren Jugendlichen klar machen, dass jede
und jeder gebraucht wird und jede und jeder wichtig ist, und
dafür müssen wir alles tun, was eben überhaupt in unseren
Möglichkeiten liegt.
Ich will Herrn Steinert ausdrücklich Recht geben, dass das
Elterngespräch professionalisiert werden muss, das ist überhaupt keine Frage für uns. Wir wünschen uns das, und das ist
ja in Diskussionen hier auf der Messe mehrfach gesagt worden.
Aber ich will auch einmal eine Lanze für die Kultusminister brechen. Sie sind ziemlich arm dran in den Kabinetten, das weiß
ich wohl, sie werden überall attackiert, haben einen ganz
hohen Etat. Doch eigentlich bestimmen in Deutschland inzwischen die Finanzminister, wenn man es noch schärfer ausdrückt
116
Da setze ich als Geheimnis immer auf eine dosierte Überforderung, niemals auf Nivellierung. Jedes Kind, jeder Jugendliche
muss ein klein wenig überfordert werden, aber das muss meisterhaft geschehen, damit es nicht zu weit von den gegebenen
Möglichkeiten entfernt liegt oder auch, das wäre noch schlimmer, drunter liegt. Dass das natürlich auch ein Problem der Ausund Fortbildung ist, gestehe ich zu, und das gelingt in den
unterschiedlichen Schularten unterschiedlich gut. Meiner
Ansicht nach könnten beispielsweise alle Schularten von der
Grundschule eine Menge lernen. Die hat sich auf die neue Kindheit, auf die Kompliziertheit auch dieser neuen Kindheit schon
am besten eingestellt.
Was die individuellen Lehrpläne angeht, der zweite Punkt,
halte ich es auch für sehr, sehr kompliziert, das auf jedes Kind
herunterzudeklinieren und es sozusagen dort abzuholen, wo es
sich befindet. An vielen Schulen in Deutschland gelingt es
bereits, schulpädagogische Schwerpunkte neu zu setzen, zum
Beispiel in der Freiarbeit. Das bedeutet nicht, dass die Kinder
machen können, was sie wollen. Wenn es gelingt, dieses
arbeitspädagogische Prinzip umzusetzen, dann ist es möglich,
die Kinder und Jugendlichen viel besser einzubinden, ihnen
mehr zuzutrauen in Richtung Selbstverantwortung. Auch da bin
ich sehr optimistisch. Man muss es uns nur zutrauen und uns
machen lassen. Also nicht permanent verantwortlich machen,
sondern verantwortlich sein lassen und Vertrauen in unsere
pädagogische Arbeit haben. Das ist uns, mit Verlaub, sogar noch
wichtiger als ein ordentliches Gehalt.
Böger/Düsel/Steinert/Eckinger: Fordern undBlindtext
Fördern
Bei diesem Punkt muss man noch einmal betonen, dass es auf
den Anfang ankommt, obwohl wir uns in dieser Diskussion jetzt
vor allem um die Sekundarstufe I kümmern. Keine Bildungskarriere entsteht in der Sekundarstufe I oder II, sondern sie
beginnt im Kindergarten, in der Familie und selbstverständlich
ganz besonders in der Grundschule. Da bin ich natürlich von
Berufs wegen sowieso Optimist und denke, dass wir den
Umgang mit Heterogenität und damit einhergehend natürlich
die Differenzierung auf die jeweils individuellen Bedürfnisse
schaffen können.
117
Schule ist heute weit mehr als eine Bildungseinrichtung. Sie übernimmt immer mehr sozialpädagogische und erzieherische Aufgaben – zwangsläufig. Denn immer mehr Kinder kommen aus belasteten
Familienverhältnissen. Viele Lehrer fühlen sich in der Rolle der unfreiwilligen Sozialpädagogen überfordert – umgekehrt sehen Eltern in Lehrern oft nur Feinde statt Partner. Mit dem bundesweiten Trend
zur Einführung von Ganztagsschulen bekommt das Spannungsverhältnis zwischen Schule und Elternhaus zusätzliche Brisanz. „ELTERNHAUS VERSAGT – SCHULE REPARIERT?“ unter diesem Titel berichteten von ihren Erfahrungen EVA SCHMOLL, Schulleiterin der Nikolaus-August-Otto-Oberschule in Berlin,
Professor Dr. Dr. WERNER SACHER, Universität Erlangen, Autor der deutschlandweit ersten repräsentativen Studie zur Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus, ULRICH THÖNE, Vorsitzender der
Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, sowie HANS-JÜRGEN VOGEL, Vorsitzender des Landeselternrats Niedersachsen.
Moderation: Ulrike Heckmann, Redakteurin
Eva Schmoll
Eva Schmoll, Lehrerin mit Zusatzausbildungen in Familientherapie, Mediation und Elterntraining.
Seit 15 Jahren Mitglied im Schulleitungsteam der Nikolaus-August-Otto-Oberschule in Berlin, als
Koordinatorin verantwortlich für den pädagogischen Bereich, außerdem mitverantwortlich für die
Außenvertretung der Schule.
Werner Sacher
Werner Sacher, Professor Dr. phil., geb. 1943. Lehramtsstudium. Mehrjährige Tätigkeit als Hauptschullehrer.
Zweitstudium und Promotion an der Universität Würzburg 1974. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Staatsinstitut für Schulpädagogik in München 1977-80. Habilitation an der Universität Bamberg 1986. 1991-96
Professor an der Universität Augsburg; seit 1996 Inhaber des Lehrstuhls für Schulpädagogik an der Universität Erlangen-Nürnberg.
STATEMENT
Eva Schmoll
Wir standen vor ca. fünf Jahren vor der Frage, wie wir weiter
arbeiten wollen mit den Schülern unserer Schule. Vor ca. 15 Jahren hatten wir unseren Unterrichtsalltag verändert in der
Erwartung, dass die Schüler dann mit Freude lernen und ihr Verhalten entsprechend verändern würden. Das war nicht der Fall,
sondern wir waren immer wieder mit aus unserer Sicht sehr
auffälligem Verhalten der Schüler konfrontiert. In den Gesprächen mit den Eltern fragten diese uns: „Wem soll ich glauben,
118
Ihnen oder meinem Kind? Zu Hause ist das Kind ganz anders.“
Wir haben dann den ganzen Sachverstand der Region
zusammengerufen und uns beraten lassen, was wir als Schule
tun können, um wirklich in Kommunikation mit den Eltern zu
treten, denn ganz offensichtlich ist ein Problem von Schule,
dass sie sehr schnell, sehr früh Schuldfragen klärt und nicht das
Gespräch sucht.
Wir sind eine Schule in Steglitz-Lichterfelde für benachteiligte
Jugendliche ab der 7. Klasse. Diese nehmen wir bewusst bei uns
auf und sind froh, diese Kinder bei uns zu haben, weil sie unseren Schulalltag sehr bunt und sehr lebendig machen. Diese Kin-
Schmoll/Sacher/Thöne/Vogel: Elternhaus
Blindtext
versagt
Ulrich Thöne
Ulrich Thöne, geb. 1951. Nach Banklehre Studium der Wirtschafts- und Sozialwissenschaft sowie Pädagogik
in Münster. Nach Referendariat als freier Referent beim Gesamtdeutschen Institut ab 1986 Berufsschullehrer
am Oberstufenzentrum Gesundheit in Berlin-Wedding. Engagement als Personalrat. 1995 stellvertretender
Vorsitzender des Personalrats Berufsbildende Schulen Berlin. Seit 1971 HBV-Mitglied. Seit 1982 Mitglied
der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Dort seit Mitte der 1990er-Jahre im Hauptvorstand.
Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Bildungsfinanzierung. 1999-2005 Vorsitzender der GEW Berlin, seit 2005
Vorsitzender der GEW.
Hans-Jürgen Vogel
Hans-Jürgen Vogel, geb. 1953. 1972-79 Studium der Chemie, Abschluss Diplom. 1979-87 Wissenschaftlicher
Mitarbeiter an der TU Braunschweig, Institut für Organische Chemie. Seit 1992 schulische Elternmitarbeit,
ab 1996 Mitglied im Stadtelternrat Braunschweig. 2000-04 dessen Vorsitzender. Ab 2000 Mitglied im
Landeselternrat; seit 2003 dessen Vorsitzender.
der haben sehr häufig Verhaltensauffälligkeiten in unterschiedlichsten Bereichen, und das ist eben auch ein sehr großer
Schwerpunkt unserer Arbeit. Die Jugendlichen haben ein sehr
geringes Selbstbewusstsein. Und dort setzen wir an. Wir beginnen an unserer Schule mit Ich-Stärkung und nicht mit Unterricht. Im sozialpädagogischen Bereich waren wir zwar ganz fit,
aber die Zusammenarbeit mit dem Elternhaus hat eben nicht
geklappt. Das Ergebnis unseres Schulzirkels war, dass alle sagten, die Eltern müssten eigentlich ein Elterntraining machen.
Doch uns war klar, dass es keinen Erfolg haben würde, so etwas
an die Eltern heranzutragen.
Unser Problem war, dass wir das Gespräch erst gesucht haben,
wenn ein Problem aufgetaucht ist, und nicht vorher. Das habe
ich von Eltern gelernt, wie ich ganz vieles in den Seminaren von
Eltern lerne über die Fehler, die Schule macht. Das finde ich
hoch spannend und interessant. Wenn man offen genug ist,
dann kann man wirklich eine Menge in der Schule verändern.
Diese Einstellung ist aber auch nötig, damit die Eltern zum
Gespräch bereit sind und dazu, solche Erziehungsseminare zu
besuchen. Wir haben vor drei Jahren zum ersten Mal gesagt, dass
jeder, der sein Kind an unserer Schule anmelden will, vorher ein
solches Seminar besuchen muss. Wir haben damit gerechnet,
dass die Eltern auf dem Absatz kehrtmachen. Das konnten wir
119
uns leisten, weil wir doppelt so viele Anmeldungen für unsere
Schule haben, wie wir Schülerinnen und Schüler aufnehmen
können. Tatsächlich haben aber lediglich zwei Eltern gesagt, das
hätten sie nicht nötig. Alle anderen waren dazu bereit, als wir
gesagt haben, die Pubertät stehe an, wir müssten über Erziehung sprechen und prüfen, ob unsere Wertvorstellungen mit den
elterlichen Wertvorstellungen übereinstimmen. Ob wir die richtige Schule für das Kind seien. Dann haben wir mit den Trainings
begonnen, und die Eltern haben das sehr bereitwillig angenommen, waren begeistert. Inzwischen sind die Eltern eigentlich
diejenigen, die den anderen Eltern die Angst vor dem Elterntraining nehmen und deutlich machen, dass das ein ganz wichtiger Schritt ist. Und er ist auch sehr wichtig zur Veränderung
und Erweiterung unserer eigenen Erziehungskompetenz.
Unser Modell nennt sich STEP, es kommt aus dem Amerikanischen, und wir machen das nicht nur an unserer Schule, sondern man kann das lernen. Ich selbst habe es in Düsseldorf vor
bisschen auf unseren Elternabenden, das erhöht die Gesprächsmöglichkeiten für Eltern. Sie können sich zunächst untereinander einen Standpunkt bilden und reden dann uns Lehrern
gegenüber.
Doch auch die Bereitschaft, sich in der Schule einzusetzen, hat
sich verändert. Unsere Eltern wissen, dass wir keine Schuldfragen mehr klären, weil wir wissen, dass die Eltern unabhängig
vom Erfolg der Erziehungsbemühungen das Beste für ihre Kinder versuchen. Es geht jetzt wirklich nur noch darum, wie wir
das Beste für das einzelne Kind erreichen. Unsere Kinder stehen
teilweise beim Lernstand der 2. Klasse Grundschule und zum
andern Teil beim Lernstand von Realschülern in Klasse 7, wenn
sie zu uns kommen. Vorgestern hatten wir einen Elternabend
zum Thema Zensierung. Wir geben eine verbale Beurteilung ab
und ergänzen diese durch Ziffernzeugnisse. Die Eltern haben
gesagt, sie möchten für sich die Ziffernzeugnisse zwar haben,
aber die Kinder sollten diese nicht sehen, weil das für die Schü-
„Auch an meiner Schule erlebe ich es bei Klassenkonferenzen oder in Elternberatungen, dass
man wirklich mit einem Satz den Gesprächsfaden durchschneiden kann. Zum Beispiel dieser
Satz: ‚Ich will Ihnen ja gar keinen Vorwurf machen!‘ Ende des Gesprächs. Wir haben keine
Ausbildung, Gespräche zu führen, und sind noch nicht sensibel genug, mitzubekommen, mit
welchen Ängsten gegenüber Schule Eltern zu uns kommen. Sie haben fast die Erwartungshaltung an uns, eins auf den Deckel zu bekommen, und wir erfüllen das auch noch.“
drei Jahren kennen gelernt und schule inzwischen auch andere.
Man kann es sich bei uns anschauen, und es gibt im Internet
Informationen darüber. Die Ausbildung dauert zwei Wochen
und ist relativ teuer. Insofern machen es nicht viele Lehrer. Wir
wussten damals auch nicht, ob es hilft. Trotzdem habe ich mich
dazu entschlossen, und jetzt kann ich sagen, STEP ist ein ganz
wichtiger Baustein an unserer Schule geworden. Wir beginnen
in der kommenden Woche, 15 Berliner Schulen auszubilden im
Rahmen des LISUM, das ist die Lehrer-Bildungsanstalt in Berlin.
Die Kollegen werden dazu ausgebildet, Elternkurse an den Schulen durchführen, an denen sie tätig sind. Das Interesse dabei
ist, eine präventive Elternarbeit auf eine breitere Basis zu stellen, d. h. die Zusammenarbeit mit den Eltern nicht erst dann zu
suchen, wenn es ein Problem gibt, sondern im Vorfeld, wenn
noch nichts passiert ist, und nachzufragen, ob die Vorstellungen von Schule und Elternhaus ähnlich sind, sich im positiven
Sinne ergänzen.
Bei der Zusammenarbeit mit den Eltern konnten wir feststellen, dass es zu einem „Quantensprung“ gekommen ist. Bei mir
war der Elternabend eigentlich immer gut besucht, aber die
Lebendigkeit fehlte, d. h. einer sprach, und alle hörten zu, es
war sehr langweilig. Vor unserer Podiumsrunde hat Herr Klippert hier seinen Vortrag gehalten. Also, wir „klippern“ auch ein
120
lerinnen und Schüler entmutigend wäre zu sehen, dass sie vom
Lernstand her noch nicht so weit sind, wie sie gemäß 8. Klasse
Hauptschule sein sollten. Vor Jahren wäre es unmöglich gewesen, dass Hauptschuleltern einen solchen Entschluss fassen. Da
spürt man einfach die Bereitschaft, auf die Bedürfnisse des Kindes zu schauen. Diese wächst durch unsere Seminare. Alle Kinder sind unterschiedlich, und das muss der Ansatz sein, für
jedes einzelne Kind den richtigen Weg zu finden.
Die Eltern sind verpflichtet, an diesen Kursen teilzunehmen,
müssen aber auch etwas dafür zahlen. Auf dem freien Markt
kostet so ein STEP-Kurs 190 Euro. Wir nehmen für zehn Mal
zweieinhalb Stunden plus Nachschulungen 35 Euro pro Kind.
Dieses Geld wird an den Förderverein unserer Schule bezahlt
und dann auch wieder für die Kinder verwendet.
Wir haben in Berlin gerade ein neues Schulgesetz bekommen.
Ich persönlich empfinde das als eine Herausforderung und sehe
viele positive Ansätze, Schule mitzugestalten. Ich weiß aber
auch, dass viele Lehrer es als eine Zumutung empfinden, weil
wir im Grunde genommen gar nicht vorbereitet sind auf das,
was darin steht. Wenn man den Spagat zwischen dem Lernstand 2. Klasse Grundschule und Realschule 7. Klasse leisten soll
bei einer Frequenz von 25 bis 30 Schülern, dann muss ich wis-
Schmoll/Sacher/Thöne/Vogel: Elternhaus versagt
sen, wie man das macht, und es braucht eine Ausbildung, ein
Briefing, was auch immer. Da wir das nicht haben, fühlen sich
viele Kollegen schnell überfordert, und das kann ich sehr gut
nachvollziehen. Wir an unserer Schule haben schon lange die
Möglichkeit gehabt, uns das im Do-it-yourself-Verfahren beizubringen. Insofern wissen wir mittlerweile, dass es durchaus
funktioniert, wenn man es denn beherrscht. Doch es ist seitens
des Schulsenats bezogen auf das Schulgesetz zu wenig getan
worden, um die Schulen so vorzubereiten, dass es vernünftig
läuft. Darüber hinaus sollen alle Schulprogramme schreiben,
ohne zu wissen, wie das geht. Auch hier ist zu wenig Beratung
vorab gelaufen, damit Schulen sich sicher fühlen können, um
Programme zu entwickeln, die speziell auf ihre Schülerschaft,
ihre Elternschaft, das Kollegium und die Schulumgebung zugeschnitten sind.
Natürlich gibt es bei uns auch Beschwerden von Elternseite.
Diese nehmen wir ernst, und wir bedanken uns für die Rückmeldung. Wir setzen uns gemeinsam an den Tisch und gehen
den Anwürfen nach, die da jeweils im Raume stehen. Ich sehe
keinen anderen Weg als die Bereitschaft, vorzuleben, Feedback
entgegenzunehmen, wegzugehen von dieser Kritik und Schuldzuweisung. Wenn wir also eine Rückmeldung von Eltern bekommen zu etwas, das wir verbessern können, und es hat Hand und
Fuß, dann finde ich das wunderbar. Ich bin doch nicht optimal
in allen Bereichen, und ich kann nur sagen, ich habe durch die
Seminare auch erfahren, mit welchen Päckchen Eltern zum Teil
in die Schule kommen. Die Eltern haben unter Umständen
selbst Eltern gehabt, die sehr viel Druck ausgeübt haben. Sie
waren vielleicht nicht so effektiv oder so gut im Lernen und
haben im Grunde genommen ganz schlechte Lernerfahrungen
mit Schule in der eigenen Kindheit gehabt. Dann begegnen sie
Schule als Eltern zunächst vielleicht ganz offen. Das eine Kind
läuft gut durch, und das andere Kind macht Probleme. Und
prompt sind Ihre eigenen Erfahrungen wieder präsent.
Über solche Dinge machen sich Lehrer noch viel zu wenig
Gedanken. Wir machen uns normalerweise keine Gedanken darüber, wie wir mit unserer Ansprache an Eltern nach außen wirken. Ich glaube, da könnten wir eine Menge lernen, wenn wir
unser Augenmerk ein wenig darauf legen würden. Auch an meiner Schule erlebe ich es bei Klassenkonferenzen oder in Elternberatungen, dass man wirklich mit einem Satz den Gesprächsfaden durchschneiden kann. Zum Beispiel dieser Satz: „Ich will
Ihnen ja gar keinen Vorwurf machen!“ Ende des Gesprächs. Wir
haben keine Ausbildung, Gespräche zu führen, und sind noch
nicht sensibel genug, mitzubekommen, mit welchen Ängsten –
gar nicht Vorbehalten – gegenüber Schule Eltern zu uns kommen. Sie haben fast die Erwartungshaltung an uns, eins auf den
Deckel zu bekommen, und wir erfüllen das auch noch. Wir können sehr, sehr viel lernen.
Was für mich auch interessant war, ist, dass, indem wir in den
Seminaren die Methoden einsetzen, die wir im Unterricht einsetzen, Schule für die Eltern plötzlich transparent wird. Schule
heute ist ja nicht mehr zu vergleichen mit der Schule von frü-
her. Die neuen Methoden, die wir im Unterricht anwenden,
oder auch die Konsequenz, die wir an unserer Schule beispielsweise pflegen, machen Eltern Angst. Sie denken, wir wollten ihr
Kind striezen. Durch die Seminare erfahren sie, warum wir das
so machen, und plötzlich haben wir einen Konsens in der Frage
der Konsequenz, wo wir vorher einen Widerstand seitens der
Eltern hatten und nicht weitergekommen sind.
Wir müssen wegkommen von dem Versuch, Recht zu haben und
zu behalten, und hinkommen zum Zuhören, zum Verstehen.
Den Perspektivwechsel sollten wir nutzen, um die andere Seite
kennen zu lernen und uns hineinzuversetzen. Das Tolle an unseren Seminaren ist, dass die Eltern auch plötzlich einen Perspektivwechsel vornehmen können. Am Ende des Seminars haben
sie im Grunde genommen mehr Fähigkeiten zur Gesprächsführung entwickelt, als unsere Kollegen bisher besitzen, denn die
haben die Seminare noch nicht besucht.
Was wir als Schule beklagen, ist zum Beispiel, dass die Universität sich für uns gar nicht interessiert, gar nicht an uns rantritt und wir auch keine Möglichkeit haben, uns in Kommunikation mit den Fachleuten weiterzubilden. Wir haben durchaus
Universitäten angeschrieben, doch wir bekommen zum Beispiel
auch wenig Referendare, weil wir so anders arbeiten. Offenbar
hat man schon ein bisschen Angst vor dem, was wir bei uns
praktizieren. Ich persönlich würde schon sagen, dass wir an der
Basis die Fachleute sind. Wir erleben es in Berlin immer wieder,
dass die so genannten Fachleute Entscheidungen treffen, worüber wir an der Basis nur den Kopf schütteln können und
eigentlich sehen, dass das Ding an die Wand gefahren wird,
wenn das so läuft. Zum Glück haben wir gute Beziehungen, um
hie und da noch ein bisschen am Rädchen zu drehen, aber ich
denke, es geht überhaupt nur in Kooperation.
STATEMENT
Werner Sacher
Erziehungskooperation zwischen Schule und Eltern im
Spiegel der bayerischen Repräsentativuntersuchung vom
Sommer 2004
Zwei Antithesen
Aufgrund der Forschungslage lassen sich zwei gut belegbare
Antithesen zum Thema des Podiums formulieren:
Erste Antithese: Die Klagen über einen „Erziehungsnotstand“ in den
Familien sind nicht neu und keineswegs generell gerechtfertigt.
Über unzulängliche Erziehungsleistungen der Eltern wird schon
seit dem Altertum geklagt. Soweit belastbare neuere Forschungsergebnisse vorliegen, beweisen sie keineswegs dramatische Erziehungsdefizite der Eltern und der Familien in unserer
gegenwärtigen Gesellschaft. Allerdings hat die Sensibilisierung
121
der Öffentlichkeit gegenüber solchen Problemen zugenommen,
und krasse Einzelfälle werden in der modernen Mediengesellschaft viel allgemeiner bekannt und aufgrund einer oftmals einseitigen Berichterstattung in ihrer Repräsentativität oft überschätzt. Zudem haben es die Familien heute in vielfacher Hinsicht schwer, ihrem Erziehungsauftrag gerecht zu werden: Labile Partnerschaften, Berufstätigkeit beider Eltern, ökonomische
Verunsicherung durch drohenden Verlust des Arbeitsplatzes,
sozialer Abstieg durch Arbeitslosigkeit, mächtige und vielfältige
Miterzieher wie die Einflüsse der Konsumgesellschaft, der
modernen Massenmedien und einer Vielfalt von Freizeitangeboten, die verbreitete Überbewertung des Materiellen, einander widersprechende Normen in der nicht nur wertepluralistischen, sondern teilweise schon werterelativistischen Gesellschaft und daraus resultierende widersprüchliche Erwartungen
an die Erziehung der Eltern sind echte Herausforderungen für
die Familienerziehung. Angesichts dieser Bedingungen kann
man mit der Expertise von G. Cyprian und G. Franger („Familie
und Erziehung in Deutschland. Kritische Bestandsaufnahme der
sozialwissenschaftlichen Forschung“, Stuttgart 2001, S. 223)
konstatieren, dass Eltern nach den Ergebnissen der vorliegenden empirischen Untersuchungen ihre Erziehungsaufgabe im
Allgemeinen gar nicht so schlecht erfüllen.
Zweite Antithese: Schule hatte schon immer einen Reparaturauftrag.
Sie wurde eigens zu diesem Zweck erfunden.
Schule entstand historisch in Hochkulturen immer dann, wenn
der freie Erfahrungserwerb der jungen Generation durch Mitaufwachsen in Familie und Sippe nicht mehr ausreichte, um die
Reproduktion und Weiterentwicklung einer Gesellschaft zu
sichern. Massenhaft verbreitete sich Schule schließlich (und
wurde zur Pflichtschule) im Zusammenhang mit der Entstehung moderner Nationalstaaten, weil die Familienerziehung
das Nationalbewusstsein offensichtlich nicht im erforderlichen
Maße hervorbringen und sichern konnte. Das gilt unvermindert
für die Produktion demokratischer Grundüberzeugungen in den
modernen Staaten.
Um einen geordneten und effektiven Lernbetrieb zu gewährleisten, muss Schule hauptsächlich in bestimmten Sektoren des
erzieherischen Gesamtfeldes tätig werden: Sie muss überwiegend Pflicht- und Akzeptanzwerte aufbauen und sekundäre
Tugenden wie Gewissenhaftigkeit, Pünktlichkeit, Bereitschaft
zur Ein- und Unterordnung usw. vermitteln. Während diese in
früheren Zeiten für die Erziehung insgesamt maßgebend
waren, haben sie in unserer gegenwärtigen Gesellschaft und
demzufolge auch in den Familien gegenüber anderen Werten
wie Unabhängigkeit, Gleichbehandlung und Selbstverwirklichung sehr an Bedeutung verloren. Die Schule erzeugt deshalb –
noch einmal verschärft durch die Lage auf dem Arbeitsmarkt –
oftmals massiven Leistungsdruck und in dessen Konsequenz
enttäuschte Karrierehoffnungen, die wiederum stark in den
Familienalltag hineinwirken und diesen vielfach belasten.
122
Drei Befunde der bayerischen Elternarbeitsforschung
Im Sommer 2004 wurde im Auftrag der Stiftung Bildungspakt
Bayern an 574 bayerischen Grund-, Haupt- und Realschulen
sowie Gymnasien die Elternarbeit untersucht. Es wurden
jeweils Eltern, Lehrkräfte, Elternbeiräte und Schulleiter
befragt. Die Ergebnisse sind in zwei Berichten und in einer
zusammenfassenden Darstellung veröffentlicht (W. Sacher:
„Elternarbeit in den bayerischen Schulen. Repräsentativ-Befragung zur Elternarbeit im Sommer 2004“, Nürnberg 2004; ders.,
„Erfolgreiche und misslingende Elternarbeit. Ursachen und
Handlungsmöglichkeiten. Erarbeitet auf der Grundlage der
Repräsentativbefragung an bayerischen Schulen im Sommer
2004“, Nürnberg 2005; ders., „Elternarbeit. Forschungsergebnisse und Empfehlungen. Zusammenfassung der RepräsentativUntersuchung an den allgemein bildenden Schulen Bayerns im
Sommer 2004“, Nürnberg 2005). Bezogen auf das Thema des
Podiums sind insbesondere drei Befunde relevant:
Befund 1: Die meisten Eltern wünschen keine unmittelbare Einmischung der Schule in die Erziehung.
Die Feststellung „Erziehung ist Sache der Eltern“ beurteilte die
Mehrheit der Eltern ablehnend, während die Lehrkräfte ihr
größtenteils zustimmten:
44,0%
42,9%
39,1%
25,4%
44
22,6%
16,1%
8,0%
22,6
1,9%
stimme voll zu
stimme zu
Eltern
N=1300
lehne ab
Lehrlehne voll ab
kräfte
N=450
In 57,4 Prozent aller Fälle treffen erziehungsbereite Lehrkräfte
auf nicht kooperative Eltern. Konflikte und Enttäuschungen
sind damit vorprogrammiert. Dabei unterscheiden sich verschiedene Elterngruppen in ihrer ablehnenden Haltung gegenüber einer unmittelbaren Erziehungsbeteiligung der Schule nicht
Schmoll/Sacher/Thöne/Vogel: Elternhaus versagt
signifikant: Eine mehrheitliche Ablehnung findet sich gleichermaßen bei Eltern aller Bildungsniveaus, bei Eltern mit und ohne
Migrationshintergrund, in allen Schularten und ungeachtet des
Alters der Kinder. Hingegen gibt es signifikante Unterschiede
auf der Seite der Lehrkräfte: Die Bereitschaft, sich in die Erziehung der Eltern einzumischen, ist geringer bei Teilzeitlehrkräften, bei Lehrkräften, die in sehr vielen Klassen unterrichten
(Fachlehrerprinzip!), und bei Lehrkräften älterer Schüler, und
sie ist am größten in der Grundschule, geringer in der Hauptschule und am geringsten in der Realschule und im Gymnasium.
Erzieherische Themen bei Einzelkontakten (N = 700)
nie
manchmal
oft
Gewaltprobleme
Drogenprobleme
Umwelterziehung
Medienerziehung
Befund 2: Dem Interesse der Lehrkräfte an der elterlichen Erziehung
korrespondieren nur z. T. ausdrückliche Interessebekundungen.
Verkehrserziehung
Gesundheitserziehung
Der Feststellung „Die Lehrkräfte interessieren sich für die elterliche Erziehung“ stimmten zwar die allermeisten Lehrkräfte,
jedoch nur eine schwache Mehrheit der Eltern zu:
Sexualerziehung
tatsächliche
gewünschte Häufigkeit
Erzieherische Themen bei Veranstaltungen (N = 600)
60,3%
29,9%
10,1%
nie
29,7%
manchmal
oft
Gewaltprobleme
31,3%
stimme
voll zu
Drogenprobleme
stimme zu
Umwelterziehung
28,9%
8,4%
Gesundheitserziehung
Verkehrserziehung
lehne ab
Medienerziehung
1,4%
lehne
voll ab
Lehrkräfte
N=450
Eltern
N=1300
Sexualerziehung
tatsächliche
Offenbar ist das Interesse der Lehrkräfte an der Erziehung der
Eltern nur ein grundsätzliches, dem aber kaum Handlungen und
Konsequenzen folgen, von denen die Eltern berichten könnten.
Letztlich handelt es sich wohl um nicht viel mehr als um einen
guten Vorsatz der Lehrkräfte, der nur selten in die Tat umgesetzt wird, vielleicht – wie der dritte Befund zeigt –, infolge
von Berührungsängsten, die auch auf Lehrerseite bestehen:
Befund 3: Auch wenn die meisten Eltern keine unmittelbare Einmischung in ihre Erziehung möchten, so wollen sie doch Erziehungsberatung durch die Schule.
Eltern wünschen sich, dass sowohl in Einzelgesprächen als auch
bei schulischen Veranstaltungen weitaus häufiger erzieherische
Themen angesprochen werden, als es derzeit tatsächlich
geschieht:
gewünschte Häufigkeit
Die Schule bietet den Eltern von allen Erziehungsthemen zu
wenig! Es wird viel zu ausschließlich über Schulleistungen,
Hausaufgaben, Disziplin usw. gesprochen und referiert. Dass
Eltern von den Lehrkräften als den pädagogischen Professionals
auch Erziehungsberatung erwarten, wird entweder weit
gehend ignoriert oder schlicht übersehen. Die von den Eltern
berichteten Diskrepanzen sind in allen Schularten ausnahmslos
signifikant. Die Ursachen für dieses Defizit schulischer Erziehungsberatung dürften nicht zuletzt darin liegen, dass Lehrkräfte bestenfalls für Fragen der schulischen Erziehung ausgebildet, aber nicht auf die vielfältigen Probleme vorbereitet werden, mit welchen heute die Erziehung in den Familien konfrontiert ist, sodass Lehrkräfte der von den Eltern angetragenen
Beratungsfunktion ohne Zusatzausbildung auch kaum wirklich
gewachsen sind, und dies wiederum mag dazu führen, dass sie
solche Themen meiden.
123
Die Behauptung, das Elternhaus versage und schiebe der Schule Reparaturaufgaben zu, muss also differenziert beurteilt werden:
Elternhäuser versagen nicht generell. Sie leisten größtenteils durchaus respektable Erziehungsarbeit. Auffällige Defizite fallen historisch nicht aus dem Rahmen. Sicherlich aber
haben Eltern es unter den gegenwärtigen Bedingungen
schwerer, den Erwartungen an ihre Erziehung gerecht zu
werden. Dazu trägt auch die Schule mit ihren verschärften
Leistungsansprüchen bei.
Die Mehrheit der Eltern will überhaupt keine unmittelbare
Einmischung der Schule und der Lehrkräfte in die Erziehung, sehr wohl aber Erziehungsberatung vonseiten der
Schule bei vielfältigen Problemen der Erziehung. Die allermeisten Lehrkräfte erkennen im Prinzip durchaus die Notwendigkeit, sich auch der Erziehung ihrer Schüler anzunehmen, lassen dieser Einsicht aber wenig konkrete Handlungen folgen und kommen vor allem den Beratungserwartungen der Eltern nur sehr unzureichend nach.
Ganz offensichtlich sind Eltern und Lehrkräfte viel zu wenig
über die entsprechenden Einstellungen und Erwartungen
der jeweils anderen Seite informiert, und sie sind weit entfernt von einer wirklichen Erziehungskooperation. So war es
denn auch einer der auffälligsten Befunde der bayerischen
Elternarbeitsuntersuchung, dass Eltern und Lehrkräfte, aber
auch Elternvertretungen und Schulleitungen geradezu in
Sonderwelten existieren und wechselseitig von ihren Erfahrungen und Erwartungen herzlich wenig wissen. Informationsaustausch und Verständigung sind dringend geboten,
wobei übrigens endlich auch einmal die Schüler auf breiter
Front einbezogen werden sollten!
STATEMENT
Ulrich Thöne
Die von Herrn Sacher vorgestellte Studie selbst muss ja jetzt
erst einmal öffentlich wahrgenommen werden. Neu ist das
Ganze ja nicht. Es gibt schon vom IFS in Dortmund eine Unter-
Vorurteile noch einmal deutlich hervorgehoben. Sie sehen also,
dass der hier in Rede stehende Tatbestand bekannt ist. Die
Frage ist, wie man damit umgeht. Ich denke, wir hier auf dem
Podium sind alle der Meinung, dass wir das Beste für die Kinder
erreichen wollen. Das aber ist in erster Linie eine ganz praktische Frage. Was ist an jeder einzelnen Schule ganz konkret zu
tun? Und da tue ich mich schwer, nicht nur weil die Kollegin
Schmoll neben mir sitzt, Verallgemeinertes über jedes Kollegium, jede Kollegin oder jeden Kollegen oder jeden Elternteil zu
sagen und sie alle in einen Topf zu schmeißen.
Ich könnte jetzt Vorschläge machen, wie man sich dem Problem
stellen kann. Doch das ist eine Frage der praktischen Arbeit vor
Ort, die man Stück für Stück und auch Schule für Schule wird
diskutieren müssen.
Eines ist ganz klar, es gibt eine gemeinsame Verantwortung von
Schule und Elternhaus in Bezug auf die Entwicklung und Erziehung der Kinder und Jugendlichen. Dort wird man ansetzen
müssen, damit Kommunikation und gegenseitiges Vertrauen
aufgebaut werden können, und zwar nicht erst dann, wenn das
Kind in den Brunnen gefallen ist, sondern, wie eben gerade
richtig ausgeführt worden ist, schon vorher. Und dies erst recht
dort, wo im Rahmen der Ausbildung und auch der bisherigen
Verhältnisse dieser Kontakt zwischen Schule und Elternhaus
noch sehr formal ist. Meiner Ansicht nach wird das für viele
Lehrerinnen und Lehrer ein Schritt nach vorne sein, weil – und
da würde ich Herrn Sacher widersprechen wollen – die Wahrnehmung der Konflikte heute gravierender ist. Es mag sein,
dass sich Erziehungskonflikte objektiv nicht deutlicher auf
irgendeiner Skala auswirken, aber die Wahrnehmung ist gravierender, weil immer mehr Elternhäuser in prekäre gesellschaftliche Situationen kommen und weil sich das Eltern-Kind-Verhältnis in der Gesellschaft verändert hat. Zu anderen gesellschaftlichen Zeiten mit anderen gesellschaftlichen Vorbildern war es
noch ganz klar, dass, wenn Eltern eine Anordnung gaben, das
Kind nur zu folgen hatte. Das war eine gesellschaftliche Übereinkunft, die Gott sei Dank heute überwunden ist. Ich möchte
diese Zeiten nicht wieder haben. Aber wir haben heute eine
Situation des Aushandelns, der Absprachen, des gegenseitigen
Erklärens, und das schafft neue Probleme. Darauf ist die Gesell-
„Es mag sein, dass sich Erziehungskonflikte objektiv nicht deutlicher auf irgendeiner Skala
auswirken, aber die Wahrnehmung ist gravierender, weil immer mehr Elternhäuser in prekäre
gesellschaftliche Situationen kommen und weil sich das Eltern-Kind-Verhältnis in der Gesellschaft verändert hat.“
suchung aus dem Jahr 2004, in der die Frage, was Eltern von
den Lehrern und was Lehrer von den Eltern in Bezug auf die
Erziehung halten, untersucht wird. Dabei werden gegenseitige
124
schaft insgesamt nicht vorbereitet, daraus ergeben sich neue
Fragen, und das bringt viele Erziehungsprobleme stärker in den
Fokus, als es in der Vergangenheit der Fall war. Die erlebte,
Schmoll/Sacher/Thöne/Vogel: Elternhaus versagt
Philosophie, die wir in Deutschland als Zielsetzung haben, diese
Wertorientierung in der Schule,
als Erstes anpacken wollen. Eine
bestmögliche Entwicklung, ein
bestmögliches Fordern und Fördern eines jeden Kindes, das
muss der gemeinsame Ausgangspunkt sein und das erst öffnet
die Türen aus meiner Sicht.
Cartoon: Mester
Wir haben eine ganze Reihe Schulen, die auf diese Vision hinarbeiten. Das Problem ist nur, dass
das, was uns politisch im Augenblick geboten wird, alles andere
als visionsfördernd ist. Man wird
schnell auf den Teppich zurückgeholt, und aus der Situation heraus, aus der ich gerade komme,
mit Tarifauseinandersetzungen
und dergleichen mehr, kann ich
nur sagen, dass es im Kopf
schwer zu vereinbaren ist, einerseits nach Visionen zu gucken
und auf der anderen Seite im Alltag den Rückschritt zu erleben
wie jetzt gerade bei der Föderalismusreform. Was das für die
Bildung bedeutet, müsste man an einer anderen Stelle einmal
ein wenig auseinander nehmen. Es ist schon erheblich, und deswegen habe ich mich hierauf konzentriert. Ich denke, es ist
notwendig, diese Kommunikation im Kleinen wirklich anzugehen, statt spät oder zu spät darüber zu reden. Was wir jetzt
machen müssten, wäre erweiternd. Es muss klar sein, dass es
auch andere Möglichkeiten gibt und nicht nur einen Weg.
wahrgenommene Problematik rund um die Erziehung hat meines Erachtens schon zugenommen, und wenn Lehrerinnen und
Lehrer in die Lage versetzt werden, damit sinnvoller umzugehen, ist das auch für sie eine Erleichterung. Deswegen – und
das war mir zu Beginn meines Statements sehr wichtig zu
sagen – ist es eine praktische Frage. So wie die Kollegin Schmoll
das in Bezug auf ihre Schule dargestellt hat, als praktischen
Ansatz, vorher darüber zu reden, und nicht erst, wenn es zu
spät ist, ist das für alle Beteiligten eine Hilfe.
Inzwischen haben auf der Ebene der Bundesländer alle erkannt,
wie wichtig es ist, zu einem solchen Miteinander zwischen Lehrern und Eltern zu kommen. Auch jeder, der jetzt hier vorne
sitzt, würde dem zustimmen, gar keine Frage, aber das bricht
sich doch sofort, wenn man eine Etage tiefer steigt. Wir haben
einen deutlichen Interessenkonflikt zum Beispiel bei der Frage,
wie welches Kind denn gefördert wird, wenn nach der 4. respektive nach der 6. Klasse eine Entscheidung ansteht, in welche Schule das Kind gehen soll und wie es da weiter gefördert
wird. Wir können doch nicht darüber hinwegsehen, dass die
Lehrerinnen und Lehrer den institutionellen Auftrag haben,
Kinder gewissermaßen in verschiedene Schulzweige einzuteilen. Das wurde lange geübt und ist ein lang bestehender Auftrag gewesen, und darauf hat sich im Wesentlichen auch die
Kommunikation mit Eltern und Schülern bezogen. Die Entscheidung musste vermittelt werden, und dementsprechend
ging es auch weiter. Wer am Gymnasium nicht klarkam, bei dem
konnten die Lehrer auf die Eltern zugehen und denen sagen,
dass ihr Kind im Augenblick nicht das tat, was zum Erfolg nötig
war. Die Eltern bekamen den Rat, dafür zu sorgen, dass sich das
besserte, ansonsten war Feierabend. Ich würde diese ganze
STATEMENT
Hans-Jürgen Vogel
Wir vom Landeselternrat sind der Meinung, dass Eltern und
Schule, Eltern und Lehrkräfte zumindest für die Zeit, in der die
Schüler in die Schule gehen, einen gemeinsamen Bildungs- und
Erziehungsauftrag haben, den wir auch zusammen durchführen
sollten. Was wir allerdings bemerken, ist, dass an der Schule
kaum über Erziehung gesprochen wird. Die Ergebnisse von
Herrn Sacher stimmen in diesem Punkt genau mit unserem
Erfahrungsbild überein. Es wird über alles Mögliche gesprochen,
aber nicht über Erziehung. Wenn man ins Grundgesetz sieht,
Artikel 6 und 7, ist dort ein gemeinsamer Bildungsauftrag formuliert. Er ist vom Bundesverfassungsgericht später noch einmal bestätigt worden, wir müssen auch über Erziehung in diesem Sinne reden.
Vielleicht haben wir als Verband hierbei eine andere Meinung
als viele Eltern zu Hause. Das ist ein Problem von Verbänden.
125
Aber wir sehen wirklich einen sehr großen Kommunikationsbedarf angesichts der Probleme, die wir hier in Niedersachsen
oder auch in der Bundesrepublik in den Schulen haben. Ich
meine nicht nur Erziehungsprobleme, sondern all das, was
durch PISA aufgezeigt worden ist, oder die Dinge, die jetzt mit
eigenverantwortlicher Schule auf uns zukommen. Da ist es sinnvoll, wenn Eltern und Lehrer zusammenarbeiten, und bei dieser
Zusammenarbeit wird sich automatisch auch Erziehung als
Thema anbieten.
bin erst mit 30 Vater geworden, weil ich mir vorher auch nicht
so richtig zugetraut habe zu erziehen. Es gab zu der Zeit keine
Leitbilder, darunter leiden wir, glaube ich, insgesamt in unserer
Gesellschaft.
Foto: VdS Bildungsmedien
Es werden nur selten konkrete Wünsche von den Eltern an uns
herangetragen, und daher kann es meiner Meinung nach nur so
funktionieren, wie Frau Schmoll das für ihre Schule in Berlin
geschildert hat, dass nämlich die Schule den ersten Schritt
macht. Man sollte den Eltern aber
deswegen nicht Desinteresse
unterstellen. Ich wollte noch einmal auf das von Frau Schmoll
Gesagte zurückkommen. Ich habe
einen Artikel von Herrn Spiewak
gelesen, der für alle Eltern den
obligatorischen Besuch von
Elternseminaren fordert. Bei dieser Forderung habe ich überlegt,
was das soll, und bin gleich in
eine Abwehrhaltung gegangen.
Wenn ich jetzt Ihre Zielsetzung,
Frau Schmoll, gehört habe –
Abstimmung der Wertvorstellungen, keine Schuldzuweisung –,
halte ich dies für genau den richtigen Weg, den wir Eltern und
Lehrer miteinander gehen müssen, wie wir miteinander umgehen müssen. Denn wann kommen
Messeatmosphäre: Besucher in Bewegung, auf der Suche nach Informationen und Impulsen, und
Eltern denn eigentlich in die
konzentrierte Gespräche an den Ständen.
Schule? Sie kommen doch nicht
in die Schule, um dem Lehrer zu
sagen, dass er etwas toll gemacht
Die stärker gewordene Unsicherheit in unserer Gesellschaft – hat, sondern sie kommen in die Schule, um zu meckern. Dort
sei es aus einer eigenen materiell unsicheren Situation auf- bekommen sie ihrerseits von den Lehrkräften Schuldzuweisungrund der dramatischen Veränderungen am Arbeitsmarkt, sei es gen zu hören wie: „Du hast dein Kind schlecht erzogen, dein
„Wenn ich jetzt Ihre Zielsetzung, Frau Schmoll, gehört habe – Abstimmung der Wertvorstellung, keine Schuldzuweisung – halte ich dies für genau den richtigen Weg, den wir
Eltern und Lehrer miteinander gehen müssen, wie wir miteinander umgehen müssen.“
aufgrund der Umbrüche in unserer Bildungslandschaft – hat
dazu geführt, dass auch die Eltern unsicherer geworden sind.
Wie Herr Thöne schon sagte, hatten wir früher ganz klare Vorgaben von zu Hause. Wenn man das Verlangte nicht gemacht
hat, bekam man etwas hinter die Löffel. Das Ganze ist dann in
den 1970er-Jahren aufgebrochen worden, man schwankte zwischen autoritärer und antiautoritärer Erziehung. Niemand
wusste so genau, wie man es richtig machen sollte. Ich selbst
126
Kind bringt schlechte Leistungen“ usw. Das müssen wir überwinden, diese Gräben müssen wir zuschütten, hier müssen wir
Brücken bauen, müssen vorher anfangen, miteinander zu
reden, und ich glaube, Frau Schmoll befindet sich da auf einem
sehr guten Weg.
Wir werden versuchen, im Ministerium den Weg zu Elternseminaren zu initiieren. Denn wir haben hier ein staatliches Bil-
Schmoll/Sacher/Thöne/Vogel: Elternhaus versagt
dungssystem, alle unsere Kinder müssen auf staatliche Schulen
gehen, und deshalb kann sich die Schule nicht aus der Verantwortung verabschieden und das ablehnen. Wenn wir ein Monopolsystem haben, dann ist Betriebshaftung gegeben, auch für
die Kinder, die sich nicht benehmen können, die nicht gut erzogen sind. Schule muss lernen, damit umzugehen. Und sie muss
uns Eltern zurückmelden, welche Fehler wir machen. Wir wer-
den aber auch der Schule zurückmelden müssen, was dort an
Fehlern passiert, denn es kommt immer wieder vor, dass wir
Kinder zu Hause aufbauen müssen, weil einige Lehrkräfte im
Unterricht versagt haben, weil Kinder in der Schule gemobbt
und runtergemacht werden. Auch das passiert. Daher: Keine
Schuldzuweisung, sondern zusammen reden, miteinander
gehen, das bringt am meisten für alle.
127
„PISA, PISA, PISA – WELCHE KONSEQUENZEN FÜR SCHULE UND UNTERRICHT KANN MAN WIRKLICH
ZIEHEN?“ lautete die Frage, der sich der Erziehungswissenschaftler Professor Dr. em. ULRICH HERRMANN,
der Kultusminister des Landes Sachsen-Anhalt, Professor Dr. JAN-HENDRIK OLBERTZ, und ANDREAS
SCHLEICHER, internationaler Koordinator der PISA-Studie bei der OECD-Direktion, stellten. Seit PISA
wissen wir unbestritten mehr über die strukturellen Mängel und Qualitätsdefizite unseres Schulsystems. Die Ergebnisse der Vergleichsstudie waren Anlass für umfassende Reformen, die in die Wege
geleitet sind. Da PISA jedoch die pädagogische Perspektive explizit ausblendet, bleibt die Frage, was
aus den Ergebnissen wirklich für das System Schule – für Struktur, Unterricht und Methodik – gefolgert
werden kann.
Ulrich Herrmann
Ulrich Herrmann, Professor Dr. phil., geb. 1939. Studium der Germanistik, Geschichtswissenschaft, Pädagogik, Philosophie und Politikwissenschaft. 1968 Promotion. Danach Referent im Sekretariat der Studienstiftung des deutschen Volkes, Bad Godesberg, und Referent des Rektors der Universität Tübingen. 1975 Habilitation im Fach Erziehungswissenschaft in Tübingen, dort 1976 Professor für Allgemeine und Historische
Pädagogik. 1994-2004 Lehrstuhl für Pädagogik an der Universität Ulm. Honorarprofessor an der Universität
Potsdam.
Jan-Hendrik Olbertz
Jan-Hendrik Olbertz, Professor Dr., geb. 1954. 1974-78 Lehramtsstudium an den Universitäten Greifswald
und Halle, Fächer Deutsch und Musik. 1978-81 Forschungsstudium Erziehungswissenschaften in Halle. 1981
Promotion. 1989 Habilitation in Halle. 1990 Gastprofessur an der Universität Bielefeld. 1992 Professor für
Erziehungswissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. 1993-2002 Mitglied des Landesschulbeirats Sachsen-Anhalts. 1994-2002 im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft
(DGfE). 1995-97 Mitglied der Enquetekommission „Schule mit Zukunft“ des Landtags von Sachsen-Anhalt.
1996-2000 Gründungsdirektor des Instituts für Hochschulforschung (HoF) Wittenberg. 2000-02 Direktor der
Franckeschen Stiftungen zu Halle. Seit 2002 Kultusminister des Landes Sachsen-Anhalt.
Andreas Schleicher
Andreas Schleicher, Dr. sc. nat., geb. 1964. Studium der Physik (Universität Hamburg) und Mathematik (Deakin Universität, Australien; Abschluss MSc.). Seit 1997 betraut mit der Entwicklung und dem Management
des OECD-Bildungsindikatorenprogramms einschließlich der Zuständigkeit für die Studie „Bildung auf einen
Blick“. Entwicklung und Management des OECD-Programms zur Bewertung der internationalen Schülerleistungen (PISA). Abteilungsleiter „Indikatoren und Analysen“ der OECD-Direktion Bildung, Paris; internationaler Koordinator der PISA-Studie.
128
Herrmann/Olbertz/Schleicher: PISA, Blindtext
PISA, PISA
STATEMENT
Ulrich Herrmann
PISA hat nach meinem Eindruck, sieht man von der beabsichtigten Einführung von Leistungsstandards ab, in der Schulwirklichkeit nicht viel verändert, weil die Schul- und Bildungspolitik – wie in den letzten hundert Jahren – eigenen gesellschaftsoder parteipolitischen Trends oder Zwängen folgt. Sie fixiert
Schulen auf Abschlüsse und Berechtigungen und nicht auf Kompetenzen und Anschlüsse. Schulpolitik und -verwaltung orientieren sich in der Regel, was die an die Schule anschließende
Berufsausbildung angeht, immer noch nicht an den Vorgaben
der Abnehmerinstitutionen oder an den Interessen der Schüler.
Aufwand-Ertrag- oder Kosten-Nutzen-Rechnungen, was PISA
mit angestoßen hat und jetzt verstärkt besonders von Wirtschaftsverbänden in die bildungspolitische Debatte eingebracht
wird, sind nicht wirklich in die Schul- und Bildungsverwaltung
vorgedrungen.
Gleichwohl hat PISA – das muss man sagen – dank der nachhaltigen Arbeit von Herrn Schleicher, dem OECD-PISA-Koordinator, und der Initiative, die der damalige Hamburger Staatsrat
Hermann Lange in der KMK auf den Weg gebracht hat, die
Wahrnehmung der Schulprobleme und die Debatte darüber
gründlich verändert: Nach PISA und den empirischen Befunden,
die wir haben, über deren Zustandekommen, Validität und Vergleichbarkeit mit anderen Ländern man streiten kann, hört man
die üblichen parteipolitischen Worthülsen oder die üblichen
Sätze der Art „Das haben wir immer schon gemacht“ oder „Wir
haben nicht die Voraussetzungen dafür, irgendetwas zu ändern“
eigentlich nicht mehr. Wer sie dennoch gebraucht – „Das dreigliedrige Schulsystem hat sich bewährt!“ –, der erntet nur noch
ein mitleidig-verlegenes Lächeln. Vor allem auch in der Lehrerschaft ist der Blick dafür geöffnet worden, dass man in einem
gesellschaftlichen System mit hoher Elternaufmerksamkeit
agiert, und auch dafür, dass sich in der Schule Konventionen
eingeschlichen haben, die von der Eltern- und Schülerschaft so
nicht mehr hingenommen werden, beispielsweise die völlig
unaufgeklärte Gewohnheit, soundso viel Prozent Kinder einer
Klasse – mit beträchtlichen Abweichungen zwischen den
Bundesländern! – diese wiederholen zu lassen. Die Kultusverwaltungen bis herunter zu den Schulaufsichtsbehörden haben
begriffen, dass nichts in Gang kommt, wenn die Hierarchie
nicht flacher wird und die Schulen nicht selbstständiger werden
und mehr Verantwortung für ihren eigenen Betrieb übernehmen können. Es hat sich ein wenig der aus der reformpädagogischen Szene bekannte Satz durchgesetzt: Reformen funktionieren nicht von oben und außen, sie müssen von innen und
unten kommen, oder es tut sich nichts. Denn im Alltag sind die
Lehrkräfte mit ganz anderen Problemen beschäftigt, als politische Vorgaben umzusetzen, deren Erfolg in ministeriellen Pressemitteilungen im Übrigen immer schon feststeht. Man wundert sich, dass nach jahrzehntelangen „Erfolgen“ immer noch
etwas zu reformieren ist ...
Nach der Veröffentlichung der letzten PISA-Studie hat Manfred
Prenzel, der Vorsitzende des Konsortiums, auf die Frage, welche
Handlungsanleitungen aus PISA für die Kultusministerien resultieren, lapidar geantwortet: Keine. Zunächst wollte er damit
sagen: Aus dem, was ist, folgt noch längst nicht, was sein soll.
Der Soziologe Max Weber hat gesagt, empirische Wissenschaft
könne niemanden lehren, was er solle, sondern nur, was er
könne, und unter Umständen, was er wolle. Und damit könnten wir die Runde an dieser Stelle schließen? Dann wäre der
ganze PISA-Aufwand für die Katz’ gewesen?
Zumindest muss zunächst danach gefragt werden, nach welchen
Kriterien, aufgrund welcher Überlegungen denn Handlungsempfehlungen entwickelt werden können, und zwar durchaus, trotz
mancher Vorbehalte, im Lichte der PISA-Befunde.
Hier ist der Ausgangspunkt – in pädagogischen Sachverhalten
nie überraschend – der, dass die Befunde an sich unstrittig
sind, aber dass die Schlussfolgerungen, die daraus gezogen werden können, politisch höchst unterschiedlich oder selber strittig sein können. Deswegen muss auf die Grundfrage zurückgegangen werden, wozu Schule eigentlich da ist, um anschließend fragen zu können, welche Schlussfolgerungen wir aus den
Befunden über die (Un-)Wirksamkeit von Schulen ziehen wol-
129
len. Denn ein Aspekt des PISA-Schocks in Deutschland war ja,
dass Schulen offensichtlich nicht dasjenige leisten, was erwartet worden war oder was sie selber vorgeben zu leisten.
Drei Überlegungen helfen an dieser Stelle weiter.
1. Die erste ist eine demokratische, politische Grundüberlegung. Jedes Kind hat, so steht es in unseren Verfassungen,
einen Anspruch auf die Förderung seiner Begabungen, seiner
Dispositionen, und zwar für einen optimalen Anschluss an eine
Berufsausbildung. Wenn die Schulpflicht gilt, dann hat der
Schüler im Rahmen seiner Möglichkeiten auch ein Recht auf
Schulerfolg. Es darf nämlich keine staatsbürgerlichen Pflichten
geben, bei deren Erfüllung jemand vollkommen erfolglos gelassen wird (10 Prozent Schulabgänger ohne [Hauptschul-]
Abschluss, wiederum mit erheblicher Streubreite zwischen den
Bundesländern). Der von Gesetzes wegen vorgeschriebene
„Schulzweck“ muss entweder erreicht werden können, oder er
muss modifiziert werden.
2. In einer demokratischen Gesellschaft muss eine für alle verbindliche gemeinsame Institution wie die staatliche öffentliche
Pflichtschule auf individuelle Differenzen von Begabungen und
Dispositionen mit institutionellen Differenzierungen reagieren.
Das ist ein Gebot der Gerechtigkeit im Umgang mit formaler
Gleichheit/Gleichberechtigung als gerechtem Umgang mit faktischer Ungleichheit. Das Gleichheitsgebot sagt, Ungleiches
müsse ungleich behandelt werden, sonst wird im Einzelfall
nach nicht einschlägigen oder gar falschen Kriterien geurteilt.
(Ein gerechtes Urteil kommt bei der Rechtsprechung nur dann
zustande, wenn z. B. die individuellen Umstände einer Tat, die
Charaktermerkmale des Täters usw. beachtet werden; es kommt
nicht zustande durch die einfache Anwendung einer Sanktion
auf einen Tatbestand, wie es jetzt bei den Leistungsstandards
den Schülern droht.)
Das sind die drei Grundüberlegungen politischer Art, um die es
geht, und die kann man sich in einem einfachen Satz gut merken: Die Frage ist nicht, ob das Kind zur Schule passt, sondern
umgekehrt: Passt die Schule zum Kind? Und dann ist die Antwort bekanntlich ganz einfach. Im Lichte der internationalen
PISA-Befunde müssen wir uns darauf zurückbesinnen, ob und
wie Schülerinnen und Schüler in unseren Schulen erfolgreich
sein können, und zwar in der Weise erfolgreich, wie es ihren
Potenzialen entspricht, und nicht nach irgendwelchen abstrakten Vorgaben. Das macht aufmerksam nicht nur auf die Ungerechtigkeiten, die aufgrund einer zu frühen Sortierung der Kinder zustande kommen, was ja gewissermaßen verfassungswidrig ist, sondern darauf, dass die Handhabung innerhalb des Systems immerzu neue Hürden aufbaut in Versetzungsordnungen,
in Vergleichsarbeiten usw., ohne dass die entsprechenden Vorkehrungen getroffen wären, was denn im Falle des Scheiterns
oder der Gefährdung an Unterstützungssystemen da ist. Wenn
wir mit letzter Gewissheit nicht wissen können, was wir tun
sollten, wissen wir gleichwohl mit großer Sicherheit, was wir
vermeiden bzw. unterbinden sollten. Wer sich nicht auskennt,
braucht nur die Lehrkräfte, Schüler und Eltern zu fragen.
In der Gegliedertheit des Schulwesens als solcher muss man, in
historischer Perspektive einer pragmatischen Handhabung der
Übergänge und Durchlässigkeit, nur dann ein Problem sehen,
wenn das System der Gliederung eine Quelle sozialer Ungleichheit und Benachteiligung wird, wie es heute der Fall ist. Wenn
wir nämlich aktuell betrachten, was gegliedert heißt, dann stellen sich grundsätzliche Bedenken ein. Wir reden immer vom
dreigliedrigen Schulsystem, was nicht mal mehr für die weiterführenden Schulen zutrifft. Wir haben ein mindestens sechsgliedriges: Grund-, Haupt-, Realschulen, Gymnasien; besondere
Schulen für Leistungsschwache und für Leistungsstarke; die
Klassen der Berufsvorbereitungsjahre (BVJ) für Hauptschüler
ohne Abschluss; die zweijährige Berufsfachschule als Zugang
„Das Kriterium dafür, was uns die PISA-Befunde auch im internationalen Vergleich lehren, ist
also, dass wir uns darauf zurückbesinnen müssen, ob und wie Schülerinnen und Schüler in
unseren Schulen erfolgreich sein können, und zwar in der Weise erfolgreich, wie es ihren
Potenzialen entspricht, und nicht nach irgendwelchen abstrakten Vorgaben.“
3. Im Sinne der Zugangs- und Verteilungsgerechtigkeit, also
im Zugang zu Bildungsgängen und dem Verbleib in Bildungsgängen bis zum individuell optimalen Abschluss, müssen Schullaufbahn- und -abschlussentscheidungen, die ja früh stellvertretend für die Kinder zu bestimmten Zeiten ihrer Entwicklung
getroffen werden, korrigierbar sein. Ein versäultes System wie
das deutsche, das solche Korrekturen per se erschwert, hat nur
eine schwache demokratische Legitimation.
130
für Hauptschulabsolventen zur mittleren Reife; und dann die
Gymnasien in diversen Varianten (allgemein bildend, wirtschafts-, technik-, hauswirtschaftsorientiert). Das könnte man
für sich genommen plausibel finden. Aufgrund der Tatsache
aber, dass die Umsteigemöglichkeit und Durchlässigkeit nach
oben fast nicht gegeben ist, hingegen ein Weg nach unten in
diesem „dreigliedrigen“ System etabliert ist, kann darin die
Schule der Zukunft jedenfalls nicht gesehen werden. Und zwar
Herrmann/Olbertz/Schleicher: PISA, Blindtext
PISA, PISA
1. Aus demografischen Gründen wird sich
diese Aufsplitterung der weiterführenden
Schulen in der Fläche bzw. in den Flächenstaaten im ländlichen Bereich nicht aufrechterhalten lassen. In einigen Bereichen
sowohl der alten als auch besonders der
neuen Bundesländer wie Brandenburg werden Realschulen und Gymnasien zusammengelegt, und das ist auch nur sinnvoll, weil
dieser Schultyp der erfolgreichste der deutschen Schulgeschichte überhaupt gewesen
ist. Diese erfolgreiche Kombination von Realschule und Gymnasium wurde vor dem
Ersten Weltkrieg erfunden und scheint in
Vergessenheit geraten zu sein.
Cartoon: Löffler
aus vier Gründen, die zunächst einmal gar
nichts mit der individuellen pädagogischen
Verantwortung gegenüber den Kindern, aber
viel mit der Zukunft unserer Gesellschaft
und Wirtschaft und unseren sozialen Sicherungssystemen zu tun haben:
2. Wir werden die jetzigen Gliedrigkeiten und ihre Auslesewirkung nicht aufrechterhalten können, weil uns allmählich in der
Spitze diejenigen Studenten ausgehen, die wir für den Wirtschafts-, den Technik- und Wissenschaftsstandort Deutschland
brauchen. Wir brauchen andere Gymnasiasten, weil die Abbrecher- und Versagerquoten in den Universitäten zu groß sind.
Mit dem jetzigen Gymnasium lässt sich das nicht machen.
3. Wir werden vor allen Dingen etwas tun müssen, um die
Drop-outs unten aufzufangen und zu einem tatsächlichen Qualifizierungsabschluss zu führen, weil, wie das Institut für
Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Agentur für Arbeit in
Nürnberg zusammen mit Wirtschaftsverbänden, der Deutschen
Bank usw. nicht müde werden zu betonen, wir etwa eine Million junger Menschen ohne Ausbildung in der Bundesrepublik
haben. Das ist eine soziale Zeitbombe besonderer Sorte. Wir
hatten ursprünglich nur 500 000, die andere Hälfte kam durch
Hartz IV hinzu, als Sozialhilfe und Berufshilfe zusammengelegt
wurden. Da sah man plötzlich, dass an anderer Stelle eine weitere halbe Million versteckt war.
4. Nach der Wende wurde durch die Zusammenlegung von
Haupt- und Realschule im Freistaat Sachsen eine Zweigliedrigkeit der weiterführenden Schulen eingeführt, begründet durch
die Einsicht, dass der Hauptschulabschluss einer „Restschule“
nur noch ausnahmsweise den Übergang in eine berufliche Ausbildung ermöglicht.
Im Lichte dieser Befunde hat es wenig Sinn, in die übliche
Strukturdebatte mit „Glaubensbekenntnissen“ einzusteigen.
Herr Schleicher hat darauf hingewiesen. Herr Olbertz hat soeben in einem „Focus“-Interview gesagt, er meide diese Debatte. Sehr mit Recht. Die Grünen, die GEW, vor allen Dingen der
baden-württembergische Handwerkstag argumentieren anders,
und zwar anknüpfend an die Forderung nach einer „Schule für
alle Kinder“, wie das die überaus PISA-erfolgreiche Bielefelder
Laborschule praktiziert. Das Gliedrigkeitsproblem besteht ja
unter anderem darin, dass wir zu früh sortieren, zu einer Zeit,
in der die Kinder noch Kinder sind und ihre Denkpotenziale
vom Gehirn her aus neurowissenschaftlicher Sicht noch gar
nicht in Gang gekommen sein können. Wir sortieren zu früh,
wir schöpfen Potenziale nicht aus, nicht zuletzt auch deswegen, weil wir unterschiedliche Interessen, Inhalte und
Arbeits- bzw. Lernformen nicht zu ihrem Recht kommen lassen.
(Das hat auch etwas mit Personal-, Sach- und Betriebskosten zu
tun!) Eine solche Katastrophe passiert zurzeit in Baden-Württemberg. Da werden in Klasse 5 im 8-jährigen Gymnasium Englisch und Französisch im gleichen Schuljahr nach der Grundschule eingeführt; das kriegen die Kinder, wie man weiß, nicht
auf die Reihe. Also muss jetzt wieder zurückgerudert werden.
Die Schule muss vom 6. bis zum 13., 14., 15. Lebensjahr diejenige Basis schaffen, von der Herr Olbertz gesprochen hat: die
Schule muss die Kinder mit Grundkenntnissen, Fertigkeiten,
Fähigkeiten und Einstellungen ausstatten – nachzulesen im
Einführungstext von Hartmut von Hentig zu den aktuellen
baden-württembergischen Bildungsplänen –, damit sie dann
ihre eigenen Wege gehen können. Das ist meine Antwort auf
die Frage der Struktur. Sie ist nicht ja oder nein, sondern sie
betrifft zunächst eine Grundstruktur, und sie muss nachher für
die Differenzierung eine Differenzierungsstruktur vorgeben.
Wer es nicht schon vorher wusste, der konnte aus dem Film
„Die Kinder des Monsieur Matthieu“ viel lernen. Man bekam
vorgeführt, welche potenzialen Talente in Kindern stecken, und
zwar in allen gemeinsam. Wer eben nicht so gut singen kann,
der wird Assistent des Dirigenten oder wird zum Notenständer
ernannt. Jeder kann etwas beitragen. Man muss nur ideenreich
und ermutigend vorgehen.
131
Herr Olbertz empfiehlt, nicht nur über Schule zu reden, sondern
auch mal in die Schulen zu schauen. Fragen wir danach, warum
die Schüler in die Schule kommen – mal von der Schulpflicht
abgesehen –, dann stellt eine Untersuchung (aus dem Bereich
von Jürgen Zinnecker, Siegen) fest, dass die Kinder nicht in die
Schule kommen, um zu lernen, sie kommen nicht des Unterrichts wegen, sondern um ihre Freunde zu treffen und dort alle
möglichen Dinge zu erleben. Das war übrigens bei normalen
Kindern immer so. Und damit stehen wir vor dem Problem, dass
die Schule als Institution Lern- und Leistungsanforderungen
stellt, die die jungen Leute wiederum nur marginal interessieren. Eine andere Untersuchung (aus dem Bereich von Manfred
Hofer, Mannheim) zeigt nun, dass die Leistungen der Schüler
sinken, wenn man sie in den Konflikt von Schulleistung und
Freizeitwünschen versetzt. Und dann gucken wir jetzt mal in
die Schule: wenig Motivation, grassierende Schulmüdigkeit. Die
Implantierung von Leistungsstandards ist in dieser Situation
das genau Falsche: Das Schulleben müsste vorweg so umgestaltet werden, dass wir die bewegte Schule haben, die musische
Schule haben, eine Schule, von der die Schüler sagen, dass ihr
Besuch sinnvoll ist – weil sie Sinn hervorbringt. Das ist dann
auch zugleich die Grundlage von Leistungssteigerung in diesen
Schulen, was Freie Schulen und Landerziehungsheime seit Jahrzehnten erfolgreich demonstrieren. Das ist die Chance der
Ganztagsschule und nebenbei auch ihre gute Begründung: dass
sie nicht nur Ganztags-„Schule“ ist – das hält ja keiner im Kopf
aus –, sondern ein Ganztagsbetrieb (bis 16 Uhr), in dem Unterricht und Lernen eingelagert sind in all das, was einen anregenden, herausfordernden, mit Ernstaufgaben, mit Spiel und
Entspannung durchsetzten ganzen Tag ausmacht.
PISA misst nicht die Lernkultur einer Gesellschaft oder das
Lernklima, PISA misst nicht die Professionskultur des Lehrerstandes, und PISA misst auch nicht das öffentliche Klima des
Bewusstwerdens von Verantwortung für die nächstfolgende
Generation. Das, was im finnischen System auffällig ist, nämlich das Vorhandensein einer ganz anderen, individuellen Förderkultur, eines ganzen Maßnahmenbündels und zugleich eines
mentalen Selbstverständnisses, das in dem Moment in Gang
gesetzt wird, wo ein Kind zurückbleibt oder irgendwie auffällt,
fehlt bei uns, und das erfassen wir auch mit der besten PISAErhebung nicht.
STATEMENT
Insofern finde ich es wichtig, auf einer Messe wie dieser solche
Verantwortungsfragen auch öffentlich zu diskutieren. In seiner
Moderation eben hat Herr Kalb noch gefragt, was man konkret
machen kann. PISA hat die Diskussion sehr versachlicht. Man
kann sich nicht mehr entziehen mit Allgemeinplätzen, sondern
Schulpolitik muss sich dadurch legitimieren, dass sie auch im
Innern der Schule mit nötigen Reformansätzen vorankommt,
die unabhängig von der Gliederung des Systems an allen Schulen in Deutschland dringend angezeigt sind. Es hat sich ja herausgestellt, dass die Unterschiede schon innerhalb der Schulformen sehr groß sind, ja, dass die Varianz zwischen den Schulformen nicht so spannend ist wie die Varianz zwischen den
Schulen ein und derselben Schulform. Das ist von Klasse zu Klasse so, aber auch von Schule zu Schule. Deswegen gibt es exzellente Gesamtschulen und schlechte; es gibt gute und weniger
gute Sekundarschulen, gute Gymnasien und solche mit eher
schlechtem Ruf.
Die Frage an mich lautete, was von der ganzen PISA-Diskussion
in den Kultusministerien überhaupt ankommt, inwieweit ich
darin eine Chance sehe, einen neuen Ansatz zu finden und vor
allen Dingen, wie und wo wir zur Besserung ansetzen wollen.
PISA hat meiner Meinung nach den großen Vorzug, dass sich
die Schul- und Bildungspolitik zum ersten Mal wirklich anhand
von „Hard Facts“ legitimieren muss. Allerdings muss man vorsichtig sein. Ich stünde auch als Wissenschaftler dem ganzen
PISA-Projekt dann kritisch gegenüber, wenn es uns verleiten
sollte, unsere Vorstellungen von einer guten Schule auf das zu
reduzieren, was mit dem PISA-Instrumentarium messbar ist.
Das wäre mir entschieden zu wenig, denn eine gute Schule
muss mehr ausmachen, als PISA-förmige Ergebnisse zutage zu
fördern. Ich habe durchaus die Befürchtung, dass die Erwartung
an die Schulen, ihre Arbeit „PISA-gemäß“ auszurichten, dazu
Also müssen die Probleme etwas tiefer liegen, als sie in der
Öffentlichkeit, von den Medien und leider auch von der Politik
manchmal erörtert werden. Für den wichtigsten Ansatz im Rahmen innerer Schulreformen halte ich vor allem eine Lehrplanreform. Es ist ein curriculares Missverständnis in der Wissensgesellschaft, zu versuchen, so viel wie möglich in einen Lehrplan
hineinzupacken. Wir machen das, weil wir sehen, wie schnell
Wissen veraltet. Deswegen pflegen wir einen Lernmodus, der
das Verweilen, das Innehalten, das Wiederholen, das Festigen,
all die klassischen didaktischen Tugenden, eigentlich unmöglich
macht. Wenn man die Frage andersherum stellt und fragt, welches Wissen eigentlich nicht veraltet, dann kommt man auf
einen kulturellen Kernbestand von Grundwissen und elementarer kultureller Techniken, die auch generationsübergreifend
Wenn damit begonnen würde, unabhängig von der Strukturfrage schon mal diese „innere Schulreform“ in Gang zu bringen,
dann hätten die deutschen Bildungspolitiker auch eine richtige
Lehre aus PISA gezogen.
Jan-Hendrik Olbertz
132
führt, dass Schwerpunkte falsch gesetzt werden, indem z. B. ein
bestimmter Aufgabentypus, der für Erhebungen gut geeignet
ist, aber nicht für die Beurteilung einer guten und erfolgreichen Schule, in den Vordergrund der schulischen Arbeit rückt.
Das heißt, wir brauchen zusätzlich zu diesen Output-orientierten, die empirische Bildungsforschung herausfordernden Ideen,
Schulleistungen messbar und vergleichbar zu machen, einen
kritischen Diskurs darüber, was man damit aussagen kann und
was nicht. Die Diskussion auch der Grenzen von PISA halte ich
für wichtig, damit wir mit den Daten etwas anfangen und sie
auch angemessen interpretieren können.
Herrmann/Olbertz/Schleicher: PISA, Blindtext
PISA, PISA
relevant sind. Dorthin müssen wir die Schule lenken. Dann können wir es uns leisten, gegenüber der Dynamik, die sich oberhalb eines solchen Grundkanons kulturellen Wissens abspielt,
gelassen zu sein.
Das Zweite ist tatsächlich die individuelle Förderung. Schule ist
weit gehend fantasielos in Bezug auf individuell konfigurierte
Förderkonzepte, übrigens sowohl in Bezug auf die Schwachen –
und ich finde es gut, dass wir als Erstes über sie reden –, aber
auch in Bezug auf die Starken. Auch die werden verlangsamt,
wenn ihre speziellen Potenziale nicht aufgegriffen werden. Und
schließlich müsste man über den ganzen Bereich der Unterrichtsmethoden gesondert reden, wobei ich der Letzte bin, der
einfach gegen den Frontalunterricht polemisiert. Auch beim
Frontalunterricht gibt es nämlich guten und schlechten. Der
des Wissens gegenüber dem Verstehen, Bearbeiten und Erleben
dazu geführt, dass nicht genug Erfolge stattfinden. Ich glaube,
gerade lernende Kinder, die nicht regelmäßig ein Feedback über
ihren Erfolg bekommen, der sie in ihrer Selbstgewissheit stärkt,
steigen aus, noch bevor wir uns ihnen individuell zuwenden
können. Deswegen ist es so wichtig, Leistungsanforderungen
zu individualisieren. So wichtig ich Standards finde, sie müssen
jeweils individuell ausgelegt werden, sodass ein Kind Lob erfahren kann für eine Leistung, für die ein anderes Kind kein Lob
erfährt. Wenn wir diese Differenzierung nicht wollen, scheren
wir am Ende alle über einen Kamm und wundern uns, dass Kinder, die sich selbst nicht bestätigt sehen, die keinen Erfolg erleben, auch keine Lernmotivation mehr entwickeln können. Übrigens gilt das auch für die Erziehung. Auch da halte ich es für
ganz wichtig, dass Kindern gelegentlich in Bezug auf ihr Ver-
„Für den wichtigsten Ansatz im Rahmen innerer Schulreformen halte ich vor allem eine Lehrplanreform. Es ist ein curriculares Missverständnis in der Wissensgesellschaft, zu versuchen,
so viel wie möglich in einen Lehrplan hineinzupacken. Wir machen das, weil wir sehen, wie
schnell Wissen veraltet … Wenn man die Frage andersherum stellt und fragt, welches Wissen
eigentlich nicht veraltet, dann kommt man auf einen kulturellen Kernkanon, der auch generationsübergreifend relevant ist. Dorthin müssen wir Schule bekommen.“
gesamte Bereich der Unterrichtsmethoden ist ein ganz wichtiges Desiderat von innerer Schulreform, ein Bereich, in dem die
Entwicklung in Deutschland, glaube ich, eher verhalten verläuft.
Das Sitzenbleiben als Reaktion auf Schwächen bei den Schülerinnen und Schülern halte ich für eine Vergeudung von Lebenszeit und einen Ausdruck von Einfallslosigkeit an den Schulen.
Ich bin sicher, dass das Sitzenbleiben nur in einer absoluten
Minderheit der Fälle der Förderung des Kindes dient. Es ist eher
so, wie Herr Schleicher sagt, dass man die schwierigen Schüler
einfach „entsorgt“. Sie sind dann erst einmal aus dem Blickfeld.
Die schlichte Wiederholung stellt kein intensiveres Zugehen auf
den Schüler dar, sondern ist bloß eine formale Wiederholung.
Dabei ist die Wahrscheinlichkeit, dass es ein weiteres Mal schief
geht, hoch. Deshalb brauchen wir keine administrativen Regelungen zur Perfektionierung des Sitzenbleibens, sondern den
Nachweis, was im Vorfeld alles unternommen wurde, um es zu
vermeiden. Wir haben in Sachsen-Anhalt keine so erschreckend
große Klassenwiederholerquote, aber hier ist jedes Kind eines
zu viel.
Nun reden wir immer vollmundig davon, in einer Wissensgesellschaft zu leben. In dieser viel beschworenen Gesellschaft
fällt aber als Erstes auf, dass es immer mehr Menschen gibt, die
immer weniger wissen. Das Schulsystem hat offenbar durch die
Dichte seiner Anforderungen und durch die Verselbstständigung
halten in der Gemeinschaft Grenzen gezogen werden. Kinder,
die diese Erfahrung nicht machen, werden als Erstes daran zu
zweifeln beginnen, ob sie uns wichtig sind. Da gibt es meiner
Meinung nach zahlreiche Fehlverständnisse aus den 1970er-Jahren, die die Schule bis heute ziemlich bedrängen. Deshalb wäre
es nicht schlecht, wenn wir ein paar grundlegende Verabredungen darüber treffen würden, was gute Schule ist und leisten
kann und was nicht, damit Schule nicht überfordert wird, sondern ihr Kerngeschäft, das Lernen zu organisieren, auch erfolgreich betreiben kann.
Bei der Schule der Zukunft sehe ich die Prioritäten nicht in der
hier gestellten Frage, wie lange das gegliederte System sich
noch „verteidigen“ lässt. Ich habe fast Schwierigkeiten, etwas
mit der Frage anzufangen. Die Frage ist vielmehr, wie lange es
seine Defizite noch wird verantworten können. Daran schließt
sich die Frage an, ob diese Defizite wirklich kausal mit der
Gliederung zusammenhängen oder ganz woanders ihre Ursache
haben. Darüber mache ich mir viel mehr Sorgen. Gestern habe
ich ja aus Spaß gesagt, dass ich mir zutrauen würde, unter Beibehaltung der jetzigen inneren Mängel unserer Schule selbst
das finnische System innerhalb weniger Monate zu ruinieren.
Was ich mit diesem Scherz sagen wollte, ist, dass wir vor dem
Hintergrund der jetzigen Diskussionslage zunächst mal in die
Schulen hineinschauen, in alle Schulformen, und dort mit
einer gewissen Radikalität, wie wir sie in Deutschland leider
nicht mehr kennen, Änderungen herbeiführen müssten. Erst
133
dann lassen sich übrigens auch wissenschaftlich belastbare
Anhaltspunkte darüber gewinnen, wo die Grenzen des gegliederten Systems tatsächlich sind und wie man sie überwinden
könnte. Im Moment haben wir Glaubenssätze, die wir austauschen, und gleichzeitig werden damit auch noch politische
Lager markiert. Dadurch wird die Diskussion in einer Sphäre
geführt, die sich von den Schulen längst verselbstständigt hat.
Im Übrigen interessiert das in den Schulen auch niemanden,
Und wenn dann noch die Hälfte derer, die die Hochschulreife
erwerben, anschließend gar nicht studiert und auch nicht studieren will, dann könnte man allenfalls positiv festhalten, dass
diese Schülerinnen und Schüler am Gymnasium vieles gelernt
haben, was sie niemals brauchen; aber beunruhigender für ihre
anschließende Ausbildung ist, dass sie dort vieles nicht gelernt
haben werden, was sie eigentlich für die Ausbildungsreife
benötigten.
„Das Schulsystem hat offenbar durch die Dichte seiner Anforderungen und durch die Verselbstständigung des Wissens gegenüber dem Verstehen, Bearbeiten und Erleben dazu geführt,
dass nicht genug Erfolge stattfinden. Ich glaube, gerade lernende Kinder, die nicht regelmäßig
ein Feedback über ihren Erfolg bekommen, der sie in ihrer Selbstgewissheit stärkt, steigen
aus, noch bevor wir uns ihnen individuell zuwenden können.“
134
der dort seine Arbeit macht oder aber seine Kinder dort hinschickt. Darüber hinaus bin ich mir gar nicht so sicher, ob die
finnische Lernkultur, die öffentliche Wahrnehmung von Verantwortung für die Jugend, das finnische Selbstverständnis der
jungen Generation usw. wirklich Folge der Strukturen des Bildungssystems sind. Ich will nicht in Frage stellen, dass es da
Zusammenhänge gibt, aber das Ganze hängt wohl vor allem
mit nationaler Geschichte und Identität in Finnland zusammen. Finnland ist zudem ein Land mit einer Sprache, die kaum
jemand anders spricht – auch dadurch entsteht eine gewisse
innere Geschlossenheit im kulturellen Selbstverständnis. Wenn
wir nur Schulen vergleichen und nicht historische, soziale,
sozial-ökonomische Kontexte einbeziehen, wird immer ein
schiefes Bild herauskommen. Man kann aber von der finnischen Schule eine Menge lernen, ohne gleich deren Strukturen
1:1 kopieren zu müssen.
Insofern müssen die Bildungsgänge stärker ausgearbeitet werden, um in einen vernünftigen Wettbewerb treten zu können.
Herr Herrmann, ich bin mir ziemlich sicher, dass die Zeit kommen wird, in der ein schlechtes Abitur weniger wert sein wird
als ein guter Realschulabschluss. Das wird sich in dem Tempo
beschleunigen, in dem die Hochschulen die Möglichkeit erhalten, sich ihre Studenten selber auszusuchen, und wir auf der
anderen Seite nicht nur über einen künftigen Akademikermangel, sondern auch über einen Facharbeitermangel klagen. Die
Wirtschaft macht schon jetzt darauf aufmerksam, dass sie
keine Facharbeiter, keine Fachingenieure, kein wirklich gut
ausgebildetes handwerkliches Personal hat. Deswegen sage ich
immer, wir brauchen Eliten auf all diesen Ebenen und nicht
einen singulären Elitebegriff, wo alle versuchen, sich vom
jeweils höchsten Status abzuleiten, aber über die zu erwerbenden Kompetenzen keiner mehr redet.
Ich stimme aber Herrn Herrmann zu; es wäre auch mir das
Angenehmste, wenn die Strukturdiskussion pragmatisch
geführt werden könnte. Wenn wir unbefangener damit umgingen, könnten sich die Lager schneller verständigen. Das war
der Grund, weshalb ich im „Focus“ gesagt habe, dass ich diese
Debatte, so wie sie derzeit geführt wird, nicht mitmache. Ich
habe andere Probleme und andere Aufgaben. Vor allem muss
dafür gesorgt werden, dass die Gliederung nicht hierarchisch
verstanden wird. Wenn man es ernst nimmt, ist die Gliederung
Ausdruck für Differenzierung und die Möglichkeit zur individuellen Förderung bestimmter Begabungsprofile oder Profile
von Stärken und Lernvoraussetzungen. Dann gilt, dass der
Sekundarschulbildungsgang gegenüber dem gymnasialen ein
gleichwertiger Bildungsgang anderen Profils ist. Stellen wir
uns das Gymnasium dagegen „oben“ vor und die Sekundarschule „unten“, dann ist der Sog des Gymnasiums natürlich
groß, und zwar unabhängig davon, ob ein Kind dort optimal
gefördert werden kann oder nicht.
Noch kurz zur Lehrqualifikation der Professoren. An den DDRHochschulen gab es hochschulpädagogische Pflichtkurse, die
ich übrigens selbst eine Zeit lang als Dozent angeboten habe.
Ich denke, Sie haben Recht in Bezug auf das, was hier über die
mangelnde Lehrbefähigung gerade von Professoren, die Lehrerbildner sind, gesagt wurde. Es genügt nicht, hier nur Schulerfahrung aus der eigenen Schulzeit einzubringen. Deshalb
sollten die Hochschullehrkräfte immer wieder Anlass haben, in
die Schule zurückzukehren und dort zu studieren, wie die Praxis funktioniert. Ich bin übrigens durchaus der Meinung, dass
wir das Lehramtsstudium von Grund auf reformieren müssten,
insbesondere was frühe und intensive Praxisbegegnungen und
Schulkontakte betrifft.
Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: Es gibt auch so etwas
wie eine pädagogische Begabung, ein pädagogisches Talent,
das nicht jeder Mensch hat. In diesem Kontext halte ich es für
wichtig, eine Studienberatung zu organisieren, die diejenigen
Herrmann/Olbertz/Schleicher: PISA, PISA, PISA
jungen Leute auf den Beruf aufmerksam macht, die eine solche
soziale Kompetenz, ein soziales Talent aufweisen oder entwickeln können. Ich formuliere übrigens bewusst so, auch als
Pädagoge. Es gibt überhaupt keine Menschen ohne Talente
oder ohne spezifische Stärken. Es gibt nur unendlich viele, die
an diesen Stärken vorbei gefördert werden oder deren Potenziale nicht oder viel zu spät entdeckt werden.
Bildung betrifft uns alle, und wir alle haben unsere Erfahrungen
und Einstellungen zum Bildungssystem. Aber was wissen wir als
Eltern wirklich darüber, was und wie unsere Kinder lernen? Wie
profitiert ein Lehrer im Klassenzimmer von den Erfahrungen
des Lehrers im Nachbarklassenzimmer? Was weiß die Schule von
dem, wie es die Nachbarschule macht und wie sie mit vielleicht
ähnlichen Problemen umgeht? Und wo könnten wir heute stehen, wenn das Bildungssystem wüsste, was seine Bildungseinrichtungen wissen, seien es die Schulen, Kindergärten, Einrichtungen der Jugendhilfe und so fort, das heißt, wenn wir das
Kapital in den Köpfen der Menschen, die mit Bildung befasst
sind, wirksam vernetzen und optimal nutzen könnten? Davon
Foto: VdS Bildungsmedien
Ich bin Fürsprecher unseres gegliederten Schulsystems übrigens auch vor dem Hintergrund seiner öffentlichen Akzeptanz
und Tradition. Wir können nicht alles einfach über Bord werfen, sondern unsere Verpflichtung besteht darin, dieses
gewachsene Modell in Deutschland zu qualifizieren und zu entwickeln, und nicht einfach, wie im Selbstbedienungsladen, uns
irgendwo anders etwas zu suchen und anschließend verwundert festzustellen, dass solche Anleihen mit unserer Kultur,
unserer nationalen Identität, unserer
Geschichte, unserem Selbstverständnis
nicht kompatibel sind. Einfach das finnische System zu kopieren bringt die Welt
unserer Schulen noch lange nicht in Ordnung. Aber wir können dort viele Elemente studieren, wir können schauen,
wie diese kombinierbar sind mit unseren
Strukturvorstellungen, und wir müssen
uns vor allem öffnen gegenüber inneren
Entwicklungen der Schule.
STATEMENT
Andreas Schleicher
Ich bin kürzlich als Minister zur Einweihung des Neubaus einer Grundschule
eingeladen worden, und da sang ein
Chor. Ich saß vorne in der ersten Reihe,
als ausgebildeter Musiklehrer nebenbei
bemerkt, und mir fiel auf, dass der Chor
nicht gut sang. Es gab diverse SchwäDie Verankerung von anschlussfähigem Wissen und die Vermittlung effektiver Lernstrategien –
chen bis hin zur Atemtechnik, Artikulazwei der Ziele, die sich, so Andreas Schleicher (links im Bild neben Minister Olbertz), aus den
tion, Melodik usw. Ich habe natürlich
PISA-Ergebnissen für Schulen in Deutschland herauskristallisiert haben.
nichts gesagt, aber dann trat die Schulleiterin auf und erklärte, natürlich sei
das nicht perfekt gewesen, aber alle Kinder sängen im Chor, keiner werde ausgegrenzt. Meiner Mei- sind wir häufig noch weit entfernt. Oft ist der Kindergarten
nung nach kann man dann nur bilanzieren, dass kein Kind in oder die Schule für Eltern eine „Blackbox“, wir reden von aktiden Genuss eines gelungenen Chorsatzes kommt. So kann man ver Mitarbeit der Eltern, schaffen dafür aber wenig Raum. Oft
Chancengleichheit auch organisieren, indem alle gleicherma- stehen die Lehrer als Einzelkämpfer vor den Problemen im Klasßen keine Chance bekommen – die Musikalischen ebenso senzimmer. Oft bekommen die Schulen wenig Unterstützung
wenig wie diejenigen Kinder, deren Stärken auf anderen Gebie- und wenig Informationen über die Wirkungen ihres Handelns.
ten liegen (und die in dieser Zeit dort ja ebenfalls nicht geför- Und im Dunkeln sehen alle Schüler und Schulen gleich aus. Wir
dert werden). Nicht einmal das Publikum hatte etwas von kennen ihre Stärken und Schwächen nicht und können sie deseinem solchen pädagogisch wie bildungspolitisch verfehlten halb oft auch nicht wirksam unterstützen.
Ansatz.
Die internationale PISA-Studie war ein Versuch, aus der interDie Einzigen, denen warm ums Herz geworden ist, waren die nationalen Perspektive heraus ein wenig Licht in dieses Dunkel
Lehrerinnen und Lehrer, die sich dieses Konzept ausgedacht zu bringen, die Stärken und Schwächen der Bildungssysteme im
und ihren Irrtum nicht bemerkt hatten. Ich selbst habe mich Lichte der Leistungsfähigkeit anderer Bildungssysteme zu ananicht getraut, das zu sagen, weil ich den feierlichen Anlass lysieren. PISA hat uns gezeigt, wo wir stehen – in Bezug auf
nicht stören wollte.
Qualität, Chancengerechtigkeit und Effizienz von Bildungsleis-
135
tungen. Noch wichtiger aber ist: PISA hat uns gezeigt, dass wir
beides erreichen können, dass die Herausforderung, sowohl ein
hohes Niveau von Bildungsleistungen als auch eine ausgewogene Verteilung von Bildungschancen zu erreichen, durchaus
bewältigt werden kann. Finnland, Japan oder Kanada sind nur
einige Beispiele für Staaten, die eine hohe Qualität von Bildungsleistungen und eine ausgewogene Verteilung von Bildungschancen erreicht haben. Sie können heute die Erträge von
früheren Bildungsinvestitionen und -reformen einfahren. Ihre
Schulen arbeiten ergebnisorientiert und haben ein deutlich größeres Maß an Selbstständigkeit und Verantwortung. Sie sind in
der Lage, Schüler zu besserem Lernen, Lehrer zu besserem
Unterrichten und Schulen zu mehr Effizienz anzuregen. Und sie
bieten außerdem die richtige Kombination aus qualifiziertem
Lehrpersonal, individuellen Lernangeboten sowie innovativer
Ausstattung.
Ehemals ideologisch festgefügte Vorstellungen lösen sich durch
internationale Vergleiche auf. Bildungspolitiker und Bildungspraktiker stehen heute überall in der Welt unter dem Erwartungsdruck, sich an Fakten und Ergebnissen zu orientieren und
nicht an eigenen Vorstellungen. Vieles hat sich dadurch bewegt:
Niemand bestreitet mehr die Bedeutung von guter frühkind-
1. Traditionell lernen deutsche Schüler im Rahmen von Lehrplänen, die Bildungsinhalte detailliert festschreiben. Maßstab
für Erfolg ist dann die Akkumulation von Fachwissen, nicht die
Verankerung von anschlussfähigem Wissen und die Vermittlung
effektiver Lernstrategien, und genau das spiegelt sich in den
PISA-Ergebnissen wider. Je mehr Menschen jedoch heute Eigenverantwortung für ihre Karriereplanung sowie wirtschaftliche
und soziale Absicherung übernehmen müssen, umso mehr müssen wir von Schulen erwarten, dass sie nicht nur notwendiges
Fachwissen vermitteln, sondern die Fähigkeit zur Veränderung
stärken; jungen Menschen das Rüstzeug mit auf den Weg
geben, ihr Wissen aktiv zu nutzen, zu erweitern und dabei kognitive, moralische und soziale Dimensionen des Handelns in
ihrer eigenen Bedeutung zu erkennen und zu nutzen. Dazu
gehört, sich in einer sich beständig verändernden Welt immer
wieder neu zu positionieren, eigenständig und verantwortungsbewusst zu handeln, gute und tragfähige Beziehungen
aufzubauen, mit Konflikten umzugehen und Probleme gemeinsam zu lösen. Die Zukunft braucht daher Schulen, die sich
weniger an fachbezogenen Lehrplänen und dafür mehr an strategischen Bildungszielen orientieren, und Lehrer, die diese
Ziele verbindlich, kreativ und individuell in Lernmethoden für
den einzelnen Schüler umsetzen können; d. h. Lernpfade indi-
„Klar ist, dass angesichts der wachsenden Komplexität moderner Bildungssysteme ein einzelner Bildungspolitiker nicht die Probleme von zigtausenden Schülern und Lehrern lösen
kann. Wohl aber können zigtausende Schüler und Lehrer die Probleme des Bildungssystems
lösen, wenn sie vernetzt an der Lösung der Probleme arbeiten.“
licher Bildung und die Notwendigkeit, diese auch zum integralen Bestandteil des Bildungssystems zu machen. Ja, bei einigen
ist inzwischen auch angekommen, dass Studiengebühren in der
Hochschule vielleicht sinnvoller und sozial verträglicher sind als
Studiengebühren im Kindergarten, wo wir die Grundlagen für
Chancengerechtigkeit legen, aber wo der durch private Gebühren finanzierte Anteil der Ausgaben in Deutschland weiterhin
doppelt so hoch ist wie im OECD-Mittel. Auch die Notwendigkeit, klare Bildungsziele zu schaffen, Bildungsziele, die Schülern
helfen, besser zu lernen, Lehrern helfen, besser zu unterrichten, und Schulen helfen, effizienter zu arbeiten, das heißt, die
Notwendigkeit, verbindliche Maßstäbe für den Erfolg von Bildung zu schaffen, auch das ist heute weit gehend Konsens.
Nicht zu vergessen die Förderung von Ganztagsschulen – in den
meisten erfolgreichen OECD-Staaten schon seit Jahrzehnten
fester Bestandteil des Bildungssystems –, wo jetzt Fortschritte
erzielt werden.
Dennoch bleibt viel zu tun, es trennt uns noch vieles von den
heute erfolgreichen Bildungssystemen. Lassen Sie mich nur
einige Punkte hervorheben:
136
vidualisieren und Schüler dabei unterstützen, durch eigenständiges Denken und Handeln selbstständig und kooperativ zu lernen. Nur wer klare Erwartungen hat, diese in Form von strategischen Bildungsziele formulieren und den Entscheidungsträgern und Handelnden – d. h. Schulen, Lehrern, Schülern und
Eltern – auch vermitteln kann, der wird Leistungsbereitschaft
erfolgreich einfordern.
2. Deutschlands Schulen nutzen Klassenarbeiten und Zensuren
vorwiegend zur Kontrolle, etwa um Leistungen zu zertifizieren
und den Zugang zu weiterer Bildung zu rationieren. Die
Zukunft aber braucht moderne Evaluation und motivierende
Leistungsrückmeldungen, die Vertrauen in Lernergebnisse
schaffen und mit denen Lernpfade entwickelt, individualisiert
und begleitet werden können.
3. Das deutsche Bildungssystem setzt auf frühe Auslese im
Rahmen des dreigliedrigen Schulsystems und, damit verbunden, auf einförmigen Unterricht in leistungshomogenen Lerngruppen. Schüler mit besonderen Herausforderungen, wie z. B.
Schüler mit Migrationshintergrund, werden dabei oft auf Schul-
Herrmann/Olbertz/Schleicher: PISA, PISA, PISA
formen mit niedrigeren Anforderungen abgeschoben, wo der
Staat Jugendliche ohne Perspektive auf die Arbeitslosigkeit vorbereitet. Erfolgreiche Bildungssysteme dagegen gründen auf
einem konstruktiven und individuellen Umgang mit Leistungsunterschieden und Begabungen mit dem Ziel, Schülern durch
individuelle Förderung Perspektiven für die Gestaltung ihrer
eigenen Zukunft zu eröffnen. Schließlich ist die Verschiedenheit der Interessen und Fähigkeiten junger Menschen nicht das
Problem, sondern das Potenzial der Wissensgesellschaft.
4. Schließlich sind Lehrer und Schulen in Deutschland oft nur
die letzte ausführende Instanz eines komplexen Verwaltungsapparates. In Zukunft wird sich die Relevanz und Effizienz dieses Verwaltungsapparates, ob in Kommunen, Ländern oder
Bund, aber daran messen müssen, wie gut diese die Schulen
bei dem Erreichen vereinbarter Bildungsziele unterstützen und
welchen zusätzlichen Wert sie selber schöpfen, d. h. über das
hinaus leisten, was die Schule als selbstständige und pädagogisch verantwortliche Einheit leisten kann. Die viel diskutierte
Frage, wie Verantwortung zwischen Bund und Ländern aufzuteilen ist, ist dabei irrelevant. Entscheidend wird sein, ein
Arbeitsumfeld für Lehrer zu schaffen, dessen Attraktivität und
Ansehen nicht allein auf dem Beamtenstatus beruht, sondern
auf Kreativität, Innovation und Verantwortung, ein Arbeitsumfeld, das sich durch mehr Differenzierung im Aufgabenbereich, bessere Karriereaussichten, eine Stärkung der Verbindungen zu anderen Berufsfeldern, mehr Verantwortung für
Lernergebnisse und bessere Unterstützungssysteme auszeichnet. Klar ist, dass angesichts der wachsenden Komplexität
moderner Bildungssysteme ein einzelner Bildungspolitiker
nicht die Probleme von zigtausenden Schülern und Lehrern
lösen kann. Wohl aber können zigtausende Schüler und Lehrer
die Probleme des Bildungssystems lösen, wenn sie vernetzt an
der Lösung der Probleme arbeiten.
Ist eine zukunftsorientierte Bildung angesichts der enttäuschenden PISA Ergebnisse eine unrealistische Vision? Nein, die
Erfahrungen vieler Staaten – aber auch vieler erfolgreicher
deutscher Schulen – zeigen, dass eine hohe Qualität von Bildungsleistungen sowie eine ausgewogene Verteilung von Bildungschancen durchaus in überschaubaren Zeiträumen erreicht
werden können. Notwendig dazu aber ist, über die Optimierung des bestehenden Bildungssystems hinaus strategische
Perspektiven für Bildungsreformen zu schaffen und über die
Transformation der dem eigenen Bildungssystem zugrunde liegenden Schul- und Systemfaktoren nachzudenken. Davon bleibt
der bildungspolitische Diskurs in Deutschland trotz vieler Reformen weit entfernt.
Natürlich hat gute Bildung ihren Preis; aber die für Bildung eingesetzten Mittel sind entscheidende Investitionen in die
Zukunft, die in der deutschen Haushaltsrechnung nicht weiterhin auf der Konsumseite, sondern als Investitionen verbucht
werden sollten.
137
Die Integration der in Deutschland lebenden Migrantenfamilien voranzutreiben ist eine der wichtigsten Aufgaben für Schule und Erwachsenenbildung. Mit obligatorischen Deutschkursen und mit der
Überprüfung von Deutschkenntnissen sowie deren Förderung bei den Kindern aus Migrantenfamilien
wird jetzt bundesweit versucht, die Bildungschancen zu verbessern und damit Integration zu erleichtern. Ihre Gedanken zum Thema „DURCH SPRACHFÖRDERUNG ZUR BESSEREN INTEGRATION VON
MIGRANTENFAMILIEN – WAS KÖNNEN SCHULE UND ERWACHSENENBILDUNG WIRKLICH LEISTEN?“
erörterten BARBARA JOHN, Honorarprofessorin am Institut für Europäische Ethnologie der HumboldtUniversität zu Berlin, Professor Dr. EWALD KIEL, Inhaber des Lehrstuhls für Schulpädagogik an der Universität München, Professor Dr. RITA SÜSSMUTH, Präsidentin des Deutschen Volkshochschulverbandes,
sowie Dr. MICHAEL GRIESBECK, Abteilungsleiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge.
Moderation: Yvonne Globert
Eine Veranstaltung der
Barbara John
Barbara John, geb. 1938. Lehrerin und Diplompolitologin; mehrjährige Tätigkeit in der Lehrerausbildung im
Fach „Deutsch als Zweitsprache“ an der FU Berlin. Von 1981 bis 2003 Ausländerbeauftragte des Berliner
Senats. Seit 2003 als Koordinatorin für Sprachförderung beim Berliner Senat zuständig. Honorarprofessorin
am Institut für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Ewald Kiel
Ewald Kiel, Professor Dr., geb. 1959. Studium Deutsch, Geschichte und Pädagogik in Göttingen und von
„Applied Linguistics“ in Los Angeles. 1990 Promotion. Zweites Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien.
1997 Habilitation. Berufung an die PH Heidelberg für das Fach Schulpädagogik nach dreijähriger Lehrtätigkeit als Gymnasiallehrer. Seit 2004 Lehrstuhl für Schulpädagogik an der Ludwig-Maximilians-Universität
München; dort auch Leiter der Abteilung für Schul- und Unterrichtsforschung.
STATEMENT
Barbara John
Bei uns hat sich bezogen auf unser Thema bei den schulischen
Leistungen massiv etwas verändert, aber es hat sich nicht so
viel verändert, wie es wünschenswert gewesen wäre. Wir haben
in Deutschland und in vielen anderen Ländern Europas eine Einwanderungspolitik betrieben, bei der die Voraussetzungen für
Aufstieg durch Bildung und durch Arbeit sehr schlecht waren.
Nun ernten wir, was wir gesät haben. Wenn man Migranten ins
Land holt, die gut ausgebildet sind, so wie das die klassischen
Einwandererländer machen, dann geht der Aufstieg durch Bil-
138
dung natürlich sehr viel schneller. Diese Einwanderung aber war
in Deutschland über lange Zeit nicht gewollt. Wir haben eine
andere Einwanderungspolitik gemacht und müssen nun mit
dem fertig werden, womit wir begonnen haben. Aber auch das
lässt sich hinbiegen, nur müssten wir sehr viel mehr ändern als
bisher. Ich würde Integration ganz einfach und schlicht definieren und sagen: Integration in einer westlichen Demokratie
mit einem guten Bildungssystem und einem ausgebauten
Arbeitsmarkt ist Aufstieg durch Bildung und Arbeit. Beides ist
uns nicht gelungen. Der Aufstieg durch Arbeit nicht, weil wir
einen spezifisch eingeschränkten Arbeitsmarkt haben, gesetzlich rigide eingeschränkt, und zusätzlich wirtschaftliche Probleme; es fehlt uns an einem Niedriglohnsektor bei Dienstleis-
John/Kiel/Süßmuth/Griesbeck: Sprachförderung und Integration
Blindtext
Rita Süßmuth
Rita Süßmuth, Professor Dr., Studium der Romanistik und Geschichte. Promotion 1964. 1969 Professorin für
International Vergleichende Erziehungswissenschaft in Bochum. Seit 1971 Lehrstuhl in Dortmund, 1982-85
Direktorin des Forschungsinstituts „Frau und Gesellschaft“. 2003 Honorarprofessorin an der Universität
Göttingen. 1986-2002 Vorsitzende der Frauen-Union; 1987-98 Mitglied des CDU-Präsidiums; 1985-88
Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit; erste Frauenministerin auf Bundesebene. 1988-98
Bundestagspräsidentin; Präsidentin des Deutschen Volkshochschulverbandes seit 1988, Vorsitzende mehrerer
Kommissionen zu Migration und Integration.
Michael Griesbeck
Michael Griesbeck, Dr., 46 Jahre alt, Studium der Rechtswissenschaft und Politischen Wissenschaft in
Regensburg und Bonn. Seit 1988 im Dienst des Bundesministeriums des Innern tätig. 1996 Wechsel in das
Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge. 1999-2002 Abteilungsleiter Zentrale Verwaltung,
Internationale Aufgaben. Seit 2002 Leiter der Abteilung Integration im Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge (BAMF). 2003-04 zugleich Leiter der Abteilung Informationszentrum Asyl und Migration, Internationale Aufgaben, Flüchtlingsschutz.
tungen. Die Chancen in Deutschland, über Bildung aufzusteigen, sind gering, wie wir nun alle wissen. Wir haben ein System, von dem wir angenommen haben, dass es besonders die
sozial Schwachen fördert, aber das Gegenteil ist der Fall, weil
wir nie genau hingeschaut haben. Uns hat bislang der Output
von Lernprozessen nicht interessiert. Das Patentrezept für vermeintlich gute Pädagogik lautete bei uns „kleine Klassen“. So
wurde Bildung teuer, aber nicht gleichzeitig gut. Nun beginnen
wir endlich darüber nachzudenken, dass andere Veränderungen
und Verbesserungen bedeutsamer sind, gerade für Kinder mit
Migrationshintergrund. Denn diese Kinder lernen nur in der
Schule. Die meisten, die hier sitzen, also Menschen, die aus
Elternhäusern mit Bildungskapital kommen, haben trotz der
Schule gelernt. Aber Kinder mit Migrationshintergrund können
oft nur in der Schule lernen, insbesondere die deutsche Sprache, orientierendes Welt- und Sachwissen. Da wir diesen simplen Umstand nicht beachtet haben, jahrzehntelang, stehen wir
nun vor den deprimierenden Resultaten. Aber es ist nie zu
spät.
Natürlich wünschen sich alle Eltern, dass ihre Kinder mehrsprachig aufgewachsen könnten, aber der Wunsch scheitert oft an
den Realitäten. Selbstverständlich ist eine systematische zweisprachige Erziehung vom Kindergarten bis zum Abitur, wie sie
manche Wissenschaftler fordern, ganz ideal, nur sie funktioniert mit Sicherheit nicht in Familien mit einem geringen Bil-
139
dungskapital. Das hat Gründe: In diesen Familien wird von
Anfang an mit den Kindern viel zu wenig gesprochen, eben
auch zu wenig in der Erst- oder Muttersprache. Wenn ein einjähriges oder zweijähriges Kind Deutsch oder Türkisch oder
Kroatisch in der Familie hört und spricht, dann geht es mehr
um Sprachlichkeit überhaupt als um die spezifische Sprache.
Kinder lernen also, mit Sprache zu interagieren. Das ist entscheidend. Aber wenn der Input, den dieses Kind bekommt, verarmt ist – wir kennen das ja alle aus der deutschen Diskussion
in den 1970er-Jahren, der so genannte restringierte Code, der
eingeschränkte Code –, wenn das Kind aus dem Input gar nicht
genug sprachliche Regeln extrahieren kann, und das ist die Normalsituation, dann lernt es nicht nur seine Muttersprache
ungenügend, dann lernt es auch weitere Sprachen schlecht,
weil es zu wenig Andockmöglichkeiten aufgebaut hat. Das alles
sind elementare Kenntnisse aus der Hirnforschung, die bisher
nicht beachtet werden.
Deswegen kann man nur empfehlen, so viel Deutsch wie möglich, und zwar so früh wie möglich. Wenn es geht und wenn
Kapazitäten vorhanden sind, kann selbstverständlich auch noch
eine zweite und dritte Sprache dazukommen. Aber eins gilt
doch auch: Wir sind als Aufnahmegesellschaft nicht in der Lage,
die Herkunftssprache zu pflegen und weiterzuentwickeln. Es
muss den Einwanderern vollkommen klar sein, dass hier ihre
eigene Sprache verarmt. Die Muttersprache im Heimatland entwickelt sich, und wenn die Migranten nicht selber die Sprache
pflegen, wenn sie nicht Sonntagsschulen einrichten, wo sie die
Kinder unterrichten, dann wird die Muttersprache sich im Aufnahmeland nicht behaupten können.
Das Entscheidende ist heute, dass wir mit der deutschen Sprache in einer kindgerechten Form so früh wie möglich beginnen.
Das haben wir erst vor zwei Jahren richtig erkannt und systematisch durchgeführt: frühe Sprachförderung. Außerdem müssen wir im System die Mittel umschaufeln. Wir geben das meiste Geld da aus, wo die Heranwachsenden lernen, die es am
die selbst zu wenig Bildung bekommen konnten. Nun ändert es
sich langsam.
Es ist sicher ein enormer Fortschritt, dass wir nun verbindliche
und flächendeckende Integrationskurse haben, aber wir sehen
natürlich jetzt schon die Begrenztheit dieses Mittels. Das
sprachliche Ziel, die angestrebte Stufe B 1 des europäischen
Referenzrahmens, wird bei Weitem nicht von allen erreicht.
Außerdem kann das nur ein Anfang sein. Eine einigermaßen
selbstständige Verwendung der deutschen Sprache ist damit
nicht verbunden. Viele Teilnehmer erscheinen aber gar nicht zur
Prüfung.
Es wäre außerdem besser und erfolgreicher, wenn das sprachliche Lernen mit beruflichem Lernen, mit beruflicher Qualifikation verbunden werden könnte. In diese Richtung muss unser
Denken gehen, auch in der Bewertungskommission. Man lernt
immer an Inhalten, und man lernt am besten die Inhalte, die
einen interessieren. Die Niederlande sind ja inzwischen schon
viele Schritte weiter gegangen. Dort lässt man die Leute lernen.
Die Kurse bezahlt ihnen zunächst keiner. Irgendwann müssen
sie dann kommen und ihre niederländischen Sprachkenntnisse
nachweisen. Wenn sie das können, bekommen sie einen Ersatz
für die Mittel, die sie dafür ausgegeben haben. Auch wir sollten
stärker versuchen, mit dem sprachlichen Lernen eine berufliche
Orientierung zu verbinden. Jemand, der arbeitslos ist – und 40
Prozent der Migranten, in Berlin fast 50 Prozent der Türken
haben keine Arbeit –, kann sich nicht integrieren. Er hat keine
sozialen Kontakte, er hat keine beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten, es bleibt ihm nur der Rückzug in sein eigenes Milieu.
Insofern sind unsere Maßnahmen ein guter Einstieg, aber sie
müssen weiterentwickelt werden, damit wir größere Erfolge
haben.
Die in dieser Runde angesprochene Frage, wie wir die Kräfte
bündeln können, finde ich dagegen unergiebig. Daraus kann
man nicht viel Honig saugen. Es würde schon genügen, wenn
„Das Entscheidende ist heute, dass wir mit der deutschen Sprache in einer kindgerechten
Form so früh wie möglich beginnen. Das haben wir erst vor zwei Jahren richtig erkannt.
Außerdem müssen wir im System die Mittel umschaufeln: wir geben das meiste Geld da aus,
wo die Heranwachsenden lernen, die es am leichtesten haben, nämlich auf der Sekundarstufe II. Wir geben das wenigste Geld im vorschulischen Bereich aus.“
leichtesten haben, nämlich in der Sekundarstufe II. Wir geben
das wenigste Geld im vorschulischen Bereich aus. Hinzu
kommt, dass wir noch immer keine akademische Ausbildung für
Erzieherinnen haben wie viele andere Länder. Bei uns konnten
bisher Hauptschülerinnen Erzieherin werden. Die wichtigsten
Grundlagen für das Lernen später haben also Menschen gelegt,
140
diejenigen, die die Einwanderungsgesetze machen, und das ist
nun eindeutig die Kompetenz des Bundes, auch dafür sorgen
würden, dass elementare Grundlagen der Integration erfüllt
werden, nämlich dass die Einwanderer Arbeit bekommen. Aber
das interessiert kaum. Der Bund lässt einwandern, und die Integration müssen dann die Kommunen und Länder mit ihren Mit-
John/Kiel/Süßmuth/Griesbeck: Sprachförderung und Integration
gend ist. Es stimmt einfach nicht, dass Kinder nur dann eine
zweite Sprache lernen können, wenn sie ihre Muttersprache
beherrschen. Das wird jeden Tag durch bestimmte Gruppen
widerlegt. Wir haben z. B. eine erfolgreiche Gruppe aus der Türkei, die Aramäer, das sind christliche Türken, die in der Schule
Foto: VdS Bildungsmedien
teln gestalten. Je größer ein Ballungsgebiet ist, je höher die
Zahl der Migranten und je geringer das Bildungspotenzial ist,
das sie mitbringen, desto mehr Geld muss die Kommune dafür
aufwenden. Hier gibt es leider ein großes Ungleichgewicht. Der
Bund sollte dafür sorgen, dass der Arbeitsmarkt stärker für niedrig Qualifizierte offen ist, sodass wie am
Anfang der Zuwanderung in den 1960er- und
1970er-Jahren jeder Migrant die Chance hat
zu arbeiten und dass es auch eine wirtschaftliche Notwendigkeit gibt, den Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit zu
verdienen. Die gibt es ja in Deutschland gar
nicht, anders als in den klassischen Einwanderungsländern. Vernetzung und Bündelung
haben wir fast überall, in fast allen Projekten
auf der kommunalen Ebene, wenn etwa die
Kita zusammenarbeitet mit der Kirche und
mit dem Elternverein usw., da könnte man
hunderte von Projekten nennen. All das ist
gut und richtig, bloß ist es nicht das Entscheidende, um Integration durch Bildung
und auf dem Arbeitsmarkt voranzubringen.
Aus meiner Sicht muss die Schule nicht nur
Die zentrale Bedeutung der Schule als Lernort für viele der Kinder mit Migrationshinterfür die Kinder zuständig sein, sondern auch
grund unterstrich die langjährige Berliner Ausländerbeauftragte Barbara John (links im Bild
für Eltern. In Einwanderungsländern gibt es
neben Dr. Michael Griesbeck und Professor Ewald Kiel).
die so genannten Magnetschulen, wo eben
nicht nur die Kinder hingehen, sondern auch
die Mütter. Da gibt es Beratung und berufliche Fortbildung. Das heißt, wir brauchen Einrichtungen, wo nie Aramäisch gelernt haben. Das hat die Schule nicht weitersehr viele gleichzeitig beratend und lernend bedient werden entwickelt, und doch ist gerade diese Gruppe besonders gut an
können. Das scheitert in Deutschland an der Zuständigkeit der den Gymnasien vertreten, weil Sprachlichkeit in aramäischen
Ämter. Schule und Jugend sind ja bereits vollkommen getrennte Familien und in dieser Religion, wie oft auch bei den Juden, eine
Behörden, die sich scheuen, miteinander zu arbeiten. Aber wenn ganz große Rolle spielt, z. B. durch frühe Begegnung mit der
sie nicht zusammenarbeiten, dann werden wir gerade in den Schriftsprache. Schauen Sie sich einmal das Leben eines drei-,
Ballungsgebieten die Menschen nicht dorthin bekommen. Es vierjährigen Kindes bei uns in einer türkischen Familie an: wenn
gibt durchaus Beispiele, wo das wunderbar funktioniert, wo der Fernseher dort nicht mit einem türkischen Programm läuft,
Eltern in die Schule kommen, um selbst zu lernen und diese dann ist er nicht ausgeschaltet, dann ist er kaputt. Der FernseSchulen beruflich qualifiziert wieder zu verlassen. Das alles ist her läuft eben immer. Und wenn schulpflichtige Kinder am
hier im Entstehen, aber es sind ganz kleine Pflänzchen, die nur Nachmittag die Schule verlassen, wo sie drei, vier Stunden
keimen. Gerade dort, wo die Kinder heute ohne Deutschkennt- etwas Deutsch gelernt haben, dann treten sie wieder in dieses
nisse in die Schule kommen, weil sie auf ungesteuertem Wege eingeschränkte Sprachmilieu ein. Wir wissen inzwischen aus der
gar nicht mehr Deutsch lernen können, weil keine deutschen Forschung, dass der Fernseher kein idealer Sprachlehrer ist, weil
Kinder mehr als Spielpartner da sind, dort müssen die Schulen Bild und Akustik sehr gedrängt sind und das Kind keine Regeln
am besten sein, dort müssen Gemeindezentren entstehen und daraus abstrahieren kann. Das bedeutet, wir müssen jede Chanausgebaut werden, da müssen sich diese Zuständigkeitslähmun- ce nutzen, dem Kind in seiner aufnahmefähigen Zeit so viel
gen, die wir haben, endlich auflösen.
Deutsch wie möglich beizubringen, und das geht nur in der
Schule, wo denn sonst? Im Milieu, zu Hause, auf der Straße sind
Es gibt in Berlin als einzigem Bundesland 18 staatliche Europa- keine deutschsprachigen Kinder mehr. Das ist die Realität in
schulen, wo vom Kindergarten bis zum Abitur zweisprachig unseren städtischen Zentren. Das ist genauso in Sydney, in New
gelernt werden kann. Eine ganz ideale Einrichtung, die teurer ist York, in Paris und auch in Amsterdam. Wenn wir diese Chance
als eine normale Schule, die aber ganz wichtig ist. Dennoch ist nicht wahrnehmen, dann können diese Kinder die Sprache nicht
es nicht möglich, das für alle Kinder zu machen. Nicht nur aus lernen.
finanziellen Gründen, sondern weil die Kinder, die in diese Schule gehen, auch zu Hause zweisprachig gefördert werden und Gute Vermittlung der deutschen Sprache müssen wir mit aller
trotzdem viele die Schule verlassen, weil es für sie zu anstren- Konsequenz durchführen, dafür brauchen wir gut ausgebildete
141
Vermittler, für die es allerdings im Kindergartenbereich noch gar
keine Ausbildung gibt. Da müssen viele Dinge logistisch nachgeholt werden. Wir müssen auch wegkommen von dieser irrigen
Ansicht, dass das Kind überhaupt nur Deutsch lernen kann,
wenn es vorher die Muttersprache gelernt hat. Das hat mit der
Wertschätzung weiterer Sprachen oder der Muttersprache gar
nichts zu tun. Selbstverständlich sollen und können diese Kinder
auch ihre Muttersprache lernen. Wunderbar, wenn das so ist,
aber sie müssen so viel Deutsch wie wie nötig lernen und so viel
Muttersprache. Ebenso wie sie von der Muttersprache Gelerntes
auf die Zweitsprache übertragen können, so können Sie auch
sprachliches Vorwissen von der Zweitsprache auf die Muttersprache übertragen. Auch das ist linguistisch gesichert.
STATEMENT
Ewald Kiel
Integration – die alltägliche Unreflektiertheit eines Begriffs
Wenn im Zusammenhang der Entscheidung von Eltern, Lehrern
und Schülern an einer Schule mit hohem Ausländeranteil, ausschließlich Deutsch zu sprechen, von einer „brutalen“ Integration gesprochen wird, handelt es sich um einen unreflektierten
Umgang mit einem alltäglichen Begriff – dem Begriff der „Integration“. Es wird übersehen, dass die Frage, wie Ausländer sich
in der Bundesrepublik verhalten und ihr Leben führen, einerseits abhängig ist von ihren Entscheidungen, dies auf eine
bestimmte Art und Weise zu tun, und andererseits von den
Möglichkeiten, welche die Gesellschaft ihnen bietet, mit solchen Entscheidungen umzugehen. Systematisiert man diese
Entscheidungen, ergibt sich nach Berry folgendes Bild:
Aufrechterhaltung
der kulturellen
Herkunftsidentität?
ja!
Beziehungen zur
Gastkultur?
ja!
Integration
Beziehungen zur
Gastkultur?
nein!
Separation
Sprache ist in diesem Zusammenhang sicherlich von einer herausragenden Bedeutung. Es darf aber nicht übersehen werden,
dass einfache monokausale Gleichungen wie: Sprachförderung
führe unweigerlich zu besserer Integration oder Assimilation,
unsinnig sind. Die Akkulturationstheorie hat empirisch gut herausgearbeitet, dass Sprachförderung Beziehungen zur Gastkultur fördert und umgekehrt Beziehungen zur Gastkultur in
Arbeitsverhältnissen, Sportvereinen etc. natürlich ebenso die
Sprachkompetenz fördern. Es handelt sich um einen interdependenten Zusammenhang.
Schule ist auf Integrationsförderung von Migranten nur unzureichend vorbereitet. Lehrerinnen und Lehrer erwerben in ihrer
Ausbildung kaum interkulturelle Kompetenzen. Problematisch
ist bisweilen eine kompensatorische, am Defizit orientierte
Pädagogik, welche Kultur und Sprache von Migranten nur unzureichend würdigt. Andererseits sind Migrantenkinder und ihre
Eltern nicht auf die Besonderheiten des deutschen Schulsystems vorbereitet – z. B. nicht auf die partizipativen Ansprüche,
die etwa an Eltern gerichtet werden. Das eine erfordert Ausbildungsveränderungen, das andere erhöhte
Beratungsangebote und so genannte „niederschwellige“ Angebote an Eltern, mit der
Aufrechterhaltung
Schule in Kontakt zu treten.
der kulturellen
Herkunftsidentität?
nein!
Schaut man auf die Bevölkerungsstatistik,
werden die Defizite des bundesdeutschen
Systems sichtbar. Bei einem Ausländeranteil
Assimilation
von knapp 9 Prozent gehen nur ca. 4 Prozent auf das Gymnasium, aber knapp 19 Prozent aller Ausländerkinder sind Hauptschüler und ca. 16 Prozent sind auf der
Marginalisierung
Sonderschule. Der Handlungsbedarf ist
offensichtlich.
Migranten können sich entscheiden, Beziehungen zu ihrer
Gastkultur aufzunehmen und gleichzeitig ihre Herkunftsidentität aufrechtzuerhalten. Sie bemühen sich mit anderen Worten
um Bikulturalismus. Dann liegt „Integration“ vor. Lehnen sie
ihre Herkunftskultur ab, um in der Gastkultur aufzugehen,
spricht Berry von „Assimilation“. Werden Beziehungen zur Gastkultur eher abgelehnt und wird versucht, die Herkunftskultur
142
im Gastland zu leben, kommt es zur „Separation“. Diese geht
bei größeren Einwanderergruppen häufig einher mit Ghettobildung – man denke etwa an die verschiedenen Chinatowns in
amerikanischen Großstädten. Kommt es – aus welchen Gründen
auch immer – zur Ablehnung von Herkunfts- und Gastkultur,
erfolgt meist eine Marginalisierung. Integration und Assimilation erfordern gute Kompetenz in der Sprache der Gastkultur
bzw. auch in der Herkunftskultur. Hingegen werden Sprachförderungsprogramme bei denjenigen, deren Entscheidung dahin
geht, keine Beziehung zur Gastkultur aufzunehmen und lieber
– auch im fremden Land – im eigenen kulturellen Kontext zu
leben, auf wenig Interesse stoßen.
STATEMENT
Rita Süßmuth
Wir befinden uns in einer Situation, in der das Thema Integration intensiv und kontrovers diskutiert wird. Für diese aktuelle
Debatte gibt es positive und negative Gründe, die mit der PISA-
John/Kiel/Süßmuth/Griesbeck: Sprachförderung und Integration
Foto: VdS Bildungsmedien
Studie begonnen haben Die Debatte hat sich immens verschärft zialen Brennpunkten an Lernfortschritten entwickeln, wenn sie
aufgrund der Auseinandersetzung über den Einfluss muslimi- zugleich über Musik, Rhythmik, Theaterspielen und andere kulscher Migranten in der Bundesrepublik. Als negativ ist die weit turelle Aktivitäten erfahren, dass sie auch etwas können. Von
gehende Gleichsetzung von Islam mit Fundamentalismus zu daher haben wir in den letzten zwei Jahren vielleicht mehr
bezeichnen. Positiv ist zu bewerten, dass wir uns endlich um gelernt als in den vergangenen zwanzig Jahren. Ich möchte hier
Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Migrationshinter- jedoch besonders betonen, dass das, was ich zum Teil an pergrund kümmern, die seit Langem bei uns leben, und mehr in sönlicher Initiative von jüngeren und älteren Lehrkräften erleErfahrung bringen, mit wem wir in unseren
Städten zusammenleben. Denn wir haben
mehr Vorurteile als Kenntnisse. Wir werden
zurzeit konfrontiert mit den Folgen einer
jahrelangen Nichtintegrationspolitik, denn
das, was in Deutschland geleistet worden ist,
verdanken wir weit gehend den Initiatoren
der Zivilgesellschaft mit ihren Integrationshilfen im kirchlichen, im Vereins- sowie im
Nachbarschaftsbereich. Eigentlich ist beeindruckend, was bei jahrelanger Vernachlässigung von Migranten nach dem Grundsatz:
„Die gehen ja doch alle wieder nach Hause“
dennoch geleistet worden ist. Hier auf dem
Podium ist sicherlich, wenn ich an Barbara
John denke, jemand, der diese Aufgabe lange
vor einem Zuwanderungs- und Integrationsgesetz in einer Weise betrieben hat, dass
auch Migranten und Migrantinnen, die bei
„Über den Sozialkontakt wächst auch das Interesse, sich sprachlich zu artikulieren“ –
uns leben, Vertrauen fassten, dass sie hier
Rita Süßmuth (im Bild rechts neben Moderatorin Yvonne Globert von der „Frankfurter
ein Stück Zugehörigkeit entwickeln konnten.
Rundschau“) konnte auf Erfolg versprechende Beispiele verweisen.
An die Schulen wird die Anforderung gestellt,
das aufzufangen, was die Eltern nicht leisten
können. Doch dies stellt sehr häufig eine Überforderung der be, in der Öffentlichkeit überhaupt nicht vorkommt. In unseren
Schulen dar, wenn Sie an den teilweise sehr hohen Anteil von Schulen tut sich weit mehr, als wir draußen wahrnehmen.
Kindern mit Migrationshintergrund in einer Schulklasse den- Wenn dem wenigstens durch Förderung entsprochen würde,
ken. Wenn Sie in einer Klasse 15 Nationen haben, zwischen 50 wenn zum Beispiel für solche Veranstaltungen wie die „didacta“
und 90 Prozent Kinder mit Migrationshintergrund, dann brau- eine Freistellung erfolgte, würden wir auch motiviertere Lehrchen Sie sehr viele Kenntnisse über individualisierendes Lernen. kräfte zurückbekommen.
Es gibt kaum Schulen und Hochschulen, die das vermitteln können. In einem Land, in dem Lehrerbildung und -fortbildung so Einen Problembereich muss ich noch einmal vertieft anfassen.
wenig qualifizieren für das, was von der Profession erwartet Die Argumentation, Mittelschichtskinder reüssieren, haben
wird, müssen wir zunächst einmal in diesem Bereich Wichtiges Erfolg, die anderen nicht, weil sie entweder zurückwollen oder
verändern. Wenn Sie sich umschauen in den erfolgreichen Län- keine Motivation zur Anstrengung haben, ist mir zu eng
dern, dann gibt es dort überall Sondermaßnahmen. Nehmen wir gefasst. Hier muss ich aus Erfahrung sagen, dass es unter den
ein Land wie Kanada, wo schon die Einwanderungspolitik so genannten Bildungsfernen viele Kinder gibt, die lernen wolanders aussieht. Dort geht man gezielt an schulische Integra- len, die auch erfolgreich sein könnten, wenn sie mehr Fördetion heran. Viele Schulen unterrichten diese Schülerinnen und rung erführen. Wenn ich in der politischen Debatte höre, die
Schüler zunächst acht Monate getrennt von den anderen mit Eltern müssten eben auch wollen und müssten das zu Hause
sehr qualifiziert ausgebildeten Lehrkräften, und dann werden leisten, und auf der anderen Seite anschließe an das, was Frau
sie integriert. Andere Länder schaffen kleine Schülergruppen John gesagt hat, dass Eltern oft gar nicht die Voraussetzungen
mit individualisierenden Lernprozessen.
mitbringen, ihre Kinder fördern zu können, dann ist das ein
sinnloser Appell an das Elternhaus. Der Befund, der sich immer
Sprache ist wichtig, aber ich vermisse in der aktuellen Diskus- wiederholt, dass in Deutschland die soziale Herkunft über den
sion, wie entscheidend es ist, dass Schüler soziale Kontakte Bildungsweg eines Kindes entscheidet, muss uns doch endlich
haben oder Gelegenheit erhalten, nicht nur am Vormittag auf die Frage bringen, wie wir Schule, Kindergarten und die
Deutsch zu sprechen. Ich engagiere mich seit Längerem im Zusammenarbeit mit Eltern neu organisieren müssen, damit
musischen Bereich. Sie glauben gar nicht, was Kinder aus so- diese Kinder eine Chance bekommen.
143
Es gibt ein erhebliches Potenzial, übrigens auch bei den Hauptschülern. Und wir haben herausgefunden, dass diejenigen, die
keinen Schulabschluss haben, sich im Intelligenzquotienten oft
nicht von der Normalpopulation unterscheiden. Sie sind nur
durch soziale und psychosoziale Barrieren am Lernen gehindert.
Bei den Barrieren ist anzusetzen! Was blockiert sie? Zunächst ist
die Einstellung des Pädagogen entscheidend, z. B. sein Zutrauen, das er in die Lernfähigkeit der Kinder hat und in das, was
ein Kind bereits kann, wo seine Stärken liegen. Studien haben
uns deutlich gemacht, dass wir das Potenzial von 4 Prozent auf
dem Gymnasium mit geringer Unterstützung dieser jungen
Menschen auf 15 Prozent steigern könnten, denn viele werden
auf die Hauptschule verwiesen, obwohl sie lernfähig sind, weil
argumentiert wird, ohne Unterstützung von zu Hause könne es
keinen Lernerfolg geben.
Hier komme ich noch einmal auf das zurück, was Kinder bei
sozialen Aktivitäten, im Spiel, Tanz, beim Trommeln, beim Sport
erleben können. Über den Sozialkontakt wächst auch das Interesse, sich sprachlich zu artikulieren. Das ist ja keine Einbahnstraße. Natürlich geht vieles besser, wenn ich die Sprache kann,
aber ich brauche beides. Deswegen ist es mir ganz wichtig zu
sagen: Das Potenzial, ob bei deutschen Kindern oder Kindern
mit Migrationshintergrund, ist viel höher als das, was wir bislang ausschöpfen. Wenn es heißt, mehr als 20 Prozent seien
nicht ausbildungsfähig, dann müssen wir uns sagen, es liegt
nicht primär an der Intelligenz der Kinder, sondern an der Art,
wie in Deutschland Kinder und Jugendliche aufwachsen und
gefördert wie auch gefordert werden.
eine Erfolgsgeschichte, wie viele sich um diese Kurse bewerben. Wir dürfen nicht immer nur das halbleere Glas sehen. Wir
befinden uns, wie gesagt, in einem Lernprozess. Wenn ich
arbeitslos bleibe und trotz verschärfter Anstrengung keinen
Kontakt zur Arbeitswelt habe, dann bin ich weniger motiviert,
als wenn ich weitere Ziele sehe.
Positiv sind beispielsweise die Projekte von Hauptschulen in
Hamburg, Bremen und Bremerhaven. Da ist aus der Wirtschaft
bei zunächst völliger Ablehnung von Hauptschülern eine Initiative entwickelt worden, wie denn die Schulwirklichkeit und die
Perspektiven dieser jungen Menschen verändert werden können, sowohl für Deutsche als auch für Migrationskinder. Die
Einstellung lautete: Ungeachtet der Noten auf dem Zeugnis,
lasst die Leute zu uns in die Betriebe kommen. Inzwischen sind
es weit über 100 Betriebe und alle Hauptschulen Hamburgs, die
an diesem Projekt teilnehmen. Man gibt den Schülerinnen und
Schülern die Chance zum Praktikum, schaut, was sie können,
was sie an Stärken und Schwächen zeigen, meldet das an die
Schulen zurück, damit dort gezielt weiter gefördert werden
kann. Diese frühe Verbindung zur Praxis bringt erhebliche Erfolge. Im ersten Jahr war es vielleicht nur ein Anteil von 10 Prozent, der eine Lehrstelle bekam, dann waren es im zweiten und
dritten Jahr 20 Prozent, nun ist die Zielgröße 50 Prozent. Ich
kenne Bürgermeister von kleinen und mittleren Städten, inzwischen auch von Großstädten, die sich bewusst sind, dass die
Zukunft ihres Ortes von der jungen Generation abhängt, und
die aus diesem Grund die Lehrkräfte, die Jugendhilfe, die Wirtschaft, die Kirchen und Vereine zusammenbringen. Eine Stadt
„Hier komme ich noch einmal auf das zurück, was Kinder bei sozialen Aktivitäten, im Spiel,
Tanz, beim Trommeln, beim Sport erleben können. Über den Sozialkontakt wächst auch das
Interesse, sich sprachlich zu artikulieren. Das ist ja keine Einbahnstraße. Natürlich geht vieles
besser, wenn ich die Sprache kann, aber ich brauche beides. Deswegen ist es mir ganz wichtig
zu sagen: Das Potenzial, ob bei deutschen Kindern oder Kindern mit Migrationshintergrund,
ist viel höher als das, was wir bislang ausschöpfen.“
Natürlich ist es auch ein Problem, dass die finanziellen
Ressourcen nicht ausreichen, dass bei Bildung gespart wird.
Musischer Unterricht gilt in vielen Bundesländern immer noch
als ein Luxus, den wir nicht brauchen. Das ist scharf zu kritisieren. Eher fallen Stunden in diesem Bereich aus als im kognitiven. Wir entscheiden mehr nach den Anforderungen des Systems als nach den Rechten und den Möglichkeiten des Kindes.
Wir haben 2005 mit unserem Angebot von Sprachförderungskursen bei Erwachsenen angefangen. Und meine Erfahrungen
sind ähnlich wie die der Niederländer. Es gab einen Regierungswechsel, und dann hieß es, es sei alles gescheitert. Wenn
Sie nur zweieinhalb bis drei Jahre Zeit haben, dann können Sie
nicht erwarten, das alles schon Erfolgsgeschichten sind. Es ist
144
wie Arnsberg hat in drei Jahren den Anteil von Hauptschülern
ohne Schulabschluss um 50 Prozent gesenkt. Das sind doch
ermutigende Erfolge. Wenn sich das weiter verbreitet, dann
werden wir vielleicht auch begreifen, dass wir mehr in Bildung
investieren und eine Umstellung vornehmen müssen.
Ich möchte noch einmal zurückkommen auf den Teil der Eltern,
der sich nicht aktiv beteiligt. Unter ihnen gibt es viele Analphabeten. Wir vergessen völlig, dass wir Menschen aus Regionen angeworben haben, die Entwicklungsländer sind. Im Verhältnis dazu ist eigentlich erstaunlich, was sie erreicht haben.
Aber wenn ich selbst die Sprache nicht kann, entweder gar
nicht oder nur drei Jahre in der Schule war, dann habe ich eine
John/Kiel/Süßmuth/Griesbeck: Sprachförderung und Integration
solche Distanz, eine solche Unsicherheit gegenüber Schule, dass
wir für solche Fälle ganz andere Formen finden müssen.
Ich nenne Ihnen wieder Beispiele: Wir haben Stadtviertel beispielsweise in Köln, wo in sozialen Brennpunkten Kita, Familienbildung, Familienberatung, Jugendhilfe eng zusammenarbeiten. Wie kommen diese Erzieherinnen denn an die Eltern heran?
In aller Regel über die Kinder, indem die Kinder etwas vorführen, etwas machen, wodurch die Eltern motiviert werden zu
kommen, da die Kinder traurig wären, wenn die Eltern nicht
kämen. Eltern sind oft leichter für praktische Projekte zu
gewinnen, sei es bei Renovierungen in der Schule zu helfen
oder einen Garten anzulegen. Meine ersten Kontakte zu türkischen Frauen habe ich, als ich noch Frauenforschung betrieb, in
Schrebergärten geknüpft. Ich hatte nicht die Erwartung, dass
sie in die Bildungseinrichtungen kämen, sondern wir sind in die
Schrebergärten gegangen, wo sie Gemüse oder Blumen pflanzten. Heute werden die internationalen Gärten in Städten preisgekrönt. Dort sind wir mit ihnen in Kontakt gekommen, haben
dann gemeinsam gekocht und gegessen. Unterschätzen Sie
nicht die Bedeutung dieser sozialen Kontakte. Es ist etwas
anderes, ob ein Kind seine Eltern mit in den Kindergarten oder
in die Schule nimmt, um gemeinsam zu kochen, oder ob man
anstrebt, gemeinsam über bessere Erziehung zu sprechen. Auch
hier müssen die Barrieren erst einmal fallen, und dann entwickelt sich auch der Austausch über Erziehung.
STATEMENT
Michael Griesbeck
Wir sind mit der Integration ein großes Stück weitergekommen
dadurch, dass wir mit dem Zuwanderungsgesetz ein staatliches
Angebot von Integrationskursen haben. Sie werden sehr, sehr
gut angenommen. Im letzten Jahr hatten wir 215 000 Berechtigte, und in über 8000 Kursen waren über 115 000 Teilnehmer.
Interessant ist, dass sehr viele, mehr als die Hälfte der Teilnehmer, aus den Reihen derjenigen kamen, die schon länger hier
leben. Das zeigt, dass ein großer Integrationsbedarf bei denen,
die schon in Deutschland leben, vorhanden ist, aber auch ein
großes Interesse. Zwei Herausforderungen verbinden sich
damit. Wir müssen unser Augenmerk darauf richten, diese
Angebote zu optimieren und auszubauen. Zweites großes
Thema ist, dass der Fokus dabei nicht nur, wie auch Herr Kiel
gesagt hat, auf die Sprache gelenkt wird, sondern auch auf das,
was im Umfeld geschieht. Wir brauchen nicht nur die Integrationskurse, sondern auch eine Integrationskursumgebung. Wir
benötigen niederschwellige Angebote, in denen das Zusammenkommen von Deutschen und Neuzuwanderern, aber auch von
schon länger in Deutschland Lebenden gefördert wird. Sprachkompetenzerwerb sollte hineinführen in eine berufliche Integration. All das müssen wir stärker fördern, die begonnene Integration darf mit dem Abschluss des Integrationskurses nicht
abbrechen, weil sonst die erworbene Sprachkompetenz und das
Wissen um Deutschland wieder verloren gehen würde.
Damit die Integrationskurse einen möglichst spürbaren Effekt
haben, erwarten wir auch einiges von den Lehrkräften. Wir setzen voraus, dass jemand über einen Abschluss in Deutsch als
Zweitsprache oder Deutsch als Fremdsprache verfügt, wobei für
diejenigen, die früher diesen Unterricht gegeben haben und
diese Qualifikation nicht haben, eine Übergangsfrist bis 2010
vorgesehen ist, in der eine Zusatzqualifikation erworben werden kann. Dies betrifft ca. 5000 Lehrkräfte. Die Zusatzqualifikation kann bei renommierten Instituten, die vom Bundesamt
akkreditiert sind, zum Beispiel Goethe-Institut oder Internationaler Bund oder eben auch den Volkshochschulen, erworben
werden. Es liegt unseres Erachtens im Interesse derer, die die
Sprache lernen, dass eine Vertrautheit mit einer speziellen Art
von Pädagogik vorhanden ist. Grundsätzlich gilt, dass wir uns
nach meinem Dafürhalten in allen unseren Einrichtungen, nicht
nur in den Schulen und Kindergärten, sondern auch in den
Behörden, in den Regeldiensten der Wohlfahrtsverbände, in
den letzten Jahren zu wenig auf die interkulturelle Öffnung eingestellt haben, darauf, dass sich unsere Gesellschaft durch die
Zuwanderung verändert hat. Das Bewusstsein wächst allmählich, dies muss sich auch in der Ausbildung und in der Fortbildung niederschlagen. Ich würde mir in der Tat hier mehr
Initiativen wünschen. Ich bin allerdings froh über die kleinen
Schritte, die sich jetzt schon zeigen.
Ich bin mit Frau Süßmuth einer Meinung, dass der Anteil von
Migrantenkindern an den Gymnasien weitaus höher sein könnte. Dies wird allerdings nur dann geschehen können, wenn es
bei den Lehrern auch mehr Vertrauen in die Fähigkeiten der
Kinder gibt. Ich kenne aus meinem eigenen Bekanntenkreis
Fälle, bei denen Lehrer der Ansicht waren, dass ein Kind sich am
Gymnasium schwer tun würde. Es habe zwar gute Talente und
Fähigkeiten, aber die Eltern zu Hause könnten es nicht unterstützen, und dann wollte man es gar nicht erst versuchen.
Umgekehrt muss der Weg sein! Wir müssen die Potenziale fördern – und dabei auch die Eltern beraten und unterstützen.
Und damit bin ich beim zweiten Punkt. Wir als Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge sind für die Integration und die
Angebote für Erwachsene zuständig. Wir versuchen ganz bewusst, die Eltern anzusprechen, unsere Angebote den Eltern
nahe zu bringen, und zwar auch denjenigen, die mit dem deutschen Schulsystem nicht so vertraut sind, und denjenigen, die
in Gemeinschaften mit wenig Außenkontakt leben. Und wir
sind sehr stolz darauf, dass wir in unseren Kursen über 60 Prozent Frauen, darunter viele Mütter, haben, weil wir genau wissen, wie wichtig es ist, dass sie a) um unser Bildungssystem
wissen und b) auch die Kinder unterstützen können. Und das
müssen wir alle, Lehrer, Schulen, Gemeinden, noch verstärken:
bei den Eltern ansetzen und ihnen deutlich machen, wie wichtig Sprache für sie selber ist und wie wichtig Sprache für die
Kinder ist. Das Bundesamt ist mit den Mitteln, die uns vom
Gesetzgeber zur Verfügung gestellt worden sind, im ersten Jahr
gut ausgekommen, weil das System erst anlaufen musste, und
konnte daher viele fördern, die schon länger in Deutschland
leben. Wir sind der Meinung, dass diese Integrationskurse
145
sowohl diesen zur Verfügung stehen sollten, als auch denjenigen, die neu kommen, weil wir festgestellt haben, dass wir
einen sehr großen Effekt erzielen, wenn wir die Angebote auch
für diejenigen nutzbar machen, die schon da sind. Das Gesetz
legt hier allerdings eine Priorität für die Neuzuwanderer fest.
Die Frage der Bezahlung (rund 2 Euro pro Stunde pro Teilnehmer, Anm. d. Red.) ist eine wichtige Frage, aber keine, die
unmittelbar für den Kurserfolg ausschlaggebend ist. Man kann
lediglich argumentieren – und das versuchen wir gerade zu evaluieren –, ob sich dieser niedrige Stundensatz auf die Qualität
der Lehrer auswirkt. Die Frage, ob die von uns vorgesehene Zahl
an Unterrichtsstunden ausreicht, ist ein weiterer Punkt. In den
Niederlanden waren in einem ersten Anlauf ja wesentlich mehr
Stunden vorgesehen, der erhoffte Erfolg war allerdings ausgeblieben. Das hing mit der großen Drop-out-Quote zusammen,
d. h., die Leute sind einfach weggeblieben und nicht mehr aufgefangen worden, beispielsweise in Teilzeitkursen, wie wir das
vorsehen. Es ist klar, dass vieles noch verbessert werden kann,
und darum sind wir ja dabei, diese Kurse zu evaluieren. Wir
haben auch begonnen, den immer wieder genannten hohen
bürokratischen Aufwand zu minimieren. Der Aufwand ist bei
einer teilnehmerbezogenen Finanzierung ein anderer als bei
einer kursbezogenen. Das Entscheidende ist aber nicht die Zahl
reichen. Frau John hat völlig zu Recht gesagt, dass man hier
Brücken schaffen muss, Brücken zu anderen Maßnahmen, zu
anderen Möglichkeiten. Es sind insbesondere die Möglichkeiten, die von den Arbeitsagenturen angeboten werden und von
der BA, die in eine berufliche Qualifikation hineinführen, d. h.,
wir dürfen die Absolventinnen und Absolventen der Integrationskurse nicht alleine lassen nach der Prüfung oder nach dem
Kurs, sondern wir brauchen Verbundprojekte, die mit einem
Integrationskurs beginnen und dann in die berufliche Integration hineinführen, in deren Rahmen z. B. Fachterminologie beigebracht wird oder in denen beispielsweise all die Potenziale
ausgeschöpft werden, die die Zuwanderer mitbringen. Wir müssen weg von einem Defizitansatz. Stattdessen müssen wir
sehen, dass die Zuwanderer ja auch etwas mitbringen, das in
unserer Gesellschaft aktiviert werden kann. Und wenn es dazu
einer sprachlichen Nachqualifizierung bedarf, dann sollte man
das auch machen. Und es gibt spezielle Jugendintegrationskurse, an die eine Maßnahme anschließt, die bis zum Nachholen
des Hauptschulabschlusses führt. Dafür können wir sogar europäische Gelder in Anspruch nehmen.
Wir haben hier in Deutschland viele gute Angebote auf kommunaler Ebene, auf Länderebene, von der Zivilgesellschaft,
vom Bund. Doch die einzelnen Träger wissen häufig nicht,
„Wir als Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sind für die Integration und die Angebote für Erwachsene zuständig. Wir versuchen ganz bewusst, die Eltern anzusprechen, unsere
Angebote den Eltern nahe zu bringen, und zwar auch denjenigen, die mit dem deutschen
Schulsystem nicht so vertraut sind, und denjenigen, die in Gemeinschaften mit wenig
Außenkontakt leben. Und wir sind sehr stolz darauf, dass wir in unseren Kursen über 60
Prozent Frauen, darunter viele Mütter, haben, weil wir genau wissen, wie wichtig es ist,
dass sie a) um unser Bildungssystem wissen und b) auch die Kinder unterstützen können.“
der Formulare oder die Zahl der Stunden, sondern das, was in
dieser Zeit passiert. Wir haben nunmehr Standards, wir haben
Ziele, wir haben Tests, wir haben Lernzielkontrollen. All das hat
es in Deutschland früher nicht gegeben, es ist mit dem Integrationskurskonzept eingeführt worden, und ich denke, dass
wir mit unseren Integrationskursen auf einem guten Weg sind.
Ende 2005 hatten wir, wie gesagt, 115 000 Teilnehmer, von
denen ungefähr 25 000 diesen Kurs schon abgeschlossen
haben. Von ihnen sind 17 000 in die Prüfung gegangen, und
12 000 haben diese Prüfung bestanden, das ist mehr als der
Anteil von 10 Prozent, der hier ins Gespräch gebracht wurde,
aber immer noch zu wenig. Allerdings sagen auch manche Kursträger den Teilnehmenden, dass sie nicht gleich nach dem Kurs
in die Prüfung gehen müssten, sondern dass sie den Sprachkompetenzerwerb selbst noch vorantreiben könnten. Richtig ist
aber, dass nicht alle Teilnehmenden das erwähnte B1-Level er-
146
wie sie mit den anderen kommunizieren oder was sie anders
machen könnten, was die anderen überhaupt tun. Teilweise
gibt es auch bürokratische Hürden. Daher brauchen wir – und
darum ist die Kommune so wichtig – runde Tische, bei denen
die Beteiligten erkennen können, wie sie ihre Maßnahmen koppeln können. Bei den Frauen beispielsweise ist es ganz wichtig,
dass wir niederschwellige Angebote haben, um sie überhaupt
aus ihrer Community herauszuholen. Der Bund hat in den vergangenen Jahren jeweils ca. 2 Millionen Euro bereitgestellt, um
solche niederschwelligen Angebote für Frauen zu initiieren,
die es ihnen ermöglichen, im Kontakt mit anderen Frauen das
Gesundheitssystem oder auch das Bildungssystem kennen zu
lernen. Das muss weiter ausgebaut und gefördert werden, und
wir müssen dies auch beispielsweise mit den Integrationskursen koppeln. Es gibt spezielle Zielgruppenkurse, Elternkurse,
Frauenkurse, und wir müssen dahin kommen, dass wir die Frauen, die es nötig haben und die auch ihren Kindern bei deren
John/Kiel/Süßmuth/Griesbeck: Sprachförderung und Integration
Bildungskarriere beistehen müssen, in die Kurse hineinbekommen. Das bedeutet aber nicht – damit wäre der Lehrer dann
auch überfordert –, auf das einzelne Elternpaar zuzugehen,
sondern wir müssen stärker die Zusammenarbeit mit den
Migrantenselbstorganisationen nutzen, um Zugang zu dieser
Zielgruppe zu bekommen.
Noch einmal zu den sozialen Kontakten. Die Integrationskurse
sind so aufgebaut, dass der Erwerb von Sprachkompetenz im
Vordergrund steht. Durch eine ethnisch-heterogene Zusammenstellung soll erreicht werden, dass auch untereinander Deutsch
gesprochen wird. Selbstverständlich findet der Spracherwerb
nicht nur im Kursraum statt, sondern wir müssen auch Angebote bereitstellen, durch die Kontakte am Nachmittag durch
Straßenfeste, durch Projekte des Quartiermanagements, wie es
Frau Süßmuth schon dargelegt hat, gepflegt werden. Vielleicht
ein Beispiel noch. Wir finanzieren mit über 5 Millionen das
Programm Integration durch Sport, weil Sportvereine überaus
wichtig sind, um dieses Miteinander zu pflegen. Wir brauchen
mehr Kreativität, um gute Maßnahmen miteinander zu koppeln. Integration ist eine Querschnittsaufgabe, zu der viele
Kräfte der Gesellschaft beitragen können.
147
Nicht erst seit den Erkenntnissen der Hirnforschung ist bekannt, dass Kinder viel früher effektiv lernen können. Die Neuregelung des Übergangs von der Kindertagesstätte hin zur Grundschule ist daher
eines der wichtigsten Reformvorhaben der nächsten Jahre. Bildungspläne gibt es mittlerweile in fast
allen Bundesländern. Die hessische Kultusministerin KARIN WOLFF wurde eingeladen, um den hessischen Bildungs- und Erziehungsplan vorzustellen. Dieser ist zurzeit in der Erprobungsphase und gilt –
dies ist eine Besonderheit – vom Säuglingsalter bis zum 10-jährigen Schüler. Seine Erfahrungen bei der
Implementierung eines Bildungsplans für vorschulische Einrichtungen in Bayern präsentierte Professor
Dr. mult. WASSILIOS FTHENAKIS im Rahmen der Veranstaltung „BILDUNGSPLÄNE VON 0 BIS 10.
ÜBERGÄNGE KINDERGARTEN – SCHULE“.
Moderation: Katja Irle
Eine Veranstaltung der
Wassilios Fthenakis
Wassilios Fthenakis, Professor Dr., geb. 1937. 1958 Diplom in Pädagogik in Griechenland. 1967 Promotion
zum Dr. rer. nat. an der Ludwig-Maximilians-Universität München. 1968 dort Diplom in Psychologie, 1971
Promotion zum Dr. phil., 1986 Promotion zum Dr. rer. nat. habil. und Habilitation im Fach Sozialanthropologie (beides an der Fakultät für Biologie). 1975 bis Januar 2006 Direktor des Staatsinstituts für Frühpädagogik; 1987-2002 Professor für angewandte Entwicklungspsychologie und Familienforschung an der Universität
Augsburg. Seit 2002 ordentlicher Professor für Entwicklungspsychologie und Anthropologie an der Freien
Universität Bozen/Italien.
Karin Wolff
Karin Wolff, geb. 1959 in Darmstadt. Studium der Fächer Geschichte, Evangelische Theologie, Philosophie
und Ethnologie in Mainz und Marburg; 1984 Staatsexamen in Geschichte und Theologie. 1984-86
Referendariat, 1986-95 Studienrätin an der Edith-Stein-Schule in Darmstadt. Seit 1976 Mitglied der CDU,
seit 1995 Mitglied des hessischen Landtags. Seit 1992 Mitglied der Synode der Evangelischen Kirche in
Hessen-Nassau. Seit April 1999 hessische Kultusministerin. Seit 2003 stellvertretende Ministerpräsidentin
des Landes Hessen.
STATEMENT
Wassilios Fthenakis
Man kann heute in Bezug auf Bildungspläne häufig den Einwand hören, was wir bräuchten, sei eigentlich keine neue Theorie und auch keine Handlungsanweisung, sondern mehr Personal und eine bessere Ausstattung; die finanziellen Strukturen
und die Organisationsstrukturen seien noch nicht so, wie sie
sein sollten. Ich bin bei dem bayerischen Implementationsversuch eines Bildungsplans auf der Grundlage der Befragung und
Begleitung von hunderten von Einrichtungen zu einer völlig
anderen Einsicht gekommen.
148
Als Erstes sagen uns die Fachkräfte, dass sie einen solchen
Plan bejahen, ihn für notwendig halten, weil er ihnen einen
Orientierungsrahmen bietet, der hilft, das eigene Handeln
zu reflektieren, außerdem zu überprüfen, inwieweit es möglich ist, Bildung für Kinder auf hohem Niveau zu organisieren. Insofern gibt es auch im Feld eine enorme Akzeptanz
dieser Pläne.
Das Zweite ist genauso wichtig. Der Plan ist ein gutes
Instrument, um nach außen hin die Komplexität dessen zu
vermitteln, was wir an pädagogischer Bildungsarbeit in
unseren Einrichtungen leisten.
Die dritte Ebene, auf der die Erzieherinnen die Bildungspläne als Gewinn verbuchen, ist die Verständigung mit der
Familie. Wenn eine Familie heute auf sie zukommt und sehr
Fthenakis/Wolff: Bildungspläne von 0 bis 10
extreme Anforderungen stellt dahingehend, dass ihr Kind
nur auf die Grundschule vorzubereiten sei, statt die gesamte Entwicklung des Kindes zu sehen, dann bietet der Bildungsplan einen guten Rahmen der Verständigung zwischen
Familie und Einrichtung, weil sich die Diskussion dann
entlang dieses Bildungsplanes und dessen Anforderungen
gestalten lässt. Natürlich sagen die Fachkräfte auch, dass
die Umsetzung eines solchen Bildungsplans drei neue
Schwerpunkte im Hinblick auf Kompetenz und Rahmenbedingungen voraussetzt.
der Bildungsplan die Kompetenz der Fachkraft stärkt, fühlt sie
sich in ihrer pädagogischen Arbeit bestätigt, und das steigert
die Zufriedenheit der Fachkraft trotz bestehender Rahmenbedingungen. Dies ist kein Plädoyer gegen eine Verbesserung
der Rahmenbedingungen, es ist vielmehr eine interessante
Chance, die man auch nutzen sollte, weil die Zufriedenheit im
Beruf allein aus strukturellen Merkmalen nicht gewonnen werden kann. Wir müssen uns wirklich bereichern durch neue
Modelle, durch neue Inhalte, die uns in der Gruppe kompetent
machen.
„Wir sind mit Österreich, mit Malta und der Slowakischen Republik die einzigen vier Länder
in der EU, die die Erzieherausbildung auf einem formal niedrigen Niveau organisieren. Insofern ist es im Zuge der Harmonisierung von beruflicher Bildung vielleicht nicht mehr zu vermeiden, dass man sich Gedanken darüber macht, auf welchem Niveau, aber vor allem mit
welcher Qualität dieses Ausbildungsprofil gestaltet werden muss.“
1. Sie verlangen nach mehr Training, mehr Kompetenz in der
Beobachtung kindlicher Lernprozesse und deren Dokumentation. Deswegen werden Sie auch feststellen können, dass bei
dieser Messe das Thema Nummer 1 die Dokumentation von Bildungsprozessen ist.
2. Sie verlangen eine andere, bessere Ausbildung, die ihnen
hilft, auch theoretisch zu begründen, was sie an Bildungsarbeit
leisten.
3. Sie verlangen bessere Rahmenbedingungen in der Einrichtung. Wir hatten in Bayern die Rahmenbedingungen der Einrichtungen allerdings nicht geändert, hatten den Fachkräften
die zusätzliche Arbeit der Implementation des Plans aufgegeben. Drei Mal wurden umfassend Daten erhoben. Der interessante Nebeneffekt war, dass die Zufriedenheit der Fachkräfte
am Ende dieses Kindergartenjahres gestiegen war. Wenn also
Oft hört man die Kritik, die Erzieherinnen und Erzieher seien
zu schlecht bezahlt; die Kritik der anderen Seite ist, sie seien zu
schlecht ausgebildet. Im Raum steht eine Akademisierung der
Ausbildung, die die Qualität anheben soll. Ich glaube, dass wir
längst einen Reformbedarf auf dem Bereich der Qualifizierung
der Fachkräfte haben. Wir sind mit Österreich, mit Malta und
der Slowakischen Republik die einzigen vier Länder in der EU,
die die Erzieherausbildung auf einem formal niedrigen Niveau
organisieren. Insofern ist es im Zuge der Harmonisierung von
beruflicher Bildung vielleicht nicht mehr zu vermeiden, dass
man sich Gedanken darüber macht, auf welchem Niveau, aber
vor allem mit welcher Qualität dieses Ausbildungsprofil gestaltet werden muss. Ich habe selbst Modelle entwickelt, wie man
das machen könnte. Wir haben diese Modelle eingebettet in
Zeitpläne und Finanzpläne. Und ich bin der Auffassung, dass
149
Foto: VdS Bildungsmedien
wir dieses Thema nicht weiter hinausschieben sollten. Als ersten Schritt könnte ich mir
vorstellen, eine Akademisierung der Leitungen und aller Positionen, die darüber hinausgehen, ins Auge zu fassen. Und wir sollten
das verstärkt vorantreiben, was momentan
in der Bundesrepublik auf dem Weg ist, nämlich neue Ausbildungsgänge einzurichten.
Dabei lege ich zwar mehr Wert auf Qualität,
aber auch das Niveau spielt eine Rolle. Wenn
man einen neuen Ausbildungsgang mit Praxisbezug, mit guter theoretischer Ausbildung, mit guter Qualität verankern will,
würde sich dafür möglicherweise die Fachhochschule anbieten. Wenn man so etwas
plant, dauert es etwa 25 bis 30 Jahre, bis dieErfahrungen mit Bildungsplänen aus Bayern und Hessen kamen auf einer der letzten Veranser Transformationsprozess vom jetzigen
staltungen des diesjährigen „forum bildung“ zur Sprache.
Zustand bis zu einem höheren Ausbildungsniveau abgeschlossen ist. Insofern kann ich
nur dazu ermuntern, dass wir uns dieses Themas trotz der zusätzlichen finanziellen Belastungen allmählich eigentlich schon immer wussten: „Was Hänschen nicht lernt,
annehmen, weil dies Voraussetzung ist, um den Einrichtungen lernt Hans nimmermehr.“
angemessene Bildungsqualitäten zu moderieren und möglich
zu machen.
Es ist eine mittlerweile auch entwicklungspsychologisch, neurobiologisch sehr gut unterfütterte Erkenntnis, dass das, was in
Vielleicht noch ein Nachtrag, weshalb die ersten Jahre so wich- diesen ersten zehn Jahren geleistet wird, ein wunderbares Funtig sind. Wenn die neuen Bildungspläne nicht mehr Wissen ver- dament für das Leben ist, und das, was in den ersten zehn Jahmitteln sollen, sondern kindliche Entwicklung stärken und ren nicht geleistet oder nicht an Potenzialen entfaltet wird,
Kompetenzen von Kindern fördern, dann erscheint es sinnvoll, dementsprechend auch ein starkes Handicap für die weitere
in den ersten Jahren zu investieren, weil das die Zeit ist, wo Zukunft darstellt. Wir haben überlegt, welche Folgerungen –
sich die wichtigen Kompetenzen entwickeln und daher eine vom Kind her betrachtet – sich daraus ergeben. Dabei befinden
Investition dieser Art nicht nur angemessen, sondern auch zeit- wir uns in sehr guter Kooperation mit Herrn Professor Fthenalich und entwicklungsgemäß geradezu geboten ist. Es ist zwar kis. Es gab Vorarbeiten aus Bayern, die einen Teilzeitraum
nicht so, dass man danach nichts mehr lernen könnte, vielmehr beschrieben haben. Wir wollten aber die ersten beiden Bilnutzen wir die günstigste Phase der Entwicklung, in der sich dungseinrichtungen von der Geburt bis zum 10. Lebensjahr
Kompetenzen entwickeln, um das Kind maximal zu fördern, stärker zusammennehmen. Die Erprobung sollte sehr bewusst
und das steckt im Grunde genommen hinter dem Plan.
von Anfang an konzeptionell so laufen, dass jeweils mindestens
ein Kindergarten und mindestens eine Grundschule in die Partnerschaft eines Tandems eintreten. Dieser große Zeitraum war
zu dem Zeitpunkt, als wir uns dafür entschieden haben, zwischen den Ländern noch nicht Konsens. Trotzdem wollten wir
diesen Schritt wagen und neu bestimmen, worin die Aufgabe
der Eltern und der Lehrer bzw. Erzieher in den jeweiligen EinDer weite zeitliche Rahmen unseres hessischen Bildungsplans, richtungen besteht, um – von dort ausgehend – auch stärkere
der vom Säuglingsalter bis zum 10-jährigen Schüler reicht, ist Kooperationsstrukturen zu finden.
meiner Ansicht nach dasjenige, was diesen zunächst von Bildungsplänen anderer Länder unterscheidet. Diese Altersspanne Die Basis für die Arbeit in den Modellprojekten, wo Grundschubetrifft die beiden unterschiedlichen Bereiche Kindergarten len und Kindertageseinrichtungen in Tandems kooperieren, ist,
und Grundschule, in denen oftmals unterschiedliche Mentalitä- dass sich alle gegenseitig kennen. Das ist vielleicht banal und
ten herrschen und vielfach auch zwei Welten eines je unter- klingt auch banal, aber es ist nicht die Regel, dass die Personen,
schiedlichen Bildungs- und Erziehungsverständnisses aufeinan- die in diesen Einrichtungen arbeiten, sich gegenseitig kennen,
der stoßen. Dabei geht es aber nicht darum, welche Einrichtung dass sie versuchen, gemeinsame Fortbildungen zu organisieren,
sich wie definiert, möglichst noch in Abgrenzung zu oder in dass sie sich gemeinsame Schwerpunkte setzen, beispielsweise
bedingter Zusammenarbeit mit den Eltern, sondern es geht den Schwerpunkt Kommunikation, und dann die Methoden des
darum, dass wir in den Blick nehmen, worin das Potenzial von Lernens in den jeweiligen Einrichtungen und auch die BeraKindern in diesem frühen Lebensalter liegt, von dem wir tung, die Kooperation mit den Eltern darauf einstimmen.
STATEMENT
Karin Wolff
150
Fthenakis/Wolff: Bildungspläne von
Blindtext
0 bis 10
Ein Beispiel: Eine Schule sagt: Wir setzen uns gezielt den
Schwerpunkt Lesen, und wir nehmen das Geschehen im Kindergarten mit hinein. Der Kindergarten bestimmt für sich ebenfalls sehr bewusst: Wir bieten nicht nur Bildung und Betreuung
für die ersten beiden Kindergartenjahre und dann ein Vorschuljahr, sondern wir betrachten den Prozess des Lesenlernens als
einen nicht unterbrechbaren Prozess, der vom Vorlesen, der
Begegnung mit den Geschichten, in das selbst Lesenlernen
übergeht. Dann erfahren beispielsweise Kinder im Kindergarten
von Kindern der 2. Klasse, wie es ist, mittlerweile lesen und den
Kleinen auch etwas vorlesen zu können. Das sind Prozesse, die
sehr lebendig sind.
Wir müssen uns Rechenschaft darüber ablegen, was uns im
Kontext der frühkindlichen Bildung wichtig ist. Und hier steht
die Frage im Zentrum, wie wir Menschen qualifizieren, wie wir
ihnen inhaltliche Rahmenbedingungen geben, um das leisten
zu können, was wir alle sehr dringend brauchen. Das heißt
auch, dass wir eine solche Diskussion nicht damit überlagern
sollten, zu sagen, ein Veränderungsprozess, ein Umdenken
könne nur dann eintreten, wenn wir Strukturen und finanzielle Rahmenbedingungen verändern, wie es immer wieder gefordert wird. Sicherlich ist auch die finanzielle Gewichtung der Primarbildung, wie wir sie aufgrund der aktuellen Gehälter haben,
z.B. gegenüber der Bildung in den weiterführenden Schulen in
den Blick zu nehmen. Das muss man realistisch sehen. Wir
haben, glaube ich, alle erkannt, dass die Frage, welche Aufmerksamkeit wir der Art und Ausstattung der Aus- und Fortbildung zuwenden, eine ganz wesentliche Rolle spielt. Insofern
wird eine sukzessive Verlagerung in den Bereich der frühen Bildung gar nicht vermeidbar sein.
bildungsgänge in unterschiedlichen Ländern miteinander vergleichen. Ich führe diese Auseinandersetzung jedes Mal, wenn
mit internationalen Statistiken gearbeitet wird. Das, was in
anderen Ländern insgesamt eine Fachhochschul- oder Hochschulausbildung ist und was in Deutschland im Rahmen der
dualen Ausbildung oder in Fachschulen geleistet wird,
geschieht nach meiner Überzeugung in vielen Bereichen auf
gleichem Niveau, ist aber unterschiedlich verortet und deswegen international auch immer in einem Ungleichgewicht.
Wir haben im beruflichen Bereich einfach eine andere Form von
Ausbildung. Es würde mir sehr schwer fallen, grundsätzlich zu
fordern, die Ausbildung für Erzieherinnen müsse akademisiert
werden, weil wir die Frage meines Erachtens unter dem Aspekt
inhaltlicher Leistungsfähigkeit sehen müssen. Und weil natürlich damit die Frage verbunden ist, ob wir es grundsätzlich
Realschulabgängern, Abgängern der Schule mit einem mittleren
Abschluss, die sich in Deutschland für eine mit fünf Jahren sehr
lange Ausbildung bewerben – das ist in anderen Ländern auch
ganz anders –, nicht zutrauen, durch eine fundierte Ausbildung
zu einem guten Niveau in der Berufsausübung zu kommen. Ich
hätte in der Tat ganz gerne den Weg dahingehend geöffnet,
dass wir innerhalb der Kindertageseinrichtungen differenzieren, dass wir im Rahmen einer modernisierten Berufsausbildung Module bilden, dass wir aber auch die Kräfte, die sich auf
eine Leitungsaufgabe im Erziehungsbereich vorbereiten wollen,
an Fachhochschulen, an Berufsakademien oder ähnlichen Einrichtungen weiterqualifizieren. Es ist mein Ziel, dies zu einem
Berufsbaustein zu machen und den Fachkräften auf dieser
Grundlage die Leitung einer Einrichtung übertragen zu können.
Dagegen habe ich nichts einzuwenden. In einem anderen Punkt
würde ich nach Möglichkeit die Frage aber lieber nicht struktu-
„Es ist eine mittlerweile auch entwicklungspsychologisch, neurobiologisch sehr gut unterfütterte Erkenntnis, dass das, was in diesen ersten zehn Jahren geleistet wird, ein wunderbares
Fundament für das Leben ist, und das, was in den ersten zehn Jahren nicht geleistet oder
nicht an Potenzialen entfaltet wird, dementsprechend auch ein starkes Handicap für
die weitere Zukunft darstellt.“
Ich werde immer wieder gefragt, ob es für das Land Hessen ein
Modell sein könnte, die Leitungen von Kindertagesstätten mit
einer akademischen Ausbildung auszustatten und dann auch
entsprechend besser zu bezahlen. Doch ich bin grundsätzlich
misstrauisch gegenüber dieser formalisierten Diskussion. Sie ist
meines Erachtens formalisiert, weil wir nicht kompatible Aus-
rell, sondern vom Inhalt der Ausbildung her diskutieren. Und in
der Tat sind wir gerade dabei, die Erzieherinnenausbildung
durch neue Lehrpläne neu zu gestalten. Wir haben sie schon
umgestaltet auf Grundlage der Erprobung des Bildungs- und
Erziehungsplans, und bin ich mir sicher, dass dieser Prozess
auch künftig weitergehen wird.
151
„LERNKOMPETENZ STÄRKEN“ – Die Cornelsen Stiftung Lehren und Lernen startete 2005 den mit
15 000 Euro dotierten CORNELSEN FÖRDERPREIS ZUKUNFT SCHULE. Unter der Schirmherrschaft von
Günther Jauch suchte die Cornelsen Stiftung Unterrichtsprojekte, die die Entwicklung von Lernkompetenz fördern. Der Preis wird jährlich mit wechselndem Themenschwerpunkt ausgeschrieben. Er richtet
sich an Lehrkräfte und Referendare jeder Schulform. Die Lernkultur verändern und den Dialog zwischen Unterrichtspraxis und Schulforschung fördern: Das ist das Ziel des Wettbewerbs. Zum Thema
Lernkompetenz waren Unterrichtsmethoden gesucht, die aus der Zusammenarbeit mit Hochschulen,
Landes- oder Forschungsinstituten hervorgegangen sind und nachweisen können, die Lernkompetenzen
von Schülerinnen und Schülern zu stärken. Dabei sollten neue Impulse für den Unterricht gegeben und
Schülerinnen und Schüler zu einem kooperativen und problemorientierten Lernen befähigt werden.
Die Cornelsen Stiftung Lehren und Lernen
Fritz von Bernuth
Fritz von Bernuth, geb. 1942. Seit 1997 Geschäftsführer der Cornelsen Verlagsholding. Fritz von Bernuth
nahm nach dem Abitur eine Lehre als Verlagsbuchhändler auf. Nach Beendigung der Lehrzeit machte Fritz
von Bernuth Station beim Westermann Verlag, Karl Rauch Verlag und Otto Maier Verlag. 1986 kam er nach
Berlin und begann seine Arbeit beim Cornelsen Verlag. 1987-97 war er verlegerischer Geschäftsführer des
Cornelsen Verlags. Fritz von Bernuth ist Beiratsmitglied der Cornelsen Stiftung Lehren und Lernen.
Wolf-Rüdiger Feldmann
Wolf-Rüdiger Feldmann, geb. 1955, ist Geschäftsführer des Cornelsen Verlags für den Bereich Marketing.
Feldmann ist seit 1973 im Cornelsen Verlag und hatte ab 1984 verschiedene Vertriebsleiterfunktionen inne.
Seit 1993 ist er Prokurist für den Bereich Marketing und seit 1999 Marketingleiter des Verlages. Darüber
hinaus ist Feldmann stellvertretender Vorsitzender des VdS Bildungsmedien e. V. und ebenfalls im Beirat der
Cornelsen Stiftung Lehren und Lernen.
Hilbert Meyer
Hilbert Meyer, geb. 1941, ist seit 1975 Professor für Schulpädagogik an der Carl von Ossietzky Universität
Oldenburg mit den Schwerpunkten Allgemeine Didaktik (seit 1975), Unterrichtsmethodik (seit 1982) und
Schulentwicklung (seit 1992); 1994 Gründung der Forschungswerkstatt „Schule und LehrerInnenbildung“;
2000 Leiter des BLK-Modellversuchs „Lebenslanges Forschendes Lernen im Kooperationsverbund Schule,
Seminar und Universität“. Hilbert Meyer ist Autor zahlreicher Publikationen. Meyer ist Vorsitzender der
Jury Cornelsen Förderpreis Zukunft Schule.
152
„Zukunft Schule“ – Cornelsen Förderpreis 2005/2006
Blindtext
Die Cornelsen Stiftung Lehren und Lernen wurde 1978 von
Franz Cornelsen gegründet, um das Bildungssystem in Deutschland zu verbessern. Sie will den Dialog zwischen Unterrichtspraxis und Schulforschung fördern. Sie unterstützt Forschungsvorhaben und methodisch kontrollierte Projekte aus der Schule, den Hochschulen oder der Lehreraus- und -weiterbildung mit
jährlich rund 15 000 Euro. Die gemeinnützige Stiftung ist unter
dem Dach des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft
angesiedelt. Um die Erfahrungen und Kompetenzen von Lehrerinnen und Lehrern aus der Praxis in die bildungspolitischen
und wissenschaftlichen Anstrengungen zur Qualifizierung von
Unterricht einzubinden, schreibt die Stiftung jährlich den
Cornelsen Förderpreis Zukunft Schule aus.
Cornelsen Förderpreis Zukunft Schule
Die Cornelsen Stiftung Lehren und Lernen vergab auf der
„didacta – die Bildungsmesse“ 2006 erstmals den mit 15 000
Euro dotierten Cornelsen Förderpreis Zukunft Schule. Um den
Dialog zwischen Schulpraxis und Unterrichtsforschung anzuregen, waren Lehrerinnen und Lehrer aufgefordert, mit wissenschaftlichen Einrichtungen zusammenzuarbeiten. Aufgabe war
die Entwicklung und Förderung von Lernkompetenz. Aus 166
Einsendungen hat eine Jury aus führenden Bildungswissenschaftlern unter Vorsitz von Professor Dr. Hilbert Meyer vier
Preisträger aus Baden-Württemberg, Bayern und Hamburg
ermittelt. An dem Wettbewerb unter der Schirmherrschaft
von Günter Jauch beteiligten sich Grundschulen, Gymnasien,
Real- und Hauptschulen sowie Berufsschulen aus allen Bundesländern: Mit 25,6 Prozent der Einreichungen war NordrheinWestfalen das teilnahmestärkste Land; gefolgt von BadenWürttemberg und Bayern (beide 14 Prozent). Es gingen auch
zwei Wettbewerbsbeiträge von deutschsprachigen Schulen aus
Medellin/Kolumbien und Vaduz/Liechtenstein ein. Die am häufigsten vertretenen Schulformen waren Gymnasien (46,6 Prozent) und Gesamtschulen (13,5 Prozent). Neue Methoden zur
Förderung der Lernkompetenz wurden in allen Jahrgangsstufen
und mit breiter Medienvielfalt umgesetzt, wobei die Jahrgangsstufe 6 (11 Prozent) am häufigsten vertreten war. Das
Fächerspektrum reichte von Deutsch über Englisch, Mathematik und Naturwissenschaften bis hin zu Kunst, Musik oder
Sport. Die fächerübergreifenden Arbeiten stellten jedoch mit
33,3 Prozent den größten Anteil der eingereichten Arbeiten dar.
Lernkultur verändern und den Dialog mit Wissenschaftlern
suchen: Diese Anforderung des Wettbewerbs wurde von Lilo
Halbleib an der bayrischen Hauptschule Heuchelhof hervorragend umgesetzt. Sie erhält den mit 6000 Euro dotierten ersten
Preis. Die Jury ehrt damit ihr Projekt „Coltan-Stoffgeschichten“,
das vernetztes Denken und Medienkompetenz fördert. Für eine
jahrelange Entwicklungsarbeit des Projektunterrichts unter
Einsatz eines Portfolios werden Silvia Pfeifer und Joachim Kriebel vom Carl-Friedrich-Gauß-Gymnasium in Hockenheim
(Baden-Württemberg) mit dem zweiten Preis in Höhe von
4000 Euro ausgezeichnet. Herwig Sünnemann und Roland Susel
von der Gesamtschule Winterhude aus Hamburg überzeugten
die Jury mit einem altersgemischten Projektunterricht in den
Naturwissenschaften und erhalten 2000 Euro für den dritten
Platz. Der Sonderpreis für Referendarinnen und Referendare in
Höhe von 3000 Euro geht an Carmen Ellermann. Damit honoriert die Jury eine kreative Methodik, die Schülern die englische
Sprache spielerisch beibringt. Alle Projekte zeichnen sich durch
eine hohe didaktische Kreativität und intensive wissenschaftliche Begleitung aus.
Der Cornelsen Förderpreis Zukunft Schule wird künftig alle zwei
Jahre vergeben.
Die Aufgabenstellung 2007 lautet: „Vernetztes Lernen fördern“.
www.cornelsen.de/zukunft-schule
153
Die Jury
Prof. Susanne Bögeholz
Didaktik der Biologie
Georg-August-Universität Göttingen
Prof. Hilbert Meyer
Fachbereich Pädagogik
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Prof. Ilka Parchmann
Konzeptionelle Forschungs- und Entwicklungsarbeiten
für den Chemieunterricht der Sekundarstufen I und II
Universität Oldenburg
Prof. Annedore Prengel
Institut für Grundschulpädagogik
Universität Potsdam
Martin Spiewak
Redaktion Bildung/Erziehung
Die ZEIT
Prof. Heinz-Elmar Tenorth
Institut für Erziehungswissenschaften
Humboldt-Universität zu Berlin
Prof. Klaus-Jürgen Tillmann
Didaktik und Curriculumentwicklung
Universität Bielefeld
Die Laudatoren
Ilka Parchmann
Ilka Parchmann, Professor Dr., geb. 1969, studierte an der Universität Oldenburg Chemie und Biologie
für das Lehramt an Gymnasien. 1993 legte sie das 1. Staatsexamen ab und wurde 1997 im Arbeitskreis von
Prof. Dr. Walter Jansen promoviert. Nach einem Postdoc-Aufenthalt an der University of York (UK) absolvierte
sie ihr 2. Staatsexamen am Studienseminar in Wilhelmshaven. 1999 wechselte sie an das IPN in Kiel, wo sie
2002 nach Ablehnung eines Rufes an die FU Berlin eine Professur, verbunden mit der stellvertretenden Abteilungsleitung in der Didaktik der Chemie, übernahm. Seit September 2004 ist sie Professorin für Didaktik
der Chemie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.
Hilbert Meyer
Hilbert Meyer, geb. 1941, ist seit 1975 Professor für Schulpädagogik an der Carl von Ossietzky Universität
Oldenburg mit den Schwerpunkten Allgemeine Didaktik (seit 1975), Unterrichtsmethodik (seit 1982) und
Schulentwicklung (seit 1992); 1994 Gründung der Forschungswerkstatt „Schule und LehrerInnenbildung“;
2000 Leiter des BLK-Modellversuchs „Lebenslanges Forschendes Lernen im Kooperationsverbund Schule,
Seminar und Universität“. Hilbert Meyer ist Autor zahlreicher Publikationen. Meyer ist Vorsitzender der
Jury Cornelsen Förderpreis Zukunft Schule.
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„Zukunft Schule“ – Cornelsen Förderpreis 2005/2006
Blindtext
Witlof Vollstädt
Witlof Vollstädt, Professor Dr. Nach Berufsausbildung zum Industriekaufmann Abitur und Studium an der
PH Dresden. 1973-75 Lehrer für Physik und Mathematik; 1975 Promotion in Didaktik; seit 1975 in der Lehrerausbildung tätig. 1982 Habilitation in Pädagogik. 1986 Berufung zum ordentlichen Professor für Didaktik
an der PH Dresden. Ab 1992 Vertretungsprofessuren in Hamburg und Kassel. 1999 bis 2001 Wiss. Angestellter
an der Universität Kassel. Seit 2005 Dozent und Leiter der Abteilung Lehrerfortbildung am DIALOG-Institut
Dr. Kilian in Kassel.
Klaus-Jürgen Tillmann
Klaus-Jürgen Tillmann, Professor Dr. paed., geb. 1944. Hauptschullehrer im Ruhrgebiet, 1971-78 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Schulentwicklungsforschung in Dortmund; 1979-90 Professor für
schulische Sozialisation an der Universität Hamburg und 1991/92 Gründungsdirektor des „Pädagogischen
Landesinstituts Brandenburg“. Seit 1992 Universitätsprofessor für „Pädagogik und Didaktik der Sekundarschule“, seit 1994 zugleich Wissenschaftlicher Leiter der Laborschule in Bielefeld.
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Preisträger und Projekte
LAUDATIO zum 1. Preis
Ilka Parchmann
Ausgezeichnet wird das Projekt „Coltan-Stoffgeschichten“, das
von der Klasse M8 der Hauptschule Würzburg-Heuchelhof in
Kooperation mit dem Weltladen Würzburg und den Universitäten Würzburg und Augsburg in den Schuljahren 2004/2005 und
2005/2006 durchgeführt wurde.
Der Projekttitel verrät zunächst wohl nur wenigen, worum es
sich handelt. Tatsächlich hat die Klasse M8 aber ein Thema aufgegriffen, das mittlerweile fast alle angeht: Coltan ist ein Rohstoff, der hauptsächlich in Afrika abgebaut wird, um daraus das
Metall Tantal zu gewinnen, das wiederum ein wichtiger
Bestandteil in Handys ist. Woher genau kommt dieser Stoff, wie
und unter welchen Bedingungen wird er abgebaut, wer schlägt
den meisten Profit daraus? Diesen Fragen gingen die Schülerinnen und Schüler an der Hauptschule Würzburg-Heuchelhof in
diesem Projekt nach, wobei insbesondere die Bedingungen der
Arbeiter auf der einen Seite und die Profitmöglichkeiten durch
den Handel mit Coltan und Tantal auf der anderen Seite
beleuchtet wurden.
Das besonders Bemerkenswerte an diesem Projekt ist aber nicht
allein die bedeutsame Thematik, sondern mindestens ebenso
die Art und Weise, wie das Thema von der Schülergruppe aufbereitet und präsentiert wurde. Als Einstieg haben die Schülerinnen und Schüler zunächst eine Ausstellung im Weltladen
Würzburg besucht. Das Projekt wurde dann in Schülergruppen
weiter verfolgt und bearbeitet, wobei bei Bedarf Fachpersonen
auch von außerhalb der Schule einbezogen wurden. Zur Vorbereitung der Präsentationen wurde von den Schülerinnen und
Schülern sogar ein Rhetorikkurs besucht, der sicherlich nicht
nur für diese Projektarbeit gewinnbringend war. Entgegen
üblichen Projektarbeiten waren die Aktivitäten der Klasse M8
mit dieser Präsentation aber lange noch nicht abgeschlossen!
Als Transfer wurde zunächst eine weitere vergleichbare Problematik erschlossen. Im darauf folgenden Schuljahr wurden die
gewonnenen Erkenntnisse in fantasievolle Geschichten der
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„Coltan-Figur und ihrer Reise ins Handy“ überführt; das Erstellen dieser Stoffgeschichten-Leporellos hat sicherlich neben der
Kreativität auch die Schreibkompetenz der Schülerinnen und
Schüler gestärkt. Krönender Höhepunkt des Projekts war
schließlich die Ausstellung der Leporellos und die eigene Präsentation der Geschichten in Vorträgen an der Universität –
eine Erfahrung, die vermutlich nicht viele Schülerinnen und
Schüler der Hauptschule machen dürfen. Begleitet wurde diese
Arbeit durch eine Gruppe von Studierenden, die dabei vermutlich nicht nur die Arbeit der Schülerinnen und Schüler unterstützt hat, sondern auch ihrerseits vieles mit und von den
Schülerinnen und Schülern gelernt haben dürfte.
Abschließend ist hervorzuheben, dass das ausgezeichnete Coltan-Projekt keine „Eintagsfliege“ darstellt, sondern an eine
langjährige Arbeit der Hauptschule Würzburg-Heuchelhof
anknüpft. Auch in den Jahren davor zeichnete sich die Schule
durch ein hohes Engagement in verschiedenen Projekten aus,
in denen Schülerinnen und Schüler etwa mit Senioren
zusammengearbeitet oder Grundschülerinnen und Grundschüler
beim Lernen unterstützt haben.
Die Jury kommt daher übereinstimmend zu der Ansicht, dass
sich diese Schule auch durch das Coltan-Projekt in besonderem
Maße hervorgehoben hat und die Kooperation mit Universitäten und außerschulischen Lernorten in vielfältiger Weise und
unter großem Gewinn für alle Seiten umgesetzt wurde. Sie
zeichnet daher Frau Lilo Halbleib von der Hauptschule Würzburg-Heuchelhof mit dem 1. Preis aus.
Lilo Halbleib • Hauptschule Heuchelhof • Berner Straße 3
97084 Würzburg
Wettbewerbsbeitrag: Coltan-Stoffgeschichten –
Zusammenhänge erkennen und vernetzt denken
„Zukunft Schule“ – Cornelsen Förderpreis 2005/2006
LAUDATIO zum 2. Preis
Hilbert Meyer
Ein neues Schlagwort setzt sich in der Schulentwicklung durch:
„Portfolio-Arbeit“: vor fünf, sechs Jahren nur von Insidern
benutzt – heute ein pädagogischer Begriff mit Strahlkraft:
Junge Menschen sollen lernen, den eigenen Lernfortschritt
in einem „Portfolio“ zu dokumentieren.
Sie sollen sich daran gewöhnen, auch in der späteren
Berufsausbildung mit Portfolios zu arbeiten.
Und sie sollen ganz nebenbei lernen, das Lernen zu lernen,
also ihren Lernfortschritt zu beobachten, Lerndefizite selbst
zu erkennen und zukünftiges Lernen besser zu planen.
Das Carl-Friedrich-Gauß-Gymnasium in Hockenheim hat sich
auf den Weg gemacht und die seit Langem bekannte und vielerorts praktizierte Projektarbeit auf eine ausgesprochen kreative und erfolgreiche Art und Weise mit einem Portfolioprozess
verknüpft.
Ich fasse in sechs Punkten zusammen, was der Cornelsen-Jury
an der Arbeit des Gauß-Gymnasiums besonders gefallen hat.
1. Die Schülerinnen und Schüler des Gauß-Gymnasiums ent-
wickeln ihre Lernkompetenzen selbst:
Sie lernen, selbstständig zu recherchieren und zu präsentieren.
Sie erwerben Methoden- und Sozialkompetenz.
Und jene Schüler, die schon mehrfach ein Portfolio angelegt
haben, kommen zu erstaunlichen Leistungen.
2. Die Lehrerinnen und Lehrer dieser Schule helfen ihnen
dabei mit pfiffigen Methoden:
Sie führen „Peer-Beratungen“ der Schüler ein.
Sie lassen „Forschungsfragen“ bearbeiten, die wirklich Spaß
machen.
Sie fördern die Teamkompetenz und üben sich in der ungewohnten Rolle des Lernberaters.
Und sie nutzen ein Geheimrezept, das leider viel zu wenig
bekannt ist: Sie nehmen ihre Schüler ernst – als Fachleute
für das eigene Lernen.
3. Die Arbeit ist nachhaltig:
Die Jury hat besonders überzeugt, dass es sich beim PortfolioProzess des Gauß-Gymnasiums nicht um einen Schmetterling
handelt, der kurz vorbeigeflattert kam, sondern um eine jahrelange konsequente Entwicklungsarbeit, die auch im Jahr 2006
weitergeführt wird:
Die Portfolio-Arbeit ist zum festen Bestandteil des Schulcurriculums geworden.
Neue Kollegen bekommen ein Coaching-Angebot, um im
Teamteaching in die Portfolio-Arbeit eingeführt zu werden.
Die Schule ist aktives Mitglied im Netzwerk „Lebenslanges
Lernen“.
4. Der Arbeits- und Entwicklungsprozess der Schule ist auf-
wändig dokumentiert und gekonnt evaluiert:
Dafür spricht die Jury vor allem Frau Silvia Pfeifer besondere
Anerkennung aus.
5. Die Zusammenarbeit mit der Wissenschaft hat bestens
geklappt:
Die Schule ist nicht zum Zulieferbetrieb für wissenschaftliche Untersuchungen degradiert worden.
Es war genau umgekehrt: Die Schule hat sich etwas vorgenommen; und die Wissenschaftler haben die Rolle von „kritischen Freunden“ übernommen.
Anerkennung verdienen also auch die wissenschaftlichen
Begleiter von der Pädagogischen Hochschule Heidelberg:
Professor Dr. Michael Schallies, Dr. Thomas Häcker und Dr.
Jürgen Dumke.
6. Last, not least: Diese ganze mühevolle Arbeit hat den
Schülerinnen und Schülern, den Lehrerinnen und Lehrern dieser Schule auch noch Spaß gemacht!
Kurz und gut: Carl Friedrich Gauß, mein Göttinger Kollege, hätte
an dieser hochmodernen, interdisziplinär ausgerichteten Arbeit
sein Vergnügen gehabt. Die Jury war ebenfalls begeistert.
Stellvertretend für alle beteiligten Schülerinnen und Schüler,
Kolleginnen und Kollegen verleihen wir den 2. Preis des Cornelsen-Förderpreises Zukunft Schule an Frau Silvia Pfeifer, Lehrerin am Gauß-Gymnasium Hockenheim, und Herrn Studiendirektor Joachim Kriebel, stellvertretender Schulleiter dieser Schule.
Silvia Pfeifer • Joachim Kriebel • Carl-FriedrichGauß-Gymnasium • Schubertstraße • 68766 Hockenheim
Wettbewerbsbeitrag:
Portfolio-Prozess am Carl-Friedrich-Gauß-Gymnasium
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LAUDATIO zum 3. Preis
Witlof Vollstädt
Seit dem Schuljahr 2004/2005 gibt es an der Gesamtschule
Winterhude in Hamburg ein deutlich verändertes Konzept für
den naturwissenschaftlichen Unterricht in den Jahrgängen
8 bis 10. Die für die Fächer Biologie, Chemie und Physik zur Verfügung stehenden Unterrichtsstunden wurden gebündelt und
in zwei Bereiche aufgeteilt:
In 50 Prozent der Unterrichtszeit findet der naturwissenschaftliche Unterricht als fächerübergreifender Projektunterricht in altersgemischten Lerngruppen statt.
In der restlichen Zeit können fachspezifische Methoden und
Themenschwerpunkte im Epochenunterricht unter Anleitung der jeweiligen Fachkräfte bearbeitet werden.
Auf die weiteren Ergebnisse dieses Projektes dürfen wir zu
Recht gespannt sein. Die Jury wünscht den Akteuren weiterhin
viel Erfolg und verleiht im Rahmen des Wettbewerbs Cornelsen
Förderpreis Zukunft Schule den 3. Preis an Herwig Sünnemann
und Roland Susel von der Gesamtschule Winterhude in Hamburg.
Herwig Sünnemann • Roland Susel • Gesamtschule
Winterhude • Meerweinstraße 28 • 22303 Hamburg
Wettbewerbsbeitrag: Konzept Naturwissenschaften
an der Gesamtschule Winterhude
Foto: Cornelsen Verlag
Nach einer ersten Evaluation, der nach Meinung der Jury weitere differenziertere Evaluationen folgen sollten, begrüßen
etwa drei Viertel der Schülerinnen und Schüler diese Veränderungen, weil sie vor allem
gern mit anderen Altersgruppen zusammenarbeiten, sich
gegenseitig helfen und so voneinander lernen,
im Projektunterricht eigene Themenschwerpunkte setzen
und bearbeiten können,
selbstständiges Lernen als deutlich nachhaltiger erleben und
mit höherer Motivation bei der Sache sind und sich intensiv
mit naturwissenschaftlichen und technischen Fragestellungen beschäftigen.
Die Jury ist der Meinung, dass dieses Konzept nicht nur erfolgreiche Reformschulbemühungen, sondern auch die im Rahmen
nationaler und internationaler Vergleichsstudien geäußerte Kritik an den naturwissenschaftlichen Leistungen deutscher Schülerinnen und Schüler konstruktiv aufgreift. Im Kern geht es hier
um eine zielgerichtete und systematische Entwicklung und Förderung grundlegender Lernkompetenzen, vor allem um die
Selbstständigkeit und Motivation bei der Bearbeitung naturwissenschaftlicher Fragestellungen sowie um die Befähigung
der Schülerinnen und Schüler zum kooperativen, problemorientierten und nachhaltigen Lernen sowie zur Reflexion der Lernprozesse und -ergebnisse. Durch die enge Zusammenarbeit mit
dem Pädagogischen Landesinstitut und der Universität Hamburg kann die erforderliche wissenschaftliche Begleitung
gewährleistet werden.
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„Zukunft Schule“ – Cornelsen Förderpreis 2005/2006
LAUDATIO
zum Sonderpreis
für Referendarinnen und Referendare
Klaus-Jürgen Tillmann
Englischunterricht in einer 6. Hauptschulklasse in Mannheim –
mehr als zwei Drittel der Kinder stammen aus Migrantenfamilien. Unter diesen schwierigen Bedingungen entfaltet die
Referendarin Carmen Ellermann einen kreativen Unterricht,
der die Schülerinnen und Schüler in engagierte und vielfältige
Arbeit setzt. Der Ausgangspunkt ist die didaktische Überlegung, durch Materialien und Ereignisse reale Sprech- und
Schreibanlässe zu schaffen. Umgesetzt wird dies mit einer
neuen, einer originellen Idee: Drei ausgewählte Maskottchen
(die „Buddies“) werden per Post auf eine Weltreise geschickt
(„Travel Buddies“). Damit werden Freundschaften zu Schulklassen in anderen Ländern aufgebaut. Dies bedeutet, dass
man Päckchen mit „typisch deutschem“ Inhalt (Münzen,
Fotos etc.) versenden muss – und entsprechende Päckchen
aus dem Ausland erhält: Sprechanlässe, Schreibanlässe, Anstöße zu interkulturellem Lernen. Zugleich muss die Gruppe gut
kooperieren und gut organisieren, damit alles klappt.
Buddy“ stand in der Warteschlange beim Essen, besuchte den
Mannheimer Wasserturm, musste zum Zahnarzt. Und über
dies alles wurde in Englisch berichtet. Zugleich hing in der
Klasse eine große Weltkarte, um die Reisewege der Buddies zu
verfolgen – und daran jeweils Landeskunde-Unterricht anzuknüpfen.
Der erste Schritt der Realisierung dieses Projekts bestand
darin, über das Internet Partnerschulen in den USA, in Australien und in Japan zu finden. Carmen Ellermann fand neun
solcher Partnerschulen und musste diese von nun an koordinieren – als eine Art Weltzentrale der Buddy-Reisen. Das
Ganze entwickelte eine eigene Dynamik, weil auch die neun
Kooperationsschulen jeweils drei Buddies auf die Weltreise
schickten. Insgesamt waren also zwischen September und Dezember 2004 dreißig Buddies unterwegs. Carmen Ellermann
und die 6. Klasse beherbergten in dieser Zeit insgesamt neun
Buddies – vom Bongo-Tiger „Mr. Nelson“ aus den USA bis zum
weißen Bären „Magnum“ aus Japan.
Die Jury ist der Meinung, dass hier mit hoher didaktischer
Kreativität und großem Engagement das Lernen fachlicher
und überfachlicher Kompetenzen bei einer als schwierig geltenden Schülergruppe intensiv angeregt und anschließend kritisch evaluiert wurde. Dafür verleiht sie den Sonderpreis für
Referendarinnen und Referendare an Frau Carmen Ellermann für das Projekt „Learning English through a Travel
Buddy Project“.
Die Aktivitäten, die die Schülerinnen und Schüler der 6. Klasse daraufhin entfalteten, sind gut dokumentiert: Der „Travel
Carmen Ellermann hat dieses Projekt nicht nur angestoßen
und durchgeführt, sondern zugleich auch mit sozialwissenschaftlichen Verfahren evaluiert: Die Befragung in englischer
Sprache der Schülerinnen und Schüler in Mannheim und im
Ausland und die Befragung der kooperierenden Lehrkräfte
gibt Auskunft über die große Begeisterung der Kinder, verweist auf die umfassenden pädagogischen und organisatorischen Leistungen der Lehrkräfte – und macht zugleich einen
Hauptkritikpunkt der Schülerinnen und Schüler deutlich: „We
want Travel Buddy to stay longer!!!“
Carmen Ellermann • Johannes-Keppler-Ganztageshauptschule mit Werkrealschule in Mannheim •
68159 Mannheim
Wettbewerbsbeitrag: Travel-Buddy-Projekt
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