Blindtext - Verband Bildungsmedien
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Blindtext - Verband Bildungsmedien
2006 Von der Reform zum besseren Unterricht Beiträge und Diskussionen zur nachhaltigen Neuordnung von Lernprozessen Eine Dokumentation zum „forum bildung“ didacta – die Bildungsmesse 2006 Hannover, 20.2. bis 24.2.2006 Vorwort Blindtext „Work in progress“ – so lässt sich der derzeitige Arbeitsstand bei der Reform des deutschen Bildungswesens wohl am besten beschreiben. Einerseits sind neue Kernlehrpläne und Bildungsstandards eingeführt, die Schulinspektionen haben begonnen, innovative Formen und Inhalte der Lehrerfortbildung sind teilweise gefunden – andererseits hat die Evaluierung der eingeleiteten Reformen gerade erst begonnen, und schon werden neue Veränderungswünsche an das Bildungswesen herangetragen: Schule soll früher beginnen und – zumindest im Gymnasium – früher enden; Kindertagesstätten und Grundschulen sollen enger miteinander verbunden werden; mit der Frage nach der Zukunft der Hauptschulen ist eine neue Schulstrukturdebatte in Gang gebracht worden. Auch andere Themen sind noch nicht ausdiskutiert: Wie kann man den Übergang von der Schule in den Beruf erfolgreicher gestalten? Wie können Migrantenkinder besser gefördert werden? Wie muss die Lehrerbildung weiter professionalisiert werden? Wie selbstständig kann und darf Schule sein? Aus diesen Inhalten und Problembereichen bezog das diesjährige „forum bildung“, das Leitforum der „didacta – die Bildungsmesse“, seine Themen. Das Forum fand zwischen dem 20. und 24. Februar 2006 in Hannover statt, mit 20 Veranstaltungen und 41 Referentinnen und Referenten. Auf dem „forum bildung“ kamen erneut Bildungsspezialisten aus Schule und Verbänden, Verantwortung tragende Politiker und Minister, prominente Erziehungswissenschaftler und Lernforscher, Schulexperten aus dem In- und Ausland und ausgewiesene Lernmethodiker und Wissenschaftler aus der Lehrerfortbildung sowie den Universitäten zusammen. Sie stellten neue Konzepte und Ideen vor, präsentierten Lösungsansätze und diskutierten sie auf kontrovers besetzten Podien und immer auch mit dem Publikum. Allen Referenten des „forum bildung 2006“ gilt unser herzlicher Dank – für die Offenheit, mit der sie Positionen bezogen, für ihren Willen zum konstruktiven Dialog, für ihre Bereitschaft, auch selbstkritisch die eigene Meinung zu hinterfragen. Sie haben an erster Stelle dazu beigetragen, dass auf dem Forum der Stand der bildungspolitischen Reformen kompetent diskutiert und dem Besucher veranschaulicht werden konnte. Fünf Veranstaltungen des Forums entstanden in Kooperation mit „Focus Schule“, der „Frankfurter Rundschau“, „NDR Info“ und der „Hannoverschen Allgemeinen“. Es waren Veranstaltungen, die in besonderer Weise Brennpunktthemen, die Schule beschäftigen, thematisierten. Unser Dank gilt hier ganz persönlich Yvonne Globert, Ulrike Heckmann, Katja Irle, Jörg Kallmeyer und Gaby Miketta für die gelungenen Moderationen. Wir bedanken uns ebenso herzlich bei den beiden Chefmoderatoren des Forums, Peter Freese und Peter E. Kalb, die einfühlsam und mit Esprit auf die zahlreichen Referentinnen und Referenten eingingen. Sie brachten die Veranstaltungen gekonnt auf den jeweiligen Punkt – was ihnen besonders die Besucherinnen und Besucher dankten, die somit konkrete Aussagen vom „forum bildung“ mitnehmen konnten. Diese Dokumentation gibt alle Veranstaltungen wieder. Die Statements der Referentinnen und Referenten wurden vor der Veröffentlichung redaktionell bearbeitet. Damit erhält der Leser ein vollständiges Bild der Diskussionsreihe. Aus Platzgründen musste auf eine Wiedergabe der ebenfalls spannenden Diskussionsbeiträge der Besucher verzichtet werden. So bleibt uns abschließend zu hoffen, dass wir durch das „forum bildung“ wie durch diese Publikation den pädagogischen Reformprozess im wahrsten Sinne des Wortes anregend begleiten. VdS Bildungsmedien e.V. Andreas Baer – Rino Mikulic Frankfurt am Main, im September 2006 3 Impressum Herausgeber: VdS Bildungsmedien e. V. Zeppelinallee 33, 60325 Frankfurt am Main Verantwortlich: Andreas Baer Redaktion: Elke Habicht Gestaltung: Schommler Engel Klocke GbR, Frankfurt am Main Herstellung: NK Druck + Medien GmbH 4 Inhalt Blindtext Einleitung Peter Freese / Peter E. Kalb: „didacta – die Bildungsmesse Hannover 2006“ 6 Vorträge / Präsentationen Bernd Busemann: Bildung ist Zukunft – Zukunft der Bildung 10 Peter Struck: Schule aus der Sicht der Hirnforschung: Wie lernen Kinder mehr? 16 Hilbert Meyer: Merkmale guten Unterrichts – Empirische Befunde und didaktische Ratschläge 23 Heinz Klippert: Bildungsstandards umsetzen – aber wie? Anregungen zur schulinternen Arbeitsplanung 30 Christoph Selter: Leistungen feststellen, um Kinder zu fördern – Was bedeutet das für den Mathematikunterricht? 38 Heinz Klippert: Lehrerentlastung – Handlungsperspektiven für Schule und Unterricht 44 Dorothee Gaile: Lesen macht schlau – Neue Lesepraxis für weiterführende Schulen 51 Dieter Breithecker: Bewegte Kinder – schlaue Köpfe 56 Podien / Diskussionen Bernd Busemann / Ingrid Eckel / Karl-Heinz Klare / Ina Korter / Hans-Werner Schwarz: Wegweisend oder überhastet? Die Bildungspolitik in Niedersachsen 62 Armin Lohmann / Gitta Franke-Zöllmer / Rob L. Schouten / Hans-Jürgen Vogel: Eigenverantwortliche Schule mit externer Evaluation 72 Rainer Domisch / Eberhard Brandt: Wie lange gemeinsam lernen? Neue Erkenntnisse und neue Ansätze zu einer alten Streitfrage 80 Olaf Köller / Klaus-Jürgen Tillmann / Heinz-Peter Meidinger: Von den Bildungsstandards über neue Methoden der Leistungsmessung hin zu besserem Unterricht? 86 Ludwig Eckinger / Andrea Kiewel / Bernd Busemann / Barbara Loos: Schluss mit der Gängelei – warum Deutschland selbstständige Schulen braucht 94 Jan-Hendrik Olbertz / Thomas Rauschenbach / Engelbert Siebler / Jürgen Frank: Gerecht befähigen – Gemeinsame Verantwortung von Kirche, Schule und Gesellschaft 102 Klaus Böger / Albrecht Düsel / Wilfried Steinert / Ludwig Eckinger: „Fordern und Fördern“ – ein Paradigmenwechsel für alle Schulformen 110 Eva Schmoll / Werner Sacher / Ulrich Thöne / Hans-Jürgen Vogel: Elternhaus versagt – Schule repariert? 118 Ulrich Herrmann / Jan-Hendrik Olbertz / Andreas Schleicher: PISA, PISA, PISA – Welche Konsequenzen für Schule und Unterricht kann man wirklich ziehen? 128 Barbara John / Ewald Kiel / Rita Süßmuth / Michael Griesbeck: Durch Sprachförderung zur besseren Integration von Migrantenfamilien – Was können Schule und Erwachsenenbildung wirklich leisten? 138 Wassilios Fthenakis / Karin Wolff: „Bildungspläne von 0 bis 10. Übergänge Kindergarten – Schule“ 148 „Zukunft Schule“ – Verleihung des Cornelsen Förderpreises 152 5 Einleitung Peter Freese Peter Freese, Professor em. Dr. phil. Dr. h. c. mult., geb. 1939 in Bremen. Studium der Anglistik/Amerikanistik und Germanistik in Kiel, Heidelberg und Reading/GB. Nach Professuren in Kiel und Münster seit 1979 ordentlicher Professor für Amerikanistik an der Universität Paderborn. Zahlreiche Gastprofessuren in Großbritannien, Ungarn und den USA. 1993-96 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Amerikastudien, 2000-03 DFG-Fachgutachter für Amerikanistik. Ehrendoktor der Lock Haven University of Pennsylvania und der Universität Dortmund. Träger des Bundesverdienstkreuzes am Bande. Autor von zahlreichen Büchern und Aufsätzen. Peter E. Kalb Peter E. Kalb, geb. 1942. Ehemals Chefredakteur von „betrifft: erziehung“. Seit 1985 Verlagsleiter des pädagogischen Fachverlags Beltz, Redakteur der Zeitschrift „Pädagogik“. Vom 20. bis 24. Februar 2006 war Hannover mit der „didacta – die Bildungsmesse“ wieder einmal der Mittelpunkt der pädagogischen Welt in Deutschland. Über 70 000 Besucher trafen auf 749 Aussteller, und 98,3 Prozent der Messegäste waren – wie eine spätere Auswertung zeigte – Pädagogen aller Fachrichtungen. Natürlich kamen die meisten von ihnen aus der Institution jahre verlagert hat. Aussteller- und Besucherinteressen erwiesen sich also als identisch, und so überraschte es nicht, dass alle Beteiligten rückblickend sowohl die Quantität als auch die Qualität der Messe mit rundum großer Zufriedenheit bilanzierten. Wie schon bei den vorausgegangenen Bildungsmessen war das „forum bildung“ mit seinen zwanzig Veranstaltungen von Mon- Auf der „didacta – die Bildungsmesse“ greift das „forum bildung“ als Leitforum für den Ausbildungsbereich Schule traditionell die zentralen Themen der Bildungsdebatte auf. Schwerpunkt der insgesamt 20 Podiumsdiskussionen und Vorträge des Jahres 2006 war die Wirkung und Nachhaltigkeit des sich im Gang befindlichen Reformprozesses. Vorgestellt wurden konkrete Verbesserungen für Unterricht, Schulentwicklung und Methodik. Bildungspolitiker der höchsten Ebene aus vier Bundesländern, die profiliertesten Lernmethodiker und Schulentwickler sowie ausgewiesene Experten aus der Erziehungswissenschaft, der Lehrerbildung und der Bildungsverwalter und schließlich hochrangige Vertreter der Kirchen konnten für die Veranstaltungsreihe gewonnen werden. Diese – auch im Jahr 2006 teilweise unterstützt von Partnern aus den Medien – wurde mit bewährter Umsicht und Routine moderiert von PETER FREESE, Professor em. für Amerikanistik an der Universität Paderborn, und PETER E. KALB, Leiter des Beltz Verlags. Schule, und die Mehrzahl war erwartungsgemäß an Schulen des gastgebenden Bundeslandes tätig. Dass dabei besonders viele Lehrerinnen und Lehrer oder Referendarinnen und Referendare aus den Grundschulen die Messe besuchten, bestätigt einmal mehr, dass sich der Schwerpunkt der aktuellen Bildungsdiskussion von den Abschluss- auf die lange vernachlässigten Anfangs- 6 tagvormittag bis Freitagnachmittag wieder einer der Hauptanziehungspunkte der Bildungsmesse. Zu Diskussionen und Vorträgen trafen sich politisch Verantwortliche aus den Kultusministerien mit führenden Erziehungswissenschaftler(inne)n und prominenten Praktiker(inne)n. Die dabei sichtbar werdenden Reibungen, die zwischen Politik, Wissenschaft und Schule „didacta – die Bildungsmesse Hannover Blindtext 2006“ zwangsläufig entstehen, gaben den manchmal recht kontroversen Forumsveranstaltungen eine besonders abwechslungsreiche und informative Note. Traditionell wurde das Forum mit einem Vortrag des Kultusministers des gastgebenden Bundeslandes eröffnet, und die vielen Fragen und kritischen Anmerkungen, die Minister Busemann mit seinem Grundsatzbeitrag zum Stand der umfassenden Bildungsreform bei den zahlreich erschienenen niedersächsischen Lehrerinnen und Lehrern auslöste, zeigten, wie interessant es für die Messebesucher sein kann, einmal ‚ihren‘ Kultusminister live zu erleben – um dabei zu beobachten, wie er argumentiert und wie überzeugend er seine naturgemäß nicht unumstrittenen Thesen zu vertreten vermag. Solche direkten Begegnungen, die später dann auch mit dem Kultusminister des Landes Sach- Debatten in der Öffentlichkeit der Bundesrepublik, sondern es machte auch die Widersprüche erkennbar, die sich zwischen Sonntagsreden und Montagsentscheidungen auftun. So hat etwa der „PISA-Schock“, wie er bisweilen in der Presse genannt wird, hektische Reaktionen in allen Parteien ausgelöst, und es gibt keinen Bildungspolitiker, der nicht wortreich verkündet hätte, dass wir in die Köpfe unserer Kinder investieren müssen. Dass diese eigentlich unstrittige Erkenntnis noch nicht in die Bildungsetatplanungen aller Länder und Kommunen eingegangen ist, belegt z. B. die Entwicklung der staatlichen Ausgaben für Schulbücher und Unterrichtssoftware: Diese fielen nach Angaben des VdS Bildungsmedien 2005 in Deutschland von 244 Mio. Euro um 6,6 Prozent auf 228 Mio. Euro. Pro Schüler haben Länder und Kommunen demnach lediglich 20 Euro aufgewendet; 1991 waren es noch 34 Euro – ein Minus von 41 Prozent. „Zwar ist ersichtlich, dass es im Vergleich zur ersten PISA-Untersuchung einige Erfolge gibt, aber auch die besten Bundesländer sind im OECD-Vergleich noch immer nur Mittelmaß. Die Diskussion um erforderliche Veränderungen muss folglich breiter und grundlegender werden, und das wurde bei verschiedenen Veranstaltungen des ‚forum bildung‘ deutlich.“ sen-Anhalt, dem Berliner Senator für Bildung, Jugend und Sport und der Hessischen Kultusministerin möglich wurden, machten zweifellos einen besonderen Reiz der Veranstaltungen auf dem „forum bildung“ aus. Durch das Spektrum der Vorträge und Diskussionsrunden wurde während der Messewoche wieder genau das abgebildet, was die an Schule und Bildungspolitik, an Pädagogik und an den in Unterrichtsfächern abgebildeten Wissenschaften Interessierten das ganze Jahr über beschäftigt. Das Forum thematisierte nämlich nicht nur die wichtigsten Brennpunkte der gegenwärtigen Zweifellos ist es PISA zu verdanken, dass die Qualität von Schule in die öffentliche Diskussion geraten ist, und fraglos sind entsprechende Aktivitäten in allen Bundesländern erkennbar. Aber es bleibt die Frage, ob denn Veränderungen im Bildungssystem auf den Weg gebracht wurden, die tatsächlich zu Verbesserungen der Ergebnisse führen werden. Zwar ist ersichtlich, dass es im Vergleich zur ersten PISA-Untersuchung einige Erfolge gibt, aber auch die besten Bundesländer sind im OECDVergleich noch immer nur Mittelmaß. Die Diskussion um erforderliche Veränderungen muss folglich breiter und grundlegender werden, und das wurde bei verschiedenen Veranstaltungen des „forum bildung“ deutlich. Ein zentraler und stets umstrittener Aspekt solcher Überlegungen wurde auf einem Podium thematisiert, das sich mit der Frage beschäftigte, wie lange Schüler gemeinsam lernen sollen; ob eine lange gemeinsame Lernzeit gleichsam automatisch eine Qualitätsverbesserung mit sich bringt und ob wir endlich vor einer Lösung der alten Streitfrage stehen, welche die Diskussion schon seit der Reichsschulkonferenz Anfang der 1920er-Jahre begleitet. Zu dieser Frage waren die Ausführungen von Rainer Domisch vom Zentralamt für Unterrichtswesen in Helsinki besonders erhellend, weil er als ein in Baden-Württemberg ausgebildeter Lehrer, der nun als Beamter im finnischen Schulwesen tätig ist, Vergleichsmöglichkeiten hat, über die in der ansonsten wahrnehmbaren öffentlichen Diskussion niemand verfügt. Der aus intimer Kenntnis beider Bildungssysteme gewonnene Vergleich machte die offenen Fragen umso deutlicher sichtbar und ließ manchen Zuhörer einige der in Finnland praktizierten Lösungen mit Neid zur Kenntnis nehmen. 7 Einleitung Ein weiterer Aspekt, der im Gefolge der PISA-Untersuchungen in Deutschland nun intensiv diskutiert wird, ist die Frage nach allgemein akzeptierten Bildungsstandards sowie die Bewertung der ersten Ergebnisse, welche die entsprechenden Weichenstellungen gezeitigt haben. Die Besucher unseres Forums konnten in einer Diskussionsrunde mit dem Thema „Von den Bildungsstandards über neue Methoden der Leistungsmessung hin zu besserem Unterricht?“ aus erster Hand erfahren, was der Direktor des Berliner Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen, das den Prozess der Standardisierung begleiten gungen vermittelten. Auch Veranstaltungen mit schulpraktischen Diskussionsangeboten zur Förderung im Mathematikunterricht, zu neuen Ideen für eine innovative Lesepraxis oder zu Bewegungsangeboten, die in unserer heutigen Schule sowohl bei Schülerinnen und Schülern, aber auch bei Lehrerinnen und Lehrern zu kurz kommen, wurden von den Besuchern des Forums erfreut aufgenommen. Foto: Messe Hannover Zum guten Schluss ist eine Veranstaltung herauszuheben, die inhaltlich eine zentrale Stelle der künftigen Entwicklung im Bildungsbereich markiert: Nach PISA gibt es – in der Politik, der Wissenschaft und der Praxis – Konsens darüber, dass eine möglichst frühe Sprachförderung der Kinder einen Schlüssel für die spätere Schul- und Berufskarriere darstellt. Dass die Schule und die vermittelten Abschlüsse jeweils die soziale Herkunft der Kinder widerspiegeln (wie es PISA belegt), ist ein bedenkliches Zeichen für die Ungerechtigkeiten unseres Gesellschaftssystems. Alle Bildungseinrichtungen müssten sich folglich mehr anstrengen, diese Fehlentwicklung zu korrigieren. Hierzu gehören selbstverständlich auch die Kindergärten, und der Übergang von ihnen zur Grundschule sollte ein gleitender und barrierefreier Prozess sein. Anregungen für eine Neugestaltung dieses Prozesses gibt es bereits viele, und auf dem „forum bildung“ wurden sie in einer Diskussion der hessischen Kultusministerin Karin Wolff mit Pro„didacta – die Bildungsmesse“ vom 20. bis 24. Februar 2006 in Hannover. Fünf Tage lang war fessor Dr. Wassilios Fthenakis, dem Entwickdie Messe der zentrale Treffpunkt für Lehrer, Erzieher, Aus- und Weiterbilder. ler der Bildungspläne 0 bis 10, um bedenkenswerte Vorschläge erweitert. Genau hier dürfte wohl auch bei allen künftigen Debatund entsprechende Aufgaben entwickeln soll, zum Stand der ten ein Schwerpunkt liegen. Man wird dabei fragen müssen, ob Dinge mitzuteilen hatte. Anschließend gab es Gelegenheit, der Kindergarten ausreichende Möglichkeiten und eine entdarüber zu streiten, wie sich denn fortan länderspezifische sprechende Personalqualität hat, um in angemessener Weise Differenzen und bundesrepublikanische Standards miteinander mit den Kindern pädagogisch zu arbeiten, und ob er auch die vermitteln lassen. Hier bahnen sich interessante Entwicklungen erforderliche materielle Unterstützung findet. Hier ist eine an, und es war spannend, denjenigen zuzuhören, welche diesen große Aufbruchsbewegung spürbar, und einzelne Bundesländer Prozess betreiben. gehen bereits mit viel versprechenden Neuerungen voran (etwa mit einem kostenlosen – und nach Möglichkeit auch obligatoAuf dem „forum bildung“ 2006 gehörten natürlich auch diesmal rischen – letzten Kindergartenjahr). Es wird interessant sein, wieder jene Veranstaltungen zu den stark besuchten Höhe- die hier angelaufene Entwicklung zu überprüfen, und die nächspunkten, bei denen prominente Autoren wie Hilbert Meyer oder te Gelegenheit dazu bietet die „didacta – die Bildungsmesse“ Heinz Klippert konkrete schul- und unterrichtspraktische Anre- im Frühjahr 2007 in Köln. 8 „didacta – die Bildungsmesse Hannover Blindtext 2006“ 9 Einleitung/ Präsentationen Vorträge STATEMENT Bernd Busemann Bernd Busemann, geb. 1952. Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Köln. Erstes juristisches Staatsexamen 1979. Nach Referendariat beim OLG Oldenburg Zweites juristisches Staatsexamen 1982. Seit 1982 Rechtsanwalt, seit 1985 Notar. Mitglied der CDU seit 1971. Abgeordneter im Niedersächsischen Landtag seit 1994; Stellvertretender Vorsitzender der CDU-Landtagsfraktion seit 1998. Seit 2003 niedersächsischer Kultusminister. Meine Damen und Herren, wer sich daran macht, unser Bildungswesen grundlegend zu verbessern, kann dies nicht mit einem leichten und einfachen Rezept bewältigen. Neue Diskussionen um Schulstrukturen verbessern nicht die Qualität unseres Schulwesens. Das haben gerade wir Deutschen leidvoll erfahren. Mehr Geld allein schafft noch keine neue Qualität, so wichtig Geld natürlich in dem Zusammenhang ist. Das Schwierige an allen Reformen im Bildungswesen ist, dass wir sehr komplex vorgehen und mehrere Dinge zugleich tun müssen.Von 1. Keine Diskussion um Schulstrukturen, sondern Verbesserung der Qualität von Schule und Unterricht Wir Deutschen sind Weltmeister in der Diskussion von Schulstrukturen. Alle Reformdiskussionen, besonders in den 1960erJahren, waren bei uns vor allem Diskussionen um schulorganisatorische Fragen. Wie Lernen besser gelingt, bleibt meist dem Gespräch von Fachleuten überlassen. Wir möchten in Niedersachsen die Diskussion ausdrücklich nicht auf diese Weise führ- Mit einem Grundsatzbeitrag zum Stand der angelaufenen Bildungsreform in Niedersachsen und den weiteren Perspektiven des Reformprozesses eröffnete der niedersächsische Kultusminister BERND BUSEMANN das „forum bildung 2006“. Unter der Überschrift „BILUNG IST ZUKUNFT – ZUKUNFT DER BILDUNG“ skizzierte er in zehn Punkten seiner Zuhörerschaft, welche Maßnahmen in seinem Bundesland als Konsequenzen aus den Ergebnissen der PISA-Studien ergriffen werden: wie der gesetzlich vorgegebene Rahmen gestaltet, welche Initiativen zur Verbesserung der Qualität von Schule und Unterricht geplant oder in Arbeit sind und wie dabei vorgegangen wird. der überregulierten deutschen Schule müssen wir zu einer Schule gelangen, die ein lebendiger Organismus ist, die die Verantwortung für ihre Qualität selbst trägt und auch selbst tragen kann. Wir haben in Niedersachsen einen solchen grundsätzlich neuen Entwurf für unser Bildungswesens erarbeitet. Die Vorgängerregierung – das sage ich durchaus ohne parteipolitische Scheuklappen – hat ja schon einige grundsätzliche Überlegungen dazu angestellt. Ich will Ihnen das in zehn Punkten skizzieren. en. Wir haben vor drei Jahren die Orientierungsstufe abgeschafft, weil diese Schulform ihre Zustimmung verloren hatte; weitere Strukturveränderungen wird es für diese Landesregierung nicht geben. Wir möchten uns darauf konzentrieren, alle Schulen von der Grundschule bis zur Gesamtschule zu verbessern. Die innere Qualifizierung jeder Schule und jeder Schulform ist das eigentliche Ziel unseres politischen Handelns. Dabei ist mir durchaus bewusst, dass die meisten Länder ganz ähnliche Wege gehen. Mir kommt es in meinem Vortrag darauf an, Ihnen den inneren Zusammenhang der verschiedenen Schritte deutlich zu machen. Aus diesem Grund kann ich jeden Punkt nur sehr knapp umreißen, und ich bitte im Voraus um Nachsicht, dass ich dabei auch etwas allgemein bleiben werde. Wir haben uns in Niedersachsen wie viele andere Bundesländer für ein dreigliedriges Schulsystem entschieden. Das hat historische Gründe, es hat aber auch mit unserem Schulstandortangebot zu tun, das heißt mit der Situation eines Flächenlandes, mit der Machbarkeit und Erreichbarkeit von Schule. In Zeiten knappen Geldes geht es gar nicht anders, als im System des gegliederten Schulwesens zu verbleiben mit dem zusätzlichen Angebot von Gesamtschulen. Der Verbleib im gegliederten Schulsystem verlangt zugleich, dass unser Schulwesen besonders profiliert und qualifiziert wird. Wir haben diese Profi- Es ist mir wichtig, Ihnen das Ganze unserer Reform zu erläutern, denn ich bin sicher, dass auch für die Bildungsreform das Regelwort gilt, dass das Ganze die Wahrheit ist. 10 2. Jeden Bildungsweg qualifizieren Busemann: Bildung istBlindtext Zukunft lierung zum ersten Mal in der Geschichte unseres Landes im Schulgesetz selbst festgelegt. Nach unserer Vorstellung ist die Grundschule die Schule, in der vor allem das Lernen gelernt wird. Der Erfolg in dieser Schulform entscheidet über die Disposition zu späterem systematischen Lernen. Die Grundschule ist aber auch die erste wichtige Begegnung verschiedener Kulturen, von Kindern aus ganz unterschiedlichen Familienverhältnissen und unterschiedlicher sprachlicher Herkunft. Die frühere Sonderschule, heute Förderschule genannt, ist die Schulform, die in differenzierter Weise Kindern und Jugendlichen eine ihnen entsprechende ganz besondere Förderung anbietet. Sie muss ihr Profil in einer profunden und sehr differenzierten Form der Förderung finden, die besonderen Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen angemessen ist. Die Hauptschule ist nach unserer Vorstellung die Schulform, die eine grundlegende Allgemeinbildung wie auch das Vertrautmachen mit lebensnahen Sachverhalten verbindet. Das Lernen muss in dieser Schulform besonders handlungsbezogen erfolgen, und es muss den Jugendlichen die Chance zu einer besonderen Schwerpunktbildung ermöglichen. Zugleich muss die Hauptschule die Verbindung zum späteren Berufsfeld möglich und konkret erfahrbar machen (Berufsorientierung). Das Profil der Realschule liegt in einer erweiterten Allgemeinbildung und in einer stärkeren Betonung des selbstständigen Lernens. Für viele Kinder aus eher bildungsfernen Schichten ist die Realschule besonders in Flächenländern immer noch die Schulform, die den Zugang zu weiterführenden Bildungschancen ermöglicht. In der Gesamtschule schließlich wird die soziale Integration mit der Form des Lernens verbunden. Diese soziale Integration hat für die Gesamtschule ein besonderes Profil und ist Teil des Schullebens. Die Profilierung des Schulwesens konnte ich hier nur andeuten. Jedes Land muss sie durch entsprechende Rechtsvorschriften ausgestalten. Wir tun das in Grundsatzerlassen für den Unterricht und die tägliche schulische Arbeit. Die Profilierung, ganz gleich wie ein Land diese organisiert, ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Kinder und Jugendliche den Bildungsweg finden, der für sie geeignet ist. Aber diese Profilierung ist zugleich die Voraussetzung für die Qualität der Arbeit. Keine Schule kann allen alles sein, aber jede kann ihr Angebot auf das Beste gestalten. 3. Unterricht muss erteilt werden, zusätzliche Lehrereinstellung ist nötig Damit meine ich die Ausgangssituation unserer Regierung, wie wir sie 2003 vorgefunden haben. Eine bildungspolitische Diskussion darf nicht außer Acht lassen, dass es zu den wichtigsten Aufgaben eines Kultusministers gehört, dafür zu sorgen, dass Unterricht wirklich stattfindet. Da gab es im Jahr 2003 Handlungsbedarf. Wir haben auch jetzt noch einen Schülerberg, und deswegen haben wir seinerzeit dafür gesorgt, dass die Vollzeitlehrerstellen um 2500 aufgestockt wurden, bei allen Schwierigkeiten, die der Lehrermarkt damals hatte und die er auch in diesen Tagen hat. Unser Ziel ist es immer, ausreichend Unterricht anzubieten. Die Kinder brauchen den Unterricht heute und nicht erst in zehn Jahren, wenn es dem Staat besser geht. Ich weiß, dass manch einer sagt, 100 Prozent Abdeckung des Unterrichts seien es bloß im Landesdurchschnitt. In den Grundschulen sieht es aufgrund der veränderten Schülerzahlen in der Tat eher etwas besser aus, in den weiterführenden Schulen ist die Situation sehr schwierig. Wir sehen durchaus, dass wir in manchen Regionen Probleme haben, Lehrerstellen entsprechend zu besetzen, dass wir zunehmend Probleme haben, fächerspezifisch genügend Lehrerinnen und Lehrer zu finden. Bei manchen Fächern gibt es Überangebote, egal in welcher Schulform, und bei anderen existieren große Probleme, Nachwuchs zu akquirieren. Da besteht durchaus Anlass zu großer Sorge. Bei der Ausschreibungsrunde für Gymnasiallehrerinnen und -lehrer im Jahr 2005 hatten wir beispielsweise 400 Angebote mit Facultas Deutsch – also deutlich zu viele –, für Latein waren es noch eine Hand voll, und für Griechisch gab es nur eine Bewerbung. 4. Das Lernen beginnt mit dem Leben Das Gymnasium schließlich ist die Schulform einer breiten und vertieften Allgemeinbildung, die auch die allgemeine Befähigung für ein späteres Studium umfasst. Es ist die Schulform, in der selbstständiges Lernen und Arbeiten sowie eine breite Fremdsprachenkompetenz vermittelt werden müssen. Vor etlichen Jahren haben wir in Deutschland heftig über die Frage diskutiert, ob Kinder schon im Kindergarten lernen sollten. Wer das vor zirka zehn Jahren ansprach, setzte sich dem Vorwurf aus, er wolle den Kindern die Kindheit rauben, einen Schonraum kaputtmachen, mit der Schule schon im Kindergarten beginnen. Sein Ziel seien Kinder, die mit Wissen vollge- 11 pfropft seien, aber die Chance verpasst hätten, langsam zu wirklichen Menschen zu reifen. Heute wissen wir aus wissenschaftlichen Untersuchungen, dass dies eine Scheindiskussion war. Lerntheorie und Neurobiologie haben uns gelehrt, dass Kinder zu allen Zeiten lernen wollen, dass sie dies nur auf altersgemäß verschiedene Weise tun. Wir wissen, dass Spielen eine bestimmte Form des Lernens ist, darum ist Spielen so wichtig und durch nichts zu ersetzen. Wir wissen, dass Kinder nicht über-, aber auch nicht unterfordert werden dürfen. Sie wollen in jedem Alter immer weiterkommen, sie wollen ihre Fähigkeiten und Stärken erproben, sie wollen Neues erleben und lernen. Zugleich wissen wir, dass in bestimmten Altersstufen das Fenster des Gehirns für bestimmte Kompetenzen besonders weit geöffnet ist und sich später immer mehr Ganze bildungspolitisch einen Sinn ergeben soll, ist eine Beitragsbefreiung nur im dritten Kita-Jahrgang möglich, weil sie auf die Grundschule hin orientiert sein muss. Es kann nicht richtig sein, den Kita-Besuch im ersten Jahr zu subventionieren, dann zwei Jahre auszusetzen und mit der Grundschule wieder neu zu beginnen. Also wenn, spricht alles, auch das bildungspolitische Anliegen, für den dritten Kita-Jahrgang. 5. Für jeden Schüler individuelle Förderwege gestalten Dass Schule zu Leistungen führen und diese beurteilen muss, ist unstreitig. Wir wissen aber aus den erfolgreichen PISA-Ländern längst, dass dies allein nicht genügt. Schule muss immer auch ganz individuelle Fördermöglichkeiten für jedes Kind und jeden „Die meisten Länder in Deutschland haben verstanden, dass Probleme des Bildungswesens in unserem Land auch daraus resultieren, dass wir unsere Schulen zu sehr von außen steuern. Die Regulierung fast aller Bereiche der Schule und des Schullebens wirkt wie eine Entmündigung derer, die Schule gestalten. Es nimmt ihnen Verantwortung für die Qualität schulischer Arbeit ab und dispensiert sie von den Ergebnissen. …Wir gehen in Niedersachsen wie in Deutschland insgesamt inzwischen einen anderen Weg.“ schließt, zum Beispiel für den Spracherwerb. Diese Erkenntnis der Neurobiologie verpflichtet uns, Lernchancen im jeweils richtigen Alter anzubieten. Wir betrügen unsere Kinder, wenn wir sie ruhig stellen und vor – seien es auch noch so teure – technische Geräte abschieben. Wir helfen ihnen, wenn wir sie an die Hand nehmen und weiterführen, denn Lernen bedeutet, wie Hartmut von Hentig einmal gesagt hat: „Bring mich ein Stück weiter.“ Darum muss die Kindertagesstätte der Raum sein, in dem altersgemäß angemessene Dinge erprobt und gelernt werden. Das Sprechen, die Kommunikation mit anderen, die friedfertige Partnerschaft, das offene und freundliche Aufnehmen von Fremdartigkeit und vor allem das ständige Erproben dessen, was das Kind jetzt alles kann. Wir haben in Niedersachsen zusammen mit den Kindertagesstätten einen entsprechenden Orientierungsplan erarbeitet und regen alle Träger an, die Kindertagesstätten danach neu auszurichten. Ich glaube, das ist eine Maßnahme, die überall umgesetzt wird und entsprechend im Kita-Alltag wirkt. Ein abendfüllendes Thema wäre in diesem Zusammenhang die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. In diesen Tagen ist häufig von Beitragsbefreiung für alle Kita-Jahrgänge oder zumindest für einen die Rede. An diesem Thema müssen wir dranbleiben, aber nur Geld zu investieren und dann zu sagen, alles sei ideal gelöst, das reicht mir nicht. Wenn wir für den Kita-Bereich etwas tun, muss dabei auch das bildungspolititsche Ziel verfolgt werden. In Niedersachsen diskutieren wir darüber, wo wir angesichts unserer knappen Mittel anfangen sollen. Wenn das 12 Jugendlichen bereithalten. Das setzt voraus, dass Schule stets diagnostisch vorgehen und die Lernausgangslage eines Kindes mit Beginn seiner Schulzeit beschreiben können muss sowie diesen Ausgangspunkt regelmäßig fortschreiben soll. Dabei müssen Stärken und Schwächen jedes Kindes genau beobachtet werden. Zugleich muss die Schule für Defizite in jedem Einzelfall Fördermöglichkeiten eröffnen. Sie muss beratend tätig werden und den Erfolg der Maßnahmen auch immer wieder überprüfen – ein gewaltiger Anspruch. Das verlangt von den Lehrerinnen und Lehrern ganz gewiss eine intensivere Ausbildung im diagnostischen Bereich. Dazu gehört das rechtzeitige Erkennen von Defiziten oder gar Lernstörungen, das Wissen um angemessene Fördermöglichkeiten und schließlich die Fähigkeit, im Unterricht durch Binnendifferenzierung solche Fördermaßnahmen individuell auszurichten. In Niedersachsen beginnen wir gerade damit, die Schulen auf diese neuen Herausforderungen vorzubereiten. Wir werden zum nächsten Schuljahresbeginn im ersten Schuljahr der Grundschule sowie in der Klasse 5 aller weiterführenden Schulen dieses System einführen und dann Jahr für Jahr wachsen lassen. 6. Von der überregulierten deutschen Schule zur eigenverantwortlichen Schule Die meisten Länder in Deutschland haben verstanden, dass Probleme des Bildungswesens in unserem Land auch daraus resultieren, dass wir unsere Schulen zu sehr von außen steuern. Busemann: Bildung istBlindtext Zukunft Foto: Messe Hannover Die Regulierung fast aller Bereiche der Schule und des Schullebens wirkt wie eine Entmündigung derer, die Schule gestalten. Es nimmt ihnen Verantwortung für die Qualität schulischer Arbeit ab und dispensiert sie von den Ergebnissen. Häufig fragen Lehrkräfte in einer solchen Schule dann nicht, was richtig ist und was sie tun müssen, damit Schule gelingt, sondern sie fragen zuerst, was im Erlass steht. Wir gehen in Niedersachsen wie in Deutschland insgesamt inzwischen einen anderen Weg. In maßvollen Schritten übertragen wir den Schulen die Verantwortung für die Organisation des Lernens, für die Ergebnisse und vor allem für die Verbesserung der Qualität. Zugleich machen wir aber auch deutlich, dass die Ergebnisse schulischer Arbeit überprüft werden können und müssen, und wir unterstreichen, dass die Schule – und das heißt Schulleitung, Lehrkräfte, Eltern, Schülerinnen und Schüler – gemeinsam die Verantwortung dafür trägt, dass die schulische Arbeit von guter Qualität ist. Sie haben auch die Verantwortung dafür, Der niedersächsische Kultusminister Bernd Busemann (ganz rechts im Bild) mit Bundesdass, wenn Defizite bestehen, etwas besser bildungsministerin Dr. Annette Schavan und dem niedersächsischen Ministerpräsidenten gemacht wird. Ich glaube, dass diese UmorChristian Wulff beim Messerundgang. ganisation der Schule eine Art Mentalitätswechsel von unseren Lehrkräften verlangt. Sie müssen neu lernen, dass die Frage von Organisation und Gestaltung von Unterricht, Unterrichtszeit, gutes Stück Zufriedenheit und Erfüllung im eigenen Beruf. Und Beurteilung und Leistungsmessung und viele weitere Fragen Sie kennen die guten Beispiele von Schulen, in denen solche nicht schon entschieden sind, sondern zur Planung von gutem Arbeit geleistet wird und die deswegen immer wieder und zu Unterricht dazugehören. Sie müssen neu lernen, dass die Ergeb- Recht durch unsere Zeitungen gehen. Ich wünsche mir, dass nisse der Schule überprüft werden können: Wie viele Schüler solche guten Beispiele mit den Jahren zur Regel werden. erreichen das Ziel und den Abschluss der Schule? Wie hoch ist 7. Schulen von außen überprüfen z. B. die Abbrecherquote? Welche Fächer sind meist Ursache dafür oder für Nichtversetzung? Wie entwickelt sich die Leistungsbeurteilung einer Schule im Vergleich zu anderen und im In meinem Bundesland wollen wir alle Schulen gesetzlich zur Vergleich zum Landesdurchschnitt? Was sind die Gründe für ein Qualitätsentwicklung verpflichten. Mit der Kontrolle ist es schulisches Scheitern von Kindern und Jugendlichen? Bei der jedoch wie mit dem Blick in den Rückspiegel des Autos. Man Messung und Feststellung dieser Ergebnisse wird man Stärken hat immer auch einen toten Winkel. Deswegen werden wir in der Schulen feststellen und solche Bereiche, in denen die Arbeit Niedersachsen eine Schulinspektion zur regelmäßigen Überprüverbesserungswürdig ist. Dann muss nach unserer Überzeugung fung unserer Schulen von außen nach genauen und identischen die Schule selbst die Verantwortung für Verbesserung überneh- Kriterien einführen. Diese Inspektion wird alle vier Jahre stattmen. Auch für Schule gilt der Grundsatz, den die meisten finden; sie wird die Ergebnisse der schulischen Arbeit in AugenArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land kennen schein nehmen, den Unterricht, das Schulleben, die Leitungsund ohne Zögern beherzigen: Es gibt auf Dauer keine gute ebene und deren Arbeit, die Sicht der Schule von außen durch Eltern, Schülerinnen und Schüler sowie durch den Schulträger. Arbeit ohne Controlling. Auf der Grundlage von mehr als 100 einzelnen Kriterien erhält Auch wenn diese Veränderung der schulischen Arbeit vielen jede Schule dann ein genaues Bild von sich und ihrer Arbeit, ungewohnt erscheinen wird, bin ich überzeugt, dass sich und ebendieses genaue Ergebnis ist die Grundlage dafür, Qualidadurch die Arbeitszufriedenheit erhöht. Mehr gemeinschaft- fizierung in den Bereichen anzustreben, die verbesserungswürlich arbeiten, eigene Vorstellungen von guter Schule verwirk- dig sind. Wir haben in bislang mehr als 100 Überprüfungen in lichen können, Verantwortung für Kinder und Jugendliche im Niedersachsen unsere Instrumente erprobt, Lehrkräfte unseres konkreten Vollzug übernehmen, erleben, dass man selbst Schu- Landes zu Schulinspektorinnen und -inspektoren ausgebildet le mitgestalten kann – dies und anderes bringt, glaube ich, ein und eigene Erfahrung mit Inspektion gesammelt. Die Einrich- 13 tung der Schulinspektion beginnt jetzt zu arbeiten, das Institut ist gegründet und hat seinen Sitz in Bad Iburg. Ich bin durchaus ein wenig stolz darauf, dass Niedersachsen das erste Bundesland ist, das Schulinspektion als Außenevaluation jeder Schule verbindlich einführt und dafür eine eigene Einrichtung sowie besonders qualifiziertes Personal hat. Inzwischen partizipieren etliche Bundesländer von unserer Schulinspektion, und wir lassen die anderen auch gern an unseren Erfahrungen teilhaben. 8. Beratung und Unterstützung bereithalten Nach erfolgter Inspektion müssen unsere Schulen in eigener Verantwortung daran arbeiten, ihre Stärken weiter auszubilden und etwa vorhandene Defizite auszugleichen. Nach unserer Überzeugung ist das eine ganz zentrale Leitungsaufgabe. Darum werden wir auch die Schulleitung in die Verantwortung nehmen; wir werden die gesetzlichen Möglichkeiten schaffen und die Schulleiterinnen und Schulleiter dafür besonders und eigens qualifizieren. Uns liegen inzwischen mehrere Gesetzesentwürfe aller Fraktionen des Landtages vor, und wir haben zu klären, wie in Zukunft die Kompetenzen der Schulleitungen unter Beibehaltung der Gesamtkonferenz an den Schulen aus- 9. Das Personal qualifizieren Schulleiterinnen und Schulleiter tragen, wie schon erwähnt, die Verantwortung für die gesamte Qualität. Deswegen haben wir ein eigenes Programm entwickelt, das in den nächsten zwei Jahren alle Schulleiterinnen und Schulleiter des Landes erfassen soll; über die Qualifizierung von besonderen Lehrkräften zur Beratung und Qualifikation von Unterricht habe ich ja eben schon gesprochen. Diese Qualifizierungsmaßnahme ist für mich ein besonderes Beispiel für die Neuorientierung der Lehrerfortbildung. Die meisten Länder haben in den 1960er-Jahren eigene Einrichtungen geschaffen, um Lehrerfortbildung in eigener Zuständigkeit zu organisieren und durchzuführen. Diese Einrichtungen leisten zumeist auch gute Arbeit, denn sie spiegeln den Grundsatz wider, dass Fortbildung eine Form von Führung des Personals durch den Dienstherrn darstellt. Ich glaube jedoch, dass wir die Akzente in der Lehrerfortbildung verändern müssen. Grundsätzlich halte ich es für richtig und nötig, dass Fortbildung nachfrageorientiert organisiert wird. Lehrkräfte und Schulen müssen Anfragen stellen und ihre Bedürfnisse formulieren. Auf diese Bedürfnisse muss dann flexibel, möglichst zeitnah und in Verbindung mit anderen Schulen reagiert werden. Dabei halte ich es für nützlich, uns der Kompe- „Ich habe versucht, Ihnen durch diese skizzierten zehn Punkte deutlich zu machen, an welchen Reformen die Politik arbeitet. Und wenn etwas als notwendig erkannt ist, dann können wir uns mit der Umsetzung nicht ewig lange Zeit lassen, das wird uns die Schülergeneration dieser Tage nicht verzeihen.“ sehen werden. Wir wissen aber – und das ist immer noch das Entscheidende, Gott sei Dank –, dass gute Schule und Lernerfolge vor allem von gutem Unterricht abhängen. Darum werden wir besondere Instrumente herausbilden, die nach erfolgter Schulinspektion für alle Schulen unseres Landes, spezifiziert nach Schulformen, Beratung und Qualifikation, für Unterricht bereithalten. Wir glauben, dass es hierfür Lehrkräfte braucht, die als Trainerinnen und Trainer in unseren Schulen tätig werden. Sie müssen wohnortnah, schulformspezifisch und über eine längere Zeit arbeiten. Guten Unterricht kann man weder einfach befehlen noch theoretisch erklären. Man muss ihn einüben, sich selbst beobachten, seinen eigenen Stil finden, mit anderen erproben und immer wieder üben. Dazu braucht man Begleitpersonal, das hierfür besonders geschult ist. Wir bilden dieses Personal aus und orientieren uns dabei an Methoden von Unterrichtsentwicklern, die in Nordrhein-Westfalen und BadenWürttemberg schon exemplarisch erprobt worden sind. Natürlich ist das eine sehr aufwändige und teure Form, zur Unterrichtsverbesserung beizutragen, aber dies ist nötig, weil es um ein Herzstück unserer Schule, den guten Unterricht, geht. 14 tenz von Einrichtungen zu bedienen, die im Umgang mit Erwachsenen mehr Erfahrungen haben – das sind Einrichtungen der Erwachsenenbildung und Universitäten. Sie in die Organisation und Durchführung von Fortbildung einzubeziehen und ihnen ihrem Profil gemäß eine eigene Zuständigkeit zu übertragen bereichert, finde ich, die Lehrerfortbildung, setzt neue Akzente, bietet wohnortnah ganz andere Methoden und Inhalte an. 10. Die Lehrerausbildung neu gestalten In allen Bundesländern beginnt man, die Lehrerausbildung in der ersten, der universitären Phase neu zu organisieren nach der Struktur des Bachelor und Master. Die KMK hat die entsprechenden Vorgaben verabschiedet, und die Länder setzen sie mit eigenen Akzenten um. Die oft beschriebenen neuen Ziele dieser Lehrerausbildung kann und will ich hier nicht erörtern. Aus unserer Sicht sind dabei jedoch folgende Dinge zu beherzigen: Die Länder dürfen mit dieser Neuorganisation die staatliche Verantwortung auch für die erste Phase der Lehrerausbildung nicht abgeben. Diese Verantwortung kann man unter- Busemann: Bildung istBlindtext Zukunft schiedlich wahrnehmen, aber man muss sie wahrnehmen. Wir tun dies dadurch, dass wir das Prüfungsgeschehen der ersten Phase mit einer eigenen staatlichen Einrichtung evaluieren. Und wir sorgen uns besonders um die Inhalte der zweiten Phase der Lehrerausbildung, die uns als eigene Phase wichtig ist und nicht zur Disposition steht. Ich möchte auch betonen, dass wir durch die Neuorganisation der universitären Phase auf keinen Fall das insgesamt gute Niveau der deutschen Lehrerausbildung reduzieren dürfen. Ich habe versucht, Ihnen durch diese skizzierten zehn Punkte deutlich zu machen, an welchen Reformen die Politik arbeitet. Und wenn etwas als notwendig erkannt ist, dann können wir uns mit der Umsetzung nicht ewig lange Zeit lassen, das wird uns die Schülergeneration dieser Tage nicht verzeihen. Abschließend möchte ich noch eines sagen: Ich glaube, es ist wichtig, dass wir die Eigenverantwortlichkeit von Schule auch gesetzlich verbriefen. Dahinter stehen ja Freiheiten bei der Unterrichtsorganisation, die Frage der Budgetierung, die Frage von Personalmanagement, die Frage der Qualitätswege und anderes mehr. In diesem Punkt wiederum ist meine Richtung, dass man es mit dem Tempo nicht übertreiben darf. Wir müssen erst einmal die Beteiligten qualifizieren. Deshalb sage ich: das gesetzliche Fundamentieren – ja, aber die anderen Schritte in Maßen. Die Schulen sollten selber das Tempo der Reform bestimmen. Immer, wenn sie sich fit fühlen für neue Formen der Unterrichtsorganisation, sollten sie dies dem Kultusminister mitteilen, und er würde dann grünes Licht geben. Aber alles befehlsmäßig morgen früh beginnen zu lassen und jeden erst einmal ins kalte Wasser zu werfen, das wäre mir, der ich ja die staatliche Verantwortung für das Schulwesen trage, zu gewagt. Ich als Kultusminister, der im Ruf steht, zu viele und zu schnelle Reformen durchzuführen, werde mich in den nächsten Monate also etwas zum Bremser entwickeln. Aber auch das gehört manchmal zur Politik, wenn wir das Notwendige installiert haben. 15 STATEMENT Peter Struck Peter Struck, Dr. phil., geb. 1942, war zehn Jahre Volks- und Realschullehrer, danach vier Jahre lang Schulgestalter in der Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung in Hamburg. Seit 1979 ist er Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg. Arbeitsschwerpunkte: Sozial- und Schulpädagogik, Bildungspolitik, Jugendforschung, Familienerziehung und Medienpädagogik. Seit 1980 Forschung mit einem Lehrer-Schüler-Betreuungsprojekt an der Gelenkstelle von Familie und Schule. Zahlreiche Publikationen, u. a.: „Die 15 Gebote des Lernens – Schule nach PISA“. Ich beginne meinen Vortrag mit einigen provozierenden Thesen: Die Lernpsychologen sagen uns, kleine Kinder, z. B. unsere Grundschüler, könnten etwa doppelt so viel lernen, wenn sie TU München – sagen uns seit Jahren, wir müssten das Lernen anders organisieren. Sie sagen uns etwa, dass kleine Kinder ohne Noten besser lernen, ältere Jugendliche dagegen besser mit Noten. Nach dem PISA-Schock hat eine Entideologisierung der Schuldebatte stattgefunden: Hirnforscher und Lernpsychologen sagen den Bildungspolitikern, Schulleitern, Lehrern, Eltern und Schülern, wie junge Menschen in kürzerer Zeit mehr lernen können. Beispiele aus Schulen in Kanada, Skandinavien und Deutschland zeigen, wie der Weg von der Belehrungsanstalt zur Lernwerkstatt erfolgreich beschritten werden kann. In seinem Vortrag „SCHULE AUS DER SICHT DER HIRNFORSCHUNG: WIE LERNEN KINDER MEHR?“ bringt dies Professor Dr. PETER STRUCK, Erziehungswissenschaftler an der Universität Hamburg, ausgehend von einigen provozierenden Thesen, auf den Punkt. dabei nicht auf einem Stuhl sitzen müssten, sondern auf dem Teppich sitzen oder liegen könnten. Bei Jugendlichen dagegen sei es genau umgekehrt. Wir diskutieren über ADHS und wissen, dass viele der betroffenen Kinder hochbegabt sind. Solche Kinder bekommen bisweilen Ritalin oder Medikinet, also eine Droge, die im Bundesbetäubungsmittelgesetz aufgeführt ist. Ein neunjähriger hyperaktiver Junge musste bisher 45 Minuten auf dem Stuhl sitzen. 80 Prozent seiner Konzentration waren mit dem Gedanken beschäftigt, was er mit seinem Körper anfangen soll, mit 20 Prozent konnte er sich gerade noch auf die Worte der Lehrerin konzentrieren. Wenn er seine Position beim Lernen selbst bestimmen und entscheiden dürfte, ob er dabei beispielsweise auf dem Bauch liegen will, dann könnte er sich tatsächlich besser auf die Worte der Lehrerin konzentrieren. Als in Schleswig-Holstein die SPD vor der letzten Landtagswahl auf ihrem Landesparteitag beschlossen hatte, die 9- oder 10-jährige Grundschule ohne Noten und ohne Sitzenbleiben bei möglichst gleichzeitiger Abschaffung der Sonderschulen einzuführen, was sich bei PISA in skandinavischen Ländern als Erfolgsmodell herauskristallisiert hatte, haben die Mütter gesagt: „Neun Jahre ohne Noten wie in Schweden und Norwegen, da kann man ja gar nichts lernen.“ Die Hirnforscher oder auch die Lernpsychologen – ich berufe mich im Wesentlichen auf Manfred Spitzer, der in Ulm wirkt, und Ernst Pöppel an der 16 Wir bringen in Deutschland Kinder nach Geburtsjahrgängen in Schulklassen unter. Das war eine Erfindung der vormilitärischen Erziehung Preußens. In Skandinavien, wie jetzt zum Glück auch in manchen Bundesländern, z. B. Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und ansatzweise auch Hamburg und Schleswig-Holstein, gibt es die so genannten Flexklassen, also die flexible Eingangsphase, d. h., man hat die beiden ersten Klassen abgeschafft und ersetzt sie durch eine flexible Eingangsphase, die das Kind nun eins, zwei oder drei Jahre lang besuchen kann. Danach kommt es in Klasse 3. Die Kinder sind dann ähnlich leistungsfähig, aber unterschiedlich alt; eine beschämende Niederlage durch Sitzenbleiben ist ihnen so erspart geblieben. Dazu gehört auch das, was wir „jahrgangsübergreifende Lernfamilien“ nennen: Zwei oder drei Jahrgänge lernen zusammen in einem Raum. Da kommt der Lehrer gar nicht auf die Idee, dass die Kinder alle gleich leistungsfähig seien. In Skandinavien geht die Ganztagsschule bis 15 Uhr, man kann sie aber auch bis 17 Uhr besuchen. Wer bleibt bis 17 Uhr? Derjenige, der irgendwo schwach ist, oder der, der sich für irgendwas besonders stark interessiert. Die Oberstufe heißt dort Gymnasium, und sie umfasst die Klassen 10, 11, 12. In Schweden besuchen z. B. 90 Prozent eines Schülerjahrgangs diese Oberstufe, die in zwei, drei oder vier Jahren durchlaufen werden kann. Danach macht man Abitur. Struck: Wie lernen Kinder mehr? Es gibt, je nachdem ob in Schweden oder Finnland, immer für drei Monate oder sechs Wochen einen Stoffplan, der aber nur 50 Prozent der Zeit abdeckt. Die anderen 50 Prozent füllt der Schüler selbst mit dem Stoff, in dem er schwach ist, oder mit dem, wofür er sich besonders stark interessiert. Damit werden auch hier, so weit es geht, Beschämungen und Niederlagen vermieden. In Deutschland gibt es noch Schulen, in denen die Schüler um Punkt 8 Uhr 29 vor einer verschlossenen Klassenraumtür stehen, bis um 8 Uhr 30 eine Lehrerin kommt, die die Tür aufschließt. Alle strömen hinein und setzen sich an die Tische. Die Lehrer der Bodenseeschule in Friedrichshafen, die letztes Jahr als die beste deutsche Schule galt, bezeichnen eine solche Schule als typische Unterrichtsvollzugsanstalt mit einem belehrenden Lehrer. Die Bodenseeschule versteht sich dagegen als eine gastgebende Lernwerkstatt in einem kundenorientierten Ein deutscher Schüler spricht zurzeit im Bundesdurchschnitt in einer Unterrichtsstunde (45 Minuten) eine Minute lang. Und dabei kann es schon sein, dass Karl-Heinz drei Minuten spricht, aber Annegret null; im Schnitt ergibt dies eben eine Minute. Ein finnischer Schüler spricht in einer Unterrichtsstunde (40 Minuten) acht Minuten lang. Was ich Ihnen damit sagen möchte, hat schon Konfuzius ausgedrückt, und ich erweitere den Satz sogleich: „Erzähle es mir, und ich vergesse es wieder. Zeige es mir, und ich erinnere mich, wenn es mir wieder jemand zeigt. Lass es mich tun, und ich verstehe es für immer.“ Und das Zweite, was ich Ihnen aufzeigen möchte, ist dies: 1. Die Lernpsychologen sagen uns, dass alle Kinder, die zur Welt kommen, geborene Lerner sind, das gilt sogar für Autisten. Manchmal gelingt es uns – d. h. meistens der Schule -, dass aus dem einen oder anderen Kind ein Lernversager wird. 2. Alle Kinder, die auf die Welt kommen, möchten zunächst anderen Menschen gefallen. Aber wenn ein Kind nach vielen Jahren zu dem Schluss kommt, dass es eigentlich niemandem gefällt, dann kann ich verstehen, dass es wenigstens einigen Gleichgesinnten als Skinhead, S-Bahn-Surfer oder Graffiti-Sprüher gefallen möchte. Dienstleistungsbetrieb. Der Schulleiter Alfred Hinz, der gerade pensioniert wurde, meint, das Erste, was man an einer modernen Schule machen müsse, sei, ein Taschentuch zwischen Klöppel und Klingel der Schulglocke zu stopfen, weil Kinder nicht in 45-Minuten-Takten lernen. 3. Alle Kinder, die auf die Welt kommen, möchten etwas leisten und etwas können. Das Ideal einer Schülerin ist ja die kleine Lotta bei Astrid Lindgren, die hüpfend und freudestrahlend aus der Schule kommt und laut ruft: „Ich kann so viel!“ Das liegt auch daran, dass es in der schwedischen Sprache das böse Wort „Streber“ nicht gibt. Streber gibt es immer nur da, wo man Kinder früh benotet. Und nun kommt das Entscheidende: Die Hirnforscher sagen uns, dass von dem, was ein Kind liest, auf Dauer im Schnitt 10 Prozent haften bleiben (siehe Abb. 1). Es kann schon sein, dass es Ein Kind behält im Durchschnitt: 10 % von dem, was es liest 20 % von dem, was es hört 30 % von dem, was es sieht 50 % von dem, was es hört und sieht 80 % von dem, was es anderen erklärt hat Abb. 1 Eine aktuelle Studie des psychologischen Seminars der Uni Hamburg hat genau dasselbe festgestellt wie das berühmte Psychologen-Ehepaar Anne-Marie und Reinhard Tausch vor 35 Jahren: bei Annegret 16 Prozent und bei Karl-Heinz 7 Prozent sind, im Schnitt sind es aber eben 10. Von dem, was ein Kind nur hört – und nun bedenken Sie, dass die deutsche Schule beim Lernen 17 im Wesentlichen auf das Zuhören vertraut –, bleiben auf Dauer im Schnitt 20 Prozent haften. Von dem, was ein Kind anschaut, also einen Stummfilm oder einen Demonstrationsversuch im Physikunterricht, bleiben auf Dauer 30 Prozent haften. Wenn Sie Sehen und Hören verknüpfen – das ist zum Beispiel beim Fernsehen der Fall, wo ja nicht alles Mist ist –, dann bleiben auf Dauer 50 Prozent haften. Wenn ein Mensch etwas dauerhaft lernen soll, muss man dafür sorgen, dass er es ausspricht, noch besser, dass er es anderen zu erklären hat. Denn dann bleiben 80 Prozent haften. Die beiden letzten Punkte werden im deutschen Schulsystem vernachlässigt. 1. Wir haben die ungünstigste Lernbandbreite von allen untersuchten 42 OECD-Ländern, d. h., wir haben besonders viele schwache Schüler, ebenso viele Mittelmäßige und besonders wenig besonders gute! Das ist keine Gauß'sche Normalverteilungskurve. Aus Zeitgründen etwas schwarz-weiß zusammengefasst, sagen uns neutrale Menschen wie die Kommissare der OECD in Paris, die PISA koordiniert haben, das liege in Deutschland im Wesentlichen daran, dass wir die schwachen Schüler zu früh von den mitreißenden Effekten der guten abkoppeln. 2. Wir haben bei 15-Jährigen weltweit die höchste Koppelung zwischen familiärer Sozialisation und Schülerleistung. Diese Koppelung ist größer als die Abhängigkeit vom Intelligenzquotienten. Das heißt, die schulischen Leistungen der 15-Jährigen spiegeln im Wesentlichen ihr familiäres Herkunftsmilieu wider, völlig unabhängig davon, welchen IQ sie haben. Wenn das so ist – könnte man böse sagen –, dann hat die Schule bei einem 15Jährigen wenig zustande gebracht. Cartoon: Mester Es gibt in der Geschichte der deutschen Schulpädagogik zwei klassische Aussagen. Die erste ist: Das schwierigste schulpädagogische Problem in Deutschland besteht darin, dass sich Mama, das Kind und die Hausaufgabe an einem Tisch befinden. Das geht selten gut – vielleicht allenfalls noch in der ersten Klasse. Das zweite große Problem verbirgt sich hinter der Frage: Wer lernt eigentlich mehr beim Nachhilfeunterricht, der Nachhilfelehrer oder der Nachhilfeschüler? Wenn ich schon so frage, lautet die Antwort natürlich: der Nachhilfelehrer. Das allein ist ja noch nicht so interessant. Wichtig ist vielmehr die Frage, wie Aus den Ergebnissen der PISA-Studien waren drei Punkte zentral für uns, allesamt haben sie etwas mit Lernen zu tun, und sie haben Deutschland erschüttert. viel Mal mehr lernt der Nachhilfelehrer? Er lernt in der Tat neun Mal so viel, aber nur im Schnitt, nicht im Einzelfall und vorausgesetzt, der Erwachsene ist der Nachhilfelehrer und nicht etwa ein gleichaltriges Kind. Wenn es zwei Gleichaltrige sind, dann lernt der gute Schüler viereinhalb Mal so viel. Warum? Weil Kinder von anderen Kindern etwa doppelt so viel lernen wie von noch so guten Erwachsenen. Also müssen Sie das, was der Gute lernt, bezogen auf den Erwachsenen, halbieren, und bei den Schwachen ist es eben doppelt so viel. 18 3. Das liegt im Wesentlichen daran, dass wir Halbtagsschulen haben, und Halbtagsschulen sind für Jugendliche deshalb besonders problematisch, weil der Halbtagsrhythmus nicht mit der Leistungskurve der Jugendlichen korrespondiert. Jugendliche haben die erste Hauptleistungsphase zwischen 10 und 12 Uhr und dann wieder eine zwischen 14.30 und 16.30 Uhr nachmittags. Wir haben in Deutschland Schulen, wo Jugendliche über 14 um 8 Uhr, manchmal sogar um 7 oder 7.10 Uhr zu einer Frühstunde erscheinen müssen. Sie können aber vor 10 Uhr gar nicht gut lernen, weshalb das Ganze ein volkswirtschaftlicher Unsinn ist. Kanada ist das erste Land der Welt, in dem Kinder bis etwa 13 Jahren um 8 Uhr in die Schule kommen und Jugendliche ab etwa 14 aufwärts um 10 Uhr. Das können Sie natürlich nur in Ganztagsschulen machen, wo man dann die zweite Hauptleistungsphase am Nachmittag für einen Leistungskurs etwa in Latein nutzen kann. Das Entscheidende ist aber, dass Sie, wenn Sie in Europa immer weiter nach Süden gehen, feststellen werden, dass die Menschen innerhalb der Schule immer weniger sprechen – dafür umso mehr außerhalb der Schule. Je weiter Sie nach Norden kommen, desto weniger sprechen die Menschen außerhalb, aber umso mehr innerhalb der Schule. Sigmund Freud hat vor über 100 Jahren seine Patienten auf die Couch gelegt, und dann hat er Fragen nach der frühen Kindheit gestellt. Damit hat er den dort liegenden Patienten gezwungen, Struck: Wie lernen Kinder mehr? seine frühe Kindheit zu verstehen, indem er das Erinnerte aussprach. Und wenn Ihre beste Freundin Sie anruft, weil ihr Mann nur mal Zigaretten holen wollte und nicht wiedergekommen ist, was müssen Sie tun? Nur den Hörer halten. Gelegentlich mal „Ja“ sagen oder „Hm“ oder manchmal auch „Natürlich ist es nicht deine Schuld.“ Und wenn Ihre Freundin nach einer Stunde das Gespräch beendet hat, muss sie die nächste Freundin anrufen. Was tut sie da? Sie versucht, ihre Lage zu begreifen, indem sie ihre Geschichte immer und immer wieder erzählt. erklärt den neunfach größeren Redeanteil der Schüler an den skandinavischen Schulen gegenüber den deutschen. Es geht mir nicht darum, dass wir finnische oder schwedische Schulverhältnisse über Deutschland stülpen, sondern dass wir uns anregen lassen, mehr zu reden, zu mehr Partnerarbeit und, als Letztes, zu mehr „Lernen durch selber tun, machen, bauen, reparieren“, handeln also und präsentieren. Es gibt in Deutschland zwei Schulformen, die besonders viel mit Präsentieren arbeiten, das sind erstens die Handelsschulen und zweitens die Waldorfschulen. Ansonsten machen das häufig überbetriebliche Ausbildungsstätten und die Ausbildungsabteilung der Großbetriebe. „Es geht mir nicht darum, dass wir finnische oder schwedische Schulverhältnisse über Deutschland stülpen, sondern dass wir uns anregen lassen, mehr zu reden, zu mehr Partnerarbeit und, als Letztes, zu mehr ,Lernen durch selber tun, machen, bauen, reparieren‘, handeln also und präsentieren.“ Langer Rede kurzer Sinn: Wenn wir unsere Schulen angucken, müssen wir vieles von dem, was wir heute machen, weiter machen. Manches müssen wir aber tatsächlich auch reformieren. Aber wir müssen sogar Uraltes wiedererfinden: Gedichte auswendig lernen und vortragen, Merksätze mit Rhythmus und Reim. Meine Oma hat vor 110 Jahren eine kleine Schule in einem dänischen Dorf namens Othmarschen besucht, das heute ein Stadtteil von Hamburg ist. Dort mussten die Schüler immer Merksätze sprechen wie „Iller, Isar, Lech und Inn fließen rechts zur Donau hin. Wörnitz, Altmühl, Naab und Regen fließen ihr von links entgegen“ oder „Wer ‚brauchen‘ ohne ‚zu‘ gebraucht, braucht ‚brauchen‘ überhaupt nicht zu gebrauchen“, und zwar im Chor. Die Sätze konnte sie auch noch mit 87, weil sie sie immer aussprechen musste. In dem berühmten Film von Reinhard Kahl über die finnischen und schwedischen Schulen sieht man, wie die Lehrerin in der dritten Fremdsprache Deutsch mit einem Kassettenrekorder in die Klasse kommt, und auf dem Band spricht ein Mann „Verwandte im Volkswagen vergessen verrückte Vögel“, weil es für die Finnen schwer ist, V, W und F auszusprechen. Die Lehrerin wiederholt das einmal, und dann sprechen alle im Chor: „Verwandte im Volkswagen vergessen verrückte Vögel.“ Das ist für 11-Jährige ein bisschen peppiger als „Peter and Mary are playing with the ball.“ Und dann – zwei alte Lehrertricks –, dann sagt sie, „Das möchte ich ein bisschen lauter hören“ und danach: „Das war so schön, das möchte ich noch einmal hören.“ Sprache lernt man durch Sprechen und nicht durch Zuhören. Weiterhin sollten Schüler so oft wie möglich zusammen Aufgaben lösen, zum Beispiel fünf Mathe-Aufgaben am Computer. Dabei reden sie nämlich miteinander. Partnerarbeit plus möglichst viel Im-Chor-Sprechen bedeutet: Viel reden, und das In Finnland gibt es zum Beispiel alle sechs Wochen oder alle zwei Monate einen Elternabend, bei dem Fernbleiben mit Bußgeld belegt ist. Das heißt, wenn nicht zumindest die Oma kommt, müssen die Eltern zahlen. Das hat jetzt auch der Kanton Zürich eingeführt, aber nur vier Mal im Jahr. Jeder Elternabend beginnt damit, dass die Schüler den Eltern präsentieren, was sie in den letzten Wochen gelernt haben. Ich vermute, dass sie ihren Stoff deshalb so gut können. Jetzt komme ich zu den wichtigsten Geboten des Lernens. Bildung beginnt nicht mit der Einschulung, sondern mit der Geburt. Minister Busemann hat vom Lernfenster gesprochen, das bei kleinen Kindern noch weit offen ist und später immer mehr geschlossen wird. Es kommt also auf den Anfang an. Nehmen wir an, wir setzten unsere besten Lehrer in die Vorschule, die immer zur nächsten Schule gehört. Die Vorschullehrer sind wie in Skandinavien akademisch ausgebildet. Jede Klasse hat zwei Räume zur Verfügung. Es sind in einer Klasse mit 15 Kindern immer zwei Lehrerinnen und eine Schulassistentin, das ist eine werdende Lehrerin, die die Hälfte der Zeit in der Uni, die andere Hälfte in einer zugeordneten Klasse verbringt. In jeder dritten Stunde kommt außerdem eine Sonderpädagogin. In Skandinavien gibt es dreimal so viele Sonderpädagogen wie in Deutschland, aber keine oder kaum Sonderschulen. Noten fallen nicht einfach nur weg, wie die Mütter in Schleswig-Holstein befürchteten, sondern werden durch drei andere Dinge ersetzt: 1. In der letzten Vorschulklasse, der Klasse 0, in die alle Sechsjährigen kommen, lernen die Kinder, ihre Gefühle angemessen zum Ausdruck zu bringen, nicht zu schreien, nicht zu weinen, nicht beleidigt wegzulaufen, sondern zu warten, bis man dran ist. 19 2. Die Kinder lernen, sich selbst angemessen einschätzen zu können, was man übrigens genauso mühselig und lange lernen muss wie Rechnen. Und jetzt sage ich Ihnen einmal einen ganz bösen Satz: Wir leben in einer modernen Demokratie, nämlich in Deutschland im Jahre 2006. Und wir sind immer noch dabei, junge Menschen von außen zu bewerten, statt ihnen zu helfen, sich selbst angemessen einschätzen zu können. Und angemessen einschätzen heißt nicht überschätzen und nicht unterschätzen. halten können. Die Zukunft wird weiblich sein, wenn wir nicht etwas ändern. 54 Prozent eines Jahrgangs, der in Niedersachsen das Abitur ablegt, sind Mädchen und nur noch 46 Prozent sind Jungen, obwohl am Beginn der Klasse 5 des Gymnasiums noch viel mehr Jungen als Mädchen sitzen, weil immer noch einige Eltern glauben, für ein Mädchen würde auch der Realschulabschluss reichen. Dieser Vorsprung ist schnell verbraucht. Der Notendurchschnitt der Mädchen im Abitur liegt zurzeit bundesweit um 0,8, also fast eine ganze Note, über dem der Jungen. „Wenn Sie sich in Deutschland besonders gute Schulen angucken, können Sie vier immer wiederkehrende Merkmale erkennen: Erstens eine ziemlich starke Schulleiterpersönlichkeit, zweitens einen Konsens im Lehrerkollegium. Mit diesem Konsens verknüpft ist drittens, dass wir viele verschiedene Profile nebeneinander brauchen. So findet jeder Lehrer irgendwo seine Nische. Und das Letzte, was wir vorfinden, ist eine besonders enge und aktive Zusammenarbeit zwischen Lehrerschaft und Elternschaft.“ 3. Die Kinder lernen, zu zweit etwas zu erarbeiten und den anderen zu präsentieren. (Darin ist übrigens Bremen bundesweit führend, das sage ich an dieser Stelle nur, weil Bremen sonst immer so weit unten steht.) Das wird verknüpft mit Portfolios, das sind Mappen, Ordner oder Kartons, in denen alles aufbewahrt wird, was das Kind macht. Es wird also eine Art Bildungskarriere-Dokumentation erstellt, und was zu groß ist, wird fotografiert. Wenn beispielsweise – und jetzt übertreibe ich einmal ein wenig – ein Viertklässler ein Diktat schreibt, dann steht da nicht in Rot 5- drunter, sondern die Fehler werden zwar markiert, aber anschließend heftet der Schüler einen Zettel dran, wie er selbst sein Diktat findet. Dazu kommt ein zweiter Zettel, auf dem vermerkt ist, wie die Lehrerin das Diktat findet. Es gibt einen dritten Zettel mit einer Beurteilung der beiden Nachbarn und schließlich noch einen vierten, worauf die Eltern notieren, wie sie das finden. Es ist interessant, wenn man sich das nach fünf Jahren anguckt, vor allem, wenn man mit 80 Fehlern begonnen hat und dann über 60, 40 bei 20 Fehlern landet. Das ist ja ein enormer Fortschritt, aber vielleicht ist man immer noch so schlecht, weil man Legastheniker ist. Dann ist man nicht so sehr beschämt, sondern man sieht eher den eigenen Fortschritt. Selbstlernen bringt mehr als belehrt zu werden. Also müssen wir unsere Belehrungsanstalten, wie Andreas Schleicher von der OECD-Kommission in Paris über die deutschen Schulen sagt, endlich in Lernwerkstätten umwandeln. Lernen durch Sprechen und Handeln bringt viel mehr als Lernen durch Zuhören, also müssen wir doch eigentlich dafür sorgen, dass mehr durch Sprechen und Handeln gelernt wird – das kostet gar nicht mehr Geld. Wir haben in Deutschland weiterhin das Problem, dass bei den 15-Jährigen die Jungen nicht mehr mit den Mädchen Schritt 20 Dadurch haben wir in Hamburg an der Uni mit der Lehrerbildung insofern Probleme, als bei einem Numerus Clausus von 1,3 die Jungen diese Hürde oft gar nicht mehr überwinden, was wiederum zur Feminisierung des Lehrerberufes beiträgt. Aber Sie wissen auch: Zwei Drittel der deutschen Sitzenbleiber sind Jungen, zwei Drittel der Rückläufer vom Gymnasium zur Realschule, von der Realschule zur Hauptschule sind Jungen; von den 11,8 Prozent, die es bundesweit nicht mal bis zum Hauptschulabschluss schaffen, sind etwas über 72 Prozent Jungen, und an den wenigen deutschen Schulen für Erziehungsschwierige, Verhaltensgestörte oder Erziehungshilfe sind fast 95 Prozent Jungen. Wir haben in Deutschland ein Problem mit den Jungen, die aber bei uns genau so zur Welt kommen wie in anderen Völkern, also zum Beispiel in Schweden oder Finnland. Dort aber können Sie im Allgemeinen beim Schülerleistungsverhalten keine geschlechtsspezifischen Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen feststellen. Warum? Weil dort das Lernen anders gehandhabt wird. Wir reduzieren die Kinder beim Lernen in Deutschland meist auf die linke Hirnhälfte, wo das Verstandesmäßige, das Logische, das Vernünftige, das Rationale, das Zahlenverständnis, das Raumvorstellungsvermögen und die technischen Anteile von Sprache sitzen. In der rechten Hirnhälfte dagegen sitzt das Emotionale, Musische, Kreative, Atmosphärische, Kommunikative und Soziale. Und mit der breiten Brücke, die Mädchen schon immer zwischen der linken und rechten Hirnhälfte hatten – ein Neuronen-Synapsen-Geflecht, das bei Mädchen viermal so dick ist wie bei den Jungen –, haben Mädchen, die linkshirnig erzogen und beschult werden, eine große Chance, dass das, was links ankommt, auch ein Stück weit nach rechts gelangt, sodass indirekt die rechte Hirnhälfte ein Stück weit mit entwickelt wird. Struck: Wie lernen Kinder Blindtext mehr? Bei den Jungen bleibt das Gelernte nur links. Im Falle von Frust finden sie in sich keinen Ausgleich, müssen es in Form von Aggression rauslassen. Wir müssen beim Lernen die rechte Hirnhälfte genauso mitentwickeln wie die linke. Das schaffen die Skandinavier, aber auch die Kanadier und Niederländer. Und jetzt kommen wir zu diesem Satz, den die Finnen immer aussprechen. Sie sagen: 1. Eine gute Schule erkennt man nicht daran, dass die Lehrer Fragen stellen, sondern daran, dass die Schüler das können. 2. Die wichtigsten Lehrer für Kinder sind andere Kinder, die zweitwichtigsten Lehrer sind die Lehrkräfte, die drittwichtigsten Lehrer sind die Räume mit dem Interieur und der viertwichtigste Lehrer ist die Rhythmisierung, der ständige Wechsel von Anspannung und Entspannung, so wie Sie das zu Hause bei der Steuererklärung machen. Die erledigen Sie auch nicht in einem Rutsch, sondern Sie gehen zwischendurch mal an den Kühlschrank, werfen sich aufs Bett, hören ein bisschen Mozart, dann telefonieren Sie mit jemandem und gucken in die Zeitung, und danach machen Sie jeweils weiter. einem Gesprächskreis, dem so genannten Stuhlkreis, eine Viertelstunde, damit die Kinder zuhören lernen, was bei Gleichaltrigen besser funktioniert; damit sie reden und Gesprächsregeln lernen nach 30 Stunden actionreichen, farbigen und schnell wechselnden Bildern am Wochenende. Danach können Sie wie bisher eine Stunde Mathe machen. Anschließend muss eine Stunde Bewegung oder Sport folgen. Und wenn Sie dann eine Stunde Englisch halten, muss darauf eine Stunde Musik kommen, nach einer Stunde Deutsch, eine Stunde Theater oder Rollenspiel, und im Anschluss können Sie einen pädagogischen Mittagstisch anbieten. Und wenn Sie dann nachmittags von 14.30 Uhr bis 16.30 Uhr einen Leistungskurs Englisch ansetzen, funktioniert das wieder außerordentlich gut. So wird nichts abgewertet, sondern alles ist rhythmisiert. Kinder, die im multimedial vernetzten Kinderzimmer aufgewachsen sind, haben bereits eine andere Fehlerkultur als wir Erwachsene, die wir anders groß geworden sind, sagen die Hirnforscher. Das heißt, Kinder lernen über Trial and Error, durch Versuch und Irrtum. Und die Anthropologen sagen uns, kleine Mädchen seien viel eher als kleine Jungen geneigt, die Foto: VdS Bildungsmedien In Hamburg hat der Senat beschlossen, dass zum 1. August 2004 alle Gymnasien von heute auf morgen Ganztagsschulen werden. Natürlich wegen der Reduktion des Gymnasiums auf acht Schuljahre, weil da mehr Stunden erforderlich sind und weil es das 4-Milliarden-Euro-Programm der Bundesregierung zur Förderung von 10 000 der 45 000 deutschen Schulen zu Ganztagsschulen im Laufe von vier Jahren gibt. Und was haben die Gymnasien gemacht? Zunächst haben sie nur am Dienstag und am Donnerstag nachmittags Unterricht angeboten und vormittags alles gelassen, wie es ist: Erste StunMit Verve präsentierte Professor Peter Struck dem interessierten Publikum im „forum bildung“ seine de Mathe, zweite Englisch, dritte Gedanken zu der Frage, wie mehr und besser gelernt werden kann. Latein, vierte Physik, fünfte Chemie, dann pädagogischer Mittagstisch mit minderwertig aufgewärmtem angeliefertem Essen, verpackt in Alufolie, und danach hat man nach- Erwartungen ihrer Bezugspersonen zu erfüllen, d. h., sie haben mittags ein paar Kurse in Musik, in Kunst, in darstellendem ein etwas höheres Anpassungspotenzial als kleine Jungs. Diese Spiel, in Sport, in Technik, ein bisschen Informatik und Haus- wollen durch Ausprobieren die Welt verstehen. In der Schule aufgabenhilfe angebaumelt wie Eisenbahnwaggons, womit allerdings kann ausprobieren heißen, mit viel roter Tinte eine man automatisch alles, was am Nachmittag stattfindet, in den Fünf zu bekommen, und das multimedial vernetzte KinderzimAugen der Schüler als eher minderwertig abqualifiziert hat. mer führt bei Jungen dazu – das hat die letzte OECD-Studie ergeben –, dass sie eine sehr gute Fehlerkultur draufhaben, also Deshalb müssen wir uns an dieser Stelle wieder die Bodensee- sehr gut in der Lage sind, durch Fehlermachen zu lernen. Desschule angucken. Als Erster ist morgens um 7.30 Uhr der Lehrer halb dürfen wir nicht immer bestrafen, denn dann werden sie im Klassenraum, die Kinder können zwischen 7.30 und 8.00 Uhr irgendwann resignieren. Sie kennen das, Mama hat Abitur, hat kommen. Wer zu Hause kein Frühstück hat, frühstückt mit dem Physik studiert und ist Managerin in einem weltweit Lehrer, das sind dort nur drei Schüler, in Hamburg St. Pauli operierenden Großkonzern; sie hat sich im „Mediamarkt“ ein wären es alle. Und um 8.00 Uhr beginnt der Unterricht mit elektronisches Bügeleisen gekauft und versucht es seit einer 21 Dreiviertelstunde mit der schlecht aus dem Koreanischen übersetzten Gebrauchsanweisung in Gang zu kriegen. Da kommt ihr 9-jähriger Sohn, der weder Abitur gemacht noch Physik studiert hat, der auch gar nicht in die Gebrauchsanweisung schaut, sondern mit ein bisschen Trial and Error sagt: „Guck mal, Mama, so geht das.“ Und die Ausbildungsleiter des Volkswagenwerks in Wolfsburg sagen uns, dass die Schule diese wunderbare Fehlerkultur nicht einfängt. In den Zeugnissen der Bewerber vermissen sie so genannte Schlüsselqualifikationen, Selbstständigkeit, Teamfähigkeit, Handlungskompetenz, Konfliktfähigkeit, Kreativität, Fähigkeit zum vernetzten Denken usw. Sie schauen auf drei Fächer, Deutsch, Mathe und Physik, das andere interessiert sie nicht. Lieber veranstalten sie viertägige Aufnahmeprüfungen, um festzustellen, über welche Qualifikationen die Bewerber verfügen. Herr Busemann hat ja Recht, wenn er sagt, wir müssten die Schulen in die Selbstständigkeit entlassen, weil sie sich mit Personalhoheit und eigener Budgetierung im Sinne eines Schulprogramms oder Schulprofils besser Schwerpunkte setzen können. Wir brauchen einen Wettbewerb der Profile. Das bunteste Schulsystem der Welt haben die Niederlande. Dort gibt es etwa 500 unterschiedliche Profile: musisch, sprachlich, wirtschaftlich, technisch, altsprachlich, neusprachlich, mathematisch, sportlich usw. Und da kommt keiner mehr auf die Idee zu fragen, was höherwertig, mittelmäßig und minderwertig ist. Solange wir über das dreigliedrige Schulsystem debattieren, kommen wir nicht richtig weiter. Sie haben jahrelang gehört, eine integrierte Gesamtschule sei Gleichmacherei. Wenn Sie in unserem Schulsystem jedoch eine achte Realschulklasse mit 27 Schülern haben, dann weiß deren Klassenlehrerin oder Klassenlehrer unbewusst, dass da eben 27 Schüler einer achten Realschulklasse sitzen. Die sind nicht in der neunten, nicht in der siebten Realschulklasse, die sind nicht im Gymnasium und die sind nicht in der Hauptschule. Die Schüler sind von vier Seiten eingemauert. Die Lehrerin oder der Lehrer ist der Meinung, sie seien etwa alle gleich leistungsfähig. Das ist Gleichmacherei. Ein deutscher Gymnasiallehrer weiß, dass er seinen Schüler Karlheinz jederzeit wieder loswerden kann: Er kann ihn die Klasse wiederholen lassen, auf eine Sonderschule verweisen oder mit Hilfe von fünf anderen Lehrern von der Schule werfen. Ein finnischer Lehrer z. B. weiß, dass er seinen Schüler Janne 22 nie wieder los wird. Es gibt kein gegliedertes Schulsystem, es gibt kein „sitzen bleiben“, es gibt keine Sonderschulen, und die nächste Schule ist 280 Kilometer entfernt, weil Finnland nach EU-Richtlinien ein unbesiedeltes Land ist. Der Lehrer beginnt sich auf Janne einzustellen, und der Seiltanz der skandinavischen Schulen besteht darin, wie Herr Busemann auch gesagt hat, möglichst viel Individualisierung plus Gemeinschaft zu schaffen. Das bekommen wir nicht hin. Gesellschaftliche Integration gelingt über Schulen oder sie misslingt über Schulen. In Schleswig-Holstein gelingt es gerade durch den großen Druck der Eltern, der Wähler, mit der großen Koalition eine Gemeinschaftsschule, eine längere Grundschule zu schaffen. Sie wissen ja infolge von IGLU, dass die deutschen Grundschulen das Beste sind, was wir haben, und das brauchen wir nur fortzusetzen. Wenn sich an Schule etwas verbessern soll, dann ist das immer nur von unten möglich, d. h. nicht nur von der Grundschule her, sondern von jeder einzelnen Schule. Ich sage einmal etwas plakativ: Wenn Sie sich in Deutschland besonders gute Schulen angucken, können Sie vier immer wiederkehrende Merkmale erkennen: Erstens eine ziemlich starke Schulleiterpersönlichkeit, zweitens einen Konsens im Lehrerkollegium. Mit diesem Konsens verknüpft ist drittens, dass wir viele verschiedene Profile nebeneinander brauchen. So findet jeder Lehrer irgendwo seine Nische. Und das Letzte, was wir vorfinden, ist eine besonders enge und aktive Zusammenarbeit zwischen Lehrerschaft und Elternschaft. Und nun komme ich zum Schluss: Wenn wir uns die oben stehenden Länder bei TIMSS, PISA, IGLU und wie die Studien alle heißen, angucken, dann stellen uns diese vor die Wahl, uns entweder zurück in die 1950er-Jahre des letzten Jahrhunderts zu orientieren, d. h. wir müssten Angst und Selektion beim Lernen erhöhen wie die Länder Südkorea, Japan, Singapur oder Hongkong, die auch an der Spitze stehen. Das haben wir ja auch 250 Jahre lang gemacht. Oder wir entscheiden uns anders und gehen stattdessen 20 Jahre in die Zukunft. Dann dürfen wir nicht die Angst beim Lernen erhöhen, sondern die Motivation, nicht Selektion, sondern Integration, womit die anderen oben stehenden Länder, Finnland, Schweden, Kanada und die Niederlande z. B., ihren Erfolg begründet haben. Meyer: Struck: Merkmale Wie lernen gutenKinder Unterrichts Blindtext mehr? STATEMENT Hilbert Meyer Hilbert Meyer, geb. 1941, ist seit 1975 Professor für Schulpädagogik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg mit den Schwerpunkten Allgemeine Didaktik (seit 1975), Unterrichtsmethodik (seit 1982) und Schulentwicklung (seit 1992); 1994 Gründung der Forschungswerkstatt „Schule und LehrerInnenbildung“; 2000 Leiter des BLK-Modellversuchs „Lebenslanges Forschendes Lernen im Kooperationsverbund Schule, Seminar und Universität“. Hilbert Meyer ist Autor zahlreicher Publikationen. Meyer ist Vorsitzender der Jury Cornelsen Förderpreis Zukunft Schule. Vorbemerkung Begriffsklärungen Mein wichtigstes Ziel für den heutigen Vortrag besteht darin, Ihnen Anregungen zu geben, Ihre persönliche Theorie guten Unterrichts in Kenntnis empirischer Forschungsergebnisse weiterzuentwickeln. Voraussetzung dafür, dass dies überhaupt funktionieren kann, ist, dass Sie eine gewisse reflexive Distanz zu Ihrem eigenen Unterrichtshandeln herstellen. Dieses Sichselbst-beim-Unterrichten-über-die-Schulter-Schauen ist ganz wichtig. Gerade Lehrerinnen und Lehrer, die viel Routine Ich will vorweg die für meinen Vortrag zentralen Begriffe „Unterricht“, „guter Unterricht“ und „Merkmale guten Unterrichts“ erläutern. 1. Ich verwende einen sehr weiten Unterrichtsbegriff und unterscheide dabei drei wichtige Grundformen: zuerst den lehrgangsförmigen, zumeist fachbezogenen Unterricht; zweitens einen stärker individualisierenden Unterricht, wie er z. B. in Die internationale Unterrichtsforschung hat in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte gemacht. Deshalb wissen wir nun besser als früher, welche Faktoren Lernen fördern und welche es stören. Professor Dr. HILBERT MEYER, Schulpädagoge an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, hat aus vielen Studien zehn empirisch abgesicherte Gütekriterien für guten Unterricht herausdestilliert. Wer sich daran orientiert, hilf Schülerinnen und Schülern, ihre fachlichen Leistungen ebenso wie ihre sozialen und methodischen Kompetenzen zu verbessern. In seinem Statement „MERKMALE GUTEN UNTERRICHTS – EMPIRISCHE BEFUNDE UND DIDAKTISCHE RATSCHLÄGE“ erläuterte der Referent, wie Lehrer ihre persönlichen Vorstellungen guten Unterrichts überprüfen und gezielt weiterentwickeln können. haben, sollten es hin und wieder tun. Das ist aber, wie wir aus empirischen Erhebungen, z. B. von Ewald Terhart, wissen, nicht einfach. Warum? Die wichtigste Steuerungsinstanz für das unterrichtliche Handeln von Lehrerinnen und Lehrern ist ihr in langen Berufsjahren angereichertes, erstaunlich stabiles Erfahrungswissen – 93 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer haben zu Protokoll gegeben, sich im Wesentlichen daran zu orientieren. Theoriewissen spielt demgegenüber eine untergeordnete Rolle. Nur 7 Prozent sagten, sich regelmäßig an Theoriewissen aus der Zeit der Ausbildung oder aus Fortbildungsveranstaltungen zu orientieren. Das ist unbefriedigend. Deshalb spreche ich von einer persönlichen Theorie guten Unterrichts immer dann, wenn eine Lehrerin oder ein Lehrer bereit und in der Lage ist, ihr bzw. sein Erfahrungswissen durch theoretische Impulse ein Stück weiterzuentwickeln. Ich rechne also nicht damit, dass Sie meinen Vortrag eins zu eins in Ihre Unterrichtspraxis umsetzen. Ich möchte Sie vielmehr dazu verleiten, ein wenig an Ihrer persönlichen Theorie guten Unterrichts zu „schnitzen“. Form von Freiarbeit, Werkstattarbeit oder – in der gymnasialen Oberstufe – durch die Anfertigung von Facharbeiten praktiziert wird; und drittens alle projektförmigen Arbeitsformen. Alle drei Grundformen sind für mich gleich wichtig, auch wenn sie im Schulalltag unausgewogen praktiziert werden – der lehrgangsförmige Unterricht dominiert fast überall. Es wäre aber sinnvoll, langfristig eine quantitative und qualitative Drittelparität zwischen den Grundformen herzustellen. Diese Empfehlung kann auch empirisch belegt werden. Es gibt zwei bekannte Schulen in Deutschland, die bereits Drittelparität ihrer unterrichtlichen Grundformen in dem von mir definierten Sinne hergestellt haben: die Helene-Lange-Schule in Wiesbaden und die Laborschule Bielefeld. Diese zwei Schulen haben den PISA-Test für alle Schüler ihres 10. Jahrgangs wiederholt und dabei sehr gut abgeschnitten (zum Teil oberhalb der finnischen Ergebnisse). 2. Was ist „guter Unterricht“? Als ich vor zwei Jahren mein Buch gleichen Titels zu schreiben anfing, dachte ich, ich bräuchte 23 nur in die damals vorliegenden Bücher zu diesem Thema zu schauen und würde sofort eine akzeptable Definition finden. Aber nichts da! Was ich fand, waren zahllose Erläuterungen, warum es schwierig, ja unmöglich sei, guten Unterricht zu definieren. Das fand ich unbefriedigend. Ich habe dann das getan, was ich immer in solchen Fällen tue. Ich habe Schüler und Lehrer befragt, was sie unter gutem Unterricht verstehen. Hier eine erste Stellungnahme, die mich zunächst allerdings sehr geärgert hatte: Markus, ein siebzehnjähriger Grundkurs-Geschichte-Schüler aus Hamburg, erklärt: „Unterricht ist dann gut, wenn ich mit minimalem Aufwand einen maximalen Ertrag erziele.“ Dieser Schüler war an Geschichte nicht interessiert. Er ist zu seinem Geschichtslehrer gegangen und hat ihn gefragt, was er tun müsse, um die Mindestpunktzahl zu erhalten. Der Lehrer sagte ihm: „Nicht stören, die Klausur mitschreiben und mindestens fünf Punkte machen!“ Markus hat ein Arbeitsbündnis mit seinem Lehrer geschlossen, und das finde ich wiederum sehr vernünftig – auch wenn es sich in diesem Falle auf dem denkbar niedrigsten Niveau bewegt. Wir können nicht von Schülern verlangen, dass sie in allen 12 Unterrichtsfächern mit glühendem Herzen dabei sind. Bei jüngeren Schülern gibt es zumeist kein formelles Arbeitsbündnis. Sie kommen gern in die Schule, und sie möchten etwas lernen. Auch dazu habe ich eine Stellungnahme mitgebracht. Sie stammt von Mariah, einem achtjährigen aufgeweckten Mädchen aus einer kleinen ländlichen Grundschule in Niedersachsen. Die Lehrerin hatte den Schülern gesagt, sie sollten aufschreiben, was guter Unterricht sei. Mariah schreibt: „Am Sachunterricht z. B. finde ich einfach toll, dass wir eine so tolle Lehrerin bekommen haben. Sie ist so supernett, und die Themen sind auch so spannend, dass ich mich einfach daran beteiligen muss. Ich sage euch, Sachunterricht ist das beste Fach des ganzen Universums.“ Die Schülerin zeigt sehr deutlich, dass das Schülerbild vom guten Unterricht fast immer durch die Wahrnehmung der Lehrerpersönlichkeit vermittelt wird. Das ist ein ganz wichtiger, ja entscheidender Faktor für unser Nachdenken über guten Unterricht. Aber was folgt daraus? Wenn die Theoretiker den Praktikern nicht mehr zu sagen haben, als dass sie erst einmal ihre Lehrerpersönlichkeit umkrempeln müssten, dann kann man das Ziel der Qualitätsverbesserung auch gleich wieder vergessen. Denn die Persönlichkeitsbildung ist bei fast allen Menschen mit ungefähr 25 Jahren abgeschlossen. Eine Empfehlung wie „Werden Sie etwas humorvoller“ ist also kaum umsetzbar. Deshalb habe ich in die nachfolgende Sammlung von Merkmalen guten Unterrichts in diplomatisch-didaktischer Absicht nur solche Faktoren aufgenommen, die im Unterricht selbst durch die gemeinsame Anstrengung von Lehrern und Schülern stark gemacht werden können. 24 Ich kann meine Fokussierung auf jene Faktoren, die im Unterricht selbst bearbeitet werden können, auch noch anders begründen: Wenn ich die Stärke der Lehrerpersönlichkeit oder, auf der Schülerseite, die Intensität der Lernmotivation zu zentralen Faktoren guten Unterrichts gemacht hätte, dann wäre ja Unterricht in einem gymnasialen Leistungskurs, bei dem eine hohe Lern- und Leistungsmotivation der Schüler vorausgesetzt werden kann, per definitionem guter Unterricht, während Unterricht an einer Sonderschule für Erziehungs- oder Lernhilfe per definitionem schlechter Unterricht wäre – eine unsinnige und unbarmherzige Argumentation! Ich muss die Güte des Unterrichts also immer im Blick darauf bestimmen, was Lehrer und Schüler in gemeinsamer Anstrengung geschafft haben. Ich habe nun auf der Grundlage dieser und weiterer Stellungnahmen und unter Einbezug meiner eigenen bildungstheoretischen Überzeugungen die folgende Arbeitsdefinition formuliert: Guter Unterricht ist ein Unterricht, in dem im Rahmen einer demokratischen Unterrichtskultur auf der Grundlage des Erziehungsauftrags und mit dem Ziel eines gelingenden Arbeitsbündnisses eine sinnstiftende Orientierung und ein Beitrag zur nachhaltigen Kompetenzentwicklung aller Schülerinnen und Schüler geleistet wird. Die PISA-Studie hatte sich auf Punkt 5 kapriziert und die Punkte 1 bis 4 vernachlässigt. Das muss beim Nachdenken über guten Unterricht korrigiert werden: Unterricht soll trotz all seiner inneren Widersprüche Demokratie für Schüler und Lehrer erfahrbar machen. Unterricht soll so konstruiert sein, dass es den Schülern leicht gemacht wird, ein Arbeitsbündnis mit ihren Lehrern zu schmieden. Anders formuliert: Im guten Unterricht wird die didaktische Kompetenz der Schüler voll genutzt. Guter Unterricht ist erziehender Unterricht. Er trägt dazu bei, den heute immer brüchiger, aber auch immer wichtiger werdenden Erziehungsauftrag der Schule wahrzunehmen. Er ist nicht kündbar – auch dort nicht, wo wir es mit Schülern zu tun haben, die gar nicht erzogen werden wollen. Schließlich soll Unterricht sinnstiftend wirken; ich hätte mit einem altertümlichen Wort auch sagen können: Er soll bilden. 3. Eine letzte Begriffsklärung: Ich spreche von „Merkmalen guten Unterrichts“ so, wie dies die empirischen Unterrichtsforscher auch tun. Merkmale guten Unterrichts sind empirisch erforschte Ausprägungen von Unterricht, die zu dauerhaft hohen kognitiven, affektiven und/oder sozialen Lernergebnissen beitragen. Und ich ergänze, dass diese Merkmale nicht nur empirisch abgesichert, sondern auch bildungstheoretisch gewichtet und begründet werden müssen. Meyer: Merkmale guten Unterrichts Blindtext Merkmale guten Unterrichts Die empirische Unterrichtsforschung hat in den letzten 15 Jahren erhebliche Fortschritte gemacht. Die Forscher sind heute in der Lage, bestimmte Faktoren zu benennen, die in den von ihnen untersuchten Schulklassen das Lernen nachweislich befördert haben. Ich habe aus den zahlreichen Studien zehn Merkmale guten Unterrichtsherausgefiltert, die m. E. die von Lehrern und Schülern bei der Qualitätssicherung zu lösende Gesamtaufgabe angemessen abbilden. Bei meiner Lektüre musste ich hier und dort umlernen, und an diesem Umlernprozess möchte ich Sie gerne beteiligen. Vielleicht haben Sie in meinem Zehnerkatalog das Merkmal „Disziplin“ vermisst. Ich habe es absichtlich weggelassen – nicht weil Disziplin unwichtig wäre, sondern weil es kein Merkmal, sondern eine Folge guten Unterrichts ist. Wenn ich klar strukturiere, wenn ich die Lernzeit für kostbar halte, wenn ich ein gutes Klima schaffe usw., dann wächst auch die Disziplin des Lehrers und der Schüler. Zwei Anmerkungen zum Geltungsanspruch dieses Katalogs: Erstens, der Katalog ist nicht vollständig, es fehlen z. B. fachdidaktische Merkmale und auch die Erziehungsaufgaben sind unterbelichtet. Ich habe beides nicht mutwillig weggelassen. Vielmehr ist die empirische Forschung in diesen Punkten noch nicht so weit. 1. Klare Strukturierung des Unterrichts (Ziel-, Aufgaben-, Prozessund Rollenklarheit). 2. Hoher Anteil echter Lernzeit (das ist die Zeit, aus der z.B. die Regulierung von Disziplinkonflikten oder die Regelung von Organisationskram herausgerechnet ist). 3. Lernförderliches Klima (d. h. gegenseitiger Respekt, verlässlich eingehaltene Regeln, Verantwortungsübernahme, Gerechtigkeit und Fürsorge). 4. Inhaltliche Klarheit (durch Verständlichkeit der Aufgabenstellung, Plausibilität des thematischen Gangs und natürlich Klarheit der Ergebnissicherung). 5. Sinnstiftendes Kommunizieren (durch Planungsbeteiligung, Gesprächskultur, Sinnkonferenzen, Schülerfeedback). 6. Methodenvielfalt (Reichtum an Inszenierungstechniken; Vielfalt der Handlungsmuster, Variabilität der Verlaufsformen und Ausbalancierung der methodischen Großformen). 7. Individuelles Fördern (durch Freiräume, Geduld und Zeit; durch innere Differenzierung; durch individuelle Lernstandsanalysen und abgestimmte Förderpläne, besondere Förderung von Schülern aus Risikogruppen). 8. Intelligentes Üben (durch Bewusstmachen von Lernstrategien, passgenaue Übungsaufträge und gezielte Hilfestellungen). 9. Transparente Leistungserwartung (durch ein an Bildungsstandards und Leistungsvermögen der Schüler orientiertes Lernangebot Zweitens: Der Katalog gilt für herkömmlichen, und Rückmeldungen zum Lernfortschritt). didaktisch und methodisch traditionellen Unterricht ebenso wie für „modernen“, stark differen10. Vorbereitete Umgebung (mit verlässlicher Ordnung, geschickter zierenden Unterricht. Dem liegt eine Prämisse Raumregie, Bewegungsmöglichkeiten, brauchbarem Lernwerkzeug). zugrunde, die ich in meinen früheren Veröffentlichungen nicht genannt, aber immer vorausgesetzt habe: Es gibt guten herkömmlichen und schlechten herkömmlichen ebenso wie guten offenen bzw. schülerzentrierten und schlechten offenen Unterricht. Diese These haben einige Leser meines auf den Lernerfolg ist. Seit ich vor 40 Jahren in Niedersachsen Buches zum guten Unterricht so gedeutet, als ob ich einen in einer Klasse mit gut 40 Schülerinnen und Schülern als Junggrundlegenden Schwenk gemacht hätte und nun dem offenen, lehrer gearbeitet habe, ist mir dieses Merkmal vertraut und dem schüler- oder handlungsorientierten Unterricht abge- wichtig. Was ist darunter zu verstehen? schworen hätte. Das ist Unsinn. 1. Klare Strukturierung erwächst aus der Rollenklarheit. Der Ich erläutere Ihnen nun die zehn Merkmale ein wenig ausführ- Lehrer weiß, wann er dran ist und wann er sich zurückhalten licher: Wer es noch genauer wissen will, kann in dem Buch muss, und die Schüler wissen, wann sie dran sind. „Guter Unterricht“ nachschauen. 2. Klare Strukturierung bezieht sich auf die Aufgabenklarheit. Es 1. Klare Strukturierung des Unterrichts reicht nicht, dass sich der Lehrer die Aufgabe klar gemacht hat – sie muss beim Schüler angekommen sein. Unterricht ist mithin Ich war überrascht und erfreut, als ich in der empirischen Lite- dann gut, wenn ein fremder Besucher in den Klassenraum ratur entdeckte, dass klare Strukturierung der absolute Spit- gehen und einen beliebigen Schüler fragen kann, was er da tue zenreiter unter den Unterrichtsmerkmalen mit starkem Einfluss und warum, und eine sachbezogene Antwort erhält. 25 und Baden-Württemberg deutlich bessere Leistungen zeigen als die Bremer. Die Bremer Schülerinnen und Schüler haben aber bis zur 10. Klasse ein ganzes Schuljahr weniger an Unterricht absolviert – kein Wunder, dass sie leistungsmäßig schlechter dastehen. (Die Bremer haben das inzwischen aber korrigiert.) Guter Unterricht fängt pünktlich an, und er endet am Stundenschluss – nicht früher. In meinem Buch zum guten Unterricht habe ich ein einfaches Rechenbeispiel vorgelegt. Heute kostet eine Unterrichtsstunde den Staat ungefähr 75 Euro, eine Turnhallenstunde das Doppelte. Ein A-13-Lehrer am Gymnasium, der drei Mal am Vormittag den Lernprozess mit fünf Minuten Verspätung startet, hat also schon eine Drittel Unterrichtsstunde verspielt und 25 Euro in den Sand gesetzt. Und eine Gymnasiastin, die den Staat ungefähr 5000 Euro pro Jahr kostet, hat den Staat ebenfalls um 25 Euro geprellt, wenn sie einen Tag lang schwänzt. Wir sind es nicht gewohnt so zu denken, aber wir sollten an deutschen Schulen mehr Kostenbewusstsein entwickeln. Foto: VdS Bildungsmedien 3. Eine klare Prozessstrukturierung ist ebenso wichtig. Der bekannte amerikanische Unterrichtsforscher Jacob Kounin spricht hier von der notwendigen „Reibungslosigkeit“ der Unterrichtsführung. Man hätte auch „Eleganz“ sagen können. Gute Lehrer können viele Störungen im Umfeld regulieren, sie können zügig von einem Unterrichtsschritt zum nächsten umschalten usw. Und noch bessere Lehrer sorgen dafür, dass die Schüler diese didaktische Kompetenz erwerben. Mit „echter Lernzeit“ ist aber noch mehr als die physische Anwesenheit gemeint. Durch aktives Einbeziehen der Zuhörerinnen und Zuhörer verstand es Professor Meyer, seinen Man muss auch lernbereit und aufmerkVortrag noch anschaulicher zu gestalten. sam dabei sein. Echte Lernzeit ist deshalb der Anteil an der im Unterricht zugebrachten Zeit, in dem die Schüler wirklich bei Klare Strukturierung hat für das Lernergebnis wichtige Folgen. der Sache sind. Das kann Einzel- und Gruppenarbeit, aber selbstSie führt zu einem hohen Anteil echter Lernzeit, zur Reduzie- verständlich auch eine lehrerzentrierte Phase sein, in der Schürung von Störungen und zu hoher Schüleraufmerksamkeit. Ich ler intensiv einem Lehrervortrag lauschen. Es ist unschwer aushabe in den letzten 30 Jahren viele Gespräche mit Mentorinnen zumachen, wer die „Zeitkiller“ in deutschen Klassenzimmern und Mentoren geführt, bei denen ich zusammen mit Studie- sind: die mangelhafte Vorbereitung der Schüler und des Lehrers, renden den Unterricht besucht habe; wenn dann eine Klasse die zunehmenden Disziplinstörungen und die wuchernden sehr unaufmerksam war, kam der Lehrer hinterher zu mir und Organisationsaufgaben, von denen ein erheblicher Teil m. E. sagte: „Entschuldigen Sie, aber das ist eine Klasse aus einem auch außerhalb der Unterrichtsstunde geregelt werden könnte. wirklich schwierigen sozialen Umfeld, und der viele Lehrer3. Lernförderliches Klima wechsel hat der Klasse auch nicht gut getan.“ Umgekehrt, wenn eine Klasse gut bei der Sache war, habe ich das hinterher angesprochen. Dann sagten die Lehrer fast immer: „Ja, daran habe Ein gutes Klima ist für mich in erster Linie durch gegenseitigen ich auch hart gearbeitet.“ Wer hat Recht? Die Wahrheit wird Respekt, also den vollständigen Verzicht auf eine Demütigung irgendwo in der Mitte liegen. Last, not least: Klare Strukturie- der Schüler und ein Verächtlichmachen der Lehrer gekennzeichrung darf nicht mit autoritärem Lehrerverhalten verwechselt net. Vielleicht kennen einige hier im Raum Mats Ekholm, einen werden. Sie muss immer vom Schüler her gedacht werden. Und bekannten schwedischen Unterrichtsforscher und guten Kenner sie kann durch das, was heute als „kooperative Klassenführung“ der deutschen Schullandschaft. Wir haben ihn einmal gefragt, was ihm an deutschen Schulen besonders auffällt. Seine Antbezeichnet wird, wirkungsvoll gestärkt werden. wort: 1. fehlender Respekt der Schulleiter vor dem Kultusminis2. Hoher Anteil echter Lernzeit ter, 2. fehlender Respekt der Lehrer vor dem Schulleiter und 3. merkwürdige Verhältnisse zwischen Lehrern und Schülern. Mit Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Lernzeit einen mess- dieser Kritik hat er sicherlich nicht gemeint, dass die Schulleibaren Einfluss auf den Lernerfolg hat – eigentlich eine Selbst- ter und Lehrer alles akzeptieren müssen, was die Obrigkeit verständlichkeit, aber es ist gut, dies noch einmal empirisch befiehlt. Auch ein Kultusminister muss mit seinen Lehrern resbestätigt bekommen zu haben. Wir wissen ja aus der PISA- pektvoll umgehen, und das erkennt man – so Mats Ekholm – Länderstudie, dass die Schüler der Bundes-Siegerländer Bayern insbesondere daran, dass er seinen Lehrern keine Auflagen 26 Meyer: Merkmale guten Unterrichts macht, wenn nicht zuvor die erforderlichen Rahmenbedingungen geschaffen worden sind. Zum lernförderlichen Klima gehören verlässlich eingehaltene Regeln und gemeinsam geteilte Verantwortung. Auch hierfür gibt es empirische Belege und überzeugende Beispiele aus der Geschichte der Schule: Wo die Schüler viel Verantwortung übertragen bekommen, lernen sie besser und mehr. Schließlich gehören Gerechtigkeit und Fürsorge dazu. Diese beiden Variablen können schnell in Widerspruch zueinander geraten. Ich weiß noch, wie ich als junger Lehrer mit mir gerungen habe: Ich hatte eine Schülerin, die ich für sehr intelligent hielt, die aber von ihrer Mutter schrecklich unter Druck gesetzt wurde, gute Noten zu produzieren. Sie war beim Diktatschreiben immer sehr aufgeregt; sie hatte mal wieder eine 5 geschrieben, und die Gesamtnote 5 wurde wahrscheinlich. Ich habe dann einfach zwei Fehler ihres Diktats korrigiert, so dass sie eine 4 minus bekommen konnte. Natürlich kollidiert das mit meiner Pflicht, alle Schüler gerecht zu behandeln – aber ein professioneller Lehrer muss zwischen Fürsorge und Gerechtigkeit ausbalancieren können. Ich sehe keine andere Lösung: Weil in der Schule in sich widersprüchliche Ziele verfolgt werden müssen, können gute Lehrer auch mal über ihren eigenen Schatten springen. So werden sie Profis im Ausbalancieren. 4. Inhaltliche Klarheit Dieses Merkmal hätte ich auch zu einem Unterpunkt von Merkmal 1 machen können. Aber dann wäre Nr. 1 zu einem Megakriterium geworden. Und das wollte ich nicht. Inhaltliche Klarheit bezieht sich auf den gesamten Unterrichtsprozess, also auf die Aufgabenklärung zu Beginn, auf die Klärung der Sachfragen und auf die Klarheit und Verbindlichkeit der Ergebnissicherung. Um inhaltliche Klarheit für die Schüler herbeizuführen, muss der Lehrer erstens den Lernstand der Schüler im Detail ermitteln und zweitens die Struktur der zu lösenden Aufgabe klären. Das ist schwierig, auch wenn es seit jeher das Hauptgeschäft der Fachdidaktiker war. Inhaltliche Klarheit wird insbesondere durch das gefördert, was seit Kurzem mit dem Schlagwort des „kumulativen“ oder „vernetzenden Lernens“ bezeichnet wird. Dabei geht es um die Verknüpfung des schon Beherrschten mit der neuen Aufgabe und um die Übung, Anwendung und den Transfer in benachbarte Lernbereiche. Verknüpfen mit dem schon Beherrschten nennt man auch den vertikalen Transfer, Üben und Anwenden den horizontalen Transfer. Wir haben gestern hier auf der „didacta – die Bildungsmesse“ bei der Verleihung des Cornelsen-Förderpreises „Zukunft Schule“ das nächste Förderthema mitgeteilt, zu dem Sie alle Projekte einreichen können. Es lautet „Vernetztes Lernen fördern“. Damit ist nicht gemeint, dass zwei PCs miteinander verbunden werden, sondern dass der Aufbau des Wissens und Könnens der Schüler stärker als bisher üblich vernetzt wird. Wir laden Sie herzlich ein, hier Entwicklungsarbeit zu leisten und sich zu bewerben. 5. Sinnstiftendes Kommunizieren Damit bezeichne ich den Prozess, in dem die Schülerinnen und Schüler im Austausch mit ihren Lehrern dem Lehr-/Lernprozess und seinen Ergebnissen eine persönliche Bedeutung geben. Es dürfte Sie nicht überraschen, dass dieses fünfte Merkmal empirisch noch nicht gut abgesichert ist. Mir ist bei meinen Recherchen nur ein einziger Autor begegnet, der sich dazu äußert: Jere Brophy aus den USA. Er sagt, er könne empirisch nachweisen, dass in Klassen, in denen „sinnstiftende Unterrichtsgespräche“ geführt wurden, auch hinterher höhere kognitive Lernerfolge eintraten. Aber ich hätte dieses Kriterium auch ohne diesen Beleg aus der Literatur aufgenommen, da es für mich das wichtigste von allen ist. Wir wollen ja nicht nur mechanisch Wissen vermitteln, sondern Sinn stiften und dadurch einen kritischen Optimismus der Schüler für ihre Zukunft fördern. Je schlechter die Berufs- und Lebensperspektiven der Schüler sind, umso wichtiger wird das fünfte Merkmal, umso schwieriger wird es aber auch, es einzulösen. 6. Methodenvielfalt „Mischwald ist besser als Monokultur“ – das ist mein kürzestes Fazit aus der empirischen Forschung zu den Effekten von Unterrichtsmethoden. Vor 30 Jahren haben die empirischen Unterrichtsforscher die Idee aufgegeben, man könne die eine Methode finden, die alle anderen aussticht. Es gibt sie nicht. Wir können also auch empirisch nachweisen, dass dort, wo den Schülerinnen und Schülern vielfältige methodische Angebote gemacht werden, bessere Lernergebnisse eintreten. Das ist kein Wunder, denn die wachsende Heterogenität der Schülervoraussetzung legt Methodenvielfalt nahe. 7. Individuelles Fördern Seit PISA wissen wir, dass wir in Deutschland einen besonderen Nachholbedarf in diesem Punkt haben. Und das gilt für die strukturellen Voraussetzungen des Förderns ebenso wie für die Förderhaltung jedes einzelnen Lehrers, jeder einzelnen Lehrerin. Mein Neffe war vor Kurzem in den USA. Am zweiten Tag, an dem er dort zur Schule ging, riefen bereits zwei Lehrer bei ihm an und fragten, ob er klarkomme. Und das wird dort nicht nur bei Gastschülern so gemacht, sondern auch bei den einheimischen. Wir müssen in Deutschland mehr Fantasie beim individuellen Fördern entwickeln. Andere Nationen – insbesondere die PISA-Siegerländer – sind uns da weit voraus. Z.B. gibt es in Schweden in fast jeder Klasse Mathebücher für lesestarke und für leseschwache Schüler. Schauen Sie mal, wo Sie an einem deutschen Gymnasium ein Mathebuch für Leseschwache finden. Da wird lieber gesagt: „Du gehörst woanders hin.“ Ich habe seit Kurzem eine deutsche Kollegin, die vorher 30 Jahre lang in Schweden Lehrerin war. Sie war an einer kleinen ländlichen Schule mit 220 Schülern in der Nähe von Uppsala. Es gab an dieser Schule eine Lernwerkstatt, an der eine Dyskalkulie-Fachfrau, eine Legasthenie-Fachfrau und eine Sozi- 27 alpädagogin auf halber Stelle nur für diese Schule arbeiteten. Die drei haben individuelles Fördern praktiziert – immer nur punktuell, also den förderbedürftigen Schüler für eine Stunde hergeholt und dann wieder zurück in den Unterricht geschickt. Ela, die erwähnte deutsche Lehrerin, sagte, sie hätte dort das halbe Gehalt von dem, was in Deutschland üblich ist, bekommen, aber wenn sie noch einmal wechseln könnte, würde sie wieder zurückgehen. Die schulischen Arbeitsbedingungen sind in Schweden deutlich besser, und das zählt für sie mehr als ein höheres Gehalt. 8. Intelligentes Üben räumlicher Ausstattung zu sehr guten Lernerfolgen kommen. Bei leistungsschwachen Lehrern dürften sich die durch schlechte Medien, zu volle Räume und fehlende Regelabsprachen ausgelösten Effekte natürlich doppelt negativ auswirken. Die Anhänger kleiner Klassen sollten einmal die neu erschienene empirische Studie von Gritt Arnold zu diesem Thema lesen: Sie zeigt, dass die Schüleranzahl in keinem direkten Zusammenhang zur Qualität des Lernergebnisses steht (wohl aber mit dem Arbeitsaufwand des Lehrers korreliert). 9. Transparente Leistungserwartung Ein didaktischer Theorierahmen Wir wissen, dass Leistungsdruck in aller Regel kontraproduktiv ist. Deshalb liegt die Betonung bei diesem Merkmal auf „transparent“. Wie man Transparenz herstellt, ist ein sehr weites Feld, und es ist Knochenarbeit, Leistungserwartungen immer wieder in allen Details, körpersprachlich und verbal zu vermitteln und nicht bloß dadurch, dass mitgeteilt wird, was in der Klausur drankommt. Ich nähere mich dem Schluss meines Vortrags und möchte Ihnen in vier Unterpunkten erläutern, von welchen Voraussetzungen ich bei der Definition meines Zehnerkatalogs ausgegangen bin und welche offenen Theoriefragen es noch gibt. Das ist sinnvoll, damit Sie meinen Katalog kritisch beurteilen und für eigene Zwecke (z. B. für Ihr Schulprogramm oder für die kollegiale Hospitation) weiterentwickeln können. Skizze: Prof. Meyer Pauschales Üben ist unintelligent. Das obere Drittel der Schüler kann‘s schon und entwickelt Langeweile; dem unteren Drittel fehlen die Voraussetzungen für das Üben, und das mittlere Drittel wird vom oberen und unteren gestört. Intelligentes Üben ist deshalb immer ein hoch differenziertes Üben. Wir müssen lernen, die Übe-Praxis genauer auf die Übungsziele zu beziehen. Wir wissen darüber hinaus, dass es besonders viel hilft, wenn Schüler sich die eigenen Lernstrategien bewusst machen. Und gerade die letzten 20 Prozent der in der PISA-Studie erfassten deutschen Schüler hatten in diesem Bereich erhebliche Defizite. Wir sollten dem Üben im Klassenzimmer wieder mehr Zeit und Gewicht geben. Deshalb träume ich davon, dass eine Schule einmal im Jahr ein Übe-Festival macht, bei dem die Schüler ihre Lernstrategien vorführen und wo die 20 Schüler mit den pfiffigsten Übe-Ideen prämiert werden. 10. Vorbereitete Umgebung Das Wort stammt ursprünglich von Maria Montessori; sie hat sich schon vor 80, 90 Jahren kluge Gedanken darüber gemacht. Ich denke dabei an die gute Ordnung im Klassenzimmer, an funktionale Einrichtungen, an ausreichend Licht, gute Luft und brauchbare Medien. Die Mehrzahl dieser Variablen kann vom Lehrer und seinen Schülern beeinflusst werden. Und die nicht beeinflussbaren Variablen sind weniger einflussreich, als viele Lehrer und Eltern meinen. Die empirische Forschung zeigt, dass die Klassengröße und der Zustand der Gebäude nur einen geringen Einfluss auf den Lernerfolg haben. Anders formuliert: Gute Lehrer können auch mit schlechten Medien und ungenügender 28 1. Nach welchen „Spielregeln“ ist der Zehnerkatalog konstruiert? 1. Ich habe immer darauf geachtet, dass meine Merkmale eine äußere, für jedermann und jede Frau sichtbare und eine innere, nur durch kluge Interpretation erschließbare Seite haben. Die in meinem Buch zum guten Unterricht enthaltenen Indikatorenlisten helfen, die Beobachtbarkeit der äußeren Seite der zehn Merkmale zu sichern. Beim Merkmal 1 ist die äußere Seite das, was die Amerikaner Classroom-Management nennen; die innere Seite besteht aus dem, was man als „roten Faden“ einer Unterrichtsstunde bezeichnet. Meyer: Merkmale guten Unterrichts 2. Persönlichkeitsmerkmale des Lehrers und der Schüler sind wesentliche Voraussetzungen guten Unterrichts, zählen für mich aber nicht zu den Merkmalen selbst. Sie fehlen also im Katalog (s. o.). 4. Der Katalog gilt für alle Fächer, Schulstufen und -formen. Bei mir an der Universität verfasst gerade eine Studentin eine Hausarbeit. Sie will eine Orchesterprobe anhand der zehn Merkmale guten Unterrichts kontrollieren. Ihrem Zwischenbericht zufolge geht das problemlos; auch in einer Orchesterprobe tauchen alle zehn Merkmale auf. Stärken beim anderen kompensieren können. Allerdings ist zu vermuten, dass auch in den sechs Best-Practice-Klassen der SCHOLASTIK-Studie noch bessere Schülerleistungen entstanden wären, wenn die sehr starken Lehrer auch ihre Schwachpunkte noch behoben hätten. Das führt zum Teil zu irritierenden Forschungsergebnissen. So ist durch mehrere Studien belegt, dass in Klassen mit schlechten Unterrichtsklima dennoch verhältnismäßig viel gelernt wird. Die zehn Merkmale bilden sozusagen ein Qualitätsnetzwerk guten Unterrichts mit zahlreichen, empirisch allerdings noch nicht genau untersuchten Synergieeffekten. Das gilt selbst für so wichtige Punkte wie die fachwissenschaftliche Kompetenz der Lehrenden. Andreas Helmke konnte in der MARKUS-Studie für die Sekundarstufe I nachweisen, dass Lehrer, die fachfremd Mathematik an Haupt- und Realschulen unterrichteten, keinen schlechteren Unterricht gaben als jene, die ein Mathe-Examen gemacht hatten. Wie ist das zu erklären? Ich vermute, dass die fachfremd unterrichtenden Lehrer stärker mit ihren Schülern kooperieren, sie also zu ihren Verbündeten machen und ihre didaktische Kompetenz nutzen. 2. Wie kommen die zitierten Forschungsergebnisse zustande? 4. Wie hoch ist der Anteil des Lehrers am Lernerfolg? Ich habe nun schon ein gutes dutzend Mal gesagt, die Wissenschaft habe dies und das festgestellt. Wie kommen solche Aussagen zustande? Ich will das anhand einer bekannten deutschen Studie, der SCHOLASTIK-Studie von Franz Weinert, Andreas Helmke u. a. erläutern. Die Wissenschaftler haben vier Jahre lang 52 Grundschulklassen begleitet und zwei Jahre lang eine harte Testphase gehabt. Sie haben die Eingangsvoraussetzungen der Schüler in Deutsch und Mathe getestet und nach zwei Jahren überprüft, wie sie sich entwickelt haben. Und sie haben immer wieder im Unterricht nachgeschaut, welche Methoden der Lehrer einsetzt, wie das Klima ist usw. Dabei kam es zu einem überraschenden Ergebnis: Die sechs Klassen mit den allerbesten Ergebnissen hatten nämlich Lehrerinnen und Lehrer, die oft in Einzelpunkten, z. B. bei der Methodenvielfalt oder beim individuellen Fördern, deutliche Defizite zeigten. Dennoch hatten die Schüler Spitzenergebnisse. Was folgt daraus? Gerade Unterricht von starken Lehrerinnen und Lehrern hat ein je individuelles Profil. Qualitätssicherung im Kollegium darf also nicht mit Gleich-macherei verwechselt werden. Die Autoren schreiben es selbst: Viele Wege führen nach Rom. Was dieses Forschungsergebnis für leistungsschwache Lehrer und Lehrerinnen bedeutet, ist unklar. Leider, wirklich leider haben die deutschen Kultusminister die Teilnahme an dem von der OECD in den nächsten Jahren durchgeführten so genannten Lehrer-PISA wieder abgesagt. Angeblich aus Geldgründen, ich denke aber, sie haben Angst vor den Konflikten mit den Lehrern und den Lehrerverbänden. Dass der Lehrer nicht für 100 Prozent des Lernerfolgs verantwortlich ist, dürfte unmittelbar einleuchten. Aber wie hoch ist der Anteil dann? 75 Prozent? Oder nur 10? Lässt sich das überhaupt statistisch seriös berechnen? Ich habe lange gefahndet, aber dann doch einige Antworten gefunden. Die Forschungen gingen los mit einem Paukenschlag. Im Jahr 1971 behaupteten Christopher Jencks und sein Forschungsteam: Ein Prozent des Lernerfolgs der Schüler wird durch die Lehrer und die Qualität des Unterrichts herbeigeführt. Zehn Jahre später hieß es zehn Prozent, dann 20 Prozent. Vor einem Jahr habe ich den Vortrag eines britischen Unterrichtsforschers gehört, der meinte, es seien rund 25 Prozent. Ein ähnlicher Schätzwert (24 Prozent) stammt von Ewald Terhart. Ich schließe mich diesen Schätzungen an: Der durchschnittliche Lehreranteil liegt also bei 25 Prozent. Das mag für viele von Ihnen überraschend niedrig klingen, aber es ist eine ganze Menge, um die es sich zu kämpfen lohnt. (Schließlich geht es um einen Durchschnittswert, in den auch jene Lehrer, die sehr wenig oder gar nichts bewirken, eingerechnet sind.) Es ist gut für die Psychohygiene der Lehrkräfte, wenn wir wissen, dass wir nicht als Einzige für die Lernerfolge der Schüler verantwortlich sind. Kluge Schüler lernen auch bei saumäßigem Unterricht noch eine ganze Menge – aber schlechte Schüler haben es umso schwerer. Nur die Biertischpolitiker vergessen das manchmal, wenn sie über die Lehrer herfallen. 3. Nicht nur die Lehrkräfte, auch die Schülerinnen und Schüler können einen Beitrag zum Starkmachen der zehn Merkmale leisten. Das wurde mir klar, als ich die 17-jährige Sonja befragte, was für sie das wichtigste Merkmal guten Unterrichts sei. Sie antwortete: „dass ich gefördert werde“. Auf meine Frage, was sie damit meine, sagte sie: „Na ja, dass ich in einer Clique bin, wo wir uns gegenseitig helfen.“ 3. Kann man Schwächen beim einen Merkmal durch Stärken beim anderen kompensieren? Die eben zitierte SCHOLASTIK-Studie belegt, dass starke Lehrerinnen und Lehrer Schwächen bei einem der Merkmale durch Ich komme zum Schluss und formuliere eine zusammenfassende These: Guter Unterricht geht von einer nüchternen Einschätzung der Rahmenbedingungen aus, aber er versucht, den Lernerfolg zu erhöhen, indem die Schüler zu Verbündeten gemacht werden und ihre didaktische Kompetenz genutzt wird. 29 STATEMENT Heinz Klippert Heinz Klippert, geb. 1948, Dr. rer. pol.; Dipl.-Ökonom; Lehrerausbildung und -tätigkeit in Hessen; seit 1977 Dozent am Lehrerfortbildungsinstitut der Evangelischen Kirche in Rheinland-Pfalz (ERWI) mit Sitz in Landau. Trainer, Berater und Ausbilder in Sachen „Pädagogische Schulentwicklung“. Zahlreiche Publikationen zur Didaktik und Methodik des wirtschafts- und sozialkundlichen Unterrichts, zum Arbeitsfeld „Schulentwicklung“ sowie zum Methoden- und Kommunikationstraining für Schülerinnen und Schüler. Trainer, Berater und Ausbilder für „Pädagogische Schulentwicklung“. Das Thema Bildungsstandards ist ein Thema, das derzeit ganze Lehrerscharen bundesweit beschäftigt. Es werden Arbeitspläne zur Umsetzung der Bildungsstandards entwickelt, und ich habe den Eindruck – zumindest für Rheinland-Pfalz, wo ich herkomme –, dass das ein gigantisches Arbeitsbeschaffungsprogramm außerhalb des Unterrichts ist. Es werden Lernziele neu geordnet, Stoffe neu geordnet, es wird sozusagen eine neue didaktische Komposition entwickelt, die aber deshalb noch lange nicht den Unterricht erreicht. Meine These ist, dass sich die erwähnten alltagstauglichen Routinen in hohem Maße aus dieser lehrerzentrierten, stofforientierten Arbeit speisen. Wir haben Vortragsroutinen, Routinen im Bereich des Fragen entwickelnden Verfahrens, des lehrergelenkten Unterrichtsgesprächs; das bekommen wir auch ohne nennenswerte Vorbereitung hin. Wir haben Routinen im Bereich der Tafelbildentwicklung und Routinen im Bereich des Sanktionierens und Disziplinierens. Es sind allesamt lehrerzentrierte, hochgradig stressige Routinen, weil wir mittlerweile Das Thema neue Bildungsstandards beschäftigt bundesweit die in der Schule Lehrenden – allerdings ohne dass das praktische Repertoire zur kompetenzorientierten Umgestaltung des Unterrichts bereits hinreichend vorangetrieben wird. Dr. HEINZ KLIPPERT, Dozent am Lehrerfortbildungsinstitut Landau, demonstrierte in seinem Vortrag „BILDUNGSSTANDARDS UMSETZEN – ABER WIE? ANREGUNGEN ZUR SCHULINTERNEN ARBEITSPLANUNG“, wie die von den neuen Standards geforderten Kompetenzen ebenso kleinschrittig wie konsequent in der Praxis vermittelt werden können. Praktische Beispiele und Handlungsanleitungen für die Unterrichtsplanung, -durchführung und Fortbildungsorganisation runden das Bild ab. Meiner Ansicht nach verlieren wir im Augenblick relativ viel Zeit, ohne dass das Repertoire für die kompetenzorientierte Umgestaltung und Weiterentwicklung des Unterrichts hinreichend vorangetrieben wird. Die alten Strickmuster für die alltägliche Unterrichtsplanung und -gestaltung sind für die Vermittlung von modernen Bildungsstandards unbrauchbar. Ich habe selber in Hessen Lehrerausbildung gemacht. Da wurden didaktische Analysen betrieben, Lernziele analysiert, der Stoff wurde intellektuell sehr sauber seziert. Aber wie man die Schüler am nächsten Tag zum Denken, zum Arbeiten, zum Problemlösen, zum Anwenden von Methoden bringt, war in dieser didaktischen Analyse noch nicht angelegt. Wir haben bis heute Routinen im Bereich der traditionellen Unterrichtsgestaltung, die nach wie vor hochgradig stabil sind. Neuere Untersuchungen zeigen, dass gut 80 Prozent der Unterrichtszeit im Bereich der Sekundarstufen mit lehrerzentrierter Wissensvermittlung ausgefüllt sind. Man kann sich die Frage stellen, warum wir nach 100 Jahren reformpädagogischer Literatur nicht weiter gekommen sind. 30 immer weniger Schüler haben, die für diese Hyperaktivität ihrer Lehrkräfte dankbar sind. So gesehen brauchen wir neue Wege, und die Bildungsstandards weisen in die richtige Richtung. Es geht um eine Erweiterung des Bildungsanspruchs, des Bildungsbegriffs; es geht um eine Erweiterung des Kompetenzspektrums der Schüler und Schülerinnen. Etwas vorübergehend zu wissen bedeutet noch nicht, dass die Schüler langfristig etwas können. Schreiben Sie eine Klassenarbeit nach 14 Tagen noch einmal, werden Sie in der Regel erleben, dass ganz viel zuvor Gewusstes gelöscht wurde. Wir vermitteln viel „totes“ oder „träges“ Wissen, wie Franz Weinert das nennt. Wenn wir hier weiterkommen wollen, müssen wir nachhaltigere Wissensvermittlung betreiben. Punktuell ist das schon immer einmal geschehen. Aber wir müssen es konsequenter angehen, und ich will Ihnen in diesem Vortrag verdeutlichen, wie. Das, was ich Ihnen hier präsentiere, ist Gegenstand der Arbeit in aktuell mehr als 500 Schulen, die systematische Unterrichtsentwicklung zu ihrem Schulprogramm gemacht haben. Die Klippert: BildungsstandardsBlindtext umsetzen Standards für das Fach Mathematik etwa verlangen nach einem Unterricht, der selbstständiges Lernen, die Entwicklung von kommunikativen Fähigkeiten und Kooperationsbereitschaft sowie eine zeitgemäße Informationsbeschaffung, Dokumentation und Präsentation von Lernergebnissen zum Ziel hat. Das ist schon ungewöhnlich. Es geht nicht nur darum, mathematische Operationen nach Anweisung und nach gewissen Regeln vollziehen zu können, sondern es geht um Kommunikationsfähigkeit und Präsentationsfähigkeit in Mathematik, um Informationsbeschaffung und -verarbeitung und auch um Teamentwicklung in diesem Bereich, damit Helfersysteme zur Verfügung stehen. Dem liegt ein erweiterter Bildungsbegriff zu Grunde, der einiges für sich hat. Die Frage ist nur, wie wir das so umsetzen können, dass es alltagstauglich wird. Vieles von dem, was derzeit im Bereich von Projektarbeit oder Wochenplanarbeit läuft, ist viel zu aufwändig vorzubereiten. Ich werde Ihnen im Rahmen des Vortrags anhand von Beispielen deutlich machen, dass man sowohl bei der Vorbereitung als auch bei der Umsetzung der Bildungsstandards sehr viel arbeitssparender und -ökonomischer vorgehen kann. In den verschiedensten Fächern, in denen die Bildungsstandards bis dato formuliert wurden, gibt es keine flächendeckende Beschreibung von Inhalten mehr, sondern es gibt Wahlmöglichkeiten, Dispositionsmöglichkeiten innerhalb der verschiedenen Inhaltsfelder. Wir haben Kernthemen oder Kernideen in den Fächern, und zu diesen Kernideen sollen die Schüler immer wieder, möglichst oft recherchieren, lesen, nachschlagen, exzerpieren usw. Sie sollen häufiger konstruieren, d. h. Aufgabenkonstellationen entwickeln, bestimmte Sachverhalte strukturieren oder auch modellieren, wie es im naturwissenschaftlichen Bereich heißt. Es geht darum, dass die Schüler häufiger zum Kommunizieren innerhalb des Fachs angehalten werden, also um fachspezifische Kommunikationsfähigkeit. Wenn jemand in Mathematik einen kleinen Vortrag halten, ein Schaubild in Physik erläutern soll, ist das etwas anderes, als wenn er zu einem selbst gezeichneten Bild im Kunstunterricht eine Präsentation macht. Es muss immer verbalisiert werden, aber der Kontext ist fachbezogen. Insofern müssen wir viel stärker als bisher im Fach Kommunikationsanlässe stiften. Die Schüler sollten häufiger visualisieren, vortragen, auch Rollenspiele, Planspiele inszenieren. Es muss stärker kooperiert werden, unterstützt, geregelt, in der Gruppe dann auch verbindlich mitgearbeitet werden. Es gibt in diesem Unterricht, den wir realisieren wollen, Regelwächter, Zeitwächter, Fahrplanüberwacher, eine sehr differenzierte Zuständigkeitsregelung, sodass eine gewisse Mitverantwortung praktiziert werden kann. Schüler sollen immer besser lernen, Probleme zu lösen. Einer der Hauptkritikpunkte bei PISA ist ja gewesen, dass unsere Schülerinnen und Schüler gewohnt sind, nach Schema F zu rechnen. Wehe, wenn eine bestimmte zu suchende Größe im Test nicht mit B benannt ist, die vorher in der Übungsphase mit B benannt wurde, dann geben sie auf und beginnen, sich zurückzuziehen. Es wird also mehr Kreativität und Problemlösungsfähigkeit gebraucht, aber dann müssen wir den Schülern auch Probleme an die Hand geben, um eine halbe Stunde daran zu arbeiten, nachzuschlagen, im eigenen Hausheft nachzulesen, im Schulbuch, in einer Formelsammlung, im Lexikon usw. Dazu gehört weiterhin, dass wir den Schülerinnen und Schülern größere Arbeitsstrecken zumuten, und das wird auch der Hebel sein, über den wir Lehrerentlastung erreichen. Ein großes Handicap ist in Deutschland der 45-Minuten-Takt. In dieser Zeitspanne können Sie im Prinzip nur einen recht drängenden lehrerzentrierten Unterricht inszenieren. Wenn Sie nach 45 Minuten zu einem Tafelbild kommen wollen und zu einem Hefteintrag, können Sie keine langen Arbeitsstrecken vorsehen. Daher brauchen wir hier veränderte Rahmenbedingungen, unter anderem die Doppelstunde als Grundtakt. Das Reflektieren von Methoden und Inhalten, also nicht nur von inhaltlichen Ergebnissen, sondern auch von methodischen Verfahrensweisen, sollte stärker gewichtet werden und darüber hinaus in so genannte Kompetenzstufen gegliedert sein. Diejenigen, die sich in der letzten Zeit mit den Bildungsstandards beschäftigt haben, wissen, dass die gängigen Kompetenzstufen der alten Taxonomie folgen, wie sie die älteren Kolleginnen und Kollegen auch noch kennen. Erster Anforderungsbereich: Wiedergeben, also elementares Sach- und Verfahrenswissen wiedergeben beziehungsweise routiniert anwenden. Zweiter Anforderungsbereich: Verarbeiten, d. h. Konstruktionsarbeit im weitesten Sinne – Sprachkonstruktion, Tabellenkonstruktion, Schaubildkonstruktion, Versuchskonstruktion –, die mit Verarbeitung von Informationen und Wissen verbunden ist. Und die dritte, höchste Stufe: Reflektieren von Inhalten und Verfahrensweisen. Wir benötigen Kompetenzförderung – aber wie? Wir brauchen anspruchsvollere Aufgabenstellungen, da sind sich, glaube ich, bundesweit alle einig. Es gibt im Bereich Naturwissenschaften hochkarätige Aufgabenstellungen, die ich mir fasziniert anschaue. Ich frage mich nur immer, wo die Schülerinnen und Schüler sind, die diese Aufgabenstellung bewältigen können, 31 weil sie sehr vieles voraussetzen, was im alltäglichen Unterricht so noch nicht anzutreffen ist. Wenn wir also die Aufgabenstellung anspruchsvoller gestalten, dann müssen die Schüler auch entsprechende Mikrokompetenzen haben. Wir müssen sie langsam an diese Aufgabenkultur heranführen. Genauso wenig, wie man ohne Vorbereitung Projektarbeit machen kann, kann man den Schülerinnen und Schülern plötzlich eine hochkarätige mehrstündige Aufgabenstellung in Physik geben, die Recherche, Konstruktionsarbeit, Helfersysteme und Ähnliches voraussetzt. Wenn wir verstärkt neue Kompetenzen vermitteln wollen, ist ein entscheidender Punkte, dass wir kleinschrittig vorgehen und dass wir Fördern und Fordern verbinden, andernfalls werden zu viele Schüler schnell überfordert sein. Weiterhin geht es darum, das eigenverantwortliche Arbeiten und Lernen zum jeweiligen Kernthema zu forcieren und zur Untermauerung des Ganzen Basisfertigkeiten im Bereich von Kommunikation, Präsentation und Rhetorik sowie im Bereich Wir kommen jetzt auf die zweite Kompetenzstufe bei dieser Bearbeitung einer Kurzgeschichte. Die Schüler sollen eine knappe Inhaltsangabe anfertigen, und zwar in Tandems, wobei jeder seine Inhaltsangabe selbstständig formulieren muss. Aber das Helfersystem ist da: Sie sitzen in Tandems, die über Zufallsverfahren gebildet werden. Es folgt, wieder auf der zweiten Kompetenzstufe angesiedelt, die Besprechung von Unklarheiten in Zufallstrios. Wir müssen nicht meinen, dass dann, wenn Schüler eine Kurzgeschichte gelesen und nach eigenem Gusto zusammengefasst haben, bereits alles klar ist. Es entstehen Fragen im Zuge der eigenen Tätigkeit, deshalb brauchen wir so etwas wie organisierten Nachhilfeunterricht. Hier gibt es die Möglichkeit, dezentral zu fragen, die eigene Unsicherheit zu überwinden. Denn das Problem bei unserem traditionellen Unterrichtsskript ist, dass vielfach die Fragen dem Lehrer ins Plenum hinein gestellt werden müssen. Diejenigen Schüler aber, die es nötig hätten, Fragen zu stellen, trauen sich in der Regel nicht, selbstbewusst aufzuzeigen und den Lehrer zu fragen. „Rainer Domisch hat vor einiger Zeit einmal gesagt, die Deutschen seien Weltmeister im Planen und Konzipieren von Reformen, aber Dilettanten im Bereich der praktischen Umsetzung. Ich denke, da ist etwas dran.“ der Kooperation oder der Gruppen- und Partnerarbeit verstärkt aufzubauen. Wir stellen nämlich fest, dass ein solches Fundament bei vielen Schülern nicht hinreichend vorhanden ist. Dieses Fundament trägt überhaupt erst das eigenverantwortliche Arbeiten und Lernen. Wir stellen häufig fest, dass Schüler bereits beim Markieren von Sachverhalten scheitern. Es wird viel zu viel und es wird sehr unsystematisch markiert. Wir brauchen also unterstützende Sockeltrainings, Methodentraining, Kommunikationstraining, Präsentationstraining, Teamtraining, damit wir in Summe zu dem kommen, was wir wahrscheinlich alle wollen: mehr Lernkompetenz und, zum Zweiten, nachhaltigeren Lernerfolg. Die Schüler sollen auch nach einem Jahr noch etwas von dem Gelernten wissen und nicht nur morgen, wenn die Klassenarbeit geschrieben wird. Lernspiralen als neues Unterrichtsskript Ich habe ein Beispiel aus dem Deutschunterricht genommen: Kurzgeschichte. Der erste Schritt besteht darin, die Kurzgeschichte zu lesen und zu markieren, unter der Voraussetzung, dass Markieren und Lesen geübt wurden. Das ist dann zunächst eine einfache Anforderung. Einfach ist auch noch das Nächste: einige ausgewählte Wissensfragen, die der Lehrer auf einem Arbeitsblatt zusammengestellt hat, beantworten. Es geht letztlich darum, den Text noch mal auf diese Fragestellungen hin auszuleuchten. Das sind die unteren Ebenen. 32 Also brauchen wir die Möglichkeit der Klärungsarbeit in solchen Zufallstandems, Zufallstrios oder auch Zufallsgruppen. Das ist von der Unterrichtsablaufsplanung her etwas ganz Wichtiges. In einem weiteren Schritt sollen die Schülerinnen und Schüler einen Spickzettel zur Wiedergabe ihrer Kurzgeschichte gestalten. Dies wird dadurch noch ein bisschen erschwert, dass gesagt wird, es dürften höchstens zehn Wörter auf diesem Spickzettel stehen, damit sie auch tatsächlich reduzieren. Wenn man diese Vorgabe nämlich nicht macht, wird auf dem kleinen Spickzettel meist so klein geschrieben, dass wieder alles drauf ist. Schüler haben in der Regel Angst vor der Reduktion von Information, und diese Angst bewirkt, dass sie vieles nicht behalten können, denn zentrale Voraussetzung für das Behalten von Information ist die Reduktion und die kognitive Formgebung, die jeder Spickzettel, jedes Schaubild verbindet. So gesehen müssen wir die Schülerinnen und Schüler ermutigen, aber auch qualifizieren, diese Reduktionsarbeit zu leisten. Dann gibt es eine verbale Anwendung, immer noch im mittleren Kompetenzbereich angesiedelt. Es handelt sich um eine Sprachkonstruktion, also die Verarbeitung von Wissen durch einen kleinen Vortrag, den die Schüler anhand ihres Spickzettels halten, und zwar im Doppelkreis. Da stehen sich immer zwei Schüler gegenüber, und es gibt zeitgleich 15 kleine Vorträge, immer gegenüber einem Zufallspartner. Dann wechselt das Ganze und alle, die vorher zugehört haben, werden zu Klippert: Bildungsstandards Blindtext umsetzen Akteuren und halten ihrerseits einen Vortrag, sodass wir eine viel dichtere sprachliche Anwendung des Wissens haben. Kleist hat einmal einen schönen Essay geschrieben: „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“. Ich finde, das ist ein tolles pädagogisches Programm, denn in dem Augenblick, wo ich dem anderen etwas erläutere, muss ich mir klar werden über meine Wissensstruktur. Deshalb brauchen wir mehr Anwendungssituationen. In unserem Beispiel haben wir eine solche Anwendungssituation in dezentraler Form. Wenn ein Schüler nach vorne an die Tafel geholt wird, um dort vorzutragen, müssen 29 andere schweigen. Wenn alle zuhören würden, wäre das immer noch in Ordnung, das Problem ist nur, dass, sobald jemand rausgepickt wird, die anderen abschalten und sich mit etwas anderem beschäftigen. Im traditionellen Unterrichtsskript gibt es zu viele Gelegenheiten, aus dem Unterricht zu flüchten: Man bleibt zwar körperlich präsent, aber gedanklich stiehlt man sich davon. Es gab in Amerika Untersuchungen darüber, was im Rahmen einer lehrerzentrierten Phase in den Köpfen der Kinder passiert. Es wurde ein Klingelzeichen oder ein Signalton verabredet, und die Schüler mussten immer dann, wenn der Signalton erklang, aufschreiben, was ihnen gerade im Kopf herumging. Das Resultat war fatal und entmutigend für die Lehrkräfte. Jetzt kommen wir auf die dritte Kompetenzstufe, Beurteilung, Reflexion, d. h. hier Interpretation und Bewertung der Kurzgeschichte, zunächst einmal in Einzelarbeit. Anschließend der Vergleich dieser Kurzgeschichte mit einer früheren in Tandemarbeit. Die ermittelten Befunde, diese Vergleichsbefunde sollten visualisiert und anschließend die beiden Kurzgeschichten in einer Präsentation gewürdigt werden. Die beiden Gruppen, die ihre Ergebnisse präsentieren sollen, werden durch das Los ausgewählt. Wenn ich immer diejenigen drannehme, die sich melden, habe ich meist diejenigen, die das schon relativ gut können. Es ist daher wichtig, dass potenziell alle drankommen können, aber man sollte frühzeitig ankündigen, dass am Ende eine Präsentation erfolgt. Sie sehen an unserem Beispiel, dass die Schüler ständig aktiv sein müssen, denn viele der Kompetenzen, die wir heute vermitteln sollen, können nicht entwickelt werden, wenn die Schüler schweigen oder hirnlos ein Tafelbild abschreiben, sondern sie müssen im weitesten Sinne des Wortes konstruktiv arbeiten. Durch diese Lernspirale ist das systematisch vorgesehen. Letztlich muss die Leitfrage bei der Unterrichtsvorbereitung sein, wie ich die Schüler variantenreich zum Arbeiten und zur Anwendung unterschiedlichster Methoden veranlassen kann. Bisher haben wir bei der Unterrichtsvorbereitung anders gefragt: Was will ich mit welcher Zielsetzung durchnehmen und am Ende an der Tafel respektive im Heft haben? Solche Lernspiralen dauern mindestens eine Doppelstunde. Der Ablauf wird den Schülern eingeblendet, wenn der Unterricht beginnt, sodass sie genau wissen, dass sie am Ende Probleme bekommen, wenn sie in Phase eins nicht lesen und markieren. Und zwar weniger mit dem Lehrer, sondern mit wechselnden Mitschülern, von denen sie immer wieder in die Pflicht genommen werden. Diese Strategie nenne ich das Aufbauen von Erwartungsdruck von den Schülern her. Wenn der Lehrer oder die Lehrerin als Einzige Erwartungsdruck aufbauen, also von den Schülern diszipliniertes Arbeiten und bestimmte Ergebnisse erwarten, ist das im Prinzip eine hochgradig stressige und meist auch enttäuschende Angelegenheit, weil zu viele Schüler diesen Erwartungen dann doch nicht entsprechen. Ergo brauchen wir dezentrale Kontrollen, dezentrale Helfersysteme, und die Schüler müssen von ihrem jeweiligen Lernpartner auch etwas erwarten. Das ist geschwisterliche Erziehung auf hohem Niveau, die sehr dazu beiträgt, dass Lehrkräfte Assistenten oder Tutoren bekommen. Wir haben ein Heer von potenziellen Helfern und Miterziehern, das wir viel zu wenig nutzen. Der beste Beleg, dass das nicht nur statthaft, sondern für die betreffenden Schüler auch hilfreich ist, stammt aus der Nachhilfeforschung. Hier hat sich gezeigt, dass vom Nachhilfeunterricht diejenigen am meisten profitieren, die ihn erteilen. Warum? Sie lernen, durch die Fragen, die gestellt werden, manches noch einmal zu überdenken. Die fachliche Souveränität wächst. Es wird nichts Neues gelernt, aber das, was sie fachlich wissen, wird erweitert. Zum Zweiten erwerben sie Selbstvertrauen, Selbstwertgefühl. Sie lernen zuzuhören, Fragen zu erfassen, Probleme zu lösen, Eigeninitiative zu entwickeln und vieles andere mehr. Da sind wir wieder im Bereich der Kompetenzen, die durch die modernen Bildungsstandards eingefordert werden. Doch nun kurz zu einem zweiten Beispiel für Mathematik, damit Sie sehen, wie das gleiche Muster in Zusammenhang mit der Flächenberechnung angewandt wird. 1. Die Schüler bekommen einen Einführungstext zur Flächenberechnung, den müssen sie lesen – nicht mehr, nicht weniger. 2. Klärung offener Fragen in Zufallsgruppen. Das ist die Nachhilfephase, denn es ist klar, dass beim Lesen manche Schüler Schwierigkeiten mit einzelnen Begriffen oder bestimmten Operationen haben. Deshalb müssen sie dezentral die Möglichkeit haben, ihre Fragen loszuwerden, und zwar auch banale Fragen, die die Schüler sich nie trauen würden, im Plenum dem Lehrer zu stellen. Sie müssen geschützt fragen können, und das geht am besten in einer solchen dezentralen Situation. 3. Rechnung im Doppelkreis erläutern. Es gab im Einführungstext eine Beispielrechnung zur Flächenberechnung, es ging um den Nachvollzug eines Algorithmus, der vorgegeben war, und dieses Beispiel sollte jetzt einem Zufallspartner gegenüber im Doppelkreis erläutert werden. Das ist noch nicht Verarbeitung von Wissen, sondern einfach Nachvollzug, deshalb liegt es auf der unteren Ebene. 4. Berechnung unterschiedlicher Flächen. Jetzt wechseln wir die Ebenen, wir gehen auf die zweite Kompetenzstufe. Die Schüler erhalten ein Blatt mit bestimmten Aufgabenstellungen und müssen Flächen berechnen. 33 5. Vergleich und Beratung in Zufallstandems, also auch hier greift jetzt nach der Einzelarbeit wieder dezentral das Kontrollund Helfersystem. Denn was passiert denn, wenn wir im lehrergelenkten Unterrichtsgespräch einen Schüler rausnehmen? Vielleicht erwischen wir jemanden, der das sehr präzise gerechnet hat. Was haben die anderen davon? Erwischen wir aber jemanden, der Fehler gemacht hat, dann verheizen wir ihn an der Tafel, indem wir die Fehler entsprechend korrigieren. Was ist in diesem Fall mit den anderen? Deshalb müssen wir sehr viel stärker Lernaktivitäten dezentral in Tandems, Trios, Kleingruppen bei heterogener Zusammensetzung dieser Gruppen vorsehen. Heterogenität ist eine Riesenchance, um ein solches Helfer- und Erziehungssystem zu mobilisieren. Wenn die Schüler alle gleich sind, passiert nichts. Da sind wir in Deutschland aufgefordert, über die Chancen der Heterogenität nachzudenken. 6. Nächster Schritt in diesem mittleren Kompetenzbereich: Drei Flächenberechnungsaufgaben sollen analog konstruiert werden – das ist wieder eine Nummer anspruchsvoller. Danach tauschen die Schülerinnen und Schüler die Aufgaben aus, also Gruppe A gibt die Aufgaben an Gruppe B und umgekehrt, dann müssen sie sie berechnen. Ich habe das in die mittlere Ebene eingeordnet, weil das Konstruktions- und Problemlöseaufgaben in schlichter Form sind. 7. Auf der höchsten Stufe haben wir Kritikgespräche der Korrespondenzteams, also: Zwei Schüler geben ihre Aufgabe an zwei andere. Anschließend kommen alle vier zusammen, und wenn das eine Team die Aufgabe des anderen nicht richtig verstanden hat oder mit irgendetwas nicht klar gekommen ist, dann muss Kritik geübt werden, weil die Aufgabenstellung nicht präzise ist, weil nicht alle Faktoren angegeben wurden, die nötig gewesen wären, um die Aufgabe zu berechnen und umgekehrt. Das heißt, diese vier Schüler, die Aufgaben ausgetauscht haben, müssen die Aufgabenkonstruktion problematisieren und die entsprechenden Vorgaben kritisch unter die Lupe nehmen. Dann wird der gesamte methodische Ablauf noch einmal unter die Lupe genommen und dieses ganze gestufte Verfahren, die Methode, beurteilt. Am Ende gibt es vertiefende Hinweise und Tipps von Lehrerseite. Auch dies ist ein Beispiel, das mit minimaler Lehrervorbereitung zu bewältigen ist, denn der erwähnte Einführungstext stand im Schulbuch. Die Aufgabenstellung, die die Schüler bearbeiten müssen, stand im Schulbuch. Die Aufgaben, die sie selber konstruieren, kosten mich keine Vorbereitungszeit. Der gesamte Arbeitsablauf ist hochgradig kompetenzorientiert und gleichzeitig arbeitssparend für die Lehrkräfte. In diese Richtung müssen wir das Unterrichtsskript, das Ablaufmuster verändern. Zum Schluss noch ein Beispiel für Englisch, immer nach dem gleichen Strickmuster. Ich hatte eine Hörkassette zu London, auf der Sehenswürdigkeiten vorgestellt und angepriesen wurden, damit man da möglichst auch hingeht. Diese Kassette musste also nicht von mir geschnitten und vorbereitet werden. 34 Die Schüler hören die Kassette und bekommen anschließend ein Arbeitsblatt mit Richtig-/Falsch-Aussagen zu dem gehörten Text. Einige der Aussagen sind durch die Hörkassette gedeckt, und einige sind falsch. Da müssen sie zunächst rekapitulieren, was sie gehört haben. Das ist, obwohl für manche Schüler schon sehr anspruchsvoll, von den Kompetenzstufen her eigentlich unteres Niveau. Dann sollen sie zu bestimmten Sehenswürdigkeit recherchieren, die ihnen zugelost werden. Wir haben meinethalben Hydepark auf vier Kärtchen; wer ein entsprechendes Kärtchen zieht, muss zu Hydepark recherchieren, und zwar im Schulbuch – nicht gleich im Internet – sowie in einer Broschüre über London. Der nächste Schritt in diesem mittleren Kompetenzbereich besteht darin, die gefundenen Infos in Stammgruppen, also in themengleichen Gruppen zu besprechen. Das ist wieder die Nachhilfephase. Diejenigen, die Hydepark gezogen und dazu recherchiert haben, müssen überlegen, was für ihr Thema wichtig ist. Es geht darum, den Informationsstand im Gespräch anzureichern. In den Gruppen müssen die Schülerinnen und Schüler zu ihrer Sehenswürdigkeit eine kleine Visualisierung mit Kärtchen vorbereiten. Sie sollen sich vorstellen, einen dreiminütigen Vortrag zum Hydepark halten zu müssen, wobei sie das Wichtigste in möglichst ansprechender Form darbieten sollen. Dafür dürfen sie sich runde, ovale oder rechteckige Kärtchen aus einem Sortiment aussuchen, aber wir machen die Vorgabe, dass sie maximal beispielsweise sieben Kärtchen verwenden dürfen. Ob sie nun drei ovale nehmen und zwei rechteckige, das ist ihre Sache. Sie sollen ein Bild aufbauen, das Wie müssen sie selber gestalten können. Im nächsten Schritt werden Tandems aus diesen Vierergruppen herausgelost, die im Plenum anhand ihrer Visualisierung ihre Sehenswürdigkeit in freier Rede mit Hilfe der entsprechenden Kärtchen vorstellen. Jetzt kommen wir in den Bereich der dritten Kompetenzstufe. Die Schülerinnen und Schüler bekommen zur Aufgabe, einen kritischen Kommentar zu dem Treiben im Hydepark zu schreiben. Das ist Beurteilung. Zusätzlich sollen sie ein Flugblatt zu Sehenswürdigkeiten in London gestalten. Wenn ich dafür ein DIN-A4- oder DIN-A3-Blatt zur Verfügung habe, kann ich nicht alle Sehenswürdigkeiten vorstellen, sondern es muss wiederum beurteilt werden, welche Sehenswürdigkeiten bedeutsam sind, welche weniger bedeutsam. Deshalb habe ich diese Phase im Bereich Beurteilen und Reflektieren angesiedelt. Dann kommt die Methodenreflexion, bei der die freie Präsentation unter die Lupe genommen und entsprechend problematisiert wird, falls das notwendig ist. Am Ende steht, wie ganz häufig, eine vertiefende lehrerzentrierte Phase. Auch das umfasst wieder mindestens eine Doppelstunde. Sie merken, wenn Sie solche Arbeitsstrecken haben wollen, kommen Sie mit 45 Minuten gnadenlos in Schwierigkeiten. Deshalb werden die Schulen auch in diesem Punkt Neues versuchen müssen. Klippert: Bildungsstandards umsetzen Mein Ziel war es, Ihnen deutlich zu machen, wie man die Kompetenzstufen operationalisieren kann; wie man einen vielschichtigen Arbeitsprozess der Schüler gestalten und das Ganze mit einer minimalen Vorbereitung der Lehrkräfte verbinden kann. In der Konsequenz bedeutet das, dass ein Unterricht nicht deshalb schlecht ist, weil ich eine Doppelstunde in vielleicht zehn Minuten vorbereitet habe. Es geht um intelligente Vorbereitungsarbeit, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die Schüler zunächst einmal mit dem arbeiten, was zur Verfügung steht. Man kann den Schülern natürlich auch einen Vortrag halten – Weinert nennt das eine gut vorbereitete Instruktion –, aber danach lassen Sie sie bitte schön 80 Minuten variantenreich kompetenzorientiert mit ihrem Vortrag arbeiten: Rekonstruktion, Reverbalisierung, Lernkärtchen zum Vortrag entwickeln usw. Man kann vielfältige Anschlussarbeiten der Schüler begründen, die im Lichte der modernen Kompetenzanforderung auch legitim sind. Solange es nur um Inhalte ging, musste man sich fragen, ob diese nächste Phase noch effizient genug war. Wenn ich aber den breit gefächerten Kompetenzentwicklungsansatz verfolge, kann ich rechtfertigen, dass wir eine Doppelstunde lang an dieser Kurzgeschichte oder in drei oder sechs Aufgaben im Bereich der Flächenberechnung bleiben. Inhaltlich treten wir vor allem am Anfang mehr auf der Stelle, um a) die Inhalte tiefer gehend zu verankern und b) weitere Kompetenzen zur Anwendung bringen zu lassen. Dazu müssen wir in den Schulen noch einiges vereinfachen. men, aber Dilettanten im Bereich der praktischen Umsetzung. Ich denke, da ist etwas dran. Vieles wird in Deutschland so abstrakt und perfektionistisch gemacht, dass das Gros der Lehrkräfte abgeschreckt wird. Ich will noch einen Wermutstropfen in Sachen Lernzirkelarbeit ausgießen. Ich hatte vor einiger Zeit bei einem Seminar drei junge Leute, die mir ganz stolz berichteten, sie hätten in Deutsch gerade einen Lernzirkel realisiert. Je länger sie mir von ihrer Arbeit berichtet haben, umso unsicherer wurde ich im Hinblick auf die Alltagstauglichkeit dessen, was die da gemacht hatten. Ich habe sie dann gebeten, mir am nächsten Tag die Materialien mitzubringen. Sie kamen mit 36 DIN-A4-Seiten, perfekt gestaltet, Informationsblätter zu diesem Thema, Differenzierungsblätter, Arbeitsblätter, Selbstkontrollblätter. Das Erste, was ich enttäuschend fand: Es gab Blätter, Blätter, Blätter. Ich habe sie gefragt, wie lange sie gesessen hätten, um die 36 Seiten vorzubereiten. Das haben sie wohl als Kompliment verstanden und mir ganz stolz berichtet, sie hätten zu dritt zwei Wochenenden damit verbracht. Und einen Freitagnachmittag und -abend. Dann kam die unvermeidbare Anschlussfrage: Und wie lange beschäftigt das die Schüler? Wenn die jetzt die Unterrichtsvorbereitung für ein halbes Jahr gehabt hätten, wäre das Aufwands-/Ertragsverhältnis in Ordnung gewesen, aber der Lernzirkel sollte drei Stunden dauern. Für drei Stunden hatten sie zwei Wochenenden verschossen. Das kann es nicht sein. Wenn eine Reform gelingen soll, muss sie alltagstauglich, machbar und mit einem minimalen Vorbe- „Mein Ziel war es, Ihnen deutlich zu machen, wie man die Kompetenzstufen operationalisieren kann; wie man einen vielschichtigen Arbeitsprozess der Schüler gestalten und das Ganze mit einer minimalen Vorbereitung der Lehrkräfte verbinden kann. In der Konsequenz bedeutet das, dass ein Unterricht nicht deshalb schlecht ist, weil ich eine Doppelstunde in vielleicht zehn Minuten vorbereitet habe. Es geht um intelligente Vorbereitungsarbeit, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die Schüler zunächst einmal mit dem arbeiten, was zur Verfügung steht.“ Wenn ich zu Beginn gesagt habe, dass derzeit Arbeitspläne zur Umsetzung der Bildungsstandards in den Schulen entwickelt werden, dann liegen diese Arbeitspläne in der Regel weit oberhalb dieser Ebene. Was ich Ihnen nur empfehlen kann und was ich mir auch wünsche, ist, dass wir uns ein Lehrplanthema oder Kernthema vornehmen, dass wir dieses Kernthema in Arbeitsfelder der Schüler aufgliedern (also in Deutsch etwa „Kurzgeschichte erschließen“ oder in Mathematik „Flächenberechnung üben“) und diese Arbeitsfelder dann kompetenzorientiert in solche Lernspiralen aufgliedern. Dann haben wir etwas für den Vormittag zwischen 9.30 und 11 Uhr, andernfalls bleiben wir trotz intensiver Konferenzarbeit weit oberhalb dieser Ebene, die den Unterricht faktisch verändern hilft. reitungsaufwand zu bewältigen sein. Das will ich mit diesen Lernspiralen deutlich machen. Diese sind ein ganz zentrales Instrument im Rahmen der Entlastungsstrategien, die wir in den Schulen verfolgen. Nach einem Jahr bekommen wir aufgrund dieser Arbeitsprozesse und dieser vielschichtigen Lerntätigkeiten der Schüler und Schülerinnen erwiesenermaßen eine gravierende Entlastung im Unterricht zu spüren. Die Basis des Ganzen ist das Methodentraining, das will ich nur noch mal der Vollständigkeit halber in den Blick bringen. Rainer Domisch hat vor einiger Zeit einmal gesagt, die Deutschen seien Weltmeister im Planen und Konzipieren von Refor- Das heißt, das rasche Finden von Informationen, Nachschlagetechniken, Recherchetechniken (das kann je nach Alters- Während es bei den Lernspiralen darum ging, Inhalte zu klären, geht es bei den so genannten Trainingsspiralen um ein Sockeltraining zur Klärung des betreffenden Methodenfelds. 35 stufe mit dem Schulbuch laufen, mit einem Lexikon, mit einer Formelsammlung, mit irgendwelchen sonstigen Medien, die zur Verfügung stehen). Weiterhin Heftführung und Heftgestaltung, auch ein Thema, das viele Lehrkräfte seit Jahr und Tag beschäftigt. Damit hier gewisse Standards verinnerlicht werden, genügen keine Appelle; es muss ein Stück weit in das Hirn der Schüler hinein, wie man solche Verfahren der Heftführung und Heftgestaltung anwendet. Einfache Strukturmuster erstellen von der Tabelle über Mind Map bis zum Flussdiagramm – auch so etwas muss geübt, angewandt, reflektiert werden. Es geht also um Methodenklärung. Ich will Ihnen anhand eines Beispiels zum Markieren deutlich machen, wie so ein Trainingstag abläuft. Bei den Sockeltrainings, die in den Schulen in der Regel in eine Projektwoche eingebunden werden, steht nicht ein bestimmter inhaltlicher Projektbereich im Vordergrund, sondern ein Methodenfeld. Wir beginnen damit, einen vorgegebenen Text versuchsweise zu markieren. Die Schülerinnen und Schüler dürfen Fehler machen, Trial and Error. Im nächsten Schritt werden die markierten Texte in Zufallsgruppen verglichen. Daraufhin hält man – dritter Schritt – Markierungsregeln fest, die sich daraus ableiten lassen, und diese Regeln werden dann auf Kärtchen notiert. Anschließend gibt es eine Kartenpräsentation. Vierter Schritt: Es folgt ein vertiefender Lehrervortrag mit Beispielen. Dafür sammle ich mir aus Heften von Schülern irgendwelche markierten Seiten und hänge sie aus. (Es dürfen keine Seiten aus der Klasse sein, in der ich das mache, sondern immer Seiten, die aus anderen Klassen stammen.) In meinem Lehrervortrag kann ich das Anschauungsmaterial problematisieren, zum Beispiel: Warum ist ein gelber breiter Textmarker durchaus empfehlenswert? Weshalb ist beim Markieren weniger mehr? All das muss man ein wenig erläutern. Es folgt wieder eine Anwendungsphase, in der die Schüler einen markierten Text erhalten, den sie problematisieren sollen, wie ich das vorher getan habe. Entscheidend ist, dass so etwas wie ein Methodenbewusstsein aufgebaut wird. Wenn wir den Schülern die sieben Regeln des Markierens benennen, heißt das noch nicht, dass diese auch begriffen und verinnerlicht wurden. Deshalb die recht intensive Arbeit an der Methodenklärung. In der folgenden Phase soll die erarbeitete Kritik einem Partner erläutert werden, das ist wieder die sprachliche Anwendung der Einsichten. Jetzt werden die Regeln ausgehängt, und abschließend muss ein neuer Sachtext regelgebunden markiert werden. Sie sehen also, wie redundant das ist, wie ein Training im Sport. Denn wenn Sie ein guter Hochspringer werden wollen, können Sie sich nicht einfach einen Film darüber anschauen, wie jemand über 1,80 springt, und es anschließend nachmachen. Sondern Sie werden springen und springen, bis der Bewegungsablauf sich einigermaßen automatisiert hat. So ähnlich ist das beim Lernen auch. Ich sagte zu Beginn, dass wir in über 36 500 Schulen das ganze Programm systematisch umsetzen. Zentral ist dabei, dass wird diese Basisarbeit im Bereich des Methodentrainings, die nachher den Fachlehrern so zugute kommt, entweder von Anfang an umsetzen, oder wir schleppen bestimmte methodische Unzulänglichkeiten über Jahre hinweg bis in die Oberstufe weiter. Wie kann man konkret damit beginnen? Die meisten Lehrkräfte arbeiten nun einmal nicht in Modellschulen, sondern in Schulen, wo sie teilweise ganz allein anfangen müssen. Wenn das so ist, kann ich Ihnen nur den Rat geben, in einer Klasse anzufangen, in der Sie interessierte Mitstreiter haben. Wenn Sie mit drei bis fünf Stunden in einer Klasse sitzen und versuchen, die ganze Basisarbeit in Angriff zu nehmen und die anderen Lehrkräfte das nicht weiterpflegen, dann müssen Sie sich nicht wundern, wenn Sie immer wieder bei null landen. Das ist Sisyphus-Arbeit im schlimmsten Sinne des Wortes, wie sie nach meiner Wahrnehmung in unseren Schule ohne Ende geleistet wird. Daraus erwächst eben die Empfehlung: Wenn Sie anfangen, schauen Sie, in welcher Klasse Sie potenzielle Mitstreiter haben. Besser in einer Klasse richtig als in fünf Klassen ein bisschen. Zweitens: Beantragen Sie bei der Schulleitung Workshops mit Teilfreistellung, denn solche Lernspiralen muss man x-mal entwickelt haben, bis sich Routine einstellt. Es geht darum, die Schüler mit gängigen Medien, Materialien und Lehrer-Inputs arbeiten zu lassen, kompetenzorientiert und vielschichtig. Wenn Sie den Grundgedanken ernst nehmen, die Schüler zunächst einmal mit dem arbeiten zu lassen, was vorhanden ist, müssen Sie keinen gigantischen Vorbereitungsaufwand betreiben. Wenn Sie nachher Lust haben, einen tollen Lernzirkel vorzubereiten, will ich nicht dagegenreden, aber das darf nicht die Conditio sine qua non für die Reformarbeit sein, sonst werden viele gar nicht erst beginnen. Wir haben in der Regel fünfstündige Workshops – so viel Zeit ist nötig, um produktiv zu werden. Und da bekommen wir pro Tandem tatsächlich ein bis zwei Lernspiralen à eine Doppelstunde pro Lernspirale hin. Wenn Sie mit sechs Fachlehrern zusammensitzen, sich ein Lehrplanthema oder ein Kernthema nehmen, Arbeitsfelder definieren und diese in Tandems als Lernspiralen ausarbeiten, dann haben Sie am Ende dieses Workshops sechs bis zwölf Unterrichtsstunden mit Anlagen fertig. Das ist deshalb interessant, weil Sie so etwas zu Hause, auf sich allein gestellt, in der Regel nicht hinkriegen. Meist bleibt man dann im eigenen Fahrwasser hängen, und es fallen einem immer die Dinge ein, die man sonst auch macht, das kennt jeder. Im Rahmen der Workshops solche Lernspiralen erstellen, gegebenenfalls einschlägige Fortbildungsseminare besuchen kann so etwas kann nur helfen. Den Unterricht entsprechend umgestalten, die 45 Minuten zumindest hin und wieder überwinden. Selbst im Anfangsunterricht Englisch mit vier Wochenstunden bin ich absolut dafür, eine Doppelstunde und zwei Einzelstunden und nicht vier Einzelstunden zu haben. Es bleiben methodisch viel zu wenig Möglichkeiten, wenn Sie immer auf die Einzelstunde festgelegt sind. Die Schüler müssen tagtäglich so Klippert: Bildungsstandards Blindtext umsetzen gefordert und gefördert werden, damit das Erlernte selbstverständlich wird, und deshalb arbeiten wir mit Klassenteams. Der Klassenlehrer plus zwei Satellitenlehrer mit Hauptfächern, die viele Stunden in Summe unterrichten, bilden die Kernmannschaft in einer Klasse. So wird sichergestellt, dass an jedem Tag jemand da ist, der die neu erlernten Standards auffrischt und wiederbelebt. Schüler brauchen Wiederholung, das wissen wir alle, sie brauchen Redundanz, damit sich bestimmte Fertigkeiten und Fähigkeiten festigen. pitationen können potenzielle Mitstreiter gewonnen werden. Manche Lehrkräfte sind im Lehrerzimmer noch skeptisch, wenn sie aber hospitieren und sehen, wie sich eine Lehrkraft schonen kann und die Schüler trotzdem intensiver arbeiten, dann wird das nachdenklich machen. Wenn Sie nächstes Jahr mehr Teams für sich zur Verfügung haben wollen, müssen die Weichen rechtzeitig gestellt werden. Achten Sie deshalb darauf, dass mit Blick auf das nächste Schuljahr solche Teamkonstellationen gebildet werden. Weiterhin möchte ich Ihnen empfehlen, fächerübergreifende Trainingstage für diese Methodenklärung einzuführen: drei oder vielleicht auch fünf Trainingstage im Block, wenn eine Projektwoche existiert. Es ist wirklich lohnend. Durch gezielte Hos- Mein Ziel war es, Ihnen deutlich zu machen, dass die Umsetzung der Bildungsstandards nicht nur sinnvoll, sondern auch möglich ist, und zwar mit alltagstauglichen Mitteln. Ich hoffe, das ist angekommen. 37 STATEMENT Christoph Selter Christoph Selter, Dr. paed., geb. 1961; Grundschullehrer; Hochschullehrer für Mathematikdidaktik, von 1996 bis 2005 an der PH Heidelberg, seit 2005 an der Universität Dortmund. Zahlreiche Publikationen zum Lehren und Lernen von Mathematik im Grundschulalter. Autor u. a. der Bücher ‚Wie Kinder rechnen‘, ‚Kinder & Mathematik‘ (beide mit Hartmut Spiegel), ‚Beurteilen und Fördern im Mathematikunterricht‘ (mit Beate Sundermann). Erfreulicherweise wird in Deutschland seit einigen Jahren vergleichsweise intensiv über Bildung und Erziehung diskutiert. Der Grund dafür liegt sicherlich nicht nur, aber wesentlich auch in der Auseinandersetzung mit den PISA-Studien. Ich habe allerdings manchmal den Eindruck, als würden mit dem bestenfalls mittelmäßigen Abschneiden der deutschen Mittelstufenschülerinnen und -schüler Forderungen begründet, die unterschiedlicher kaum sein könnten. In der Tat wird PISA sowohl als Beleg für die Notwendigkeit der Abschaffung des gegliederten Schulwesens als auch für dessen Erhalt herangezogen. Glaubt man der einen Seite, so ist ein Schulsystem nach PISA nur weitestgehend ohne Ziffernnoten fühlen müssen, um lernen und leisten zu können. Der finnische Parlamentspräsident Paavo Lipponen hat es in der ZEIT vom 18. August 2005 so ausgedrückt: „Das finnische Schulsystem steigert das Innovationspotenzial der Gesellschaft, indem es zu selbstständigem Arbeiten anspornt und stures Auswendiglernen sowie Leistungswettbewerb zwischen Schülern vermeidet. Laut OECD ist das finnische Bildungssystem so erfolgreich, weil es sozialen Ausgleich durch Bildung erreicht, ohne dabei die gezielte Unterstützung der besonders Begabten zu vernachlässigen. Als kleine Volkswirtschaft sind wir darauf angewiesen, uns um jedes einzelne Mitglied der Gesellschaft zu bemühen. In Zeiten sinkender Bevölkerungszahlen ist dies auch für größere Volkswirtschaften eine immer wichtigere Erkenntnis.“ Leistungsfeststellungen in der Schule sollten primär erfolgen, um eine begründete Basis für individuelle Fördermaßnahmen zu schaffen. Dabei umfasst Mathematikleistung weit mehr, als es flächendeckend verordnete Lernstandserhebungen, Klassenarbeiten herkömmlicher Art oder die häufig eher beiläufig erhobene so genannte mündliche Mitarbeit zum Ausdruck bringen können. In seinem Beitrag „LEISTUNGEN FESTSTELLEN, UM KINDER ZU FÖRDERN – WAS HEISST DAS KONKRET FÜR DEN MATHEMATIKUNTERRICHT?“ konkretisiert Professor Dr. CHRISTOPH SELTER, Mathematikdidaktiker an der Universität Dortmund, diese Leitvorstellung anhand von Beispielen aus dem Unterricht der Grundschule und kommt von dort aus zu der übergreifenden Fragestellung, welche Konsequenzen sich daraus für Leistungsfeststellungen von Schule(n) ergeben. denkbar, was von der anderen Seite als ungeeignete Reaktion kategorisch abgelehnt wird. Manche Personen sehen in klar definierten und eindeutig abprüfbaren Standards die primär zu ziehende Konsequenz; andere wiederum verweisen auf die negativen Folgen, die die damit verbundene Einführung zentraler Lernstandserhebungen in Ländern wie den USA oder England nach sich gezogen hat. Informiert man sich hingegen direkt ‚an der Quelle‘, so wird beispielsweise von finnischen Kolleginnen und Kollegen als immer wiederkehrendes Merkmal angeführt, dass ihr Land nicht zuletzt deshalb vergleichsweise gut abgeschnitten hat, weil es dort eine Kultur der Ermutigung gibt. Man geht davon aus, dass Schülerinnen und Schüler sich ernst genommen und wohl 38 In Finnlands Schulen wird keine ‚Kuscheleckenpädagogik‘ betrieben – natürlich müssen die Schülerinnen und Schüler Leistung zeigen. Nur existiert aufgrund der erst vergleichsweise spät einsetzenden Notensystematik weniger Konkurrenzdruck zwischen den Kindern, und es gibt ein größeres Interesse an den Inhalten als in Ländern wie beispielsweise Deutschland. In Finnland werden zudem die Leistungsanforderungen von Anfang an transparent gemacht. Die Hauptaufgabe der Lehrpersonen besteht darin, die Kinder ausgehend von ihren individuellen Fähigkeiten dabei zu unterstützen, die angestrebten Kompetenzen zu erwerben und ihre Lernerfolge zu überprüfen. Solche Leistungsfeststellungen erfolgen, um eine Grundlage für individuelle Fördermaßnahmen zu erhalten, nicht unter der Selter: Leistungen feststellen, um Kinder zu fördern primären Zielsetzung, Kinder auszulesen. So heißt ein Leitspruch des finnischen Schulsystems: ‚Kein Kind soll zurückbleiben.‘ Diese Grundgedanken scheinen mir eine hilfreiche Orientierung zu bieten. Ich möchte sie eingangs wie folgt zusammenfassen: 1. Leistungsfeststellungen sollten kompetenzorientiert sein: Da Äußerungen und Handlungen von Kindern (aus deren Sicht) oft vernünftiger und organisierter sind, als es aus der Erwachsenensicht scheint, sollten Lehrerinnen und Lehrer ihre Wahrnehmung verstärkt darauf ausrichten, was das einzelne Kind kann und welche Denkwege es wählt, und nicht so sehr darauf, welche Fehler es macht oder wozu es noch nicht im Stande ist. Die primäre Funktion der Leistungsfeststellung in der Schule besteht darin, Lernentwicklungen und Lernergebnisse vor dem Hintergrund individueller Vorerfahrungen einerseits und verbindlicher Anforderungen andererseits zu dokumentieren. Für Lehrerinnen und Lehrer dient dieses als Grundlage der individuellen Förderung. Aus der Sicht der Kinder stellt dieses eine Hilfe bei der (Mit-)Planung und der (Mit-)Steuerung des eigenen Lernprozesses dar. Die deutsche Zahlwortbildung kann hier als aufschlussreiches Beispiel dienen. Im Zahlenraum bis 100 spricht man bekanntlich zunächst die Einer und dann die Zehner (acht-und-dreißig). Jenseits der 100 wird das Prinzip ,von klein nach groß‘ dann nicht mehr eingehalten (einhundert-acht-und-dreißig). Natürlich wäre es konsequenter, wenn unsere Zahlwörter immer ,von groß nach klein‘ (einhundert-dreißig-und-acht) oder stets ,von klein nach groß‘ (acht-und-dreißig-hundert) gesprochen würden. Aber so hat sich unsere Sprache nicht entwickelt. Daher ergeben sich immer wieder kleinere Stolpersteine. Fast jedes Kind produziert beispielsweise irgendwann einmal die Zahlwortreihe ‚achtundneunzig, neunundneunzig, hundert, einhundert, zweihundert‘. In den weitaus meisten Fällen sind aber nicht einhundert und zweihundert, sondern hunderteins und hundertzwei gemeint. Natürlich gehört es auch zum Auftrag von Schule, Entscheidungen über Versetzungen und Nichtversetzungen, über Schullaufbahnen, über Abschlussniveaus zu treffen – in Deutschland bedauerlicherweise schon in recht jungem Alter. Schule kann dieses Spannungsverhältnis von Entwicklungsfunktion und Ausle- sefunktion schlichtweg nicht beseitigen. Aber sie kann trotz dieses Dilemmas versuchen, mit den Leistungen der Kinder verantwortlich umzugehen, also durch individuelle Förderung die Lernfreude der Kinder zu erhalten und deren Leistungsfähigkeit zu entwickeln. Das ist das Konzept der pädagogischen Leistungsschule. Allerdings reicht die Orientierung an solchen pädagogischen Leitvorstellungen nicht aus. Um in der Praxis wirksam werden zu können, müssen diese fachbezogen konkretisiert werden. Der vorliegende Beitrag unternimmt einen solchen Versuch für das Beurteilen und Fördern im Mathematikunterricht. Hierzu formuliere ich sieben Leitideen und illustriere sie durch Beispiele aus der Grundschule. Die Kinder sagen ,einhundert‘ bzw. ,zweihundert‘, weil sie die Regel ,Erst die Einer sprechen‘ aus ihrer Sicht konsequent auf einen Bereich übertragen, in dem diese allerdings nicht gilt. Unsere Zahlwortbildung hält noch weitere Unregelmäßigkeiten bereit. So sagen manche Kinder Nullzehn zur Zehn oder Einszehn zur Elf, da es ja auch Vierzehn oder Fünfzehn gibt. Warum heißt die Zwanzig eigentlich nicht Zweizehn? Wenn es Dreißig und Vierzig gibt, warum soll dann die Zwanzig nicht Zweizig heißen, die Hundert Zehnzig oder die Hundertzehn Elfzig? Wieso sagt man zur Hundertfünfundzwanzig nicht Fünfundzwanzighundert? Alle diese und weitere hier nicht genannte Sprachschöpfungen könnte man natürlich aus der Erwachsenensicht als fehlerhafte Zahlwortbildungen verstehen. Diese Grundeinstellung, das Denken und Lernen der Kinder vorwiegend defizitorientiert wahrzunehmen und zu interpretieren, ist bedauerlicherweise weiter verbreitet, als es für alle Beteiligten gut ist. Dabei orientiert man sich hauptsächlich an der Norm. Abweichungen davon bewertet man dann als Fehler, die es schnellstmöglich zu korrigieren oder im Vorfeld zu verhindern gilt. Man kann die Äußerungen von Kindern aber immer auch aus kompetenzorientierter Perspektive als Ergebnisse prinzipiell vernünftigen Denkens ansehen und sich in diesem Sinne fragen: Was könnten sie sich gedacht haben? Was sind die Hintergründe eines aus unserer Sicht falschen Vorgehens? Was können sie schon alles? Wie kann man sie dazu anregen, ihr augenblickliches Denken und Wissen weiterzuentwickeln? 2. Leistungsfeststellungen sollten kontinuierlich erfolgen: Da eine punktuelle, auf beispielsweise sechs Termine im Jahr kon- 39 zentrierte Leistungsfeststellung den vielschichtigen Lernentwicklungen der Kinder nicht gerecht wird, sollten auch deren ‚Alltagsleistungen‘ mit vertretbarem Aufwand regelmäßig dokumentiert werden. Einen kontinuierlichen Einblick in individuelle Leistungsstände erhält man beispielsweise, indem man einen so genannten Mathebriefkasten einrichtet – einen mit gelbem Papier beklebten Schuhkarton mit Schlitz. In diesen Briefkasten werfen die Kinder individuelle Aufgabenbearbeitungen, die nicht länger als fünf bis zehn Minuten in Anspruch genommen haben sollten. Vorab hat die Lehrerin am Ende oder zu Beginn einer Unterrichtsstunde, eines Tages oder einer Lerneinheit eine A5- oder A6-Karteikarte bzw. ein entsprechend großes Blatt Papier ausgeteilt. Darauf notieren die Schüler zunächst Datum und Namen sowie die Antwort auf eine Frage bzw. die Bearbeitung einer Kurzaufgabe. Im vorliegenden Beispiel wurden die Schüler jeweils im Abstand mehrerer Wochen gebeten, die Aufgabe 8 x 9 zu lösen. Dabei konnten sie Material oder Papier und Stift zur Hilfe nehmen. Das Beispiel von Achim deutet an, wie viel man durch diese Dokumente über seinen Lernprozess ausgehend von der mühsamen Addition einzelner Summanden über den Aufbau anschaulicher Vorstellungsbilder, das Ausnützen der Einmaleinsreihen hin zum Verwenden von Rechenstrategien lernen kann – selbst wenn ihm im Juni der keineswegs untypische Fehler „9 x 9 = 81, also ist 8 x 9 um 8 weniger“ unterlief (siehe Abb. 1). 3. Leistungsfeststellungen sollten transparent sein: Da die Kinder bereits in der Grundschule lernen sollen, in zunehmendem Maße über ihr eigenes Lernen nachzudenken, es zu bewerten und selbst zu steuern, sollte ihnen ein altersangemessenes Maß an Transparenz ermöglicht werden, das sich förderlich auf das Gelingen von Lernprozessen und die Qualität der Leistungsfeststellungen auswirkt. Solche Transparenz sollte selbstverständlich nicht darin bestehen, dass den Kindern die Zielformulierungen eines schriftlich ausgearbeiteten Unterrichtsentwurfs vorgelesen werden. Stattdessen bedarf es Formen, die für die Kinder verständlich sind. Im Folgenden möchte ich dazu mit dem Blitzrechenposter ein Beispiel geben (siehe Abb. 2). Unter Blitzrechnen (auch schnelles Rechnen genannt) werden die Anteile des Kopfrechnens verstanden, deren Verfügbarkeit im Gedächtnis regelmäßiger, anfangs anschauungsgebundener Übung bedarf. Im vorliegenden Beispiel erstellte die Lehrerin für ihre Erstklässler ein Poster im DIN-A2-Format, das im Klassenzimmer ausgehängt wurde. Zudem erhielten die Eltern und die Kinder jeweils eine Version davon im DIN-A4-Format. Neben dem Namen der jeweiligen Übung wurden zur Illustration auch die dem Schulbuch entnommenen bildlichen Darstellungen verwendet. In der letzten Spalte wurde jeweils angegeben, auf welchen Seiten die einzelnen Übungen dort vorkamen. Ergänzend sind hier auch entsprechende Verweise auf Arbeitshefte oder sonstige Übungsmaterialien denkbar. So wissen Kin- Achim Abb. 1 40 Abb. 2 Selter: Leistungen feststellen, um Kinder zuBlindtext fördern der und Eltern, wo Übungsmaterial gefunden werden kann bzw. ab wann das Üben einer dieser Grundfertigkeiten zu Hause bzw. in der Schule verbindlich wird. Ein Blitzrechenposter kann aber nicht nur der Transparenz dienen, sondern auch zur Motivation im Übungsprozess herangezogen werden. Schließlich besteht die Möglichkeit, nach Beherrschung aller aufgelisteten Anforderungen den Blitzrechenpass zu erwerben, in dem im Anschluss an kleine Prüfungen nach und nach festgehalten wird, welche Übungen die Kinder bereits beherrschen. 5. Leistungsfeststellungen sollten prozessorientiert sein: Da im Mathematikunterricht nicht nur die inhaltsbezogenen, sondern auch die prozessbezogenen Kompetenzen geschult werden, sollten Aufgaben die Kinder vermehrt dazu anregen, Zusammenhänge zu erkennen und zu übertragen, eigene Überlegungen zu beschreiben oder Begründungen anzugeben. 4. Leistungsfeststellungen sollten informativ sein: Da es in Mathematik um mehr als um ‚richtig oder falsch‘ geht, sollten Aufgaben vermehrt so angelegt sein, dass die Kinder zur Artikulation ihres Denkens angeregt werden und man auf diesem Wege Informationen über ihre Denkwege gewinnen kann. Um zu erfahren, wie Kinder rechnen, kann man sie bei geeigneten Aufgaben bitten, nicht nur das Ergebnis, sondern auch ihren Lösungsweg anzugeben. Es folgen einige aufschlussreiche Dokumente von Drittklässlern, die gebeten wurden, ihre Vorgehensweise bei den Aufgaben 54 – 36 und 71 – 68 zu notieren (siehe Abb. 3). Schaut man sich die verschiedenen Beispiele an, so ergeben sich aussagekräftige Informationen über die Rechenstrategien und die bei manchen Kindern vorhandenen Fehlvorstellungen. Mira Lissy Abb. 4 Im Beispiel der Abb. 4, das einer Klassenarbeit entstammt, sollten die Kinder zunächst zwei zusammenhängende Aufgaben ausrechnen, wozu inhaltsbezogene Kompetenzen im Bereich der schriftlichen Subtraktion erforderlich waren, bevor in den beiden folgenden Teilaufgaben die prozessbezogenen Kompetenzen des Beschreibens und Begründens angesprochen wurden (siehe Abb. 5 folgende Seite). Hassan Dominik Jenny Michael Chiara Maximilian Abb. 3 41 Einen von drei Punkten gab es für Antworten, bei denen ansatzweise auf die Zusammenhänge zwischen den Minuenden und den Subtrahenden der beiden Aufgaben Bezug genommen wurde. Zwei Punkte erhielten diejenigen Schülerinnen und Schüler, die eine Erhöhung der Einer um 1 erwähnten, aber nicht deutlich zum Ausdruck brachten, dass Minuend und Subtrahend jeweils um dieselbe Zahl vergrößert wurden. Die Maximalpunktzahl schließlich wurde vergeben, wenn dieser Zusammenhang angeführt wurde. Abb. 5 Für die Begründung wurde kein Punkt vergeben, wenn das Antwortfeld leer blieb oder die Schülerinnen und Schüler Äußerungen notierten, die nicht dazu geeignet waren, die Gleichheit der Ergebnisse (verstehbar) zu erklären. Ähnlich wie im Deutschunterricht das Beurteilen der Texte von Kindern in der Regel aufwändiger ist als die bloße Beurteilung der Fertigkeiten im Rechtschreiben, ist die Beurteilung von Aufgaben(teilen), die die prozessbezogenen Kompetenzen ansprechen, häufig komplizierter als die reine Bewertung des (End-)Resultats. Aber Ersteres ist erforderlich und – ausgehend von einem Kriterienkatalog – auch leistbar, wobei man sich durchaus der unvermeidlichen Subjektivität der eigenen Wahrnehmungen bewusst, aber mit kompetenzorientiertem Blick um individuelle Gerechtigkeit bemüht sein sollte. 42 Grad der erforderlichen Transferleistungen Grad der Anforderungen beim Beschreiben und Begründen (s. o.) 7. Leistungsfeststellungen sollten umfassend angelegt sein: Da Klassenarbeiten und Tests allein nicht geeignet sind, um ein authentisches Bild dessen, was Kinder leisten, zu erhalten, sollte daneben ein breites Spektrum an Instrumenten zum Einsatz kommen: beispielsweise beiläufige und systematische Beobachtungen, Standortbestimmungen, Arbeitsprodukte, Sammelmappen, Präsentationen, Forscherhefte, Wochenblätter usw. 6. Leistungsfeststellungen sollten differenziert erfolgen: Da aufgrund individueller Unterschiede nicht von allen Kindern innerhalb eines vorgegebenen Zeitraums dieselben Leistungen erwartet werden können, sollten unterschiedliche Leistungsanforderungen gestellt werden, also beispielsweise das Aufgabenangebot nach Grundanforderungen und weiterführenden Anforderungen differenziert werden. Beispielhaft sollen hier die Expertenarbeiten erwähnt werden. Darunter verstehe ich von Schülergruppen oder manchmal auch von einzelnen Schülern (mit)geplante, über einen längeren Zeitraum durchgeführte und den Mitschülern vorgestellte Vorhaben, in deren Zentrum die produktive Auseinandersetzung mit einer komplexeren Aufgabe steht, wie etwa das Erstellen eines Plakats oder eines Infoblattes, das Halten eines Referats oder einer Unterrichtssequenz, die Konzeption einer Lernstation oder eines Arbeitsblatts oder die Durchführung einer Ausstellung oder Präsentation. Die zuletzt angeführte Aufgabe kann auch zur Illustration dieses Punktes herangezogen werden. Der Aufgabenteil, der eine Begründung vorsah, wurde in einer für die Kinder bekannten Weise (Sternchen) als den weiterführenden Anforderungen zugehörig kenntlich gemacht. Dabei kann die Unterscheidung zwischen Grundanforderungen und weiterführenden Anforderungen anhand unterschiedlicher Kriterien erfolgen: Anzahl der (Teil-)Aufgaben Schwierigkeitsgrad der Aufgabendaten (Zahlraum, Rechenanforderungen …) Komplexität der Aufgabenstellung (Anzahl der Lösungsschritte, Abstraktionsgrad …) Präsentationsform (Textmenge, unterstützende Abbildungen, Existenz von Hilfsaufgaben oder Beispielen …) Mögliche Beurteilungskriterien sind: Verständlichkeit und Anschaulichkeit: Wird das Thema nachvollziehbar bearbeitet? Werden hilfreiche Beispiele verwendet? Übersichtlichkeit und Sauberkeit: Werden Prozesse und Produkte klar und ansprechend dargestellt? Korrektheit und Souveränität: Werden die Sachverhalte richtig dargestellt? Werden Erläuterungen sicher gegeben? Eigenständigkeit und Originalität: Hat die Gruppe selbstständig gearbeitet? Ist sie bei der Bearbeitung und Darstellung eigene Wege gegangen? Engagement und Kooperationsfähigkeit: Zeigen die Gruppenmitglieder ‚Einsatz‘? Arbeiten sie gut zusammen (ausreden lassen, Aufgaben übernehmen …)? Selter: Leistungen feststellen, um Kinder zu fördern Damit die Leistungen gefördert und angemessen beurteilt werden können, ist es auch hier wichtig, den Kindern die Hauptbewertungskriterien in verständlicher Weise nahe zu bringen. Nicht immer müssen natürlich alle der o. a. Kriterien erfüllt sein oder zur Beurteilung herangezogen werden. Sie sollten – auch unter Einbezug der Kinder, z. B. bei der Erstellung eines Posters oder Plakats – noch spezifischer ausgearbeitet werden: Inwieweit wird Farbe als Strukturierungshilfe verwendet? Wird sauber geschrieben? Werden die einzelnen Teilaspekte sinnvoll angeordnet? Etc. Zum Abschluss möchte ich noch einen ganz entscheidenden Punkt ansprechen: Es ist nicht nur meine Befürchtung, dass das Instrument verpflichtender zentraler Lernstandserhebungen mit nachfolgender Veröffentlichung der Ergebnisse der Einzelschulen bei manchen positiven Auswirkungen auch die Gefahr mit sich bringt, mittels des dadurch erzeugten Drucks von außen die Weiterentwicklung der eingangs umrissenen pädagogischen Leistungsschule zu behindern oder gar zu verhindern. Denn angesichts der Bedeutung, die zentralen Lernstandserhebungen in Deutschland zukünftig vermutlich zukommen wird, ist die Annahme nicht völlig abwegig, dass sich der Unterricht in vielen Klassenzimmern – zumindest in den ‚heißen Phasen‘ vor der Durchführung der zentralen Tests – mehr und mehr auf die Testvorbereitung konzentrieren wird. Dann hätten wir ein ,teaching to the test‘, wie wir es aus England oder den USA kennen. Das dort vorherrschende, der Wirtschaft entlehnte und für die Schule m. E. nur bedingt taugliche Konkurrenzmodell führt dazu, dass Schulen durch die Publikation von Leistungsdaten in Rankings unter Druck gesetzt werden. In der US-amerikanischen Literatur wird allerdings deutlich, dass die Orientierung an Teststandards die erwarteten Erfolge bislang nur ansatzweise erbracht hat. Im Gegenteil kann festgehalten werden: Tests messen nicht immer das, was sie vorgeben zu testen; schwache Schulen und schwache Schüler werden z. T. noch schwächer; nicht wenige Lehrer und Schüler werden demotiviert; die Testinstitute werden immer mehr zu den heimlichen Agenten des Unterrichts; die erhofften Leistungssteigerungen treten nicht im erwarteten Maße ein usw. Und so komme ich abschließend zu meinem ersten Punkt zurück: Was für die Leistungsfeststellung in der Schule gilt, sollte auch für die Leistungsfeststellung von Schule relevant sein: Die primäre Funktion der Leistungsfeststellung von Schule besteht darin, Unterrichtsentwicklung und Unterrichtsergebnisse vor dem Hintergrund schulbezogener Rahmenbedingungen einerseits und vorgegebener Anforderungen andererseits zu dokumentieren. Für Schulberater dient dies als Grundlage für schulbezogene Unterstützungsmaßnahmen. Aus der Sicht der Lehrerinnen und Lehrer stellt es eine Hilfe bei der Weiterentwicklung des eigenen Unterrichts dar. 43 STATEMENT Heinz Klippert Heinz Klippert, geb. 1948, Dr. rer. pol.; Dipl.-Ökonom; Lehrerausbildung und -tätigkeit in Hessen; seit 1977 Dozent am Lehrerfortbildungsinstitut der Evangelischen Kirche in Rheinland-Pfalz (ERWI) mit Sitz in Landau. Trainer, Berater und Ausbilder in Sachen „Pädagogische Schulentwicklung“. Zahlreiche Publikationen zur Didaktik und Methodik des wirtschafts- und sozialkundlichen Unterrichts, zum Arbeitsfeld „Schulentwicklung“ sowie zum Methoden- und Kommunikationstraining für Schülerinnen und Schüler. Trainer, Berater und Ausbilder für „Pädagogische Schulentwicklung“. Mein Ansatz im Rahmen dieses Vortrages ist, einmal zu schauen, wo wir in der Schule Gestaltungsmöglichkeiten haben, die uns Entlastungsperspektiven eröffnen. Ich betreue seit vielen Jahren Steuerungsteams von Schulen, mit denen ich auch immer darüber nachdenken musste, wie wir in den betreffenden Schulen Entlastung organisieren können, weil ansonsten die Schmerzgrenze bei den Kolleginnen und Kollegen sehr schnell erreicht ist. Aus diesem langjährigen Nachdenken über praktische Entlastungsmöglichkeiten ist letztlich mein Buch „Lehrerentlastung“ entstanden, das ich Ihnen hier auszugsweise vorstellen möchte. zwischen eigenen Ansprüchen und der eher bescheidenen Realität tagtäglich eine permanente Dissonanz. Diese Diskrepanz ist auf Dauer zermürbend. Etwa 23 Prozent setzen auf Schonung, das sind die Lehrkräfte, die psychisch gut über die Runden kommen, weil sie irgendwo den schulischen Alltag in die zweite Position geschoben haben und sich an anderen Aktivitäten auf- und ausrichten. Nur 17 Prozent – und das halte ich eben für dramatisch – sagen von sich, dass sie problemlos zurechtkommen. Schaut man sich die Altersstruktur an, spricht vieles dafür, dass es jüngere Lehrkräfte sind, die noch mit einer gewissen Euphorie meinen, die Dinge auf lange Sicht bewälti- In 500 Schulen in derzeit sieben Bundesländern betreut das Lehrerfortbildungsinstitut Landau Steuerungsteams bei der Umsetzung systematischer Unterrichtsentwicklung mit dem Ziel, die Schülerinnen und Schüler zeitgemäßer zu qualifizieren und Entlastungsperspektiven für Lehrkräfte zu entwickeln. Der Vortrag von Dr. HEINZ KLIPPERT, Dozent des genannten Instituts, zeigt auf, wie sich Lehrkräfte und Leitungspersonen schulintern Entlastung verschaffen können. Dr. Klippert hat erst kürzlich ein Buch zum Thema veröffentlicht und stellt in seinem Vortrag „LEHRERENTLASTUNG – HANDLUNGSPERSPEKTIVEN FÜR SCHULE UND UNTERRICHT“ bewährte Strategien zur wirksamen Arbeitserleichterung in Schule und Unterricht vor, wie sie in der Praxis entwickelt und realisiert wurden. Das, was hinter diesen ganzen Überlegungen steht, spielt sich derzeit in über 500 Schulen in verschiedenen Bundesländern ab. Wir arbeiten in sieben Bundesländern, in Niedersachsen, Berlin, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, BadenWürttemberg und auch in Bayern, an der Umsetzung systematischer Unterrichtsentwicklung mit dem Ziel, die Schüler zeitgemäßer zu qualifizieren und auch und nicht zuletzt Entlastungsperspektiven für Lehrkräfte zu entwickeln. Neueren Studien zur Lehrerbelastung von Uwe Schaarschmidt und anderen besagen, dass 60 Prozent der bundesdeutschen Lehrerschaft sich mehr oder weniger stark überlastet fühlen. Wenn das so ist, wird auch der Unterricht nicht optimal laufen können, und deshalb muss, im Interesse einer insgesamt effektiveren Schule, an Entlastungsperspektiven gearbeitet werden. 29 Prozent der Lehrerschaft sind im Stadium des Burn-out angelangt; rund 30 Prozent, erleben aufgrund der Diskrepanz 44 gen zu können. Ich will das nicht weiter vertiefen, es ist nur die Ausgangssituation. Was sind die zentralen Belastungsfaktoren? Interessant ist, dass der wichtigste Belastungsfaktor mit dem Unterricht direkt zusammenhängt: Friktion im Unterricht. Das heißt Desinteresse der Schüler, Bequemlichkeit, unflätiges Verhalten, hoher Lärmpegel, wenig Sanktionsmöglichkeiten der Lehrkräfte, all die Verhaltensauffälligkeiten und Störmanöver, die den Unterricht behindern und für die Lehrpersonen sehr stressig sind. Hinzu kommt der 45-Minuten-Takt. Der dadurch bedingte rasche Wechsel führt dazu, dass wir die Friktion besonders deutlich erleben, weil wir an einem Vormittag sechs verschiedene Klassen mit unterschiedlichen Verhaltensauffälligkeiten und unterschiedlichen destruktiven Mustern haben. Das ist nachgewiesenermaßen die Hauptbelastungsquelle. Klippert: Lehrerentlastung An zweiter Stelle stehen die schlechten Rahmenbedingungen, also die großen Klassen, die vielen Wochenstunden, die kleinen Klassenräume. Wenn Sie moderne Unterrichtsformen praktizieren wollen, müssen Sie zwingend zumindest phasenweise Partner- und Gruppenarbeit veranstalten. Wenn Sie aber eine Frontalsitzordnung haben, dann ist es schier unmöglich, in 45 Minuten alles umzuräumen, um es am Ende der Zeit wieder auf den alten Stand zu bringen. Deshalb sind viele Forderungen, die derzeit im Zusammenhang mit den Bildungsstandards erhoben werden, unrealistisch, da sie von den Bedingungen, die wir in den Schulen vorfinden, zu sehr abstrahieren. Ein weiteres Manko ist die Ausstattung. Hier auf der Messe haben wir die neuen Medien, E-Learning usw., was könnte man sich damit alles vorstellen! Nur hat die Schule in der Regel irgendwo drei Computerräume, und es ist schwierig, im normalen Fachunterricht unter solchen Bedingungen systematisch Computernutzung zu betreiben. Bis Sie umgezogen sind, bis Sie die Rechner hochgefahren haben, sind schon wesentliche Teile der 45 Minuten um. Auch hier kann und muss sich einiges ändern. Der dritte Problembereich betrifft den politischen Aktionismus. Es werden ungemein viele Forderungen an die Schule gerichtet, und das Dilemma ist, dass wir letztlich nur Innovation bewerk- die Schlüsselgröße in diesen ganzen Innovationsprozessen, die derzeit anstehen, das Unterstützungssystem. Wir wissen inzwischen, dass wir neue Handlungskompetenzen aufbauen müssen. Wenn Sie jedoch nur gelernt haben, Stoffe und lehrerzentrierten Unterricht zu inszenieren, dann werden Sie sich schwer tun mit dem Vermitteln von Kommunikationskompetenz, Teamkompetenz, Methodenbeherrschung oder was auch immer. Daher müssen wir mit dem praktischen Repertoire der Akteure in den Schulen auf einen Stand kommen, auf dem die Ansprüche endlich realisiert werden können. Wenn die Lehrkräfte ständig diese Diskrepanz zwischen den immer neuen Ansprüchen und den eigenen Möglichkeiten erfahren, ist das zermürbend und führt häufig zu einer massiven Verweigerungshaltung. Das sollten Politiker bedenken. Die Frage muss lauten: Wie kriegen wir eine Stimmung in den Schulen, sodass die Menschen dort etwas bewegen wollen? Und das letzte große Feld ist die Selbstüberforderung. Der Perfektionismus der Lehrkräfte ist für mich ein Riesenproblem, weil dadurch auch die Angst vor dem Fehler des Schülers wächst. Wir haben infolge unserer Lehrerbildung und durch unsere eigene Sozialisation über Jahrzehnte, Jahrhunderte hinweg eine lehrerdominante Unterrichtsführung implementiert, wodurch Stress in hohem Maße entsteht. Wir übernehmen uns selbst durch unsere überzogenen Ansprüche und unseren Perfektionismus. Lehrerentlastung – aber wie Ich will Ihnen hier die fünf Felder, die mir aufgefallen sind und in denen wir uns in den Schulen selbst helfen können, auflisten. 1. Entlastung durch verbessertes Selbstmanagement stelligen können, wenn wir eine Reduktion von Komplexität erreichen. Wir brauchen so etwas wie ein Lean Management, ansonsten haben wir die klassische Überforderungssituation, mit der wir nicht fertig werden. Wir betreiben vieles so aufwändig nebeneinander, jeder für sich, dass wir über Gebühr Zeit und Energie investieren, ohne dass das Kollegium insgesamt etwas davon hat. Wir brauchen eine Zusammenführung der verschiedenen separaten Projekte, und daran kann schulorganisatorisch sehr effektiv gearbeitet werden. Wir haben die Möglichkeit, Dinge zu verbinden, zu bündeln und nicht nebeneinander von unterschiedlichen Personengruppen bearbeiten zu lassen. Was helfen uns die Bildungsstandards, wenn der faktische Unterricht sich nicht in alltagstauglicher Weise verändert? Was helfen uns Schulinspektionen, wenn die Unterstützungssysteme fehlen, um dasjenige Handwerkszeug zu vermitteln, das die Realisierung der neuen Anforderungen ermöglicht? Für mich ist Wir müssen einen gewissen Realismus, eine gewisse Frustrationstoleranz in unserem eigenen Interesse lernen. Gesund bleiben nachgewiesenermaßen die Lehrkräfte, die eine realitätsbezogene Gelassenheit entwickeln können, die zwar anspruchsvoll sind, aber die Realitäten akzeptieren; die einen gewissen Dilettantismus der Schüler akzeptieren und damit auch gut fertig werden. Das gehört in den Bereich des Selbstmanagements. Dazu gibt es in meinem Buch eine ganze Reihe von Arbeitsmaterialien und Informationen, auf die ich aber hier nicht näher eingehen will. 2. Entlastung durch gezielte Schülerqualifizierung Die ist für mich ein zentraler Punkt. Wir haben letztlich in den Klassen ein Heer von potenziellen Helfern und Miterziehern, ein Heer von Tutoren, die wir stärker zur Entlastung der Lehrkräfte einbinden müssen. 3. Entlastung durch verstärkte Lehrerkooperation Ich halte es für fatal, dass im Augenblick jeder versucht, die Reformansätze mehr oder weniger im Alleingang zu bewältigen. 45 Wir schaffen es nicht alleine, sondern müssen Arbeitsteilung praktizieren und deshalb auch verstärkt Kooperationsbeziehungen eingehen. Wir arbeiten in den Schulen mit Workshops, fünfstündig oder auch ganztägig, bei denen Lehrkräfte in Fachteams oder Klassenteams ihre gemeinsame Unterrichtsvorbereitung nach bestimmten Strickmustern durchführen, Materialien austauschen können, die archiviert werden, und auf diese Weise auch Entlastung erfahren. Wir haben in der Schule bislang so gut wie keine Arbeitsteilung, und daher kommt es bei der derzeitigen Situation zwangsläufig zu einer Überlastung. 4. Entlastung durch intelligentes Schulmanagement Ich sehe auch, dass die Schulleitungen eine ganze Menge dazu beitragen können, die Lehrerentlastung in den Systemen zu befördern. Es wird nicht nur zu viel Formalismus und Bürokratismus praktiziert, es wird auch in anderen Bereichen, wenn es etwa um Konferenzeffizienz geht, gegen diesen Entlastungsgrundsatz verstoßen. Viele Konferenzen haben ein denkbar schlechtes Image, weil für den Einzelnen wenig oder gar nichts dabei herauskommt. Wir brauchen also produktive Konferenzen. Eine Konferenz muss Ergebnisse erbringen, die ich zu Hause im Alleingang nicht erzielen kann. Es sind andere, produktive Formen der Zusammenarbeit notwendig. Wir verlieren in den Konferenzen unendlich viel Zeit, weil Rituale gepflegt werden und weil es nicht um eine ergebnisorientierte, produktive Arbeit geht. Zur effektiveren Konferenzgestaltung und Konferenzmoderation kann die Schulleitung einiges beitragen. Wir brauchen weiterhin vermehrt schulinterne Freistellungen der Lehrkräfte für bestimmte innovative Entwicklungsarbeiten, für Fortbildung. Ich halte es für eine recht gewagte Angelegenheit, dass die Politik im Augenblick die Fortbildungen zusammenstreicht und das Ganze in das Belieben der Einzelnen stellt. Wenn wir eine konzertierte Entwicklung in der Schule haben wollen, müssen wir auch eine konzertierte Qualifizierung erreichen. Insofern halte ich die gegenwärtig propagierte Verabsolutierung der Unterrichtsversorgung für fragwürdig, denn ich kann mir auch einen Unterricht vorstellen, der tapfer gehalten wird, ohne dass die Kinder davon profitieren. Der Bundeselternrat hat das einmal in einer Presseerklärung sehr schön auf den Punkt gebracht und formuliert. Es gebe viele Stunden in Deutschlands Schulen, so hieß es dort, die besser nicht gehalten worden wären. Damit will ich nicht den Eindruck erwecken, dass ich gegen das Durchführen von Unterricht bin, aber es geht um Prioritätensetzung. Wenn die Akteure, die diesen Unterricht verändern sollen, im Blick auf Bildungsstandards nicht Lernzeit zugestanden bekommen, dann müssen wir uns nicht wundern, wenn alles so bleibt, wie es ist. Eine weitere Belastungskomponente ist das schlechte Lehrerimage in der Öffentlichkeit. Wenn wir also weiterkommen wollen, brauchen wir eine offensive Öffentlichkeitsarbeit im Blick auf Eltern und andere interessierte Gruppierungen in der jeweiligen Region, im Umfeld der Schule. Da haben wir einige Möglichkeiten, die wir verstärkt nutzen sollten. 46 5. Entlastung durch bildungspolitische Stützmaßnahmen Ich wünschte mir, dass die Politik sich über den Weg der Innovation etwas genauer Gedanken macht – und nicht nur über die Ziele der Innovation. Denn ob die Ziele realisiert werden, entscheidet sich letztlich auf dem Weg dorthin. Fazit: Wirksame Lehrerentlastung verlangt, dass verstärkt auf Bordmittel zurückgegriffen wird. Ich bin pragmatisch und denke, wenn uns auf kurze Sicht von außen nicht geholfen wird, müssen wir schauen, was wir im eigenen Regiebereich bewerkstelligen können, damit es leichter und entlastender wird. Das will ich jetzt noch etwas präzisieren. Für mich ist das Methodenlernen, die Schülerqualifizierung ein zentraler Ansatzpunkt. Wir brauchen eine verstärkte Methodenschulung, weil viele Schüler und Schülerinnen nicht in der Lage und auch nicht bereit sind, in eigener Regie zu arbeiten. Es gibt ein erhebliches Maß an Unselbstständigkeit, die den Kindern nicht angeboren ist, sondern angelernt wurde. Durch eine erdrückende Fürsorglichkeit vieler Eltern im Kleinkindalter entwickeln viele Kinder eine Arbeitgebermentalität. Sie geben ihren Müttern – ihren Vätern manchmal auch – Arbeit, indem sie Hilflosigkeit signalisieren, und in der Schule treiben sie das gleiche Spiel mit hoher Erfolgswahrscheinlichkeit weiter. Das Helfersyndrom der Lehrkräfte sorgt dafür, dass vorschnell geholfen wird. Wenn Sie aber heute nach zehn Sekunden helfen, müssen Sie damit rechnen, dass morgen nach neun Sekunden geholfen werden muss. Viele Schüler fragen bereits: „Was soll ich denn machen?“, bevor sie den Arbeitsauftrag gelesen haben. Wir sind insofern an dem ganzen Spiel beteiligt, als wir diese erdrückende Fürsorglichkeit förmlich anbieten. Wenn Sie zu der ersten Gruppe hingehen, die gerade in der Konstituierungsphase ist, die das Schulbuch in die Hand nehmen und sich den Arbeitsauftrag anschauen muss, werden die Schüler sofort die Bücher beiseite legen und Fragen stellen. Es gibt eine pfiffige Impulstechnik, die die Schüler beherrschen. „Was sollen wir denn eigentlich genau machen?“ ist die klassische Eingangsfrage. Eine solche Frage halten Lehrkräfte meist nicht aus, und sie wiederholen nicht nur den Arbeitsauftrag, sondern geben häufig auch schon Hinweise, wie das Ergebnis aussehen könnte. Diese Strategie kultivieren die Schüler in hohem Maße. Eine unserer Töchter hat mir das einmal sehr plastisch vor Augen geführt. Sie, damals in der 9. Jahrgangsstufe, kam mittags nach Hause und war sichtlich vergnügt. Ich habe mir dieses In-sich-Hineinkichern eine Weile angeschaut und irgendwann etwas entnervt gefragt: „Na, habt ihr heute so einen schönen Tag gehabt?“ „Nein“, sagt sie, „schön war es eigentlich nicht, aber interessant.“ „So, was war interessant?“ Sie antwortet mit einem verschmitzten Lächeln: „Drei Fragen haben ausgereicht, ihn eine Doppelstunde zu beschäftigen.“ „Er“ war der Schulleiter dieses Gymnasiums, der Geschichte unterrichtete. Es war genau die geschilderte Strategie, die die Schüler offensichtlich beherrschten und auch vorsätzlich praktizierten. Ich habe dann so reagiert, wie Sie vielleicht als Mutter oder Vater auch reagieren würden. Ich habe gesagt: „Ihr habt sie doch Klippert: Lehrerentlastung Blindtext nicht alle. So lernst du doch auch nichts.“ „Macht nichts.“ Ich sage: „Die nächste Klassenarbeit kommt bestimmt.“ Sagt sie: „Er ist fair.“ Ich fragte: „Was meinst du damit?“ „Er prüft nur, was er an die Tafel bringt. Wir haben ihn eine Doppelstunde davon abgehalten, etwas an die Tafel zu bringen.“ aber auch unterstützende Lehrerfortbildung, weil wir gemerkt haben, dass das Ganze sich nicht von selbst reguliert. Wir können zwar schöne Ziele formulieren, trotzdem müssen die Akteure in den Schulen erst einmal alltagstaugliche Werkzeuge und Instrumentarien entwickeln. Für mich sind die Lernspiralen, „Neueren Studien zur Lehrerbelastung von Uwe Schaarschmidt und anderen besagen, dass 60 Prozent der bundesdeutschen Lehrerschaft sich mehr oder weniger stark überlastet fühlen. Wenn das so ist, wird auch der Unterricht nicht optimal laufen können, und deshalb muss, im Interesse einer insgesamt effektiveren Schule, an Entlastungsperspektiven gearbeitet werden.“ Sie sehen, dass Schülerinnen und Schüler sehr wohl strategische Kompetenzen haben, nur sind es teilweise Arbeitsvermeidungskompetenzen. Wenn wir also weiterkommen wollen, müssen wir die Schüler auf die Füße bringen. Oft reicht es schon, wenn Sie nach einer Auftragsübergabe drei Minuten lang den Blickkontakt zu den Schülern vermeiden. Nach dieser Zeit haben diese in der Regel den Arbeitsauftrag allmählich erfasst und merken plötzlich, dass sie die Lehrkraft gar nicht brauchen, sondern das auch allein hinkriegen. Das ist es, was wir erreichen müssen. Dann brauchen wir eine defensive Lehrerrolle und Schüler, die über gewisse Skills, über Werkzeuge, verfügen, die ihnen Erfolgswahrscheinlichkeit sichern. Wir müssen die Schüler mit entsprechenden Arbeitstechniken, Lerntechniken, Kooperationstechniken, Kommunikationstechniken, Präsentationstechniken ausstatten. Über viele Jahre hinweg konnten wir beobachten, dass Schüler in dem Maße, wie sie im Bereich des eigenverantwortlichen Arbeitens über Kompetenzen verfügen, das dann auch gerne machen. Die Lernpsychologie nennt das Kompetenzmotivation, also Motivation aus dem Gefühl heraus, etwas zu können und zu wissen, wie es geht. Auf den erwähnten Sockelkompetenzen ruht das eigenverantwortliche Arbeiten und Lernen. Dieses beginnt bereits rund um den Lehrervortrag, rund um das Tafelbild, rund um den Physikversuch des Lehrers. Es muss nicht gleich von Anfang an Projektarbeit oder Monatsplanarbeit sein. Ich habe den Eindruck, Deutschland steht immer in der Gefahr, gleich zu den Hochformen zu greifen und nicht die vielen kleinen Zwischenschritte ernst zu nehmen. Wir wollen nicht gleich Orchideen züchten, um das mal bildhaft zu sagen, sondern was wir letztlich brauchen, sind Gänseblümchen, die winterresistent sind. Wir benötigen alltagstaugliche Routinen. Wo wollen wir hin? Es geht um Entlastung im alltäglichen Unterricht, die durch diese Kompetenzentwicklung und durch die kleinschrittige Förderung des eigenverantwortlichen Arbeitens und Lernens der Schüler unterstützt und vorangetrieben wird. Wir brauchen wie Sie sie auch in meinen Büchern finden können, ein wichtiger Hebel, um Entlastung zu erreichen (vgl. auch den Vortrag zum Thema „Bildungsstandards umsetzen – aber wie?“ in der vorliegenden Dokumentation mit Beispielen solcher Lernspiralen). Und wenn es in der Klasse so etwas wie eine gemeinsame Haftung gibt, ist dies ein zentrales Element der Lehrerentlastung. Ich kann das an einem Beispiel verdeutlichen: In der 11. Jahrgangsstufe ging es um Konjunkturtheorien, also wie Konjunkturschwankungen erklärt werden aus keynesianischer Sicht, aus neoklassischer Sicht usw. Es gab heterogene Stammgruppen, und jede Gruppe bekam einen theoretischen Ansatz zugelost. Es waren etwa vier Seiten zu lesen und zu exzerpieren. Anschließend sollten die Schülerinnen und Schüler eine zehnminütige Präsentation vorbereiten und entsprechend visualisieren – also ein hoher Anspruch in einer durchaus geübten Klasse. Kaum war das ganze Szenario geschildert, also die Auftragsübergabe erfolgt, kam ein Schüler zu mir und fragte: „Herr Klippert, was heißt denn eigentlich Konjunktur?“ Und ich habe gemerkt, wie in mir das Helfersyndrom aufflammte. Ich wollte ihm das sagen, weil ich dachte: „Was soll der von dir denken, wenn du das nicht weißt?“ Sie merken, welche Fallen hier lauern. Ich habe mich daran erinnert, dass in der Klasse ein Algorithmus eingeführt war, nämlich: „Wenn du selber etwas nicht weißt, frage erst deinen Tischpartner oder deinen Lernpartner, dann ziehe das Lexikon zu Rate und erst dann gegebenenfalls die Lehrkraft.“ Entsprechend habe ich reagiert und geantwortet: „Hast du deinen Lernpartner schon gefragt?“ – „Der weiß es auch nicht.“ – „Dort hinten stehen Wirtschaftslexika, hast du da schon mal nachgeschlagen?“ „Ich find’s nit.“ Das kennen wir alle. Ich konnte ihm nicht das Gegenteil beweisen, weil ich ihn in dieser Phase nicht beobachtet hatte. „Hast du deine Tischgruppe gefragt?“ Und da hatte ich das Gefühl, dass er unsicher wurde. Wir sind dann zur Tischgruppe hingegangen, und es stellte sich heraus, dass er noch gar nicht gefragt hatte. Damit war klar, dass das Problem bei der Gruppe bleiben konnte. Ich habe mich dann mit freundlichen Worten und mit einem Lächeln auf dem Gesicht auf meinen Platz zurückgezogen. Ich bin sicher, der Schüler wäre in der nächsten Stunde nicht wieder so vorschnell 47 zu mir gekommen. Nur: In der nächsten Stunde war ein neuer Lehrer da. Und ich garantiere Ihnen, dass der Schüler das gleiche Muster bei dem neuen Lehrer wieder praktizieren und mit hoher Wahrscheinlichkeit sofort Hilfe erfahren wird. Deshalb haben wir diese zermürbenden Löscheffekte. Einer baut etwas auf, der nächste löscht es wieder. Wenn wir also weiterkommen wollen, brauchen wir in der Schule Kooperation, um eine konzertierte Arbeit des Forderns und Förderns umzusetzen. Für die gemeinsame Haftung innerhalb der Klasse ist es von großer Bedeutung, dass in den Arbeitsteams Heterogenität gewährleistet ist. Wenn die Schülerinnen und Schüler sich einen Neigungspartner aussuchen dürfen, müssen wir damit rechnen, dass sie sich einen aussuchen, der auch nichts gemacht hat, und dann haben wir ein Problem, weil der Erwartungsdruck fehlt. Wir brauchen Heterogenität, damit sich Erwartungsdruck aufbaut. Ein Merksatz, den ich nur immer wieder wiederholen kann, ist, dass unsere Schülerinnen und Schüler in den Schulen zu wenig und die Lehrkräfte im Gegenzug zu viel arbeiten. Lernen hat immer auch etwas mit Arbeit zu tun. Kognitive Wissensnetze bilden sich nicht dadurch, dass die Kinder hirnlos ein Tafelbild abschreiben, sondern dadurch, dass sie selber zu Konstrukteuren von Wissensmustern werden, dadurch, dass sie einen kleinen Vortrag halten, um auf diese Weise ihr Wissen zu ordnen. Solche Arbeitsschritte sind notwendig, damit die Schüler nachhal- gestalten können, dann kommen sie auch nicht damit zurecht, eine Folie oder ein Plakat zu gestalten. Sie brauchen dazu gewisse grundlegende Fertigkeiten im Bereich der Visualisierung, die wir mit ihnen trainieren müssen, damit sie später im Fachunterricht angewandt werden können. Beim Thema Heftgestaltung läuft das etwa folgendermaßen ab: Den Schülerinnen und Schülern wird eine defizitäre Heftseite, die aus einer anderen Klasse kommt, zu einem Thema, das ihnen vertraut ist, vorgelegt. Diese haben sie neu zu gestalten, zunächst experimentell, ohne Vorgaben, Trial and Error. Dann werden die Produkte verglichen, die Schüler entwickeln daraus Regeln zur Heftgestaltung. Anschließend erhalten sie eine oder zwei Seiten Text zu einem neuen Thema, das zum Stoff der Klasse passt, und sollen daraus eine anschauliche Heftseite gestalten. Es ist recht schwierig, wenn Sie einen Fließtext in eine grafisch anspruchsvoll gestaltete Heftseite überführen müssen, deshalb gibt es eine Entwurfsphase. Am Anfang entwerfen die Schülerinnen und Schüler individuell mit Bleistift so etwas wie ein Layout. Sodann wird die Entwurfsfassung in Gruppen reflektiert. Danach erfolgt die endgültige Gestaltung in Einzelarbeit, und am Ende steht eine Art Museumsrundgang, bei dem die Schüler ein Feedback zu den gestalteten Seiten geben können (Was ist auf einer Seite besonders gut gelungen? Was ist weniger gelungen bei dieser Seite?), sodass das, worauf es bei der Gestaltung von Heftseiten ankommt, auf Schülerseite geklärt wird. Am Ende kommen ergänzende Tipps und Hinweise von der Lehrperson. „Kooperation gewährleistet ein höheres Problemlösungspotenzial, vermittelt darüber hinaus Sicherheit und soziale Geborgenheit, gewährt psychische Entlastung in diesen Reformprozessen. Reformen sind auch deshalb so schwierig, weil man im Alleingang immer wieder weiche Knie bekommt, weil man nicht genau weiß, ob man noch auf dem rechten Weg ist. Fazit: Erfolgreiche Lehrerentlastung verlangt nach konsequenter Zusammenarbeit auf Fach- und Klassenebene.“ tiger lernen. In dem Augenblick, wo ich einem anderen ein Schaubild beschreibe, einen Rechengang erläutere, werde ich gleichzeitig mein Fachwissen ordnen und vertiefen müssen. Das sind entscheidende Arbeitsschritte, und deshalb müssen die Schüler mehr arbeiten, damit sie nachhaltiger lernen, und die Lehrkräfte sollten nicht nur im Interesse der Lehrerentlastung, sondern auch der Lerneffizienz auf Schülerseite weniger arbeiten. Dies gelingt allerdings nur, wenn die Schüler selbstständig genug sind, wenn sie Methoden beherrschen und mit den Regularien, also bestimmten Abläufen, vertraut sind – in unserem Beispiel: Erst kommt der Einzelne dran, dann der Lernpartner, dann die Tischgruppe, dann das Lexikon. Wir brauchen solche Regelsysteme. Basis des Ganzen ist die Methodenschulung, ich will das an einem Beispiel deutlich machen: Wenn Schüler ihr Heft nicht 48 Eine Entlastung des Lehrers erfolgt also einmal durch die kleinschrittige Förderung von eigenverantwortlichem Arbeiten und Lernen bei den Schülerinnen und Schülern und außerdem durch das Trainieren von grundlegenden methodischen Fertigkeiten. Entlastung kann weiterhin erreicht werden, indem die Schüler als Lernberater in den Phasen eingesetzt werden, in denen der eine etwas weiß, der andere nichts weiß, also in so genannten organisierten Nachhilfephasen. Oder Schülerinnen und Schüler werden als Regelwächter eingesetzt, wo es in Partnerarbeit und Gruppenarbeit darum geht, bestimmte Regeln einzuhalten usw. Um eine Überforderung der Schüler zu vermeiden, teilen wir die Überwachungsfunktionen auf, es gibt dann einen Fahrplanüberwacher für Gruppenarbeit, es gibt einen Gesprächsleiter und einen Präsentator, und das sind verschiedene Personen. Wenn wir in einer Lerngruppe fünf Schüler haben, bekommt jeder neben der Sachaufgabe eine Teilfunktion im Bereich der Gruppen- Czerwenka: Lasst den Klippert: PhilippLehrerentlastung doch mal Blindtext zappeln steuerung, und schon haben wir Assistenten in den Gruppen, die es uns abnehmen, immer wieder zu intervenieren, wenn in den Gruppen etwas schief läuft. Also wir brauchen Tutoren, wir brauchen Assistenten, damit es insgesamt leichter wird. Cartoon: Mester Dazu braucht es natürlich bestimmte Prämissen. Wenn Sie so verfahren wollen, muss stärker mit Zufallsgruppen gearbeitet werden, denn in Neigungsgruppen sind die Schüler zu ähnlich, dann fehlt der Erwartungsdruck, wie ich oben angedeutet habe. Es müssen Regeln definiert sein, damit ein Regelwächter tätig werden kann. Die „Sieben goldenden Regeln“ der Gruppenarbeit oder der Präsentation müssen geklärt sein, sodass die Schüler ihre Miterzieher-Aufgabe wahrnehmen können. Die Teamaufgaben sind so zu konzipieren, dass Zusammenarbeit notwendig wird. Manche Gruppenarbeit ist deshalb eine Farce, weil jeder allein arbeiten kann. Es braucht also Aufgabenstellungen, bei denen die Schüler aufeinander angewiesen sind, dann habe ich eine gescheite Teamaufgabe; defensives Lehrerverhalten und immer wieder Reflexions- sowie Feedbackphasen, um die Schüler dafür zu qualifizieren, dass sie in eigener Regie zurechtkommen. Maria Montessori hat das in den bekannten Satz gefasst, es sei unser höchstes Ziel, die Schüler dahin zu bringen, dass sie es selbst tun können: „Hilf mir, es selbst zu tun.“ Das ist eine edle pädagogische Zielsetzung. automatisiert hat, zu lösen, das geht nicht zwischen Tür und Angel. Und deshalb brauchen wir Kooperation, eine konzertierte Aktion, damit wir diesen Anspruch durchsetzen können – auch gegenüber Eltern durchsetzen können. Es gibt nämlich Lehrerkooperation ist bei alledem der Königsweg. Sie ermöglicht Arbeitsteilung und höhere Produktivität, denn wenn wir Lernspiralen, Trainingsspiralen entwickeln und eine konzertierte Arbeit in der Klasse sicherstellen wollen, dann geht das nicht im Alleingang; wir brauchen diese Kooperation, weil das eine notwendige Voraussetzung für eine konzertierte Entlastung ist. Kooperation fördert außerdem die methodische Kreativität der Lehrkräfte, denn wenn man alleine zu Hause sitzt, fällt einem eigentlich immer nur das ein, was man schon gemacht hat. Wir sind hochgradig erfahrungsgeleitet, und deshalb tun wir uns mit wirklich innovativen Lehr-/Lernverfahren so schwer. Wir reproduzieren das, was wir intensiv erfahren haben: die Methoden unserer eigenen Lehrer, die recht einförmigen Methoden der ersten Phase an der Universität und die kleinen Versatzstücke, die wir in der zweiten Phase noch kennen gelernt haben. Wo ist denn der Grundstock, um heute erfahrungsgestützt moderne Unterrichtsformen zu praktizieren? Wer von Ihnen hat ein Rhetoriktraining, Präsentationstraining, Teamtraining oder Visualisierungstraining absolviert? Das versuche ich auch den Politikern deutlich zu machen: Wir brauchen eine Weiterbildungsoffensive, ein Trainingsprogramm, damit Lehrkräfte umlernen können, und zwar in alltagstauglicher Weise. Ich habe Verständnis für jeden, der sagt, bei laufendem Schulbetrieb kriege ich die Kurve nicht. Sich von einem Paradigma, das man auch Eltern, die sagen: „Was, Sie haben meinem Kind nicht geholfen? Wir werden prüfen, ob der Rechtsanwalt eingeschaltet werden kann.“ Kooperation begünstigt die Verbindlichkeit im Reformprozess. Damit meine ich, dass wir uns auch gegenseitig an die Ansprüche erinnern müssen, sonst vergisst man im Alltag manches sehr schnell. Deshalb arbeiten wir mit Klassenteams (dem Klassenlehrer plus zwei Satellitenlehrern aus den Hauptfächern) mit hohem Stundendeputat bei drei Leuten. So hat man im Lehrerzimmer immer jemanden, der fragt: „Hast du an dieses gedacht, hast du an jenes gedacht?“ Nur so kann man dem eigenen Vergessen entgegenwirken. Kooperation gewährleistet ein höheres Problemlösungspotenzial, vermittelt darüber hinaus Sicherheit und soziale Geborgenheit, gewährt psychische Entlastung in diesen Reformprozessen. Reformen sind auch deshalb so schwierig, weil man im Alleingang immer wieder weiche Knie bekommt, weil man nicht genau weiß, ob man noch auf dem rechten Weg ist. Fazit: Erfolgreiche Lehrerentlastung verlangt nach konsequenter Zusammenarbeit auf Fach- und Klassenebene. Intelligentes Schulmanagement Ich bin der Ansicht, dass auch die Schulleitung an den Entlastungsmaßnahmen beteiligt sein sollte. Wir brauchen schlicht mehr Doppelstunden. Der 45-Minuten-Takt ist, wie schon erwähnt, der klassische Stressfaktor im alltäglichen Unterricht, weil die Arbeitsstrecken der Schüler zu kurz sind. Wenn Sie in dieser Zeitspanne zu einem bestimmten Ergebnis mit Tafelbild und Hefteintrag kommen wollen, müssen Sie ständig drängen, 49 gezielt fragen, in jeder Sekunde hochgradig präsent sein, um die Schüler dort hinzubringen. Also müssen wir auch vor dem Hintergrund der neuen Bildungsstandards überlegen, wie wir die Lernsituation so verändern, dass gedeihliche kompetenzorientierte Arbeitsstrecken der Schüler möglich werden. Wenn ich in einem Entwurf für eine Lehrprobe sehe, dass 8 Minuten Gruppenarbeit vorgesehen sind, dann frage ich mich, wie das funktionieren soll. Bis alle richtig am Platz sind und den Arbeitsauftrag gelesen haben, ist die Zeit um. Es gibt meist irgendwelche hellen Schüler, die sich vielleicht vorher schon etwas gedacht haben und uns dann ein Ergebnis präsentieren. Wir kriegen mit einzelnen Schülern scheinbar gute Ergebnisse, und dann wird verallgemeinert: „Die Schüler haben gelernt … “ Ich habe mich früher als Lehrer manchmal gefragt, wer außer mir noch etwas gelernt hat, weil ich ständig aktiv war, ständig organisiert, strukturiert, verbalisiert habe. Ich war derjenige, der konstruktiv gearbeitet hat. Im Sinne der Lehrerentlastung und der Lerneffizienz muss sich dies im Verhältnis umkehren, aber dazu brauchen wir mehr Doppelstunden. Abschließend noch ein paar Stichpunkte: Wir brauchen weniger Gesamtkonferenzen, dafür mehr produktive Fachkonferenzen. Wenn Sie drei Gesamtkonferenzen pro Jahr in einer Schule streichen und dafür die neun Stunden, die frei werden, für Workshops nutzen, haben Sie etwas Produktives für den Fachunterricht getan. Wir brauchen die Freistellung einzelner Lehrkräfte, damit diese Lernprozesse möglich werden. Und wir brauchen Lehrkräfte, die im Team Fortbildungen besuchen, Workshops machen, Unterricht erproben. Wir brauchen in den Schulen feste Zeitfenster für Teamsitzungen, weil die üblichen, von Fall zu Fall getroffenen Vereinbarungen zermürbend sind; dadurch entsteht viel Wirkungslosigkeit und in der Folge auch mangelnde Kooperation. Innovationsprojekte zu bündeln, das habe ich eingangs schon gesagt, ist für mich ein wichtiger Ansatz, damit wir Boden unter die Füße bekommen. Jürgen Habermas hat von der verheerenden Wirkung der neuen Unübersichtlichkeit im politischen Bereich gesprochen; das können wir auf Pädagogik übertragen. Je unübersichtlicher das Feld, desto geringer ist die Handlungsbereitschaft der Akteure. Ich kann den Führungskräften in den Schulen nur empfehlen, zu bündeln, zusammenzuführen oder bestimmte Dinge auch auszumisten und vorübergehend wegzulassen. 50 Wir brauchen die Einbindung der Eltern, weil viele Reformansätze viel besser gelingen, wenn die Eltern überzeugt davon sind. Eltern sind gerade im Bereich von Unterrichtsentwicklung die besten Bündnispartner, wenn sie wissen, worum es geht. Diese Aufgabe kann nicht landesweit geregelt werden. Eltern für diese Innovationsprozesse zu gewinnen, die hier oder dort auch mit Teilfreistellung verbunden sind, gehört auf die einzelschulische Ebene. Umverteilung der Entlastungsstunden. Es gibt in vielen Schulen Poolstunden – wenn wir die mal auf den Prüfstand stellen, merken wir, dass solche Entlastungsstunden zum Teil für Zwecke vergeben werden, die man zumindest mit Fragezeichen versehen muss. Auch hier vermag man schulorganisatorisch etwas zu verbessern. Studientage als Workshoptage. Ich halte es für ganz gefährlich, dass die Studientage bundesweit in zunehmendem Maße gestrichen werden. Wie soll ein Schulentwicklungsprogramm in die Köpfe eines Kollegiums eindringen, wenn keine Kompaktfortbildung stattfindet. Eine Sparstrategie, bei der die Lehrkräfte nicht weiterlernen können, ist eine fatale Sparstrategie, weil sie die Schule letztlich stigmatisieren würde. Das kann nicht das Ziel sein. Für unsere Klassenteams brauchen wir hohe Stundenzahlen, das muss schulorganisatorisch geregelt werden. Und der letzte Punkt: Wir brauchen so etwas wie offensives Fundraising. Wenn wir Präsentationstraining mit Schülern machen wollen, fehlt es teilweise an Pinwänden, an PinwandBespannungspapier, an Stiften oder an irgendwelchen kleineren Utensilien, die für eine sinnvolle Visualisierung nötig sind. Es sind gar nicht so große Summen, die fehlen. Wenn die Schulträger aber nicht genügend Geld geben können, müssen wir zusehen, wie wir diese Ressourcen sicherstellen, weil uns andernfalls viele Möglichkeiten von vornherein verbaut sind. Wenn Sie ermutigt worden sind, am Montag anzufangen, würde ich mich freuen. Selbst ist die Frau, selbst ist der Mann, ist ein geflügeltes Wort. Wir können nicht alles selbst regeln, aber wir haben einige Möglichkeiten im eigenen Regiebereich, die Lehrerentlastung voranzutreiben. Packen Sie es an. Ich wünsche Ihnen ganz viel Erfolg. Gaile: „Lesen macht schlau“ STATEMENT Dorothee Gaile Dorothee Gaile ist Gymnasiallehrerin für Neue Sprachen und Lehrerfortbildnerin am Amt für Lehrerbildung in Frankfurt am Main. Sie leitet das Projekt „Lese- und Sprachförderung“ mit Fokus auf der Sekundarstufe I. Arbeitsschwerpunkt: Internationale Best-Practice-Modelle der Leseförderung, insbesondere des angloamerikanischen Raums. Problemstellung: Leseförderung in weiterführenden Schulen – zu spät oder „just in time“? Man müsse, so kann man in einem Erziehungsratgeber lesen, sein Kind „in Wörtern baden“. Dass es zur Förderung von Kindern durch Sprechen und Lesen kaum zu früh sein kann, ist unstrittig. Überzeugend umgesetzt wurde diese Erkenntnis im englischen aber als magische Fähigkeit betrachten, über die sie eben nicht verfügen. Ein solch negatives Selbstkonzept wird oft durch eine misserfolgsbelastete Bildungslaufbahn genährt und bleibt nicht auf Schülerinnen und Schüler in Hauptschulen und Integrierten Gesamtschulen beschränkt. Jugendliche, die sich selbst eine Identität als Nichtleserinnen und Nichtleser zuschreiben, sind in allen Schulformen zu finden. Gestützt wird die Auffassung, In ihrem Vortrag „LESEN MACHT SCHLAU: NEUE LESEPRAXIS FÜR WEITERFÜHRENDE SCHULEN“ stellt DOROTHEE GAILE, Leiterin eines Projekts zur Lese- und Sprachförderung am Amt für Lehrerbildung/ Frankfurt am Main, einen in Kalifornien erfolgreich eingesetzten Leselehrgang vor, der leseungeübten und -unwilligen Jugendlichen neue Zugänge zum Wissenserwerb in allen Fächern eröffnet und selbst gute Leser noch ein Stück weit voranbringt. Der praxisorientierte, ganzheitliche Förderansatz bietet eine Vielzahl von Zugängen zu unterschiedlichsten Texten sowie innovative Wege zum Beurteilen und Fördern von Leseleistungen. Bookstart-Programm (vgl. http://www.bookstart.co.uk), das seit 2000 alle englischen Neugeborenen kostenlos mit einer Erstausstattung an Büchern und die beteiligten Eltern mit Anleitungen zum Vorlesen versieht. Wie aber steht es mit denjenigen jungen Menschen, die in ihrer Kindheit nicht in den Genuss des eingangs erwähnten „Wörterbades“ kamen ? Wie steht es mit denen, deren Schul- und späterer Berufserfolg nicht zuletzt aufgrund von Motivations- und Kompetenzproblemen im Lesen gefährdet ist? In Deutschland ist unverändert beinahe ein Viertel der untersuchten Jugendlichen nicht imstande, einfachste Leseaufgaben zu bewältigen. Die seit dem Bekanntwerden der PISA-Ergebnisse geführte intensive Diskussion geht u. a. der Frage nach, ob und wie es möglich ist, bei dieser nicht zu übersehenden Gruppe leseschwacher bzw. leseunwilliger Mädchen und Jungen in weiterführenden Schulen eine Richtungsänderung zu bewirken und so deren Ausbildungs- und Lebensperspektiven im Sinne einer „zweiten Chance“ entscheidend zu verbessern. Nicht alle Teilnehmer der Diskussion vertreten eine optimistische Sicht. Zu den Pessimisten gehören häufig die Jugendlichen selbst, die Lesekompetenz gleichsam als biologische Größe oder dass es zum Lesenlernen für Jugendliche eigentlich bereits zu spät sei, auch dadurch, dass kompetentes Lesen überwiegend als Voraussetzung, nicht aber als Ziel schulischer Lernprozesse in Mittel- und Oberstufe betrachtet wird. Unzureichende Lesekompetenz wird mithin gerne als ein Versäumnis der Grundschule qualifiziert. Angesichts des vorab skizzierten verbreiteten „Starrens auf die Defizite“, wie es die Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Lesen und Schreiben, Renate Valtin, in einem Interview mit der Tageszeitung formuliert hat, haben wir uns im hessischen Lehrerfortbildungsprojekt mit Fokus auf der Sekundarstufe I auf die Suche nach Erfolg versprechenden Best-Practice-Modellen für die von uns adressierte Altersgruppe begeben. Bei dieser „pädagogischen Schatzsuche“ eröffnete das Credo einer Gruppe kalifornischer Leseförderer neue Perspektiven auch für leseschwache und leseunwillige deutsche Jugendliche. Es lautet: „If Johnny can’t read in class 9 it’s not too late.“ Mit dieser Formel präsentierte sich der Förderansatz Reading Apprenticeship (zu Deutsch: Fachausbildung im Lesen), der beim Schulforschungsinstitut WestEd in San Francisco beheimatet ist. Er erschien passgenau, sozusagen: just in time, für die Jugendlichen, denen unser besonderes Augenmerk gilt. 51 Was ist das Neue und Besondere an diesem Förderansatz? Bei einem ersten Studium dieses Programms treten vier Merkmale besonders hervor: 1. Reading Apprenticeship stellt sich dar als eine ganz und gar zukunftsgerichtete „Leseausbildung“, die so genannte „Leselehrlinge“ in einer „kognitiven Meisterlehre“ zu Leseexpertinnen und Leseexperten werden lässt. Es geht also nicht (negativ) um die bohrende Analyse von Defiziten in der Lesekompetenz Jugendlicher, sondern (positiv) um die tatkräftige Ausrichtung auf Ziele. 2. Innovativ erscheint auch der konsequent auf alle sprachbasierten Fächer, gerade auch die Sachfächer, und jeweils die gesamte Lerngruppe bezogene Förderansatz der Leseausbildung. 3. Bemerkenswert ist zudem der hohe Erfolgsgrad, überzeugend nachvollziehbar am Motivations- und Kompetenzzuwachs der nach diesem Ansatz unterrichteten Jungen und Mädchen. Diese veränderten innerhalb eines Zeitraums von nur sieben Monaten ihre Einstellung zum Lesen grundlegend. Außerdem erreichten sie im Schnitt einen Kompetenzzuwachs im Lesen von zwei akademischen Jahren. Fortschritte wurden von lesestarken wie leseschwachen Schülerinnen und Schülern erzielt, wobei die Leistungsschwachen in besonderem Maße profitierten. Sie konnten ihren Rückstand in den Ergebnissen standardisierter landesweiter Tests vollständig aufholen. Die qualitativ wie quantitativ zu verzeichnenden Erfolge erscheinen umso beachtlicher, als sie unter schwierigen pädagogischen Rahmenbedingungen erzielt wurden. Das Programm wurde zuerst angewendet bei ethnisch und leistungsmäßig stark heterogenen Neuntklässlern einer Highschool in einem der ärmsten Viertel der Millionenstadt San Francisco, unter ihnen ein hoher Prozentsatz von Lernenden mit Migrationshintergrund und mit belasteter Bildungskarriere. Angesichts der anspruchsvollen Curricula dieser Highschool mit mathematischnaturwissenschaftlichem Schwerpunkt sowie angesichts der in Standards und zentralen Tests festgeschriebenen Erwartungen an die Jugendlichen waren neue Wege gefragt, um die jungen Menschen „an die Texte“ zu bringen. 4. Beispielhaft erscheint das Engagement einer kleinen Gruppe von Lehrerinnen und Wissenschaftlerinnen um die Leseforscherinnen Dr. Cynthia Greenleaf und Ruth Schoenbach, die sich zwei Jahre lang freiwillig am Wochenende in Klausur begab, um nach produktiven Lösungen zu suchen. Im Ergebnis entstand ein Qualitätszyklus für die Schulentwicklung mit folgenden Elementen: einer gemeinsamen Konzeptentwicklung durch Leseforscherinnen und Unterrichtspraktikerinnen, der umfassenden schulpraktischen Erprobung und soliden Evaluation des Konzepts in der genannten Pilotstudie und mehreren Folgestudien, 52 der Einbettung in ein Netzwerk der Lehrerfortbildung, und nicht zuletzt der anschaulichen Dokumentation des Projekts in Buchform, die den Nachvollzug des Vorgehens in den einzelnen Arbeitsschritten ermöglicht. Was begründet den hohen Erfolgsgrad des Förderprogramms? Diese Dokumentation von Cynthia Greenleaf und Ruth Schoenbach kann ich Ihnen heute in Buchform in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Lesen macht schlau – Neue Lesepraxis für weiterführende Schulen“ – erschienen bei Cornelsen Scriptor – vorstellen. Sie gibt Auskunft darüber, was in der Summe und im Detail den hohen Erfolgsgrad des Programms begründet: Den Ausgangspunkt bildet die feste Überzeugung, dass die Entfremdung der Schüler von den schulischen Lesewelten prinzipiell aufhebbar ist. Dabei wird Lesen als aktiver komplexer Problemlöseprozess verstanden, der im schulischen Rahmen dann gelingt, wenn neben der Expertise der Unterrichtenden auch die oft verkannten Stärken und vielfältigen Lebenserfahrungen der Jugendlichen genutzt werden. In einer Lebenssituation, in der Jugendliche neue Identitäten ausprobieren und annehmen, können sie nur durch entsprechende Wertschätzung und Motivation dazu ermuntert werden, eine neue Identität als Leserinnen und Leser zu erproben und sich auf diese Weise zunehmend zu Expertinnen und Experten ihrer eigenen Leseund Lernprozesse entwickeln. Vor diesem Hintergrund entsteht ein umfassender Referenzrahmen für das Lesen, basierend auf den vier zentralen Dimensionen des Unterrichtsgeschehens – der sozialen, der personalen, der kognitiven und der inhaltlich-fachlichen Dimension. Die „soziale Dimension“, das Herstellen eines Sicherheit stiftenden WirGefühls im Klassenraum, ist eine unverzichtbare Gelingensbedingung für dieses Programm. So entstandenes Vertrauen erst macht den Lernenden Mut zum intensiven Austausch über das Gelesene, in dem auch Verständnisprobleme und Fehler als (Um-)Wege des Textverstehens ihren Platz haben und in dem die Konstruktion von Textbedeutung als gemeinsame Aufgabe von Lehrern und Schülern verstanden wird. Im vitalen Austausch mit den anderen entwickelt sich ein Bewusstsein der eigenen Biografie als Leserin oder Leser, der eigenen Lesegewohnheiten, Vorlieben, Abneigungen beim Lesen, die „personale Dimension“. Dabei wird die Bedeutung des Lesens in Abhängigkeit von der eigenen kulturellen-, Gender- und Peer-Group-Zugehörigkeit sowie den eigenen Lebensund Berufszielen bewusst wahrgenommen und neu definiert. (Stellvertretend sei hier ein Zehntklässler zitiert, der die Leseausbildung rückblickend als den „Wendepunkt“ seiner Laufbahn bezeichnete.) Sicherheit erlangen die Jugendlichen durch ein ganzes Bündel mentaler „Werkzeuge“, das ihnen das Verstehen von Texten und die Behandlung von Problemstellen (Stolpersteinen des Verstehens) in der „kognitiven Dimension“ erleichtert. Zentral ist Gaile: „Lesen macht schlau!“ dabei die Vorstellung, dass nicht nur sichtbare Aktivitäten wie das Fahrradfahren oder das Kochen sozial vermittelt werden können, sondern dass dies ebenso für unsichtbare kognitive Aktivitäten wie Denken, Lesen, Rechnen gilt. In der Tradition des russischen Psychologen Lem S. Wygotski werden auch diese als prinzipiell darstellbar und damit durch kompetente Andere vermittelbar betrachtet. Nicht durch theoretisches Erläutern, sondern durch Modellieren, d. h. kleinschrittiges Demonstrieren und lautes Denken, praktiziert der Lehrer in einem kognitiven Training als kompetenter Anderer die methodischen Textzugänge. Diese erproben die Schüler unter seiner Anleitung anschließend – gleichsam an einem Haltegeländer, um sie zunehmend selbstständiger anzuwenden und zu verinnerlichen. Als kompetente Andere sind alle Fachlehrerinnen und Fachlehrer gefragt. Gute Informationsverarbeitung – so wird es den Schülern in allen Fächern bewusst gemacht – beruht auf „strategischem“, d. h. aufgaben- und zielbezogenem Einsatz von Lesetechniken. Die bewusste Auswahl dieser Werkzeuge wird bei der Interpretation eines Gedichts anders ausfallen müssen als beim Erschließen einer historischen Quelle, beim Studium einer Versuchsanleitung in Chemie anders als bei einem Diagramm in einem sozialkundlichen Fachbuch. Das Förderprogramm hält daher einen ganzen „Werkzeugkasten“ für verstehendes Lesen bereit, mit Strategien zur Optimierung der Prozesse vor, während und nach der Begegnung mit den Texten. So wächst die Fähigkeit und Zuversicht der Jugendlichen, anspruchsvolle Inhalte in Schule und Freizeit gedanklich verarbeiten zu können und sich Kenntnisse über Textstruktur, fachspezifische Denkmuster und fachliche Inhalte zunehmend selbstständiger anzueignen, „die wissensbildende Dimension“. Die Orchestrierung des hier vorgestellten interaktiven Lernund Lehrumfelds im Unterricht ist Grundlage des Erfolgs der strategischen Leseausbildung gemäß „Lesen macht schlau“. Wie gestaltet sich die Umsetzung von „Lesen macht schlau“ in der unterrichtlichen Praxis? Im Praxisbuch werden Organisationsmodelle für die unterrichtliche Umsetzung des Förderkonzepts vorgestellt, die stets im heterogenen Klassenverband geschieht. Die Autoren geben zunächst einen Überblick über das Curriculum eines einjährigen Intensivkurses mit den Bausteinen „Persönliche und gesellschaftliche Bedeutung des Lesens“, „Lesen als Zugang zur Geschichte“, „Die vielfältigen Lesewelten der Medien“ sowie „Lesen im Bereich von Naturwissenschaften und Technik“. Auch als Komponente des regulären Unterrichts, z. B. in den Fächern Englisch, Mathematik oder Sozialkunde, entfaltet die „Leseausbildung“ große Wirksamkeit. Dies wird anhand zahlreicher Praxisbeispiele verdeutlicht. Ein entscheidender Faktor ist die Entwicklung eines langen Leseatems, also eine Art Ausdauertraining beim und durch Lesen. Seinen didaktischen Ort hat das Viellesen in regelmäßigen „Stilllesephasen“, der so genannten „freien Lesezeit“ während des Unterrichts, in dem die Schüler selbst gewählte Bücher – laut Lernvertrag mindestens 200 Seiten pro Monat – erlesen und ihre gedankliche Auseinandersetzung mit dieser Lektüre in Lesetagebüchern, durch Buchpräsentationen u. a. dokumentieren. Lesen macht Lust auf Lesen: Nur so ist die Tatsache zu interpretieren, dass die Schüler den Umfang ihrer Freizeitlektüre laut Ergebnis der Fragebögen zu ihrem Leseverhalten im Laufe der Leseausbildung verdoppelten. „In Deutschland ist unverändert beinahe ein Viertel der untersuchten Jugendlichen nicht imstande, einfachste Leseaufgaben zu bewältigen. Die seit dem Bekanntwerden der PISA-Ergebnisse geführte intensive Diskussion geht u. a. der Frage nach, ob und wie es möglich ist, bei dieser nicht zu übersehenden Gruppe leseschwacher bzw. leseunwilliger Mädchen und Jungen in weiterführenden Schulen eine Richtungsänderung zu bewirken und so deren Ausbildungsund Lebensperspektiven im Sinne einer ,zweiten Chance‘ entscheidend zu verbessern.“ Eng verknüpft werden die vier Dimensionen durch den gedanklichen Austausch über das eigene und fremde Denken und Lernen, das so genannte „metakognitive Gespräch“. Es besitzt eine innere Seite, nämlich die individuelle Zwiesprache mit dem Text, und eine äußere Seite, die im Aushandeln von Bedeutungen in der Gruppe besteht. Lebenspraktische Erfahrungen kommen dabei ebenso zur Sprache wie emotionale Reaktionen auf Texte oder verwendete Strategien. Dieser Diskurs ermöglicht die Regulation der eigenen Leseprozesse ebenso wie die Einschätzung eigener und fremder Zugangswege zu Texten. Zum Lesen verführt auch während des regulären Unterrichts die Vielfalt der Textwelten. Ein klassischer Roman hat in dieser Ausbildung ebenso seinen Platz wie ein Hypertext, die Lyrik eines Rap-Songs ebenso wie der Sportteil der Zeitung, so genannte „Torhüter“-Texte wie landesweite Vergleichsarbeiten sind gleichermaßen Lese- und Studienobjekte wie die multimedialen Botschaften der Werbung. Dieser Textkosmos holt die Schüler bei ihren Leseerfahrungen und -interessen ab und lädt ein zu selbstständigem, Kenntnis wie Genuss vermittelnden Lesen in Schule und Freizeit. 53 Die anspruchsvollen fachlichen Inhalte werden durch Routinen des Verstehens zugänglich gemacht. Hier nimmt der klar strukturierte Gruppenprozess des Lernens durch reziprokes Lehren nach den amerikanischen Lesedidaktikerinnen Palincsar und Brown einen hohen Stellenwert ein. Dabei übernehmen alle Schüler abwechselnd die Rolle des Lehrers oder Experten in ihren Kleingruppen und trainieren dabei Schlüsselstrategien wie z. B. das Formulieren von Fragen an den Text, Zusammenfassen, Vorhersagen des weiteren Textinhalts und Klären von Verständnisproblemen. Eine häufig praktizierte Form des kooperativen Lernens bei der „Leseausbildung“ ist auch der Dreischritt aus individueller Reflexion, Austausch im Paargespräch und anschließender Plenumsarbeit (Think – Pair – Share). Abwechslungsreiche Sozialformen des Lesens wie der „literarische Zirkel“ oder das Buddy Reading (Lernpartnerschaft im Lesen) sprechen die verschiedenen Lerntypen an. Die eigenen Lese- und Lernprozesse sind Gegenstand fortlaufender Reflexion, etwa in Form von Lesetagebüchern und Beobachtungsbögen zum Textverstehen. Zusammen mit Unterrichtsmitschnitten, Interviews zum Lesen und Portfolios zu Leseprojekten bieten sie den Lehrern umfassende Einblicke in individuelle Kompetenzentwicklung. Momentaufnahmen der Lese- und Verstehensprozesse liefern den Unterrichtenden wert- Assoziationen, Hypothesen, Beurteilungen zutage. Als Experten können auch Schülerinnen und Schüler fungieren, die Fachtexte ihrer Interessensgebiete wie etwa Zeitschriftenartikel, technische Manuale oder Internet-Materialien vor den Augen und Ohren der Mitschüler entschlüsseln. Ein solcher Blick „hinter den Vorhang beim Lesen“ hilft schwachen Leserinnen und Lesern besonders. Übungssequenzen machen die Jugendlichen mit dem veräußerlichten lauten Denken vertrauter. Zunehmend verinnerlicht wird dieser Prozess durch das „Denken auf Papier“, das sich schließlich beim routinierten Lesen unsichtbar vollzieht. „Lesen macht schlau“ – eine sinnvolle Ergänzung deutscher Förderansätze? Der ganzheitliche, nicht zuletzt auch auf intensive Schulentwicklung zielende Ansatz von „Lesen macht schlau“ entfaltet in der Synthese seiner zahlreichen Komponenten eine Dynamik, von der auch die deutschen Bildungsstrategen sowie die Pädagogen vor Ort profitieren können. Denn bei genauem Hinsehen zeigt sich, dass die inzwischen zahlreichen deutschen Förderprogramme zur Verbesserung der Lesekompetenz kaum eigens auf die Zielgruppe der leseschwachen Schülerinnen und Schüler abgestellt sind. Das ergab eine Expertise, die das Berliner Max Planck Institut für Bildungsforschung im Auftrag des Bundes- „Die Umsetzung der Vision, Schüler zu eigenständigen, kritischen und interessierten Lesern zu machen, erfordert auch weiterhin die produktive Zusammenarbeit von Lehrern und Wissenschaftlern. Um das Konzept weiter zu verbessern, möchten wir die vielfältigen Erfahrungen unserer Leserinnen und Leser nutzen und diese zu einem Gesprächsaustausch einladen.“ (Cynthia Greenleaf und Ruth Schoenbach) volle Bausteine der Lernprozessanalyse. Herkömmliche Leistungsmessungen können mit diesen förderdiagnostischen Instrumenten sinnvoll ergänzt werden. Eines der vielen vorgestellten „mentalen Werkzeuge“, mit denen eine solche Förderung in Gang gesetzt werden kann, ist die Routine des lauten Denkens. Dabei eröffnen die Leseexpertinnen den Schülern einen Blick hinter die Kulissen ihres eigenen Lesens, lassen sie teilhaben an den „Geheimnissen ihrer Kunst“. Als Fachleute verfügen sie über domänenspezifische Zugänge, häufig, ohne diese bewusst einzusetzen. So etwa wird ein Geschichtslehrer andere Routinen des Lesens entwickeln als ein Mathematiklehrer. Ein Naturwissenschaftler wird einem Text Klarheit und Eindeutigkeit abverlangen, während schillernde Vieldeutigkeit für einen Sprachlehrer gerade den Reiz eines Textes ausmachen mag. Beim „lauten Denken“ fördern die Leseexperten ihre gewöhnlich verborgenen gedanklichen Routinen, 54 ministeriums für Bildung und Forschung im Jahre 2005 erstellt hat. Die Expertise Förderung der Lesekompetenz hat – neben den äußerst umfangreichen positiven Förderansätzen, die sehr stark auf „Lesekultur“ und „Lesemotivation“ ausgerichtet sind, einige „weiße Flecken“ auf der Deutschlandkarte der Leseförderung ausgemacht. Genannt werden etwa die Koordinierung der Leseförderung als Auftrag aller Fächer und Schulstufen, die Differenzierung der Fördermaßnahmen für schwache Leserinnen, z. B. für Schülerinnen anderer Muttersprachen, oder für männliche Jugendliche, die Vermittlung von strategischen Textzugängen. Die Berliner Bildungsforscher weisen darauf hin, dass just den Strategien „verstehenden Lesens“, bei denen der eigene Leseprozess thematisch ist, ein hohes Potenzial zugeschrieben wer- Gaile: „Lesen macht Blindtext schlau“ den muss. Es fehlt jedoch häufig, was andererseits für bedeutsam erachtet wird. Genaue Vorgehensweisen beim „verstehenden Lesen“ werden in den Schulen noch zu selten vermittelt, obwohl erwiesenermaßen gerade die leseschwachen Schülerinnen und Schüler von strategischen Zugangswegen zu Texten besonders profitieren. Im Lichte dieser Widersprüchlichkeiten, die die Deutschlandkarte der Leseförderung sichtbar macht, kommt dem vorgestellten Projekt im Kontext unserer Bildungslandschaft seine eigentliche Bedeutung zu. Denn die Leseausbildung nach Schoenbach und Greenleaf wird von einem Konzept getragen, welches Textverständnis (im Sinne von „verstehendem Lesen“) ganz groß schreibt und sozusagen schon gestern den heutigen Desideraten deutscher Bildungsforscher entsprochen hat. Die Mitarbeiter des Projekts „Lese- und Sprachförderung“ am hessischen Amt für Lehrerbildung betrachten es daher als einen ausgesprochenen Glücksfall, dass sich in den vergangenen drei Jahren eine intensive transatlantische Kooperation mit den kalifornischen Leseexpertinnen aufbauen ließ. Bei gemeinsamen Veranstaltungen hier in Deutschland und bei der Teilnahme an einem intensiven Trainingsprogramm in den USA konnten wir das kalifornische Konzept in Theorie und Praxis eingehend kennen lernen und dieses für unsere Multiplikatorenschu- lung als „ansteckendes positives Bild“ für die Lehrerfortbildung nutzen. Dies umso mehr, als dem Projekt großer Erfolg beschieden ist. Aus der vorab erwähnten kleinen Gruppe von Leseförderern erwuchs ein tragfähiges Netzwerk in der Lehrer(fort)bildung, das inzwischen in 28 Staaten der USA in den Klassen 6 bis 12 sowie in mehreren Universitäten zum Einsatz gelangt. Erst unlängst wurde das Projekt vom US-Bildungsministerium mit einem hoch dotierten Forschungspreis ausgezeichnet, mit dessen Hilfe zurzeit die Bedingungen seines außergewöhnlichen Erfolgs untersucht werden. Ich leite daher abschließend sehr gerne die folgende Einladung der kalifornischen Leseexpertinnen, die sie im Epilog ihres Praxisbuchs aussprechen, an Sie weiter. Dort heißt es: „Die Umsetzung der Vision, Schüler zu eigenständigen, kritischen und interessierten Lesern zu machen, erfordert auch weiterhin die produktive Zusammenarbeit von Lehrern und Wissenschaftlern. Um das Konzept weiter zu verbessern, möchten wir die vielfältigen Erfahrungen unserer Leserinnen und Leser nutzen und diese zu einem Gesprächsaustausch einladen.“ Gemeinsam mit den amerikanischen Autorinnen lade ich Sie herzlich ein, die im Praxisbuch „Lesen macht schlau“ vorgestellten Ideen und Materialien zu erproben und uns an Ihren Erfahrungen teilhaben zu lassen. 55 STATEMENT Dieter Breithecker Dieter Breithecker, Dr. phil., MA, geb. 1953, studierte Sport, Anglistik und Pädagogik in Gießen. Seit 1981 hauptamtlicher Mitarbeiter, jetzt Leiter der Bundesarbeitsgemeinschaft für Haltungs- und Bewegungsförderung e. V. in Wiesbaden. Seit 1993 Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für gesundheitsfördernde Schulen, hier: Leiter der Arbeitsgruppe „Bewegte Schule“; seit 1993 Gründungsmitglied des Internationalen Forums für Bewegung - Repräsentant und Projektleiter für die „Bewegte Schule“ in Deutschland. Seit 1999 nebenamtlich Lehrbeauftrager für die „Bewegte Schule“ am Institut für Sportwissenschaften der Universität Karlsruhe. Zahlreiche Veröffentlichungen. Vortragstätigkeit im In- und Ausland. Dosierte Bewegung verbessert den Prozess des Lernens – Bewegte Kinder – schlaue Köpfe Natürlich können auch unbewegte Kinder schlaue Köpfe bekommen, aber von der Physiologie des Menschen her betrachtet ist Bewegung ein Teil der Entwicklung, auch der Gehirnentwicklung. Sie wissen ja, dass Bewegungsmangel heute ein Problem darstellt, nicht nur für die junge, sondern ist eine Strategie der Kinder, um körperlich und geistig zu überleben. Wenn wir wache Kinder haben wollen, wird auch das Thema Schulmöbel ein wichtiges Thema für die Zukunft sein müssen. Bewegungsmangel ist ein gesellschaftliches Problem. Schon in den Kindergärten gibt es die Medienpädagogik, um diese jungen Kinder sukzessive an die Technik heranzuführen. Und es Körper, Geist und Seele leben von der Bewegung. Nur durch Bewegung können sie sich ganzheitlich und harmonisch entwickeln, ohne dass einer der drei Aspekte benachteiligt wird. Und diese Entwicklung benötigt Zeit, um zu ihrem Abschluss zu kommen. Dies alles wird in der Schule heute noch viel zu wenig berücksichtigt. Unterstützt durch praktische Demonstrationen, bei denen die Zuhörerinnen und Zuhörer die aufmunternde Wirkung von Bewegung „am eigenen Leib“ erfahren konnten, zeigte der Sport- und Bewegungswissenschaftler Dr. DIETER BREITHECKER in seinem Vortrag „BEWEGTE KINDER – SCHLAUE KÖPFE“ Alternativen zur statisch-passiven Sitzschule auf. Dynamisches Sitzen sowie bewegungsgesteuerte Unterrichtssituationen bewirken, dass Kinder nicht „sitzen bleiben“, sondern besser lernen. auch für die mittlere und ältere Generation. Freilich ist bei der jungen Generation das Problem besonders gravierend, weil sie sich noch im Heranwachsen befindet. Das, was ich und viele von Ihnen in der Kindheit erfahren haben, vier, fünf Stunden körperliche Aktivität im Wald, auf der Wiese, auf Bäumen, das erfahren die Kinder heute nicht mehr. Sie werden anders sozialisiert, und das hat natürlich auch Auswirkungen auf ihre ganzheitliche Entwicklung, auf Körper, Geist und Seele. Natürlich müssen wir als Verantwortliche in Kindergarten und Schule uns heute Gedanken machen, wo wir die Kinder denn noch bewegen können. In der Schule gibt es die Aktion „Bewegte Schule“, die den Schulalltag rhythmisieren möchte und die Bewegung nicht nur auf den Pausenhof, sondern auch ins Klassenzimmer bringen will. Das können sportive Elemente sein, aber – und das wird später noch Thema sein – auch das Bewegen während der Sitzzeiten. Sie alle haben sicher schon die leidige Erfahrung gemacht, dass Ihnen irgendwann mal ein kippelndes Kind mit dem Stuhl umgefallen ist. Doch das Kippeln 56 stehen dafür schon optimale Ressourcen zur Verfügung; die Kinder dürfen sich dort auch noch bewegen, zwei Mal am Vormittag müssen sie ins Freie. Aber das entspricht nicht dem psychomotorischen Bedürfnis eines Kindes, vor allen Dingen nicht seinem Rhythmisierungsbedürfnis. Der Mensch wird vom Tag seiner Geburt an immer mehr mit der Statik konfrontiert, und Statik ist etwas, das der Körper gar nicht gut verträgt. Kinder brauchen primär nicht einmal Sport, sondern Bewegung. Erst über die Bewegung finden Sie den Zugang zum Sport, und erst durch Bewegung sichert man auch den Beruf des Sportlehrers. Wenn Kinder nicht balancieren oder nicht Ball spielen, werden sie auch nie einen positiven Zugang zum Ballsport oder zu sportlichen Techniken haben, bei denen die Gleichgewichtsfähigkeit eine wichtige Rolle spielt. Aber zurück zur Statik: Wenn Sie jetzt einmal Ihren rechten Arm heben und ihn oben behalten, praktizieren Sie eine statische Arbeit gegen die Erdanziehungskraft. Wenn Sie das so statisch machen, findet keine Durchblutung statt, und schon nach kur- Breithecker: Bewegte Kinder – schlaue Köpfe zer Zeit spüren Sie ein Prickeln in den Fingern, am liebsten würden Sie den Arm wieder herunternehmen, was Ihnen auch gestattet sei. Wenn Sie anschließend den linken Arm heben, ihn aber bewegen und auch den Körper rhythmisch dazu bewegen, dann ist das die gleiche körperliche Arbeit, aber das Ganze ist jetzt dynamisch, d. h., Sie haben eine regelmäßige Ver- und Entsorgung der arbeitenden Organe, und das können Sie viel, viel länger durchhalten. Irgendwann wird es langweilig, und Langeweile erzeugt auch Ermüdung, deswegen brechen wir das jetzt ab. Sie haben durchaus gespürt, dass es einen Unterschied zwischen statischer Belastung und dynamischer Belastung gibt. Die Qualität, das Funktionieren der Organe, auch des Gehirns, lebt von der Dynamik. Wenn zu lange Statik herrscht, dann ermüden die Organe, sie verkümmern. Durch zu viel Statik gerät der Mensch immer mehr in eine Trägheitsfalle, d. h., das Blut staut sich in seinen Blutgefäßen, das Kalzium schwindet aus den Knochen. (Wir finden heute schon Jugendliche, die aufgrund von Bewegungsmangel erste Osteoporose-Erscheinungen auf- weisen. Auch der Knochen braucht für seine Entwicklung Bewegung.) Der Geist weicht aus dem Gehirn; der Körper wird schlapp und träge; der Lebensmut weicht aus der Seele. Hier geht es um das Ganzheitliche. Geist, Körper und Seele müssen in der Balance sein, und diese Balance wird der Mensch nur erlangen, wenn er seine Balancefähigkeit trainiert. Wir sind von unserer Entwicklungsgeschichte her körperliche Höchstleister. Im Schnitt sind wir in früheren Zeiten 17 Kilometer am Tag gegangen, das war die Grundlage des Überlebens. Heute gehen wir im Schnitt gerade einmal 700 Meter. Aber wir tragen das genetische Erbe unserer Vorfahren noch in uns. Erstaunlicherweise durchlaufen Kinder die Entwicklungsgeschichte vom Vierfüßler zum Zweifüßler noch einmal, die Nutzung der Fingermotorik, das Training des Balancesystems. Dies ist die Voraussetzung auch für hirnphysiologische Entwicklungsprozesse. Deswegen müssen Kinder klettern. Klettern ist etwas, das wir in unseren Genen haben. Es ist vorprogrammiert. Wer das nicht entfaltet, der wird insgesamt Probleme mit seiner Entwicklung haben. Kinder müssen balancieren, und zwar nicht dort, wo alles abgesichert ist, sondern gerade dort, wo es wagnisbesetzt, ja teilweise auch riskant ist. Wir alle können von Kindern lernen. Wer von Ihnen kommt denn auf die Idee, in eine Pfütze hineinzuspringen? Sie verbinden mit der Pfütze sofort Schmutz, Nässe und eventuell Erkältungskrankheit. Aber das Kind rennt hin und springt mit Wonne hinein. Sein wachsendes Gehirn, das über das Auge die Information „Pfütze“ bekommt, sagt dann zum Körper: „Jetzt spring hier hinein“, weil es weiß, dass es ebenso wie der Körper nur über Entwicklungsreize seine biologische Ausdifferenzierungsqualität erhält. Ähnlich verhält es sich mit dem kippelnden Kind. Auch bei ihm sagt das Gehirn zum Körper: „Beweg dich, damit mein Organismus Impulse bekommt.“ Wenn Sie jetzt Ihre beiden Hände flankierend rechts und links zu den Augen führen, können Sie Ihre Nachbarinnen und Nachbarn nicht mehr sehen, ohne den Kopf nach links oder rechts zu drehen. Ohne den Schutz der Hände können Sie sie aus dem peripheren Winkel gerade noch erkennen. Erwachsene haben eine periphere Sehfähigkeit von ca. 180 Grad. Kinder verfügen, wenn sie in die Schule kommen, nur über eine periphere Sehfähigkeit von 120 Grad. Das Auge braucht wie jedes Sinnesorgan eine lange Zeit, bis seine endgültige Entwicklungsqualität erreicht ist. Beim Einschulungstest können 30 Prozent der Kinder nicht mehr 10 Sekunden oder länger sicher auf einem Bein stehen, weil ihr Gleichgewichtsorgan nicht altersgemäß trainiert ist. Was ganz wichtig ist und was uns bewusst werden muss: Heranwachsen bedeutet nicht nur, jedes Jahr ein paar Zentimeter größer werden, es bedeutet, dass sich organische Funktionen biologisch ausdifferenzieren müssen, und das dauert 18, 19 Jahre. Struktur- und Leistungsfähigkeit der Organe – auch des Gehirns – werden bestimmt durch das Maß ihrer Beanspruchung. Wenn die Kinder auf die Welt kommen, wollen sie sich lustvoll freiwillig schinden. Dafür werden sie das angemessene Maß finden, weil sie so ihre organische Entwicklung organisieren. Sie fordern sich, damit die organische Entwicklung gefördert wird. Der Erwachsene greift hier störend, hemmend ein: „Sei vorsichtig, fall da nicht runter, mach dich nicht schmutzig!“ Kinder, die kein Wagnis eingehen können, die nichts riskieren können, werden auch keine Risikokompetenz entwickeln. Kinder, denen wir alles absichern, werden auch keine Selbstsicherungsfähigkeit entwickeln können. Kinder, die sich nichts trauen dürfen, werden auch kein Selbstvertrauen entwickeln können. Das sind ja die Kernkompetenzen, die in den ersten 10, 11 Lebensjahren erworben werden. In dieser Zeitspanne wird die Basis für das Leben gelegt, hat das Gehirn seine sensibelste Entwicklungsphase. Säuglinge haben mit dem Tag der Geburt etwa 100 Milliarden Nervenzellen, die zwar schon vernetzt sind, aber im Laufe der nächsten Jahre ihre Synaptogenese, also die neuronale Vernetzung, optimieren. Vernetzte Strukturen werden freigelegt, und 57 deswegen müssen Kinder Dinge tun, die dynamisch sind, da sich diese hirnphysiologische Qualität sonst nicht ausdifferenzieren könnte. Kinder nutzen – anders als Erwachsene – einen Stuhl als Turngerät, und das ist elementar für ihre Entwicklung. Es sind ganz bestimmte Bewegungen, die Kinder brauchen, etwa balancieren. Kinder haben einen vestibulären Reizhunger. Jeder, der ein Kind hat, hat es vermutlich schon einmal hochgeworfen und natürlich wieder aufgefangen. Wie war die Reaktion? Ein Juchzen, ein Quieken, ein Schreien. Ein Erwachsener würde wahrscheinlich nicht so reagieren, für Kinder aber ist das elementar – für ihre Hirnentwicklung, für ihre persönliche, individuelle Intelligenzentwicklung. Kinder, die man hochwirft und wieder auffängt, juchzen allerdings nicht nur, weil sie einen vestibulären Reizhunger haben, sondern weil hierbei auch die Emotionen positiv entfaltet werden. Sie tun das gerne. Bein zu stehen, dann wären Sie für die nächste Viertelstunde wieder hellwach geworden. Jetzt wissen Sie auch, warum Kinder in der Schule so viel Lust auf solche Bewegungen wie das Kippeln, das Schwingen und Schaukeln auf dem Stuhl haben. Daher müssen wir hinsichtlich unserer Bewegungsförderung in den Turn- und Sporthallen umdenken. Kinder balancieren heutzutage nicht mehr auf Baumstämmen. Folglich müssen wir solche Segmente, Bewegungslandschaften, Balancierlandschaften, in den Kindergarten und in den Sportunterricht integrieren. Die Kinder brauchen Herausforderungen. Wenn man im Unterricht statt immer nur zu denken einmal aufsteht und sagt, wir gehen ein bisschen frische Luft schöpfen, entstehen häufig die besten Gedanken. Beim Spazierengehen, bei der Gartenarbeit hat man tolle „Durch zu viel Statik gerät der Mensch immer mehr in eine Trägheitsfalle … Der Geist weicht aus dem Gehirn; der Körper wird schlapp und träge; der Lebensmut weicht aus der Seele. Hier haben Sie das Ganzheitliche. Geist, Körper und Seele müssen in der Balance sein, und diese Balance wird der Mensch nur erlangen, wenn er seine Balancefähigkeit trainiert.“ Wer von Ihnen regelmäßig joggt – dazu zählt auch Walken, Fahrradfahren, Schwimmen –, wird wissen, dass man sich danach wohlfühlt. Wissen Sie auch, warum? Weil Sie dabei zwei Drittel Ihrer gesamten Körpermuskulatur einsetzen. Damit wird so viel Blut in den Körper hineingepumpt, dass noch die letzte Zelle mit Sauerstoff versorgt wird – auch Gehirnzellen. Bei bestimmten körperlichen Aktivitäten sind Hormone beteiligt, und das sind bei moderaten Ausdauerbelastungen Glückshormone, die Endorphine. Als anderes Beispiel nenne ich Ihnen das Schwingen, Schaukeln und Balancieren der Kinder. Wenn Sie sich auf ein Bein stellen und für ein paar Sekunden die Augen schließen, ist dies eine so genannte Gleichgewichtsaufgabe. Wir stellen damit eine verstärkte Anforderung an unsere Sensomotorik. Unter einer solchen Herausforderung kommt ein Hormon zum Tragen, das Neurotrophin (,Neuro‘, die Nervenzelle, und ,Trophin‘, der Aufbau). Es sorgt dafür, dass die Synaptogenese, die ihre sensibelste Entwicklungsphase im Alter bis zum zehnten, elften Lebensjahr hat, unterstützt und bei einem Erwachsenen erhalten wird. Und dass das Gehirn auf eine hohe Funktionstüchtigkeit gebracht wird. Wenn Sie schon den einen oder anderen Vortrag miterlebt haben, der eine Stunde dauerte, dann haben Sie wahrscheinlich die Erfahrung gemacht, dass Sie nach 25, 30 Minuten nicht nur immer krummer dasaßen, sondern auch, dass Ihre Aufmerksamkeit abnahm. Wenn Sie die Körpersensorik nicht aktivieren, ermüden Sie; das nennt man die Trägheitsfalle. Hätte der Referent Sie dann aufgefordert, aufzustehen und für ein paar Sekunden mit geschlossenen Augen auf einem 58 Einfälle. Bewegung aktiviert die Körpersensorik, die wiederum dafür sorgt, dass das Gehirn in einen Wachzustand gebracht wird. Diese Erkenntnisse sind heute neurowissenschaftlich abgesichert: Bewegung führt zur Veränderung neuronaler Formund Funktionsstrukturen. Und das können wir von den Kindern lernen. Aber wir wissen auch, dass Bewegung keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Kinder, das ist untersucht worden, bewegen sich heute im Grundschulalter im Schnitt bloß eine Stunde am Tag, sitzen aber zehn Stunden in der Schule und zu Hause vor den Medien. Ich kann nur mit dem Neurophysiologen Manfred Spitzer mahnend sagen: „Vorsicht Bildschirm!“ Die Sozialisation der Kinder ist eine Sozialisation, bei der sie verstärkt, ja im Übermaß Fern-Sehen und Zu-Hören, ganz bewusst betont, denn dadurch werden primär die Fernsinne wie Auge und Ohr aktiviert. Es gibt wissenschaftliche Belege dafür, wie Sie bei Spitzer finden können, dass eine sehr enge Kausalität besteht zwischen der Quantität und der Qualität des Fernsehens und ADS/ADHS, aber auch Übergewicht. Doch wir haben noch mehr Sinne als Auge, Ohr, Nase, Mund, Haut, unsere fünf Sinnesorgane. Es gibt noch ein ganz wichtiges Sinnessystem, unser sechstes Sinnessystem, das Gleichgewichts-, Muskel- und Bewegungssystem, das für die Koordination zuständig ist. Und das ist genauso bedeutsam wie die übrigen fünf Sinne. Aber es wird heute zu wenig beansprucht, und deswegen haben Kinder, schon wenn sie in die Schule kommen, Probleme nicht nur beim Einbeinstand, sondern auch bei solch Breithecker: Bewegte Kinder – schlaue Blindtext Köpfe einfachen doppelkoordinativen Aufgabenstellungen wie z. B. einen Hampelmann springen. Diese Kinder werden auch Schwierigkeiten mit dem Rechnen- und Schreibenlernen haben. Ganz provokativ gesagt: Diejenigen, die nicht sicher rückwärts gehen können, werden auch Schwierigkeiten haben, vorwärts zu denken. Einheitsmobiliar. Das allein ist vielleicht nicht das Problem, aber es ist belastend. Es sind immer die Summen der Belastung zusammen mit einer noch geringen Belastungsverträglichkeit. Schon ist das Ganze nicht mehr ausgewogen und es kommt zu Entwicklungsstörungen beim Kind. Ossifikation ist die Entwicklung vom Knorpel zum Knochen; wir sprechen manchmal Foto: VdS Bildungsmedien Eine ausgewogene Ernährung ist wichtig für die gesunde Entwicklung von Kindern, das wissen wir alle. Aber wenn wir keine ausgewogene Sinneskost haben und nur die Fernsinne aktivieren, dann gerät das Gehirn, das ja noch in seiner biologischen Ausdifferenzierungsphase ist, in Unordnung. Dementsprechend sind multiple Entwicklungsstörungen – Verhaltensstörungen, Haltungsstörungen, Bewegungsstörungen, Wahrnehmungsstörungen – hier neben anlagebedingten Faktoren vorprogrammiert. Bewegung ist Leben, Leben ist auch Bewegung. Doch sobald die Kinder in die Schule kommen, wird aus dem bewegungsfreudigen Spielkind ein Sitzkind. Seit man die Bundesarbeitsgemeinschaft für Haltungs- und Bewegungsförderung im Jahre 1961 gegründet hat, haben vor allem In seinem Vortrags animierte Dieter Breithecker sein Publikum zum Mitmachen und die Orthopäden immer wieder mahnend den Findemonstrierte so die insgesamt aktivierende Wirkung von Bewegung. ger gehoben und gesagt, dass die Kinder, wenn sie nicht zwischendurch mal aufstehen und sich bewegen, Rückenprobleme bekommen werden. Aber es entwickelt sich ja nicht nur der Rücken, es entwickelt davon, dass Kinder noch Gummiknochen haben, das heißt, sie sich das Kind als ganzes, Körper, Geist und Seele. Und Bewe- haben höhere Knorpelanteile. Wenn wir aber junge Menschen gung ist eben die Grundlage für eine ausbalancierte körperliche, verstärkt in passive, krumme, sitzende Körperhaltungen zwingeistige und seelische Entwicklung. Wir finden heute Stühle in gen, dann ist der Deformationsprozess vorprogrammiert. Die den Schule, die noch das gleiche Design aufweisen wie vor 40, Heranwachsenden von heute haben zudem eine geringere 50 Jahren. Die Funktion dieser Stühle war es eigentlich, dem Belastungstoleranz, weil sie ihre Organe nicht adäquat belastet körperlich schwer arbeitenden Menschen eine Pause zu ver- und damit in ihrer Entwicklung unterstützt haben. Immer mehr schaffen. Deswegen haben die Stühle eine Rückwärtsneigung, Kinder klagen über Kopfschmerzen, Rückenschmerzen und eine Mulde, in der das Gesäß aufgefangen und fixiert wird; der haben Konzentrationsprobleme in den Schulen. Rücken lehnt sich an die meist starre Rückenlehne, und das Gehirn sagt zum ganzen Körper: „Pause!“ So ist Sitzen ja auch Lust auf Schule, Lust auf Lernen – was brauche ich dafür? Etwa konzipiert, als Ruhehaltung. Sehr schnell wird dabei der Rücken einen Unterricht, der statisch ausgerichtet ist, bei dem nach rund, weil die muskuläre Spannung aufgehoben wird. Das ist an 20, 25 Minuten oder noch früher, ausgelöst durch statische sich kein Problem. Das Problem ist die Zeitdauer zwischen Hin- Rahmenbedingungen, das geistige Vagabundieren anfängt? Kinsetzen und Aufstehen, die in den letzten 20, 30, 40 Jahren ein- der fühlen sich wohl, wenn sie nicht ständig sitzen, sondern fach länger geworden ist. Nach einer gewissen Zeit sackt der auch einmal stehen, und wenn sie Stühle haben, auf denen man Rumpf immer weiter nach unten, das Becken muss dann nach dynamisch sitzen kann. Bewegung heißt, den körperlichen vorne geschoben werden, damit der Rumpfschwerpunkt unter- Bewegungsbedürfnissen adäquate Rahmenbedingungen zu stützt wird. In einer solchen Haltung kann ein Schüler nicht geben. Wir könnten lange darüber diskutieren, was eine gesungeistig wach sein. Auch wenn wir immer nur den Kopf des Kin- de Schule oder eine gute Schule ist. Mit Sicherheit braucht eine des in die Schule schicken wollen, geht dennoch immer das gute Schule auf der einen Seite Zufriedenheit und auf der andeganze Kind. Und wenn der Körper passiv ist, kann das Gehirn ren Seite adäquate geistige Beanspruchung, wobei ja Zufrienicht aktiv sein. denheit auf mehreren Komponenten basiert. Deswegen ist es wichtig, dass wir immer wieder die Bedürfnisse des Menschen, Ein weiterer Aspekt ist, dass die Kinder unterschiedlich groß vor allen Dingen des Schülers berücksichtigen: z. B. Dynamik, sind. Bei zwei 14- oder 13-Jährigen kann der Größenunterschied Bewegung, Veränderung der Körperhaltung. Dann die Verhältbis zu 60 Zentimeter betragen. Trotzdem sitzen sie auf einem nisse, die wir der Einfachheit halber Bewegungsergonomie nen- 59 nen, d. h. anpassbare Produkte, Stühle und Tische, Stehoptionen, Alternativen. Und natürlich auch das, was der Lehrer leisten sollte: Bewegung in den Unterricht, in die Kognition mit integrieren – aus all dem resultiert Zufriedenheit. Ihre Bewegungsergonomie regeln die Schüler im Großen und Ganzen selbst. Wenn sie in sich zusammensacken, fangen sie nach einer gewissen Zeit an, auf dem Stuhl zu wippen und das Becken zu drehen. Sie erinnern sich, was ich anfangs gesagt habe, dass das Gehirn dann den Körper aktiviert und sagt: „Tu Stühle, auf denen man auch verkehrt herum sitzen konnte; die Tischplatten waren schräg, damit Bewegung möglich wurde. Die Kinder konnten wahlweise Stehen, und es gab Liegemöglichkeiten. Im Unterricht und in den Pausen standen Geräte zur Verfügung, die es den Schülerinnen und Schüler ermöglichten, zu klettern und zu balancieren. Die Unfallkasse hat dies zuerst nicht erlaubt, doch der Schulleiter hat sich durchgesetzt, weil Klettern, wie er sagte, ein Bestandteil seines Schulprojekts gesunde, gute Schule sei. Bewegung ist für die Kinder ein wichtiger Aspekt der Schulzufriedenheit. „Bewegung aktiviert die Körpersensorik, die wiederum dafür sorgt, dass das Gehirn in einen Wachzustand gebracht wird. Diese Erkenntnisse sind heute neurowissenschaftlich abgesichert: Bewegung führt zur Veränderung neuronaler Form- und Funktionsstrukturen. Und das können wir von den Kindern lernen.“ was, damit ich geistig und körperlich überleben kann.“ Und deswegen berücksichtigen gute Schulen solche Bedürfnisse, indem sie Möbel zur Verfügung stellen, die relativ einfach an die Körpergröße des Kindes anzupassen sind, bei denen sich der Körper auch einmal bewegen darf und diese Bewegung sich auch entfalten kann. Wenn Sie stehen, haben Sie die Freiheit, ihre Körperhaltung zu verändern. Das ist gut so, weil dann eine rhythmische Entlastung möglich ist und die Körpersensorik aktiviert wird. Aus diesem Grund sagen wir, dass Stehen physiologischer ist als Sitzen. Irgendwann werden aber die Beine müde, und dann ist wiederum das Sitzen temporär durchaus akzeptabel. Wenn Sie nur zehn Minuten sitzen, ist dafür auch eine Apfelsinenkiste geeignet, aber wir sitzen heute längere Zeit, weshalb wir dem Körper die Optionen, die er beim Stehen hat, auch beim Sitzen bieten müssen. Das Becken muss seine Position verändern können, denn das Becken ist die Basis der gesamten Haltung. Wenn sich seine Position ändert, bewegt sich die Wirbelsäule und bewegen sich die unteren Extremitäten mit. Wenn Kinder wippen, signalisieren sie uns ihre körperliche Bedürftigkeit nach Bewegung. Beim Wippen wird der Kopf hin und her bewegt. Das Gleichgewichtsorgan und die Körpersensorik werden dadurch aktiviert und bringen das Gehirn wieder in einen entsprechenden Wachzustand. Und dann haben Sie natürlich die Beinbewegung, die garantiert, dass die Blutzirkulation angeregt wird, denn das Blut ist in die unteren Extremitäten herabgesackt. Sobald Sie die Wadenpumpen aktivieren, ist auch wieder Blut im Organismus. An der Fridtjof-Nansen-Schule in Hannover haben wir über vier Jahre ein Pilotprojekt veranstaltet unter dem Motto: „Wie sieht das Klassenzimmer der Zukunft aus?“ Dabei ging es vorwiegend um den Aspekt Bewegung. Die Schüler bekamen beispielsweise 60 Auch im Unterricht kann ich kognitive Dinge mit spielerischer Bewegung unterstützen (etwa durch Spiele im Englischunterricht, bei denen zugleich die Bezeichnungen für die Körperteile eingeübt werden). Zu diesem Thema gibt es auch Bücher, die deutlich machen, wie man beim Lernen alle Sinne mit integrieren kann. Bewegtes Lernen heißt handlungsorientiertes Lernen. Lehren heißt, nicht nur optisch und akustisch, sondern auch über die Körpersensorik Inhalte zu vermitteln. In der erwähnten Pilotschule haben wir über vier Jahre hinweg untersucht, wie das Körperverhalten mit erweiterten dynamischen Möglichkeiten im Klassenzimmer im Vergleich mit einer ganz „normalen“ Grundschule aussieht. In der Pilotschule haben über 50 Prozent der Kinder durch die bewegten Verhältnisse nicht statisch, sondern dynamisch gesessen; die Kinder suchten sich diese Sitzposition natürlich auch selbst aus. Dann haben wir es durch Stehoptionen immerhin geschafft, dass 20 Prozent der Kinder auch im Stehen gearbeitet haben. Es gab ein Stehpult, das in den Unterrichtsprozess integriert wurde. Projektarbeit, Freiarbeit, Wochenplanarbeit konnten die Kinder im Liegen, aber auch im Stehen erledigen. Und dann waren es durch diesen bewegten Unterricht immerhin 20 Prozent, bei denen körperliche Aktivitäten zum Tragen kam; marginal war das Liegen. Und es blieben nur 4,8 Prozent Situationen übrig, in denen die Kinder mehr als drei Minuten statisch gesessen haben. Die Kontrollgruppe, in der es keine besonderen Bewegungsoptionen gab und deren Lehrer auch nicht entsprechend geschult waren, zeigte zu über 60 Prozent belastende statisch-passive Körperverhaltensweisen. Natürlich macht man in der Grundschule heute bewegten Unterricht, aber die Frage ist immer, was subjektiv als ausreichend empfunden wird und was objektiv für die Entwicklung der Kinder notwendig ist. Für den Büroalltag von Erwachsenen fordert man heute, sie sollten nur zu Breithecker: Bewegte Kinder – schlaue Blindtext Köpfe 50 Prozent sitzen, zu 25 Prozent stehen und die übrigen 25 Prozent ihrer Arbeitsplatzsituation so organisieren, dass körperliche Dynamik zum Tragen kommt. Sie können sich vorstellen, mit welchem Aufwand wir arbeiten müssten, um annähernd an diese Forderung heranzukommen. In Bezug auf die Konzentrationsfähigkeit hat unsere so genannte Pilotschule mit ihren Bewegungsoptionen während der Unterrichtszeiten hochsignifikant besser abgeschnitten. Bewegung hat förderliche Auswirkungen auf den Prozess des Lernens, das ist inzwischen wissenschaftlich belegt. Fingerbewegungen, Grimassen schneiden, Kaugummi kauen, Wippen auf Stühlen oder auf Gymnastikbällen, Balanceaufgaben – das alles sind ja symbolische Aufgaben, bei denen die Körpersensorik oder die Fingermotorik aktiviert wird. Das wirkt sich, wie berichtet, auf Stoffwechselprozesse im Gehirn, auf die Durch- blutung, auf hormonelle Ausschüttungen und auf die Synaptogenese aus. Insofern kann man sagen, dass Bewegung nicht nur vom Kopf kommt, sondern auch dem Kopf nutzt. Wenn Sie Kinder befragen, welchen Vorteil sie persönlich spüren, wenn sie sich bewegen dürfen, dann kommen Aussagen zum Tragen wie: „Das Gedächtnis wird ein wenig heller“, „Ansonsten rostet das Gehirn ein“ und „Man kann auch nicht vernünftig denken, wenn man immer nur so passiv da sitzt“ und vor allen Dingen auch das Emotionale: „Das macht mehr Spaß“. Da sollte uns schon ein Licht aufgehen hinsichtlich der Tatsache, dass Bewegung und Rhythmisierung förderlich sind. Auf der Website www.haltungundbewegung.de können Sie sich diese Informationen in vertiefter und ausdifferenzierter Form herunterladen und auch die geeigneten Medien dazu finden, wie Sie bewegte Unterrichtsformen gestalten können. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. 61 Podien / Diskussionen Mit dem Regierungsantritt 2003 hat die neue Landesregierung in einer zuvor kaum gekannten Geschwindigkeit umfassende Maßnahmen der Bildungsreform bis hin zu schulstrukturpolitischen Änderungen durchgeführt. Der niedersächsische Kultusminister BERND BUSEMANN und die bildungspolitischen Sprecher der niedersächsischen Landtagsfraktionen INGRID ECKEL (SPD), KARL-HEINZ KLARE (CDU); INA KORTER (Bündnis 90/Die Grünen) und HANS-WERNER SCHWARZ (FDP) diskutierten und stritten über das Erreichte und die weiteren Perspektiven: „WEGWEISEND ODER ÜBERHASTET? DIE BILDUNGSPOLITIK IN NIEDERSACHSEN“. Moderation: Jörg Kallmeyer, Hannoversche Allgemeine Zeitung Bernd Busemann Bernd Busemann, geb. 1952. Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Köln. Erstes juristisches Staatsexamen 1979. Nach Referendariat beim OLG Oldenburg Zweites juristisches Staatsexamen 1982. Seit 1982 Rechtsanwalt, seit 1985 Notar. Mitglied der CDU seit 1971. Abgeordneter im niedersächsischen Landtag seit 1994; stellvertretender Vorsitzender der CDU-Landtagsfraktion seit 1998. Seit 2003 niedersächsischer Kultusminister. Ingrid Eckel Ingrid Eckel, geb. 1944. Studium der Germanistik, Geografie und Pädagogik in Saarbrücken und Mainz. Danach Realschullehrerin in Speyer; 1977-98 in Wolfsburg. Seit 1972 Mitglied der SPD; 1991-96 Erste Bürgermeisterin, 1996-2001 Oberbürgermeisterin der Stadt Wolfsburg; seit 2001 Vorsitzende des Schulausschusses. 1998 Einzug in den niedersächsischen Landtag; bildungspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion Niedersachsen. Karl-Heinz Klare Karl-Heinz Klare, geb. 1948. Lehre als Bankkaufmann. Erlangung der Hochschulreife über den 2. Bildungsweg. Studium an der PH Münster. Grund- und Hauptschullehrer in Diepholz. Bis 1986 Schulamtsdirektor in den Landkreisen Schaumburg und Osnabrück. Mitglied der CDU seit 1974. Seit 1986 Kreistagsabgeordneter im Landkreis Diepholz; Mitglied des niedersächsischen Landtages seit 1986; seit 2003 stellvertretender Vorsitzender der CDU-Fraktion und deren bildungspolitischer Sprecher im niedersächsischen Landtag. 62 Busemann/Eckel/Klare/Korter/Schwarz: Bildungspolitik in Niedersachsen Blindtext Ina Korter Ina Korter, geb. 1955. Studium und Referendariat in Gießen; nach dem Zweiten Staatsexamen Haupt- und Realschullehrerin mit den Fächern Geschichte und Kunst/Visuelle Kommunikation. Seit 2000 Lehrerin an einer Schule für Erziehungshilfe. Mitglied der Grünen seit 1982; 1991-96 Kreistagsabgeordnete im Landkreis Wesermarsch; 1996-98 im Stadtrat von Nordenham. 1998 Wahl in den Landesvorstand von Bündnis 90/Die Grünen; 1998-2003 Beisitzerin im niedersächsischen Landesvorstand, dort frauenpolitische Sprecherin. 2003 Wahl in den niedersächsischen Landtag. Stellvertretende Vorsitzende der Landtagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen in Niedersachsen. Hans-Werner Schwarz Hans-Werner Schwarz, geb. 1946. Grund- und Hauptschullehrer mit den Fächern Mathematik, Sport und Erdkunde. Bis 2003 Lehrer in Diepholz. Mitglied der FDP seit 1973. Seit 1980 Ratsherr, 1996-99 und seit 2003 Bürgermeister der Stadt Diepholz. Seit 1984 Vorsitzender des FDP-Kreisverbandes Diepholz. Seit 1986 im Kreistag des Landkreises Diepholz. 1996-2003 stellvertretender Landrat. Stellvertretender Vorsitzender des FDP-Bezirks Osnabrück. Mitglied des Landesvorstandes der FDP Niedersachsen. 2003 Wahl in den niedersächsischen Landtag; dort stellvertretender Vorsitzender der FDP-Fraktion. STATEMENT Bernd Busemann Ich bin seit heute morgen 9.00 Uhr hier auf der „didacta – die Bildungsmesse“ unterwegs an den Ständen, habe mehrere Veranstaltungen besucht, und mir scheint sich eine Art Leitthema herauszukristallisieren, dem man hier auf der Messe wie auch in der gesamten Diskussion immer wieder begegnet: Wie wird es in Zukunft, wie sieht die eigenverantwortliche Schule aus, welche Schritte sind wann zu erwarten? Die Szene scheint hier nach vorne zu denken, nicht nach rückwärts zu schauen. Ich sehe mich in diesen Tagen der Kritik aus unterschiedlichsten Richtungen ausgesetzt. Die einen sagen: „Er hat drei Jahre nichts getan, der gehört weg“, und die anderen sagen: „Der macht so viel, er muss sich langsam mal schonen, die Dinge müssen sich setzen können.“ Vielleicht liegt die Wahrheit in der Mitte. Ich will einmal drei, vier Jahre zurückblenden. Die riesige Belastung im Lande durch die Strukturdebatten musste irgendwann geklärt werden, was auch geschehen ist. Wir haben nach der letzten Landtagswahl mit dem Auftrag der Wähler ein Schulgesetz gemacht, in dem nach langer, reiflicher Überlegung festgeschrieben wurde, dass wir in Niedersachsen im System des gegliederten Schulwesens bleiben. Die Gesamtschulen, die wir haben, lassen wir unangetastet, die Orientierungsstufe schaffen wir ab, aber wir machen keinen vollständigen Systemwechsel und führen plötzlich ein schulisches System wie in Finnland, Frankreich, Korea oder sonst wo ein. Das hätte ja auch niemand bezahlen können, es hätte Standorte gekostet, Schulträgerbelange gestört und, und, und. 63 Zugleich waren wir uns darüber im Klaren, dass einiges an Reformen zu leisten war. Ich will einige Bereiche einmal ansprechen, und es ist doch eine ganze Menge, was da in den letzten Jahren stattgefunden hat. Durchaus auch mit Vorarbeiten durch die Vorgängerregierung, man war auch ein Stück weit gemeinsam unterwegs. Was haben wir also gemacht? Wir haben die Kindertagesstätten dem Schulministerium zugeschlagen, weil wir wissen, dass wir am Fundament anfangen müssen, wenn wir ein Schulwesen insgesamt verbessern wollen. In den Kitas Unternehmen, eine Firma, eine Schule arbeitet, desto besser das Ergebnis – wenn die Ressourcen stimmen. Und es ist unser Ziel, für unsere Schülerinnen und Schüler die bestmöglichen Bildungswege, die bestmöglichen Abschlüsse entsprechend zu organisieren. Nun herrscht sehr oft noch Unklarheit, was man sich eigentlich unter einer eigenverantwortlichen Schule vorzustellen hat. In der Szene weiß man das, doch der Normalbürger auf der Straße oder am Stammtisch kann sich darunter nichts Rechtes vorstellen. „Dann ist es jetzt an der Zeit, dass wir den in der Reformbewegung wesentlichen Punkt der eigenverantwortlichen Schule regeln. Dabei wollen wir jetzt nicht über Begrifflichkeiten, ob autonom, selbstständig oder eigenständig usw., streiten. Wir konnten aus PISA die Lehre ziehen - das sagt uns im Übrigen auch die Wirtschaft: Je eigenverantwortlicher ein Unternehmen, eine Firma, eine Schule arbeitet, desto besser das Ergebnis - wenn die Ressourcen stimmen. Und es ist unser Ziel, für unsere Schülerinnen und Schüler die bestmöglichen Bildungswege, die bestmöglichen Abschlüsse entsprechend zu organisieren.“ wurde nicht nur die Sprachstandsfeststellung eingeführt, sondern auch unsere Sprachförderung mit 300 Vollzeitlehrerstellen umgesetzt. Sprachförderung, mehr Unterricht an den Grundschulen, Abschaffung der Orientierungsstufe, die Regelung der Durchlässigkeit in den Klassenstufen 5 und 6, das ist ja in der Tat ein komplizierter Bereich für die Hauptschule, Berufsorientierung in den Ganztagsschulen, wie auch generell mehr Ganztagsschulen, mehr Stunden in der Realschule. Den gymnasialen Bereich haben wir anders organisiert, das Abitur nach Klasse 12 ist schon verinnerlicht. Wir werden 2011 den letzten 13er- und den ersten 12er-Abitursjahrgang haben und, und, und. Wir haben also schon eine ganze Menge miteinander geleistet, und ich weiß, dass ich der Lehrerschaft, den Schulen, den Schulträgern, allen Beteiligten mit unterschiedlicher Gewichtung eine ganze Menge aufgebürdet habe. Ich weiß, dass gerade die Schulleitungen sehr stark strapaziert waren, aber die Lehrerschaft insgesamt hatte natürlich diesen Umstrukturierungsprozess auszuhalten. Das ist mir völlig klar. Aber wenn wir durch PISA wissen, dass Handlungsbedarf da ist, dann kann ich mich nicht darauf herausreden, dass es fünf oder zehn Jahre dauert, bis es politisch opportun oder von der Finanzierbarkeit her machbar ist. Man muss es tun, selbst wenn man die Schule als Ganzes belastet. Dann ist es jetzt an der Zeit, dass wir den in der Reformbewegung wesentlichen Punkt der eigenverantwortlichen Schule regeln. Dabei wollen wir jetzt nicht über Begrifflichkeiten, ob autonom, selbstständig oder eigenständig usw., streiten (da stecken manchmal im kleinen Begriff schon große Botschaften). Wir konnten aus PISA die Lehre ziehen – das sagt uns im Übrigen auch die Wirtschaft: Je eigenverantwortlicher ein 64 Eigenverantwortliche Schule heißt zunächst einmal, in der Schulverfassung zu regeln, was die Schulleitung, was die Gesamtkonferenz und die anderen Beteiligten zu tun, zu lassen und zu sagen haben. Es wird eingeführt, und das wurde mit dem letzten Schulgesetz 2003 schon angelegt, dass Qualitätsentwicklung an jeder Schule stattzufinden hat und auch in der Schule verantwortet werden muss. Zur eigenverantwortlichen Schule gehört auch das große Thema Unterrichtsorganisation. Wenn die Bildungsstandards, wenn die Messlatten richtig gesetzt sind, dann ist dem Kultusminister relativ egal, wie die Schule das macht. Nur muss er am Ende verantworten, dass das Gesamtergebnis stimmt. Budgetierungsmöglichkeiten gehören zur Eigenverantwortlichkeit wie auch das ganze Thema Personalmanagement, das Komplizierteste an dem Ganzen. In welchen Schritten gehen wir vor? Ich habe mich, wenn Sie so wollen, für den geringstnotwendigen Eingriff entschieden. Ich will keine völlig neue Schulverfassung machen, nicht alles durcheinanderwirbeln, keine völlig neuen Formen. Ich sage, dass es für das Anliegen, Eigenverantwortlichkeit und Qualitätsentwicklung selber auszuüben, ausreicht, wenn wir die Schulleitung insofern stärken, als der Schulleiter oder die Schulleiterin auch als Vorgesetzte der dort beschäftigten Lehrerinnen und Lehrer, aller dort Tätigen agieren. Das bedingt entsprechend, dass der Zuständigkeitskatalog der Gesamtkonferenz in gewisser Hinsicht zurückzufahren ist. Zwar bleibt deren Kompetenz so, wie sie in der Grundverfassung festgeschrieben ist, weil sie über Schulprogramm, -versuche und Haushalte mitzubestimmen hat, ihr also viel, viel mehr an Rechten zukommt, als man in manchen Blättern liest. Das will ich in der Grundstruktur so belassen, um diesen entscheidenden einen Eingriff zu machen. Busemann/Eckel/Klare/Korter/Schwarz: Bildungspolitik in Niedersachsen Blindtext Wir müssen Schulleiterinnen und Schulleiter auf die neuen Aufgaben vorbereiten, dafür brauchen wir etwa zwei Jahre, zeitliches Ziel der Landesregierung ist der Schuljahresbeginn 2007. Wir haben etwa 3300 Schulen, und wir müssen über 2000 Lehrerinnen und Lehrer als Schulleitungskräfte fit machen für die neuen Anforderungen. In dieser Zeit möchte ich die Schule nicht unter Druck setzen. Und wenn das System dann steht, in Schritten, die am besten die Schulen selber bestimmen, mögen die anderen Schritte entsprechend nachkommen. Wir schaffen die rechtlichen Voraussetzungen dafür, dass das dann auch geht. Also mehr Freiheit, mehr Leine für die Schule, aber alles zu seiner Zeit. Der Faktor Ruhe für die Schulen, Ruhe an den Schulen ist bei mir jetzt wieder vorhanden, und ich entdecke mich in diesen Tagen als einen, der von einem „Reformenrambo“ eher zu einem wird, der sagt: „Hier nun mal langsam, alles zur rechten Zeit und nichts überstürzen.“ Das war es zur Eigenverantwortung der Schule, und darüber können wir ja trefflich streiten. Danke schön. STATEMENT Ingrid Eckel Ich möchte Ihnen erklären, weshalb wir bei der „selbstständigen“ Schule bleiben und uns nicht auf die „eigenverantwortliche“ Schule umetikettieren lassen wollen. Das hat damit zu tun, dass die Anfänge der selbstständigen Schule zur Zeit der Amtsvorgängerin von Herrn Busemann gelegt wurden, und darum gibt es auch eine ganze Reihe von Ähnlichkeiten zwischen dem gibt, aber es gibt ganz, ganz wesentliche Unterschiede, die für uns sehr wichtig sind. Sie liegen vor allen Dingen in zwei Bereichen, nämlich zum einen im Bereich Gesamtkonferenz und Schulleitung, im Austarieren von beiden, und zum anderen darin, dass wir die Gestaltungsfreiheit, die wir Schulen geben wollen, sehr viel gewichtiger und höher ansetzen, als es in dem Regierungsentwurf der Fall ist. Wir verändern den Paragrafen 32 und sagen, dass jede Schule auf der Grundlage ihres Schulprogramms, der Ziele, die sie sich darin gesetzt hat, Erlasse auswählen kann, an die sie sich weiterhin halten möchte, oder eben auch sagen kann – und das ist das Wichtige –, dass diese Erlasse für sie nicht gelten. Das soll in der Gesamtkonferenz beschlossen und der Landesschulbehörde zur Kenntnis gegeben werden. Grenzen werden dadurch gesetzt, dass es natürlich darum geht, die Vorgaben von Bildungsstandards und Richtlinien einzuhalten. Auch die Vergleichbarkeit von Schulabschlüssen muss natürlich weiterhin gegeben sein, sonst würden wir den Schülerinnen und Schülern ja Riesenprobleme bereiten. Wir gehen sogar noch ein Stück weiter und sagen, dass auch rechtliche Verwaltungsvorschriften von den Schulen – allerdings nur mit Rücksprache bei der Landesschulbehörde – außer Kraft gesetzt werden können. Ich nenne als Beispiel die Versetzungsordnung. Eine Schule könnte mit Zweidrittelmehrheit der Gesamtkonferenz entscheiden, dass sie versuchen will, ohne Klassenwiederholung auszukommen. Wenn sie genügend Stunden hat, um zu fördern und zu fordern, kann das ja gelingen. All diese Unternehmungen müssen freilich auch zielführend sein, und die Schule muss die externe und die interne Evaluation durchführen, sonst klappt das Ganze nicht. Stellt eine Schule nach der Evaluation fest, dass es so nicht geht, kehrt sie zu diesem „Wir sind der Meinung, dass das, was wir jetzt erleben, ein verfestigtes mehrgliedriges System, uns nicht weiterbringt, auch wenn es hier und da Verbesserungen gibt, wie die Sprachförderung oder die eigenverantwortliche bzw. selbstständige Schule. Sobald man richtig ernst macht mit Veränderungen, etwa der individuellen Förderung, dann kann man in der Mehrgliedrigkeit eigentlich nicht verharren.“ Entwurf, den Herr Busemann vorlegt, und demjenigen, den die SPD-Fraktion am kommenden Mittwoch in den Landtag einbringen wird. Wir haben das natürlich auch mit Bedacht so gelassen. Eigenverantwortlich, meine ich, ist jeder, der in einer Schule tätig ist. Wir alle sind eigenverantwortlich für das, was wir tun, und auch in einer unselbstständigen Schule wird eigenverantwortlich gehandelt. Deswegen sehen wir tatsächlich einen inhaltlichen Unterschied zwischen diesen beiden Begriffen und sind bei der selbstständigen Schule geblieben. Herr Minister Busemann weist immer gern auf die Ähnlichkeiten hin, auf die Parallelitäten, die es bei unseren Entwürfen Erlass, zu dieser rechtlichen Vorschrift zurück. Aber sie hatte die Möglichkeit, sich rauszunehmen und tatsächlich Gestaltungsfreiheit zu praktizieren. Es gibt zwischen den Fraktionen keinen Streit darüber, dass Gestaltungsfreiheit, dass Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit ein wichtiges Segment von Qualitätsentwicklung ist. Wir setzen das ganz hoch an, und deswegen geht unsere Gestaltungsfreiheit sehr viel weiter als die in den anderen Entwürfen, auch als im Entwurf von Bündnis 90/Die Grünen, die zwar auch möchten – das wird Frau Korter sicherlich gleich noch darstellen –, dass Erlasse abgewählt werden können, aber 65 nur wenn die Landesschulbehörde zustimmt. Ich könnte noch ganz viel dazu sagen, aber ich glaube, wir sollten, nachdem ich diesen wichtigen Punkt der Gestaltungsfreiheit erläutert habe, die Schulkonferenzen und Schulleitungen, die Verbundenheit zwischen beiden und ihr Verhältnis zur Selbstständigkeit dann doch etwas genauer betrachten. Aber ich sitze jetzt hier für die SPD-Fraktion und nicht für die Partei, die dieses Papier vorgelegt hat. Es wird nötig sein, im nächsten halben Jahr innerhalb der Partei Überzeugungsarbeit zu leisten, und dann wird unser Entwurf stehen. Wir sind der Meinung, dass das, was wir jetzt erleben, ein verfestigtes mehrgliedriges System, uns nicht weiterbringt, auch wenn es hier und da Verbesserungen gibt, wie die Sprachförderung oder die eigenverantwortliche bzw. selbstständige Schule. Sobald man richtig ernst macht mit Veränderungen, etwa der individuellen Förderung, wenn man genug Ressourcen hat, um dies in Schulen durchzuführen, dann kann man in der Mehrgliedrigkeit eigentlich nicht verharren. Wir werden sehen, wie sich das entwickelt. Unseres Erachtens kann ein gutes Beispiel auch Eltern, Schüler, Schülerinnen, Lehrer und Lehrerinnen überzeugen. Darauf hoffen wir. Foto: Hannover Messe Für uns bleibt die Gesamtkonferenz weiter das wichtigste Gremium in der Schule und das Herz der Schule. Es ist sicherlich jetzige mehrgliedrige Schulsystem erst mal bestehen lassen. Wir hoffen, dass nach und nach immer mehr Eltern die gemeinsame Schule fordern. Zur selbstständigen Schule oder eigenverantwortlichen Schule hätte ich eigentlich gerne noch zwei Dinge Auf der „didacta – die Bildungsmesse“ 2006 in Hannover wurde deutlich, wie aus Reformen besserer nachgeschoben. Auch wir haben die Unterricht wird. Im Bereich Schule/Hochschule präsentierten insgesamt 351 Aussteller einen ÜberSchulleitungen gestärkt, und zwar blick der aktuellen Lehr- und Lernangebote. darüber, dass sie ganz viele Aufgaben bekommen, die von den Bezirksregierungen an die Schulen verlagert werrichtig, dass eine Schulstrukturdiskussion von denen, die an den. Aber die Schulleitungen sind bereits weisungsbefugt, das Schule beteiligt sind, kaum gewünscht wird. Was wir in den ist ja überhaupt nichts Neues. Wir meinen, wenn die Schule letzten Jahren erfahren haben, ist natürlich, dass die Verfesti- sich verändern soll, wenn ein Schulprogramm Ziele nennt, die gung der Mehrgliedrigkeit, die geringere Durchlässigkeit, das erarbeitet werden sollen, dann muss das immer im breiten KonAbkoppeln der Hauptschule, die Tatsache, dass die Gleichwer- sens geschehen. Dann kann nicht einer sagen, so machen wir tigkeit der Sekundar-I-Abschlüsse aufgegeben wurde, dass das es, und die anderen tanzen nach, das wird nicht gehen. Jeder alles einen denken lässt, es wäre schön, wenn man es anders Schulleiter, mit dem ich in den letzten Wochen und Monaten machen könnte. Aber eine Strukturreform 2008 würde keiner gesprochen habe, hat gesagt, geschickterweise müsse man durchhalten, das wissen wir auch. Trotzdem hat die SPD einen immer das Kollegium hinter sich bringen, wenn man etwas verEntwurf zur gemeinsamen Schule abgeliefert, aber gleichzeitig wirklichen, etwas verändern wolle, und darum geht es uns. gesagt, dass es nicht darum geht, die jetzige Struktur zu beseitigen und die andere dagegenzusetzen. Vielmehr steht in dem Deshalb wollen wir, dass die Gesamtkonferenz weiterhin das Entwurf – der übrigens noch bis Juni in allen Parteigremien wichtigste Gremium bleibt. Wir sagen aber auch, dass die gründlich diskutiert werden muss und sich daher noch verän- Gesamtkonferenz z. B. an großen Systemen das Delegationsdern kann –, dass der Weg zur gemeinsamen Schule durch Über- prinzip einführen und eine Schulkonferenz bilden kann. Und zeugung freigemacht werden soll, d. h. indem man zeigt, wie innerhalb dieser Schulkonferenz ist es möglich, auf Beschluss es gehen kann. Wenn man all das, was uns die PISA-Siegerlän- der Gesamtkonferenz etwa die Parität zu verändern. Eine der vorgemacht haben, verwirklicht, also: eine lange gemeinsa- Gesamtkonferenz kann bereits heute beschließen, die Anteile me Beschulung, individuelle Förderung usw., und schaut, was von Schülern und Schülerinnen oder Eltern zu verändern, das entsteht dann in einer Schule, was ist möglich, wie wirkt sich ist nichts Neues. Aber sie soll es selbst entscheiden, weil das das auf Kinder aus? Das wollen wir zeigen und gleichzeitig das unserer Meinung nach dazugehört, wenn wir eine Schule selbst- 66 Busemann/Eckel/Klare/Korter/Schwarz: Bildungspolitik in Niedersachsen Blindtext ständig machen. Ich freue mich darauf, dass wir im Ausschuss darüber diskutieren werden, und es gibt noch ein paar andere Stellen, bei denen wir abwarten wollen, was die Diskussion ergibt. Vielleicht lassen sich da und dort weitere Gemeinsamkeiten finden, die sich jetzt noch nicht abzeichnen. STATEMENT Karl-Heinz Klare Die Schulreform ist in unseren Augen sicherlich nicht überhastet, sondern sie ist wegweisend und auf jeden Fall dringend notwendig gewesen. Für diese Notwendigkeit gibt es sehr klare Indizien, über die wir gar nicht mehr reden oder reden wollen, weil es uns ein bisschen peinlich ist. Wir haben im Jahre 2003 eine Ausgangslage für unsere niedersächsischen Schülerinnen und Schüler vorgefunden, bei der unsere Kinder in nationalen und internationalen Vergleichstests immer die Verlierer waren, und das konnte nicht so bleiben. Es mussten Paradigmenwechsel erfolgen. 25 Prozent eines Jahrgangs, die durch die Schulen gelaufen sind, Abschlüsse gekriegt oder auch nicht gekriegt haben, waren nicht in der Lage, im Beruf ihren Mann oder ihre Frau zu stehen. Sie sind gar nicht angenommen worden. Das ist sozialer Sprengstoff, über den wir noch gar nicht lange genug nachgedacht haben. Das ist Realität, und die Zahlen sind nicht bestritten worden. Wenn wir nicht sofort ein neues Schulgesetz gemacht hätten, wäre die „Gabriel’sche Förderstufe“ eingeführt worden. Dann wäre mit einem Losverfahren entschieden worden, welche Kinder auf weiterführende Schulen hätten gehen können und welche nicht, also Auslese nicht nach Leistung oder Begabung, sondern aus dem Lostopf heraus, wie auf dem Rummelplatz. Das war damals die Realität, und wir mussten sofort reagieren. Ich bitte Sie, sich das noch einmal zu vergegenwärtigen. macht. Ich kann das nach den Erfahrungen, die ich in der Schulpolitik gemacht habe, so schnell nicht beurteilen und Sie eben auch nicht. Der Kindergartenbereich, der frühkindliche Bereich steht da wie noch nie zuvor. Auch das ist eine Frage der Zeit. Bei der SPD, bei Frau Jürgens-Piper, sind zwar Konzepte gemacht, aber sie sind nicht umgesetzt worden, weil sie nicht finanziert werden konnten. Jetzt haben wir die Sprachförderung usw. eingeführt. Das kann man doch einmal deutlich sagen. Die Schaffung von langfristigen Bildungsgängen im Sekundarbereich I oder die Stärkung der frühkindlichen Bildung, die Schaffung von mehr Durchlässigkeit – wir merken, dass das jetzt funktioniert. Die Stärkung von Grundfertigkeiten im Grundschulbereich, Deutsch, Mathe z. B., wird sich hoffentlich positiv auswirken, aber wir haben auch hier natürlich noch keine Ergebnisse. Was mir besonders wichtig ist: Wir haben zum ersten Mal verpflichtend den Dialog von Schule zu Elternhaus gesetzlich verankert. Ich bin davon überzeugt, dass gerade beim Übergang zu weiterführenden Schulen, bei der Beratung mit Grundschulen der Dialog mit den Eltern eine große Rolle spielen kann und dass wir hier „Falschzuweisungen“ vermeiden können, wie auch immer sie zustande gekommen sind. Meine Damen und Herren, ich bin davon überzeugt, dass wir mit der eigenverantwortlichen Schule auf einem richtigen Weg sind. Wir haben ja einen breiten gesellschaftlichen Konsens. Alle Fraktionen, alle Parteien, alle Lehrergruppen mit unterschiedlichen Nuancen halten das für richtig, und die PISA-Siegerländer sind diesen Weg gegangen. Verbindliche Vorgaben, die Einführung von Instrumenten regelmäßiger Qualitätskontrolle, eines großen Spielraums wird meiner Überzeugung nach die Arbeit nachhaltig verbessern. Eigenverantwortliche Schule heißt größter Gestaltungsspielraum, doch auch die Ergebnisse müssen am Ende stimmen. Wir setzen auf Professionalität der Lehrkräfte, und wir setzen darauf, dass die entsprechenden „Ich weiß ja nun ein bisschen darüber, was das System verträgt, was die Schulen vertragen, was sie nicht vertragen. Wenn die SPD jetzt wieder das Fass aufmacht, Frau Korter, das alles sei falsch, eine gemeinsame Schule von 5 bis 10, die Grundschule vielleicht auch noch gemeinsam, müsse her, dann bringt das den Kessel zum Platzen. Dann entsteht wirklich Unruhe an der Basis, in den Standorten, in der Lehrerschaft, überall, und man muss endlich einmal sagen, dass es jetzt reicht.“ Wenn wir die Hauptschule mit Sozialarbeiterstunden, mit Profilierung im Arbeitsbereich stärken, wie wir sie gestärkt haben, dann ist das ein neuer Weg, um zu besseren Ergebnissen zu gelangen. Wenn wir das evaluieren, werden wir sehen, was dabei herauskommt. Aber es ist unsinnig, schon nach einem Jahr zu sagen, das sei alles Murks oder etwas werde kaputtge- gesetzlichen Grundlagen und die staatliche Verantwortung letztendlich bleiben. Ich glaube, auch darin besteht Übereinstimmung. Zur Stärkung der Schulleitung: Der Schulleiter muss der Chef im Ring sein, doch das ist er bereits heute, auch gesetzlich; seine 67 Position wird jedoch gestärkt. Die Gesamtkonferenz muss als Mitbestimmungs- und Mitwirkungsorgan weiter einen vernünftigen Anteil haben, und das ist meiner Ansicht nach in unserem Gesetz auch gegeben, doch darüber können wir gerne noch ein bisschen streiten. Was mich an dieser Frage viel mehr bewegt, ist nicht nur das Formale, das Gesetzliche. Ich glaube, wir müssen uns immer wieder fragen, was am Ende für den einzelnen Schüler oder die einzelne Schülerin dabei herauskommt. Wir können per Gesetz alles verordnen, keine Frage, und dann haben wir es zum 1. August 2007. Wir müssen weiter wissen, was für den einzelnen Lehrer und die einzelne Lehrerin herauskommt. Eigenverantwortung darf keine reine Organisationsangelegenheit bleiben, sondern sie bedeutet, dass jeder, der im System Schule arbeitet, diese Verantwortlichkeit aufnimmt, empfindet, aus ihr heraus handelt und diese so an die Schüler heranträgt. Ich weiß ja nun ein bisschen darüber, was das System verträgt, was die Schulen vertragen, was sie nicht vertragen. Wenn die SPD jetzt wieder das Fass aufmacht, Frau Korter, das alles sei falsch, eine gemeinsame Schule von 5 bis 10, die Grundschule vielleicht auch noch gemeinsam, müsse her, dann bringt das den Kessel zum Platzen. Dann entsteht wirklich Unruhe an der Basis, in den Standorten, in der Lehrerschaft, überall, und man muss endlich einmal sagen, dass es jetzt reicht. Wir können in der Sache miteinander streiten und inhaltlich weiterkommen, doch weiß Gott nicht diese Schulstrukturdiskussion neu anfangen. Das will auch keiner hören, da bin ich mir relativ sicher. Ich will den Kolleginnen von SPD und Grünen keine Nachhilfe in Sachen Gesetzestechnik geben, aber ein Gesetz hat abstrakt zu sein. Ein Gesetz ist kein gedrucktes Parteiprogramm; all die vielen schönen bunten Dinge, die wir von dort so kennen und wissen, gehören nicht ins Gesetz. Ich habe mich für den geringstnotwendigen Gesetzeseingriff entschieden, nur zwei, drei Paragrafen sind davon betroffen. Stichworte: eigenverantwortliche Schule, Schulleiter stärken, Gesamtkonferenz bleibt. Ich wollte keine Verfassungsspielchen machen, denn es gibt ja auch Berufsschulen, die ohne Gesamtkonferenz auskommen, usw. Doch das sollte nicht mein Thema sein. Hier geht es um ein inhaltliches Ziel, und das ist mit wenigen Eingriffen machbar. Vieles von dem, was Sie unter mehr Freiheit, mehr Gestaltungsfreiheit usw. buchen, kann ich teilen. Doch es gehört nicht ins Gesetz, und es gibt auch untergesetzliche Rechtsnormen: Erlasse, Verordnungen, rein administrative Dinge, durch die man das entsprechend regeln kann. Der Vorwurf von Frau Eckel, ich würde weniger Gestaltungsfreiheit wollen, stimmt nicht. Ich habe dazu noch gar nichts gesagt. Vielleicht werde ich Sie sogar überraschen und mit Freiheiten aufwarten, über die Sie sich wundern werden. Bei Ideen wie Schule ganz ohne Noten und ganz ohne Sitzplan usw. ist mein Einfallsreichtum ein bisschen gebremst. Nehmen Sie das Thema Schulwechsel, nehmen Sie das Thema Abschlüsse usw., ganz ohne Noten wird es da nicht gehen. Aber es ist immerhin 68 ein spannendes Thema, das aber bitte nicht ins Gesetz hineingehört. Das geht gerade auch an die Grünen. Und ich kann alle nur warnen, neue Schulstrukturdebatten vom Zaun zu brechen. STATEMENT Ina Korter Zunächst möchte ich ein paar Sätze zu Herrn Busemann sagen, der ja die Grundzüge seiner gesamten Bildungspolitik vorgestellt hat. Schnelligkeit ist nichts Falsches, wenn sie denn gut begründet ist und sauber gearbeitet wird. Und wenn die Ziele richtig sind, sollte man nicht zu lange reden, sondern Dinge wirklich umsetzen. Aber die Richtung der Schulpolitik in Niedersachsen ist aus meiner Sicht falsch, und das möchte ich an sechs Punkten kurz erläutern. 1. Die frühe Trennung nach Klasse 4 ist ein bildungspolitischer Rückschritt, der sich noch ganz schlimm rächen wird, weil wir Talente in Schulformen aussortieren, die später keine Chance mehr haben. 2. Diese Landesregierung versetzt den Hauptschulen den Todesstoß mit ihrer Politik der frühen Trennung und ihrem klaren Bildungsauftrag der Hauptschulen, abgegrenzt von anderen Schulen unter Abschaffung der Durchlässigkeit nach oben. 3. Durch den ideologischen Kampf gegen Gesamtschulen sowie das Neugründungsverbot wird undemokratisch eine Schulform abqualifiziert und ausgegrenzt. 4. Der Bildungsauftrag der Kindergärten, das wissen wir genau und das wird hier auf vielen Veranstaltungen deutlich, muss wirklich gestärkt werden. Da fehlt noch alles. Wir haben einen Orientierungsplan, aber keine verbindlichen Richtlinien für die Kindertagesstätten. Wir haben immer noch keine Erzieherinnenausbildung auf Hochschulniveau, da besteht erheblicher Nachbesserungsbedarf, und wir haben erst recht noch kein kostenloses Kindergartenjahr für Fünfjährige, was die CDU vor der Wahl versprochen hatte. 5. Die konzeptionslose Genehmigung von Ganztagsschulen in Niedersachsen. 6. Die Glaubwürdigkeit dieses Kultusministers schwindet zunehmend. Er spricht von hundertprozentiger Unterrichtsversorgung, und die Eltern sowie die Lehrkräfte im Lande wissen, dass das nicht so ist. Dann muss man es auch zugeben, Herr Busemann. Ich komme jetzt zu unserem Konzept der eigenverantwortlichen Schule. Wenn man den Schulen mehr Freiheiten geben will, und das ist Konsens in allen Fraktionen, dann muss man auch tatsächlich einen Freiheitsgedanken haben. Wenn Sie nämlich die Neugründung von Gesamtschulen verbieten, die Hauptschulen von den anderen Schulen abtrennen, die kooperativen Haupt- und Realschulen verbieten und, und, und, wenn Sie also so vieles erst einmal regeln und verbieten: Wie wollen Sie dann eigentlich einen Freiheitsgedanken in die Schulen tragen? Freiheit in den Schulen setzt voraus, dass man den Lehr- Busemann/Eckel/Klare/Korter/Schwarz: Bildungspolitik in Niedersachsen Blindtext kräften und den an Bildung Beteiligten vor Ort auch etwas zutraut. Und das wollen wir mit unserem Gesetzentwurf. Darin gibt es ganz zentrale Punkte. 1. In dem Gesetz muss, was Frau Eckel eben angesprochen hat, tatsächlich drinstehen, welche Freiheiten die Schulen sich nehmen können und von welchen Erlassen sie sich befreien lassen können. Das steht in unserem Gesetzentwurf nicht unter Vorbehalt der Landesschulbehörde, Frau Eckel, sondern die Landesschulbehörde muss den Antrag einer Schule immer genehmigen, wenn nicht die Vergleichbarkeit der Abschlüsse oder die Bildungsstandards gefährdet sind. Das ist Mindestvoraussetzung, damit wir verschiedene Schulabschlüsse auch miteinander vergleichen können. Ich denke, das ist bei Ihnen auch Standard. 2. Wir wollen – und da sind wir entschieden anderer Meinung als alle anderen Fraktionen – bei mehr Eigenverantwortlichkeit auch mehr Mitverantwortung aller Beteiligten, deswegen schaffen wir in unserem Gesetzentwurf als höchstes Entscheidungsgremium der Schule eine Schulkonferenz, die paritätisch besetzt wird. Da sind die Eltern stärker vertreten, und auch die Schüler, soweit sie das altersentsprechend mitmachen können, sind entsprechend vertreten. Das ist unsere demokratische Vorstellung einer neuen Schule, einer Schule der Zukunft und nicht einer, die in der Vergangenheit verhaftet ist. glaube ich, dass unser Gesetzentwurf der einzig Richtige ist, und ich hoffe, Sie werden vieles davon übernehmen. Zur Frage der Schulstruktur möchte ich doch noch einmal Stellung nehmen. Herr Busemann und Herr Klare wollen natürlich eine Schulstrukturdebatte vermeiden. Doch wenn man sich verantwortlich fühlt für die Schülerinnen und Schüler in Niedersachsen, muss man darüber reden, denn alle PISA-Siegerländer, Herr Busemann, haben eine längere gemeinsame Beschulung und trennen nicht nach Klasse 4, das gibt es nur noch in Österreich und der Schweiz. Ich kann nicht nachvollziehen, weshalb Sie in der Schulpolitik einen solchen Rückschritt machen. Wir brauchen alle Talente, wir können es uns nicht leisten, schon mit zehn Jahren bestimmte Kinder auf das Abstellgleis zu schicken, zu dem Sie die Hauptschule gerade machen. Diese Kinder haben keine Chance mehr, einen höherwertigen Bildungsabschluss zu erreichen, wenn sie erst später merken, was sie an Schule interessiert, was sie an Inhalten interessiert. Was machen Sie mit den aufmerksamkeitsgestörten Kindern, die sich vielleicht erst viel später entwickeln, mit Kindern mit Teilleistungsstörungen? Sie alle sortieren Sie nach Klasse 4 aus, und das ist zutiefst ungerecht. Wir haben einen demokratischen Staat und ein demokratisches Niedersachsen, in dem jedes Kind und jeder Jugendliche erwarten kann, dass er, solange es geht, genauso gut gefördert wird wie jeder andere. „Wenn Sie nämlich die Neugründung von Gesamtschulen verbieten, die Hauptschulen von den anderen Schulen abtrennen, die kooperativen Haupt- und Realschulen verbieten und, und, und, wenn Sie also so vieles erst einmal regeln und verbieten: Wie wollen Sie dann eigentlich einen Freiheitsgedanken in die Schulen tragen? Freiheit in den Schulen setzt voraus, dass man den Lehrkräften und den an Bildung Beteiligten vor Ort auch etwas zutraut.“ 3. Wir wollen eine pädagogische Konferenz anstelle der Gesamtkonferenz installieren. 4. Wir wollen, dass die Schulinspektion gesetzlich verankert wird mit ihren Rechten und auch mit der Verpflichtung, dem Landtag alle zwei Jahre einen Bildungsbericht vorzulegen. 5. Die Stärkung der Schulleitung ist nicht zu vergessen, das möchte ich natürlich auch erwähnen. 6. Bei der Anhörung zum Gesetzentwurf eigenverantwortliche Schule oder in der Vorbereitung des Gesetzentwurfes ist von allen gesagt worden, die Schulen brauchten auf ihrem Weg in die Eigenverantwortung Beratung und Unterstützung. Das möchten wir im Gesetz verankert haben. Dann ist unser Gesetzentwurf aus meiner Sicht derjenige, der mit der Verfassung der regionalen Kompetenzzentren am ehesten kompatibel und vergleichbar ist. Das ist ein Erfolgsmodell bei den berufsbildenden Schulen in Niedersachsen, und ich meine, die allgemein bildenden Schulen und die berufsbildenden Schulen müssen kompatible Verfassungen und kompatible Möglichkeiten haben. Deshalb Und dann frage ich mich auch, warum die Schulen im Rahmen der Eigenverantwortung nicht entscheiden dürfen, ob sie integrativ länger beschulen. Das werden Sie Ihnen verbieten. Da zeigen Sie doch bitte Ihren Freiheitsbegriff. Hier bin ich neugierig, wie die FDP Stellung beziehen wird. Die FDP will ohnehin den freien Elternwillen abschaffen und Aufnahmeprüfungen durchführen, da kann ich keine Linie erkennen. Wir niedersächsischen Grünen verfolgen schon seit zwei Jahren die Zielsetzung, eine gemeinsame neunjährige Basisschule für alle Kinder einzuführen. Wir werben mit diesem Konzept, bereisen alle Kreisverbände und Landkreise und stellen uns bei Podiumsdiskussionen und Elternabenden der Diskussion über eine solche Schulform. Wir wollen alle Kinder mitnehmen und niemanden aussortieren. Das ist die entscheidende Frage, Herr Busemann. Die Struktur ist nicht egal, die Struktur entscheidet darüber, was ich im Kopf habe, wie ich Kinder mitnehmen und fördern will. Wenn ich sie nicht in vier Schubladen sortieren 69 kann, dann muss ich alle fördern und mitnehmen, doch nicht alle im Gleichschritt, sondern jedes, wie es seinem Lerntempo entspricht. Das ist mein zutiefst menschlicher, demokratischer Ansatz von Schulpolitik. Dafür werden wir werben. Die Anwahl der Hauptschulen und die hohen Ablehnungszahlen bei den Gesamtschulen zeigen inzwischen, dass Sie mit Ihrem schulpolitischen Weg nach und nach von den Eltern abgewählt werden. Eltern wollen nämlich nicht, dass ihre Kinder mit zehn Jahren weg vom Fenster sind; sie wollen ihnen möglichst lange alle Chancen offen halten. Und wer verschiedene Kinder mit verschiedenen Anlagen hat, der kann das nachvollziehen. Ich kann das aus eigener Anschauung. Noch ein Wort zur eigenverantwortlichen Schule. Wenn man eine so entscheidende Änderung einführen will, hin zu mehr Selbstständigkeit, mehr pädagogischer Freiheit, und wir mit allen Fraktionen dahinterstehen, ist das ein ganz wichtiger schulpolitischer Weg. Dann muss ich aber auch den Mut haben, die Beteiligten mitzunehmen. Nicht Lehrerinnen und Lehrer alleine machen Schule, Eltern, Schülerinnen und Schüler gehören dazu. Dann beteiligen sie sich auch entsprechend. STATEMENT Hans-Werner Schwarz Ich rede zunächst tatsächlich zum Thema und gehe nicht auf das ein, was Frau Korter soeben vorweggeschickt hat, obwohl es mich wahnsinnig reizt, darauf zu antworten. Ich möchte zunächst einmal sagen, dass eine eigenverantwortliche Schule in Zukunft ohne die Mitarbeit der Eltern völlig unmöglich erscheint. Wir haben als FDP-Fraktion immer die Auffassung vertreten, dass das Bildungssystem nicht nur in Niedersachsen, sondern in der Bundesrepublik insgesamt alleine von der Schule nicht mehr in die richtige Richtung zu brin- Das ist aber nicht der einzige Weg und nicht der einzige Bestandteil, aus dem eine eigenverantwortliche Schule für die Zukunft besteht. Wir haben uns deswegen für die eigenverantwortliche Schule entschieden, weil wir gesehen haben, dass mit autonomen Schulen gute Erfahrungen gemacht wurden. Wir haben insbesondere im skandinavischen Raum festgestellt, dass die Schulen, die in eigener Verantwortung ihren Unterricht gestalten bzw. den Bildungsweg beschreiten, erfolgreich sind. Übrigens nicht nur im skandinavischen Raum, es gibt solche Ansätze sehr konkreter Art auch in anderen deutschen Bundesländern, zum Beispiel in Baden-Württemberg, wo wir feststellen, dass diejenigen Schulen, die in Eigenverantwortung gestellt werden, auch sehr erfolgreich sind. Dazu gehört natürlich, dass man diese eigenverantwortlichen Schulen entsprechend vorbereitet. In erster Linie geht es darum, die Schulleitung dafür zu qualifizieren. Wir haben zurzeit eine Situation, in der die Schulleiter einerseits sehr gerne die eigenverantwortliche Schule umgesetzt wissen möchten, aber andererseits ein wenig in der Luft hängen und noch nicht ganz genau wissen, wie das in der Praxis aussehen soll. Wir müssen hierfür die entsprechende Qualifizierung schaffen, und ich bin dankbar, dass Herr Busemann bereit ist, das Ganze nach und nach zu entwickeln. Wir können nicht einfach verkünden, dass wir ab 1. August 2007 überall die eigenverantwortliche Schule einführen: Das muss konsequent und am besten in aller Ruhe vorbereitet werden, Schritt für Schritt. Ich habe Verständnis dafür, dass zurzeit eine gewisse Unsicherheit an den Schulen herrscht, weil sie mit hohen Anforderungen überfrachtet worden sind, die allerdings glänzend bewältigt wurden. Aber jetzt möchte man auch einmal Luft zum Atmen haben, möchte Ruhe haben und sich auf die neue Situation einstellen können. Aus unserer Sicht ist weiterhin wichtig, dass die Gesamtkonferenz in einer vernünftigen Form gegliedert wird. Ich bin ja selbst Kollege, habe jahrzehntelang Schule gemacht und konn- „Ich möchte zunächst einmal sagen, dass eine eigenverantwortliche Schule in Zukunft ohne die Mitarbeit der Eltern völlig unmöglich erscheint. Wir haben als FDP-Fraktion immer die Auffassung vertreten, dass das Bildungssystem nicht nur in Niedersachsen, sondern in der Bundesrepublik insgesamt alleine von der Schule nicht mehr in die richtige Richtung zu bringen ist. Wir brauchen die Unterstützung von außen, da gibt es überhaupt keine Frage.“ gen ist. Wir brauchen die Unterstützung von außen, da gibt es überhaupt keine Frage. In Niedersachsen ist in der Vergangenheit ja auch schon der eine oder andere erfolgreiche Versuch gestartet worden, indem sich Eltern in die Schulgestaltung mit eingebracht, beispielsweise Elternschulen eingerichtet und ihr Kind auf seiner Schullaufbahn begleitet haben. 70 te dort feststellen, dass unsere Gesamtkonferenzen häufig unbeweglich und schwerfällig waren. Da wünsche ich mir ein effektiveres Arbeiten für die Zukunft. Deswegen begrüße ich die Idee der Einrichtung eines Schulbeirates. Das kann ein Gremium sein, das sich aus wenigen Personen zusammensetzt, allerdings begleitet von allen, die in Schule involviert sind. Es Busemann/Eckel/Klare/Korter/Schwarz: Bildungspolitik in Niedersachsen Blindtext müssen Eltern dabei sein, Schülerinnen und Schüler, es müssen natürlich Lehrerinnen und Lehrer dabei sein, weiterhin der Schulträger, und ich halte es auch für richtig, dass man jemanden von außen hinzuzieht, der sein Know-how nicht allein aus dem Bildungsbereich, sondern eben auch aus dem Bereich der Weiterbildung bzw. von betrieblicher, wirtschaftlicher Seite einbringt und bereit ist, sich für die Schule zu engagieren. Das halte ich insgesamt für sinnvoll. Vielleicht eine abschließende Bemerkung. Ich bin der Überzeugung, dass alle Fraktionen hier übereinstimmend auf dem Weg zu einem guten Konsens sind. Wir wollen alle im Prinzip das Gleiche, doch seitdem Detailfragen herausgearbeitet werden, will jeder für sich ein bisschen Honig saugen; das halte ich für überflüssig. Wir sollten gemeinsam an dieser Aufgabe arbeiten und versuchen, das Vorhaben nach vorne zu bringen. Ich bin mir sicher, dass wir dann auch erfolgreich sein werden. 71 Schule soll heute mehr Eigenverantwortung übernehmen. Im Zuge dieser Verselbstständigung gewinnt Evaluation durch externe Schulinspektoren an Gewicht. In Kooperation mit dem niederländischen Unterrichtsministerium wurde in Niedersachsen ein Modellversuch durchgeführt, der europaweit richtungweisend sein könnte. Im Rahmen des Podiums „EIGENVERANTWORTLICHE SCHULE MIT EXTERNER EVALUATION“ sprachen über ihre Erfahrungen ARMIN LOHMANN, Referatsleiter im niedersächsischen Kultusministerium, GITTA FRANKE-ZÖLLMER, Landesvorsitzende des Verbands Bildung und Erziehung in Niedersachsen, ROB L. SCHOUTEN, Schulinspektor aus den Niederlanden, der zahlreiche Inspektionen auch an deutschen und österreichischen Schulen vorgenommen hat, und HANS-JÜRGEN VOGEL, Vorsitzender des Landeselternrats Niedersachsen. Armin Lohmann Armin Lohmann war 14 Jahre lang Leiter einer hessischen Versuchsschule (Steinwaldschule in Nordhessen). Er ist ausgebildeter Schulentwicklungsberater, Koordinator im Internationalen Netzwerk Innovativer Schulsysteme der Bertelsmann Stiftung und Referatsleiter für schulische Qualitätsentwicklung, Evaluation und eigenverantwortliche Schule im niedersächsischen Kultusministerium in Hannover. Gitta Franke-Zöllmer Gitta Franke-Zöllmer, geb. 1943. Studium der Fächer Deutsch, Englisch, Geschichte für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen. Zunächst als Lehrerin im Primar- und Sekundarstufe-I-Bereich tätig. Später in der Schulleitung eines Schulzentrums. Seit 1997 Schulleiterin einer Grundschule. Landesvorsitzende des Verbands Bildung und Erziehung Niedersachsen (VBE), Mitglied des Bundesvorstands, dort auch Leiterin des Referats Gleichstellung. STATEMENT Armin Lohmann Wir haben einen so genannten Referenzrahmen, einen Orientierungsrahmen für Schulqualität entwickelt, der die Schule als Ganzes definiert und ihre Qualität ausdrückt. In sechs Qualitätsbereichen wird darin genau definiert, was das Land unter einer guten Schule versteht. Wenn wir eine solche Orientierung über Bildungsstandards, zentrale Prüfungen und Vergleichsarbeiten vorgeben, stellt sich natürlich zum einen die Frage, wie die Schule für sich feststellen kann, dass sie sich in diesem Rahmen bewegt, und zum anderen, wie der Staat, also hier das Land Niedersachsen, feststellen kann, dass die Schule diese Qualität auch wirklich nachweist. 72 Es geht also um interne und externe Evaluation. In diesem Zusammenhang haben wir versucht, aus Erfahrungen, die in Modellprojekten gewonnen wurden, ein Verfahren zu entwickeln, das eine systematische Selbstbewertung ermöglicht. Eltern, Schüler und Lehrer sollen für sich selber einschätzen können, ob sie im Sinne dieser Qualitätsorientierung richtig liegen. Dieses Verfahren, „Selbstevaluation in Schule“, kurz SEIS, wurde in Zusammenarbeit mit der Bertelsmann Stiftung entwickelt. Externe Evaluation bezweckt eine Überprüfung und Bewertung des erreichten Qualitätszustands durch den Blick von außen. Zu diesem Zweck haben wir vor knapp vier Jahren begonnen, ein Verfahren zu entwickeln, das in den Niederlanden schon gründlich erprobt ist und darauf hinausläuft, die Schule extern zu prüfen, und zwar unter folgenden Gesichtspunkten: Lohmann/Franke-Zöllmer/Schouten/Vogel: Externe Evaluation Rob L. Schouten Rob L. Schouten war Lehrer und Schulleiter an Schulen in sozialen Brennpunkten in Den Haag und Rotterdam. Er ist Inspektor für Schulen in Utrecht (NL) bei der Inspectie van het Onderwijs, einer Abteilung des niederländischen Bildungsministeriums. Er führt selbst Schulinspektionen im Sekundarschulbereich durch und ist als Projektleiter verantwortlich für die Kontakte der niederländischen Schulinspektion zu deutschsprachigen Ländern. Er hat in verschiedenen deutschen Bundesländern und in Österreich Qualitätsuntersuchungen durchgeführt. Hans-Jürgen Vogel Hans-Jürgen Vogel, geb. 1953. 1972-79 Studium der Chemie, Abschluss Diplom. 1979-87 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Braunschweig, Institut für Organische Chemie. Seit 1992 schulische Elternmitarbeit, ab 1996 Mitglied im Stadtelternrat Braunschweig. 2000-04 dessen Vorsitzender. Ab 2000 Mitglied im Landeselternrat; seit 2003 dessen Vorsitzender. 1. Wie sieht der Qualitätszustand und die Qualitätsentwick- lung der Schule als einzelne aus? 2. Wie wird Lernen und Lehren in der Schule vollzogen, gemessen an dieser Qualitätsorientierung? 3. Wie wird mit den Ressourcen umgegangen? 4. Wie sieht es mit der Zufriedenheit der Abnehmer in dieser Schule aus? In Kooperation mit der Schulinspektion in den Niederlanden wurden Teams für die Schulen ausgebildet, die das Verfahren, das wir uns von den Niederlanden abgeschaut haben, auf niedersächsische Schulkultur und Realität übertragen sollen. Dabei geht es darum, der Einzelschule einen Blick auf ihre jeweilige Qualität zu bieten, die an den vorgegebenen Kriterien gemessen wird. Diese externen Teams sollen der Schule den Stand ihrer Qualitätsentwicklung zurückspiegeln, und dazu erhält die Schule etwa zwei Tage nach dem Besuch des Inspektionsteams eine sofortige Rückmeldung, ein Qualitätsprofil, in dessen Rahmen verschiedene Kriterien mit den Noten eins bis vier bewertet sind. Vier ist die beste Note, eins diejenige, die Entwicklungsbedarf signalisiert. Sechs Wochen später folgt dann ein Inspektionsbericht, in dem im Einzelnen alles genau aufgeführt wird, was das Inspektionsteam festgestellt hat. Dieser Inspektionsbericht dient als Arbeitsgrundlage, als Stimulanzpapier, wenn Sie so wollen, das die Schule für sich nutzen soll, um ihre Stärken weiter zu pflegen, aber auch um Bereiche, in denen sich Entwicklungspotenziale ergeben haben, in Angriff zu nehmen und dafür einen Maßnahmenplan in Abstimmung mit dem Schulprogramm aufzustellen unter der Fragestellung: Wie will sich die Schule hier in den nächsten zwei, drei Jahren weiterentwickeln? 73 Jetzt kommt natürlich der Status der eigenverantwortlichen Schule ins Spiel, und das bedeutet, dass die Schule Rahmenbedingungen braucht, um mit einem solchen externen Evaluationsbericht umzugehen. Sie soll, was das Prozedere, den Umgang mit den Ressourcen, den Personaleinsatz, die Entwicklung innerhalb der Schule betrifft, nicht nur über ein Schulprogramm in kurz-, mittel- und langfristigen Schritten entscheiden, sondern für sich selber Gestaltungsspielräume eigenverantwortlich ausloten. Damit sie dazu in der Lage ist, wird ihr der Status einer eigenverantwortlichen Schule eingeräumt, die für diese Qualitätsentwicklung selbst einzustehen hat. So in Kürze das Modell. Die Inspektion ist seit Mai 2005 eingerichtet und befindet sich nicht mehr in der Modellphase, also der Schulinspektion. Diese wird organisatorisch von der Kernaufsicht getrennt. Ich bin gefragt worden, ob man das nicht besser erst machen sollte, wenn die eigenverantwortliche Schule etabliert ist. Ich denke, wir befinden uns eindeutig in einem Aufbauprozess, und wenn wir jetzt erst jeden einzelnen Schritt abwarten, dann werden uns die Eltern, die Abnehmer, in fünf, sechs Jahren fragen, was wir eigentlich getan haben, weshalb wir in der Qualitätsentwicklung und in der -sicherung noch nicht so weit sind, dass wir erkennen können, wie Schulen mit dem Qualitätsverständnis, das das Land durch die Bildungsstandards vorgibt, umgehen, wie dieses eigentlich umgesetzt wird. Es ist die klare „In allen knapp 200 Schulen, die bisher in Niedersachsen extern evaluiert worden sind, haben wir auch ein Feedback eingeholt. Wir lassen die externen Evaluatoren, die Inspektionsteams, durch die Schule im Sinne einer Rückmeldung bewerten. Die Rückmeldungen ergaben eine generelle Zufriedenheit des Kollegiums und auch der Schulleitung mit dem Evaluationsprozess.“ sondern führt in Niedersachsen bereits ganz regulär externe Evaluation durch. In dem Zusammenhang stehen auch die Qualitätsorientierung und der Status der eigenverantwortlichen Schule. Entscheidung gefällt worden, dass wir mit der Feststellung der Qualität beginnen, um sowohl für die Einzelschulen als auch für das Gesamtsystem zu erkennen, wie und was wir an dieser Stelle umsteuern müssen. Es stellt sich immer die Frage, was zuerst da war, das Ei oder die Henne, oder vielmehr, wie man beginnen soll. Ich denke, es steht einer Landesregierung, einem Minister Busemann ganz eindeutig zu, hier Entscheidungen zu treffen, damit der Prozess der Qualitätsfeststellung und -entwicklung überhaupt beginnt. Zu dieser Grundsatzentscheidung gehört, dass wir mit der Schulinspektion als erstem Schritt beginnen. Das Mutige am Vorgehen Niedersachsens war es, dabei auch Grundsätzliches zu klären. Diese externe Evaluation stellt ja in ganz Deutschland ein völlig neues Verfahren dar. Niedersachsen ist das erste Bundesland, das sich dem so systematisch gestellt hat. Der Orientierungsrahmen ist 2001 zum ersten Mal vorgegeben worden, woraufhin es sehr, sehr viele Rückmeldungen gegeben hat. Wir haben in diesem Punkt von anderen Ländern, z. B. von Skandinavien, Kanada oder Schottland, gelernt, dass es wichtig ist, ein Qualitätsverständnis vorzugeben. Das Land muss sagen, was es unter einer guten Schule versteht. Dieser Orientierungsrahmen wird derzeit revidiert und soll dann wieder ins Land gegeben werden mit der Zielvorstellung, drei Jahre lang einen Dialog zu führen, um anschließend die Erfahrungen, die wir anhand dieses Orientierungsrahmens entwickelt haben, auszuwerten und uns zu fragen, ob man die Verzahnung, die hier vorgenommen worden ist, auch so stehen lassen kann. Unsere Fragestellung war, ob die bisherige traditionelle Schulaufsicht, die berät, die auch so etwas wie Fachaufsicht ist und teilweise Disziplinarrecht hat, gleichzeitig die Qualitätsfeststellung durchführen soll. Wir haben ins Ausland geschaut, wie unsere Nachbarn verfahren – mit den Niederlanden besteht hier schon seit Jahrzehnten eine ganz enge, vertrauensvolle Zusammenarbeit –, und haben sie um Rat und Hilfe gebeten. Das ist der Hintergrund. Es ging nicht darum, die Kulturen abzustimmen oder Ähnliches, sondern wir haben versucht, sehr pragmatisch an diese Frage heranzugehen, und wir haben eine Sache klar entschieden: Schulaufsicht bekommt keine zwei Hüte aufgesetzt, sondern es wird getrennt zwischen der Schulaufsicht im traditionellen Sinne und der externen Evaluation, 74 Was gehört zu dieser Verzahnung? Dazu gehören zum einen die Kriterien der Schulinspektion in Niedersachsen. Das Zweite ist, dass auch für die Selbstbewertung, die Selbstevaluation, die die Schulen ja als Vorbereitung vornehmen sollen, eine Hilfestellung gegeben worden ist, indem man einen Bezug zu Selbstbewertungsverfahren, die sehr systematisch sind, wie FQM oder SEIS, hergestellt hat, damit die Schulen nicht auf eine falsche Ebene geraten. Hier sind klare Entwicklungsstränge angeboten worden. Als Nächstes kommt der Prozess der Unterstützung. Wir haben zur Vorbereitung der eigenverantwortlichen Schulen ganz systematisch ein Qualifizierungskonzept für das Management, für die Schulleitung entwickelt. In diesem Rahmen wird Lohmann/Franke-Zöllmer/Schouten/Vogel: Externe Evaluation Blindtext unter anderem in Qualitätssicherung, in Qualitätsmanagement und in Personalentwicklung eine systematische Ausbildung angeboten, und es ist uns gelungen in den letzten anderthalb Jahren alle Schulleitungsanfänger derart zu qualifizieren. Das werden wir auch weiter betreiben, sodass wir nach und nach – schätzungsweise bis zum Jahr 2008 – dahin kommen, mit dieser Qualifizierung alle Schulen zu erreichen. Was die Professionalisierung der Lehrer betrifft, wollen wir nicht zentral Schritte vorgeben, sondern abwarten, was die Evaluation extern und intern an Bedarf aufdeckt. An dieser Stelle werden wir natürlich auch begleitend eine Qualifizierung anbieten, indem wir Trainerinnen und Trainer für die Professionalisierung des Unterrichts ausbilden, aber auch für Teamarbeit und für andere Schwerpunkte. Das Land hat hier ganz eindeutig eine Umsteuerung in Aussicht gestellt und wird in diesem Bereich in den nächsten Jahren 41 Millionen Euro investieren. Was die Einbindung der Normen und Standards betrifft, befinden wir uns am Anfang eines Prozesses. Wir wollen zunächst einmal Erfahrungen sammeln – in diesem Jahr sollen die ersten 400 Schulen extern evaluiert werden –, dann werden die Ergebnisse ausgewertet, und vielleicht finden wir so einen Weg, wie wir mit Schulen, die unterhalb des Standards oder über dem Standard liegen, umgehen. Die externen Evaluatoren, also die Schulinspektionsteams, schauen sich eine Schule anhand der Qualitätskriterien nach einem ganz systematischen Verfahren an, ohne eine Einzelbewertung vorzunehmen. Die Schule erhält anschließend eine systematische Rückmeldung, wenn ein Entwicklungsbedarf besteht. Das wird in den Bericht geschrieben, und die Schule wird aufgefordert, das für sich in Angriff zu nehmen. Nach einem Jahr erfolgt dann unter Umständen eine Nachinspektion. Andernfalls wird diese externe Evaluation in der Regel erst nach drei bis vier Jahren wieder durchgeführt. Wir haben also noch keine Standardform für Schulen, die sich unterhalb der Norm befinden, wie das z. B. in England der Fall ist, weil der Prozess bei uns erst begonnen hat. Die genaue Kenntnis und Klarheit über den Qualitäts- und Entwicklungszustand der Schule wurde begrüßt. Ihre Zufriedenheit äußerten zwischen 75 und 85 Prozent der Befragten. Das Verfahren erweist sich somit als fair und gibt also genau in unserem Sinne der Schule einen Impuls zur Weiterentwicklung. STATEMENT Gitta Franke-Zöllmer Ich finde es recht spannend, dass sich Niedersachsen nach einem Partnerland umschaut und von dort Bewährtes, in dem Fall die Schulinspektion, übernimmt, obwohl dort ja völlig andere Kultur- und damit auch Schultraditionen vorliegen. Nach PISA haben wir diese Konsequenz ja nicht gezogen, sondern immer gesagt, die Siegerländer seien ganz anders geartet, hätten ein ganz anderes Bildungsverständnis. Das, was in Finnland gelte, könne bei uns gar nicht gelten, wir hätten ganz andere Voraussetzungen. Aber vielleicht sind die Niederländer als unsere Nachbarn da auch angenehmer als der kalte Norden. Das nur zur Einleitung. Ich möchte in zwei Punkten auf das eingehen, was nach den vorliegenden Berichten in der Praxis hierzulande anders ist. Zunächst sind die Lehrerinnen und Lehrer hier in Niedersachsen nicht grundsätzlich gegen eine externe Evaluation, da sind wir uns alle einig. Nur gibt es ein paar Bedingungen, die man damit verknüpfen müsste. Für unseren Verband, den VBE, gilt, dass wir eine Schulinspektion nach Inkrafttreten der eigenverantwortlichen Schule für unterstützenswert halten. Das ist das Erste. Herr Lohmann hat ja gerade ausgeführt, dass die Diskussion um die Einführung der Schulinspektion in engstem Zusammenhang mit der Verwaltungsreform in Niedersachsen steht, nämlich der Auflösung der Bezirksregierung, der Neudefinition der Schulaufsicht. Die neue Schulaufsicht haben wir immer noch nicht definiert, aber als einen Teil davon haben wir „Und jetzt will ich auf den vorliegenden Abschlussbericht zurückkommen. Da heißt es nämlich, dass in den Niederlanden ausführlich darüber diskutiert worden sei, was die Merkmale einer als gute Schule definierten Einrichtung sein sollten. Das finde ich in Ordnung. Mir ist jedoch nicht bekannt, dass wir das bei uns schon einmal öffentlich oder auch in Schulkreisen diskutiert hätten …“ In allen knapp 200 Schulen, die bisher in Niedersachsen extern evaluiert worden sind, haben wir auch ein Feedback eingeholt. Wir lassen die externen Evaluatoren, die Inspektionsteams durch die Schule im Sinne einer Rückmeldung bewerten. Die Rückmeldungen ergaben eine generelle Zufriedenheit des Kollegiums und auch der Schulleitung mit dem Evaluationsprozess. schon einmal die Schulinspektion abgesplittet, die ja nun auch schon seit geraumer Zeit arbeitet. Die eigenverantwortliche Schule ist in der Anhörung, ist also noch gar nicht umgesetzt. Wir haben einen Orientierungsrahmen Bildungsqualität, von dem Herrn Lohmann gesprochen hat, der nie in der Diskussion mit den Lehrerinnen und Lehrern war, der aber Voraussetzung 75 Und jetzt will ich auf den vorliegenden Abschlussbericht zurückkommen. Da heißt es nämlich, dass in den Niederlanden ausführlich darüber diskutiert worden sei, was die Merkmale einer als „gute Schule“ definierten Einrichtung sein sollten. Das finde ich in Ordnung. Mir ist jedoch nicht bekannt, dass wir das bei uns schon einmal öffentlich oder auch in Schulkreisen diskutiert hätten, außer in den Netzwerkschulen. Es gibt Verbünde, die waren immer schon privilegiert, und dort hat das sicherlich stattgefunden, aber für die Mehrheit der Schulen gilt das nicht. Und die Konsequenz daraus, dass es vorher einen breiten Diskurs gegeben hat, ist sicherlich in der Akzeptanz des Verfahrens wiederzufinden, so wie es hier im Abschlussbericht steht. Dort heißt es nämlich, dass „die Qualitätsmerkmale mit den Indikatoren der Gesprächsleitfaden und der Beobachtungsbogen den Schulleitungen und Lehrkräften“, ich betone das ausdrücklich, „bekannt sind und von ihnen auch akzeptiert werden …“. Unter diesen Bedingungen kann ich natürlich auch eine Schulinspektion nach niederländischem Vorbild sofort akzeptieren. Foto: Hannover Messe für die Fragebögen und die Überprüfungskriterien der Schulinspektoren und -inspektorinnen ist. Das heißt, wir fangen mal wieder von hinten an. Wir stecken also nicht erst den Rahmen ab und machen dann, nachdem alles implementiert ist, die Schulinspektion wirklich zum Messinstrument, sondern wir installieren erst die Schulinspektion, und das andere kommt hinterher. Der zweite Punkt, auf den ich hinweisen möchte: Es wurde gesagt, in den Niederlanden habe es schon immer die Schulinspektion gegeben. Nun hatte ja Niedersachsen ein völlig anderes Schulaufsichtssystem. Es gab bei uns nicht nur die Aufsichtsbeamten, die kamen, eine Prüfung abnahmen und zensierten, sondern unsere Schulaufsicht war zu einem großen Teil für die Beratung zuständig. Das haben wir aber schon im ersten Teil der Schulverwaltungsreform teilweise verloren, und in der gegenwärtigen Phase ist es überhaupt nicht mehr vorgesehen. Inspektion und Aufsicht sind in dem neuen Konstrukt voneinander getrennt. Wenn Sie aber voneinander getrennt sind, müssen sie gleichwohl irgendwie zusammenwirken, denn auch in Niedersachsen gibt die Schulinspektion nur einen Bericht. Sie spiegelt das zunächst mal der Schulleitung. Dies ist auch etwas, das auf unser völliges Unverständnis trifft, weil zuvor Gespräche mit allen Gruppierungen geführt werden müssten. Die erste Rückspiegelung erfolgt aber nur an die Schulleitung, an den Schulleiter, die Schulleiterin, und diese alleine sollen auch dazu Stellung nehmen. Beim „forum bildung“, dem zentralen Treffpunkt auf der „didacta – die Bildungsmesse“, diskutierten an allen Messetagen verantwortliche Bildungsminister, bekannte Erziehungswissenschaftler und Lernmethodiker, Bildungsforscher sowie Lehrer- und Elternvertreter. Das Gleiche gilt für die Unterstützungsmaßnahmen. Das Einzige, was wir bislang haben, ist ein Programm zur Fortbildung der Schulleiterinnen und Schulleiter. Nun kann man sich ja vorstellen, dass man bei einer Zahl von etwa 3500 Schulen die Schulleiterinnen und Schulleiter alle entsprechend vorbereiten muss. Berücksichtigt man zusätzlich die nicht geringe Fluktuation, wird das Potenzial der fortzubildenden Schulleiterinnen und Schulleiter von Jahr zu Jahr höher. Ich habe also nicht nur die schon im Dienst Befindlichen fortzubilden, sondern diejenigen, die jedes Jahr dazukommen, auch wieder neu. Das scheint mir auch für das NiLS (Niedersächsische Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung) ein Problem zu sein, und es ist auch eine Ressourcenfrage, wie man das in annehmbarer Zeit umsetzen kann. Das will ich gar nicht in Abrede stellen. Aber man muss die Wirklichkeiten sehen. Es steht gar nichts von der Fortbildung der Lehrerinnen und Lehrer im Programm. Und es gibt auch noch keine Einrichtungen dafür. Unsere bestehende regionale Fortbildung ist in ihrer Existenz noch immer bedroht. Sie macht zwar noch Angebote, aber was daraus zukünftig werden soll, wenn die Schulverwaltungsreform bis zum Ende durchgeführt ist, weiß niemand. Das heißt, hier fehlt eine ganze Reihe von Bedingungen, in deren Rahmen eine Schulinspektion allererst einen Sinn ergäbe. 76 Warum werden aber zuvor nicht auch die Kollegen, der Personalrat, Eltern, Schülerinnen und Schüler gefragt? Traut man sich nicht, oder ist das zu viel Arbeit? Dies alles sind Dinge, die wir in der Anhörung noch zu klären haben. Zudem ist die Transparenz, die ja wohl auch im niederländischen Schulwesen in Bezug auf die Inspektion vorhanden ist, in Niedersachsen noch nicht erkennbar. Diese wünschen wir uns sehr, damit wir auch wissen, nach welchem System man die Schulen aussucht, die Lohmann/Franke-Zöllmer/Schouten/Vogel: Externe Evaluation Blindtext inspiziert werden. Wird gewürfelt, oder bestimmt jemand, welche Schule angeschaut wird? Wenn alle Schulen erfasst werden sollen, muss doch ein transparentes System vorhanden sein, das regelt, wie das Ganze erfolgen soll. Und je weniger Transparenz vorhanden ist, desto mehr Unzufriedenheit herrscht an der Basis. Ich kann nur immer wieder auf diese Stellen aus dem Abschlussbericht der Niederlande verweisen, wo es heißt, dass dort alles vorher geregelt wurde. Hier besteht bei uns enormer Nachholbedarf. Auf einen pikanten Punkt will ich noch verweisen: Bei uns heißt es, die Schulinspektion stelle fest, wenn eine Schule unter dem Standard liege. Aber nehmen wir einmal an, man findet eine Schule, auf die das zutrifft. Dann muss sich die neue Schulaufsicht mit dem Schulleiter oder der Schulleiterin in Verbindung setzen, und man hat gemeinsam zu überlegen, wie der Mangel behoben werden kann. Es heißt, dass man in diesem Fall auf Unterstützungsmaßnahmen zurückgreifen soll. Auf welche denn, Herr Lohmann? Aber gehen wir einmal davon aus, diese seien vorhanden, dann kommt in einem Jahr oder eineinhalb die Schulinspektion wieder und überprüft das Ganze. Was passiert, wenn das Ergebnis im schlimmsten Fall wieder negativ ausfällt? Dann, so steht es im Schlusssatz, veranlasst die neue Schulaufsicht das Nötige. Was das sein könnte, darauf sind wir alle sehr gespannt, und damit will ich hier schließen. STATEMENT Rob L. Schouten Ich freue mich über die Gelegenheit, hier etwas über die Zusammenarbeit mit Niedersachsen erzählen zu können. In Holland hat die Schulinspektion eine 200-jährige Tradition seit der napoleonischen Zeit, aber erst seit zehn Jahren haben wir unser Verfahren geändert. Der Anlass dafür, nach 190 Jahren anders zu arbeiten, waren Anfragen im Parlament infolge der In einem solchen Fall wird sofort die Schulinspektion gefragt, ob sie darüber informiert ist. Wir mussten die Antwort schuldig bleiben. Wir wussten nichts davon, weil die Kontakte zwischen Schule und Schulinspektion damals noch anders aussahen. Oft ist der Schulinspektor nur bis ins Zimmer des Direktors gelangt und nicht weiter. Was in den Klassenräumen stattfand, ahnten wir zwar, aber wir konnten darüber keine fundierte Auskunft geben. Folglich hat die Inspektion ein Instrumentarium entwickelt, um sofort mit einer integralen Messung von Schulqualität beginnen zu können. Wir haben uns dabei an vergleichbaren Arbeiten orientiert, die in England und Schottland durchgeführt worden waren. Seit 1996 werden in den Niederlanden die 7000 Schulen im Primarbereich, die 1400 im Sekundarbereich und die 70 Schulen im berufsbildenden Bereich systematisch alle vier Jahre auf ihre Stärken und Schwächen hin inspiziert. Eine Frage, die ich in Deutschland häufig höre, ist, ob man Unterrichtsqualität überhaupt messen kann. Für uns ist die Frage längst beantwortet, wir sagen vollmundig: Ja. Wir veröffentlichen die Berichte, die nach den Schulbesuchen geschrieben werden. Alle Eltern können sich im Internet darüber informieren. Man kann beispielsweise alle Gymnasien in einer Stadt abfragen und genau nachlesen, welche Abiturergebnisse eine Schule hat, wie die Qualität der Lernprozesse in einer Schule bewertet ist und ob eine Steuerung der Unterrichtsqualität, also Qualitätsmanagement, stattfindet. Die große Angst hier in Deutschland ist, was passieren wird, wenn der Inspektor kommt. Die Lehrer zittern, die Schulleitung ist unsicher in Bezug auf das Ergebnis. Hat Schulinspektion überhaupt Einfluss auf die Verbesserung von Schulqualität? Auch da kann ich aus unserer zehnjährigen Erfahrung sprechen. Wir in den Niederlanden haben gemerkt, dass durch die Inspektionen mehr Konkurrenz zwischen den Schulen entstanden ist. Besonders die Schulen in den gehobenen Wohngegenden haben große Angst, dass ihnen aus den Inspektorenbesuchen und der Veröffentlichung der Ergebnisse im Internet Nachteile erwachsen. Also tut jede Schule ihr Möglichstes, um sich zu verbessern. Positiv gewendet ist das eine Anregung, eine Stimulation zur Qualitätsentwicklung. „Viele Lehrer befürchten, wie wollten den einzelnen Lehrer beurteilen. Das resultiert aus der hier zu Lande bestehenden Tradition von Schulaufsicht. Doch es ist wichtig zu betonen, dass Schulinspektion nichts mit Schulaufsicht zu tun hat. Wir legen den Fokus nicht auf den einzelnen Lehrer, vielmehr wollen wir einen Eindruck von der Qualität des Lernprozesses gewinnen.“ Krise in einer kleinen holländischen Primarschule an der deutschen Grenze. Die Ministerin ist seinerzeit gefragt worden, ob ihr bekannt sei, dass in einer bestimmten Schule schwache Qualität geboten wird, dass Eltern unzufrieden sind und Ähnliches. Nun zu den Unterrichtsstunden. Viele Lehrer befürchten, wie wollten den einzelnen Lehrer beurteilen. Das resultiert aus der hier zu Lande bestehenden Tradition von Schulaufsicht. Doch es ist wichtig zu betonen, dass Schulinspektion nichts mit Schul- 77 aufsicht zu tun hat. Wir legen den Fokus nicht auf den einzelnen Lehrer, vielmehr wollen wir einen Eindruck von der Qualität des Lernprozesses gewinnen. Unsere Fragestellung lautet: Ist man an dieser Schule pädagogisch auf einem guten Weg, herrscht hier ein stimulierendes Klima, wird man als Schüler ermuntert und motiviert, ist die Qualität des methodischen Vorgehens in Ordnung, gibt es nur Frontalunterricht wie früher in den Niederlanden, oder kann man eine gewisse Abwechslung erkennen, werden die neuen Medien eingesetzt? Hinterher kommt dann die Rückmeldung, indem wir beispielsweise berichten: Diese Schule ist pädagogisch auf dem richtigen Weg, aber nicht so stimulierend, wie sie sein könnte. An einer anderen Schule ist der Unterricht im Allgemeinen gut, es wird gut erklärt, aber es gibt zu wenig methodische Abwechslung, da könnte man sich noch verbessern. Solcher Art ist unser Feedback, eine Drohung gegenüber einzelnen Lehrern ist ganz ausgeschlossen. Was kommt nun nach dem Besuch? Das berührt die Frage der Unterstützung. In Deutschland scheint mir hier noch Bedarf vorhanden zu sein. Das Land Niedersachsen hat eigens ein Budget, damit Schulen sich Unterstützung einkaufen können. In Holland ist es üblich, dass jede Schule ihr eigenes Budget hat, um sich nach dem Besuch der Schulinspektion Hilfe bei Fortbildungsinstituten einkaufen zu können. Ich will aber auch nicht verschweigen, dass viel Entwicklungspotenzial in den Schulen selber steckt. Ich habe Schulen in Göttingen, in Oldenburg, in Osnabrück gesehen und in vielen Schulen sehr interessante Lehrer getroffen, die auch für ihre Kollegen wegweisend wirken könnten. Man muss gar nicht immer auf kostenintensive Hilfe von oben hoffen: Es steckt häufig viel – manchmal verborgenes – Potenzial in den Schulen selbst. Ich möchte noch kurz auf einige Punkte eingehen, die uns hinsichtlich der Unterrichtsqualität im Vergleich zwischen Niedersachsen, aber auch Nordrhein-Westfalen und den Niederlanden aufgefallen sind. Die Zeit, die ein Schüler im Unterricht verbracht hat, ist in den Niederlanden bei 15-Jährigen um 20 Prozent höher als in Deutschland. Das hat damit zu tun, dass unsere Kinder schon mit vier, fünf Jahren in eine Privatschule gehen und dort seriösen Unterricht bekommen. Zwar spielen sie auch, aber es wird abgewechselt mit Rechnen und Sprachunterricht in der Muttersprache. Alle Schulen in Holland haben auch Ganztagsunterricht, und am Nachmittag wird nicht nur gespielt, sondern auch richtig gelernt. Zweitens ist die Rolle der Schulleitung in Deutschland eine wesentlich andere als bei uns. In den Niederlanden gibt es ein Schulmanagement, das für die Qualität des Unterrichts einer Schule verantwortlich ist. Hier ist eigentlich der Schulleiter mehr Primus inter Pares, ein Kollege unter Kollegen. Aber er ist auch der Vorgesetzte der Lehrer. Dadurch können wir immer, wenn wir zur Inspektion kommen, den Manager im Hinblick auf die Schulqualität ansprechen. Letztendlich sind die deutschen Lehrer zwar auf dem Weg dorthin, aber bei uns ist man hier 78 schon weiter fortgeschritten. Beispielsweise ist die Fachkonferenz in Holland sehr verpflichtend. Alle Englischlehrer treffen eine Absprache über ihr Programm, haben longitudinale und vertikale Ziele, Vereinbarungen darüber, wie auf dem Weg von Stufe 1 nach Stufe 10 vorzugehen sei; diese Ziele sind auch verbindlich. Am Ende stehen landesweite Zentralprüfungen für die Realschule, für die Hauptschule und das Zentralabitur. Jeder kann bei uns im Internet nachschauen, wie die Ergebnisse der einzelnen Schulen ausgefallen sind. Die Eltern nutzen das und schauen genau hin, ob eine Schule gut oder nicht gut ist. STATEMENT Hans-Jürgen Vogel Ich muss mich im vorab dafür entschuldigen, dass Sie nun einiges vielleicht doppelt hören werden, aber das geht leider nicht anders. Im Grundsatz finden wir Eltern Schulinspektion gut, wir haben dazu auch entsprechend Stellung genommen. Aber wir wollen damit nicht die Lehrkräfte kontrollieren, sondern unserer Ansicht nach sollte dadurch das System Schule in Augenschein genommen werden, wie es arbeitet, wie es zusammenarbeitet, wie es insgesamt wirkt und wie gut die Input-Steuerung des Landes die Lehrkräfte, die dort arbeiten, erreicht, wie gut sie es den Schülern vermitteln, was dabei herauskommt. Es geht nicht um den Blick, den Fokus auf die einzelne Lehrkraft, sondern um den Fokus auf die gesamte Schule. Dass eigenverantwortliche Schule dazugehört, hat Herr Lohmann bereits gesagt. Ich könnte ebenfalls noch eine Menge dazu sagen, weil wir Eltern uns in dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf sehr übergangen fühlen, aber es wurden noch andere Punkte angesprochen, der Orientierungsrahmen Schulqualität etwa, der nirgendwo diskutiert worden ist. Er existiert seit 1999, danach wird jetzt inspiziert. Die Frage ist aber, ob die Merkmale, die darin stehen, mit allen Beteiligten abgesprochen worden sind, ob jeder über das Gleiche redet, wenn man sich ein Qualitätsmerkmal ansieht. Das müsste auf jeden Fall in nächster Zeit diskutiert werden. Wenn man den Schulen sagt, dass sie in bestimmten Bereichen nicht so gut arbeiten, dann muss man ihnen dort auch Hilfe anbieten. Das fordern wir schon seit Längerem. Wir brauchen dringend ein Beratungs- und Unterstützungssystem. Wir können nicht mit der Kontrolle, mit der Inspektion anfangen, ohne den Lehrkräften und der Schulleitung ein Hilfesystem an die Hand zu geben. Das wird jetzt an dem Modellprojekt mit Bertelsmann deutlich: Wir haben für die etwa 25 Schulen, die in Braunschweig im Bertelsmann-Projekt mitarbeiten, zwei Schulentwicklungsberaterinnen. Wenn wir das einmal auf das Land hochrechnen, wie viele Schulentwickungsberater und -beraterinnen bräuchten wir dann? Ist das überhaupt realistisch? Wie gut kann dieses Unterstützungssystem arbeiten? Lohmann/Franke-Zöllmer/Schouten/Vogel: Externe Evaluation Blindtext Ich bin mir sicher, dass wir am Anfang, wenn die ersten ein, zwei Runden der Inspektion laufen, erhöhten Bedarf haben werden. Und nicht jede Schule wird die Mängel, die man feststellt, auch aus eigener Kraft beheben können. Damit kommen wir zu einem weiteren Punkt, den Herr Lohmann und Herr Schouten nicht ausgeführt haben, der aber sehr häufig von der Spitze des Hauses zitiert wird. In den Niederlanden liegen drei bis fünf Prozent der Schulen unterhalb der Qualitätsnorm. Ist das jetzt eine Vorgabe für Niedersachsen, oder gehen wir einmal ganz objektiv an die Sache heran und schauen, wo sich überall Mängel finden. Und was passiert, wenn wir bei zehn, fünfzehn Prozent unter dem Strich ankommen sollten? Wird dann irgendwo bei fünf Prozent gedeckelt? Das kann es auch nicht sein, denn in diesem Fall könnten wir uns unsere Schulinspektion auch sparen. Wir brauchen wirklich eine ganz objektive Herangehensweise, wir müssen sehen, wo überall Mängel liegen, und den Schulen muss an dieser Stelle geholfen werden. „Wenn man den Schulen sagt, dass sie in bestimmten Bereichen nicht so gut arbeiten, dann muss man ihnen dort auch Hilfe anbieten. Das fordern wir schon seit Längerem. Wir brauchen dringend ein Beratungs- und Unterstützungssystem. Wir können nicht mit der Kontrolle, mit der Inspektion anfangen, ohne den Lehrkräften und der Schulleitung ein Hilfesystem an die Hand zu geben.“ 79 Im längeren gemeinsamen Lernen aller Schülerinnen und Schüler liegt die Chance, Heterogenität – zum Beispiel bei der Leistung – pädagogisch zum Vorteil aller zu nutzen. Wie und warum wird dies im PISASiegerland Finnland in die Tat umgesetzt? Und wie könnte ein neues Modell aussehen, das der Debatte um die Schulzeitverkürzung Rechnung trägt und dennoch längere gemeinsame Lernzeiten vorsieht? Von Finnland aus warf RAINER DOMISCH vom finnischen Zentralamt für Unterrichtswesen in Helsinki einen Blick auf das deutsche Schulwesen; sein Diskussionspartner auf dem Podium war EBERHARD BRANDT, Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Niedersachsen. Gemeinsam stellten sie sich dem Thema: „WIE LANGE GEMEINSAM LERNEN? NEUE ERKENNTNISSE UND NEUE ANSÄTZE ZU EINER ALTEN STREITFRAGE“. Rainer Domisch Rainer Domisch, geb. 1945 in Schwäbisch Hall. Lehrerstudium in den Fächern Deutsch und Englisch. Lehrer im baden-württembergischen Schuldienst. 1979-89 Entsandter Lehrer der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen an der Deutschen Schule in Helsinki. 1989-91 Rückkehr in den Schuldienst in Baden-Württemberg. Seit 1991 Entsandter Fachberater für Deutsch im Rahmen der deutschen auswärtigen Kulturpolitik. Seit 1994 in der obersten Schulbehörde Finnlands, dem Zentralamt für Unterrichtswesen in Helsinki, zuständig für Lehrerfortbildungsmaßnahmen für Deutschlehrer in Finnland. Eberhard Brandt Eberhard Brandt, geb. 1951. Gesamtschullehrer seit 1978 an der Heinrich-Nordhoff-Gesamtschule in Wolfsburg. Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Niedersachsen seit 2003. Mitglied des Schulhauptpersonalrats. STATEMENT Rainer Domisch Zunächst möchte ich die besten Grüße aus Helsinki vom finnischen Zentralamt für Unterrichtswesen, dem finnischen Ministerium für Erziehung, überbringen und möchte Ihnen sagen, dass Sie hier eine ganz fantastische Messe haben. Das würde sicher auch viele finnische Schüler und Lehrer und viele meiner Kollegen interessieren. Auf die Frage, wo das deutsche Schulsystem steht, kann ich natürlich wenig sagen. Ich kann Ihnen schildern, wo das finnische steht. Das finnische Schulsystem stand vor 40 Jahren auch dort, wo das deutsche heute steht. Inzwischen führt man in Finnland keine Strukturdiskussionen mehr, weil man die Schule 80 für alle weit fortentwickelt hat und weiter fortentwickeln wird. Nach den für Finnland unerwarteten positiven Ergebnissen von PISA sieht man keine Notwendigkeit, zu etwas zurückzukehren, was sich historisch nicht bewährt hat. Ich meine das gegliederte System. Ich glaube, dass ein integriertes Schulsystem über kurz oder lang auch in Deutschland das allgemeine System darstellen wird. Es ist eine Frage der Zeit. Genauso wenig wie man heute die Wahlrechte von Frauen oder Bürgern einschränken kann, genauso wenig kann man Bildung für alle durch Systeme in verschiedenen Bildungsebenen erreichen. Bildung gehört allen, und man muss alle Kinder und alle Schüler eines Schülerjahrgangs so weit bringen wie nur möglich. Der Umbau des finnischen Bildungssystems hat seinerzeit dort angefangen, wo die Frage gelöst werden muss, nämlich im Parlament. Strukturfragen sind eine politische Angelegenheit, und Domisch/Brandt: Wie lange gemeinsam Blindtext lernen? es gab in den 1960er-Jahren einen breiten parlamentarischen Konsens einer bürgerlich-sozialdemokratischen Regierung darüber, eine Schule für alle einzuführen. Es hat dann fünf Jahre gedauert, von 1972 bis 1977, bis man die Schulreform abgeschlossen hatte; angefangen hat man in Lappland, wo die wenigsten Menschen wohnen und damit auch der geringste Widerstand zu erwarten war, und geendet 1977 in Helsinki. Die Peruskoulu, das ist eine Grundschule für alle von Klasse 1 bis 9, ist bis zum heutigen Tag die Schule in Finnland und wird es auch bleiben. Kein Mensch hat Sehnsucht nach der früheren Differenzierung. Man hat dann in den 1980er-Jahren die äußere Differenzierung, also die Kursniveaudifferenzierung, als Norm abgeschafft, weil durch diese Differenzierungsformen die Gliederung durch die Hintertür wieder eingeführt wurde, und seither gibt es diese Niveaus nicht mehr. Die neue Schulform wurde von der Bevölkerung in der Mehrheit angenommen und ist bis zum heutigen Tage die einzig akzeptierte Form. Man kann sich gar nichts anderes mehr vorstellen. Doch in den 1970er-Jahren, vor allem während der Einführungsphase, wurde sie von Eltern mit akademischem Bildungshintergrund und von Gymnasiallehrern sehr heftig bekämpft. Man sagte eine Nivellierung und ein Absinken der Leistungsfähigkeit der Schulen voraus. All das hat sich nicht bewahrheitet, ganz im Gegenteil. Man hat durch Evaluierungen über Jahrzehnte hinweg festgestellt, dass das Leistungsvermögen aller Schüler eher zugenommen hat; und die PISA-Studie war insofern keine große Überraschung, weil man durch Evaluierung nun schon sehr lange weiß, was Schulen und was Schüler zu leisten imstande sind. Man hat sich am Anfang – und das ist glaube ich ein wesentlicher Bestandteil der finnischen Bildungsplanung – ständig an der Zukunft orientiert, nicht an der Vergangenheit, denn wenn Kinder heute eingeschult werden, dann nützt ihnen der heutige Zustand der Gesellschaft relativ wenig, sondern man muss vorausplanen, wie die Umgebung in 15, in 20 oder 25 Jahren aussehen wird. Deshalb hat man Anfang der 1990er-Jahre im Zuge der Schulreform die Zuständigkeit, auch die inhaltliche, den Kommunen übertragen. Seither sind die Kommunen bzw. die Schulen die Organisatoren von Bildung. Der Staat hat sich aus der Schulaufsicht zurückgezogen. Anfang der 1990er-Jahre wurde die Schulinspektion abgeschafft, was übrigens auf Anraten der Schulinspektoren selbst geschah, die festgestellt hatten, dass Schulinspektion, wie sie damals durchgeführt wurde, zu keiner Qualitätsverbesserung an den Schulen selbst führte. Eine solche müsse vielmehr durch die Schulen, durch den Schulträger, die Lehrer, die Schüler und die Eltern erfolgen und könne nicht von außen gesteuert werden. Ein Instrument der Qualitätsverbesserung ist die Evaluierung, die sich in Finnland seit etwa Anfang der 1990er-Jahre als Bildungsplanung durch Weitergabe von Information versteht, also durch die Weitergabe der Evaluationsergebnisse, die keine Rangliste der Schulen vorsieht, anders als in Schweden und in Norwegen. Finnland würde einen solchen Weg nie gehen, auch das gehört zur Qualitätsentwicklung. Es gibt ein schönes finnisches Sprichwort: „Man lernt zwischen den Ohren“, also die Menschen müssen erst selbst lernen. Man kann nicht für sie etwas lernen oder ihnen etwas vorgeben – sie müssen es selbst tun. Und das klappt auch ganz gut. Doch es ist notwendig, ständig aktiv zu sein durch Evaluierung wie auch Selbstevaluierung und den Schulen Mut zu machen, sich zu entwickeln. Noch einmal zurück zu den Ranglisten. In Finnland wird der Landesdurchschnitt bei den nationalen Evaluierungen veröffentlicht und in der Öffentlichkeit, in den Medien auch sehr stark beachtet. Aber es gibt keine Ranglisten, sondern die Schulen bekommen den Landesdurchschnitt und ihre eigenen sehr, sehr differenzierten Ergebnisse mitgeteilt. Auf dieser Grundlage sind die Schulen verpflichtet, ihre Schule und die Qualität weiter zu entwickeln, und das hat dazu geführt, dass die Qualitätsunterschiede zwischen den Schulen in Finnland am allergeringsten sind von allen OECD-Ländern. Man hat mit der Schulreform in den 1970er-Jahren auch die Bildungsfinanzierung auf neue Beine gestellt. Die Schulbildungsfinanzierung erfolgt bezogen pro Schüler, und zwar in einer Mischfinanzierung des Staates und der Kommunen. 57 Prozent dessen, was ein Schüler kostet, bekommt die Kommune vom Staat, und 43 Prozent muss sie in der Regel selbst aufbringen. In Finnland gibt es direkte Kommunalsteuern. Man kann im 81 Internet nachgucken, was ein Schüler in einem Dorf in Lappland kostet, das sind etwa 12 000 Euro in einer kleinen Schule, und ein entsprechender Schüler in Helsinki kostet vielleicht nur 3200 Euro. Allerdings bekommen die Kommunen dann für Schüler mit pädagogischem Sonderbedarf oder für Kinder mit einer anderen Muttersprache mehr zugewiesen, mehr Ressourcen, damit mehr Personal eingestellt werden kann bzw. kleinere Gruppen gebildet werden können. Grundsätzlich sind Schüler in der Grundstufe teurer. Die Gruppen sind kleiner als in den Gymnasien, und es wird auch mehr Personal für Stütz- und Fördermaßnahmen eingestellt. Für das Fundament, um eine ordentliche Bildungspopulation zu bekommen, braucht man also mehr finanzielle Mittel. nicht vorgeschrieben, anders als etwa in Schweden, wo es ja eine Präsenzpflicht für alle Lehrer bis 16 Uhr gibt und die Schulen Lehrerarbeitsplätze einrichten. Ich kenne viele finnische Lehrer, die ganz gerne einen Freiraum für sich beanspruchen und zu Hause arbeiten, aber ich kenne wieder andere, die, wenn sie aus der Schule kommen, lieber alles fertig haben möchten und wissen, dass zu Hause der Feierabend anfängt. Einen Anspruch auf Lehrerarbeitsplätze in der Schule gibt es nicht, aber viele Kommunen richten so etwas ein. Schulleitung und Kommune, der Schulträger, sprechen sich ab, wie man das in den Schulen handhabt. Auch in Finnland klagen die Kommunen über zu geringe Mittel und Ressourcen, doch es spricht niemand darüber, das kostenlose warme Mittagessen in allen Schulen von Klasse 1 bis 12 infrage zu stellen. Niemand denkt daran, die Lernmittelfreiheit, die auch Utensilien umfasst, von Klasse 1 bis 9 abzuschaffen. Wenn jemand das infrage stellte, würde er aus der Reihe derer ausscheren, die Bildung als ein wichtiges gesellschaftliches Gebiet ansehen, und das würde in der Bevölkerung nicht akzeptiert. Daher vertritt niemand solche Ansichten. Erzieherinnen in dem Sinne wie in Deutschland gibt es in Finnland nicht mehr. Man spricht dort von Kindergartenlehrern oder -lehrerinnen, die an der Universität ausgebildet werden und in Erziehungswissenschaften den Magisterabschluss haben. Daneben gibt es die Grundschullehrer- oder Klassenlehrerausbildung für die Klassen 1 bis 6. Das wird in Zukunft mit den Fachlehrern etwas mehr integriert werden. Die Lehrer werden ebenfalls an den Universitäten ausgebildet und müssen in einem Fach ihren Magisterabschluss haben. Sie unterrichten etwa fünf bis sechs Fächer, aber schwerpunktmäßig dieses eine Fach als Hauptfach. Daneben gibt es Fachlehrer, die von Klasse 7 bis 12 unterrichten. Was mich immer erschüttert, wenn ich nach Deutschland komme oder deutsche Zeitungen aufschlage, ist die völlig unsinnige Einrichtung kommerzieller Nachhilfe, wofür die Eltern bezahlen müssen, zusätzlich zu den Steuern, die sie ja für den Unterhalt der Schulen aufzubringen haben. Das würden sich die Eltern in Finnland nicht gefallen lassen. Ich glaube, man nimmt hier einfach zu viel hin. In der Lehrerausbildung ist ständig etwas in Bewegung. So hat man zum Beispiel das Referendariat, wie es in Deutschland existiert, vor ein paar Jahren ersatzlos gestrichen, weil man die Fortbildung der Lehrer als lebens- oder berufsbegleitend ansieht und nicht innerhalb von eins, zwei Jahren als abgeschlossen betrachten möchte. Die Lehrer bekommen drei unterrichtsfreie Tage im Schuljahr als Pflichtfortbildungstage, aber die meisten „Auch in Finnland klagen die Kommunen über zu geringe Mittel und Ressourcen, doch es spricht niemand darüber, das kostenlose warme Mittagessen in allen Schulen von Klasse 1 bis 12 infrage zu stellen. Niemand denkt daran, die Lernmittelfreiheit, die auch Utensilien umfasst, von Klasse 1 bis 9 abzuschaffen. Wenn jemand das infrage stellte, würde er aus der Reihe derer ausscheren, die Bildung als ein wichtiges gesellschaftliches Gebiet ansehen, und das würde in der Bevölkerung nicht akzeptiert.“ 82 In Finnland sind etwa 10 Prozent der Schulen gebundene Ganztagsschulen, wie das hier zu Lande wohl heißt, aber 90 Prozent dauern halt den ganzen Tag – mit warmem Mittagessen. Und man diskutiert nicht darüber, wie das generell organisiert wird oder wie lange die Schüler bleiben müssen usw., sondern das kann jede Schule nach Bedarf selbst einrichten. In einer ländlichen Schule wird es anders aussehen als in einer Industriestadt oder in einer Großstadt. absolvieren aus eigenem Interesse sehr viel mehr Fortbildung. Sie tun dies aber auch, um sich qualitativ fortzubilden, um also etwa als Grundschullehrer ein Fachstudium zu absolvieren oder umgekehrt. Es gibt auch kein sonderpädagogisches Grundstudium mehr. Ich kenne einige Fachlehrer oder Gymnasiallehrer, die ein sonderpädagogisches Zusatzstudium machen, berufsbegleitend an den Fortbildungsabteilungen der Universitäten. Im Grunde ist eben alles möglich. Für die Lehrer gibt es teilweise Arbeitsplätze an den Schulen, aber manche arbeiten auch lieber zu Hause. Das ist ebenfalls Das Strukturmodell halte ich für interessant und für eine Entwicklungsmöglichkeit. Es kommt allerdings nicht darauf an, Domisch/Brandt: Wie lange gemeinsam Blindtext lernen? Gymnasium gestellt. Anforderungen, die eigentlich an Schüler gestellt werden müssten, damit sie sich entwickeln können, werden aber von ihnen ferngehalten. Da heißt es etwa, die Hauptschule besuchten diejenigen, die mehr praxisorientierte Foto: VdS Bildungsmedien wie eine Institution heißt, sondern wie darin gearbeitet wird. In Finnland werden Kinder mit sieben Jahren eingeschult, und kein Mensch denkt darüber nach, diese Einschulung vorzuziehen oder Kinder früher einschulen zu wollen. Es gibt ein flächendeckendes Kindertagesstättennetz, alle Kinder sind irgendwo in Familienbetreuung oder in Kindertagesstätten. Schon allein, weil über 80 Prozent der Frauen arbeiten müssen und wollen. Die Vorschule existiert in Finnland als Einrichtung erst seit dem Jahre 2001. Es gab immer schon Vorschulunterricht in den Kindertagesstätten, nur wurden im Jahre 2001 Standards geschaffen, nach denen die Vorschuleinrichtungen und Kindertagesstätten nun vorgehen müssen. Es gibt verschiedene Lernfelder, die aber vor Ort selbst gefüllt werden müssen. Natürlich können 50 Prozent der Kinder, wenn sie in die erste Klasse kommen, lesen oder schreiben, aber es spielt ja keine Rolle, niemand würde bei uns darauf drängen, früher mit der Schule beginnen zu müssen. Ich glaube, es wäre viel wichtiger, die Kinder länger zusammen lernen zu lassen, also bis zur 8. oder 9. KlasIm Vergleich zwischen den beiden Schulsystemen Finnlands und Deutschlands se, um ebendas zu erreichen, was meine finnischen Kolwurde u. a. die Frage „Wie lange gemeinsam lernen?“ beleuchtet. legen – die Experten von der Evaluierung, die sich seit vielen Jahren damit beschäftigen – beschreiben. Sie antworten auf Fragen von deutschen Gästen sehr zurückhaltend, dass man keine gute Qualität in die Schulen bekomme, Bildung brauchten; gewisse andere Bildungsansprüche stellt wenn man zu früh selektiert. Das war der eine Punkt, und der man an sie gar nicht mehr. Und man orientiert sich an einem zweite ist: Man bekommt keine ausreichende Qualität, wenn merkwürdigen Mittelmaß und Mittelstandard, der auch auf man Bildung auf verschiedene Stufen verteilt, also Standards dem Gymnasium dazu führt, dass die Schüler, die mehr Entschulartbezogen festschreibt. Standards sollten auch keine Min- wicklung vertragen könnten, ausgebremst werden. Ich sehe keideststandards sein, sondern Standards der guten Kompetenz nerlei positive Konsequenzen aus den Ergebnissen von PISA, müssen für alle Schülerinnen und Schüler eines Jahrgangs gel- aber auch aus der alten qualitativen Schulforschung in der ten, wodurch sowohl die guten Schüler als auch die schwachen Bundesrepublik Deutschland. Schüler besser werden. Wenn man das nicht macht, dann werden die guten nicht besser und die schwachen werden eher Was also müsste sich alles ändern? Die Schülerinnen und Schüschlechter. ler an den Hauptschulen unseres Landes sind nicht etwa dort, weil sie weniger begabt wären als andere, sondern weil sie aufgrund ihrer soziokulturellen Herkunft sich selbst zu wenig zutrauen und weil sie zu wenig Mut haben, sich Leistungsanforderungen zu stellen. Eine solche Selbstattribuierung beginnt, wie man nach allen Bildungsuntersuchungen weiß, schon in der Kindergartenzeit, in der Zeit der ElementarbilDie im Titel unserer Veranstaltung formulierte Frage würde ich dung. Schon dort fühlen diese Kinder sich abgehängt. Die gerne in zwei Teilen beantworten. Der niedersächsische Kultus- Untersuchungen von IGLU zeigen, dass die Grundschule es zwar minister Busemann hat gesagt, man würde ab jetzt nie wieder nicht vermag, soziale Unterschiede auszugleichen, dass sie aber über Schulstrukturen reden. Diese Debatte sei ein für allemal denjenigen hilft, die mit Diskriminierungen auf die Welt erledigt. Nachdem die Orientierungsstufe abgeschafft worden gekommen sind. In der Sekundarstufe I beginnt dann in der Tat sei, hätte man ein begabungsgerechtes Schulsystem. Er hat die stärkere Auseinanderentwicklung. Wenn ein Schüler mit bileinen neuen Terminus kreiert: die „begabungsgerechte indivi- dungsbürgerlichem Hintergrund auf dem Gymnasium ein Probduelle Förderung“ – ein Widerspruch in sich, aber man will lem hat, kommt er dennoch irgendwie durch, weil er vom offenbar gegenwärtig in Bezug auf die Schulstrukturen nichts Elternhaus entsprechend gestützt wird. Ein Kind, das sich lernen, und man verstärkt die Abgrenzung der Schulformen wenig zutraut, wird ständig darin bestärkt, dass es eigentlich voneinander, indem man deren jeweilige Bildungsanforderun- aus sich selbst heraus nichts kann. An dieser Selbstattribuiegen getrennt formuliert. In den neuen curricularen Vorgaben, rung ist das gegliederte Schulsystem schuld, und sie ist dort die gerade in der Anhörung sind, werden sehr unterschiedliche auch nicht aufzuheben. Darum brauchen wir eine integrierte Anforderungen an die Schüler von Hauptschule, Realschule und Sekundarstufe I, die alle Bildungsgänge enthält und alle Bil- STATEMENT Eberhard Brandt 83 dungsmöglichkeiten so lange wie möglich, also bis Klasse 10, offen hält. Wir brauchen aber auch Veränderungen in der Oberstufe. Wenn wir ehemalige Schülerinnen und Schüler in ihrer Entwicklung beobachten, können wir sehen, dass viele, denen man in der Schule immer wieder ihr Scheitern prognostizert Foto: VdS Bildungsmedien rinnen und Lehrern haben will, dann kann man das auf die Dauer nur mit drei- bis vierzügigen kleinen integrierten Gesamtschulen erreichen. Das hätte den großen Vorteil, dass der gymnasiale Bildungsgang dann auch denen zur Verfügung stünde, die auf dem Lande wohnen, die weit von einem Kreisgymnasium entfernt leben, nicht nur was die Fahrtzeiten angeht (Stichwort: Flächenland Niedersachsen), sondern auch was die soziokulturelle Distanz zum Gymnasium angeht. Das wäre ein Weg. Herr Domisch hat gesagt, wir müssten in die Zukunft sehen. Die rückgängigen Schülerzahlen sind ein Teil der Zukunft, ein anderer Teil besteht darin, dass der Anteil der Kinder von Migrantinnen und Migranten, je weiter man in den Jahrgängen zurückgeht, immer größer wird. Das sind diejenigen, die vom bisherigen dreigliedrigen Schulsystem eindeutig nicht so gefördert werden, dass ihnen wirklich alle Bildungsabschlüsse zur Verfügung stehen. Auch hierzu muss man sich etwas einfallen lassen, um die Förderqualität des Schulsystems in diesem Punkt zu erhöhen. Und das Dritte: Wir brauchen Entwicklungsfreiheit Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nutzten auch die Gelegenheit zu Gesprächen für die Gesamtschulen. Sie bilden eben, wie Herr nach Abschluss des offiziellen Teils der Veranstaltung. Domisch das aus der finnischen Vergangenheit berichtet hat, intern über äußere Fachleistungsdifferenzierung noch viel zu stark das gegliederte Schulsystem ab. Es hat, es später über die berufliche Bildung und über Fortbil- gibt moderne Formen des Unterrichts, die andere Fördermögdungsmöglichkeiten doch noch schaffen. Also brauchen wir lichkeiten bieten und die jene Entwicklungsschranken, die in auch in der Sekundarstufe II eine Durchlässigkeit, die mehr den Gesamtschulen durch die Kurszuweisung durchaus besteWege zum Studium und zu anderen Bildungsgängen ermög- hen, überwinden können. Gesamtschulen müssen sich entwilicht, als wir das bisher in der Trennung zwischen allgemein bil- ckeln können. Dann, denke ich, wird dieser Schultyp sehr dender gymnasialer Oberstufe und beruflicher Bildung haben. attraktiv sein. Wir haben in unserem Schulgesetz die Gesamtschulen auf zweierlei Art eingeschränkt und behindert. Erstens haben die Eltern nicht mehr das Recht, für ihr Kind die Einrichtung einer Gesamtschule zu fordern. Das ist erstaunlich, denn der Minister spricht davon, dass die Eltern die Wahlfreiheit für eine Schulform haben sollen. Gesamtschulgründungen sind davon aber ausgeschlossen. Man müsste von dieser Regierung verlangen, die Eltern wirklich ernst zu nehmen und Kommunen und Eltern die Einrichtung von Gesamtschulen zu ermöglichen. Dass dies sinnvoll ist, zeigt sich unter anderem daran, dass da, wo Gesamtschulen bestehen, die Anwahlquote bis 40 Prozent geht. In Hannover ist mit derzeit sieben integrierten Gesamtschulen die Situation relativ ausgeschöpft. Die Gesamtschulen haben da ihren Platz gefunden. Wenn man in Hannover feststellt, dass jeder dritte Schüler an einer Gesamtschule Abitur macht, weil viele Realschulabsolventen nach ihrem Abschluss die gymnasiale Oberstufe einer Gesamtschule besuchen, dann haben sie einen festen Platz. In anderen Regionen des Landes überlegen Kommunen, wie sie mit dem Problem des Schülerrückgangs klarkommen können, die Schülertransportkosten steigen, die Schulsysteme werden bei rückgängigen Schülerzahlen kleiner. Wenn man wirtschaftlich zu betreibende Schulen mit sinnvollem Einsatz von Lehre- 84 Die Frage, weshalb Bildung in dem Sinn kein Thema für Eltern ist, dass sie in einer organisierten Form politischen Druck ausüben würden, ist eine knifflige Frage. Die engagierten Vertreter der Elternschaft, die sich gut ausdrücken können, sorgen schon dafür, dass ihre Kinder das kriegen, was sie brauchen, und dann haben sie ihr Ziel erreicht. Das ist kein Vorwurf, das ist einfach eine empirische Feststellung. Diejenigen, die den Ton angeben, sind die Vertreter der gymnasialen Elternschaft, und wenn die ihr Kind aufs Gymnasium gekriegt haben und da die Bedingungen stimmen, dann kümmern sie sich um die Bedürfnisse, die Notwendigkeiten der anderen nicht mehr wirklich. Und es gibt bei uns eine große Akzeptanz privater Finanzierung: bei Schulbüchern, beim Mensaessen selbstverständlich und auch bei Nachhilfeinstitutionen. Forderungen an den Staat werden hier fast nicht gestellt. Das führt dazu, dass man einerseits die einzelne Einrichtung betriebswirtschaftlich in Bezug auf die Kosten untersucht, aber die sehr hohen Systemkosten – ich nenne gleich ein paar Beispiele dafür –, die sind überhaupt nicht in der Rechnung enthalten. Was passiert mit Schülerinnen und Schülern, die das Ziel eines Jahrgangs nicht erreichen? Da heißt es, ohne dass es entsprechende Hilfen gibt: Einfach noch einmal machen – eine päda- Domisch/Brandt: Wie lange gemeinsam Blindtext lernen? gogisch vollkommen unsinnige Maßnahme. Nach allen empirischen Erhebungen bleibt sie ohne nennenswerten Erfolg, von Ausnahmefällen abgesehen. Da wird enorm viel Geld verschleudert. Wenn man das Geld, das für Wiederholungen ausgegeben wird, in Förderunterricht und in zusätzliche Lehrkräfte stecken würde, dann hätte man schon andere Möglichkeiten. Eine noch viel größere Geldvernichtung findet nach der Sekundarstufe I statt, wenn diejenigen in die Endloswarteschleifen der beruflichen Bildung kommen, die keinen Schulabschluss haben, der es ihnen ermöglicht, eine anspruchsvolle moderne Berufsausbildung zu machen. Und es hört ja nicht auf, wenn die jungen Leute aus dem Berufsschulwesen draußen sind. Es geht weiter mit den Maßnahmen der Arbeitsverwaltung. All dies setzt man gar nicht in Beziehung, sondern man tut so, als sei es ein Naturgesetz, dass man auf diese Weise ineffektiv und ohne positive Resultate Geld ausgibt. In der Tat bräuchten wir, so wie das Herr Domisch gesagt hat, in der Grundschule, in der Elementarbildung, in den Kindergärten, eine ganz andere personelle und finanzielle Ausstattung. Ein aktuelles Beispiel aus Niedersachsen: Zu Recht stellt der Kultusminister fest, dass wir mehr als bisher Sprachförderung in den Kindertagesstätten bräuchten. Nun müsste man annehmen, dass mehr Erzieherinnen systematisch für die Sprachförderung fortgebildet werden. Das passiert aber nicht. Stattdessen werden Lehrkräfte aus dem Sprachförderunterricht der Grundschule abgezogen und in die Kindergärten geschickt. Aber auch die Kinder in der Grundschule brauchen von der ersten bis zur vierten Klasse weiterhin intensive Sprachförderung. Und so wird bei uns Flickschusterei betrieben, anstatt ganz anders mit Professor Jürgen Oelkers propagiert zur Verlängerung der gemeinsamen Lernzeit die Einführung einer achtjährigen so genannten Primarstufe, das heißt einer auf sechs Jahre verlängerten Grundschule plus einer zweijährigen Vorschule, die den heutigen Kindergarten ersetzen würde. Ich glaube jedoch, dass dieses Modell genauso schwer durchsetzbar ist wie die flächendeckende integrierte Sekundarstufe I. Doch es hilft alles nichts: Man wird meines Erachtens um eine Entscheidung über die integrierte Sekundarstufe I nicht herumkommen. Das zur politischen Einschätzung. – Zur pädagogischen Einschätzung: Wir haben in Niedersachsen längere Zeit darüber diskutiert, ob die Abschaffung der Orientierungsstufe sinnvoll ist oder nicht. Möglich und sinnvoll kann sie sein, aber die Frage ist, was danach kommt. Ich denke, für uns ist es wichtiger, dass wir über die Veränderung der Grundschule und der Elementarstufe sprechen und da einige Anregungen aufnehmen. Ich würde gerne einmal lesen, welche Anregungen Professor Oelkers hierzu gibt. Die Gesamtschulen könnten auch von Klasse 1 bis 13 gehen. Diese Zuordnung gibt es in anderen Bundesländern, in Hamburg etwa, bei der Hälfte der Gesamtschulen. Das ist meiner Meinung nach ein ganz interessantes Modell, um Schulwechsel, die ja immer ein Problem sind, günstiger zu gestalten. Die Debatte darüber, ob ein Einschnitt in der Pubertät, also der Wechsel nach sechs Klassen, glücklicher ist, das ist noch einmal ein Feld für sich. Ich finde es sehr sympathisch, wenn Herr Domisch sagt, in Finnland gehe man in Bezug auf die Kindertagesstätten ganz „Bei uns wird teilweise erwogen …, die Grundschule bereits mit dem fünften Lebensjahr anfangen zu lassen und die gymnasiale Schulzeit zu verkürzen. Nach diesem Modell hätte man sein Abitur mit 16 Jahren, könnte ganz jung an die Universität gehen, die sich dann gewaltig umstellen müsste. Dem liegt die Vorstellung zu Grunde, Schulzeit und Bildungszeit in staatlichen Einrichtungen seien gestohlene Lebenszeit. Ich meine, von dem gelassenen Umgang Finnlands könnten wir uns noch manche Scheibe abschneiden.“ personellen Ressourcen umzugehen. Erzieherinnen müssten andere Ausbildungschancen bekommen, als das bisher der Fall ist. In anderen Staaten ist es selbstverständlich, dass Erzieherinnen nicht nur in Fachschulen ausgebildet werden, sondern man hat ihre Ausbildung in eine Fachhochschulausbildung umgewandelt. Damit wird nicht nur die Ausbildungszeit verlängert, sondern auch das Niveau angehoben, um nachher die Fördermöglichkeiten in den Gruppen zu verbessern. Natürlich muss eine qualifiziertere Ausbildung auch besser bezahlt werden. Die Frage ist, ob diese Gesellschaft auf eine solche qualifizierte Arbeit in den Kindertagesstätten verzichten will, ob wir uns das leisten können. gelassen vor. Diese bereiten im letzten Jahr auch schon auf Schule vor, aber man diskutiert nicht darüber, früher anzufangen. Bei uns wird teilweise erwogen – auch in dem neuen Programmentwurf der SPD hier in Niedersachsen –, die Grundschule bereits mit dem fünften Lebensjahr anfangen zu lassen und die gymnasiale Schulzeit zu verkürzen. Nach diesem Modell hätte man sein Abitur mit 16 Jahren, könnte ganz jung an die Universität gehen, die sich dann gewaltig umstellen müsste. Dem liegt die Vorstellung zu Grunde, Schulzeit und Bildungszeit in staatlichen Einrichtungen seien gestohlene Lebenszeit. Ich meine, von dem gelassenen Umgang Finnlands könnten wir uns noch manche Scheibe abschneiden. 85 Mit neuen Bildungsstandards und mehr Leistungsmessung soll Deutschland fit gemacht werden für einen Spitzenplatz im internationalen Vergleich. Doch führen die Reformmaßnahmen tatsächlich zu einem besseren Unterricht? Und geraten Fächer, in denen keine Bildungsstandards abgeprüft werden, nicht automatisch ins Hintertreffen? Unter der Überschrift „VON DEN BILDUNGSSTANDARDS ÜBER NEUE METHODEN DER LEISTUNGSMESSUNG HIN ZU BESSEREM UNTERRICHT?“ diskutierten Professor Dr. OLAF KÖLLER, Direktor des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen, Berlin, Professor Dr. KLAUS-JÜRGEN TILLMANN, Wissenschaftlicher Leiter der Laborschule in Bielefeld, und HEINZPETER MEIDINGER, Vorsitzender des Deutschen Philologenverbandes, wie die Konsequenzen eines Teaching-to-the-tests umgangen werden können. Olaf Köller Olaf Köller, geb. 1963, ist Professor für Empirische Bildungsforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin und Direktor des von den Ländern der Bundesrepublik Deutschland eingerichteten Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB). Psychologiestudium bis 1991, bis 1996 am Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften in Kiel, 1996-2002 am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin tätig. 2002-04 Lehrstuhl für Psychologie an der Universität Erlangen-Nürnberg. Seit 2004 Stiftungsprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin. Klaus-Jürgen Tillmann Klaus-Jürgen Tillmann, Professor Dr. paed., geb. 1944. Hauptschullehrer im Ruhrgebiet, 1971-78 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Schulentwicklungsforschung in Dortmund; 1979-90 Professor für schulische Sozialisation an der Universität Hamburg und 1991/92 Gründungsdirektor des Pädagogischen Landesinstituts Brandenburg. Seit 1992 Universitätsprofessor für „Pädagogik und Didaktik der Sekundarschule“, seit 1994 zugleich Wissenschaftlicher Leiter der Laborschule in Bielefeld. Heinz-Peter Meidinger Heinz-Peter Meidinger, geb. 1954. Studium der Germanistik, Geschichte, Soziologie, Politikwissenschaft und Philosophie für das Lehramt an Gymnasien in Regensburg. Seit 1984 im Schuldienst, seit 1997 in der Lehrerausbildung tätig als Seminarleiter für Deutsch; seit 2003 Direktor des Robert-Koch-Gymnasiums in Deggendorf; 1990-93 Bundesvorsitzender der Jungen Philologen im DPhV; seit 2001 stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Philologenverbandes (DPhV); seit 2003 Bundesvorsitzender des DPhV. 86 Köller/Tillmann/Meidinger: Bildungsstandards und Leistungsmessung STATEMENT Olaf Köller Ich will Ihnen zunächst kurz berichten, was wir im Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) im Hinblick auf zwei wesentliche Aufgaben tun. Zum einen betreiben wir natürlich Qualitätssicherung, zum anderen bringen wir aber auch zumindest Versuche auf den Weg, Qualität zu entwickeln, Unterrichtsqualität zu steigern. Ich beginne mit unserer Arbeit zur Entwicklung von Aufgaben für die Überprüfung der länderübergreifenden Bildungsstandards und komme anschließend auf die Entwicklung von Unterrichtsmaterialien zum kompetenzorientierten Unterricht zu sprechen. Dabei bin ich mir durchaus dessen bewusst, dass Messen allein zwar wichtig ist, aber keineswegs Wege aufzeigt, wie man Unterricht optimiert. Ich erwähne in diesem Kontext auch das SINUS-Programm (Programm der Bund-Länder-Kommission zu „Steigerung der Effizienz des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts“), weil ich SINUS für einen der Kernbausteine erachte, die notwendig sind, um Reformen im Unterricht überhaupt etablieren zu können. Was SINUS im Wesentlichen leistet, ist, in Kollegien ganz neue Formen des Umgangs, der Kooperation zu etablieren, d. h., es geht dabei um die Weiterentwicklung der Unterrichtsmethodik primär durch Kooperation: Gemeinsames Reflektieren über das eigene Agieren im Unterricht, das gemeinsame Arbeiten an ausgesuchten Fragestellungen in den Fachkollegien, die Güte, die Qualität des eigenen Unterrichts zu hinterfragen, aber auch neue Unterrichtskonzepte gemeinsam zu erarbeiten und zu erproben, indem sich etwa der Klassenraum öffnet, indem Kolleginnen und Kollegen hospitieren und anschließend Rückmeldung geben können. Es finden Videoaufzeichnungen statt, Material wird ausgetauscht, um Synergien herzustellen. Damit verbunden ist außerdem ein breites Fortbildungsangebot für Lehrkräfte. Ohne solche Maßnahmen werden die Bildungsstandards, an denen wir in Berlin arbeiten, wenig Eingang in die Unterrichtspraxis finden. Ich komme damit zu meinem eigentlichen Anliegen, nämlich den Bildungsstandards. Zur Erinnerung sei gesagt, dass es hierbei primär um fachbezogene Kompetenzen geht. Kompetenzen, die Schülerinnen und Schüler zu einem bestimmten Zeitpunkt ihrer schulischen Karriere, etwa am Ende der Jahrgangsstufe 4 bzw. am Ende der Sekundarstufe I, erreicht haben sollten, und zwar im Kernbereich des jeweiligen Faches. Es handelt sich um eine Auswahl von Fächern – Deutsch und Mathematik für die Grundschule; Deutsch, Mathematik, die Naturwissenschaften, Englisch und Französisch im Bereich der Sekundarstufe I. Und es geht dabei im Wesentlichen um Leistungsstandards oder Performance-Standards, wie es in der internationalen Diskussion heißt. Die Standards sind in der Regel in die Formulierung gefasst: „Der Schüler, die Schülerin soll Folgendes können am Ende der Sekundarstufe I“ bzw. „am Ende der Grundschule …“ Und sie sind so aufgeschrieben, dass man sie in Aufgaben übertragen kann. Mit diesen Aufgaben können die Standards zugleich überprüft werden. Eine zweite Aufgabe dieser Standards – und darauf werde ich gleich noch eingehen – ist natürlich, dass sie der Förderung der Schülerinnen und Schüler dienen sollen. Dadurch dass vorgegeben wird, was Schulen zu bestimmten Zeitpunkten erreicht haben sollen, erhofft man sich, dass Schulen Wege entwickeln, um Schülerinnen und Schüler zur Erreichung ebendieser Standards zu führen. Und die Hoffnung, die mit der Kompetenzorientierung verbunden ist, ist natürlich die Verbesserung der Aufgaben und der Unterrichtskultur. Worum es im Wesentlichen bei der Arbeit des IQB geht, ist, die Bildungsstandards weiterzuentwickeln, aber vor allem auch methodisch zu präzisieren, in Aufgaben zu gießen und dann natürlich auch in den Ländern zu überprüfen. Dies geschieht dadurch, dass wir zunächst einmal eine große Sammlung von Testaufgaben entwickeln, dass wir empirische Studien durchführen, in denen wir versuchen, nationale Skalen zu definieren, z. B. eine nationale Skala für Deutsch und für Mathematik am Ende der Grundschule bzw. am Ende der vierten Klasse usw. Danach soll in den einzelnen Ländern überprüft werden, ob die 87 Schülerinnen und Schüler diese Standards erreichen. Intendiert ist, dass diese Aufgaben direkt in die Schulen gehen. Die Schulen sollen selbst Werkzeuge an die Hand bekommen, mit denen sie überprüfen können, ob ihre Schülerinnen und Schüler die Vorgaben erreicht haben. Schließlich geht es auch um die Bereitstellung von Unterrichtsmaterialien und Aufgaben für einen kompetenzorientierten Unterricht. Das ist unser zweites Ziel. Insofern geht es uns auch um Unterrichtsentwicklung, und zwar in folgendem Sinne. Unserer Ansicht nach gibt es drei tragende Säulen der Optimierung von Lehr-/Lernprozessen. Die erste Säule ist Optimierung oder Weiterentwicklung einer kompetenzorientierten Aufgabenkultur, die zweite Säule ist die Entwicklung oder Etablierung einer neuen Unterrichtskultur, eben auch im Sinne der Kompetenzorientierung. Und das Dritte ist genau das, was SINUS tut, nämlich in den Kollegien eine Kultur der Kooperation zu schaffen, eine Kultur des gemeinsam Reflektierens darüber, wie Unterricht zu gestalten ist, wie welche Aufgaben ausgewählt werden können, damit es gelingt, Kompetenzen aufseiten der Schülerinnen und Schüler zu fördern. ganze Palette der Kompetenzen anhand eines Aufgabestammes durchzubuchstabieren, je nachdem welche Intention ein Lehrer oder eine Lehrerin im Unterricht hat, welche Einzelkompetenz sie möglicherweise gerade fördern will. Wir haben im IQB also nicht nur die Überprüfung, das Normieren im Blick, sondern es geht uns ganz klar auch um Angebote für den stärker kompetenzorientierten Unterricht in der Hoffnung, damit nachhaltigeres Lernen zu ermöglichen. Ich möchte aber noch auf fünf Punkte eingehen, die immer wieder kritisiert werden, seit es die Bildungsstandards gibt. Der erste Punkt betrifft die Frage Mindeststandards / Regelstandards. Niemand weiß im Grunde, was Regel- und was Mindeststandard ist. Wenn wir Lehrer fragen, was denn die Schüler mindestens können sollten, bekommen wir ganz unterschiedliche Antworten. Legt man es in der Kommission normativ fest, gerät man in die Gefahr, dass trotz aller Definitionen von Mindeststandards viele Schüler dahinter zurückbleiben. Das heißt, die Diskrepanz zwischen dem, was man normativ gerne als Mindeststandard hätte, und dem, was sich empirisch ergibt, ist a priori überhaupt nicht abzuschätzen. Insofern tut man gut „Unserer Ansicht nach gibt es drei tragende Säulen der Optimierung von Lehr-/Lernprozessen. Die erste Säule ist Optimierung oder Weiterentwicklung einer kompetenzorientierten Aufgabenkultur, die zweite Säule ist die Entwicklung oder Etablierung einer neuen Unterrichtskultur, eben auch im Sinne der Kompetenzorientierung. Und das Dritte ist genau das, was SINUS tut, nämlich in den Kollegien eine Kultur der Kooperation zu schaffen …“ Ich möchte Ihnen dies an einer Aufgabe demonstrieren: „Eine Firma für Kleinbildfilme hat sich eine besondere Verpackung ausgedacht, die fast aussieht wie ein Fußball. Jeweils vier Filme sollen in dieser Schachtel verpackt sein.“ Man hat das Ganze im Jahr der Fußball-WM also in einen Stimulus, einen aktuellen Kontext eingebunden, und dann werden zu diesem Stamm der Aufgabe eine ganze Reihe von Fragen gestellt. Die erste Frage ist: „Aus wie vielen Quadraten und Dreiecken besteht die Verpackung?“ Diese Aufgabe kann man beliebig variieren. Das Erste war im Grunde genommen eine geometrische Frage: „Raum und Form“ heißt die Leitidee in den Bildungsstandards. Man kann jetzt beliebige weitere Aufgaben zu diesem Stamm formulieren. Die Bildungsstandards definieren für das Fach Mathematik im Wesentlichen sechs Kompetenzen, u. a. mathematisches Problemlösen, mathematisches Modellieren, Argumentieren, Kommunizieren, und die Idee der Etablierung einer neuen Aufgabenkultur für den Unterricht ist, einen Stamm zu wählen, einen Aufgabenstamm, der möglichst an die Umwelt, an den Alltag der Schülerinnen und Schüler angelehnt ist, und dann Teilaufgaben zu entwickeln, um die verschiedenen Kompetenzen schulen zu können. Es geht also im Grunde genommen darum, die 88 daran, alles offen zu lassen, und das versuchen wir im IQB. Das heißt, wir arbeiten an nationalen Skalen, die es irgendwann erlauben werden, Mindeststandards in einem bestimmten Leistungsbereich einzuschlagen, Regelstandards in einem entsprechend höheren Bereich, und dann sind wir im Grunde genommen wieder bei den Philologen, bei Idealstandards und der Frage: Wo sollte sich das System hinbewegen? Das heißt, diese ganze Debatte kann man im Grunde genommen aufgeben. Es wird vermutlich auch eine Frage der ersten empirischen Ergebnisse sein, wo wir die Standards verankern, und es kann sogar sein, dass wir nebeneinander Regel-, Mindest- und Idealstandards haben werden. Aber ich plädiere dafür, erst einmal abzuwarten, was tatsächlich bei den Arbeiten des IQB herauskommt, bevor man diese Diskussion fortführt. Der zweite Streitpunkt sind abschlussbezogene Standards. Es ist mittlerweile Konsens in der KMK, dass die Überprüfung der Bildungsstandards beispielsweise in der Grundschule in Jahrgangsstufe 3 stattfinden wird, d. h., wir haben hier einen Disput oder eine Diskussion, die im Grunde genommen überflüssig ist. Die Überprüfung wird ganz bewusst in der dritten Klasse angesetzt. Die Schulen bekommen Instrumente an die Köller/Tillmann/Meidinger: Bildungsstandards und Leistungsmessung Blindtext Hand, um in Jahrgangsstufe 3 eine Lernstandsfeststellung durchzuführen und dann im Hinblick auf den Übergang gegensteuern zu können. Ganz analog wird das im Sek-I-Bereich geschehen. Natürlich werden wir auch Maßnahmen ergreifen, um beispielsweise in Jahrgangsstufe 10 oder 4 eine Messung an Normen zu ermöglichen. Aber es ist längst Konsens, dass die abschlussbezogenen Standards die Chance oder die Option öffnen, früher anzusetzen, und genau das wird umgesetzt. Der dritte Punkt betrifft die Diskussion „Bildung ist mehr als die Bildungstandards“. Dem stimme ich völlig zu. Das ist überhaupt keine Frage. Die Frage ist aber, was ist Bildung? Und dieser Aspekt kommt mir in der Diskussion zu kurz. Der Bildungsbegriff wird ja nicht nur im Sinne von Allgemeinbildung oder in Anlehnung an Humboldt diskutiert, sondern auch innerhalb der Fächer, im Sinne des Bildungsverständnisses eines Faches. Für mich sind da die Mathematikstandards paradigmatisch. Sie demonstrieren, was die Mathematik unter mathematischer Bildung versteht. Dabei geht es nicht bloß um mathematische Grundbildung, es geht vielmehr um eine ganz bewusste Orientierung des Faches an seinem eigenen Bildungsbegriff. Ein weiterer Punkt zur Bildung: Ich halte es für legitim, das Ganze Bildungsstandards zu nennen, weil damit Kompetenzen gemeint sind, die Schülerinnen und Schülern, wenn sie über diese Kompetenzen verfügen, den Zugang zur Bildung, nämlich zum Erwerb von Weltwissen ermöglichen. Die erfolgreiche Begegnung mit der Welt wird erst möglich, wenn man über die Kompetenzen verfügt, die in den Bildungsstandards aufgeschrieben sind. Und ein letzter Punkt zum Vorwurf einer Hierarchisierung der Fächer durch Bildungsstandards. Eine solche Hierarchisierung gibt es schon immer. Erstens durch Stundentafeln und zweitens durch die Versetzungsrelevanz. Wer in Musik und Kunst eine Fünf hat, wird versetzt; wer aber in Deutsch und Mathematik eine Fünf hat, muss die Klasse wiederholen. Das heißt, wir haben schon immer eine Hierarchisierung der Fächer, es gibt schon seit jeher „wichtigere“ und „unwichtigere“ Fächer. Das macht sich nicht erst an Bildungsstandards fest. Im Übrigen beobachte ich, dass sich viele andere Fächer mittlerweile auf den Weg gemacht haben, um auch Bildungsstandards zu generieren. Vielen Dank. STATEMENT Klaus-Jürgen Tillmann Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen, Kollegen, meine Rolle soll es heute sein, etwas Wasser in den Wein zu gießen und ein Stück weit zu hinterfragen, ob immer mehr Standards, immer mehr Tests und Leistungsmessung tatsächlich die zentrale Antwort auf die ohne Zweifel vorhandenen Probleme in unseren Schulen, der entscheidende Schritt in Richtung mehr Schulentwicklung sein kann. Das Thema dieser Veranstaltung suggeriert dies ja ein wenig. Von den Bildungsstandards über neue Methoden der Leistungsmessung hin zu besserem Unterricht – mit Fragezeichen, das wir dann auch ernst nehmen wollen –, an dieser Aufzählung wird deutlich, dass die Bildungsstandards und die neuen Methoden der Leistungsmessung eigentlich nur dann einen Sinn ergeben, wenn daraus auch besserer Unterricht entsteht. Ich beginne mit einer kleinen Anekdote, um einmal deutlich zu machen, warum ich da meine Zweifel habe. Als eine der ersten Leistungsvergleichsstudien gemacht wurde, die LAU-Untersuchung von Reiner Lehmann in Hamburg, hat man die Ergebnisse auch an die Schulen rückgemeldet. Einige Hamburger Gymnasien bekamen Leistungsergebnisse für ihre sechsten und siebten Klassen, die deutlich unter den Erwartungen lagen. Dann ist in diesen Gymnasien diskutiert worden, was nun zu tun sei. Einige Schulen sind zu dem Ergebnis gekommen, dass das schlechte Ergebnis nicht am Unterricht in der Schule läge, sondern daran, dass man die falschen Schüler aufnehme. Konsequenterweise müsse man demnächst bei der Schüleraufnahme rigider sein, dürfe die, die eigentlich nicht dorthin gehörten, auch nicht mehr aufnehmen, dann würden beim nächsten Mal auch die Leistungen besser. Also aus dem Feedback dieser Daten ist kein Schulentwicklungsprozess hervorgegangen, sondern eine Verschärfung von Auslese. Das sage ich, um zu verdeutlichen, dass kein Grund zu der Annahme besteht, es gäbe einen Automatismus zwischen der Messung von Leistungsergebnissen, der Rückmeldung der Ergebnisse eines Kollegiums und einer anschließenden Verbesserung von pädagogischer Praxis. Was wir über diesen Zusammenhang wissenschaftlich wissen, ist gegenwärtig noch relativ dürftig, und an dieser Stelle herrscht eigentlich mehr das Prinzip Hoffnung als eine gesicherte Erkenntnis. Das Zweite: PISA hat ja eine ganze Menge in Bewegung gebracht. Die Kultusministerkonferenz hat unmittelbar nach den PISA-Ergebnissen einen Handlungskatalog mit insgesamt sieben Handlungsfeldern verabschiedet. Ich nenne ein paar davon: Verbesserung der Sprachkompetenz in unterschiedlichen Feldern, bessere Verzahnung von Vor- und Grundschule, frühzeitigere Einschulung und Qualitätssicherung durch verbindliche Standards und Evaluation. Was aber ist denn eigentlich in welchen Bundesländern bezogen auf diese sieben Felder tatsächlich passiert? Bei allen Differenzen zwischen den Ländern kann man eines sagen: Es gibt kein Feld, in dem so viel, so entschlossen und so schnell etwas getan worden ist wie im Punkt verbindlicher Standards, Evaluation und Leistungsmessung. Das bedeutet, dass die Hauptreaktion der Kultusminister auf die PISA-Probleme weniger darin bestand, in Richtung Förderung aktiv zu werden, sondern vielmehr darin, in Richtung von Zielsetzung, von Unterrichtsergebnissen und Messung von Unterrichtsergebnissen zu gehen. Damit will ich ja gar nicht sagen, dass solche Definitionen und Ansätze falsch sind, sie werden nur falsch, wenn sie in einer 89 solchen Ungleichgewichtigkeit betrieben werden. In NordrheinWestfalen beispielsweise, dort, wo ich herkomme, gab es im Jahr 2000 vor PISA nirgendwo zentrale Abschlussprüfungen, es gab keine verpflichtenden Lernstandserhebungen. 2004 kurz vor den Wahlen hatte die alte sozialdemokratische, inzwischen abgewählte Regierung sechs mehr oder weniger verbindliche zentrale Bestandteile von Lernstandserhebungen beschlossen, und zwar: 1. Erste vergleichende Leistungsprüfungen können in der dritten Klasse erfolgen. Parallelarbeiten in Deutsch und Mathe. 2. Ein Jahr später, im vierten Schuljahr, erfolgen zentrale Lernstandserhebungen in den gleichen Fächern, die verpflichtend sind. Sie beziehen sich auf die KMK-Bildungsstandards der vierten Klasse. Im gleichen Jahr fällt dann auch die Entscheidung für den Übergang in die weitere Schulform. 3. Im siebten Schuljahr gibt es verpflichtende Parallelarbeiten in Deutsch, Mathe und erster Fremdsprache. 4. Im neunten Schuljahr zentrale Lernstandserhebung in Deutsch, Mathe und erster Fremdsprache. 5. Erstmals 2007 erfolgen am Ende des zehnten Schuljahres teilzentrale Abschlussprüfungen mit zentralen Aufgaben in Deutsch, Mathe und erster Fremdsprache. 6. Erstmals 2007 steht am Ende des dreizehnten Schuljahres das Zentralabitur. Eine solche Geschwindigkeit bei der Durchsetzung eines Programms habe ich in meinen langen Erfahrungen als Mensch, der Selektivität – angemessen zu reagieren, sind konzentrierte Fördermaßnahmen in unterschiedlichen Bereichen erforderlich. Von der Frühförderung im Kindergarten bis zur Nachalphabetisierung von Jugendlichen. Das wird im Prinzip auch von der KMK so gesehen, deswegen hat sie ja den thematisch durchaus vielfältigen Handlungskatalog vorgelegt. Wenn man aber schaut, auf welche Maßnahmen sich die Umsetzung bisher konzentriert hat, wo die 16 Kultusminister koordiniert und stringent vorgehen, dann sind das vor allem Standardsetzungen und Leistungsevaluation. Dies verbindet sich mit einer zum Teil massiven Vernachlässigung der anderen Bereiche, in denen es jeweils um die Verstärkung von Lerngelegenheiten und um die gezielte Förderung von Heranwachsenden geht. Von der Sache her lässt sich das kaum rechtfertigen, ich finde, dass da wesentlich mehr Balance notwendig wäre. Wenn das Vorgehen also von der Sache her nicht gerechtfertigt ist, was können die Gründe dafür sein? Ich finde nur politische Gründe. Denn selbst großflächige Leistungsevaluationen sind immens viel billiger als etwa der durchgängige Ausbau der Ganztagsschule oder die flächendeckende Einführung von Förderstunden. Großflächige Leistungsevaluation und zentrale Abschlussprüfungen sind öffentlich hochpopulär. Wir haben das in unserem Forschungsprojekt auch aufzeigen können. In der Presse werden in allen Bundesländern, die wir untersucht haben, die Minister, sobald sie solche zentralen Leistungsprüfungen ein- „Ich kritisiere die Dominanz dieser Standard- und Messentwicklung. Um auf die in PISA festgestellten Defizite – mangelnde fachliche Kompetenz und ein hohes Maß an sozialer Selektivität – angemessen zu reagieren, sind konzentrierte Fördermaßnahmen in unterschiedlichen Bereichen erforderlich. Von der Frühförderung im Kindergarten bis zur Nachalphabetisierung von Jugendlichen. Das wird im Prinzip auch von der KMK so gesehen, deswegen hat sie ja den thematisch durchaus vielfältigen Handlungskatalog vorgelegt. Wenn man aber schaut, auf welche Maßnahmen sich die Umsetzung bisher konzentriert hat …, dann sind das vor allem Standardsetzungen und Leistungsevaluation.“ bildungspolitisch interessiert ist, höchst selten erlebt. Wir haben also eine äußerst schwungvolle Entwicklung in einem bestimmten Bereich, und der Kollege Köller, den ich sehr schätze, ist Teil dieser Entwicklung, weil die Kultusministerkonferenz natürlich auch beschlossen hat, ein solches zentrales Institut zu gründen, in dem die Aufgaben für die ganzen Überprüfungen entwickelt werden. Wenn man ein solches Konzept hat, braucht man in der Tat ein kompetentes Institut. führen, durchgängig bejubelt. Von der „taz“ im Fall Bremens bis hin zu schlichten regionalen Zeitungen in Rheinland-Pfalz. Deshalb führen solche Maßnahmen zum politischen Punktegewinn. Mit meiner Einschätzung will ich ja gar nicht suggerieren, dass Standardsetzung und Leistungsevaluation nicht auch sinnvolle Maßnahmen sein können. Doch mir scheint es wenig angemessen zu sein, diese Maßnahmen so stark in den Vordergrund zu rücken und zugleich die angekündigten Förderaktivitäten deutlich bescheidener zu betreiben. Was habe ich an dieser Stelle zu kritisieren? 1. Ich kritisiere die Dominanz dieser Standard- und Messent- wicklung. Um auf die in PISA festgestellten Defizite – mangelnde fachliche Kompetenz und ein hohes Maß an sozialer 90 2. Weiterhin kritisiere ich, dass es abschlussbezogene Regelstandards gibt statt der Mindeststandards, die von der Kommission um den Kollegen Klieme vorgeschlagen wurden. Hierzu muss ich ein wenig ausholen. Diese Klieme-Kommission geht Köller/Tillmann/Meidinger: Bildungsstandards und Leistungsmessung Blindtext davon aus, dass die Definition von Standards und die darauf bezogene Leistungsprüfung dann sinnvoll sind, wenn sie einen Beitrag zur Sicherung und Entwicklung der Schulqualität leisten und wenn dadurch Lernprozesse und Lernergebnisse positiv beeinflusst werden. Standards sollen vor allem dazu beitragen, dass immer weniger Schüler und Schülerinnen die notwendigen zogenen Leistungserhebungen überprüfen sollen, wie gut ein Schulsystem, wie gut eine einzelne Schule den Bildungsauftrag erfüllt. Es geht somit um Systemmonitoring, es geht um Schulevaluation und nicht um die Zensierung oder gar die Auslese der einzelnen Schülerinnen und Schüler. Dazu das Gutachten: „Von einer Verwendung der Standards bzw. standardbezogener Tests für Notengebung und Zertifizierung wird abgeraten.“ Und weiter: „Dies ist mit ein Argument dafür, Testeinsätze nicht in den Abschlussjahrgängen durchzuführen.“ So weit also das Gutachten der Kommission, die von Bundesregierung und KMK selber in Kraft gesetzt worden ist. Foto: VdS Bildungsmedien Festzuhalten ist nun aber, dass die KMK alle diese Empfehlungen souverän beiseite geschoben hat. Sie hat keine Mindeststandards formuliert, sondern Regelstandards für den so genannten mittleren Abschluss, und diese Regelstandards sind bewusst auf Abschlüsse und Abschlussprüfungen bezogen. Abschlussbezogene Regelstandards heißt es dann auch offiziell, und die entsprechenden Tests dazu finden kurz vor dem Übergang statt. Das heißt, die Hoffnung der Engagiert, aufmerksam und kritisch verfolgten auch in diesem Jahr die Zuhörerinnen und Klieme-Kommission, man könne StandardZuhörer die zahlreichen Veranstaltungen beim „forum bildung“. formulierungen so schaffen, dass man den Selektionsprozess an Schulen nicht verfeinert und verschärft, ist gleich in der ersten Basisqualifikationen verfehlen. Eine solche Orientierung bedeu- Runde den Bach runtergegangen. Wir haben jetzt Standards, tet zugleich eine klare Absage an Standards als Instrument einer die sich eindeutig auf Schulabschlüsse beziehen und diese effektiveren Auslese. Entsprechend formuliert die Klieme-Kom- Abschlussperspektive effektiver machen sollen. mission, die Funktion von Bildungsstandards „besteht nicht 3. Ich will jetzt hier nicht die gute Klieme-Kommission gegen darin, den individuellen Leistungs- und Selektionsdruck auf Schüler zu verstärken. Im Vergleich mit anderen Staaten zeich- die böse KMK in Stellung bringen, vielmehr ist mindestens ein net sich Deutschland ohnehin dadurch aus, dass die Schüler Punkt kritisch anzusprechen, der beide in gleicher Weise mehr Leistungsdruck als Unterstützung wahrnehmen“. So weit betrifft. Sowohl Klieme-Kommission als auch KMK sprechen ja die Klieme-Kommission. Diese Position hat dazu geführt, dass von Bildungsstandards. Tatsächlich aber geht es um Kompetendie Kommission an zwei besonders wichtigen Stellen eindeuti- zen und Leistungsanforderungen in den drei Unterrichtsfächern ge Empfehlungen formuliert hat. Erstens wird sehr dringend Deutsch, Mathe, der ersten Fremdsprache und jetzt auch in empfohlen, Standards als Mindeststandards zu entwickeln, Naturwissenschaft. Bildung, das wissen wir alle, umfasst mehr. d. h., es soll dargelegt werden, wozu die Schulen, die Lehrer Hier gerät nur ein bestimmter eng ausgewählter Bereich der verpflichtet werden, um Qualifikation bei den Schülern auf schulischen Arbeit in den Blick. Das Qualitätsverständnis, das einer Mindestbasis herzustellen, unterhalb deren kein Schüler von den Bildungsstandards transportiert wird, ist betont fachetwa die 9. oder 10. Klasse verlassen soll. Es sind Standards, die spezifisch, und es richtet sich auf eine ausgewählte Zahl von die Anforderungen an den von der Schule zu erreichenden Lern- Fächern. Das mag pragmatisch sinnvoll sein, ist zugleich aber prozess formulieren. Jeder Schule, jedem Lehrer sollte klar sein, mit der großen Gefahr eines pädagogischen Reduktionismus welche Mindesterwartungen gestellt werden. Angesichts der verbunden. Die Schule hat eben mehr als drei oder vier Fächer, Tatsache, dass unser Bildungssystem Schwächen vor allem im und viele wichtige Aufgabenstellungen liegen jenseits des Fachunteren Leistungsbereich zeigt, kommt diesem Merkmal beson- unterrichts. Es kommt hinzu, dass die von der KMK vorgelegten Bildungsstandards auch fachbezogen heftig kritisiert werden. dere Bedeutung zu. Insbesondere den Deutschstandards wird vorgeworfen, den BilDie Klieme-Kommission warnt ausdrücklich davor, Regelstan- dungsauftrag des Faches nicht angemessen abzubilden. Hiedards zu formulieren, weil damit immer auch Gewinner und rüber gibt es eine breite Debatte unter den Deutsch-DidaktiVerlierer produziert werden. Das war der eine Punkt. Zum Zwei- kern. Deshalb haben wir es auch mit der Gefahr zu tun, dass die ten macht die Kommission sehr deutlich, dass die standardbe- ohnehin bestehende Hierarchie von Fächern durch diese Stan- 91 dards und die darauf bezogene Überprüfung um ein Vielfaches verschärft wird. Mein Ergebnis, meine Einschätzung: Die Standards bieten eine gewisse Chance, auf die Erfüllung von Mindestleistungsanforderungen stärker zu achten und Entwickungsprozesse in Gang zu setzen. Ob diese Chancen tatsächlich genutzt werden oder ob die Gefahr, Unterricht schlechter zu machen, stärker durchschlägt, ist aus meiner Sicht noch sehr, sehr offen. Danke schön! STATEMENT Heinz-Peter Meidinger Ich werde versuchen, mich auf einige wenige Kernpunkte zu beschränken. Herr Professor Tillmann hat es ja unternommen, Wasser in den Wein der Bildungsstandards zu gießen. Ich möchte kein neues Wasser hineingießen, aber vielleicht einige Relativierungen vornehmen. Wir vom Philologenverband hätten es lieber gesehen, wenn der Begriff Bildungsstandards durch den Begriff Wissens- und Kompetenzstandards ersetzt worden wäre, weil der Bildungsbegriff viel weiter gefasst ist als das, was in den Bildungsstandards abgebildet wird. Ich mache keinen Hehl daraus, dass die Bildungsstandards einen kleinsten gemeinsamen Nenner in der Kultusministerkonferenz darstellen, der auch von uns mitgetragen wird. Wir haben an den Bildungsstandards mitgearbeitet, es gab ein breites Anhörungsverfahren, und grundsätzlich ist dieser Weg weg von der Input-Orien- deststandards in der Schulpraxis zu Regelstandards werden. Doch wer besser werden will, und Deutschland möchte ja besser werden, darf die Messlatte nicht zu tief legen. Und wir dürfen nicht vergessen, dass wir ja nicht nur die Risikogruppen am unteren Ende des Leistungsspektrums fördern müssen, sondern dass wir auch eine zu geringe Spitze haben. Ich halte es daher für besser, den Blick auf den Regelstandard zu richten, ohne die Risikogruppen zu vernachlässigen. Ein paar weitere Anmerkungen: 1. Bildungsstandards sind kein Wundermittel. Man kann gegenwärtig den Eindruck gewinnen, als hätten wir mit der Einführung der Standards die größte Wegstrecke auf dem Weg nach oben im PISA-Ranking schon hinter uns. Doch das war nur der erste und wahrscheinlich sogar der einfachste Schritt. Die Leistungsverbesserung zwischen PISA 2000 und PISA 2003 ist sicher nicht auf die Verabschiedung der Bildungsstandards zurückzuführen, dafür war der Zeitrahmen viel zu knapp. Auch sind die Bildungsstandards in der Regel noch gar nicht in den Lehrplänen implementiert. Die Verbesserung ist meiner Ansicht nach eher der verstärkten Anstrengung von Lehrern und Schülern geschuldet. PISA 2003 wurde ernster genommen. Vieles ist nicht neu an den Bildungsstandards; die TaxonomieEbenen gab es auch schon früher, ich erinnere an die curricularen Lehrpläne der 1970er-Jahre. Wir haben auch die größere Kompetenzfixierung schon mal gehabt; neu ist in erster Linie die enge Bindung an konkrete Aufgabenpools und natürlich auch die Evaluierung, die durch das Institut von Herrn Köller maßgeblich erfolgen soll. „Der Punkt ist, dass man über die Bildungsstandards natürlich auch wieder eine größere Vergleichbarkeit der Noten erreichen könnte, d. h. das, was ein nicht erfüllter Standard ist, was ein „mangelhaft“ ist, könnte wieder mit größerer Genauigkeit bestimmt werden.“ tierung hin zur Output-Orientierung auch der richtige. Der genauere Blick darauf, was beim Schüler ankommt bzw. was die Schüler und Schülerinnen können (müssen), ist in den letzten Jahrzehnten zu stark vernachlässigt worden. Meines Erachtens ist es zwar grundsätzlich richtig, den Fokus stärker auf die Risikogruppen, nämlich die, die diese Standards nicht erfüllen, zu richten und hier die nötige Förderung zu entwickeln. In der Frage Regelstandards oder Mindeststandards, die ja von Herrn Professor Tillmann nochmals thematisiert worden ist, haben wir vom Philologenverband allerdings einen etwas anderen Standpunkt, weil man im Falle von Mindeststandards das Augenmerk allein auf die Frage richten würde, welche Schüler die Minimalansprüche nicht erfüllen und gefördert werden müssen. Dabei besteht die Gefahr, dass diese Min- 92 2. Die Verabschiedung der Bildungsstandards ist nur der erste Schritt, die größte Wegstrecke steht noch bevor. Die Implementierung der Bildungsstandards in Lehrpläne, in Unterrichtsmaterialien muss noch erfolgen, auch bei den Aufgabenpools stehen wir erst am Anfang, das sind ja erst Rudimente, die in den Bildungsstandards als Anlage angefügt sind. Gleiches gilt für die zaghaft beginnende Evaluierung, und, ganz wichtig, wir brauchen natürlich auch eine verstärkte Fortbildung der Lehrer, derjenigen, die mit den Bildungsstandards arbeiten müssen. Hier besteht noch ein großes Desiderat. 3. Es wird immer wieder gesagt, Bildungsstandards böten die Chance für einen größeren pädagogischen Freiheitsspielraum der Lehrer. Es komme eine erhöhte Verantwortung auf Lehrer zu, die jetzt nicht mehr Punkt für Punkt ihren Lehrplan abar- Köller/Tillmann/Meidinger: Bildungsstandards und Leistungsmessung Blindtext beiten müsten, sondern die den Blick auf die zu erreichenden Kompetenzen richten und nunmehr den Unterricht stärker in eigener Kompetenz, in eigener Professionalität gestalten müssten. Wenn wir einen Blick auf Länder werfen, in denen Bildungsstandards schon eine größere Rolle spielen, muss ich der Befürchtung Ausdruck geben, dass auch der gegenteilige Effekt eintreten könnte. Und diese Gefahr ist gar nicht so gering. Die Ausarbeitung – Herr Köller könnte das sicher noch genauer ausführen – von solchen Aufgabenpools mit exakten TaxonomieEbenen und der getrennten Erfassung unterschiedlichster Kompetenzbereiche ist ein hochkomplexer Vorgang, eine Aufgabe, die im Endeffekt der Unterrichtswissenschaft vorbehalten bleiben muss. Es besteht dann aber die große Gefahr, dass das Subjekt Lehrer nur noch Ausführender oder Handlanger sein wird, um diese Aufgabenpools im Unterricht umzusetzen, weil es gar nicht mehr in der Lage ist, die entsprechenden Prüfungsaufgaben auszuarbeiten. Der Lehrer könnte sozusagen zum bloßen Organisator und „Umsetzer“ der in vielen Bundesländern schon beschlossenen und durchgeführten Orientierungsarbeiten und Jahrgangsstufentests degradiert werden. 4. Die Frage der Inhalte. Wir haben, Professor Tillmann hat das angesprochen, natürlich eine Kompetenzorientierung bei den Standards. Im Bereich der Mathematik ist eine Trennung von Inhalt und Kompetenz kaum gegeben. Es ist völlig klar, mit welchen Inhalten die zu erreichenden Kompetenzen verbunden sind. Im Fach Deutsch ist es schon erheblich schwieriger, d. h., man hat dort bei den Bildungsstandards etwa den ganzen Bereich des literarischen Kanons weit gehend ausgespart und ihn beschränkt auf Sprachkompetenzen, auf Sachtext, Interpretation, auf grammatisches Wissen. Wir sind der Auffassung, dass in einer Gesellschaft, die so stark unter Modernisierungsdruck steht, die so vielfältig, multikulturell geworden ist, die Konzentration auf feste Gegenstände, d. h. auf feste Bildungsinhalte gerade im Fach Deutsch, aber auch in anderen Fächern eher gestärkt werden muss. Es ist auch kein Zufall, dass Fächer wie Geschichte oder Geografie etwa ohne Bildungsstandards geblieben sind. Stellen Sie sich einmal vor, was es bedeuten würde, Geschichte kompetenzorientiert in Bildungsstandards umzusetzen. Das wird so allgemein, dass die Inhalte weit gehend beliebig werden, damit kann niemand im Unterricht arbeiten. 5. Wir befürchten wie Herr Professor Tillmann auch eine Verengung des schulischen Bildungsauftrags. Wenn man bei PISA besser abschneiden will, wenn das utilitaristisch umgesetzt wird, heißt das ja, dass ich mich auf drei schulische Fachgebiete konzentriere: Deutsch, Mathematik und die Naturwissenschaften. Wir kennen Länder, in denen diese drei Fächer 80 Prozent des Unterrichtsvolumens ausmachen. Einige von ihnen sind nicht umsonst in solchen Tests dann sehr weit oben. Das kann es aber nicht sein. Wir haben erstens auch andere wichtige Fächer, und wir haben natürlich einen ganz anderen, umfassenderen Bildungs- und Erziehungsauftrag, wenn man etwa das ganze Gebiet der Werteerziehung sieht. Wir müssen aufpassen, dass über die Konzentration auf Bildungsstandards dieses weite Spektrum des Bildungsauftrags und die Werteerziehung nicht unter die Räder geraten. 6. Ich habe bislang eher ein paar Bedenken geäußert, am Schluss möchte ich auch noch eine Chance anführen, die sich aus der Einführung von Bildungsstandards ergeben könnte: Wir wissen aus einer Reihe von Untersuchungen, dass Noten eine relativ geringe Aussagekraft haben, vor allem im Ländervergleich. Das berühmte Beispiel lautet, dass eine Zwei in Bayern eine Drei in Baden-Württemberg und eine Vier in NordrheinWestfalen ist. Das kann man auch über die Schularten hinweg noch differenzieren, dann schöpfen wir das gesamte Notenspektrum aus. Ähnliches gilt aber manchmal schon für zwei benachbarte Gymnasien, das ist bekannt. Es gilt auch schon für zwei verschiedene Klassen, weil es solche pädagogischen Mittelungen immer gibt. Der Punkt ist, dass man über die Bildungsstandards natürlich auch wieder eine größere Vergleichbarkeit der Noten erreichen könnte, d. h. das, was ein nicht erfüllter Standard ist, was ein „Mangelhaft“ ist, könnte wieder mit größerer Genauigkeit bestimmt werden. 7. Bildungsstandards sind gut, auch die Implementierung muss folgen. Das Allerwichtigste ist aber, dass, wenn Defizite festgestellt werden, natürlich auch die Ressourcen da sein müssen, um eine entsprechende Förderung geben zu können. Das Beste an Bildungsstandards für die Politik ist – und deswegen ging das so schnell –, dass sie fast nichts kosten. Teuer wird es, wenn es darum geht, auch die Förderressourcen aufzubringen, um die erkannten Defizite abzustellen. Aber darüber ist leider noch in keinem Bundesland Sinnvolles gesagt worden. 93 In immer mehr Bundesländern starten Projekte für selbstständige Schulen, die mehr Gestaltungsspielräume, Eigenverantwortlichkeit und bessere Budgetplanung versprechen. Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit diese Versuche gelingen? Wie sieht die Umsetzung in der Praxis aus, welche Probleme, Möglichkeiten, Chancen bestehen? Welche Auswirkungen hat die Selbstständigkeit auf Lernklima und Unterrichtsqualität? Diese Fragen beherrschten die Veranstaltung „SCHLUSS MIT DER GÄNGELEI – WARUM DEUTSCHLAND SELBSTSTÄNDIGE SCHULEN BRAUCHT“. Auf dem Podium saßen Dr. LUDWIG ECKINGER, Bundesvorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung, ANDREA KIEWEL, ZDF-Moderatorin, BERND BUSEMANN, niedersächsischer Kultusminister, und BARBARA LOOS, Schulleiterin des Max-Born-Gymnasiums in Germering. Moderation: Gaby Miketta Eine Veranstaltung von Ludwig Eckinger Ludwig Eckinger, Dr., geb. 1944. Ausbildung zum Volksschullehrer an der PH Regensburg. Nach dem 2. Staatsexamen wissenschaftlicher Assistent an der Universität Regensburg. Promotion nach einem Aufbaustudium der Pädagogik und Politischen Wissenschaften. 1982-94 Leiter der Grundschule Saal a. d. Donau. Seit 1993 Bundesvorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE). Seit 1996 Vorsitzender der Expertenkommission Schule, Bildung und Wissenschaft des Deutschen Beamtenbundes (dbb); seit 2003 stellvertretender Vorsitzender der dbb Akademie. Zugleich Vizepräsident des Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverbandes (BLLV). Andrea Kiewel Andrea Kiewel, ehemaliges Mitglied der DDR-Schwimmnationalmannschaft. Pädagogikstudium in Berlin. 1988-91 Lehrerin in Berlin Hellersdorf. Tätigkeit für verschiedene Fernsehsender seit 1991. ZDF-Moderatorin, Fernsehgarten und Frühstücksfernsehen. STATEMENT wie Herr Busemann es tut. Aber ich habe eine andere Rolle. Ich bin fest davon überzeugt, dass man einen ganzen Wust von Erlassen und Verordnungen einfach streichen könnte, um zu sagen: Schule mach, Hauptsache, das Ergebnis stimmt. Wenn man der Schule mehr Eigenverantwortung zusprechen will, dann sollten die Lehrerinnen und Lehrer auch wirklich Verantwortung tragen dürfen und nicht permanent verantwortlich gemacht werden. Deswegen müsste bereits in der Ausbildung eine ganze Menge passieren, damit sich Lehrerinnen und Lehrer zu Personen, ja Persönlichkeiten ausbilden können, die zur Freiheit erziehen sollen, die deshalb auch pädagogische Freiheit beanspruchen dürfen und müssen. Deshalb bin ich sehr sicher, dass die Lehrerinnen und Lehrer unter der ständigen Gängelei eher leiden. Und ein Minister muss das natürlich so darstellen, Überhaupt leben wir ja in einer Zeit, in der dereguliert und dezentralisiert werden muss, d. h. Entscheidungen sollten von den Betroffenen gefällt werden können. An den Schulen brauchen wir zwar Beratung, Systemberatung von außen, vor allem pädagogische Beratung, aber wir müssen innerhalb der Schule diejenigen sein, die die kleine Polis aufbauen, und davon sind eigentlich drei Gruppen betroffen. Das sind als Allererstes die Schülerinnen und Schüler, die Lehrerinnen und Lehrer und die Eltern. Wenn man die machen ließe und Vertrauen hätte, dann Ludwig Eckinger 94 Eckinger/Kiewel/Busemann/Loos: Selbstständige Blindtext Schulen Bernd Busemann Bernd Busemann, geb. 1952. Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Köln. Erstes juristisches Staatsexamen 1979. Nach Referendariat beim OLG Oldenburg Zweites juristisches Staatsexamen 1982. Seit 1982 Rechtsanwalt, seit 1985 Notar. Mitglied der CDU seit 1971. Abgeordneter im niedersächsischen Landtag seit 1994; Stellvertretender Vorsitzender der CDU-Landtagsfraktion seit 1998. Seit 2003 niedersächsischer Kultusminister. Barbara Loos Barbara Loos, geb. 1944. Studium der Germanistik und Anglistik in Bonn, Hull/GB und München. 1970 Gymnasiallehrerin. 1983-86 Lehrbeauftragte an der Universität Passau. Seit 1988 Direktorin des Max-BornGymnasiums in Germering. 1990 Landesvorsitzende der Bayerischen Direktorenvereinigung. Seit 2001 Vorsitzende der Bundesdirektorenkonferenz. 1998 Leitung des Forums „Schulentwicklung und Qualitätssicherung“ auf dem Bildungskongress des bayerischen Kultusministeriums. Seither Mitglied der Projektgruppe „Schulentwicklung“ im Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus. würde alles viel, viel besser laufen, als das zurzeit der Fall ist. Ich spreche für die Lehrerinnen und Lehrer, die mehr Verantwortung wollen. Über die Lehrerausbildung ist hier noch eine Menge zu bewegen, aber ich denke, dass wir das nicht von heute auf morgen anpacken können. tionen stattfinden, die der Schulentwicklung dienen, denn wenn es so weitergeht wie bisher, dann habe ich eher den Eindruck, dass wir in Zukunft statt „Guten Morgen“ „Heute schon evaluiert?“ sagen sollen, und das ist eine Methode, die ich nicht akzeptieren kann. Ein Paradebeispiel für Gängelei ist der Umgang mit Bildungsstandards und Evaluation. Die Kultusminister in Deutschland haben offenbar überhaupt nicht mitbekommen, dass die Bildungsstandards, die aufoktroyiert wurden, bis jetzt nicht in der Schule angekommen sind, aber es wird schon von interner und externer Evaluation geredet. Es hätte jetzt bloß noch gefehlt, dass von Visitation gesprochen würde. Doch die Zeiten sind vorbei, und zwar endgültig. Das heißt also, es müssen Evalua- Ich wünsche mir, dass Bildungsstandards so definiert werden, dass sie nicht nur als Überschriften von Lehrplänen dienen, sondern dass sie bei den Lehrerinnen und Lehrern auch ankommen, denn keine Reform in der Geschichte der Pädagogik hat je funktioniert, ohne dass Überzeugungsarbeit bei den eigentlich Betroffenen, nämlich den Lehrerinnen und Lehrern, geleistet worden ist. Das ist bisher nicht geschehen, die Bildungsstandards sind in der Praxis nicht angekommen. Deswegen brau- 95 chen wir auch noch gar nicht so viel von Evaluation zu reden, wenngleich wir uns dazu bekennen. In der Primärerklärung 2000 haben alle Lehrergewerkschaften Deutschlands mit der Kultusministerkonferenz unterschrieben, dass wir interne und externe Evaluation wollen, allerdings mit der Einschränkung, dass sie die Schulentwicklung weiterbringen soll. Schule soll eine lernende Organisation sein können, dann kommen wir auch auf dem Weg einer verantwortlichen, einer selbstverantwortlichen, einer mündigen Schule weiter. Ich glaube, dass wir eine neue Schulkultur brauchen, zu der letzten Endes natürlich auch die Einbindung der Eltern gehört. Ich nen wir Lehrerinnen und Lehrer allein nicht leisten. Deshalb meine ich, dass zu einer Schule auch Schulsozialarbeit usw. gehört. Die Zusammenarbeit mit den Eltern jedenfalls funktioniert noch nicht so gut, wie es sein müsste, und wir können hier noch eine Menge tun. Übrigens auch, das sage durchaus selbstkritisch, in der Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer. In der Zwischenzeit gibt es Module für alles Mögliche, aber bezeichnenderweise nicht für Elternbildung. Wenn ich Eltern aber nicht auf Augenhöhe begegne, dann ist u. U. Aggressivität schon vorprogrammiert. Also auch da gibt es noch eine Menge zu tun. Aber ohne Eltern, ohne Elternmitwirkung, werden wir in der Schule keine Eigenverantwortung erreichen. „Ich wünsche mir, dass Bildungsstandards so definiert werden, dass sie nicht nur als Überschriften von Lehrplänen dienen, sondern dass sie bei den Lehrerinnen und Lehrern auch ankommen, denn keine Reform in der Geschichte der Pädagogik hat je funktioniert, ohne dass Überzeugungsarbeit bei den eigentlich Betroffenen, nämlich den Lehrerinnen und Lehrern, geleistet worden ist. Das ist bisher nicht geschehen, die Bildungsstandards sind in der Praxis nicht angekommen.“ stimme mit Minister Busemann darin überein, dass wir eine gestufte Verantwortlichkeit brauchen, und da haben die Eltern eine wesentliche Funktion. Ohne Elternmitarbeit wird die kleine Polis nicht funktionieren, d. h. wir brauchen ein neues Vertrauensverhältnis, und dazu gehört auch die gleiche Augenhöhe. Das betrifft sowohl die Einzelgespräche, dass ich etwa als Lehrerin, als Lehrer gegenüber den Eltern Transparenz in Bezug darauf herstellen muss, warum ich eine Note X gegeben habe. Das muss von den Professionals geleistet werden, das gehört dazu. Aber auch das Einbinden der Eltern insgesamt in das Schulleben ist wichtig, und da genügt es nicht, dass man nur Wurstsemmeln verkaufen darf, sondern man muss wirklich das Schulleben mitgestalten dürfen, mitwirken können. Dann erst entsteht eine kleine Polis, die ich für einen großen Fortschritt im Hinblick auf eine eigenverantwortliche Schule halte. Auch in diesem Punkt bin ich ganz optimistisch. Wenn man Elternabende anberaumt und dann nur über Nebensächliches redet, ist das viel zu wenig. Man braucht eine Tagesordnung, die spannend sein kann, und die Eltern müssen den Eindruck haben, dass sie eingebunden werden sollen, dass sie mitentscheiden können. Auf der anderen Seite erwarten die Lehrerinnen und Lehrer natürlich auch einen Umgang mit Anstand. Wenn Sie sich vorstellen, wie viele Kinder heute, auch in die Grundschule, ohne Frühstück kommen, wie viele Kinder vollkommen übermüdet sind, wie viele Jugendliche mit einer „Null-Bock-Mentalität“ in die Schule kommen und vielleicht auch zu Hause noch aufgefordert werden, nichts zu tun, dann ist das schrecklich. Hier muss man den Aspekt der Erziehung und Bildung wirklich wieder in den Vordergrund rücken und Mut zur Erziehung haben. Das kön- 96 Ich habe persönlich sehr gute Erfahrungen mit Schulprogrammen gemacht, in die auch Abmachungen mit Eltern, Erziehungsprogramme integriert sein können. Ich habe zum Beispiel selbst mal ein Programm durchgeführt mit den Eltern, Schülerinnen und Schülern, den Lehrerinnen und Lehrern. Da gab es nicht nur eine Bachpatenschaft, was man auch machen kann, sondern weit darüber hinaus etwas, das hieß: Wir wollen eine Schule der Toleranz sein. Wir haben selber schnell gemerkt, dass man nicht mal eben in der dritten Unterrichtsstunde zur Toleranz erziehen kann, sondern dass da eine Atmosphäre, ein Klima der Toleranz sein muss. Das hat uns alle unglaublich gefordert. Doch nach einem Jahr konnte jeder äußere Beobachter sagen: „Ja hoppla, die nehmen aufeinander Rücksicht“, nicht nur auf Migranten, sondern der Umgang miteinander war insgesamt freundlicher, man hat aufgepasst, man hat sich in der Frühe gegrüßt, sodass das Attribut „freundliche Schule“ schon einigermaßen gestimmt hat. Dazu möchte ich Schulen auffordern, das ist vielleicht wichtiger als irgendwelche Aktionen in Richtung kognitiver Leistung, die wir auch haben müssen. Andernfalls droht der rücksichtsvolle Umgang miteinander, der bei PISA natürlich überhaupt nicht gemessen wurde, in Deutschland unterzugehen. STATEMENT Andrea Kiewel Ich fand das Beispiel der Schule aus Berlin-Kreuzberg typisch, in der in Zusammenarbeit mit Eltern, Schülern und der Schulleitung sehr unpopulär beschlossen wurde, dass auf dem Schulhof Deutsch gesprochen wird, obgleich 100 Prozent der Schüler nicht deutscher Abstammung sind, auch nicht Deutsch sprechen. Das Ganze war einen Tag lang in der Zeitung, alle haben sich darauf gestürzt. Doch was hat das mit Selbstständigkeit zu tun? Ich sitze als Mutter davor und denke, dass da wieder viel geredet wird, und wenn dann tatsächlich einer etwas initiiert, fallen alle drüber her. Das Nächste, was an der Selbstständigkeit besonders schwer sein wird, ist, dass der Schulleiter ja dann nicht mehr bloß Schulleiter ist, sondern Manager sein soll. Und ein Problem wird sein, dass im Moment – so jedenfalls mein Empfinden und mein Erleben in Bezug auf das Gymnasium meines Sohnes – zwischen Lehrerschaft und Elternschaft ein Klima herrscht wie zu Zeiten des Kalten Krieges. Die Krieger sind die Nato, die Eltern sind Warschauer Pakt, und einer will dem anderen beweisen, dass er Recht hat und besser ist. Solange diese Kluft nicht überwunden werden kann, fehlt das Gemeinsame. Da muss viel mehr Unterstützung kommen, auch von den Schulleitern, und weniger Verordnung, finde ich als Mutter. Foto: VdS Bildungsmedien Eckinger/Kiewel/Busemann/Loos: Selbstständige Schulen Dr. Ludwig Eckinger und Andrea Kiewel während der Diskussion auf dem Podium. Ich bin Mutter eines Sohnes, der kurz vor dem Abitur steht. Bei der Frage, wie sich Eltern selber in der Schule einbringen können, muss ich bekennen, dass ich ein bisschen elternabendgeschädigt bin. Auf dem letzten Elternabend in Klasse 12 haben wir 40 Minuten darüber diskutiert, ob auf der Klassenfahrt Cola getrunken werden darf oder nicht. Dafür ist mir meine Zeit wirklich zu schade. Ansonsten muss ich sagen, dass mein großer Sohn Max in der Schullehrerlotterie eigentlich fast immer einen Sechser oder zumindest den Fünfer mit Zusatzzahl gezogen hatte. Die Lehrer, mit denen er es zu tun bekam, waren sehr engagiert und offen für Anregungen von uns Eltern. Ich persönlich finde es gar nicht verkehrt, dass der Schulleiter, wenn in einer Klasse in einem Fach permanent von vielen Schü- nen wollen. Der Schulleiter muss ihm dann klar machen, dass es sein Job ist, nicht nur den Stoff so zu vermitteln, dass gelernt wird, sondern auch so, dass die Schüler Spaß beim Lernen haben. Mein Sohn Max ist wie gesagt im 13. Schuljahr, seine Mitschülerinnen und Mitschüler werden im Sommer alle 20 sein. 90 Prozent von ihnen wissen überhaupt nicht, wie es nach der Schule weitergeht. Und da läuft, finde ich, irgendwas ganz, ganz schief. Ich selbst bin sehr gerne zur Schule gegangen, ich war immer eine Einser-Schülerin, Abitur mit Auszeichnung, Studium auch. Aber ich war keine Streberin, es fiel mir einfach leicht. Ich bin jedoch auch erst mit sieben eingeschult worden. Deswegen finde ich dieses Wort PISA-Schock und die daraus resultierenden Überlegungen, die Kinder mit fünfeinhalb einzuschulen, „Es erschreckt mich sehr, in welchem Maß Eltern ihr Bauchgefühl verloren haben. Irgendwie wurschteln wir uns alle durch. Früher, in den 1970er-, 1980er-Jahren waren die einen antiautoritär und die anderen autoritär; jetzt ist irgendwie gar nichts. Jetzt brauchen wir plötzlich Supernannys, die uns sagen, dass man am Tisch still sitzt und nicht dazwischenquatscht, wenn Eltern reden. Meine Eltern wussten das noch, und so alt sind die auch nicht.“ lern schlechte Noten geschrieben werden, seinen Lehrer auch einmal fragt, woran das liegt. Der Lehrer sagt dann, er könne doch nichts dafür, wenn die Schülerinnen und Schüler nicht ler- komplett falsch. Ich habe einen Sohn, der gerade fünf ist und der ja dann im Sommer in die Schule gehen müsste. Er trägt nachts noch Windeln. Ich stelle mir vor, wie mein Erstklässler 97 im Heimatkundeunterricht sitzt und Windeln anhat. Er ist einfach noch zu klein, und ich habe als Lehrerin selbst gemerkt, dass die Kinder, die sechseinhalb und sieben sind, wirklich gut bereit waren zu lernen, auch sozial und emotional in der Lage dazu waren, während diese kleinen Fünfeinhalb- und Sechsjährigen immer ein Jahr hinterherhingen. Das ist meine Erfahrung als Lehrerin und jetzt auch als Mutter eines kleinen Jungen. Das Stichwort Elternschule hört sich fast so an, als müsste man in Zukunft einen Elternführerschein ablegen, bevor man überhaupt schwanger werden darf. Ich bin total dagegen. Ich glaube, alle Eltern sollten sich zunächst einmal darauf besinnen, dass an allererster Stelle sie für die Erziehung ihres Kindes zuständig sind und nicht die Schule. Und es erschreckt mich sehr, in welchem Maß Eltern ihr Bauchgefühl verloren haben. Irgendwie wurschteln wir uns alle durch, früher, in den 1970er-, 1980er-Jahren waren die einen antiautoritär und die anderen autoritär; jetzt ist irgendwie gar nichts. Jetzt brauchen wir plötzlich Supernannys, die uns sagen, dass man am Tisch still sitzt und nicht dazwischenquatscht, wenn Eltern reden. Meine Eltern wussten das noch, und so alt sind die auch nicht. Außerdem sollten Lehreramtsstudenten an den Unis vielleicht irgendein entsprechendes Zusatzfach haben, zusätzlich zur Didaktik. Und das Dritte ist, dass ich als Mutter vom Lehrer – auf dessen Seite ich immer hundertprozentig bin, weil ich ihm ja besten Wissens und Gewissens für sechs, sieben Stunden am Tag mein Kind anvertraue, weil ich ihm Wissen nicht so vermitteln kann, wie es ein Lehrer vermag – dann auch erwarte, dass eine Klassenarbeit nicht erst nach sechs Wochen kontrolliert zurückgegeben wird, sondern wenigstens nach einer Woche. Ich verstehe bis heute nicht, dass mein 19-jähriger Sohn, der gerade eben, Ende Januar, drei schriftliche Abiturprüfungen abgelegt hat, das Ergebnis erst Ende Mai bekommt. Das ist, als bekäme ich ein Kind und nach vier Monaten sagte der Arzt zu mir: „Frau Kiewel, herzlichen Glückwunsch, es ist ein Junge.“ Das, finde ich, geht nicht. Ich fände es schön, wenn das Thema selbstständige Schulen auch beinhalten würde, dass zum Beispiel so genannte Stundentafeln anders gebaut werden. Ich stehe als Mutter immer ratlos davor, wenn Montag früh gleich zwei Stunden Sport stattfinden und in der 7. und 8. Stunde Französisch. Dann weiß ich genau, dass das hier rein und da raus geht. Dasselbe gilt für das so genannte G 8, also Abitur nach 12 Jahren, in Baden-Württemberg: In der Schule eines befreundeten Jungen wurde der Sportunterricht abgeschafft, um ebendiese Stunden reinzuholen. Dafür ist jetzt im Januar Schulschwimmen, was bedeutet, dass die Hälfte der Klasse permanent mit Husten und Schnupfen am Beckenrand sitzt. Wer denkt sich so etwas aus, frage ich mich. Wenn dann die Schulen selbstständig sagen können, Schulschwimmen machen wir im Mai, und Sport findet trotzdem statt, und dafür packen wir irgendwoanders was zusammen, bin ich ab sofort hundertprozentig für selbstständige Schulen. 98 STATEMENT Bernd Busemann Das Thema eigenverantwortliche Schule und alles, was damit zusammenhängt, Qualitätsentwicklung z. B., ist absolut aktuell und bestimmt auch die Gespräche hier auf der „didacta – die Bildungsmesse“. Das Ganze hat eine Vorgeschichte und wurde ausgelöst durch den Schock, den PISA uns zu Beginn dieses Jahrzehnts zu Recht verpasst hat. Wir haben uns in der bildungspolitischen Landschaft der OECD-Länder, aber auch im Vergleich der Bundesländer an einem Tabellenplatz wiedergefunden, mit dem wir nicht gerechnet hatten. Als Bildungspolitiker in Verhandlung mit Finanzministern ist es mir manchmal ganz lieb, dass wir diesen Schock bekommen haben, sodass wir hier zumindest nicht gedrosselt werden, sondern dass man sagt: Für Bildung wollen wir was tun. In der Folge sind diese Überlegungen natürlich forciert worden. Wir mussten überlegen, wie wir ein Bildungssystem insgesamt effektiver machen können, wie sich bessere Schulabschlüsse erzielen lassen. Eine Grundüberlegung bestand darin zu sagen, wir schauen uns im Ausland, in der Wirtschaft um. Was sagt die PISA-Studie, was sagen die OECD-Auswertungen zu unserer Frage? Es zeigte sich, dass offenbar die Systeme, die Schulstandorte, die sich mit mehr Eigenverantwortung selber organisieren können, unter dem Strich die besseren Ergebnisse bringen. Also wird man das akzeptieren müssen. Rein administrativ ist es nicht einfach, ein System, das über hundert Jahre gewachsen ist, in wenigen Jahren umzustülpen und dabei alle Beteiligten auch mitzunehmen. Aber wir müssen diesen Weg miteinander gehen, und wir brauchen die Unterstützung durch entsprechende Ressourcen. Ich glaube, es geht in die richtige Richtung, wenn wir nur die Schrittfolge einhalten: Mehr Eigenverantwortung ja, doch der Staat setzt zunächst die Rahmenbedingungen. Wir haben uns mittlerweile auf Bildungsstandards verständigt, und der Staat lässt dann schrittweise Leine. In diesen riesigen Systemen – mit allein etwa 80 000 Lehrern in Niedersachsen – können Sie nicht mit dem Finger schnippen und sagen: Morgen seid ihr selbstständig und dürft selber bestimmen, wofür kein Geld da ist. Die Veränderungen müssen in Schritten erfolgen. Auch das Thema Budgetierung an den Schulen wollen wir alle gerne angehen. Die Schulen sagen, wenn der Schulträger, aber auch das Land genügend Geldmittel geben und wir genug Lehrerressourcen bekommen, dann werden wir damit schon fertig. Wenn aber der Staat diese Eigenverantwortlichkeit – manche sagen Selbstständigkeit, Autonomie oder Eigenständigkeit – dazu nutzt zu sagen: Wunderbar, die können das ja alles alleine, jetzt setzen wir die Daumenschrauben an und versuchen, das Ganze billiger zu fahren, dann kann das nicht funktionieren. Also die Ressourcenfrage muss geklärt sein, aber wir müssen uns davor hüten, das als Möglichkeit für Einsparungen anzusehen. Eckinger/Kiewel/Busemann/Loos: Selbstständige Blindtext Schulen Ein Mehr an Eigenverantwortlichkeit stellt eine größere Anforderung insbesondere an die Schulleitungen dar. Sie sagen mir: „Schule soll ja ohnehin alle Probleme der Gesellschaft nebenbei lösen, wir stoßen da an Leistungsgrenzen, Kultusminister, wie stellst du dir das vor? Da muss in Form von Geld oder Stunden oder Leitungszeit irgendetwas kommen.“ Und ich antworte: „Okay. Ich glaube, das können wir leisten, daran wird der Staat nicht fiskalisch kaputtgehen.“ Das jetzige Niveau zu halten, vorsichtig zu steigern, das bekommen wir mit vernünftigen Ressourcen vernünftig hin. Am Ende müssen wir bei einer eigenverantwortlichen Schule schauen, wie die Ergebnisse aussehen, ob wir besser geworden sind. Die Einführung von eigenverantwortlichen Schulen kann jedoch nicht bedeuten, dass wir die staatliche Verantwortung völlig aufgeben. Wir haben Ressourcenverantwortung, aber wir haben auch die Verantwortung dafür, Bildungsstandards zu setzen, die Messlatte zu legen und zu definieren, wo wir hinwollen. Es soll ja besser werden. Daher müssen wir eine Kultur von regelmäßig stattfindenden Vergleichsuntersuchungen entwickeln, d. h. beispielweise für unser Land, dass überall dort, wo ein Abschluss vergeben wird, auch eine Abschlussprüfung gemacht werden muss. Im Frühling dieses Jahres gibt es in Niedersachsen erstmals das Zentralabitur. Und wir müssen auch zwischendurch in gewissen Abstän- Dass wir die Selbstevaluation in der Schule auch wirklich angehen, merken Sie z. B. in Niedersachsen daran, dass wir seit zwei Jahren mit der Bertelsmann Stiftung kooperieren. 120 Schulen nutzen bereits das Instrument „Selbstevaluation in Schulen“ (SEIS). Andere Schulen, unsere Berufsschulen mittlerweile alle und demnächst wahrscheinlich ein großer Teil der allgemein bildenden Schulen, nutzen das EFQM-(European Foundation for Quality Management)-Modell zur Selbstüberprüfung. Das muss und soll in den Schulen selber stattfinden, ohne dass der Staat kommt. Aber ich will vielleicht noch eins zu Herrn Eckinger sagen. Da und dort mögen wir unterschiedlicher Meinung sein, aber vom Staat wird doch erwartet, dass er, wenn er mehr Möglichkeiten zur Qualitätsentwicklung, mehr Freiheiten an die Schulen gibt, trotzdem dafür sorgt, dass das Gesamtsystem funktioniert. Wenn die Politik anfängt, Bildungsstandards in die Curricula zu implementieren, die von der KMK und anderen entwickelt worden sind, dann müssen wir doch dafür sorgen, dass das Schulwesen auch funktioniert. Das betrifft bei uns 10 Millionen Schüler, 800 000 Lehrer, zigtausend Schulstandorte, da dürfen wir Minister nicht alles dem Zufall überlassen. Also müssen wir die Mechanismen der Evaluation, der Qualitätsentwicklung, der „Am Ende müssen wir bei einer eigenverantwortlichen Schule schauen, wie die Ergebnisse aussehen, ob wir besser geworden sind. Die Einführung von eigenverantwortlichen Schulen kann jedoch nicht bedeuten, dass wir die staatliche Verantwortung völlig aufgeben. Wir haben Ressourcenverantwortung, aber wir haben auch die Verantwortung dafür, Bildungsstandards zu setzen, die Messlatte zu legen und zu definieren, wo wir hinwollen.“ den prüfen – und das am besten bundesweit vergleichen, landesweit allemal –, wo wir stehen, denn wir wollen ja PISA nicht noch einmal erleben. Dabei ist ein Instrument ganz wichtig, die Schulinspektion, im Volksmund einfach Schul-TÜV genannt. Wir kommen mit unseren Experten etwa alle drei bis vier Jahre in die Schule, überprüfen sie als Ganzes, vom Hausmeister bis zur Schulleitung. Es gibt Unterrichtsvisiten in großer Zahl, um die Unterrichtsqualität festzustellen. Über diese Schulinspektion erfolgt eine Art Messung, ob wir besser werden oder ob wir nachlassen. Solche Kontrollen und Unterstützungsmechanismen sind aus der staatlichen Verantwortung heraus unerlässlich. Wir fangen jetzt flächendeckend im ganzen Land damit an, und zwar so, dass es etwas bringt. Da kommt nicht der Knüppel von oben, sondern die Schulen sollen selber merken, dass sie an sich arbeiten müssen und dass sie in drei, vier Jahren, wenn die Schulinspektion mal wiederkommt, auch besser sein wollen. Die Schulinspektion ist die letzte Stufe des ganzen Paketes. Prüfung im Griff behalten, damit das Ganze nicht aus dem Ruder läuft. Alle Kultusminister, parteiübergreifend, sind da in Deutschland gut unterwegs und guten Willens, es muss bloß organisiert werden. Denn wenn etwas schief geht, wissen wir ja, wer schuld ist. Es darf also kein Öffnen in die Beliebigkeit stattfinden. Aber so, wie Schule gewachsen ist, kann es auch nicht bleiben. Wir kennen das aus der Vergangenheit, dass die Schule sich von der Gesellschaft nicht großartig in die Karten schauen lassen wollte. Forschung und Lehre tragen uns das auch immer vor. Ich glaube, das müssen wir auch zum Wohle der Schule etwas aufbrechen. Schule muss sich öffnen, sie ist Teil des gesellschaftlichen Umfeldes, sie steht irgendwo auch im Wettbewerb. Da muss man zulassen, dass Eltern und andere sich mehr als bisher einbringen, dass Öffentlichkeit sich kümmert. Man will schließlich auch Steuergelder einfordern. Wir sollen mehr für Bildung tun? Da muss man sagen: jawohl. Wir machen Qualitätsentwicklung, wir sind gut, wir sind selbstbewusst, wir stehen im 99 Wettbewerb, und wir können das, was wir machen. Die Schulen in Niedersachsen und anderswo in Deutschland haben auch etwas vorzuzeigen. Es ist notwendig, ein bisschen offener miteinander umzugehen, Dinge wie den Schul-TÜV zuzulassen und selbstbewusst damit umzugehen. Ein schwieriges Thema ist es, wie wir die Eltern mehr in die Verantwortung nehmen können, und zwar nicht nur die Interessierten, die sowieso zum Elternabend oder zum Sprechtag kommen, sondern auch die vielen anderen, die ihre Kinder vernachlässigen oder sich überhaupt nicht um sie kümmern und denken, der Staat regele alles. Ich habe dafür keine Patentrezepte, kann das Problem nicht ideal lösen. Wir arbeiten in diesen Tagen in Niedersachsen an einer Änderung des Schulgesetzes. Wir wollen zu der bisherigen Vertretungsebene – in der Gesamtkonferenz sind die Eltern ja vertreten –, einen weiteren Schulbeirat schaffen, in dem die Schule Rechenschaft ablegen muss über die Grundsätze, ihr Programm, auch über Haushaltsfragen. Hier müssen die Eltern Teilhabe bekommen, damit sie wissen, was in diesem „Betrieb“ der neuen Struktur entsprechend los ist. Erfahrungsgemäß sitzen in solchen Gremien häufig Elternfunktionäre. Die breite Masse, die ganz normalen interessierten Eltern wollen noch anders angesprochen sein. Das müssen die Schulleitung und die Lehrerschaft noch etwas besser hinkriegen. Die Forderung nach Schulsozialarbeit unterstreiche ich voll. Ab 2007 bekommt jede Hauptschule einen Sozialarbeiter. Das sehe ich als unterrichtsstützende Leistung an, und es ist eine sehr fruchtbare Geschichte. Gut wäre es, wenn man das verbreitern könnte, aber da stoßen wir an Grenzen der Bezahlbarkeit. Weiterhin gibt es die sog. harten Fälle – auch bei den Eltern –, diejenigen, die sich überhaupt nicht interessieren, null Bock, kein Interesse. Wir haben hier in Hannover das Kriminologische Institut, Herrn Professor Pfeifer, der übrigens den Vorschlag gemacht hat, Elternschulen einzurichten. Das hört sich schon wieder nach Schule und Organisation an, aber ich glaube, wenn man von diesem Begriff mal ein bisschen weggehen und bestimmte betroffene Kreise einmal zusammenziehen würde, um ihnen beizubringen, was sie für ihre Kinder zu tun und zu lassen haben, damit der schulische Erfolg besser gelingen kann, wäre das vielleicht gar keine so schlechte Idee. STATEMENT Barbara Loos Meine Schule ist vor wenigen Jahren den Weg in die Selbstständigkeit gegangen, und mir geht es sehr gut dabei. Nicht zuletzt deshalb, weil an meiner Schule Elternschaft, Lehrerschaft und Schülerschaft zusammenarbeiten und wir uns das anders eigentlich gar nicht mehr vorstellen können. Als wir in Modus 21 („MODell Unternehmen Schule im 21. Jahrhundert“) eingestiegen sind, war die Voraussetzung, dass alle drei Gruppen zusammen mit den Sachaufwandsträgern natürlich damit 100 einverstanden sind, und zwar mit mindestens Zweidrittelmehrheit, dass wir in diesen Schulversuch einsteigen. Modus 21 beruht auf drei Prämissen, die eine davon ist die verfassungsrechtliche Verantwortung des Staates für die Bildung. Deshalb kann der Staat sich auch nicht einfach aus der Verantwortung ziehen. Aber die Schulen müssen herausfinden, was staatlicherseits vorgegeben sein muss und was besser vor Ort in der Schule geregelt werden kann. Und es ist ein Ziel von Modus 21, das herauszufinden. Die zweite Prämisse: Das, was wir machen, muss einen Einfluss auf die Qualität von Schule und Unterricht haben. Alles andere ist in dem Zusammenhang eine Verschwendung der Arbeitszeit von Lehrern. Die dritte Prämisse ist, dass die Entwicklung von unten her erfolgen muss. Bei Modus 21 haben die Schulen vier Arbeitsbereiche vorgegeben bekommen: Qualität von Unterricht Zusammenarbeit mit externen Partnern Personalentwicklung und Personalverantwortung Budget, Sachmittel Was wir in diesen vier Bereichen in Angriff genommen haben, welche Modelle wir entwickelt haben, lag dann an der einzelnen Modus-Schule. Auf diese Art und Weise konnten wir als Schule uns genau auf das konzentrieren, was in unserer eigenen Schule wesentlich war. Wir werden von der Stiftung Bildungspakt Bayern gefördert, bekommen ein paar Anrechnungsstunden oder Ermäßigungsstunden, und wir bekommen ein bisschen Geld, haben allerdings die Verpflichtung, unsere Maßnahmen so vorzubereiten, dass sie von anderen Schulen übernommen werden können. Wir müssen zur Verfügung stehen, um anderen Schulen weiterzuhelfen, sie fortzubilden usw. Es geht mir als Schulleiterin sehr gut, weil ich so ganz andere Steuerungsmöglichkeiten habe. Tatsächlich müssen jedoch zwei Dinge bei aller Eigenverantwortlichkeit dazukommen, das eine ist ganz ohne Frage Evaluation, und das zweite ist Führung. Deshalb ist es ganz logisch, dass nach Modus 21 jetzt der Modus Führung kommt, wobei wir neue Führungskonzepte erarbeiten, Konzepte zu den Fragen, wie man die Arbeit, die sicherlich zugenommen hat, auf mehr Schultern verteilt, ob man eine mittlere Führungsebene einzieht, ob man Leitungsassistenz einführt usw. Zum Thema Einbeziehung der Eltern kann ich sagen, dass sich mit Modus 21 auch hier sehr viel geändert hat. Bevor ich das darstelle, möchte ich jedoch noch ein Wort zu Frau Kiewel sagen, weil mir das ein wirklich wichtiger Punkt ist. Es sagt sich so leicht, dass Schule Spaß machen muss, aber ich würde ganz gerne propagieren, dass sie nicht Spaß, sondern Freude machen muss. Leistung beispielsweise macht Freude, Erfolg macht auch Freude. Spaß suggeriert immer, dass vorne einer steht und möglichst wie ein Showmaster herumhüpft. Vielleicht können wir uns daher auf das Wort Freude verständigen. Dass die Eltern natürlich von Anfang an mit im Boot sein mussten, war klar. Eltern haben inhaltlich in Arbeitsgruppen mitgearbeitet, die sich mit allen möglichen Weiterentwicklungsfragen befassten. Selbstverständlich sind in diesen Gruppen immer Schülerinnen, Schüler, Eltern, Lehrerinnen und Lehrer. Wir Foto: VdS Bildungsmedien Eckinger/Kiewel/Busemann/Loos: Selbstständige Schulen Mehr Selbstständigkeit für die Schulen – dass dies sein muss, ist inzwischen Konsens. Im Bild Gaby Miketta von Focus Schule, Minister Busemann und Barbara Loos (von links nach rechts). haben sowohl von den Eltern als auch von den Schülern sehr, sehr interessante Anregungen bekommen – selbst von den Fünftklässlern. Die sind viel ernsthafter, wenn es um solche Dinge geht, als man das für gewöhnlich meint. Unser Elternbeirat hat zum Beispiel ein Branchenbuch entwickelt: Die Eltern konnten sagen, welche Fähigkeiten, Verbindungen, Möglichkeiten sie der Schule zur Verfügung stellen können. Das reicht von der tatkräftigen Mithilfe bis zu irgendwelchen Expertenfähigkeiten oder Verbindungen, die sie zu bestimmten Firmen haben, wordurch wir etwa billiger einkaufen können usw. Dieses Branchenbuch hilft uns auch, im Unterricht Eltern heranzuziehen, wenn wir ganz bestimmte Fähigkeiten brauchen, die wir selber nicht haben. Das bedeutet für die Schule eine sehr weite Öffnung. Freilich könnte man fragen, ob das alles richtig und gewollt ist. Wenn man Schule öffnet, muss man vielleicht auch mit Sachen leben, die man nicht unbedingt möchte. Bevor man das alles in Angriff nimmt, muss man sich Gedanken über die Rolle von Lehrerinnen und Lehrern sowie Eltern machen. Die meisten Konflikte, die wir in Schulen zwischen Eltern und Lehrern haben, entstehen daraus, dass dieses Rol- lenverhältnis nicht geklärt ist. Dabei geht der jeweils andere stets von seinem eigenen Rollenverständnis aus und meint, sein Gegenüber habe das gleiche. Also Lehrer sind die Experten für Unterrichten, für Wissensvermittlung, für Erziehung innerhalb des Unterrichts. Eltern sind die, die sozusagen die Basiserziehung liefern. Und wenn wir von diesem Rollenverständnis ausgehen und jeder der Beteiligten sich dieser Rolle bewusst ist, dann sehe ich eigentlich nur noch in extremen Fällen Konfliktpotenzial. Wenn wir uns öffnen, dann nicht so, dass wir den Eltern den Unterricht überlassen, dafür werden sie auch nicht bezahlt; sondern wir öffnen uns insofern, als wir wissen, dass wir umgeben sind von einer Fülle von Fähigkeiten, auf die wir zurückgreifen können, wenn wir sie brauchen. Das ist der Punkt. Wir öffnen uns nicht in die Beliebigkeit, um das völlig klar und deutlich zu sagen. Natürlich gibt es am Max-Born-Gymnasium auch Eltern, die meckern, oder Eltern, die Lehrer kritisieren. Und das Entscheidende ist dann, dass da ein Schulleiter ist, der hinter seinen Lehrern steht und sagt, es gibt bestimmte Dinge, über die kann nicht mehr debattiert werden. Das ist der erste Punkt. Der zweite Punkt: Wir haben morgen einen pädagogischen Tag, an dem wir uns über die Frage unterhalten wollen, wie wir miteinander umgehen. Wir hören zunächst einen Vortrag zum Thema Pubertät, und danach gehen wir in die Arbeitsgruppen, in denen Eltern, Schüler und Lehrer nach einem bestimmten vorgegebenen System erst einmal darüber debattieren, welches Rollenverständnis sie haben und welche Rezepte für jede Jahrgangsstufe, um zu einem respektvollen Umgang miteinander zu kommen. Da haben selbstverständlich die Eltern das Recht mitzureden, aber auch die Schüler und die Lehrkräfte. Und auf diese Art und Weise fühlen sich alle angenommen. Wir haben beispielsweise eine Lehrerfortbildung innerhalb der Schule zum Thema Elterngespräche gemacht, und der Elternbeirat macht das Gleiche für die Eltern: Wie redet man mit Lehrern? Danach setzen wir uns zusammen und versuchen das abzugleichen. Auf diese Art und Weise nähern wir uns einander an. „Modus 21 beruht auf drei Prämissen, die eine davon ist die verfassungsrechtliche Verantwortung des Staates für die Bildung … Die zweite Prämisse: Das, was wir machen, muss einen Einfluss auf die Qualität von Schule und Unterricht haben. Alles andere ist in dem Zusammenhang eine Verschwendung der Arbeitszeit von Lehrern. Die dritte Prämisse ist, dass die Entwicklung von unten her erfolgen muss.“ 101 Die Frage nach Bildungsgerechtigkeit bewegt sich im Spannungsfeld von Ökonomisierung und öffentlicher Verantwortung. Welchen Beitrag haben Bildungswesen, Politik und außerschulische Akteure für eine Befähigungs- und Beteiligungsgerechtigkeit zu erbringen? Reicht es aus, sich für Chancen auf dem Arbeitsmarkt bestmöglich schulisch zu qualifizieren? Oder geht es verstärkt um die Fähigkeiten zu Selbstorganisation und Partizipation mit dem Ziel der Überwindung sozialer Ungerechtigkeit in unserer Gesellschaft? Diese Fragen, zusammengefasst unter der Überschrift „GERECHT BEFÄHIGEN – GEMEINSAME VERANTWORTUNG VON KIRCHE, SCHULE UND GESELLSCHAFT“, diskutierten auf dem Podium Professor Dr. JAN-HENDRIK OLBERTZ, Kultusminister des Landes Sachsen-Anhalt, Professor Dr. THOMAS RAUSCHENBACH, Direktor des Deutschen Jugendinstituts e. V., München, Weihbischof ENGELBERT SIEBLER, Vorsitzender der Bildungskommission der Deutschen Bischofskonferenz, und Oberkirchenrat Dr. JÜRGEN FRANKE, Leiter der Abteilung „Bildung“ im Kirchenamt der EKD. Jan-Hendrik Olbertz Jan-Hendrik Olbertz, Professor Dr., geb. 1954. 1974-78 Lehramtsstudium an den Universitäten Greifswald und Halle, Fächer Deutsch und Musik. 1978-81 Forschungsstudium Erziehungswissenschaft in Halle. 1981 Promotion. 1989 Habilitation in Halle. 1990 Gastprofessur an der Universität Bielefeld. 1992 Professor für Erziehungswissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. 1993-2002 Mitglied des Landesschulbeirats Sachsen-Anhalts. 1994-2002 im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE). 1995-97 Mitglied der Enquetekommission „Schule mit Zukunft“ des Landtags von Sachsen-Anhalt. 1996-2000 Gründungsdirektor des Instituts für Hochschulforschung (HoF) Wittenberg. 2000-02 Direktor der Franckeschen Stiftungen zu Halle. Seit 2002 Kultusminister des Landes Sachsen-Anhalt. Thomas Rauschenbach Thomas Rauschenbach, Professor Dr. Ab 1971 Studium der Fächer Erziehungswissenschaft, Soziologie und Psychologie an der Universität Tübingen; 1978 Diplomprüfung in Erziehungswissenschaft, Studienrichtung Sozialpädagogik; 1981 Promotion zum Dr. rer. soc.; 1980-83 Wissenschaftlicher Angestellter und Geschäftsführer am Institut für Erziehungswissenschaft I der Universität Tübingen; 1983-89 Akad. Rat im Arbeitsbereich Sozialpädagogik der Universität Tübingen; seit 1989 Professor und Lehrstuhlinhaber für Sozialpädagogik an der Universität Dortmund; seit 2002 Vorstand und Direktor des Deutschen Jugendinstituts e. V. STATEMENT Jan-Hendrik Olbertz Was könnte die Politik unternehmen, um der Ungerechtigkeit in Bezug auf die Bildungschancen ein Ende zu bereiten? Ich denke, das Erste, was wir unternehmen müssen, ist, die Diskussion zu versachlichen und zu qualifizieren. Sonst werden wir bloß eine nächste Runde in den Strukturdebatten einläuten, die uns seit den 1970er-Jahren eigentlich kontinuierlich vom Entscheidenden abgehalten haben, nämlich von nachhaltigen und tief greifenden inneren Schulreformen. Für mich sind diese immer von Neuem beginnenden Debatten Ausdruck einer um sich greifenden Fantasie- und Einfallslosigkeit sowohl in der 102 Pädagogik als auch in der Politik. Dabei wird nicht thematisiert, wie wir Gerechtigkeit eigentlich definieren wollen. 1. Sie können natürlich leicht sagen, ein System sei dann gerecht, wenn darin immer mehr Kinder immer länger gemeinsam lernen. Das klingt zunächst gut, aber ich würde doch gerne wissen, was sie lernen und wie sie lernen in dieser Gemeinsamkeit. Dann stellt sich nämlich heraus, dass auch in einer solchen Gemeinsamkeit gravierende Ungerechtigkeit herrschen kann, wenn es keine individuellen Förderkonzepte gibt, wenn es keine Ideen gegen individuelles Zurückbleiben gibt, wenn die Schwachen sich Maßstäben stellen müssen, denen sie einfach nicht gewachsen sind, wenn der Lehrplan nicht reformiert wird und wir alle in der allgemeinen Stofffülle ersticken. Olbertz/Rauschenbach/Siebler/Frank: Gerecht befähigen Blindtext Engelbert Siebler Engelbert Siebler, Weihbischof, geb. 1937. 1963 Priesterweihe in Freising. 1965-66 Dekanatsjugendseelsorger im Landkreis Erding. 1966-71 Präfekt des Erzbischöflichen Studienseminars Traunstein. 1971-72 Hauptamtlicher Religionslehrer am Gymnasium in Traunstein und Traunreut. 1972-76 Studienrat am Gymnasium in Bad Reichenhall. 1976-85 Direktor des Studienseminars in Traunstein. 1985-86 Ordinariatsrat und Leiter des Schulreferats I des Erzbischöfl. Ordinariats München. Seit 1986 Weihbischof und Bischofsvikar für die Seelsorgsregion München des Erzbistums München und Freising, seit 2001 Vorsitzender der Kommission für Erziehung und Schule der Deutschen Bischofskonferenz. Jürgen Frank Jürgen Frank, Dr., Theologiestudium in Göttingen, Heidelberg und Marburg. 1978 Gemeindepfarrer in Fuldatal bei Kassel. 1986 Studienleiter für die Vikarsausbildung am Predigerseminar in Hofgeismar. 1991 Direktor des Pädagogisch Theologischen Instituts in Kassel und Lehrbeauftragter an der Universität GH Kassel. Seit 1997 Vorsitzender der Liturgischen Kammer der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck. Seit 2000 Leiter der Abteilung „Bildung“ im Kirchenamt der EKD und Vorsitzender der EKD-Schulstiftung. 2. Ich könnte sagen, und das höre ich auch immer wieder, das System sei umso gerechter, je mehr Kinder das Gymnasium besuchen. Wenn wir uns einen solchen Unsinn erzählen lassen, dann brauchen wir uns nicht zu wundern, dass die Diagnose entsprechend ausfällt. Man müsste dann den Bildungsgang komplett neu definieren und das Ziel der allgemeinen Hochschulreife und Wissenschaftspropädeutik verabschieden. Die andere Möglichkeit bestünde darin, die Ansprüche und Maßstäbe des Gymnasiums zu nivellieren und zu sagen, Chancengleichheit entstehe auch dann, wenn alle gleich mittelmäßig sind. So kann es also nicht gehen. Das heißt: Sobald wir herausgefunden haben, was Gerechtigkeit ist, muss eine gesunde Balan- ce gefunden werden, um einerseits ein vielfältiges und andererseits ein zugangsoffenes System zu entwickeln. Offen zu gestalten ist es, damit immer wieder Korrekturen möglich sind und die Kinder je nach ihrem Entwicklungsstand, ihren individuellen Stärken, ihrem Leistungsvermögen, ihrem Förderbedarf usw. durch ein System geführt werden können, das an ihre Stärken anknüpft und damit Erfolg erlebbar macht. Die integrierten Systeme in Deutschland sind ja allesamt den Nachweis schuldig geblieben, dass es dort gerade den Schwächeren deutlich besser geht. Das stimmt ja leider gerade nicht, wobei ich gerne einräume, dass das auch systemische Gründe hat, so dass man einen solchen Befund nicht isoliert betrachten kann. – Gleichwohl, die Lösung kann es nicht sein, und wenn wir jetzt, wie erst kürzlich durch einen UN-Inspektor praktiziert, Gerechtig- 103 keit ableiten aus der Analyse der äußeren Strukturen, dann kann das meiner Meinung nach nicht genügen, um wirklich zu beurteilen, ob das System gerecht ist und wie gerecht es ist. Wir haben in der Tat erhebliche Defizite bei der Förderung der dass der Kindergarten ein Bildungsort ist, wenn wir die Bildungsbiografie eines Kindes im Ganzen sinnvoll mitgestalten wollen, gehört das alles in eine Hand und muss sich auf ein übergreifendes Bildungskonzept gründen. „Der Grundsatz ,Jedes Kind kann etwas, kein Kind kann nichts und niemand kann alles‘ müsste das Credo einer jeden guten Schule sein, egal in welcher Struktur.“ lernschwachen Schülerinnen und Schüler. Allerdings ist schon das Attribut „lernschwach“ strittig, denn oft handelt es sich ja nur um Schüler, deren Stärken und besondere Potenziale unter den obwaltenden Bedingungen des Systems Schule einfach nicht zur Geltung kommen (können). Auf jeden Fall haben wir insgesamt erhebliche Defizite im Innern der Schule, u. a. in Bezug auf moderne Unterrichtsmethoden, die Lehrer/ElternKooperationskultur, den Lehrplan (das gilt interessanterweise an allen Schulen gleichermaßen), wir fangen bei Weitem nicht früh genug an mit der Förderung, und das System ist auch eher ratlos in Bezug auf den Umgang mit Kindern, die, aus welchen Gründen auch immer, Lernschwierigkeiten haben. Sie fallen in unserem System viel zu spät auf, werden beiseite geschoben, die nächstfolgende Bildungseinrichtung wirft der jeweils vorangegangenen Versagen vor. Das kann man durchgängig feststellen, nur um das Versagen kümmert sich keiner. Das alles sind aber keine Strukturfragen, jedenfalls nicht primär, und deswegen hat für mich in Sachsen-Anhalt immer der Grundsatz gegolten: Keine Strukturreform, ohne dass sie sich durch einen nachhaltigen Effekt im Innern der Schule legitimiert. Dann und nur unter dieser Voraussetzung bin ich offen für solche Debatten. Ist diese Voraussetzung nicht gegeben, argumentiere ich lieber als Pädagoge denn als Politiker und sage, es gibt überhaupt kein Kind, das gänzlich unbegabt ist und nur Schwächen aufzuweisen hat, es gibt aber unzählig viele Kinder, deren spezifisches Potenzial, deren Stärken einfach nicht entdeckt, dann nur halbherzig oder zu spät aufgegriffen werden und die aus diesen Gründen die Schule nicht mehr als Ort wahrnehmen können, wo man Erfolg erleben und sich wohlfühlen kann, wo man vorankommt. Der Grundsatz „Jedes Kind kann etwas, kein Kind kann nichts und niemand kann alles“ müsste das Credo einer jeden guten Schule sein, egal in welcher Struktur. Wir müssen uns auch fragen, wo die Wissenschaft ansetzen kann, um die Frage zu klären, wie Ungleichheit entsteht. In jedem Fall muss Bildung früh ansetzen. Das halte ich für absolut wichtig und kommuniziere das auch im Land. Bei uns sind die Kultusminister erst ab der Grundschule für Bildung zuständig, nicht davor. Wenn wir ernst machen mit der „Neuentdeckung“, die in Wahrheit eigentlich schon auf Fröbel zurückgeht, 104 STATEMENT Thomas Rauschenbach Ich würde gerne noch einmal beim Gedanken meines Vorredners ansetzen, ihn aber etwas weiterführen. Wenn wir die Frage der Gerechtigkeit vorrangig moralisch diskutieren, setzen wir meines Erachtens am falschen Punkt an. Ich würde das ganze Thema eher in die Frage nach sozialer Ungleichheit und nach sozialer Benachteiligung transformieren und damit bei dem ansetzen, was nicht nur moralisch, sondern auch praktisch eine Herausforderung für eine Demokratie darstellt: die fehlenden Möglichkeiten, Fähigkeiten und Ressourcen, im Erwachsenenalter sein Leben einigermaßen selbstständig zu meistern. Dies scheint mir die offenkundigste Folge von sozialer Ungleichheit und Benachteiligung zu sein. Dazu möchte ich kurz drei Hinweise geben. 1. Auch wenn es banal klingt, müssen wir als Erstes die Frage der Feststellung von Ungleichheit klären. Zunächst einmal ist doch unbestreitbar: Diese Gesellschaft produziert Ungleichheit. Jede Gesellschaft produziert Ungleichheit. Deshalb ist zu fragen: Über welche Formen der Ungleichheit reden wir? Und woran machen wir diese Ungleichheit fest? Meines Erachtens lassen sich drei Ausprägungen von Ungleichheit unterscheiden: Erstens gibt es Ungleichheit in den Ausgangsbedingungen. Kinder haben nicht durchgängig die gleichen Startchancen, Familien befinden sich nicht immer in der gleichen Ausgangslage. Dies kann ich kaum ändern, allenfalls bedauern. Ungleichheit offenbart sich aber – zweitens – auch in bestimmten ungleichen Wirkungen. Wir können feststellen, dass nicht alle ins Gymnasium kommen, wie Kollege Olbertz dies formuliert hat, oder dass manche überhaupt keinen Schulabschluss schaffen, obgleich ihre Startbedingungen vielleicht gar nicht so weit auseinander lagen. Aber auch diese Effekte werden wir wohl kaum je vermeiden können. Eine dritte, mir sehr viel sympathischere Zugangsform zielt unterdessen auf den Prozess des Umgangs mit Ungleichheit: Ungleichheit in diesem Sinne ist dann vor allem in der ungleichen Förderung begründet. Das heißt, wo investiert werden müsste, damit sich anbahnende oder vorhandene Olbertz/Rauschenbach/Siebler/Frank: Gerecht befähigen Blindtext Ungleichheit verhindert oder wenigstens ein Stück weitabgebaut werden kann, wird nicht genug investiert. Wir müssten, wenn wir nicht in die Diskussionen von vor 20, 30 Jahren und in die gleichen Muster und Antworten verfallen wollen, uns somit bei dem gestellten Thema präziser darüber Gedanken machen, über welche Art von Ungleichheit wir reden, welche Implikationen darin stecken und was für Schlüsse daraus zu ziehen sind. 2. PISA hat unzweifelhaft bestehende Ungleichheiten festgestellt. Das ist auch nicht wirklich strittig. Deshalb ist die viel interessantere Frage, wo die Ursachen von Ungleichheit liegen, wie sich diese Ungleichheit erklären lässt. Dazu hat PISA im Grunde genommen nicht allzu viel beigetragen. Oder anders formuliert: Ich glaube, dass einfache Faktoren wie Einkommen, Migration oder Schicht als solche zwar zentrale und notwendige, aber dennoch keine zureichenden Erklärungen für Ungleichheit und Benachteiligung sind. Dazu müssen wir einfach genauer hinschauen, dazu wissen wir letztendlich viel zu wenig über die jeweilige Wirkungsmacht bei den Entstehungszusammenhängen. PISA konnte mit seiner Methode der Querschnittsbefragung diesem Punkt nicht weiter nachgehen. Es wäre jedoch eine Aufgabe von Wissenschaft, hier viel genauere und präzisere Zusammenhänge ausfindig zu machen. Wir müssen die Frage der Ungleichheit so zureichend formulieren können, dass sich auch die Antworten daran messen lassen. Es ist eben nicht einfach nur der ökonomisch-berufliche Status als solcher, der alles erklärt, ansonsten dürften gar keine erwartungswidrigen Biografien zustande kommen; es ist nicht einfach die Migration als solche, die verantwortlich ist, ansonsten gäbe es nicht so große Unterschiede zwischen bestimmten Migrationsgruppen – wenn 3. An dritter Stelle stünde für mich schließlich die Frage nach dem Abbau von Ungleichheit. Wie kommen wir aus der Ungleichheit heraus? Das ist aus meiner Sicht der im Moment wirklich brisante Punkt. Hierzu möchte ich zwei Thesen in den Raum stellen: 1. Wir fangen zu spät mit der Förderung an. 2. Wir setzen viel zu eng und zu immanent an. In diesem Punkt teile ich die Ansicht von Herrn Olbertz, würde aber weiter gehen: Wir setzen viel zu immanent bei der Schule an. Wir können doch nicht allen Ernstes bei PISA feststellen, dass die soziale Herkunft eine Einflussvariable ist, die mehr erklärt als die Schule selbst, um dann bei der Frage nach den Konsequenzen wieder nur über Schule und Schulstrukturen zu reden. Das will mir wissenschaftlich nicht einleuchten. Wir müssen über eine schulimmanente oder an das Bildungssystem gebundene Sichtweise hinausgehen. Nicht im Kindergarten, sondern in der Familie müssen wir ansetzen und uns viel konsequenter Gedanken darüber machen, wie wir es in einer Gesellschaft, in der Kinder in ungleiche Ausgangslagen von Familien hineingeboren werden, schaffen, Familien bereits am Anfang so zu unterstützen, dass die in den Familien ablaufenden Bildungsprozesse nicht schon so weit auseinander klaffen, dass es für jedes weitere folgende System enorm schwierig ist, diese Disparitäten wieder abzubauen. Wenn manche Kinder tagtäglich zu Hause eine Förderung, Anregung, Unterstützung ihrer Neugier erleben, Antworten auf ihre Fragen bekommen und andere Kinder all dies nicht erfahren, dann ist das wie in der Ökonomie: Die einen mehren jeden Tag ihre Gewinne und ihr Guthaben, während sich bei den anderen die Schulden und Hypotheken unaufhaltsam anhäufen. Mit diesen ungleichen Lasten gehen sie ins Leben, und das ist ihre „Wir können doch nicht allen Ernstes bei PISA feststellen, dass die soziale Herkunft eine Einflussvariable ist, die mehr erklärt als die Schule selbst, um dann bei der Frage nach den Konsequenzen wieder nur über Schule und Schulstrukturen zu reden. Das will mir wissenschaftlich nicht einleuchten. Wir müssen über eine schulimmanente oder an das Bildungssystem gebundene Sichtweise hinausgehen. Nicht (erst) im Kindergarten, sondern (bereits) in der Familie müssen wir ansetzen …“ man beispielsweise Griechen, Spanier oder Italiener in ihrem Bildungsverhalten vergleicht. Und es ist auch nicht der bloße Bildungsstatus allein; auch in dieser Hinsicht zeigen sich immer wieder Abweichungen von den erwartbaren Durchschnittswerten. Ich plädiere deshalb dafür, auf einer zweiten Ebene sehr viel genauer hinzusehen und durch Forschung mehr über die Frage herauszufinden, wie diese Ungleichheiten entstehen, wie wir sie produzieren. Dann kommen wir möglicherweise auch gar nicht so schnell auf die zu einfachen Antworten, die Herr Olbertz zu Recht kritisiert hat. ungleiche Ausgangslage. Deshalb muss aus meiner Sicht die Konsequenz darin bestehen, viel mehr über das Thema Bildung in der Familie, Bildung durch die Familie und auch Bildung der Familie zu sprechen: Wie können wir Familien selber unterstützen, und zwar nicht erst dann, wenn die Familie bereits als solche besteht, sondern schon vorher, also bei jungen Paaren, den potenziellen Eltern? Eine ganz andere Frage ist freilich, auf welche Weise wir das bewerkstelligen können. Herr Fthenakis hat, wie ich finde, in einer hoch plausiblen Studie gezeigt, was junge Elternschaft bedeutet, welche Risiken sie in sich birgt, 105 welche Schwierigkeiten in der Kommunikation zwischen jungen Vätern und Müttern liegen. Wir müssen das Thema Bildung in der, durch die und für die Familie weitaus ernster nehmen, als dies bislang der Fall war. „Alle Menschen, gleich welcher Herkunft, welchen Standes und Alters, haben kraft ihrer Personwürde das unveräußerliche Recht auf Erziehung (und Bildung).“ Das ist der Kernsatz der Erklärung des II. Vatikanischen Konzils über die christliche Erziehung „Gravissimum educationis“. Der Gedanke ist sicher nicht neu. Wir finden ihn auch in den internationalen Menschenrechtserklärungen. Für die katholische Kirche ist er seit 40 Jahren der Leitgedanke, an dem sich das kirchliche Bildungsengagement in Theorie und Praxis orientiert. Die Orientierung an der Menschenwürde und den Menschenrechten scheint auf den ersten Blick eine Selbstverständlichkeit und wenig spektakulär zu sein. Der zweite Blick aber wird schnell erkennen, dass unsere bildungspolitische Diskussion von anderen Leitbegriffen beherrscht wird. Bildung wird heute oft ökonomisch als Investition in „Humankapital“ verstanden. Die hohe Arbeitslosigkeit und die berechtigte Sorge vieler Eltern, ob ihre Kinder einen Ausbildungsplatz finden, verleiten dazu, das Schulsystem und die Bildungsangebote danach zu bewerten, ob sie die Jugendlichen fit für den Arbeitsmarkt machen. Nun muss man sich hier sicher vor falschen Alternativen hüten. Zur schulischen Bildung gehört auch der Erwerb von Qualifikationen und Kompetenzen, die der Einzelne braucht, um am Arbeitsleben teilzunehmen. Auch die Frage nach der Effektivität und Effizienz unseres Bildungswesens ist notwendig und sinnvoll. Angesichts leerer Kassen in Staat und Kirche ist es legitim, unser Bildungswesen auch unter ökonomischen Gesichtspunkten zu betrachten und zu bewerten. Es ist jedoch gefährlich, wenn der Wert von Erziehung und Bildung mit dem wirtschaftlichen Nutzen gleichgesetzt wird. Eine solche funktionale Sicht von Bildung fördert, ob gewollt oder nicht, auch ein funktionalistisches Menschenbild. Hier kann nun der menschenrechtliche Gedanke, dass Bildung unabhängig von Nutzenkalkülen ein Persönlichkeitsrecht darstellt, zum kritischen Korrektiv werden. Die bildungsökonomische Perspektive wird damit nicht bedeutungslos; sie muss jedoch der Orientierung an der Menschenwürde untergeordnet werden. Foto: VdS Bildungsmedien Ein Zweites und Letztes: Ich würde den „Ernst des Lebens“ nicht mit dem Eintritt in die Schule beginnen lassen, sondern sehr viel früher ansetzen und die Kinderbetreuung in Deutschland endlich zu einem bildungsbasierten Ansatz und Konzept machen. Deren Hauptziel liegt gegenwärtig darin, wie man das im süddeutschen Raum nennt, auf Kinder „aufzupassen“, also Kinder zu hüten. Die Philosophie der Zukunft sollte stattdessen sein, von Anfang an diese Betreuung zugleich als einen zentralen Prozess der Bildung von Kindern zu betrachten, und zwar im Sinne eines Anregungspotenzials, das dazu führt, dass Kinderbetreuung nicht als zweit- oder drittbeste Lösung betrachtet wird, sondern als ein Zugewinn an Möglichkeiten, an STATEMENT Engelbert Siebler Gestaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten für alle Kinder. Deshalb müssen wir im Westen dieser Republik konsequent die bildungsrelevanten und bildungsfähigen Angebote für Kinder weiter ausbauen. Darin liegt eine wesentlich größere Chance des Abbaus von Ungleichheit als in einer allein monetären Familienpolitik. Wenn man Eltern aus berechtigten Gründen mehr Geld für ihre Kinder gibt, kommt es leider nicht immer bei den Kindern an. Oder anders formuliert: Dadurch, dass Eltern Geld bekommen, lernt kein Kind mit Migrationshintergrund Deutsch. Das gelingt nur dadurch, dass es frühzeitig mit anderen Kindern zusammenkommt, dass wir für Kinder Angebote und Möglichkeiten der Begegnung schaffen. Ich bin überzeugt, dass diese Form der sozialen Integration immer noch die beste Form des Abbaus von sozialer Ungleichheit ist. 106 Eine Orientierung der Bildungspolitik an der Menschenwürde hat sehr praktische Konsequenzen, und zwar sowohl in bildungstheoretischer als auch in sozialethischer Hinsicht, also für die Frage nach der Bildungsgerechtigkeit. In bildungstheoretischer Hinsicht dienen Erziehung und Bildung der Entfaltung der menschlichen Person in allen Dimensionen. Dazu gehört auch, das Bewusstsein für die eigene Würde und die Würde des Olbertz/Rauschenbach/Siebler/Frank: Gerecht befähigen Blindtext Anderen zu fördern. Eine an der Personwürde orientierte Bildung umfasst die Beherrschung der Verkehrssprache und Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaften. Zu ihr gehört aber auch die Befähigung zur Teilnahme am politischen und kulturellen Leben unserer Gesellschaft. Dazu gehören Geschichte und Politik, Kunst, Musik und Literatur. Ein wesentliches Kennzeichen der Würde des Menschen ist schließlich seine Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden und die Frage nach Sinn und Zweck seines Lebens und der Welt zu stellen. Eine Bildungskonzeption, die die Fragen nach dem Woher, Wohin und Wozu unseres Lebens ausklammert, wird der Würde des Menschen nicht gerecht. Deshalb ist der Religionsunterricht für eine ganzheitliche Bildung schlechterdings unverzichtbar. 3. Weil die familiäre Lebenswelt einen so entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen hat, sollten wir die Zusammenarbeit von Elternhaus und Schule stärker fördern. Wir brauchen eine Schulgemeinschaft, in der Lehrer, Eltern und Schüler sich jeweils zu ihrem Teil, aber doch gemeinsam für den Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler verantwortlich wissen. Nichts ist abträglicher für Erziehung und Bildung als das Desinteresse von Eltern und Lehrern an den Kindern und Jugendlichen. Wenn wir das Recht auf Bildung jedes Einzelnen besser verwirklichen wollen als bislang, dann brauchen wir eine Kultur der Bildungsverantwortung in der Familie, in der Schule und in unserer Gesellschaft. „Ein wesentliches Kennzeichen der Würde des Menschen ist schließlich seine Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden und die Frage nach Sinn und Zweck seines Lebens und der Welt zu stellen. Eine Bildungskonzeption, die die Fragen nach dem Woher, Wohin und Wozu unseres Lebens ausklammert, wird der Würde des Menschen nicht gerecht. Deshalb ist der Religionsunterricht für eine ganzheitliche Bildung schlechterdings unverzichtbar.“ Zu den Grundfragen gegenwärtiger Bildungspolitik gehört die Frage nach der Bildungsgerechtigkeit. PISA und andere internationale Studien haben die Gerechtigkeitsdefizite im deutschen Bildungswesen offen gelegt. Der Bildungserfolg ist zu eng an die soziale Herkunft gekoppelt. Besorgnis erregend ist der vergleichsweise hohe Anteil der Jugendlichen, die mit so geringen Kenntnissen und Fähigkeiten die Schule verlassen, dass sie eine Berufsausbildung nicht erfolgreich abschließen können. Große Defizite gibt es auch bei der Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund in unser Bildungssystem. Die Frage der Bildungsgerechtigkeit ist komplex. Ich möchte mich deshalb mit drei Hinweisen begnügen. 1. Wir müssen die individuellen Stärken und Schwächen, die Begabungen und Interessen der Kinder und Jugendlichen pädagogisch ernster nehmen als bislang. Wir sollten das Recht auf Bildung als Recht auf individuelle Förderung verstehen und verwirklichen. Dabei ist zu betonen, dass dieses Recht unabhängig von dem zu erwartenden wirtschaftlichen Nutzen auch den Schwachen in unserem Bildungswesen zusteht. Ich denke hier z. B. an behinderte Kinder und Jugendliche. Auch sie haben ein Recht auf pädagogische Förderung und Bildung. 2. Wir dürfen den Blick nicht auf die Schule verengen. Erziehung und Bildung beginnen nicht in der Schule, sondern in der Familie. Hier werden die Grundlagen für die Lebensführung und für die schulische Bildung und Erziehung gelegt. Wir werden die Gerechtigkeitsdefizite deshalb nur beheben können, wenn wir die Erziehungskompetenz der Familien stärken. Eine gute Familienpolitik ist auch eine gute Bildungspolitik. STATEMENT Jürgen Frank Ich konzentriere mich auf zwei aus evangelischer Perspektive wesentliche Punkte, nämlich erstens auf die Kernfrage, die sich mir auch nach den ersten Veröffentlichungen des Berichts des UN-Beobachters gestellt hat: Wie kommt Bewegung in die Szene? Und zweitens die Frage: Warum ist eigentlich so lange nichts passiert? Beide Fragen zielen auf blockierende Mentalitäten, die eine Blockade der Strukturveränderungen zur Folge haben. Man kann bei dem Thema Bildungsgerechtigkeit, dem wir uns heute stellen, sehr gut an sich selber prüfen, was bei einem selbst Betroffenheit, Wut oder Zorn auslöst. Beginnen wir mit der Frage nach der Blockade: Warum ist so lange nichts passiert? Es gibt zum Thema Chancengerechtigkeit einen Cartoon von Hans Traxler, entstanden vor etwa 30 Jahren. Die Zeichnung zeigt verschiedene Tieren, die alle vor einem Baum stehen und auf diesen Baum hinaufklettern sollen: der Elefant, der Fisch im Glas, der Affe und der Seehund. Sie werden aufgefordert, zum Zwecke einer gerechten Auslese auf den Baum zu klettern. So wenig wie dies inzwischen der Elefant geschafft hat, so wenig besucht das durch seine Familiensituation benachteiligte Kind heute das Gymnasium. Vor etwa drei Jahren wurde Traxlers Klassiker mit den Tieren neu gezeichnet und denjenigen, die das Ganze bislang eher spaßig betrachtet und sich an der Idee gefreut haben, dass ein Ele- 107 lichen Möglichkeiten, und wahrgenommen wird in seiner Würde. Cartoon: Traxler So wichtig Bildung in Gestalt von Bildungsabschlüssen auch ist: Wir machen uns für ein integriertes Bildungsverständnis stark. Bildung verstehen wir als Zusammenhang von Wissen, Können, Haltung und Handlungsfähigkeit, das Ganze konzentriert in der Biografie. Insofern greifen alle Reformanstrengungen, die alles nur der Schule als Aufgabe anlasten und nicht das weitere Umfeld sehen, zu kurz. Insofern drängt die evangelische Kirche darauf, dass man bei den Bildungsplanungen die Bildungsausgangslage der Betroffenen ausreichend berücksichtigt. Es reicht nicht, nur den einzelnen Jugendlichen in den Blick zu nehmen. Entscheidend für die Bildungslaufbahn sind die informellen Lernorte. Ohne diesen sozialräumlichen Ansatz laufen viele Maßnahmen ins Leere. fant das Klettern lernen soll, vor Augen geführt, wie sich die Situation im richtigen Leben darstellt. Der Brillenträger mit dem Geigenkasten, der Sportfreak mit Seil und Wurfanker – bestens ausgestattet für diese Aufgabe –, dann das knöchellang verschleierte Mädchen neben der übergewichtigen Couch-Potatoe. Und wieder sollen nun alle der Chancengleichheit wegen auf den Baum klettern. Fazit: Zu wenig hat sich in rund einem Vierteljahrhundert geändert, und andererseits: Zu viel hat sich seither verändert. Zu den alten Ungleichheiten sind neue Benachteiligungen hinzugekommen. Die Zahlen der Bildungsbenachteiligten sind Ihnen alle bekannt, sie müssen hier nicht noch einmal genannt werden. Die Zahlen dienen aber oft nur dazu, das Angstpotenzial zu schüren: Hier liege sozialer Sprengstoff. Der Blick auf die fackelnden und Steine werfenden Jugendlichen in Frankreich wird quasi zu Hilfe genommen, um Motivation in Gang zu setzen. In dieser Situation greift die evangelische Kirche an zwei Punkten in die gegenwärtige Bildungsdiskussion ein. Die zentrale Rolle des Bildungssystems und seine Qualität, das ist das eine, der Blick auf die Jugendlichen als Personen das andere, wozu Der Beitrag der Kirchen in dieser Frage kann nicht nur sein, den Finger in die Wunde zu legen und zu sagen: Da ist ein Problem. Nun, bitte, Gesellschaft, Wissenschaft, Politik bringt das in Ordnung. Die Glaubwürdigkeit der Kirchen hängt daran, ob sie das, was wir als wissenschaftlich begründete Einsichten ansehen, nur wiederholen und in den verschiedensten Zusammenhängen immer wieder neu erläutern oder ob sie ihren Beitrag bei der Umsetzung, bei der Realisierung dieser Ziele leisten. Denn inhaltlich und von der Perspektive her stimmen die Ziele mit dem überein, was beide christliche Kirchen wollen. Das steht nicht in Frage, und wer will, kann das auch nachlesen. Für mich ist zur Beurteilung dieser Situation eine Erfahrung von Bedeutung, die ich beim Besuch einer Grundschule gemacht habe. In einem Morgenkreis, wo lange aufgestaute „Uns als evangelischer Kirche liegt daran, dass unser Schulsystem, unser Bildungssystem erlebt und erfahren wird als ein Ort, in dem jeder willkommen ist mit seinen Potenzialen, mit seinen unterschiedlichen Möglichkeiten, und wahrgenommen wird in seiner Würde ... Insofern drängt die evangelische Kirche darauf, dass man bei den Bildungsplanungen die Bildungslage der Betroffenen ausreichend berücksichtigt.“ eben Bischof Siebler das Seine gesagt hat. Uns als evangelischer Kirche liegt daran, dass unser Schulsystem, unser Bildungssystem erlebt und erfahren wird als ein Ort, in dem jeder willkommen ist mit seinen Potenzialen, mit seinen unterschied- 108 Fragen gestellt wurden, wurde ich gefragt: „Ist Gott in echt?“ Bezogen auf unsere gesamten Publikationen stellt sich die Frage, wie echt sind sie, wie ernst sind sie eigentlich gemeint? Oder verbreiten wir nur kluge Gedanken? Glücklicherweise – Olbertz/Rauschenbach/Siebler/Frank: Gerecht befähigen Blindtext und das betrifft beide Kirchen gemeinsam – haben wir genug Praxisfelder, auf denen wir zeigen können, wie ernst wir es meinen mit dem, was hier unter Chancengerechtigkeit vertreten wird. Cartoon: Traxler Wir tragen einen Großteil der Verantwortung im Bereich der Kindertagesstätten, denn die beiden großen Kirchen sind zusammengenommen Träger der Hälfte dieser Einrichtungen. Wir sind hier angesprochen nicht nur, was die Qualifikation der dort Arbeitenden anbetrifft, sondern desgleichen, was die Integration der Eltern in diese Erziehungsarbeit betrifft. Man wird nicht umhinkommen, die Elternkompetenz zu stärken, und sollte dies nicht als eine zusätzliche Last empfinden, sondern als einen systemisch integrierten Teil. Ich kann mir gut vorstellen, dass man natürlich sofort Applaus für diese Forderung bekommt. Nur ist es ein völlig anderes Geschäft, die Eltern kompetent zu machen, für die Kinder etwas zu tun, damit eine Motivation und ein entsprechendes Lernumfeld aufgebaut werden kann. Hierfür muss man diejenigen, von denen man eine solche Leistung erwartet, auch entsprechend qualifizieren. Es sind Kompetenzen erforderlich, um in einer Abstand nehmenden, reflektierenden Weise Entwicklungsgänge von Kindern zu analysieren, und darüber hinaus auch die Fähigkeit, das in die verschiedensten Kulturen, aus denen die Eltern stammen, zu vermitteln. Eine Schlussbemerkung zu diesem Gedankengang von meiner Seite: Wer isoliert nur einen Aspekt in den Blick nimmt und nur Forderungen erhebt, aber sich nicht gleichzeitig klar macht, wo die Aufgaben im weiteren Feld liegen, springt zu kurz. Sofern man es für richtig hält, dass die Eltern mit einbezogen werden müssen, muss man gleichzeitig die Institutionen stärken, die diese Kompetenz vermitteln. Es wird künftig Teil des Profils evangelischer Kindertagesstätten sein müssen, dass wir die Aufgabenfelder unserer Kindertagesstätten erheblich verändern. Die Frage ist nur, ob die Gesellschaft bereit ist und in ihr die Kirche, diesen Aufwand auch zu tragen. Hier kommt der Finger in die Wunde: Die Kirche hat in dieser Situation die Aufgabe, immer wieder auf diese Differenz zwischen Anspruch und realer Praxis hinzuweisen und bei diesem Hinweis gleichzeitig sich selbst auch immer wieder in Frage zu stellen. 109 Stärker als je zuvor beklagt die Wirtschaft die mangelnde Ausbildungsreife der Schulabgänger von Haupt- und Realschulen. Kritiker bemängeln, dass das Reformparadigma des Forderns und Förderns weit gehend nur auf den gymnasialen Bildungsweg Anwendung findet, und befürchten eine Abwertung der anderen Bildungsgänge. „‚FORDERN UND FÖRDERN‘ – EIN PARADIGMENWECHSEL FÜR ALLE SCHULFORMEN“, über dieses Thema sprachen KLAUS BÖGER, Senator für Bildung, Jugend und Sport in Berlin, ALBRECHT DÜSEL, Leiter des Personalservicecenters der Volkswagen AG, Wolfsburg, zuständig unter anderem für die berufliche Erstausbildung, sowie WIlFRIED STEINERT, Vorsitzender des Bundeselternrates, sowie Dr. LUDWIG ECKINGER, Bundesvorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung. Klaus Böger Klaus Böger, geb. 1945. 1968-72 Studium der Fächer Politologie und Staatsrecht an der FU Berlin, 1972 Diplompolitologe. 1972-76 Wissenschaftlicher Assistent an der FU. Ab 1976 Dozent und Fachbereichsleiter für Politik beim Lette-Verein. Seit 1968 SPD-Mitglied. Seit 1989 Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses. 1990-94 stellv. Vorsitzender, 1994-99 Vorsitzender der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus. Seit 1999 Bürgermeister von Berlin und Senator für Schule, Jugend und Sport, seit 2002 für Bildung, Jugend und Sport. Albrecht Düsel Albrecht Düsel ist Leiter des Personalservicecenters der Volkswagen AG, Wolfsburg; er ist zuständig unter anderem für die berufliche Erstausbildung. STATEMENT deutsche Kinder aus bildungsfernen Familien kommen und – man denke z. B. an Migrantenkinder aus einem ostanatolischen Dorf – zudem enorme kulturelle Unterschiede bewältigen müssen. Das ist eine riesige gesellschaftliche Herausforderung. „Fördern und Fordern“ ist die moderne Zauberformel für viele Politikfelder. Jeder stellt sich etwas anderes darunter vor, und viele beklagen dann immer die Defizite. Wenn es um Fordern und Fördern im deutschen Bildungssystem geht, müssen wir zunächst feststellen, dass wir immer noch einen hohen Prozentsatz von Schülerinnen und Schülern haben, die unsere Schulen ohne jeden Abschluss verlassen. Man könnte es sich einfach machen und sagen, die können es einfach nicht. Für mich hingegen liegt darin eine Aufforderung zum individuelleren und damit besseren Fördern von Schülern, damit sie einen Abschluss erreichen. Die Prozentzahlen sind Ihnen bekannt, sie liegen bei etwa 10 Prozent, und sie liegen höher bei Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund, die häufiger als Wenn man mit Vertretern der Wirtschaft diskutiert, wird häufig beklagt, dass sehr viele Absolventen unseres Bildungssystems nicht ausbildungsfähig seien. Die Noten seien häufig Schall und Rauch. Ich bin ein Anhänger des Dialoges mit der Wirtschaft und vor allem ehrlicher und vergleichbarer Abschlüsse, denn wir müssen den Dingen in die Augen sehen. Bei manchen Wirtschaftsvertretern kommt mir jedoch der Verdacht, dass über diese Aussage kaschiert werden soll, dass es objektiv zu wenige Ausbildungsplätze gibt. Das ist nämlich so. Auf der anderen Seite muss man aber attestieren, dass wir tatsächlich Schülerinnen und Schüler haben, die die Schule zwar mit einem Abgangszeugnis verlassen, aber in der Tat nicht ausbildungsfä- Klaus Böger 110 Böger/Düsel/Steinert/Eckinger: Fordern undBlindtext Fördern Wilfried Steinert Wilfried Steinert studierte nach einer technischen Lehre Theologie und war Pfarrer in Essen und Minden sowie Religionslehrer in Berlin. 1991-2002 im Konsistorium der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg und als Kirchenschulrat zuständig für die Fachaufsicht über den Religionsunterricht an Schulen. Seit 2002 Schulleiter der Waldhofschule Templin, einer Förderschule für geistig Behinderte. Seit 1999 im Bundeselternrat, seit Mai 2004 dessen Vorsitzender. Wilfried Steiner ist Vater von zwölf Kindern und Pflegekindern, von denen fünf noch zu Hause leben. Ludwig Eckinger Ludwig Eckinger, Dr., geb. 1944. Ausbildung zum Volksschullehrer an der PH Regensburg. Nach dem 2. Staatsexamen Wissenschaftlicher Assistent an der Universität Regensburg. Promotion nach einem Aufbaustudium der Pädagogik und Politischen Wissenschaften. 1982-94 Leiter der Grundschule Saal a. d. Donau. Seit 1993 Bundesvorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE). Seit 1996 Vorsitzender der Expertenkommission Schule, Bildung und Wissenschaft des Deutschen Beamtenbundes (dbb); seit 2003 stellvertretender Vorsitzender der dbb Akademie. Zugleich Vizepräsident des Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverbandes (BLLV). hig sind, sei es aufgrund ihres Sozialverhaltens und der persönlichen Tugenden, sei es aufgrund eines zu niedrigen Kenntnisstandes. Das gilt für Berlin, aber auch für andere Bundesländer. Dem müssen wir uns stellen. Zu diesem Zweck haben wir gemeinsam mit den Dach- und Fachverbänden der Wirtschaft ein Treffen gehabt. Die Kultusministerkonferenz wird infolge dieses Treffens zusammen mit der Wirtschaft ein Papier veröffentlichen, in dem gewisse Anforderungen präzisiert, Schritte festgelegt und Best-Practice-Beispiele benannt werden, wie man die Zusammenarbeit zwischen Schule und Wirtschaft verstärken kann. Hierbei sind allerdings die deutschen Schulen in der Tat auf einem sehr guten Weg. Sie suchen die Partnerschaft mit der Wirtschaft sowohl durch Schnupperpraktika als auch mit Coaching. Schülerinnen und Schüler sollen erkennen, was der Arbeitgeber eigentlich verlangt. In Berlin haben wir ein beispielhaftes Netzwerk aufgebaut. Dabei geben wir den originä- ren Bildungsauftrag nicht auf und sagen: Schule hat sich komplex den jeweiligen Anforderungen der Wirtschaft zu unterwerfen. Das hielte ich für falsch. Wir haben einen eigenständigen Bildungsauftrag, aber er muss sich eben auch in der Gesellschaft und damit in der Arbeitswelt widerspiegeln. Fördern und Fordern ist auch eine Anforderung an unsere Schulstruktur. Ich glaube nicht, dass unsere aktuellen Schulstrukturen das verhindern. Auch das gegliederte Schulsystem lässt ein Fördern und Fordern zu. Besser geht es sicherlich in einem Gesamtschulsystem, wo alle Schülerinnen und Schüler zusammen sind. Ich glaube, die Förderung muss ihren Schwerpunkt vor der Schule in den Kitas und in der Primarstufe haben, weil hier die größten Potenziale sind. 1. In der Kita und in der Grundschule kann man die Chancen eines Kindes frühzeitig optimieren, Entwicklungsdefizite ausgleichen, Begabungen fördern, Anregung geben. 111 2. Wir dürfen beim Fördern auch nicht das Fordern vergessen. a) Wir haben Schülerinnen und Schüler, die erhebliche Potenziale haben und große Lernfortschritte machen, die man nutzen und optimieren muss. Diese Begabungsförderung ist nicht unumstritten. Aber ich bin davon überzeugt, dass sie ein wichtiges Feld für Förderung ist. Berlin hat ein differenziertes Hochbegabtenförderungskonzept, das zugleich hohe Forderungen stellt. b) Aber auch bei Kindern mit Defiziten hat Forderung neben der Förderung ihren Platz. Eine Gesellschaft, die viel in Förderung investiert, muss erwarten können, dass auf der anderen Seite – bei Kindern und deren Eltern – auch Anstrengungsbereitschaft und Mittun vorhanden ist. Deshalb habe ich in Berlin beispielsweise den verbindlichen Sprachtest für alle Viereinhalbjährigen im Zusammenhang mit der Schulanmeldung eingeführt. Kinder mit Defiziten sind zu einem halbjährigen kostenlosen Sprachkurs vor Schuleintritt verpflichtet, damit sie bei Schuleintritt dem Unterricht überhaupt folgen können. Die Teilnahme setze ich auch konsequent durch. Das heißt für mich Fördern und Fordern. Ansonsten ist dieser Zusammenhang von Fördern und Fordern eine überragende Aufgabe im Unterricht, wobei sich im Kern überhaupt keine generalisierten Leitsätze bestimmen lassen. Selbstverständlich ist Unterricht und sind die Rahmenbedin- In der Literatur zum Thema Fordern und Fördern ist immer mal wieder die Rede von der Gefahr, dass dadurch die Leistung nivelliert oder gesenkt wird, weil man sich immer am Schwächsten orientiere. Ich halte das für ein Scheinproblem, eine Gespensterdiskussion. Sie werden als Lehrerin oder Lehrer relativ rasch merken, wo die Stärken eines Kindes sind, wo eventuelle Schwächen sind, und dann können Sie Ihr Leistungsprofil darauf abstellen. Binnendifferenzierung ist doch keine methodisch-didaktische Erfindung seit PISA, sondern ein alter und wohl bewährter Hut. Sie muss nur praktiziert und z. B. im Blick auf die Schulanfangsphase weiter entwickelt werden. Es ist doch selbstverständlich, dass man in einer Klasse unterschiedliche Niveaus hat, das muss sich nur in einem Rahmen bewegen. Insofern sehe ich eine Nivellierungsgefahr überhaupt nicht. Apropos Standards: Das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB), beginnt jetzt mit der Pilotierung von Aufgaben. Das dürfte für uns alle sehr spannend werden. Es wird häufig gefragt, ob die Schule unter den heutigen Bedingungen vom Zeitaufwand her eigentlich in der Lage ist, individuelle Förder- und Lehrpläne für jeden einzelnen Schüler im Lernprozess zu entwickeln, abzusprechen, am Laufen zu halten und zu korrigieren. Sicher, das ist ein hoher Anspruch – aber Hand aufs Herz: In welchem Job werden in heutiger Berufswelt keine hohen Ansprüche gestellt? Was die schulischen Rahmenbedingungen betrifft, so ist das eine schwierige Frage. Sicher- „In der Literatur zum Thema Fordern und Fördern ist immer mal wieder die Rede von der Gefahr, dass dadurch die Leistung nivelliert oder gesenkt wird, weil man sich immer am Schwächsten orientiere. Ich halte das für ein Scheinproblem, eine Gespensterdiskussion. Sie werden als Lehrerin oder Lehrer relativ rasch merken, wo die Stärken eines Kindes sind, wo eventuelle Schwächen sind, und dann können Sie Ihr Leistungsprofil darauf abstellen. Binnendifferenzierung ist doch keine methodisch-didaktische Erfindung seit PISA, sondern ein alter und wohl bewährter Hut. Sie muss nur praktiziert und z. B. im Blick auf die Schulanfangsphase weiter entwickelt werden.“ gungen des Unterrichts die bedeutsamste Stellschraube – angefangen bei der Qualität des Unterrichts über Lehrer/SchülerRelationen, Ganztagsunterrichtsangebote, Sozialarbeiter an Schulen bis zur Frage, welche Unterstützungssysteme es über das engere Schulgeschehen hinaus gibt. Und wenn wir das Musterbeispiel Finnland nehmen, dann muss man attestieren, dass es dort unter den Kollegen sowohl ein anderes Verständnis von Schule gibt, aber eben auch bessere und stärkere Unterstützungssysteme. Und ohne entsprechende personelle Ressourcen können weder Fördern noch Fordern so verbessert werden, wie wir es für die Zukunft unseres Landes brauchen. Bessere Bildung kann es nicht zum Nulltarif geben. Damit stelle ich nicht in Abrede, dass im Rahmen bestehender Ressourcen auch noch viel an besserer Qualität entwickelt werden kann und muss. 112 lich wäre es optimal, wenn die Lehrkräfte eine bessere Unterstützung hätten, d. h. durch Schulsozialarbeit oder Schulpsychologen. In Berlin haben wir auf 7000 Schüler einen Schulpsychologen, im Bundesdurchschnitt sind es 12 000. Nun gibt es in der Bundesrepublik ganz unterschiedliche Grundbedingungen: Migrationshintergrund ist nicht gleich Migrationshintergrund. Wenn in Berlin die Hälfte der Kinder mit Migrationshintergrund aus der Türkei kommt, überwiegend aus bildungsfernen Schichten, und es bereits Schulen gibt, an denen kein deutsches Kind mehr lernt, so ist das sicher eine Herausforderung, die es in dieser Verdichtung kaum irgendwo sonst in Deutschland gibt. In Anbetracht dessen haben wir natürlich zu wenige Schulsozialarbeiter und Schulpsychologen, aber wir sind Haushaltsnotlageland. Böger/Düsel/Steinert/Eckinger: Fordern und Fördern Cartoon: Mester Die nächsten Fragen, die sich bei den Rahmenbedingungen dann stellen, sind die klassischen Fragen nach der Arbeitszeit, nach Klassengrößen usw., die konkreten Rahmenbedingungen einer Schule. Es gibt Schulen in so genannten Problemquartieren, die im Grunde genommen durchgängig Schulsozialarbeit leisten müssen, weil die Elternhäuser ihrer Verantwortung überhaupt nicht mehr nachkommen. Deshalb ist klar: Neben der Verbesserung von Qualität oder Qualitätssicherung müssen alle Kultusminister um bessere Ressourcen für das Bildungssystem kämpfen. Der Gesamtanteil dessen, was wir an Ressourcen für Bildung zur Verfügung stellen, und der Stellenwert von Bildung in der allgemeinen Gesellschaft ist disproportional. Das ist meine Auffassung. Doch ich kann das nicht ändern, indem ich einen Hebel umlege. Ich setze sehr darauf und beobachte deshalb auch sehr genau, was auf Bundesebene passiert, zum Beispiel im Hinblick auf die Bedeutung von Kindergärten, von vorschulischer Bildung. Es ist noch gar nicht lange her, da hieß es: Kindergärten seien reine Betreuungseinrichtungen, und die brauche auch gar nicht jeder. Ich finde es ermutigend, das sich gerade hier viel bewegt hat. In Berlin sind wir da mit über 90 Prozent der Kinder in Kitas und unserem Kitabildungsprogramm Vorreiter. Neben vielem Leistbaren, das nichts mit mehr Geld zu tun hat, bleibt eine Kernforderung – dass wir in der Bundesrepublik Deutschland mehr und gezielter in die Bildung investieren müssen. STATEMENT Albrecht Düsel Unsere Personalplanung, das konnten Sie der Presse entnehmen, zeigt deutlich, dass wir in der nächsten Zukunft nicht unbedingt Ausgebildete benötigen, aber dennoch haben unsere jungen Auszubildenden bei uns einen tarifvertraglichen Anspruch, im Anschluss an ihre Ausbildung übernommen zu werden. Dem soll auch Rechnung getragen werden, allerdings haben wir tariflich auch entsprechende Anreize geschaffen, indem wir sie während der gesamten Ausbildungszeit fordern, Leistung zu zeigen. Ausbildung kostet Geld, ist aber wichtig, um die Zukunft unseres Landes und unseres Unternehmens zu sichern. Aufgrund die- ser Tatsache achten wir auf die Zeugnisse und führen einen Berufseignungstest durch. Ferner werden Einzelinterviews geführt, um die Stärken und Schwächen zu sehen, und abschließend wird eine werksärztliche Untersuchung durchgeführt. Diese ist deshalb wichtig, weil wir feststellen, dass Schülerinnen und Schüler zunehmend Haltungsschäden haben oder mittlerweile stark übergewichtig sind. Wir sind nun einmal ein Industriebetrieb, in dem diese jungen Menschen anschließend auch in der Automobilfertigung arbeiten müssen. Wir können im Grunde genommen 550 Auszubildende auf einem sehr hohen Niveau auswählen und ausbilden. Unsere Bewerber für den kaufmännischen und gewerblichen Bereich setzen sich aus Gymnasiasten, Realschülern und Hauptschülern zusammen. Bei uns haben Hauptschüler im gewerblich-technischen Bereich noch eine Chance, im kaufmännischen Bereich dagegen nicht mehr. Wir werden zukünftig einen wesentlich stärkeren Fokus auf die Studenten im Praxisverbund legen. Bis 2004 haben wir im Praxisverbund jährlich ca. 60 bis 70 Studierende eingestellt und haben diese Zahl für 2005 auf 300 erhöht. Wir haben uns entschlossen, in die Ausbildung dieser Gruppe zu investieren, da sie gern gesehene Kandidaten für Fachaufgaben sind. Sie absolvieren in vier bis viereinhalb Jahren eine Ausbildung, gekoppelt an ein Studium an der Fachhochschule, ihr Notendurchschnitt an der FH Wolfenbüttel liegt bei 1,8. Unsere Bewerber können sich bei uns informieren, einmal durch drei- und einwöchige Praktika, den Tag der offenen Tür, 113 und wir gehen auch mit diversen Projekten an die Schule. Die Abbrecherquote im Vergleich zu den sonst zitierten 20 bis 25 Prozent ist bei uns gering. Wir haben bei den Auszubildenden über die Jahre 1,5 Prozent Fluktuation. Das hängt sicherlich auch damit zusammen, dass man – egal, um welchen Beruf es geht – anschließend eine Übernahmegarantie von bislang 100 Prozent, neuerdings nur noch 85 Prozent erhält. Die 15 Prozent, hige. Aber es werden dort nur Auszubildende vermittelt, die mittlerweile in der so genannten „Warteschleife“ sind und mindestens ein Jahr nach dem Haupt- oder Realschulabschluss eine Berufsschule besucht haben. Sie werden dort auch pädagogisch vom RVA betreut, der das Ganze mit finanziert, und die Übernahmequote dieser Gruppe in den Handwerksbetrieben liegt etwa bei 70 Prozent. „Die Zeugnisnoten sind uns nach wie vor wichtig. Dass sie denn objektiv sind, wird im Berufseignungstest nicht immer bestätigt, wenn ich nur einmal an das Fach Mathematik denke. Was wir auch prüfen, ist die Konzentration. Und beim Thema Interview kann deutlich werden, dass eine Note im Zeugnis oder auch ein Ergebnis im Berufseignungstest nicht alles ist.“ die zukünftig von der Mutter Volkswagen nicht übernommen werden, werden innerhalb des Konzerns weiterbeschäftigt. Nun zur Ausbildung. Wir haben innerhalb der Ausbildung ein EFA-Programm, d. h. „Entwickeln und Fördern von Auszubildenden“, in dessen Rahmen die Auszubildenden halbjährlich durch ihre Stammausbilderin oder ihren Stammausbilder beurteilt werden. Dieses Instrument ist bei der zukünftigen Personaleinsatzplanung äußerst wichtig, weil wir uns daran stärker orientieren als an den Berufsschulnoten, denn dort werden insbesondere die betrieblichen Fertigkeiten, die Prozesskenntnisse und Ähnliches mit berücksichtigt. Das zum Thema Volkswagen. In Wolfsburg hat sich eine Projektgruppe damit beschäftigt, Orientierungshilfen zu entwickeln, um sie jeder Schülerin, jedem Schüler an die Hand zu geben. Sie sollen lernen, sich selbst in ihren Stärken und Schwächen einzuschätzen, und erhalten in denselben Kriterien mehrfach eine Fremdeinschätzung durch den Lehrer sowie durch die teilnehmenden Praktikumsbetriebe im Rahmen zweier Praktika, um sich im Hinblick auf die Berufswahl an ihren Stärken orientieren zu können. Eine hohe Anzahl an Wolfsburger Betrieben einschließlich der VW AG, haben sich bereit erklärt, in der 8. Klasse zusätzlich ein einwöchiges Schnupperpraktikum anzubieten. Die Betriebe wollen, wenn dies in der Fläche eingeführt ist – und das wird im nächsten Jahr erstmalig der Fall sein –, die so genannte Schüler-Profil-Card mit der Selbst- und Fremdeinschätzung bei der Auswahl und Einstellung von Auszubildenden mit berücksichtigen. Denn der, der seine Stärken kennt, kann mit einer hohen Motivation gute Leistungen erbringen. „Nur wer weiß, woher er kommt, weiß, wohin er geht“ (Theodor Heuss). Für die benachteiligten Jugendlichen unserer Region gibt es den Regionalverbund für Ausbildung (RVA), der auch durch die VW AG mit unterstützt wird, wo junge Menschen unter 25 Jahren einen Ausbildungsplatz finden. Dabei handelt es sich sowohl um nicht ausbildungsfähige als auch um ausbildungsfä- 114 STATEMENT Wilfried Steinert Wir wollen als Eltern, dass unsere Kinder bestmöglich ausgebildet werden, die Wirtschaft will die bestmöglich qualifizierten Jugendlichen für ihre Ausbildungsstellen haben, und als Gesellschaft können wir es uns überhaupt nicht leisten, irgendein Kind auf der Strecke zu lassen, weil wir dann bei der gemeinsamen Gestaltung unserer Zukunft an die Grenze gelangen werden. Was uns überhaupt nichts kosten wird, ist eine neue Einstellung zur Bildung. Wir sollten Schule vom Kind her denken: Was braucht das jeweilige Kind? Wie muss ein Kind gefördert, ja zunächst überhaupt wahrgenommen werden? Was braucht es, und wie kann es gefördert und herausgefordert werden? Wir betrachten unsere Kinder, unsere Schülerinnen und Schüler viel zu selten unter dem Aspekt, welche Stärken sie haben, welche Schwächen, wie Schule für diese Kinder gestaltet werden kann. Ich will dennoch zwei positive Beispiele nennen. Wer mich kennt, weiß, dass ich viele Kinder habe. Als ich vor zwölf Jahren von Berlin nach Brandenburg gezogen bin, hat die Grundschule, die sechs meiner Kinder besuchen sollten, eine Konferenz aller Lehrer einberufen, die diese Kinder in Zukunft unterrichten würden. Wir haben miteinander überlegt, was zu tun sei, damit diese Kinder – Pflegekinder, die es nicht ganz einfach haben – den Wechsel von Berlin in die Grundschule im Land Brandenburg verkraften und gestalten können. Daraus hat sich ein sehr individuelles Lernbild für diese Kinder ergeben, und das Ganze hat sich bislang so gut entwickelt, dass einer meiner Pflegesöhne, der in Berlin als lernbehindert diagnostiziert worden war, letzten Sommer sein Abitur mit 2,4 gemacht hat. Das ist mit Unterstützung von Schule und Elternhaus gelungen. Das zweite Beispiel betrifft ebenfalls den Umzug eines Kindes. Bekannte haben das gerade erlebt. Ihr Kind musste ein Schuljahr Böger/Düsel/Steinert/Eckinger: Fordern undBlindtext Fördern wiederholen, und sie mussten sehr viel in Nachhilfe investieren, weil es in der neuen Stadt kein Gymnasium mit Latein als zweiter Fremdsprache gab. Der betroffene Schüler musste in der 9. Klasse Französisch als zweite Fremdsprache nachholen. Die Schule hat versucht, ihn an eine andere Schule zu verweisen, hat Zweifel geäußert, ob er überhaupt Abitur machen könne, ob es nicht besser sei, er würde auf eine Gesamtschule gehen, mit der 10. Klasse abschließen und versuchen auf dem zweiten Bildungsweg Abitur zu machen. Dies als eine Negativerfahrung. Eine weitere positive Erfahrung: Mein Sohn ist letzten Sommer in Finnland gewesen und hat seine 11. Klasse dort absolviert. Die dortige Schule hat mit ihm zusammen überlegt, was geschehen muss, damit er möglichst schnell am Unterricht der Klasse teilnehmen kann. Wie könnte man organisieren, dass für ihn ins Englische übersetzt wird, damit er dem Unterricht folgen kann, und wie wäre ein Deutschkurs einzurichten? Wo könnte er kurzfristig Finnisch lernen, um am Unterricht teilzunehmen? Das wünsche ich mir als Kultur in deutschen Schulen: dass wir schauen, ganz gleich ob ein Schüler neu hinzukommt oder bereits an ein das machen kann. Der Bundeselternrat kämpft seit 1984 darum, eine ständige Geschäftsstelle zu bekommen. Es gibt einen entsprechenden Antrag bei der Kultusministerkonferenz. Mit jedem Vorsitzwechsel muss unsere gesamte Organisation von einem Bundesland in ein anderes umziehen. So kann man natürlich die Energien klein halten. Wir versuchen uns einzumischen. Wir haben in Deutschland 800 000 Klassenelternsprecher, das ist eigentlich die Lobby. Wir sind als Bundeselternrat von unten gewählt, und in den letzten Jahren sind wir auch sehr viel mehr wahrgenommen worden. Aber dieses Beispiel, dass wir ehrenamtlich arbeiten müssen und keine ständige Geschäftsstelle haben, zeigt, dass unsere Arbeit fast unmöglich zu organisieren ist. Ich muss schließlich auch meinem Beruf nachgehen. Ich habe das Glück, dass mein Arbeitgeber mir gestattet, das zu tun, und ich muss nicht einmal einen Dienstreiseantrag stellen. Andernfalls könnte ich heute nicht hier sitzen. Aber daran wird deutlich, wie wenig die politische Gesellschaft uns wahrnimmt und unterstützt. Man redet zwar immer davon, wie wichtig die Eltern sind, aber an den Stellen, wo es zur Nagelprobe kommt, ist das zu wenig. „Das wünsche ich mir als Kultur in deutschen Schulen: dass wir schauen, ganz gleich ob ein Schüler neu hinzukommt oder bereits an der Schule ist, welche Stärken er hat, welche Schwächen, welche Unterstützungsmechanismen die Schule aufbauen muss. Wenn wir so vorgehen, haben wir schon eine ganze Menge gewonnen.“ der Schule ist, welche Stärken er hat, welche Schwächen, welche Unterstützungsmechanismen die Schule aufbauen muss. Wenn wir so vorgehen, haben wir schon eine ganze Menge gewonnen. Das Kind sollte im Mittelpunkt stehen, und wir sind gefordert. Um das auch in die Praxis umzusetzen, wäre unsere Anregung und Forderung, dass man in der ersten Klasse regelmäßig ElternKind-Gespräche mit den Lehrern führt, nicht nur über das Kind, sondern mit dem Kind zusammen. Da könnte man dann auch gern auf die Halbjahreszeugnisse verzichten, weil man im Gespräch ist und sieht, was das Kind vonseiten der Eltern und Lehrer braucht. STATEMENT Ludwig Eckinger Unsere Förderkultur besteht häufig darin, dass wir bloß darauf schauen, welche Defizite ein Kind hat, es mit diesen Defiziten immer wieder behaften, ausschließlich darin fördern und dass wir es so im Grunde genommen in einer Abhängigkeit behalten. Wir müssen dahin kommen, dass das, was Forderung und Herausforderung ist, sehr viel mehr in den Vordergrund gestellt wird. Aber das geht nur, wenn wir wirklich bei den Stärken des Kindes ansetzen. Bis jetzt gilt in Deutschland immer noch die Ausrede des mangelnden Geldes, und wir haben nicht annähernd die Unterstützungssysteme, die wir bräuchten, z. B. Schulsozialarbeit, Schulpsychologie. Aber ich will nicht jammern. Tatsache ist, dass wir einen sehr hohen Prozentsatz von Kindern und Jugendlichen haben, die in erster Linie gefördert werden müssen, bevor sie überhaupt gefordert werden können. Und andererseits gibt es Schulen, in denen vor allem gefordert werden kann und dann auch noch zusätzlich gefördert werden muss. Dieses Wechselspiel hat Senator Böger auch herausgearbeitet. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass in Deutschland die Schulverdrossenheit groß ist, auch prozentual groß, dass es sehr viele schulmüde Schülerinnen und Schüler, sehr viele Problemschüler gibt, dass ein ganz hoher Prozentsatz nicht das Niveau erreicht, um erfolgreich eine Lehre absolvieren zu können. Das weiß der Personalchef von VW sehr gut. Hier wurde gefragt, warum es keine breite, wahrnehmbare Elternlobby gibt, die den Kultusministern bei diesen Forderungen den Rücken stärkt, noch intensiver, als ein gewählter Ver- Was können wir tun? Das Thema, das Sie gestellt haben, diese beiden Pole zueinander zu bringen, ist meiner Meinung nach schulpolitisch, bildungspolitisch das zentrale Thema überhaupt. 115 Die Professionalität der Lehrerinnen und Lehrer wird natürlich schnell brüchig, wenn wir die angesprochene Unterstützung von außen nicht bekommen, durch Schulsozialarbeit usw. für alle Schulformen, nicht nur für Brennpunktschulen. Dabei ist es notwendig, das ist der eigentliche Paradigmenwechsel, vom Entwicklungsstand des einzelnen Jugendlichen auszugehen und von Fall zu Fall zu entscheiden, wie am besten gefordert und gefördert werden kann. Das deutsche Schulsystem muss sich flexibel auf unterschiedliche Begabungen einstellen. Ich muss, denke ich, noch einmal darauf hinweisen, dass alle Kinder und Jugendliche ein Recht haben, durch die Schule gefordert und gefördert zu werden. Deshalb muss erstens nicht die Schule die Staatskanzleien. Es ist ziemlich tragisch, dass der Stellenwert von Bildung, wie Herr Böger gesagt hat, nach wie vor viel zu gering ist, nicht nur im Vergleich zu Finnland, sondern insgesamt, und daran hängt auch der Stellenwert der Profession der Lehrerin oder des Lehrers. Man denkt, dass man sie als fünftes Rad am Wagen in den Universitäten abfertigen kann. Aber das ist ein weites und anderes Thema. Ich will noch zu zwei Punkten etwas sagen: Erstens zur Gefahr der Nivellierung. Diese besteht, aber die pädagogische Meisterschaft von uns Lehrerinnen und Lehrern macht es durchaus möglich, dass wir den Umgang mit der Heterogenität packen. „Ich muss, denke ich, noch einmal darauf hinweisen, dass alle Kinder und Jugendliche ein Recht haben, durch die Schule gefordert und gefördert zu werden. Deshalb muss erstens nicht die Schule oder der Stoff, sondern das Individuum im Mittelpunkt des Lehr- und Lernansatzes in kognitiver, sozialer und emotionaler Hinsicht stehen. Und ein ganz zentraler und besonders wichtiger, gravierender Punkt im deutschen Bildungssystem ist, dass wir diesbezüglich eine andere Philosophie brauchen, die nicht das Sortieren und Selektieren, sondern die Förderung aller Begabungen in heterogenen Schülergruppen im Blick hat.“ oder der Stoff, sondern das Individuum im Mittelpunkt des Lehr- und Lernansatzes in kognitiver, sozialer und emotionaler Hinsicht stehen. Und ein ganz zentraler und besonders wichtiger, gravierender Punkt im deutschen Bildungssystem ist, dass wir diesbezüglich eine andere Philosophie brauchen, die nicht das Sortieren und Selektieren, sondern die Förderung aller Begabungen in heterogenen Schülergruppen im Blick hat. Das ist natürlich eine große Herausforderung für uns Lehrerinnen und Lehrer, für die Lehrerfortbildung, aber auch für die Lehrerausbildung an den Universitäten. Wir müssen, liebe Kolleginnen und Kollegen, einfach immer wieder klar feststellen, dass die Erfahrung des Scheiterns, ganz egal wo und auf welchem Niveau, Leistungsdruck schafft, aber keine Leistungsmotivation. Deshalb hat es überhaupt keinen Sinn, drumherum zu reden: Es geht um die Scharnierstelle in der Sekundarstufe I, und wir müssen unseren Jugendlichen klar machen, dass jede und jeder gebraucht wird und jede und jeder wichtig ist, und dafür müssen wir alles tun, was eben überhaupt in unseren Möglichkeiten liegt. Ich will Herrn Steinert ausdrücklich Recht geben, dass das Elterngespräch professionalisiert werden muss, das ist überhaupt keine Frage für uns. Wir wünschen uns das, und das ist ja in Diskussionen hier auf der Messe mehrfach gesagt worden. Aber ich will auch einmal eine Lanze für die Kultusminister brechen. Sie sind ziemlich arm dran in den Kabinetten, das weiß ich wohl, sie werden überall attackiert, haben einen ganz hohen Etat. Doch eigentlich bestimmen in Deutschland inzwischen die Finanzminister, wenn man es noch schärfer ausdrückt 116 Da setze ich als Geheimnis immer auf eine dosierte Überforderung, niemals auf Nivellierung. Jedes Kind, jeder Jugendliche muss ein klein wenig überfordert werden, aber das muss meisterhaft geschehen, damit es nicht zu weit von den gegebenen Möglichkeiten entfernt liegt oder auch, das wäre noch schlimmer, drunter liegt. Dass das natürlich auch ein Problem der Ausund Fortbildung ist, gestehe ich zu, und das gelingt in den unterschiedlichen Schularten unterschiedlich gut. Meiner Ansicht nach könnten beispielsweise alle Schularten von der Grundschule eine Menge lernen. Die hat sich auf die neue Kindheit, auf die Kompliziertheit auch dieser neuen Kindheit schon am besten eingestellt. Was die individuellen Lehrpläne angeht, der zweite Punkt, halte ich es auch für sehr, sehr kompliziert, das auf jedes Kind herunterzudeklinieren und es sozusagen dort abzuholen, wo es sich befindet. An vielen Schulen in Deutschland gelingt es bereits, schulpädagogische Schwerpunkte neu zu setzen, zum Beispiel in der Freiarbeit. Das bedeutet nicht, dass die Kinder machen können, was sie wollen. Wenn es gelingt, dieses arbeitspädagogische Prinzip umzusetzen, dann ist es möglich, die Kinder und Jugendlichen viel besser einzubinden, ihnen mehr zuzutrauen in Richtung Selbstverantwortung. Auch da bin ich sehr optimistisch. Man muss es uns nur zutrauen und uns machen lassen. Also nicht permanent verantwortlich machen, sondern verantwortlich sein lassen und Vertrauen in unsere pädagogische Arbeit haben. Das ist uns, mit Verlaub, sogar noch wichtiger als ein ordentliches Gehalt. Böger/Düsel/Steinert/Eckinger: Fordern undBlindtext Fördern Bei diesem Punkt muss man noch einmal betonen, dass es auf den Anfang ankommt, obwohl wir uns in dieser Diskussion jetzt vor allem um die Sekundarstufe I kümmern. Keine Bildungskarriere entsteht in der Sekundarstufe I oder II, sondern sie beginnt im Kindergarten, in der Familie und selbstverständlich ganz besonders in der Grundschule. Da bin ich natürlich von Berufs wegen sowieso Optimist und denke, dass wir den Umgang mit Heterogenität und damit einhergehend natürlich die Differenzierung auf die jeweils individuellen Bedürfnisse schaffen können. 117 Schule ist heute weit mehr als eine Bildungseinrichtung. Sie übernimmt immer mehr sozialpädagogische und erzieherische Aufgaben – zwangsläufig. Denn immer mehr Kinder kommen aus belasteten Familienverhältnissen. Viele Lehrer fühlen sich in der Rolle der unfreiwilligen Sozialpädagogen überfordert – umgekehrt sehen Eltern in Lehrern oft nur Feinde statt Partner. Mit dem bundesweiten Trend zur Einführung von Ganztagsschulen bekommt das Spannungsverhältnis zwischen Schule und Elternhaus zusätzliche Brisanz. „ELTERNHAUS VERSAGT – SCHULE REPARIERT?“ unter diesem Titel berichteten von ihren Erfahrungen EVA SCHMOLL, Schulleiterin der Nikolaus-August-Otto-Oberschule in Berlin, Professor Dr. Dr. WERNER SACHER, Universität Erlangen, Autor der deutschlandweit ersten repräsentativen Studie zur Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus, ULRICH THÖNE, Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, sowie HANS-JÜRGEN VOGEL, Vorsitzender des Landeselternrats Niedersachsen. Moderation: Ulrike Heckmann, Redakteurin Eva Schmoll Eva Schmoll, Lehrerin mit Zusatzausbildungen in Familientherapie, Mediation und Elterntraining. Seit 15 Jahren Mitglied im Schulleitungsteam der Nikolaus-August-Otto-Oberschule in Berlin, als Koordinatorin verantwortlich für den pädagogischen Bereich, außerdem mitverantwortlich für die Außenvertretung der Schule. Werner Sacher Werner Sacher, Professor Dr. phil., geb. 1943. Lehramtsstudium. Mehrjährige Tätigkeit als Hauptschullehrer. Zweitstudium und Promotion an der Universität Würzburg 1974. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Staatsinstitut für Schulpädagogik in München 1977-80. Habilitation an der Universität Bamberg 1986. 1991-96 Professor an der Universität Augsburg; seit 1996 Inhaber des Lehrstuhls für Schulpädagogik an der Universität Erlangen-Nürnberg. STATEMENT Eva Schmoll Wir standen vor ca. fünf Jahren vor der Frage, wie wir weiter arbeiten wollen mit den Schülern unserer Schule. Vor ca. 15 Jahren hatten wir unseren Unterrichtsalltag verändert in der Erwartung, dass die Schüler dann mit Freude lernen und ihr Verhalten entsprechend verändern würden. Das war nicht der Fall, sondern wir waren immer wieder mit aus unserer Sicht sehr auffälligem Verhalten der Schüler konfrontiert. In den Gesprächen mit den Eltern fragten diese uns: „Wem soll ich glauben, 118 Ihnen oder meinem Kind? Zu Hause ist das Kind ganz anders.“ Wir haben dann den ganzen Sachverstand der Region zusammengerufen und uns beraten lassen, was wir als Schule tun können, um wirklich in Kommunikation mit den Eltern zu treten, denn ganz offensichtlich ist ein Problem von Schule, dass sie sehr schnell, sehr früh Schuldfragen klärt und nicht das Gespräch sucht. Wir sind eine Schule in Steglitz-Lichterfelde für benachteiligte Jugendliche ab der 7. Klasse. Diese nehmen wir bewusst bei uns auf und sind froh, diese Kinder bei uns zu haben, weil sie unseren Schulalltag sehr bunt und sehr lebendig machen. Diese Kin- Schmoll/Sacher/Thöne/Vogel: Elternhaus Blindtext versagt Ulrich Thöne Ulrich Thöne, geb. 1951. Nach Banklehre Studium der Wirtschafts- und Sozialwissenschaft sowie Pädagogik in Münster. Nach Referendariat als freier Referent beim Gesamtdeutschen Institut ab 1986 Berufsschullehrer am Oberstufenzentrum Gesundheit in Berlin-Wedding. Engagement als Personalrat. 1995 stellvertretender Vorsitzender des Personalrats Berufsbildende Schulen Berlin. Seit 1971 HBV-Mitglied. Seit 1982 Mitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Dort seit Mitte der 1990er-Jahre im Hauptvorstand. Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Bildungsfinanzierung. 1999-2005 Vorsitzender der GEW Berlin, seit 2005 Vorsitzender der GEW. Hans-Jürgen Vogel Hans-Jürgen Vogel, geb. 1953. 1972-79 Studium der Chemie, Abschluss Diplom. 1979-87 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Braunschweig, Institut für Organische Chemie. Seit 1992 schulische Elternmitarbeit, ab 1996 Mitglied im Stadtelternrat Braunschweig. 2000-04 dessen Vorsitzender. Ab 2000 Mitglied im Landeselternrat; seit 2003 dessen Vorsitzender. der haben sehr häufig Verhaltensauffälligkeiten in unterschiedlichsten Bereichen, und das ist eben auch ein sehr großer Schwerpunkt unserer Arbeit. Die Jugendlichen haben ein sehr geringes Selbstbewusstsein. Und dort setzen wir an. Wir beginnen an unserer Schule mit Ich-Stärkung und nicht mit Unterricht. Im sozialpädagogischen Bereich waren wir zwar ganz fit, aber die Zusammenarbeit mit dem Elternhaus hat eben nicht geklappt. Das Ergebnis unseres Schulzirkels war, dass alle sagten, die Eltern müssten eigentlich ein Elterntraining machen. Doch uns war klar, dass es keinen Erfolg haben würde, so etwas an die Eltern heranzutragen. Unser Problem war, dass wir das Gespräch erst gesucht haben, wenn ein Problem aufgetaucht ist, und nicht vorher. Das habe ich von Eltern gelernt, wie ich ganz vieles in den Seminaren von Eltern lerne über die Fehler, die Schule macht. Das finde ich hoch spannend und interessant. Wenn man offen genug ist, dann kann man wirklich eine Menge in der Schule verändern. Diese Einstellung ist aber auch nötig, damit die Eltern zum Gespräch bereit sind und dazu, solche Erziehungsseminare zu besuchen. Wir haben vor drei Jahren zum ersten Mal gesagt, dass jeder, der sein Kind an unserer Schule anmelden will, vorher ein solches Seminar besuchen muss. Wir haben damit gerechnet, dass die Eltern auf dem Absatz kehrtmachen. Das konnten wir 119 uns leisten, weil wir doppelt so viele Anmeldungen für unsere Schule haben, wie wir Schülerinnen und Schüler aufnehmen können. Tatsächlich haben aber lediglich zwei Eltern gesagt, das hätten sie nicht nötig. Alle anderen waren dazu bereit, als wir gesagt haben, die Pubertät stehe an, wir müssten über Erziehung sprechen und prüfen, ob unsere Wertvorstellungen mit den elterlichen Wertvorstellungen übereinstimmen. Ob wir die richtige Schule für das Kind seien. Dann haben wir mit den Trainings begonnen, und die Eltern haben das sehr bereitwillig angenommen, waren begeistert. Inzwischen sind die Eltern eigentlich diejenigen, die den anderen Eltern die Angst vor dem Elterntraining nehmen und deutlich machen, dass das ein ganz wichtiger Schritt ist. Und er ist auch sehr wichtig zur Veränderung und Erweiterung unserer eigenen Erziehungskompetenz. Unser Modell nennt sich STEP, es kommt aus dem Amerikanischen, und wir machen das nicht nur an unserer Schule, sondern man kann das lernen. Ich selbst habe es in Düsseldorf vor bisschen auf unseren Elternabenden, das erhöht die Gesprächsmöglichkeiten für Eltern. Sie können sich zunächst untereinander einen Standpunkt bilden und reden dann uns Lehrern gegenüber. Doch auch die Bereitschaft, sich in der Schule einzusetzen, hat sich verändert. Unsere Eltern wissen, dass wir keine Schuldfragen mehr klären, weil wir wissen, dass die Eltern unabhängig vom Erfolg der Erziehungsbemühungen das Beste für ihre Kinder versuchen. Es geht jetzt wirklich nur noch darum, wie wir das Beste für das einzelne Kind erreichen. Unsere Kinder stehen teilweise beim Lernstand der 2. Klasse Grundschule und zum andern Teil beim Lernstand von Realschülern in Klasse 7, wenn sie zu uns kommen. Vorgestern hatten wir einen Elternabend zum Thema Zensierung. Wir geben eine verbale Beurteilung ab und ergänzen diese durch Ziffernzeugnisse. Die Eltern haben gesagt, sie möchten für sich die Ziffernzeugnisse zwar haben, aber die Kinder sollten diese nicht sehen, weil das für die Schü- „Auch an meiner Schule erlebe ich es bei Klassenkonferenzen oder in Elternberatungen, dass man wirklich mit einem Satz den Gesprächsfaden durchschneiden kann. Zum Beispiel dieser Satz: ‚Ich will Ihnen ja gar keinen Vorwurf machen!‘ Ende des Gesprächs. Wir haben keine Ausbildung, Gespräche zu führen, und sind noch nicht sensibel genug, mitzubekommen, mit welchen Ängsten gegenüber Schule Eltern zu uns kommen. Sie haben fast die Erwartungshaltung an uns, eins auf den Deckel zu bekommen, und wir erfüllen das auch noch.“ drei Jahren kennen gelernt und schule inzwischen auch andere. Man kann es sich bei uns anschauen, und es gibt im Internet Informationen darüber. Die Ausbildung dauert zwei Wochen und ist relativ teuer. Insofern machen es nicht viele Lehrer. Wir wussten damals auch nicht, ob es hilft. Trotzdem habe ich mich dazu entschlossen, und jetzt kann ich sagen, STEP ist ein ganz wichtiger Baustein an unserer Schule geworden. Wir beginnen in der kommenden Woche, 15 Berliner Schulen auszubilden im Rahmen des LISUM, das ist die Lehrer-Bildungsanstalt in Berlin. Die Kollegen werden dazu ausgebildet, Elternkurse an den Schulen durchführen, an denen sie tätig sind. Das Interesse dabei ist, eine präventive Elternarbeit auf eine breitere Basis zu stellen, d. h. die Zusammenarbeit mit den Eltern nicht erst dann zu suchen, wenn es ein Problem gibt, sondern im Vorfeld, wenn noch nichts passiert ist, und nachzufragen, ob die Vorstellungen von Schule und Elternhaus ähnlich sind, sich im positiven Sinne ergänzen. Bei der Zusammenarbeit mit den Eltern konnten wir feststellen, dass es zu einem „Quantensprung“ gekommen ist. Bei mir war der Elternabend eigentlich immer gut besucht, aber die Lebendigkeit fehlte, d. h. einer sprach, und alle hörten zu, es war sehr langweilig. Vor unserer Podiumsrunde hat Herr Klippert hier seinen Vortrag gehalten. Also, wir „klippern“ auch ein 120 lerinnen und Schüler entmutigend wäre zu sehen, dass sie vom Lernstand her noch nicht so weit sind, wie sie gemäß 8. Klasse Hauptschule sein sollten. Vor Jahren wäre es unmöglich gewesen, dass Hauptschuleltern einen solchen Entschluss fassen. Da spürt man einfach die Bereitschaft, auf die Bedürfnisse des Kindes zu schauen. Diese wächst durch unsere Seminare. Alle Kinder sind unterschiedlich, und das muss der Ansatz sein, für jedes einzelne Kind den richtigen Weg zu finden. Die Eltern sind verpflichtet, an diesen Kursen teilzunehmen, müssen aber auch etwas dafür zahlen. Auf dem freien Markt kostet so ein STEP-Kurs 190 Euro. Wir nehmen für zehn Mal zweieinhalb Stunden plus Nachschulungen 35 Euro pro Kind. Dieses Geld wird an den Förderverein unserer Schule bezahlt und dann auch wieder für die Kinder verwendet. Wir haben in Berlin gerade ein neues Schulgesetz bekommen. Ich persönlich empfinde das als eine Herausforderung und sehe viele positive Ansätze, Schule mitzugestalten. Ich weiß aber auch, dass viele Lehrer es als eine Zumutung empfinden, weil wir im Grunde genommen gar nicht vorbereitet sind auf das, was darin steht. Wenn man den Spagat zwischen dem Lernstand 2. Klasse Grundschule und Realschule 7. Klasse leisten soll bei einer Frequenz von 25 bis 30 Schülern, dann muss ich wis- Schmoll/Sacher/Thöne/Vogel: Elternhaus versagt sen, wie man das macht, und es braucht eine Ausbildung, ein Briefing, was auch immer. Da wir das nicht haben, fühlen sich viele Kollegen schnell überfordert, und das kann ich sehr gut nachvollziehen. Wir an unserer Schule haben schon lange die Möglichkeit gehabt, uns das im Do-it-yourself-Verfahren beizubringen. Insofern wissen wir mittlerweile, dass es durchaus funktioniert, wenn man es denn beherrscht. Doch es ist seitens des Schulsenats bezogen auf das Schulgesetz zu wenig getan worden, um die Schulen so vorzubereiten, dass es vernünftig läuft. Darüber hinaus sollen alle Schulprogramme schreiben, ohne zu wissen, wie das geht. Auch hier ist zu wenig Beratung vorab gelaufen, damit Schulen sich sicher fühlen können, um Programme zu entwickeln, die speziell auf ihre Schülerschaft, ihre Elternschaft, das Kollegium und die Schulumgebung zugeschnitten sind. Natürlich gibt es bei uns auch Beschwerden von Elternseite. Diese nehmen wir ernst, und wir bedanken uns für die Rückmeldung. Wir setzen uns gemeinsam an den Tisch und gehen den Anwürfen nach, die da jeweils im Raume stehen. Ich sehe keinen anderen Weg als die Bereitschaft, vorzuleben, Feedback entgegenzunehmen, wegzugehen von dieser Kritik und Schuldzuweisung. Wenn wir also eine Rückmeldung von Eltern bekommen zu etwas, das wir verbessern können, und es hat Hand und Fuß, dann finde ich das wunderbar. Ich bin doch nicht optimal in allen Bereichen, und ich kann nur sagen, ich habe durch die Seminare auch erfahren, mit welchen Päckchen Eltern zum Teil in die Schule kommen. Die Eltern haben unter Umständen selbst Eltern gehabt, die sehr viel Druck ausgeübt haben. Sie waren vielleicht nicht so effektiv oder so gut im Lernen und haben im Grunde genommen ganz schlechte Lernerfahrungen mit Schule in der eigenen Kindheit gehabt. Dann begegnen sie Schule als Eltern zunächst vielleicht ganz offen. Das eine Kind läuft gut durch, und das andere Kind macht Probleme. Und prompt sind Ihre eigenen Erfahrungen wieder präsent. Über solche Dinge machen sich Lehrer noch viel zu wenig Gedanken. Wir machen uns normalerweise keine Gedanken darüber, wie wir mit unserer Ansprache an Eltern nach außen wirken. Ich glaube, da könnten wir eine Menge lernen, wenn wir unser Augenmerk ein wenig darauf legen würden. Auch an meiner Schule erlebe ich es bei Klassenkonferenzen oder in Elternberatungen, dass man wirklich mit einem Satz den Gesprächsfaden durchschneiden kann. Zum Beispiel dieser Satz: „Ich will Ihnen ja gar keinen Vorwurf machen!“ Ende des Gesprächs. Wir haben keine Ausbildung, Gespräche zu führen, und sind noch nicht sensibel genug, mitzubekommen, mit welchen Ängsten – gar nicht Vorbehalten – gegenüber Schule Eltern zu uns kommen. Sie haben fast die Erwartungshaltung an uns, eins auf den Deckel zu bekommen, und wir erfüllen das auch noch. Wir können sehr, sehr viel lernen. Was für mich auch interessant war, ist, dass, indem wir in den Seminaren die Methoden einsetzen, die wir im Unterricht einsetzen, Schule für die Eltern plötzlich transparent wird. Schule heute ist ja nicht mehr zu vergleichen mit der Schule von frü- her. Die neuen Methoden, die wir im Unterricht anwenden, oder auch die Konsequenz, die wir an unserer Schule beispielsweise pflegen, machen Eltern Angst. Sie denken, wir wollten ihr Kind striezen. Durch die Seminare erfahren sie, warum wir das so machen, und plötzlich haben wir einen Konsens in der Frage der Konsequenz, wo wir vorher einen Widerstand seitens der Eltern hatten und nicht weitergekommen sind. Wir müssen wegkommen von dem Versuch, Recht zu haben und zu behalten, und hinkommen zum Zuhören, zum Verstehen. Den Perspektivwechsel sollten wir nutzen, um die andere Seite kennen zu lernen und uns hineinzuversetzen. Das Tolle an unseren Seminaren ist, dass die Eltern auch plötzlich einen Perspektivwechsel vornehmen können. Am Ende des Seminars haben sie im Grunde genommen mehr Fähigkeiten zur Gesprächsführung entwickelt, als unsere Kollegen bisher besitzen, denn die haben die Seminare noch nicht besucht. Was wir als Schule beklagen, ist zum Beispiel, dass die Universität sich für uns gar nicht interessiert, gar nicht an uns rantritt und wir auch keine Möglichkeit haben, uns in Kommunikation mit den Fachleuten weiterzubilden. Wir haben durchaus Universitäten angeschrieben, doch wir bekommen zum Beispiel auch wenig Referendare, weil wir so anders arbeiten. Offenbar hat man schon ein bisschen Angst vor dem, was wir bei uns praktizieren. Ich persönlich würde schon sagen, dass wir an der Basis die Fachleute sind. Wir erleben es in Berlin immer wieder, dass die so genannten Fachleute Entscheidungen treffen, worüber wir an der Basis nur den Kopf schütteln können und eigentlich sehen, dass das Ding an die Wand gefahren wird, wenn das so läuft. Zum Glück haben wir gute Beziehungen, um hie und da noch ein bisschen am Rädchen zu drehen, aber ich denke, es geht überhaupt nur in Kooperation. STATEMENT Werner Sacher Erziehungskooperation zwischen Schule und Eltern im Spiegel der bayerischen Repräsentativuntersuchung vom Sommer 2004 Zwei Antithesen Aufgrund der Forschungslage lassen sich zwei gut belegbare Antithesen zum Thema des Podiums formulieren: Erste Antithese: Die Klagen über einen „Erziehungsnotstand“ in den Familien sind nicht neu und keineswegs generell gerechtfertigt. Über unzulängliche Erziehungsleistungen der Eltern wird schon seit dem Altertum geklagt. Soweit belastbare neuere Forschungsergebnisse vorliegen, beweisen sie keineswegs dramatische Erziehungsdefizite der Eltern und der Familien in unserer gegenwärtigen Gesellschaft. Allerdings hat die Sensibilisierung 121 der Öffentlichkeit gegenüber solchen Problemen zugenommen, und krasse Einzelfälle werden in der modernen Mediengesellschaft viel allgemeiner bekannt und aufgrund einer oftmals einseitigen Berichterstattung in ihrer Repräsentativität oft überschätzt. Zudem haben es die Familien heute in vielfacher Hinsicht schwer, ihrem Erziehungsauftrag gerecht zu werden: Labile Partnerschaften, Berufstätigkeit beider Eltern, ökonomische Verunsicherung durch drohenden Verlust des Arbeitsplatzes, sozialer Abstieg durch Arbeitslosigkeit, mächtige und vielfältige Miterzieher wie die Einflüsse der Konsumgesellschaft, der modernen Massenmedien und einer Vielfalt von Freizeitangeboten, die verbreitete Überbewertung des Materiellen, einander widersprechende Normen in der nicht nur wertepluralistischen, sondern teilweise schon werterelativistischen Gesellschaft und daraus resultierende widersprüchliche Erwartungen an die Erziehung der Eltern sind echte Herausforderungen für die Familienerziehung. Angesichts dieser Bedingungen kann man mit der Expertise von G. Cyprian und G. Franger („Familie und Erziehung in Deutschland. Kritische Bestandsaufnahme der sozialwissenschaftlichen Forschung“, Stuttgart 2001, S. 223) konstatieren, dass Eltern nach den Ergebnissen der vorliegenden empirischen Untersuchungen ihre Erziehungsaufgabe im Allgemeinen gar nicht so schlecht erfüllen. Zweite Antithese: Schule hatte schon immer einen Reparaturauftrag. Sie wurde eigens zu diesem Zweck erfunden. Schule entstand historisch in Hochkulturen immer dann, wenn der freie Erfahrungserwerb der jungen Generation durch Mitaufwachsen in Familie und Sippe nicht mehr ausreichte, um die Reproduktion und Weiterentwicklung einer Gesellschaft zu sichern. Massenhaft verbreitete sich Schule schließlich (und wurde zur Pflichtschule) im Zusammenhang mit der Entstehung moderner Nationalstaaten, weil die Familienerziehung das Nationalbewusstsein offensichtlich nicht im erforderlichen Maße hervorbringen und sichern konnte. Das gilt unvermindert für die Produktion demokratischer Grundüberzeugungen in den modernen Staaten. Um einen geordneten und effektiven Lernbetrieb zu gewährleisten, muss Schule hauptsächlich in bestimmten Sektoren des erzieherischen Gesamtfeldes tätig werden: Sie muss überwiegend Pflicht- und Akzeptanzwerte aufbauen und sekundäre Tugenden wie Gewissenhaftigkeit, Pünktlichkeit, Bereitschaft zur Ein- und Unterordnung usw. vermitteln. Während diese in früheren Zeiten für die Erziehung insgesamt maßgebend waren, haben sie in unserer gegenwärtigen Gesellschaft und demzufolge auch in den Familien gegenüber anderen Werten wie Unabhängigkeit, Gleichbehandlung und Selbstverwirklichung sehr an Bedeutung verloren. Die Schule erzeugt deshalb – noch einmal verschärft durch die Lage auf dem Arbeitsmarkt – oftmals massiven Leistungsdruck und in dessen Konsequenz enttäuschte Karrierehoffnungen, die wiederum stark in den Familienalltag hineinwirken und diesen vielfach belasten. 122 Drei Befunde der bayerischen Elternarbeitsforschung Im Sommer 2004 wurde im Auftrag der Stiftung Bildungspakt Bayern an 574 bayerischen Grund-, Haupt- und Realschulen sowie Gymnasien die Elternarbeit untersucht. Es wurden jeweils Eltern, Lehrkräfte, Elternbeiräte und Schulleiter befragt. Die Ergebnisse sind in zwei Berichten und in einer zusammenfassenden Darstellung veröffentlicht (W. Sacher: „Elternarbeit in den bayerischen Schulen. Repräsentativ-Befragung zur Elternarbeit im Sommer 2004“, Nürnberg 2004; ders., „Erfolgreiche und misslingende Elternarbeit. Ursachen und Handlungsmöglichkeiten. Erarbeitet auf der Grundlage der Repräsentativbefragung an bayerischen Schulen im Sommer 2004“, Nürnberg 2005; ders., „Elternarbeit. Forschungsergebnisse und Empfehlungen. Zusammenfassung der RepräsentativUntersuchung an den allgemein bildenden Schulen Bayerns im Sommer 2004“, Nürnberg 2005). Bezogen auf das Thema des Podiums sind insbesondere drei Befunde relevant: Befund 1: Die meisten Eltern wünschen keine unmittelbare Einmischung der Schule in die Erziehung. Die Feststellung „Erziehung ist Sache der Eltern“ beurteilte die Mehrheit der Eltern ablehnend, während die Lehrkräfte ihr größtenteils zustimmten: 44,0% 42,9% 39,1% 25,4% 44 22,6% 16,1% 8,0% 22,6 1,9% stimme voll zu stimme zu Eltern N=1300 lehne ab Lehrlehne voll ab kräfte N=450 In 57,4 Prozent aller Fälle treffen erziehungsbereite Lehrkräfte auf nicht kooperative Eltern. Konflikte und Enttäuschungen sind damit vorprogrammiert. Dabei unterscheiden sich verschiedene Elterngruppen in ihrer ablehnenden Haltung gegenüber einer unmittelbaren Erziehungsbeteiligung der Schule nicht Schmoll/Sacher/Thöne/Vogel: Elternhaus versagt signifikant: Eine mehrheitliche Ablehnung findet sich gleichermaßen bei Eltern aller Bildungsniveaus, bei Eltern mit und ohne Migrationshintergrund, in allen Schularten und ungeachtet des Alters der Kinder. Hingegen gibt es signifikante Unterschiede auf der Seite der Lehrkräfte: Die Bereitschaft, sich in die Erziehung der Eltern einzumischen, ist geringer bei Teilzeitlehrkräften, bei Lehrkräften, die in sehr vielen Klassen unterrichten (Fachlehrerprinzip!), und bei Lehrkräften älterer Schüler, und sie ist am größten in der Grundschule, geringer in der Hauptschule und am geringsten in der Realschule und im Gymnasium. Erzieherische Themen bei Einzelkontakten (N = 700) nie manchmal oft Gewaltprobleme Drogenprobleme Umwelterziehung Medienerziehung Befund 2: Dem Interesse der Lehrkräfte an der elterlichen Erziehung korrespondieren nur z. T. ausdrückliche Interessebekundungen. Verkehrserziehung Gesundheitserziehung Der Feststellung „Die Lehrkräfte interessieren sich für die elterliche Erziehung“ stimmten zwar die allermeisten Lehrkräfte, jedoch nur eine schwache Mehrheit der Eltern zu: Sexualerziehung tatsächliche gewünschte Häufigkeit Erzieherische Themen bei Veranstaltungen (N = 600) 60,3% 29,9% 10,1% nie 29,7% manchmal oft Gewaltprobleme 31,3% stimme voll zu Drogenprobleme stimme zu Umwelterziehung 28,9% 8,4% Gesundheitserziehung Verkehrserziehung lehne ab Medienerziehung 1,4% lehne voll ab Lehrkräfte N=450 Eltern N=1300 Sexualerziehung tatsächliche Offenbar ist das Interesse der Lehrkräfte an der Erziehung der Eltern nur ein grundsätzliches, dem aber kaum Handlungen und Konsequenzen folgen, von denen die Eltern berichten könnten. Letztlich handelt es sich wohl um nicht viel mehr als um einen guten Vorsatz der Lehrkräfte, der nur selten in die Tat umgesetzt wird, vielleicht – wie der dritte Befund zeigt –, infolge von Berührungsängsten, die auch auf Lehrerseite bestehen: Befund 3: Auch wenn die meisten Eltern keine unmittelbare Einmischung in ihre Erziehung möchten, so wollen sie doch Erziehungsberatung durch die Schule. Eltern wünschen sich, dass sowohl in Einzelgesprächen als auch bei schulischen Veranstaltungen weitaus häufiger erzieherische Themen angesprochen werden, als es derzeit tatsächlich geschieht: gewünschte Häufigkeit Die Schule bietet den Eltern von allen Erziehungsthemen zu wenig! Es wird viel zu ausschließlich über Schulleistungen, Hausaufgaben, Disziplin usw. gesprochen und referiert. Dass Eltern von den Lehrkräften als den pädagogischen Professionals auch Erziehungsberatung erwarten, wird entweder weit gehend ignoriert oder schlicht übersehen. Die von den Eltern berichteten Diskrepanzen sind in allen Schularten ausnahmslos signifikant. Die Ursachen für dieses Defizit schulischer Erziehungsberatung dürften nicht zuletzt darin liegen, dass Lehrkräfte bestenfalls für Fragen der schulischen Erziehung ausgebildet, aber nicht auf die vielfältigen Probleme vorbereitet werden, mit welchen heute die Erziehung in den Familien konfrontiert ist, sodass Lehrkräfte der von den Eltern angetragenen Beratungsfunktion ohne Zusatzausbildung auch kaum wirklich gewachsen sind, und dies wiederum mag dazu führen, dass sie solche Themen meiden. 123 Die Behauptung, das Elternhaus versage und schiebe der Schule Reparaturaufgaben zu, muss also differenziert beurteilt werden: Elternhäuser versagen nicht generell. Sie leisten größtenteils durchaus respektable Erziehungsarbeit. Auffällige Defizite fallen historisch nicht aus dem Rahmen. Sicherlich aber haben Eltern es unter den gegenwärtigen Bedingungen schwerer, den Erwartungen an ihre Erziehung gerecht zu werden. Dazu trägt auch die Schule mit ihren verschärften Leistungsansprüchen bei. Die Mehrheit der Eltern will überhaupt keine unmittelbare Einmischung der Schule und der Lehrkräfte in die Erziehung, sehr wohl aber Erziehungsberatung vonseiten der Schule bei vielfältigen Problemen der Erziehung. Die allermeisten Lehrkräfte erkennen im Prinzip durchaus die Notwendigkeit, sich auch der Erziehung ihrer Schüler anzunehmen, lassen dieser Einsicht aber wenig konkrete Handlungen folgen und kommen vor allem den Beratungserwartungen der Eltern nur sehr unzureichend nach. Ganz offensichtlich sind Eltern und Lehrkräfte viel zu wenig über die entsprechenden Einstellungen und Erwartungen der jeweils anderen Seite informiert, und sie sind weit entfernt von einer wirklichen Erziehungskooperation. So war es denn auch einer der auffälligsten Befunde der bayerischen Elternarbeitsuntersuchung, dass Eltern und Lehrkräfte, aber auch Elternvertretungen und Schulleitungen geradezu in Sonderwelten existieren und wechselseitig von ihren Erfahrungen und Erwartungen herzlich wenig wissen. Informationsaustausch und Verständigung sind dringend geboten, wobei übrigens endlich auch einmal die Schüler auf breiter Front einbezogen werden sollten! STATEMENT Ulrich Thöne Die von Herrn Sacher vorgestellte Studie selbst muss ja jetzt erst einmal öffentlich wahrgenommen werden. Neu ist das Ganze ja nicht. Es gibt schon vom IFS in Dortmund eine Unter- Vorurteile noch einmal deutlich hervorgehoben. Sie sehen also, dass der hier in Rede stehende Tatbestand bekannt ist. Die Frage ist, wie man damit umgeht. Ich denke, wir hier auf dem Podium sind alle der Meinung, dass wir das Beste für die Kinder erreichen wollen. Das aber ist in erster Linie eine ganz praktische Frage. Was ist an jeder einzelnen Schule ganz konkret zu tun? Und da tue ich mich schwer, nicht nur weil die Kollegin Schmoll neben mir sitzt, Verallgemeinertes über jedes Kollegium, jede Kollegin oder jeden Kollegen oder jeden Elternteil zu sagen und sie alle in einen Topf zu schmeißen. Ich könnte jetzt Vorschläge machen, wie man sich dem Problem stellen kann. Doch das ist eine Frage der praktischen Arbeit vor Ort, die man Stück für Stück und auch Schule für Schule wird diskutieren müssen. Eines ist ganz klar, es gibt eine gemeinsame Verantwortung von Schule und Elternhaus in Bezug auf die Entwicklung und Erziehung der Kinder und Jugendlichen. Dort wird man ansetzen müssen, damit Kommunikation und gegenseitiges Vertrauen aufgebaut werden können, und zwar nicht erst dann, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, sondern, wie eben gerade richtig ausgeführt worden ist, schon vorher. Und dies erst recht dort, wo im Rahmen der Ausbildung und auch der bisherigen Verhältnisse dieser Kontakt zwischen Schule und Elternhaus noch sehr formal ist. Meiner Ansicht nach wird das für viele Lehrerinnen und Lehrer ein Schritt nach vorne sein, weil – und da würde ich Herrn Sacher widersprechen wollen – die Wahrnehmung der Konflikte heute gravierender ist. Es mag sein, dass sich Erziehungskonflikte objektiv nicht deutlicher auf irgendeiner Skala auswirken, aber die Wahrnehmung ist gravierender, weil immer mehr Elternhäuser in prekäre gesellschaftliche Situationen kommen und weil sich das Eltern-Kind-Verhältnis in der Gesellschaft verändert hat. Zu anderen gesellschaftlichen Zeiten mit anderen gesellschaftlichen Vorbildern war es noch ganz klar, dass, wenn Eltern eine Anordnung gaben, das Kind nur zu folgen hatte. Das war eine gesellschaftliche Übereinkunft, die Gott sei Dank heute überwunden ist. Ich möchte diese Zeiten nicht wieder haben. Aber wir haben heute eine Situation des Aushandelns, der Absprachen, des gegenseitigen Erklärens, und das schafft neue Probleme. Darauf ist die Gesell- „Es mag sein, dass sich Erziehungskonflikte objektiv nicht deutlicher auf irgendeiner Skala auswirken, aber die Wahrnehmung ist gravierender, weil immer mehr Elternhäuser in prekäre gesellschaftliche Situationen kommen und weil sich das Eltern-Kind-Verhältnis in der Gesellschaft verändert hat.“ suchung aus dem Jahr 2004, in der die Frage, was Eltern von den Lehrern und was Lehrer von den Eltern in Bezug auf die Erziehung halten, untersucht wird. Dabei werden gegenseitige 124 schaft insgesamt nicht vorbereitet, daraus ergeben sich neue Fragen, und das bringt viele Erziehungsprobleme stärker in den Fokus, als es in der Vergangenheit der Fall war. Die erlebte, Schmoll/Sacher/Thöne/Vogel: Elternhaus versagt Philosophie, die wir in Deutschland als Zielsetzung haben, diese Wertorientierung in der Schule, als Erstes anpacken wollen. Eine bestmögliche Entwicklung, ein bestmögliches Fordern und Fördern eines jeden Kindes, das muss der gemeinsame Ausgangspunkt sein und das erst öffnet die Türen aus meiner Sicht. Cartoon: Mester Wir haben eine ganze Reihe Schulen, die auf diese Vision hinarbeiten. Das Problem ist nur, dass das, was uns politisch im Augenblick geboten wird, alles andere als visionsfördernd ist. Man wird schnell auf den Teppich zurückgeholt, und aus der Situation heraus, aus der ich gerade komme, mit Tarifauseinandersetzungen und dergleichen mehr, kann ich nur sagen, dass es im Kopf schwer zu vereinbaren ist, einerseits nach Visionen zu gucken und auf der anderen Seite im Alltag den Rückschritt zu erleben wie jetzt gerade bei der Föderalismusreform. Was das für die Bildung bedeutet, müsste man an einer anderen Stelle einmal ein wenig auseinander nehmen. Es ist schon erheblich, und deswegen habe ich mich hierauf konzentriert. Ich denke, es ist notwendig, diese Kommunikation im Kleinen wirklich anzugehen, statt spät oder zu spät darüber zu reden. Was wir jetzt machen müssten, wäre erweiternd. Es muss klar sein, dass es auch andere Möglichkeiten gibt und nicht nur einen Weg. wahrgenommene Problematik rund um die Erziehung hat meines Erachtens schon zugenommen, und wenn Lehrerinnen und Lehrer in die Lage versetzt werden, damit sinnvoller umzugehen, ist das auch für sie eine Erleichterung. Deswegen – und das war mir zu Beginn meines Statements sehr wichtig zu sagen – ist es eine praktische Frage. So wie die Kollegin Schmoll das in Bezug auf ihre Schule dargestellt hat, als praktischen Ansatz, vorher darüber zu reden, und nicht erst, wenn es zu spät ist, ist das für alle Beteiligten eine Hilfe. Inzwischen haben auf der Ebene der Bundesländer alle erkannt, wie wichtig es ist, zu einem solchen Miteinander zwischen Lehrern und Eltern zu kommen. Auch jeder, der jetzt hier vorne sitzt, würde dem zustimmen, gar keine Frage, aber das bricht sich doch sofort, wenn man eine Etage tiefer steigt. Wir haben einen deutlichen Interessenkonflikt zum Beispiel bei der Frage, wie welches Kind denn gefördert wird, wenn nach der 4. respektive nach der 6. Klasse eine Entscheidung ansteht, in welche Schule das Kind gehen soll und wie es da weiter gefördert wird. Wir können doch nicht darüber hinwegsehen, dass die Lehrerinnen und Lehrer den institutionellen Auftrag haben, Kinder gewissermaßen in verschiedene Schulzweige einzuteilen. Das wurde lange geübt und ist ein lang bestehender Auftrag gewesen, und darauf hat sich im Wesentlichen auch die Kommunikation mit Eltern und Schülern bezogen. Die Entscheidung musste vermittelt werden, und dementsprechend ging es auch weiter. Wer am Gymnasium nicht klarkam, bei dem konnten die Lehrer auf die Eltern zugehen und denen sagen, dass ihr Kind im Augenblick nicht das tat, was zum Erfolg nötig war. Die Eltern bekamen den Rat, dafür zu sorgen, dass sich das besserte, ansonsten war Feierabend. Ich würde diese ganze STATEMENT Hans-Jürgen Vogel Wir vom Landeselternrat sind der Meinung, dass Eltern und Schule, Eltern und Lehrkräfte zumindest für die Zeit, in der die Schüler in die Schule gehen, einen gemeinsamen Bildungs- und Erziehungsauftrag haben, den wir auch zusammen durchführen sollten. Was wir allerdings bemerken, ist, dass an der Schule kaum über Erziehung gesprochen wird. Die Ergebnisse von Herrn Sacher stimmen in diesem Punkt genau mit unserem Erfahrungsbild überein. Es wird über alles Mögliche gesprochen, aber nicht über Erziehung. Wenn man ins Grundgesetz sieht, Artikel 6 und 7, ist dort ein gemeinsamer Bildungsauftrag formuliert. Er ist vom Bundesverfassungsgericht später noch einmal bestätigt worden, wir müssen auch über Erziehung in diesem Sinne reden. Vielleicht haben wir als Verband hierbei eine andere Meinung als viele Eltern zu Hause. Das ist ein Problem von Verbänden. 125 Aber wir sehen wirklich einen sehr großen Kommunikationsbedarf angesichts der Probleme, die wir hier in Niedersachsen oder auch in der Bundesrepublik in den Schulen haben. Ich meine nicht nur Erziehungsprobleme, sondern all das, was durch PISA aufgezeigt worden ist, oder die Dinge, die jetzt mit eigenverantwortlicher Schule auf uns zukommen. Da ist es sinnvoll, wenn Eltern und Lehrer zusammenarbeiten, und bei dieser Zusammenarbeit wird sich automatisch auch Erziehung als Thema anbieten. bin erst mit 30 Vater geworden, weil ich mir vorher auch nicht so richtig zugetraut habe zu erziehen. Es gab zu der Zeit keine Leitbilder, darunter leiden wir, glaube ich, insgesamt in unserer Gesellschaft. Foto: VdS Bildungsmedien Es werden nur selten konkrete Wünsche von den Eltern an uns herangetragen, und daher kann es meiner Meinung nach nur so funktionieren, wie Frau Schmoll das für ihre Schule in Berlin geschildert hat, dass nämlich die Schule den ersten Schritt macht. Man sollte den Eltern aber deswegen nicht Desinteresse unterstellen. Ich wollte noch einmal auf das von Frau Schmoll Gesagte zurückkommen. Ich habe einen Artikel von Herrn Spiewak gelesen, der für alle Eltern den obligatorischen Besuch von Elternseminaren fordert. Bei dieser Forderung habe ich überlegt, was das soll, und bin gleich in eine Abwehrhaltung gegangen. Wenn ich jetzt Ihre Zielsetzung, Frau Schmoll, gehört habe – Abstimmung der Wertvorstellungen, keine Schuldzuweisung –, halte ich dies für genau den richtigen Weg, den wir Eltern und Lehrer miteinander gehen müssen, wie wir miteinander umgehen müssen. Denn wann kommen Messeatmosphäre: Besucher in Bewegung, auf der Suche nach Informationen und Impulsen, und Eltern denn eigentlich in die konzentrierte Gespräche an den Ständen. Schule? Sie kommen doch nicht in die Schule, um dem Lehrer zu sagen, dass er etwas toll gemacht Die stärker gewordene Unsicherheit in unserer Gesellschaft – hat, sondern sie kommen in die Schule, um zu meckern. Dort sei es aus einer eigenen materiell unsicheren Situation auf- bekommen sie ihrerseits von den Lehrkräften Schuldzuweisungrund der dramatischen Veränderungen am Arbeitsmarkt, sei es gen zu hören wie: „Du hast dein Kind schlecht erzogen, dein „Wenn ich jetzt Ihre Zielsetzung, Frau Schmoll, gehört habe – Abstimmung der Wertvorstellung, keine Schuldzuweisung – halte ich dies für genau den richtigen Weg, den wir Eltern und Lehrer miteinander gehen müssen, wie wir miteinander umgehen müssen.“ aufgrund der Umbrüche in unserer Bildungslandschaft – hat dazu geführt, dass auch die Eltern unsicherer geworden sind. Wie Herr Thöne schon sagte, hatten wir früher ganz klare Vorgaben von zu Hause. Wenn man das Verlangte nicht gemacht hat, bekam man etwas hinter die Löffel. Das Ganze ist dann in den 1970er-Jahren aufgebrochen worden, man schwankte zwischen autoritärer und antiautoritärer Erziehung. Niemand wusste so genau, wie man es richtig machen sollte. Ich selbst 126 Kind bringt schlechte Leistungen“ usw. Das müssen wir überwinden, diese Gräben müssen wir zuschütten, hier müssen wir Brücken bauen, müssen vorher anfangen, miteinander zu reden, und ich glaube, Frau Schmoll befindet sich da auf einem sehr guten Weg. Wir werden versuchen, im Ministerium den Weg zu Elternseminaren zu initiieren. Denn wir haben hier ein staatliches Bil- Schmoll/Sacher/Thöne/Vogel: Elternhaus versagt dungssystem, alle unsere Kinder müssen auf staatliche Schulen gehen, und deshalb kann sich die Schule nicht aus der Verantwortung verabschieden und das ablehnen. Wenn wir ein Monopolsystem haben, dann ist Betriebshaftung gegeben, auch für die Kinder, die sich nicht benehmen können, die nicht gut erzogen sind. Schule muss lernen, damit umzugehen. Und sie muss uns Eltern zurückmelden, welche Fehler wir machen. Wir wer- den aber auch der Schule zurückmelden müssen, was dort an Fehlern passiert, denn es kommt immer wieder vor, dass wir Kinder zu Hause aufbauen müssen, weil einige Lehrkräfte im Unterricht versagt haben, weil Kinder in der Schule gemobbt und runtergemacht werden. Auch das passiert. Daher: Keine Schuldzuweisung, sondern zusammen reden, miteinander gehen, das bringt am meisten für alle. 127 „PISA, PISA, PISA – WELCHE KONSEQUENZEN FÜR SCHULE UND UNTERRICHT KANN MAN WIRKLICH ZIEHEN?“ lautete die Frage, der sich der Erziehungswissenschaftler Professor Dr. em. ULRICH HERRMANN, der Kultusminister des Landes Sachsen-Anhalt, Professor Dr. JAN-HENDRIK OLBERTZ, und ANDREAS SCHLEICHER, internationaler Koordinator der PISA-Studie bei der OECD-Direktion, stellten. Seit PISA wissen wir unbestritten mehr über die strukturellen Mängel und Qualitätsdefizite unseres Schulsystems. Die Ergebnisse der Vergleichsstudie waren Anlass für umfassende Reformen, die in die Wege geleitet sind. Da PISA jedoch die pädagogische Perspektive explizit ausblendet, bleibt die Frage, was aus den Ergebnissen wirklich für das System Schule – für Struktur, Unterricht und Methodik – gefolgert werden kann. Ulrich Herrmann Ulrich Herrmann, Professor Dr. phil., geb. 1939. Studium der Germanistik, Geschichtswissenschaft, Pädagogik, Philosophie und Politikwissenschaft. 1968 Promotion. Danach Referent im Sekretariat der Studienstiftung des deutschen Volkes, Bad Godesberg, und Referent des Rektors der Universität Tübingen. 1975 Habilitation im Fach Erziehungswissenschaft in Tübingen, dort 1976 Professor für Allgemeine und Historische Pädagogik. 1994-2004 Lehrstuhl für Pädagogik an der Universität Ulm. Honorarprofessor an der Universität Potsdam. Jan-Hendrik Olbertz Jan-Hendrik Olbertz, Professor Dr., geb. 1954. 1974-78 Lehramtsstudium an den Universitäten Greifswald und Halle, Fächer Deutsch und Musik. 1978-81 Forschungsstudium Erziehungswissenschaften in Halle. 1981 Promotion. 1989 Habilitation in Halle. 1990 Gastprofessur an der Universität Bielefeld. 1992 Professor für Erziehungswissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. 1993-2002 Mitglied des Landesschulbeirats Sachsen-Anhalts. 1994-2002 im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE). 1995-97 Mitglied der Enquetekommission „Schule mit Zukunft“ des Landtags von Sachsen-Anhalt. 1996-2000 Gründungsdirektor des Instituts für Hochschulforschung (HoF) Wittenberg. 2000-02 Direktor der Franckeschen Stiftungen zu Halle. Seit 2002 Kultusminister des Landes Sachsen-Anhalt. Andreas Schleicher Andreas Schleicher, Dr. sc. nat., geb. 1964. Studium der Physik (Universität Hamburg) und Mathematik (Deakin Universität, Australien; Abschluss MSc.). Seit 1997 betraut mit der Entwicklung und dem Management des OECD-Bildungsindikatorenprogramms einschließlich der Zuständigkeit für die Studie „Bildung auf einen Blick“. Entwicklung und Management des OECD-Programms zur Bewertung der internationalen Schülerleistungen (PISA). Abteilungsleiter „Indikatoren und Analysen“ der OECD-Direktion Bildung, Paris; internationaler Koordinator der PISA-Studie. 128 Herrmann/Olbertz/Schleicher: PISA, Blindtext PISA, PISA STATEMENT Ulrich Herrmann PISA hat nach meinem Eindruck, sieht man von der beabsichtigten Einführung von Leistungsstandards ab, in der Schulwirklichkeit nicht viel verändert, weil die Schul- und Bildungspolitik – wie in den letzten hundert Jahren – eigenen gesellschaftsoder parteipolitischen Trends oder Zwängen folgt. Sie fixiert Schulen auf Abschlüsse und Berechtigungen und nicht auf Kompetenzen und Anschlüsse. Schulpolitik und -verwaltung orientieren sich in der Regel, was die an die Schule anschließende Berufsausbildung angeht, immer noch nicht an den Vorgaben der Abnehmerinstitutionen oder an den Interessen der Schüler. Aufwand-Ertrag- oder Kosten-Nutzen-Rechnungen, was PISA mit angestoßen hat und jetzt verstärkt besonders von Wirtschaftsverbänden in die bildungspolitische Debatte eingebracht wird, sind nicht wirklich in die Schul- und Bildungsverwaltung vorgedrungen. Gleichwohl hat PISA – das muss man sagen – dank der nachhaltigen Arbeit von Herrn Schleicher, dem OECD-PISA-Koordinator, und der Initiative, die der damalige Hamburger Staatsrat Hermann Lange in der KMK auf den Weg gebracht hat, die Wahrnehmung der Schulprobleme und die Debatte darüber gründlich verändert: Nach PISA und den empirischen Befunden, die wir haben, über deren Zustandekommen, Validität und Vergleichbarkeit mit anderen Ländern man streiten kann, hört man die üblichen parteipolitischen Worthülsen oder die üblichen Sätze der Art „Das haben wir immer schon gemacht“ oder „Wir haben nicht die Voraussetzungen dafür, irgendetwas zu ändern“ eigentlich nicht mehr. Wer sie dennoch gebraucht – „Das dreigliedrige Schulsystem hat sich bewährt!“ –, der erntet nur noch ein mitleidig-verlegenes Lächeln. Vor allem auch in der Lehrerschaft ist der Blick dafür geöffnet worden, dass man in einem gesellschaftlichen System mit hoher Elternaufmerksamkeit agiert, und auch dafür, dass sich in der Schule Konventionen eingeschlichen haben, die von der Eltern- und Schülerschaft so nicht mehr hingenommen werden, beispielsweise die völlig unaufgeklärte Gewohnheit, soundso viel Prozent Kinder einer Klasse – mit beträchtlichen Abweichungen zwischen den Bundesländern! – diese wiederholen zu lassen. Die Kultusverwaltungen bis herunter zu den Schulaufsichtsbehörden haben begriffen, dass nichts in Gang kommt, wenn die Hierarchie nicht flacher wird und die Schulen nicht selbstständiger werden und mehr Verantwortung für ihren eigenen Betrieb übernehmen können. Es hat sich ein wenig der aus der reformpädagogischen Szene bekannte Satz durchgesetzt: Reformen funktionieren nicht von oben und außen, sie müssen von innen und unten kommen, oder es tut sich nichts. Denn im Alltag sind die Lehrkräfte mit ganz anderen Problemen beschäftigt, als politische Vorgaben umzusetzen, deren Erfolg in ministeriellen Pressemitteilungen im Übrigen immer schon feststeht. Man wundert sich, dass nach jahrzehntelangen „Erfolgen“ immer noch etwas zu reformieren ist ... Nach der Veröffentlichung der letzten PISA-Studie hat Manfred Prenzel, der Vorsitzende des Konsortiums, auf die Frage, welche Handlungsanleitungen aus PISA für die Kultusministerien resultieren, lapidar geantwortet: Keine. Zunächst wollte er damit sagen: Aus dem, was ist, folgt noch längst nicht, was sein soll. Der Soziologe Max Weber hat gesagt, empirische Wissenschaft könne niemanden lehren, was er solle, sondern nur, was er könne, und unter Umständen, was er wolle. Und damit könnten wir die Runde an dieser Stelle schließen? Dann wäre der ganze PISA-Aufwand für die Katz’ gewesen? Zumindest muss zunächst danach gefragt werden, nach welchen Kriterien, aufgrund welcher Überlegungen denn Handlungsempfehlungen entwickelt werden können, und zwar durchaus, trotz mancher Vorbehalte, im Lichte der PISA-Befunde. Hier ist der Ausgangspunkt – in pädagogischen Sachverhalten nie überraschend – der, dass die Befunde an sich unstrittig sind, aber dass die Schlussfolgerungen, die daraus gezogen werden können, politisch höchst unterschiedlich oder selber strittig sein können. Deswegen muss auf die Grundfrage zurückgegangen werden, wozu Schule eigentlich da ist, um anschließend fragen zu können, welche Schlussfolgerungen wir aus den Befunden über die (Un-)Wirksamkeit von Schulen ziehen wol- 129 len. Denn ein Aspekt des PISA-Schocks in Deutschland war ja, dass Schulen offensichtlich nicht dasjenige leisten, was erwartet worden war oder was sie selber vorgeben zu leisten. Drei Überlegungen helfen an dieser Stelle weiter. 1. Die erste ist eine demokratische, politische Grundüberlegung. Jedes Kind hat, so steht es in unseren Verfassungen, einen Anspruch auf die Förderung seiner Begabungen, seiner Dispositionen, und zwar für einen optimalen Anschluss an eine Berufsausbildung. Wenn die Schulpflicht gilt, dann hat der Schüler im Rahmen seiner Möglichkeiten auch ein Recht auf Schulerfolg. Es darf nämlich keine staatsbürgerlichen Pflichten geben, bei deren Erfüllung jemand vollkommen erfolglos gelassen wird (10 Prozent Schulabgänger ohne [Hauptschul-] Abschluss, wiederum mit erheblicher Streubreite zwischen den Bundesländern). Der von Gesetzes wegen vorgeschriebene „Schulzweck“ muss entweder erreicht werden können, oder er muss modifiziert werden. 2. In einer demokratischen Gesellschaft muss eine für alle verbindliche gemeinsame Institution wie die staatliche öffentliche Pflichtschule auf individuelle Differenzen von Begabungen und Dispositionen mit institutionellen Differenzierungen reagieren. Das ist ein Gebot der Gerechtigkeit im Umgang mit formaler Gleichheit/Gleichberechtigung als gerechtem Umgang mit faktischer Ungleichheit. Das Gleichheitsgebot sagt, Ungleiches müsse ungleich behandelt werden, sonst wird im Einzelfall nach nicht einschlägigen oder gar falschen Kriterien geurteilt. (Ein gerechtes Urteil kommt bei der Rechtsprechung nur dann zustande, wenn z. B. die individuellen Umstände einer Tat, die Charaktermerkmale des Täters usw. beachtet werden; es kommt nicht zustande durch die einfache Anwendung einer Sanktion auf einen Tatbestand, wie es jetzt bei den Leistungsstandards den Schülern droht.) Das sind die drei Grundüberlegungen politischer Art, um die es geht, und die kann man sich in einem einfachen Satz gut merken: Die Frage ist nicht, ob das Kind zur Schule passt, sondern umgekehrt: Passt die Schule zum Kind? Und dann ist die Antwort bekanntlich ganz einfach. Im Lichte der internationalen PISA-Befunde müssen wir uns darauf zurückbesinnen, ob und wie Schülerinnen und Schüler in unseren Schulen erfolgreich sein können, und zwar in der Weise erfolgreich, wie es ihren Potenzialen entspricht, und nicht nach irgendwelchen abstrakten Vorgaben. Das macht aufmerksam nicht nur auf die Ungerechtigkeiten, die aufgrund einer zu frühen Sortierung der Kinder zustande kommen, was ja gewissermaßen verfassungswidrig ist, sondern darauf, dass die Handhabung innerhalb des Systems immerzu neue Hürden aufbaut in Versetzungsordnungen, in Vergleichsarbeiten usw., ohne dass die entsprechenden Vorkehrungen getroffen wären, was denn im Falle des Scheiterns oder der Gefährdung an Unterstützungssystemen da ist. Wenn wir mit letzter Gewissheit nicht wissen können, was wir tun sollten, wissen wir gleichwohl mit großer Sicherheit, was wir vermeiden bzw. unterbinden sollten. Wer sich nicht auskennt, braucht nur die Lehrkräfte, Schüler und Eltern zu fragen. In der Gegliedertheit des Schulwesens als solcher muss man, in historischer Perspektive einer pragmatischen Handhabung der Übergänge und Durchlässigkeit, nur dann ein Problem sehen, wenn das System der Gliederung eine Quelle sozialer Ungleichheit und Benachteiligung wird, wie es heute der Fall ist. Wenn wir nämlich aktuell betrachten, was gegliedert heißt, dann stellen sich grundsätzliche Bedenken ein. Wir reden immer vom dreigliedrigen Schulsystem, was nicht mal mehr für die weiterführenden Schulen zutrifft. Wir haben ein mindestens sechsgliedriges: Grund-, Haupt-, Realschulen, Gymnasien; besondere Schulen für Leistungsschwache und für Leistungsstarke; die Klassen der Berufsvorbereitungsjahre (BVJ) für Hauptschüler ohne Abschluss; die zweijährige Berufsfachschule als Zugang „Das Kriterium dafür, was uns die PISA-Befunde auch im internationalen Vergleich lehren, ist also, dass wir uns darauf zurückbesinnen müssen, ob und wie Schülerinnen und Schüler in unseren Schulen erfolgreich sein können, und zwar in der Weise erfolgreich, wie es ihren Potenzialen entspricht, und nicht nach irgendwelchen abstrakten Vorgaben.“ 3. Im Sinne der Zugangs- und Verteilungsgerechtigkeit, also im Zugang zu Bildungsgängen und dem Verbleib in Bildungsgängen bis zum individuell optimalen Abschluss, müssen Schullaufbahn- und -abschlussentscheidungen, die ja früh stellvertretend für die Kinder zu bestimmten Zeiten ihrer Entwicklung getroffen werden, korrigierbar sein. Ein versäultes System wie das deutsche, das solche Korrekturen per se erschwert, hat nur eine schwache demokratische Legitimation. 130 für Hauptschulabsolventen zur mittleren Reife; und dann die Gymnasien in diversen Varianten (allgemein bildend, wirtschafts-, technik-, hauswirtschaftsorientiert). Das könnte man für sich genommen plausibel finden. Aufgrund der Tatsache aber, dass die Umsteigemöglichkeit und Durchlässigkeit nach oben fast nicht gegeben ist, hingegen ein Weg nach unten in diesem „dreigliedrigen“ System etabliert ist, kann darin die Schule der Zukunft jedenfalls nicht gesehen werden. Und zwar Herrmann/Olbertz/Schleicher: PISA, Blindtext PISA, PISA 1. Aus demografischen Gründen wird sich diese Aufsplitterung der weiterführenden Schulen in der Fläche bzw. in den Flächenstaaten im ländlichen Bereich nicht aufrechterhalten lassen. In einigen Bereichen sowohl der alten als auch besonders der neuen Bundesländer wie Brandenburg werden Realschulen und Gymnasien zusammengelegt, und das ist auch nur sinnvoll, weil dieser Schultyp der erfolgreichste der deutschen Schulgeschichte überhaupt gewesen ist. Diese erfolgreiche Kombination von Realschule und Gymnasium wurde vor dem Ersten Weltkrieg erfunden und scheint in Vergessenheit geraten zu sein. Cartoon: Löffler aus vier Gründen, die zunächst einmal gar nichts mit der individuellen pädagogischen Verantwortung gegenüber den Kindern, aber viel mit der Zukunft unserer Gesellschaft und Wirtschaft und unseren sozialen Sicherungssystemen zu tun haben: 2. Wir werden die jetzigen Gliedrigkeiten und ihre Auslesewirkung nicht aufrechterhalten können, weil uns allmählich in der Spitze diejenigen Studenten ausgehen, die wir für den Wirtschafts-, den Technik- und Wissenschaftsstandort Deutschland brauchen. Wir brauchen andere Gymnasiasten, weil die Abbrecher- und Versagerquoten in den Universitäten zu groß sind. Mit dem jetzigen Gymnasium lässt sich das nicht machen. 3. Wir werden vor allen Dingen etwas tun müssen, um die Drop-outs unten aufzufangen und zu einem tatsächlichen Qualifizierungsabschluss zu führen, weil, wie das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Agentur für Arbeit in Nürnberg zusammen mit Wirtschaftsverbänden, der Deutschen Bank usw. nicht müde werden zu betonen, wir etwa eine Million junger Menschen ohne Ausbildung in der Bundesrepublik haben. Das ist eine soziale Zeitbombe besonderer Sorte. Wir hatten ursprünglich nur 500 000, die andere Hälfte kam durch Hartz IV hinzu, als Sozialhilfe und Berufshilfe zusammengelegt wurden. Da sah man plötzlich, dass an anderer Stelle eine weitere halbe Million versteckt war. 4. Nach der Wende wurde durch die Zusammenlegung von Haupt- und Realschule im Freistaat Sachsen eine Zweigliedrigkeit der weiterführenden Schulen eingeführt, begründet durch die Einsicht, dass der Hauptschulabschluss einer „Restschule“ nur noch ausnahmsweise den Übergang in eine berufliche Ausbildung ermöglicht. Im Lichte dieser Befunde hat es wenig Sinn, in die übliche Strukturdebatte mit „Glaubensbekenntnissen“ einzusteigen. Herr Schleicher hat darauf hingewiesen. Herr Olbertz hat soeben in einem „Focus“-Interview gesagt, er meide diese Debatte. Sehr mit Recht. Die Grünen, die GEW, vor allen Dingen der baden-württembergische Handwerkstag argumentieren anders, und zwar anknüpfend an die Forderung nach einer „Schule für alle Kinder“, wie das die überaus PISA-erfolgreiche Bielefelder Laborschule praktiziert. Das Gliedrigkeitsproblem besteht ja unter anderem darin, dass wir zu früh sortieren, zu einer Zeit, in der die Kinder noch Kinder sind und ihre Denkpotenziale vom Gehirn her aus neurowissenschaftlicher Sicht noch gar nicht in Gang gekommen sein können. Wir sortieren zu früh, wir schöpfen Potenziale nicht aus, nicht zuletzt auch deswegen, weil wir unterschiedliche Interessen, Inhalte und Arbeits- bzw. Lernformen nicht zu ihrem Recht kommen lassen. (Das hat auch etwas mit Personal-, Sach- und Betriebskosten zu tun!) Eine solche Katastrophe passiert zurzeit in Baden-Württemberg. Da werden in Klasse 5 im 8-jährigen Gymnasium Englisch und Französisch im gleichen Schuljahr nach der Grundschule eingeführt; das kriegen die Kinder, wie man weiß, nicht auf die Reihe. Also muss jetzt wieder zurückgerudert werden. Die Schule muss vom 6. bis zum 13., 14., 15. Lebensjahr diejenige Basis schaffen, von der Herr Olbertz gesprochen hat: die Schule muss die Kinder mit Grundkenntnissen, Fertigkeiten, Fähigkeiten und Einstellungen ausstatten – nachzulesen im Einführungstext von Hartmut von Hentig zu den aktuellen baden-württembergischen Bildungsplänen –, damit sie dann ihre eigenen Wege gehen können. Das ist meine Antwort auf die Frage der Struktur. Sie ist nicht ja oder nein, sondern sie betrifft zunächst eine Grundstruktur, und sie muss nachher für die Differenzierung eine Differenzierungsstruktur vorgeben. Wer es nicht schon vorher wusste, der konnte aus dem Film „Die Kinder des Monsieur Matthieu“ viel lernen. Man bekam vorgeführt, welche potenzialen Talente in Kindern stecken, und zwar in allen gemeinsam. Wer eben nicht so gut singen kann, der wird Assistent des Dirigenten oder wird zum Notenständer ernannt. Jeder kann etwas beitragen. Man muss nur ideenreich und ermutigend vorgehen. 131 Herr Olbertz empfiehlt, nicht nur über Schule zu reden, sondern auch mal in die Schulen zu schauen. Fragen wir danach, warum die Schüler in die Schule kommen – mal von der Schulpflicht abgesehen –, dann stellt eine Untersuchung (aus dem Bereich von Jürgen Zinnecker, Siegen) fest, dass die Kinder nicht in die Schule kommen, um zu lernen, sie kommen nicht des Unterrichts wegen, sondern um ihre Freunde zu treffen und dort alle möglichen Dinge zu erleben. Das war übrigens bei normalen Kindern immer so. Und damit stehen wir vor dem Problem, dass die Schule als Institution Lern- und Leistungsanforderungen stellt, die die jungen Leute wiederum nur marginal interessieren. Eine andere Untersuchung (aus dem Bereich von Manfred Hofer, Mannheim) zeigt nun, dass die Leistungen der Schüler sinken, wenn man sie in den Konflikt von Schulleistung und Freizeitwünschen versetzt. Und dann gucken wir jetzt mal in die Schule: wenig Motivation, grassierende Schulmüdigkeit. Die Implantierung von Leistungsstandards ist in dieser Situation das genau Falsche: Das Schulleben müsste vorweg so umgestaltet werden, dass wir die bewegte Schule haben, die musische Schule haben, eine Schule, von der die Schüler sagen, dass ihr Besuch sinnvoll ist – weil sie Sinn hervorbringt. Das ist dann auch zugleich die Grundlage von Leistungssteigerung in diesen Schulen, was Freie Schulen und Landerziehungsheime seit Jahrzehnten erfolgreich demonstrieren. Das ist die Chance der Ganztagsschule und nebenbei auch ihre gute Begründung: dass sie nicht nur Ganztags-„Schule“ ist – das hält ja keiner im Kopf aus –, sondern ein Ganztagsbetrieb (bis 16 Uhr), in dem Unterricht und Lernen eingelagert sind in all das, was einen anregenden, herausfordernden, mit Ernstaufgaben, mit Spiel und Entspannung durchsetzten ganzen Tag ausmacht. PISA misst nicht die Lernkultur einer Gesellschaft oder das Lernklima, PISA misst nicht die Professionskultur des Lehrerstandes, und PISA misst auch nicht das öffentliche Klima des Bewusstwerdens von Verantwortung für die nächstfolgende Generation. Das, was im finnischen System auffällig ist, nämlich das Vorhandensein einer ganz anderen, individuellen Förderkultur, eines ganzen Maßnahmenbündels und zugleich eines mentalen Selbstverständnisses, das in dem Moment in Gang gesetzt wird, wo ein Kind zurückbleibt oder irgendwie auffällt, fehlt bei uns, und das erfassen wir auch mit der besten PISAErhebung nicht. STATEMENT Insofern finde ich es wichtig, auf einer Messe wie dieser solche Verantwortungsfragen auch öffentlich zu diskutieren. In seiner Moderation eben hat Herr Kalb noch gefragt, was man konkret machen kann. PISA hat die Diskussion sehr versachlicht. Man kann sich nicht mehr entziehen mit Allgemeinplätzen, sondern Schulpolitik muss sich dadurch legitimieren, dass sie auch im Innern der Schule mit nötigen Reformansätzen vorankommt, die unabhängig von der Gliederung des Systems an allen Schulen in Deutschland dringend angezeigt sind. Es hat sich ja herausgestellt, dass die Unterschiede schon innerhalb der Schulformen sehr groß sind, ja, dass die Varianz zwischen den Schulformen nicht so spannend ist wie die Varianz zwischen den Schulen ein und derselben Schulform. Das ist von Klasse zu Klasse so, aber auch von Schule zu Schule. Deswegen gibt es exzellente Gesamtschulen und schlechte; es gibt gute und weniger gute Sekundarschulen, gute Gymnasien und solche mit eher schlechtem Ruf. Die Frage an mich lautete, was von der ganzen PISA-Diskussion in den Kultusministerien überhaupt ankommt, inwieweit ich darin eine Chance sehe, einen neuen Ansatz zu finden und vor allen Dingen, wie und wo wir zur Besserung ansetzen wollen. PISA hat meiner Meinung nach den großen Vorzug, dass sich die Schul- und Bildungspolitik zum ersten Mal wirklich anhand von „Hard Facts“ legitimieren muss. Allerdings muss man vorsichtig sein. Ich stünde auch als Wissenschaftler dem ganzen PISA-Projekt dann kritisch gegenüber, wenn es uns verleiten sollte, unsere Vorstellungen von einer guten Schule auf das zu reduzieren, was mit dem PISA-Instrumentarium messbar ist. Das wäre mir entschieden zu wenig, denn eine gute Schule muss mehr ausmachen, als PISA-förmige Ergebnisse zutage zu fördern. Ich habe durchaus die Befürchtung, dass die Erwartung an die Schulen, ihre Arbeit „PISA-gemäß“ auszurichten, dazu Also müssen die Probleme etwas tiefer liegen, als sie in der Öffentlichkeit, von den Medien und leider auch von der Politik manchmal erörtert werden. Für den wichtigsten Ansatz im Rahmen innerer Schulreformen halte ich vor allem eine Lehrplanreform. Es ist ein curriculares Missverständnis in der Wissensgesellschaft, zu versuchen, so viel wie möglich in einen Lehrplan hineinzupacken. Wir machen das, weil wir sehen, wie schnell Wissen veraltet. Deswegen pflegen wir einen Lernmodus, der das Verweilen, das Innehalten, das Wiederholen, das Festigen, all die klassischen didaktischen Tugenden, eigentlich unmöglich macht. Wenn man die Frage andersherum stellt und fragt, welches Wissen eigentlich nicht veraltet, dann kommt man auf einen kulturellen Kernbestand von Grundwissen und elementarer kultureller Techniken, die auch generationsübergreifend Wenn damit begonnen würde, unabhängig von der Strukturfrage schon mal diese „innere Schulreform“ in Gang zu bringen, dann hätten die deutschen Bildungspolitiker auch eine richtige Lehre aus PISA gezogen. Jan-Hendrik Olbertz 132 führt, dass Schwerpunkte falsch gesetzt werden, indem z. B. ein bestimmter Aufgabentypus, der für Erhebungen gut geeignet ist, aber nicht für die Beurteilung einer guten und erfolgreichen Schule, in den Vordergrund der schulischen Arbeit rückt. Das heißt, wir brauchen zusätzlich zu diesen Output-orientierten, die empirische Bildungsforschung herausfordernden Ideen, Schulleistungen messbar und vergleichbar zu machen, einen kritischen Diskurs darüber, was man damit aussagen kann und was nicht. Die Diskussion auch der Grenzen von PISA halte ich für wichtig, damit wir mit den Daten etwas anfangen und sie auch angemessen interpretieren können. Herrmann/Olbertz/Schleicher: PISA, Blindtext PISA, PISA relevant sind. Dorthin müssen wir die Schule lenken. Dann können wir es uns leisten, gegenüber der Dynamik, die sich oberhalb eines solchen Grundkanons kulturellen Wissens abspielt, gelassen zu sein. Das Zweite ist tatsächlich die individuelle Förderung. Schule ist weit gehend fantasielos in Bezug auf individuell konfigurierte Förderkonzepte, übrigens sowohl in Bezug auf die Schwachen – und ich finde es gut, dass wir als Erstes über sie reden –, aber auch in Bezug auf die Starken. Auch die werden verlangsamt, wenn ihre speziellen Potenziale nicht aufgegriffen werden. Und schließlich müsste man über den ganzen Bereich der Unterrichtsmethoden gesondert reden, wobei ich der Letzte bin, der einfach gegen den Frontalunterricht polemisiert. Auch beim Frontalunterricht gibt es nämlich guten und schlechten. Der des Wissens gegenüber dem Verstehen, Bearbeiten und Erleben dazu geführt, dass nicht genug Erfolge stattfinden. Ich glaube, gerade lernende Kinder, die nicht regelmäßig ein Feedback über ihren Erfolg bekommen, der sie in ihrer Selbstgewissheit stärkt, steigen aus, noch bevor wir uns ihnen individuell zuwenden können. Deswegen ist es so wichtig, Leistungsanforderungen zu individualisieren. So wichtig ich Standards finde, sie müssen jeweils individuell ausgelegt werden, sodass ein Kind Lob erfahren kann für eine Leistung, für die ein anderes Kind kein Lob erfährt. Wenn wir diese Differenzierung nicht wollen, scheren wir am Ende alle über einen Kamm und wundern uns, dass Kinder, die sich selbst nicht bestätigt sehen, die keinen Erfolg erleben, auch keine Lernmotivation mehr entwickeln können. Übrigens gilt das auch für die Erziehung. Auch da halte ich es für ganz wichtig, dass Kindern gelegentlich in Bezug auf ihr Ver- „Für den wichtigsten Ansatz im Rahmen innerer Schulreformen halte ich vor allem eine Lehrplanreform. Es ist ein curriculares Missverständnis in der Wissensgesellschaft, zu versuchen, so viel wie möglich in einen Lehrplan hineinzupacken. Wir machen das, weil wir sehen, wie schnell Wissen veraltet … Wenn man die Frage andersherum stellt und fragt, welches Wissen eigentlich nicht veraltet, dann kommt man auf einen kulturellen Kernkanon, der auch generationsübergreifend relevant ist. Dorthin müssen wir Schule bekommen.“ gesamte Bereich der Unterrichtsmethoden ist ein ganz wichtiges Desiderat von innerer Schulreform, ein Bereich, in dem die Entwicklung in Deutschland, glaube ich, eher verhalten verläuft. Das Sitzenbleiben als Reaktion auf Schwächen bei den Schülerinnen und Schülern halte ich für eine Vergeudung von Lebenszeit und einen Ausdruck von Einfallslosigkeit an den Schulen. Ich bin sicher, dass das Sitzenbleiben nur in einer absoluten Minderheit der Fälle der Förderung des Kindes dient. Es ist eher so, wie Herr Schleicher sagt, dass man die schwierigen Schüler einfach „entsorgt“. Sie sind dann erst einmal aus dem Blickfeld. Die schlichte Wiederholung stellt kein intensiveres Zugehen auf den Schüler dar, sondern ist bloß eine formale Wiederholung. Dabei ist die Wahrscheinlichkeit, dass es ein weiteres Mal schief geht, hoch. Deshalb brauchen wir keine administrativen Regelungen zur Perfektionierung des Sitzenbleibens, sondern den Nachweis, was im Vorfeld alles unternommen wurde, um es zu vermeiden. Wir haben in Sachsen-Anhalt keine so erschreckend große Klassenwiederholerquote, aber hier ist jedes Kind eines zu viel. Nun reden wir immer vollmundig davon, in einer Wissensgesellschaft zu leben. In dieser viel beschworenen Gesellschaft fällt aber als Erstes auf, dass es immer mehr Menschen gibt, die immer weniger wissen. Das Schulsystem hat offenbar durch die Dichte seiner Anforderungen und durch die Verselbstständigung halten in der Gemeinschaft Grenzen gezogen werden. Kinder, die diese Erfahrung nicht machen, werden als Erstes daran zu zweifeln beginnen, ob sie uns wichtig sind. Da gibt es meiner Meinung nach zahlreiche Fehlverständnisse aus den 1970er-Jahren, die die Schule bis heute ziemlich bedrängen. Deshalb wäre es nicht schlecht, wenn wir ein paar grundlegende Verabredungen darüber treffen würden, was gute Schule ist und leisten kann und was nicht, damit Schule nicht überfordert wird, sondern ihr Kerngeschäft, das Lernen zu organisieren, auch erfolgreich betreiben kann. Bei der Schule der Zukunft sehe ich die Prioritäten nicht in der hier gestellten Frage, wie lange das gegliederte System sich noch „verteidigen“ lässt. Ich habe fast Schwierigkeiten, etwas mit der Frage anzufangen. Die Frage ist vielmehr, wie lange es seine Defizite noch wird verantworten können. Daran schließt sich die Frage an, ob diese Defizite wirklich kausal mit der Gliederung zusammenhängen oder ganz woanders ihre Ursache haben. Darüber mache ich mir viel mehr Sorgen. Gestern habe ich ja aus Spaß gesagt, dass ich mir zutrauen würde, unter Beibehaltung der jetzigen inneren Mängel unserer Schule selbst das finnische System innerhalb weniger Monate zu ruinieren. Was ich mit diesem Scherz sagen wollte, ist, dass wir vor dem Hintergrund der jetzigen Diskussionslage zunächst mal in die Schulen hineinschauen, in alle Schulformen, und dort mit einer gewissen Radikalität, wie wir sie in Deutschland leider nicht mehr kennen, Änderungen herbeiführen müssten. Erst 133 dann lassen sich übrigens auch wissenschaftlich belastbare Anhaltspunkte darüber gewinnen, wo die Grenzen des gegliederten Systems tatsächlich sind und wie man sie überwinden könnte. Im Moment haben wir Glaubenssätze, die wir austauschen, und gleichzeitig werden damit auch noch politische Lager markiert. Dadurch wird die Diskussion in einer Sphäre geführt, die sich von den Schulen längst verselbstständigt hat. Im Übrigen interessiert das in den Schulen auch niemanden, Und wenn dann noch die Hälfte derer, die die Hochschulreife erwerben, anschließend gar nicht studiert und auch nicht studieren will, dann könnte man allenfalls positiv festhalten, dass diese Schülerinnen und Schüler am Gymnasium vieles gelernt haben, was sie niemals brauchen; aber beunruhigender für ihre anschließende Ausbildung ist, dass sie dort vieles nicht gelernt haben werden, was sie eigentlich für die Ausbildungsreife benötigten. „Das Schulsystem hat offenbar durch die Dichte seiner Anforderungen und durch die Verselbstständigung des Wissens gegenüber dem Verstehen, Bearbeiten und Erleben dazu geführt, dass nicht genug Erfolge stattfinden. Ich glaube, gerade lernende Kinder, die nicht regelmäßig ein Feedback über ihren Erfolg bekommen, der sie in ihrer Selbstgewissheit stärkt, steigen aus, noch bevor wir uns ihnen individuell zuwenden können.“ 134 der dort seine Arbeit macht oder aber seine Kinder dort hinschickt. Darüber hinaus bin ich mir gar nicht so sicher, ob die finnische Lernkultur, die öffentliche Wahrnehmung von Verantwortung für die Jugend, das finnische Selbstverständnis der jungen Generation usw. wirklich Folge der Strukturen des Bildungssystems sind. Ich will nicht in Frage stellen, dass es da Zusammenhänge gibt, aber das Ganze hängt wohl vor allem mit nationaler Geschichte und Identität in Finnland zusammen. Finnland ist zudem ein Land mit einer Sprache, die kaum jemand anders spricht – auch dadurch entsteht eine gewisse innere Geschlossenheit im kulturellen Selbstverständnis. Wenn wir nur Schulen vergleichen und nicht historische, soziale, sozial-ökonomische Kontexte einbeziehen, wird immer ein schiefes Bild herauskommen. Man kann aber von der finnischen Schule eine Menge lernen, ohne gleich deren Strukturen 1:1 kopieren zu müssen. Insofern müssen die Bildungsgänge stärker ausgearbeitet werden, um in einen vernünftigen Wettbewerb treten zu können. Herr Herrmann, ich bin mir ziemlich sicher, dass die Zeit kommen wird, in der ein schlechtes Abitur weniger wert sein wird als ein guter Realschulabschluss. Das wird sich in dem Tempo beschleunigen, in dem die Hochschulen die Möglichkeit erhalten, sich ihre Studenten selber auszusuchen, und wir auf der anderen Seite nicht nur über einen künftigen Akademikermangel, sondern auch über einen Facharbeitermangel klagen. Die Wirtschaft macht schon jetzt darauf aufmerksam, dass sie keine Facharbeiter, keine Fachingenieure, kein wirklich gut ausgebildetes handwerkliches Personal hat. Deswegen sage ich immer, wir brauchen Eliten auf all diesen Ebenen und nicht einen singulären Elitebegriff, wo alle versuchen, sich vom jeweils höchsten Status abzuleiten, aber über die zu erwerbenden Kompetenzen keiner mehr redet. Ich stimme aber Herrn Herrmann zu; es wäre auch mir das Angenehmste, wenn die Strukturdiskussion pragmatisch geführt werden könnte. Wenn wir unbefangener damit umgingen, könnten sich die Lager schneller verständigen. Das war der Grund, weshalb ich im „Focus“ gesagt habe, dass ich diese Debatte, so wie sie derzeit geführt wird, nicht mitmache. Ich habe andere Probleme und andere Aufgaben. Vor allem muss dafür gesorgt werden, dass die Gliederung nicht hierarchisch verstanden wird. Wenn man es ernst nimmt, ist die Gliederung Ausdruck für Differenzierung und die Möglichkeit zur individuellen Förderung bestimmter Begabungsprofile oder Profile von Stärken und Lernvoraussetzungen. Dann gilt, dass der Sekundarschulbildungsgang gegenüber dem gymnasialen ein gleichwertiger Bildungsgang anderen Profils ist. Stellen wir uns das Gymnasium dagegen „oben“ vor und die Sekundarschule „unten“, dann ist der Sog des Gymnasiums natürlich groß, und zwar unabhängig davon, ob ein Kind dort optimal gefördert werden kann oder nicht. Noch kurz zur Lehrqualifikation der Professoren. An den DDRHochschulen gab es hochschulpädagogische Pflichtkurse, die ich übrigens selbst eine Zeit lang als Dozent angeboten habe. Ich denke, Sie haben Recht in Bezug auf das, was hier über die mangelnde Lehrbefähigung gerade von Professoren, die Lehrerbildner sind, gesagt wurde. Es genügt nicht, hier nur Schulerfahrung aus der eigenen Schulzeit einzubringen. Deshalb sollten die Hochschullehrkräfte immer wieder Anlass haben, in die Schule zurückzukehren und dort zu studieren, wie die Praxis funktioniert. Ich bin übrigens durchaus der Meinung, dass wir das Lehramtsstudium von Grund auf reformieren müssten, insbesondere was frühe und intensive Praxisbegegnungen und Schulkontakte betrifft. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: Es gibt auch so etwas wie eine pädagogische Begabung, ein pädagogisches Talent, das nicht jeder Mensch hat. In diesem Kontext halte ich es für wichtig, eine Studienberatung zu organisieren, die diejenigen Herrmann/Olbertz/Schleicher: PISA, PISA, PISA jungen Leute auf den Beruf aufmerksam macht, die eine solche soziale Kompetenz, ein soziales Talent aufweisen oder entwickeln können. Ich formuliere übrigens bewusst so, auch als Pädagoge. Es gibt überhaupt keine Menschen ohne Talente oder ohne spezifische Stärken. Es gibt nur unendlich viele, die an diesen Stärken vorbei gefördert werden oder deren Potenziale nicht oder viel zu spät entdeckt werden. Bildung betrifft uns alle, und wir alle haben unsere Erfahrungen und Einstellungen zum Bildungssystem. Aber was wissen wir als Eltern wirklich darüber, was und wie unsere Kinder lernen? Wie profitiert ein Lehrer im Klassenzimmer von den Erfahrungen des Lehrers im Nachbarklassenzimmer? Was weiß die Schule von dem, wie es die Nachbarschule macht und wie sie mit vielleicht ähnlichen Problemen umgeht? Und wo könnten wir heute stehen, wenn das Bildungssystem wüsste, was seine Bildungseinrichtungen wissen, seien es die Schulen, Kindergärten, Einrichtungen der Jugendhilfe und so fort, das heißt, wenn wir das Kapital in den Köpfen der Menschen, die mit Bildung befasst sind, wirksam vernetzen und optimal nutzen könnten? Davon Foto: VdS Bildungsmedien Ich bin Fürsprecher unseres gegliederten Schulsystems übrigens auch vor dem Hintergrund seiner öffentlichen Akzeptanz und Tradition. Wir können nicht alles einfach über Bord werfen, sondern unsere Verpflichtung besteht darin, dieses gewachsene Modell in Deutschland zu qualifizieren und zu entwickeln, und nicht einfach, wie im Selbstbedienungsladen, uns irgendwo anders etwas zu suchen und anschließend verwundert festzustellen, dass solche Anleihen mit unserer Kultur, unserer nationalen Identität, unserer Geschichte, unserem Selbstverständnis nicht kompatibel sind. Einfach das finnische System zu kopieren bringt die Welt unserer Schulen noch lange nicht in Ordnung. Aber wir können dort viele Elemente studieren, wir können schauen, wie diese kombinierbar sind mit unseren Strukturvorstellungen, und wir müssen uns vor allem öffnen gegenüber inneren Entwicklungen der Schule. STATEMENT Andreas Schleicher Ich bin kürzlich als Minister zur Einweihung des Neubaus einer Grundschule eingeladen worden, und da sang ein Chor. Ich saß vorne in der ersten Reihe, als ausgebildeter Musiklehrer nebenbei bemerkt, und mir fiel auf, dass der Chor nicht gut sang. Es gab diverse SchwäDie Verankerung von anschlussfähigem Wissen und die Vermittlung effektiver Lernstrategien – chen bis hin zur Atemtechnik, Artikulazwei der Ziele, die sich, so Andreas Schleicher (links im Bild neben Minister Olbertz), aus den tion, Melodik usw. Ich habe natürlich PISA-Ergebnissen für Schulen in Deutschland herauskristallisiert haben. nichts gesagt, aber dann trat die Schulleiterin auf und erklärte, natürlich sei das nicht perfekt gewesen, aber alle Kinder sängen im Chor, keiner werde ausgegrenzt. Meiner Mei- sind wir häufig noch weit entfernt. Oft ist der Kindergarten nung nach kann man dann nur bilanzieren, dass kein Kind in oder die Schule für Eltern eine „Blackbox“, wir reden von aktiden Genuss eines gelungenen Chorsatzes kommt. So kann man ver Mitarbeit der Eltern, schaffen dafür aber wenig Raum. Oft Chancengleichheit auch organisieren, indem alle gleicherma- stehen die Lehrer als Einzelkämpfer vor den Problemen im Klasßen keine Chance bekommen – die Musikalischen ebenso senzimmer. Oft bekommen die Schulen wenig Unterstützung wenig wie diejenigen Kinder, deren Stärken auf anderen Gebie- und wenig Informationen über die Wirkungen ihres Handelns. ten liegen (und die in dieser Zeit dort ja ebenfalls nicht geför- Und im Dunkeln sehen alle Schüler und Schulen gleich aus. Wir dert werden). Nicht einmal das Publikum hatte etwas von kennen ihre Stärken und Schwächen nicht und können sie deseinem solchen pädagogisch wie bildungspolitisch verfehlten halb oft auch nicht wirksam unterstützen. Ansatz. Die internationale PISA-Studie war ein Versuch, aus der interDie Einzigen, denen warm ums Herz geworden ist, waren die nationalen Perspektive heraus ein wenig Licht in dieses Dunkel Lehrerinnen und Lehrer, die sich dieses Konzept ausgedacht zu bringen, die Stärken und Schwächen der Bildungssysteme im und ihren Irrtum nicht bemerkt hatten. Ich selbst habe mich Lichte der Leistungsfähigkeit anderer Bildungssysteme zu ananicht getraut, das zu sagen, weil ich den feierlichen Anlass lysieren. PISA hat uns gezeigt, wo wir stehen – in Bezug auf nicht stören wollte. Qualität, Chancengerechtigkeit und Effizienz von Bildungsleis- 135 tungen. Noch wichtiger aber ist: PISA hat uns gezeigt, dass wir beides erreichen können, dass die Herausforderung, sowohl ein hohes Niveau von Bildungsleistungen als auch eine ausgewogene Verteilung von Bildungschancen zu erreichen, durchaus bewältigt werden kann. Finnland, Japan oder Kanada sind nur einige Beispiele für Staaten, die eine hohe Qualität von Bildungsleistungen und eine ausgewogene Verteilung von Bildungschancen erreicht haben. Sie können heute die Erträge von früheren Bildungsinvestitionen und -reformen einfahren. Ihre Schulen arbeiten ergebnisorientiert und haben ein deutlich größeres Maß an Selbstständigkeit und Verantwortung. Sie sind in der Lage, Schüler zu besserem Lernen, Lehrer zu besserem Unterrichten und Schulen zu mehr Effizienz anzuregen. Und sie bieten außerdem die richtige Kombination aus qualifiziertem Lehrpersonal, individuellen Lernangeboten sowie innovativer Ausstattung. Ehemals ideologisch festgefügte Vorstellungen lösen sich durch internationale Vergleiche auf. Bildungspolitiker und Bildungspraktiker stehen heute überall in der Welt unter dem Erwartungsdruck, sich an Fakten und Ergebnissen zu orientieren und nicht an eigenen Vorstellungen. Vieles hat sich dadurch bewegt: Niemand bestreitet mehr die Bedeutung von guter frühkind- 1. Traditionell lernen deutsche Schüler im Rahmen von Lehrplänen, die Bildungsinhalte detailliert festschreiben. Maßstab für Erfolg ist dann die Akkumulation von Fachwissen, nicht die Verankerung von anschlussfähigem Wissen und die Vermittlung effektiver Lernstrategien, und genau das spiegelt sich in den PISA-Ergebnissen wider. Je mehr Menschen jedoch heute Eigenverantwortung für ihre Karriereplanung sowie wirtschaftliche und soziale Absicherung übernehmen müssen, umso mehr müssen wir von Schulen erwarten, dass sie nicht nur notwendiges Fachwissen vermitteln, sondern die Fähigkeit zur Veränderung stärken; jungen Menschen das Rüstzeug mit auf den Weg geben, ihr Wissen aktiv zu nutzen, zu erweitern und dabei kognitive, moralische und soziale Dimensionen des Handelns in ihrer eigenen Bedeutung zu erkennen und zu nutzen. Dazu gehört, sich in einer sich beständig verändernden Welt immer wieder neu zu positionieren, eigenständig und verantwortungsbewusst zu handeln, gute und tragfähige Beziehungen aufzubauen, mit Konflikten umzugehen und Probleme gemeinsam zu lösen. Die Zukunft braucht daher Schulen, die sich weniger an fachbezogenen Lehrplänen und dafür mehr an strategischen Bildungszielen orientieren, und Lehrer, die diese Ziele verbindlich, kreativ und individuell in Lernmethoden für den einzelnen Schüler umsetzen können; d. h. Lernpfade indi- „Klar ist, dass angesichts der wachsenden Komplexität moderner Bildungssysteme ein einzelner Bildungspolitiker nicht die Probleme von zigtausenden Schülern und Lehrern lösen kann. Wohl aber können zigtausende Schüler und Lehrer die Probleme des Bildungssystems lösen, wenn sie vernetzt an der Lösung der Probleme arbeiten.“ licher Bildung und die Notwendigkeit, diese auch zum integralen Bestandteil des Bildungssystems zu machen. Ja, bei einigen ist inzwischen auch angekommen, dass Studiengebühren in der Hochschule vielleicht sinnvoller und sozial verträglicher sind als Studiengebühren im Kindergarten, wo wir die Grundlagen für Chancengerechtigkeit legen, aber wo der durch private Gebühren finanzierte Anteil der Ausgaben in Deutschland weiterhin doppelt so hoch ist wie im OECD-Mittel. Auch die Notwendigkeit, klare Bildungsziele zu schaffen, Bildungsziele, die Schülern helfen, besser zu lernen, Lehrern helfen, besser zu unterrichten, und Schulen helfen, effizienter zu arbeiten, das heißt, die Notwendigkeit, verbindliche Maßstäbe für den Erfolg von Bildung zu schaffen, auch das ist heute weit gehend Konsens. Nicht zu vergessen die Förderung von Ganztagsschulen – in den meisten erfolgreichen OECD-Staaten schon seit Jahrzehnten fester Bestandteil des Bildungssystems –, wo jetzt Fortschritte erzielt werden. Dennoch bleibt viel zu tun, es trennt uns noch vieles von den heute erfolgreichen Bildungssystemen. Lassen Sie mich nur einige Punkte hervorheben: 136 vidualisieren und Schüler dabei unterstützen, durch eigenständiges Denken und Handeln selbstständig und kooperativ zu lernen. Nur wer klare Erwartungen hat, diese in Form von strategischen Bildungsziele formulieren und den Entscheidungsträgern und Handelnden – d. h. Schulen, Lehrern, Schülern und Eltern – auch vermitteln kann, der wird Leistungsbereitschaft erfolgreich einfordern. 2. Deutschlands Schulen nutzen Klassenarbeiten und Zensuren vorwiegend zur Kontrolle, etwa um Leistungen zu zertifizieren und den Zugang zu weiterer Bildung zu rationieren. Die Zukunft aber braucht moderne Evaluation und motivierende Leistungsrückmeldungen, die Vertrauen in Lernergebnisse schaffen und mit denen Lernpfade entwickelt, individualisiert und begleitet werden können. 3. Das deutsche Bildungssystem setzt auf frühe Auslese im Rahmen des dreigliedrigen Schulsystems und, damit verbunden, auf einförmigen Unterricht in leistungshomogenen Lerngruppen. Schüler mit besonderen Herausforderungen, wie z. B. Schüler mit Migrationshintergrund, werden dabei oft auf Schul- Herrmann/Olbertz/Schleicher: PISA, PISA, PISA formen mit niedrigeren Anforderungen abgeschoben, wo der Staat Jugendliche ohne Perspektive auf die Arbeitslosigkeit vorbereitet. Erfolgreiche Bildungssysteme dagegen gründen auf einem konstruktiven und individuellen Umgang mit Leistungsunterschieden und Begabungen mit dem Ziel, Schülern durch individuelle Förderung Perspektiven für die Gestaltung ihrer eigenen Zukunft zu eröffnen. Schließlich ist die Verschiedenheit der Interessen und Fähigkeiten junger Menschen nicht das Problem, sondern das Potenzial der Wissensgesellschaft. 4. Schließlich sind Lehrer und Schulen in Deutschland oft nur die letzte ausführende Instanz eines komplexen Verwaltungsapparates. In Zukunft wird sich die Relevanz und Effizienz dieses Verwaltungsapparates, ob in Kommunen, Ländern oder Bund, aber daran messen müssen, wie gut diese die Schulen bei dem Erreichen vereinbarter Bildungsziele unterstützen und welchen zusätzlichen Wert sie selber schöpfen, d. h. über das hinaus leisten, was die Schule als selbstständige und pädagogisch verantwortliche Einheit leisten kann. Die viel diskutierte Frage, wie Verantwortung zwischen Bund und Ländern aufzuteilen ist, ist dabei irrelevant. Entscheidend wird sein, ein Arbeitsumfeld für Lehrer zu schaffen, dessen Attraktivität und Ansehen nicht allein auf dem Beamtenstatus beruht, sondern auf Kreativität, Innovation und Verantwortung, ein Arbeitsumfeld, das sich durch mehr Differenzierung im Aufgabenbereich, bessere Karriereaussichten, eine Stärkung der Verbindungen zu anderen Berufsfeldern, mehr Verantwortung für Lernergebnisse und bessere Unterstützungssysteme auszeichnet. Klar ist, dass angesichts der wachsenden Komplexität moderner Bildungssysteme ein einzelner Bildungspolitiker nicht die Probleme von zigtausenden Schülern und Lehrern lösen kann. Wohl aber können zigtausende Schüler und Lehrer die Probleme des Bildungssystems lösen, wenn sie vernetzt an der Lösung der Probleme arbeiten. Ist eine zukunftsorientierte Bildung angesichts der enttäuschenden PISA Ergebnisse eine unrealistische Vision? Nein, die Erfahrungen vieler Staaten – aber auch vieler erfolgreicher deutscher Schulen – zeigen, dass eine hohe Qualität von Bildungsleistungen sowie eine ausgewogene Verteilung von Bildungschancen durchaus in überschaubaren Zeiträumen erreicht werden können. Notwendig dazu aber ist, über die Optimierung des bestehenden Bildungssystems hinaus strategische Perspektiven für Bildungsreformen zu schaffen und über die Transformation der dem eigenen Bildungssystem zugrunde liegenden Schul- und Systemfaktoren nachzudenken. Davon bleibt der bildungspolitische Diskurs in Deutschland trotz vieler Reformen weit entfernt. Natürlich hat gute Bildung ihren Preis; aber die für Bildung eingesetzten Mittel sind entscheidende Investitionen in die Zukunft, die in der deutschen Haushaltsrechnung nicht weiterhin auf der Konsumseite, sondern als Investitionen verbucht werden sollten. 137 Die Integration der in Deutschland lebenden Migrantenfamilien voranzutreiben ist eine der wichtigsten Aufgaben für Schule und Erwachsenenbildung. Mit obligatorischen Deutschkursen und mit der Überprüfung von Deutschkenntnissen sowie deren Förderung bei den Kindern aus Migrantenfamilien wird jetzt bundesweit versucht, die Bildungschancen zu verbessern und damit Integration zu erleichtern. Ihre Gedanken zum Thema „DURCH SPRACHFÖRDERUNG ZUR BESSEREN INTEGRATION VON MIGRANTENFAMILIEN – WAS KÖNNEN SCHULE UND ERWACHSENENBILDUNG WIRKLICH LEISTEN?“ erörterten BARBARA JOHN, Honorarprofessorin am Institut für Europäische Ethnologie der HumboldtUniversität zu Berlin, Professor Dr. EWALD KIEL, Inhaber des Lehrstuhls für Schulpädagogik an der Universität München, Professor Dr. RITA SÜSSMUTH, Präsidentin des Deutschen Volkshochschulverbandes, sowie Dr. MICHAEL GRIESBECK, Abteilungsleiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Moderation: Yvonne Globert Eine Veranstaltung der Barbara John Barbara John, geb. 1938. Lehrerin und Diplompolitologin; mehrjährige Tätigkeit in der Lehrerausbildung im Fach „Deutsch als Zweitsprache“ an der FU Berlin. Von 1981 bis 2003 Ausländerbeauftragte des Berliner Senats. Seit 2003 als Koordinatorin für Sprachförderung beim Berliner Senat zuständig. Honorarprofessorin am Institut für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ewald Kiel Ewald Kiel, Professor Dr., geb. 1959. Studium Deutsch, Geschichte und Pädagogik in Göttingen und von „Applied Linguistics“ in Los Angeles. 1990 Promotion. Zweites Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien. 1997 Habilitation. Berufung an die PH Heidelberg für das Fach Schulpädagogik nach dreijähriger Lehrtätigkeit als Gymnasiallehrer. Seit 2004 Lehrstuhl für Schulpädagogik an der Ludwig-Maximilians-Universität München; dort auch Leiter der Abteilung für Schul- und Unterrichtsforschung. STATEMENT Barbara John Bei uns hat sich bezogen auf unser Thema bei den schulischen Leistungen massiv etwas verändert, aber es hat sich nicht so viel verändert, wie es wünschenswert gewesen wäre. Wir haben in Deutschland und in vielen anderen Ländern Europas eine Einwanderungspolitik betrieben, bei der die Voraussetzungen für Aufstieg durch Bildung und durch Arbeit sehr schlecht waren. Nun ernten wir, was wir gesät haben. Wenn man Migranten ins Land holt, die gut ausgebildet sind, so wie das die klassischen Einwandererländer machen, dann geht der Aufstieg durch Bil- 138 dung natürlich sehr viel schneller. Diese Einwanderung aber war in Deutschland über lange Zeit nicht gewollt. Wir haben eine andere Einwanderungspolitik gemacht und müssen nun mit dem fertig werden, womit wir begonnen haben. Aber auch das lässt sich hinbiegen, nur müssten wir sehr viel mehr ändern als bisher. Ich würde Integration ganz einfach und schlicht definieren und sagen: Integration in einer westlichen Demokratie mit einem guten Bildungssystem und einem ausgebauten Arbeitsmarkt ist Aufstieg durch Bildung und Arbeit. Beides ist uns nicht gelungen. Der Aufstieg durch Arbeit nicht, weil wir einen spezifisch eingeschränkten Arbeitsmarkt haben, gesetzlich rigide eingeschränkt, und zusätzlich wirtschaftliche Probleme; es fehlt uns an einem Niedriglohnsektor bei Dienstleis- John/Kiel/Süßmuth/Griesbeck: Sprachförderung und Integration Blindtext Rita Süßmuth Rita Süßmuth, Professor Dr., Studium der Romanistik und Geschichte. Promotion 1964. 1969 Professorin für International Vergleichende Erziehungswissenschaft in Bochum. Seit 1971 Lehrstuhl in Dortmund, 1982-85 Direktorin des Forschungsinstituts „Frau und Gesellschaft“. 2003 Honorarprofessorin an der Universität Göttingen. 1986-2002 Vorsitzende der Frauen-Union; 1987-98 Mitglied des CDU-Präsidiums; 1985-88 Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit; erste Frauenministerin auf Bundesebene. 1988-98 Bundestagspräsidentin; Präsidentin des Deutschen Volkshochschulverbandes seit 1988, Vorsitzende mehrerer Kommissionen zu Migration und Integration. Michael Griesbeck Michael Griesbeck, Dr., 46 Jahre alt, Studium der Rechtswissenschaft und Politischen Wissenschaft in Regensburg und Bonn. Seit 1988 im Dienst des Bundesministeriums des Innern tätig. 1996 Wechsel in das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge. 1999-2002 Abteilungsleiter Zentrale Verwaltung, Internationale Aufgaben. Seit 2002 Leiter der Abteilung Integration im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). 2003-04 zugleich Leiter der Abteilung Informationszentrum Asyl und Migration, Internationale Aufgaben, Flüchtlingsschutz. tungen. Die Chancen in Deutschland, über Bildung aufzusteigen, sind gering, wie wir nun alle wissen. Wir haben ein System, von dem wir angenommen haben, dass es besonders die sozial Schwachen fördert, aber das Gegenteil ist der Fall, weil wir nie genau hingeschaut haben. Uns hat bislang der Output von Lernprozessen nicht interessiert. Das Patentrezept für vermeintlich gute Pädagogik lautete bei uns „kleine Klassen“. So wurde Bildung teuer, aber nicht gleichzeitig gut. Nun beginnen wir endlich darüber nachzudenken, dass andere Veränderungen und Verbesserungen bedeutsamer sind, gerade für Kinder mit Migrationshintergrund. Denn diese Kinder lernen nur in der Schule. Die meisten, die hier sitzen, also Menschen, die aus Elternhäusern mit Bildungskapital kommen, haben trotz der Schule gelernt. Aber Kinder mit Migrationshintergrund können oft nur in der Schule lernen, insbesondere die deutsche Sprache, orientierendes Welt- und Sachwissen. Da wir diesen simplen Umstand nicht beachtet haben, jahrzehntelang, stehen wir nun vor den deprimierenden Resultaten. Aber es ist nie zu spät. Natürlich wünschen sich alle Eltern, dass ihre Kinder mehrsprachig aufgewachsen könnten, aber der Wunsch scheitert oft an den Realitäten. Selbstverständlich ist eine systematische zweisprachige Erziehung vom Kindergarten bis zum Abitur, wie sie manche Wissenschaftler fordern, ganz ideal, nur sie funktioniert mit Sicherheit nicht in Familien mit einem geringen Bil- 139 dungskapital. Das hat Gründe: In diesen Familien wird von Anfang an mit den Kindern viel zu wenig gesprochen, eben auch zu wenig in der Erst- oder Muttersprache. Wenn ein einjähriges oder zweijähriges Kind Deutsch oder Türkisch oder Kroatisch in der Familie hört und spricht, dann geht es mehr um Sprachlichkeit überhaupt als um die spezifische Sprache. Kinder lernen also, mit Sprache zu interagieren. Das ist entscheidend. Aber wenn der Input, den dieses Kind bekommt, verarmt ist – wir kennen das ja alle aus der deutschen Diskussion in den 1970er-Jahren, der so genannte restringierte Code, der eingeschränkte Code –, wenn das Kind aus dem Input gar nicht genug sprachliche Regeln extrahieren kann, und das ist die Normalsituation, dann lernt es nicht nur seine Muttersprache ungenügend, dann lernt es auch weitere Sprachen schlecht, weil es zu wenig Andockmöglichkeiten aufgebaut hat. Das alles sind elementare Kenntnisse aus der Hirnforschung, die bisher nicht beachtet werden. Deswegen kann man nur empfehlen, so viel Deutsch wie möglich, und zwar so früh wie möglich. Wenn es geht und wenn Kapazitäten vorhanden sind, kann selbstverständlich auch noch eine zweite und dritte Sprache dazukommen. Aber eins gilt doch auch: Wir sind als Aufnahmegesellschaft nicht in der Lage, die Herkunftssprache zu pflegen und weiterzuentwickeln. Es muss den Einwanderern vollkommen klar sein, dass hier ihre eigene Sprache verarmt. Die Muttersprache im Heimatland entwickelt sich, und wenn die Migranten nicht selber die Sprache pflegen, wenn sie nicht Sonntagsschulen einrichten, wo sie die Kinder unterrichten, dann wird die Muttersprache sich im Aufnahmeland nicht behaupten können. Das Entscheidende ist heute, dass wir mit der deutschen Sprache in einer kindgerechten Form so früh wie möglich beginnen. Das haben wir erst vor zwei Jahren richtig erkannt und systematisch durchgeführt: frühe Sprachförderung. Außerdem müssen wir im System die Mittel umschaufeln. Wir geben das meiste Geld da aus, wo die Heranwachsenden lernen, die es am die selbst zu wenig Bildung bekommen konnten. Nun ändert es sich langsam. Es ist sicher ein enormer Fortschritt, dass wir nun verbindliche und flächendeckende Integrationskurse haben, aber wir sehen natürlich jetzt schon die Begrenztheit dieses Mittels. Das sprachliche Ziel, die angestrebte Stufe B 1 des europäischen Referenzrahmens, wird bei Weitem nicht von allen erreicht. Außerdem kann das nur ein Anfang sein. Eine einigermaßen selbstständige Verwendung der deutschen Sprache ist damit nicht verbunden. Viele Teilnehmer erscheinen aber gar nicht zur Prüfung. Es wäre außerdem besser und erfolgreicher, wenn das sprachliche Lernen mit beruflichem Lernen, mit beruflicher Qualifikation verbunden werden könnte. In diese Richtung muss unser Denken gehen, auch in der Bewertungskommission. Man lernt immer an Inhalten, und man lernt am besten die Inhalte, die einen interessieren. Die Niederlande sind ja inzwischen schon viele Schritte weiter gegangen. Dort lässt man die Leute lernen. Die Kurse bezahlt ihnen zunächst keiner. Irgendwann müssen sie dann kommen und ihre niederländischen Sprachkenntnisse nachweisen. Wenn sie das können, bekommen sie einen Ersatz für die Mittel, die sie dafür ausgegeben haben. Auch wir sollten stärker versuchen, mit dem sprachlichen Lernen eine berufliche Orientierung zu verbinden. Jemand, der arbeitslos ist – und 40 Prozent der Migranten, in Berlin fast 50 Prozent der Türken haben keine Arbeit –, kann sich nicht integrieren. Er hat keine sozialen Kontakte, er hat keine beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten, es bleibt ihm nur der Rückzug in sein eigenes Milieu. Insofern sind unsere Maßnahmen ein guter Einstieg, aber sie müssen weiterentwickelt werden, damit wir größere Erfolge haben. Die in dieser Runde angesprochene Frage, wie wir die Kräfte bündeln können, finde ich dagegen unergiebig. Daraus kann man nicht viel Honig saugen. Es würde schon genügen, wenn „Das Entscheidende ist heute, dass wir mit der deutschen Sprache in einer kindgerechten Form so früh wie möglich beginnen. Das haben wir erst vor zwei Jahren richtig erkannt. Außerdem müssen wir im System die Mittel umschaufeln: wir geben das meiste Geld da aus, wo die Heranwachsenden lernen, die es am leichtesten haben, nämlich auf der Sekundarstufe II. Wir geben das wenigste Geld im vorschulischen Bereich aus.“ leichtesten haben, nämlich in der Sekundarstufe II. Wir geben das wenigste Geld im vorschulischen Bereich aus. Hinzu kommt, dass wir noch immer keine akademische Ausbildung für Erzieherinnen haben wie viele andere Länder. Bei uns konnten bisher Hauptschülerinnen Erzieherin werden. Die wichtigsten Grundlagen für das Lernen später haben also Menschen gelegt, 140 diejenigen, die die Einwanderungsgesetze machen, und das ist nun eindeutig die Kompetenz des Bundes, auch dafür sorgen würden, dass elementare Grundlagen der Integration erfüllt werden, nämlich dass die Einwanderer Arbeit bekommen. Aber das interessiert kaum. Der Bund lässt einwandern, und die Integration müssen dann die Kommunen und Länder mit ihren Mit- John/Kiel/Süßmuth/Griesbeck: Sprachförderung und Integration gend ist. Es stimmt einfach nicht, dass Kinder nur dann eine zweite Sprache lernen können, wenn sie ihre Muttersprache beherrschen. Das wird jeden Tag durch bestimmte Gruppen widerlegt. Wir haben z. B. eine erfolgreiche Gruppe aus der Türkei, die Aramäer, das sind christliche Türken, die in der Schule Foto: VdS Bildungsmedien teln gestalten. Je größer ein Ballungsgebiet ist, je höher die Zahl der Migranten und je geringer das Bildungspotenzial ist, das sie mitbringen, desto mehr Geld muss die Kommune dafür aufwenden. Hier gibt es leider ein großes Ungleichgewicht. Der Bund sollte dafür sorgen, dass der Arbeitsmarkt stärker für niedrig Qualifizierte offen ist, sodass wie am Anfang der Zuwanderung in den 1960er- und 1970er-Jahren jeder Migrant die Chance hat zu arbeiten und dass es auch eine wirtschaftliche Notwendigkeit gibt, den Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit zu verdienen. Die gibt es ja in Deutschland gar nicht, anders als in den klassischen Einwanderungsländern. Vernetzung und Bündelung haben wir fast überall, in fast allen Projekten auf der kommunalen Ebene, wenn etwa die Kita zusammenarbeitet mit der Kirche und mit dem Elternverein usw., da könnte man hunderte von Projekten nennen. All das ist gut und richtig, bloß ist es nicht das Entscheidende, um Integration durch Bildung und auf dem Arbeitsmarkt voranzubringen. Aus meiner Sicht muss die Schule nicht nur Die zentrale Bedeutung der Schule als Lernort für viele der Kinder mit Migrationshinterfür die Kinder zuständig sein, sondern auch grund unterstrich die langjährige Berliner Ausländerbeauftragte Barbara John (links im Bild für Eltern. In Einwanderungsländern gibt es neben Dr. Michael Griesbeck und Professor Ewald Kiel). die so genannten Magnetschulen, wo eben nicht nur die Kinder hingehen, sondern auch die Mütter. Da gibt es Beratung und berufliche Fortbildung. Das heißt, wir brauchen Einrichtungen, wo nie Aramäisch gelernt haben. Das hat die Schule nicht weitersehr viele gleichzeitig beratend und lernend bedient werden entwickelt, und doch ist gerade diese Gruppe besonders gut an können. Das scheitert in Deutschland an der Zuständigkeit der den Gymnasien vertreten, weil Sprachlichkeit in aramäischen Ämter. Schule und Jugend sind ja bereits vollkommen getrennte Familien und in dieser Religion, wie oft auch bei den Juden, eine Behörden, die sich scheuen, miteinander zu arbeiten. Aber wenn ganz große Rolle spielt, z. B. durch frühe Begegnung mit der sie nicht zusammenarbeiten, dann werden wir gerade in den Schriftsprache. Schauen Sie sich einmal das Leben eines drei-, Ballungsgebieten die Menschen nicht dorthin bekommen. Es vierjährigen Kindes bei uns in einer türkischen Familie an: wenn gibt durchaus Beispiele, wo das wunderbar funktioniert, wo der Fernseher dort nicht mit einem türkischen Programm läuft, Eltern in die Schule kommen, um selbst zu lernen und diese dann ist er nicht ausgeschaltet, dann ist er kaputt. Der FernseSchulen beruflich qualifiziert wieder zu verlassen. Das alles ist her läuft eben immer. Und wenn schulpflichtige Kinder am hier im Entstehen, aber es sind ganz kleine Pflänzchen, die nur Nachmittag die Schule verlassen, wo sie drei, vier Stunden keimen. Gerade dort, wo die Kinder heute ohne Deutschkennt- etwas Deutsch gelernt haben, dann treten sie wieder in dieses nisse in die Schule kommen, weil sie auf ungesteuertem Wege eingeschränkte Sprachmilieu ein. Wir wissen inzwischen aus der gar nicht mehr Deutsch lernen können, weil keine deutschen Forschung, dass der Fernseher kein idealer Sprachlehrer ist, weil Kinder mehr als Spielpartner da sind, dort müssen die Schulen Bild und Akustik sehr gedrängt sind und das Kind keine Regeln am besten sein, dort müssen Gemeindezentren entstehen und daraus abstrahieren kann. Das bedeutet, wir müssen jede Chanausgebaut werden, da müssen sich diese Zuständigkeitslähmun- ce nutzen, dem Kind in seiner aufnahmefähigen Zeit so viel gen, die wir haben, endlich auflösen. Deutsch wie möglich beizubringen, und das geht nur in der Schule, wo denn sonst? Im Milieu, zu Hause, auf der Straße sind Es gibt in Berlin als einzigem Bundesland 18 staatliche Europa- keine deutschsprachigen Kinder mehr. Das ist die Realität in schulen, wo vom Kindergarten bis zum Abitur zweisprachig unseren städtischen Zentren. Das ist genauso in Sydney, in New gelernt werden kann. Eine ganz ideale Einrichtung, die teurer ist York, in Paris und auch in Amsterdam. Wenn wir diese Chance als eine normale Schule, die aber ganz wichtig ist. Dennoch ist nicht wahrnehmen, dann können diese Kinder die Sprache nicht es nicht möglich, das für alle Kinder zu machen. Nicht nur aus lernen. finanziellen Gründen, sondern weil die Kinder, die in diese Schule gehen, auch zu Hause zweisprachig gefördert werden und Gute Vermittlung der deutschen Sprache müssen wir mit aller trotzdem viele die Schule verlassen, weil es für sie zu anstren- Konsequenz durchführen, dafür brauchen wir gut ausgebildete 141 Vermittler, für die es allerdings im Kindergartenbereich noch gar keine Ausbildung gibt. Da müssen viele Dinge logistisch nachgeholt werden. Wir müssen auch wegkommen von dieser irrigen Ansicht, dass das Kind überhaupt nur Deutsch lernen kann, wenn es vorher die Muttersprache gelernt hat. Das hat mit der Wertschätzung weiterer Sprachen oder der Muttersprache gar nichts zu tun. Selbstverständlich sollen und können diese Kinder auch ihre Muttersprache lernen. Wunderbar, wenn das so ist, aber sie müssen so viel Deutsch wie wie nötig lernen und so viel Muttersprache. Ebenso wie sie von der Muttersprache Gelerntes auf die Zweitsprache übertragen können, so können Sie auch sprachliches Vorwissen von der Zweitsprache auf die Muttersprache übertragen. Auch das ist linguistisch gesichert. STATEMENT Ewald Kiel Integration – die alltägliche Unreflektiertheit eines Begriffs Wenn im Zusammenhang der Entscheidung von Eltern, Lehrern und Schülern an einer Schule mit hohem Ausländeranteil, ausschließlich Deutsch zu sprechen, von einer „brutalen“ Integration gesprochen wird, handelt es sich um einen unreflektierten Umgang mit einem alltäglichen Begriff – dem Begriff der „Integration“. Es wird übersehen, dass die Frage, wie Ausländer sich in der Bundesrepublik verhalten und ihr Leben führen, einerseits abhängig ist von ihren Entscheidungen, dies auf eine bestimmte Art und Weise zu tun, und andererseits von den Möglichkeiten, welche die Gesellschaft ihnen bietet, mit solchen Entscheidungen umzugehen. Systematisiert man diese Entscheidungen, ergibt sich nach Berry folgendes Bild: Aufrechterhaltung der kulturellen Herkunftsidentität? ja! Beziehungen zur Gastkultur? ja! Integration Beziehungen zur Gastkultur? nein! Separation Sprache ist in diesem Zusammenhang sicherlich von einer herausragenden Bedeutung. Es darf aber nicht übersehen werden, dass einfache monokausale Gleichungen wie: Sprachförderung führe unweigerlich zu besserer Integration oder Assimilation, unsinnig sind. Die Akkulturationstheorie hat empirisch gut herausgearbeitet, dass Sprachförderung Beziehungen zur Gastkultur fördert und umgekehrt Beziehungen zur Gastkultur in Arbeitsverhältnissen, Sportvereinen etc. natürlich ebenso die Sprachkompetenz fördern. Es handelt sich um einen interdependenten Zusammenhang. Schule ist auf Integrationsförderung von Migranten nur unzureichend vorbereitet. Lehrerinnen und Lehrer erwerben in ihrer Ausbildung kaum interkulturelle Kompetenzen. Problematisch ist bisweilen eine kompensatorische, am Defizit orientierte Pädagogik, welche Kultur und Sprache von Migranten nur unzureichend würdigt. Andererseits sind Migrantenkinder und ihre Eltern nicht auf die Besonderheiten des deutschen Schulsystems vorbereitet – z. B. nicht auf die partizipativen Ansprüche, die etwa an Eltern gerichtet werden. Das eine erfordert Ausbildungsveränderungen, das andere erhöhte Beratungsangebote und so genannte „niederschwellige“ Angebote an Eltern, mit der Aufrechterhaltung Schule in Kontakt zu treten. der kulturellen Herkunftsidentität? nein! Schaut man auf die Bevölkerungsstatistik, werden die Defizite des bundesdeutschen Systems sichtbar. Bei einem Ausländeranteil Assimilation von knapp 9 Prozent gehen nur ca. 4 Prozent auf das Gymnasium, aber knapp 19 Prozent aller Ausländerkinder sind Hauptschüler und ca. 16 Prozent sind auf der Marginalisierung Sonderschule. Der Handlungsbedarf ist offensichtlich. Migranten können sich entscheiden, Beziehungen zu ihrer Gastkultur aufzunehmen und gleichzeitig ihre Herkunftsidentität aufrechtzuerhalten. Sie bemühen sich mit anderen Worten um Bikulturalismus. Dann liegt „Integration“ vor. Lehnen sie ihre Herkunftskultur ab, um in der Gastkultur aufzugehen, spricht Berry von „Assimilation“. Werden Beziehungen zur Gastkultur eher abgelehnt und wird versucht, die Herkunftskultur 142 im Gastland zu leben, kommt es zur „Separation“. Diese geht bei größeren Einwanderergruppen häufig einher mit Ghettobildung – man denke etwa an die verschiedenen Chinatowns in amerikanischen Großstädten. Kommt es – aus welchen Gründen auch immer – zur Ablehnung von Herkunfts- und Gastkultur, erfolgt meist eine Marginalisierung. Integration und Assimilation erfordern gute Kompetenz in der Sprache der Gastkultur bzw. auch in der Herkunftskultur. Hingegen werden Sprachförderungsprogramme bei denjenigen, deren Entscheidung dahin geht, keine Beziehung zur Gastkultur aufzunehmen und lieber – auch im fremden Land – im eigenen kulturellen Kontext zu leben, auf wenig Interesse stoßen. STATEMENT Rita Süßmuth Wir befinden uns in einer Situation, in der das Thema Integration intensiv und kontrovers diskutiert wird. Für diese aktuelle Debatte gibt es positive und negative Gründe, die mit der PISA- John/Kiel/Süßmuth/Griesbeck: Sprachförderung und Integration Foto: VdS Bildungsmedien Studie begonnen haben Die Debatte hat sich immens verschärft zialen Brennpunkten an Lernfortschritten entwickeln, wenn sie aufgrund der Auseinandersetzung über den Einfluss muslimi- zugleich über Musik, Rhythmik, Theaterspielen und andere kulscher Migranten in der Bundesrepublik. Als negativ ist die weit turelle Aktivitäten erfahren, dass sie auch etwas können. Von gehende Gleichsetzung von Islam mit Fundamentalismus zu daher haben wir in den letzten zwei Jahren vielleicht mehr bezeichnen. Positiv ist zu bewerten, dass wir uns endlich um gelernt als in den vergangenen zwanzig Jahren. Ich möchte hier Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Migrationshinter- jedoch besonders betonen, dass das, was ich zum Teil an pergrund kümmern, die seit Langem bei uns leben, und mehr in sönlicher Initiative von jüngeren und älteren Lehrkräften erleErfahrung bringen, mit wem wir in unseren Städten zusammenleben. Denn wir haben mehr Vorurteile als Kenntnisse. Wir werden zurzeit konfrontiert mit den Folgen einer jahrelangen Nichtintegrationspolitik, denn das, was in Deutschland geleistet worden ist, verdanken wir weit gehend den Initiatoren der Zivilgesellschaft mit ihren Integrationshilfen im kirchlichen, im Vereins- sowie im Nachbarschaftsbereich. Eigentlich ist beeindruckend, was bei jahrelanger Vernachlässigung von Migranten nach dem Grundsatz: „Die gehen ja doch alle wieder nach Hause“ dennoch geleistet worden ist. Hier auf dem Podium ist sicherlich, wenn ich an Barbara John denke, jemand, der diese Aufgabe lange vor einem Zuwanderungs- und Integrationsgesetz in einer Weise betrieben hat, dass auch Migranten und Migrantinnen, die bei „Über den Sozialkontakt wächst auch das Interesse, sich sprachlich zu artikulieren“ – uns leben, Vertrauen fassten, dass sie hier Rita Süßmuth (im Bild rechts neben Moderatorin Yvonne Globert von der „Frankfurter ein Stück Zugehörigkeit entwickeln konnten. Rundschau“) konnte auf Erfolg versprechende Beispiele verweisen. An die Schulen wird die Anforderung gestellt, das aufzufangen, was die Eltern nicht leisten können. Doch dies stellt sehr häufig eine Überforderung der be, in der Öffentlichkeit überhaupt nicht vorkommt. In unseren Schulen dar, wenn Sie an den teilweise sehr hohen Anteil von Schulen tut sich weit mehr, als wir draußen wahrnehmen. Kindern mit Migrationshintergrund in einer Schulklasse den- Wenn dem wenigstens durch Förderung entsprochen würde, ken. Wenn Sie in einer Klasse 15 Nationen haben, zwischen 50 wenn zum Beispiel für solche Veranstaltungen wie die „didacta“ und 90 Prozent Kinder mit Migrationshintergrund, dann brau- eine Freistellung erfolgte, würden wir auch motiviertere Lehrchen Sie sehr viele Kenntnisse über individualisierendes Lernen. kräfte zurückbekommen. Es gibt kaum Schulen und Hochschulen, die das vermitteln können. In einem Land, in dem Lehrerbildung und -fortbildung so Einen Problembereich muss ich noch einmal vertieft anfassen. wenig qualifizieren für das, was von der Profession erwartet Die Argumentation, Mittelschichtskinder reüssieren, haben wird, müssen wir zunächst einmal in diesem Bereich Wichtiges Erfolg, die anderen nicht, weil sie entweder zurückwollen oder verändern. Wenn Sie sich umschauen in den erfolgreichen Län- keine Motivation zur Anstrengung haben, ist mir zu eng dern, dann gibt es dort überall Sondermaßnahmen. Nehmen wir gefasst. Hier muss ich aus Erfahrung sagen, dass es unter den ein Land wie Kanada, wo schon die Einwanderungspolitik so genannten Bildungsfernen viele Kinder gibt, die lernen wolanders aussieht. Dort geht man gezielt an schulische Integra- len, die auch erfolgreich sein könnten, wenn sie mehr Fördetion heran. Viele Schulen unterrichten diese Schülerinnen und rung erführen. Wenn ich in der politischen Debatte höre, die Schüler zunächst acht Monate getrennt von den anderen mit Eltern müssten eben auch wollen und müssten das zu Hause sehr qualifiziert ausgebildeten Lehrkräften, und dann werden leisten, und auf der anderen Seite anschließe an das, was Frau sie integriert. Andere Länder schaffen kleine Schülergruppen John gesagt hat, dass Eltern oft gar nicht die Voraussetzungen mit individualisierenden Lernprozessen. mitbringen, ihre Kinder fördern zu können, dann ist das ein sinnloser Appell an das Elternhaus. Der Befund, der sich immer Sprache ist wichtig, aber ich vermisse in der aktuellen Diskus- wiederholt, dass in Deutschland die soziale Herkunft über den sion, wie entscheidend es ist, dass Schüler soziale Kontakte Bildungsweg eines Kindes entscheidet, muss uns doch endlich haben oder Gelegenheit erhalten, nicht nur am Vormittag auf die Frage bringen, wie wir Schule, Kindergarten und die Deutsch zu sprechen. Ich engagiere mich seit Längerem im Zusammenarbeit mit Eltern neu organisieren müssen, damit musischen Bereich. Sie glauben gar nicht, was Kinder aus so- diese Kinder eine Chance bekommen. 143 Es gibt ein erhebliches Potenzial, übrigens auch bei den Hauptschülern. Und wir haben herausgefunden, dass diejenigen, die keinen Schulabschluss haben, sich im Intelligenzquotienten oft nicht von der Normalpopulation unterscheiden. Sie sind nur durch soziale und psychosoziale Barrieren am Lernen gehindert. Bei den Barrieren ist anzusetzen! Was blockiert sie? Zunächst ist die Einstellung des Pädagogen entscheidend, z. B. sein Zutrauen, das er in die Lernfähigkeit der Kinder hat und in das, was ein Kind bereits kann, wo seine Stärken liegen. Studien haben uns deutlich gemacht, dass wir das Potenzial von 4 Prozent auf dem Gymnasium mit geringer Unterstützung dieser jungen Menschen auf 15 Prozent steigern könnten, denn viele werden auf die Hauptschule verwiesen, obwohl sie lernfähig sind, weil argumentiert wird, ohne Unterstützung von zu Hause könne es keinen Lernerfolg geben. Hier komme ich noch einmal auf das zurück, was Kinder bei sozialen Aktivitäten, im Spiel, Tanz, beim Trommeln, beim Sport erleben können. Über den Sozialkontakt wächst auch das Interesse, sich sprachlich zu artikulieren. Das ist ja keine Einbahnstraße. Natürlich geht vieles besser, wenn ich die Sprache kann, aber ich brauche beides. Deswegen ist es mir ganz wichtig zu sagen: Das Potenzial, ob bei deutschen Kindern oder Kindern mit Migrationshintergrund, ist viel höher als das, was wir bislang ausschöpfen. Wenn es heißt, mehr als 20 Prozent seien nicht ausbildungsfähig, dann müssen wir uns sagen, es liegt nicht primär an der Intelligenz der Kinder, sondern an der Art, wie in Deutschland Kinder und Jugendliche aufwachsen und gefördert wie auch gefordert werden. eine Erfolgsgeschichte, wie viele sich um diese Kurse bewerben. Wir dürfen nicht immer nur das halbleere Glas sehen. Wir befinden uns, wie gesagt, in einem Lernprozess. Wenn ich arbeitslos bleibe und trotz verschärfter Anstrengung keinen Kontakt zur Arbeitswelt habe, dann bin ich weniger motiviert, als wenn ich weitere Ziele sehe. Positiv sind beispielsweise die Projekte von Hauptschulen in Hamburg, Bremen und Bremerhaven. Da ist aus der Wirtschaft bei zunächst völliger Ablehnung von Hauptschülern eine Initiative entwickelt worden, wie denn die Schulwirklichkeit und die Perspektiven dieser jungen Menschen verändert werden können, sowohl für Deutsche als auch für Migrationskinder. Die Einstellung lautete: Ungeachtet der Noten auf dem Zeugnis, lasst die Leute zu uns in die Betriebe kommen. Inzwischen sind es weit über 100 Betriebe und alle Hauptschulen Hamburgs, die an diesem Projekt teilnehmen. Man gibt den Schülerinnen und Schülern die Chance zum Praktikum, schaut, was sie können, was sie an Stärken und Schwächen zeigen, meldet das an die Schulen zurück, damit dort gezielt weiter gefördert werden kann. Diese frühe Verbindung zur Praxis bringt erhebliche Erfolge. Im ersten Jahr war es vielleicht nur ein Anteil von 10 Prozent, der eine Lehrstelle bekam, dann waren es im zweiten und dritten Jahr 20 Prozent, nun ist die Zielgröße 50 Prozent. Ich kenne Bürgermeister von kleinen und mittleren Städten, inzwischen auch von Großstädten, die sich bewusst sind, dass die Zukunft ihres Ortes von der jungen Generation abhängt, und die aus diesem Grund die Lehrkräfte, die Jugendhilfe, die Wirtschaft, die Kirchen und Vereine zusammenbringen. Eine Stadt „Hier komme ich noch einmal auf das zurück, was Kinder bei sozialen Aktivitäten, im Spiel, Tanz, beim Trommeln, beim Sport erleben können. Über den Sozialkontakt wächst auch das Interesse, sich sprachlich zu artikulieren. Das ist ja keine Einbahnstraße. Natürlich geht vieles besser, wenn ich die Sprache kann, aber ich brauche beides. Deswegen ist es mir ganz wichtig zu sagen: Das Potenzial, ob bei deutschen Kindern oder Kindern mit Migrationshintergrund, ist viel höher als das, was wir bislang ausschöpfen.“ Natürlich ist es auch ein Problem, dass die finanziellen Ressourcen nicht ausreichen, dass bei Bildung gespart wird. Musischer Unterricht gilt in vielen Bundesländern immer noch als ein Luxus, den wir nicht brauchen. Das ist scharf zu kritisieren. Eher fallen Stunden in diesem Bereich aus als im kognitiven. Wir entscheiden mehr nach den Anforderungen des Systems als nach den Rechten und den Möglichkeiten des Kindes. Wir haben 2005 mit unserem Angebot von Sprachförderungskursen bei Erwachsenen angefangen. Und meine Erfahrungen sind ähnlich wie die der Niederländer. Es gab einen Regierungswechsel, und dann hieß es, es sei alles gescheitert. Wenn Sie nur zweieinhalb bis drei Jahre Zeit haben, dann können Sie nicht erwarten, das alles schon Erfolgsgeschichten sind. Es ist 144 wie Arnsberg hat in drei Jahren den Anteil von Hauptschülern ohne Schulabschluss um 50 Prozent gesenkt. Das sind doch ermutigende Erfolge. Wenn sich das weiter verbreitet, dann werden wir vielleicht auch begreifen, dass wir mehr in Bildung investieren und eine Umstellung vornehmen müssen. Ich möchte noch einmal zurückkommen auf den Teil der Eltern, der sich nicht aktiv beteiligt. Unter ihnen gibt es viele Analphabeten. Wir vergessen völlig, dass wir Menschen aus Regionen angeworben haben, die Entwicklungsländer sind. Im Verhältnis dazu ist eigentlich erstaunlich, was sie erreicht haben. Aber wenn ich selbst die Sprache nicht kann, entweder gar nicht oder nur drei Jahre in der Schule war, dann habe ich eine John/Kiel/Süßmuth/Griesbeck: Sprachförderung und Integration solche Distanz, eine solche Unsicherheit gegenüber Schule, dass wir für solche Fälle ganz andere Formen finden müssen. Ich nenne Ihnen wieder Beispiele: Wir haben Stadtviertel beispielsweise in Köln, wo in sozialen Brennpunkten Kita, Familienbildung, Familienberatung, Jugendhilfe eng zusammenarbeiten. Wie kommen diese Erzieherinnen denn an die Eltern heran? In aller Regel über die Kinder, indem die Kinder etwas vorführen, etwas machen, wodurch die Eltern motiviert werden zu kommen, da die Kinder traurig wären, wenn die Eltern nicht kämen. Eltern sind oft leichter für praktische Projekte zu gewinnen, sei es bei Renovierungen in der Schule zu helfen oder einen Garten anzulegen. Meine ersten Kontakte zu türkischen Frauen habe ich, als ich noch Frauenforschung betrieb, in Schrebergärten geknüpft. Ich hatte nicht die Erwartung, dass sie in die Bildungseinrichtungen kämen, sondern wir sind in die Schrebergärten gegangen, wo sie Gemüse oder Blumen pflanzten. Heute werden die internationalen Gärten in Städten preisgekrönt. Dort sind wir mit ihnen in Kontakt gekommen, haben dann gemeinsam gekocht und gegessen. Unterschätzen Sie nicht die Bedeutung dieser sozialen Kontakte. Es ist etwas anderes, ob ein Kind seine Eltern mit in den Kindergarten oder in die Schule nimmt, um gemeinsam zu kochen, oder ob man anstrebt, gemeinsam über bessere Erziehung zu sprechen. Auch hier müssen die Barrieren erst einmal fallen, und dann entwickelt sich auch der Austausch über Erziehung. STATEMENT Michael Griesbeck Wir sind mit der Integration ein großes Stück weitergekommen dadurch, dass wir mit dem Zuwanderungsgesetz ein staatliches Angebot von Integrationskursen haben. Sie werden sehr, sehr gut angenommen. Im letzten Jahr hatten wir 215 000 Berechtigte, und in über 8000 Kursen waren über 115 000 Teilnehmer. Interessant ist, dass sehr viele, mehr als die Hälfte der Teilnehmer, aus den Reihen derjenigen kamen, die schon länger hier leben. Das zeigt, dass ein großer Integrationsbedarf bei denen, die schon in Deutschland leben, vorhanden ist, aber auch ein großes Interesse. Zwei Herausforderungen verbinden sich damit. Wir müssen unser Augenmerk darauf richten, diese Angebote zu optimieren und auszubauen. Zweites großes Thema ist, dass der Fokus dabei nicht nur, wie auch Herr Kiel gesagt hat, auf die Sprache gelenkt wird, sondern auch auf das, was im Umfeld geschieht. Wir brauchen nicht nur die Integrationskurse, sondern auch eine Integrationskursumgebung. Wir benötigen niederschwellige Angebote, in denen das Zusammenkommen von Deutschen und Neuzuwanderern, aber auch von schon länger in Deutschland Lebenden gefördert wird. Sprachkompetenzerwerb sollte hineinführen in eine berufliche Integration. All das müssen wir stärker fördern, die begonnene Integration darf mit dem Abschluss des Integrationskurses nicht abbrechen, weil sonst die erworbene Sprachkompetenz und das Wissen um Deutschland wieder verloren gehen würde. Damit die Integrationskurse einen möglichst spürbaren Effekt haben, erwarten wir auch einiges von den Lehrkräften. Wir setzen voraus, dass jemand über einen Abschluss in Deutsch als Zweitsprache oder Deutsch als Fremdsprache verfügt, wobei für diejenigen, die früher diesen Unterricht gegeben haben und diese Qualifikation nicht haben, eine Übergangsfrist bis 2010 vorgesehen ist, in der eine Zusatzqualifikation erworben werden kann. Dies betrifft ca. 5000 Lehrkräfte. Die Zusatzqualifikation kann bei renommierten Instituten, die vom Bundesamt akkreditiert sind, zum Beispiel Goethe-Institut oder Internationaler Bund oder eben auch den Volkshochschulen, erworben werden. Es liegt unseres Erachtens im Interesse derer, die die Sprache lernen, dass eine Vertrautheit mit einer speziellen Art von Pädagogik vorhanden ist. Grundsätzlich gilt, dass wir uns nach meinem Dafürhalten in allen unseren Einrichtungen, nicht nur in den Schulen und Kindergärten, sondern auch in den Behörden, in den Regeldiensten der Wohlfahrtsverbände, in den letzten Jahren zu wenig auf die interkulturelle Öffnung eingestellt haben, darauf, dass sich unsere Gesellschaft durch die Zuwanderung verändert hat. Das Bewusstsein wächst allmählich, dies muss sich auch in der Ausbildung und in der Fortbildung niederschlagen. Ich würde mir in der Tat hier mehr Initiativen wünschen. Ich bin allerdings froh über die kleinen Schritte, die sich jetzt schon zeigen. Ich bin mit Frau Süßmuth einer Meinung, dass der Anteil von Migrantenkindern an den Gymnasien weitaus höher sein könnte. Dies wird allerdings nur dann geschehen können, wenn es bei den Lehrern auch mehr Vertrauen in die Fähigkeiten der Kinder gibt. Ich kenne aus meinem eigenen Bekanntenkreis Fälle, bei denen Lehrer der Ansicht waren, dass ein Kind sich am Gymnasium schwer tun würde. Es habe zwar gute Talente und Fähigkeiten, aber die Eltern zu Hause könnten es nicht unterstützen, und dann wollte man es gar nicht erst versuchen. Umgekehrt muss der Weg sein! Wir müssen die Potenziale fördern – und dabei auch die Eltern beraten und unterstützen. Und damit bin ich beim zweiten Punkt. Wir als Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sind für die Integration und die Angebote für Erwachsene zuständig. Wir versuchen ganz bewusst, die Eltern anzusprechen, unsere Angebote den Eltern nahe zu bringen, und zwar auch denjenigen, die mit dem deutschen Schulsystem nicht so vertraut sind, und denjenigen, die in Gemeinschaften mit wenig Außenkontakt leben. Und wir sind sehr stolz darauf, dass wir in unseren Kursen über 60 Prozent Frauen, darunter viele Mütter, haben, weil wir genau wissen, wie wichtig es ist, dass sie a) um unser Bildungssystem wissen und b) auch die Kinder unterstützen können. Und das müssen wir alle, Lehrer, Schulen, Gemeinden, noch verstärken: bei den Eltern ansetzen und ihnen deutlich machen, wie wichtig Sprache für sie selber ist und wie wichtig Sprache für die Kinder ist. Das Bundesamt ist mit den Mitteln, die uns vom Gesetzgeber zur Verfügung gestellt worden sind, im ersten Jahr gut ausgekommen, weil das System erst anlaufen musste, und konnte daher viele fördern, die schon länger in Deutschland leben. Wir sind der Meinung, dass diese Integrationskurse 145 sowohl diesen zur Verfügung stehen sollten, als auch denjenigen, die neu kommen, weil wir festgestellt haben, dass wir einen sehr großen Effekt erzielen, wenn wir die Angebote auch für diejenigen nutzbar machen, die schon da sind. Das Gesetz legt hier allerdings eine Priorität für die Neuzuwanderer fest. Die Frage der Bezahlung (rund 2 Euro pro Stunde pro Teilnehmer, Anm. d. Red.) ist eine wichtige Frage, aber keine, die unmittelbar für den Kurserfolg ausschlaggebend ist. Man kann lediglich argumentieren – und das versuchen wir gerade zu evaluieren –, ob sich dieser niedrige Stundensatz auf die Qualität der Lehrer auswirkt. Die Frage, ob die von uns vorgesehene Zahl an Unterrichtsstunden ausreicht, ist ein weiterer Punkt. In den Niederlanden waren in einem ersten Anlauf ja wesentlich mehr Stunden vorgesehen, der erhoffte Erfolg war allerdings ausgeblieben. Das hing mit der großen Drop-out-Quote zusammen, d. h., die Leute sind einfach weggeblieben und nicht mehr aufgefangen worden, beispielsweise in Teilzeitkursen, wie wir das vorsehen. Es ist klar, dass vieles noch verbessert werden kann, und darum sind wir ja dabei, diese Kurse zu evaluieren. Wir haben auch begonnen, den immer wieder genannten hohen bürokratischen Aufwand zu minimieren. Der Aufwand ist bei einer teilnehmerbezogenen Finanzierung ein anderer als bei einer kursbezogenen. Das Entscheidende ist aber nicht die Zahl reichen. Frau John hat völlig zu Recht gesagt, dass man hier Brücken schaffen muss, Brücken zu anderen Maßnahmen, zu anderen Möglichkeiten. Es sind insbesondere die Möglichkeiten, die von den Arbeitsagenturen angeboten werden und von der BA, die in eine berufliche Qualifikation hineinführen, d. h., wir dürfen die Absolventinnen und Absolventen der Integrationskurse nicht alleine lassen nach der Prüfung oder nach dem Kurs, sondern wir brauchen Verbundprojekte, die mit einem Integrationskurs beginnen und dann in die berufliche Integration hineinführen, in deren Rahmen z. B. Fachterminologie beigebracht wird oder in denen beispielsweise all die Potenziale ausgeschöpft werden, die die Zuwanderer mitbringen. Wir müssen weg von einem Defizitansatz. Stattdessen müssen wir sehen, dass die Zuwanderer ja auch etwas mitbringen, das in unserer Gesellschaft aktiviert werden kann. Und wenn es dazu einer sprachlichen Nachqualifizierung bedarf, dann sollte man das auch machen. Und es gibt spezielle Jugendintegrationskurse, an die eine Maßnahme anschließt, die bis zum Nachholen des Hauptschulabschlusses führt. Dafür können wir sogar europäische Gelder in Anspruch nehmen. Wir haben hier in Deutschland viele gute Angebote auf kommunaler Ebene, auf Länderebene, von der Zivilgesellschaft, vom Bund. Doch die einzelnen Träger wissen häufig nicht, „Wir als Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sind für die Integration und die Angebote für Erwachsene zuständig. Wir versuchen ganz bewusst, die Eltern anzusprechen, unsere Angebote den Eltern nahe zu bringen, und zwar auch denjenigen, die mit dem deutschen Schulsystem nicht so vertraut sind, und denjenigen, die in Gemeinschaften mit wenig Außenkontakt leben. Und wir sind sehr stolz darauf, dass wir in unseren Kursen über 60 Prozent Frauen, darunter viele Mütter, haben, weil wir genau wissen, wie wichtig es ist, dass sie a) um unser Bildungssystem wissen und b) auch die Kinder unterstützen können.“ der Formulare oder die Zahl der Stunden, sondern das, was in dieser Zeit passiert. Wir haben nunmehr Standards, wir haben Ziele, wir haben Tests, wir haben Lernzielkontrollen. All das hat es in Deutschland früher nicht gegeben, es ist mit dem Integrationskurskonzept eingeführt worden, und ich denke, dass wir mit unseren Integrationskursen auf einem guten Weg sind. Ende 2005 hatten wir, wie gesagt, 115 000 Teilnehmer, von denen ungefähr 25 000 diesen Kurs schon abgeschlossen haben. Von ihnen sind 17 000 in die Prüfung gegangen, und 12 000 haben diese Prüfung bestanden, das ist mehr als der Anteil von 10 Prozent, der hier ins Gespräch gebracht wurde, aber immer noch zu wenig. Allerdings sagen auch manche Kursträger den Teilnehmenden, dass sie nicht gleich nach dem Kurs in die Prüfung gehen müssten, sondern dass sie den Sprachkompetenzerwerb selbst noch vorantreiben könnten. Richtig ist aber, dass nicht alle Teilnehmenden das erwähnte B1-Level er- 146 wie sie mit den anderen kommunizieren oder was sie anders machen könnten, was die anderen überhaupt tun. Teilweise gibt es auch bürokratische Hürden. Daher brauchen wir – und darum ist die Kommune so wichtig – runde Tische, bei denen die Beteiligten erkennen können, wie sie ihre Maßnahmen koppeln können. Bei den Frauen beispielsweise ist es ganz wichtig, dass wir niederschwellige Angebote haben, um sie überhaupt aus ihrer Community herauszuholen. Der Bund hat in den vergangenen Jahren jeweils ca. 2 Millionen Euro bereitgestellt, um solche niederschwelligen Angebote für Frauen zu initiieren, die es ihnen ermöglichen, im Kontakt mit anderen Frauen das Gesundheitssystem oder auch das Bildungssystem kennen zu lernen. Das muss weiter ausgebaut und gefördert werden, und wir müssen dies auch beispielsweise mit den Integrationskursen koppeln. Es gibt spezielle Zielgruppenkurse, Elternkurse, Frauenkurse, und wir müssen dahin kommen, dass wir die Frauen, die es nötig haben und die auch ihren Kindern bei deren John/Kiel/Süßmuth/Griesbeck: Sprachförderung und Integration Bildungskarriere beistehen müssen, in die Kurse hineinbekommen. Das bedeutet aber nicht – damit wäre der Lehrer dann auch überfordert –, auf das einzelne Elternpaar zuzugehen, sondern wir müssen stärker die Zusammenarbeit mit den Migrantenselbstorganisationen nutzen, um Zugang zu dieser Zielgruppe zu bekommen. Noch einmal zu den sozialen Kontakten. Die Integrationskurse sind so aufgebaut, dass der Erwerb von Sprachkompetenz im Vordergrund steht. Durch eine ethnisch-heterogene Zusammenstellung soll erreicht werden, dass auch untereinander Deutsch gesprochen wird. Selbstverständlich findet der Spracherwerb nicht nur im Kursraum statt, sondern wir müssen auch Angebote bereitstellen, durch die Kontakte am Nachmittag durch Straßenfeste, durch Projekte des Quartiermanagements, wie es Frau Süßmuth schon dargelegt hat, gepflegt werden. Vielleicht ein Beispiel noch. Wir finanzieren mit über 5 Millionen das Programm Integration durch Sport, weil Sportvereine überaus wichtig sind, um dieses Miteinander zu pflegen. Wir brauchen mehr Kreativität, um gute Maßnahmen miteinander zu koppeln. Integration ist eine Querschnittsaufgabe, zu der viele Kräfte der Gesellschaft beitragen können. 147 Nicht erst seit den Erkenntnissen der Hirnforschung ist bekannt, dass Kinder viel früher effektiv lernen können. Die Neuregelung des Übergangs von der Kindertagesstätte hin zur Grundschule ist daher eines der wichtigsten Reformvorhaben der nächsten Jahre. Bildungspläne gibt es mittlerweile in fast allen Bundesländern. Die hessische Kultusministerin KARIN WOLFF wurde eingeladen, um den hessischen Bildungs- und Erziehungsplan vorzustellen. Dieser ist zurzeit in der Erprobungsphase und gilt – dies ist eine Besonderheit – vom Säuglingsalter bis zum 10-jährigen Schüler. Seine Erfahrungen bei der Implementierung eines Bildungsplans für vorschulische Einrichtungen in Bayern präsentierte Professor Dr. mult. WASSILIOS FTHENAKIS im Rahmen der Veranstaltung „BILDUNGSPLÄNE VON 0 BIS 10. ÜBERGÄNGE KINDERGARTEN – SCHULE“. Moderation: Katja Irle Eine Veranstaltung der Wassilios Fthenakis Wassilios Fthenakis, Professor Dr., geb. 1937. 1958 Diplom in Pädagogik in Griechenland. 1967 Promotion zum Dr. rer. nat. an der Ludwig-Maximilians-Universität München. 1968 dort Diplom in Psychologie, 1971 Promotion zum Dr. phil., 1986 Promotion zum Dr. rer. nat. habil. und Habilitation im Fach Sozialanthropologie (beides an der Fakultät für Biologie). 1975 bis Januar 2006 Direktor des Staatsinstituts für Frühpädagogik; 1987-2002 Professor für angewandte Entwicklungspsychologie und Familienforschung an der Universität Augsburg. Seit 2002 ordentlicher Professor für Entwicklungspsychologie und Anthropologie an der Freien Universität Bozen/Italien. Karin Wolff Karin Wolff, geb. 1959 in Darmstadt. Studium der Fächer Geschichte, Evangelische Theologie, Philosophie und Ethnologie in Mainz und Marburg; 1984 Staatsexamen in Geschichte und Theologie. 1984-86 Referendariat, 1986-95 Studienrätin an der Edith-Stein-Schule in Darmstadt. Seit 1976 Mitglied der CDU, seit 1995 Mitglied des hessischen Landtags. Seit 1992 Mitglied der Synode der Evangelischen Kirche in Hessen-Nassau. Seit April 1999 hessische Kultusministerin. Seit 2003 stellvertretende Ministerpräsidentin des Landes Hessen. STATEMENT Wassilios Fthenakis Man kann heute in Bezug auf Bildungspläne häufig den Einwand hören, was wir bräuchten, sei eigentlich keine neue Theorie und auch keine Handlungsanweisung, sondern mehr Personal und eine bessere Ausstattung; die finanziellen Strukturen und die Organisationsstrukturen seien noch nicht so, wie sie sein sollten. Ich bin bei dem bayerischen Implementationsversuch eines Bildungsplans auf der Grundlage der Befragung und Begleitung von hunderten von Einrichtungen zu einer völlig anderen Einsicht gekommen. 148 Als Erstes sagen uns die Fachkräfte, dass sie einen solchen Plan bejahen, ihn für notwendig halten, weil er ihnen einen Orientierungsrahmen bietet, der hilft, das eigene Handeln zu reflektieren, außerdem zu überprüfen, inwieweit es möglich ist, Bildung für Kinder auf hohem Niveau zu organisieren. Insofern gibt es auch im Feld eine enorme Akzeptanz dieser Pläne. Das Zweite ist genauso wichtig. Der Plan ist ein gutes Instrument, um nach außen hin die Komplexität dessen zu vermitteln, was wir an pädagogischer Bildungsarbeit in unseren Einrichtungen leisten. Die dritte Ebene, auf der die Erzieherinnen die Bildungspläne als Gewinn verbuchen, ist die Verständigung mit der Familie. Wenn eine Familie heute auf sie zukommt und sehr Fthenakis/Wolff: Bildungspläne von 0 bis 10 extreme Anforderungen stellt dahingehend, dass ihr Kind nur auf die Grundschule vorzubereiten sei, statt die gesamte Entwicklung des Kindes zu sehen, dann bietet der Bildungsplan einen guten Rahmen der Verständigung zwischen Familie und Einrichtung, weil sich die Diskussion dann entlang dieses Bildungsplanes und dessen Anforderungen gestalten lässt. Natürlich sagen die Fachkräfte auch, dass die Umsetzung eines solchen Bildungsplans drei neue Schwerpunkte im Hinblick auf Kompetenz und Rahmenbedingungen voraussetzt. der Bildungsplan die Kompetenz der Fachkraft stärkt, fühlt sie sich in ihrer pädagogischen Arbeit bestätigt, und das steigert die Zufriedenheit der Fachkraft trotz bestehender Rahmenbedingungen. Dies ist kein Plädoyer gegen eine Verbesserung der Rahmenbedingungen, es ist vielmehr eine interessante Chance, die man auch nutzen sollte, weil die Zufriedenheit im Beruf allein aus strukturellen Merkmalen nicht gewonnen werden kann. Wir müssen uns wirklich bereichern durch neue Modelle, durch neue Inhalte, die uns in der Gruppe kompetent machen. „Wir sind mit Österreich, mit Malta und der Slowakischen Republik die einzigen vier Länder in der EU, die die Erzieherausbildung auf einem formal niedrigen Niveau organisieren. Insofern ist es im Zuge der Harmonisierung von beruflicher Bildung vielleicht nicht mehr zu vermeiden, dass man sich Gedanken darüber macht, auf welchem Niveau, aber vor allem mit welcher Qualität dieses Ausbildungsprofil gestaltet werden muss.“ 1. Sie verlangen nach mehr Training, mehr Kompetenz in der Beobachtung kindlicher Lernprozesse und deren Dokumentation. Deswegen werden Sie auch feststellen können, dass bei dieser Messe das Thema Nummer 1 die Dokumentation von Bildungsprozessen ist. 2. Sie verlangen eine andere, bessere Ausbildung, die ihnen hilft, auch theoretisch zu begründen, was sie an Bildungsarbeit leisten. 3. Sie verlangen bessere Rahmenbedingungen in der Einrichtung. Wir hatten in Bayern die Rahmenbedingungen der Einrichtungen allerdings nicht geändert, hatten den Fachkräften die zusätzliche Arbeit der Implementation des Plans aufgegeben. Drei Mal wurden umfassend Daten erhoben. Der interessante Nebeneffekt war, dass die Zufriedenheit der Fachkräfte am Ende dieses Kindergartenjahres gestiegen war. Wenn also Oft hört man die Kritik, die Erzieherinnen und Erzieher seien zu schlecht bezahlt; die Kritik der anderen Seite ist, sie seien zu schlecht ausgebildet. Im Raum steht eine Akademisierung der Ausbildung, die die Qualität anheben soll. Ich glaube, dass wir längst einen Reformbedarf auf dem Bereich der Qualifizierung der Fachkräfte haben. Wir sind mit Österreich, mit Malta und der Slowakischen Republik die einzigen vier Länder in der EU, die die Erzieherausbildung auf einem formal niedrigen Niveau organisieren. Insofern ist es im Zuge der Harmonisierung von beruflicher Bildung vielleicht nicht mehr zu vermeiden, dass man sich Gedanken darüber macht, auf welchem Niveau, aber vor allem mit welcher Qualität dieses Ausbildungsprofil gestaltet werden muss. Ich habe selbst Modelle entwickelt, wie man das machen könnte. Wir haben diese Modelle eingebettet in Zeitpläne und Finanzpläne. Und ich bin der Auffassung, dass 149 Foto: VdS Bildungsmedien wir dieses Thema nicht weiter hinausschieben sollten. Als ersten Schritt könnte ich mir vorstellen, eine Akademisierung der Leitungen und aller Positionen, die darüber hinausgehen, ins Auge zu fassen. Und wir sollten das verstärkt vorantreiben, was momentan in der Bundesrepublik auf dem Weg ist, nämlich neue Ausbildungsgänge einzurichten. Dabei lege ich zwar mehr Wert auf Qualität, aber auch das Niveau spielt eine Rolle. Wenn man einen neuen Ausbildungsgang mit Praxisbezug, mit guter theoretischer Ausbildung, mit guter Qualität verankern will, würde sich dafür möglicherweise die Fachhochschule anbieten. Wenn man so etwas plant, dauert es etwa 25 bis 30 Jahre, bis dieErfahrungen mit Bildungsplänen aus Bayern und Hessen kamen auf einer der letzten Veranser Transformationsprozess vom jetzigen staltungen des diesjährigen „forum bildung“ zur Sprache. Zustand bis zu einem höheren Ausbildungsniveau abgeschlossen ist. Insofern kann ich nur dazu ermuntern, dass wir uns dieses Themas trotz der zusätzlichen finanziellen Belastungen allmählich eigentlich schon immer wussten: „Was Hänschen nicht lernt, annehmen, weil dies Voraussetzung ist, um den Einrichtungen lernt Hans nimmermehr.“ angemessene Bildungsqualitäten zu moderieren und möglich zu machen. Es ist eine mittlerweile auch entwicklungspsychologisch, neurobiologisch sehr gut unterfütterte Erkenntnis, dass das, was in Vielleicht noch ein Nachtrag, weshalb die ersten Jahre so wich- diesen ersten zehn Jahren geleistet wird, ein wunderbares Funtig sind. Wenn die neuen Bildungspläne nicht mehr Wissen ver- dament für das Leben ist, und das, was in den ersten zehn Jahmitteln sollen, sondern kindliche Entwicklung stärken und ren nicht geleistet oder nicht an Potenzialen entfaltet wird, Kompetenzen von Kindern fördern, dann erscheint es sinnvoll, dementsprechend auch ein starkes Handicap für die weitere in den ersten Jahren zu investieren, weil das die Zeit ist, wo Zukunft darstellt. Wir haben überlegt, welche Folgerungen – sich die wichtigen Kompetenzen entwickeln und daher eine vom Kind her betrachtet – sich daraus ergeben. Dabei befinden Investition dieser Art nicht nur angemessen, sondern auch zeit- wir uns in sehr guter Kooperation mit Herrn Professor Fthenalich und entwicklungsgemäß geradezu geboten ist. Es ist zwar kis. Es gab Vorarbeiten aus Bayern, die einen Teilzeitraum nicht so, dass man danach nichts mehr lernen könnte, vielmehr beschrieben haben. Wir wollten aber die ersten beiden Bilnutzen wir die günstigste Phase der Entwicklung, in der sich dungseinrichtungen von der Geburt bis zum 10. Lebensjahr Kompetenzen entwickeln, um das Kind maximal zu fördern, stärker zusammennehmen. Die Erprobung sollte sehr bewusst und das steckt im Grunde genommen hinter dem Plan. von Anfang an konzeptionell so laufen, dass jeweils mindestens ein Kindergarten und mindestens eine Grundschule in die Partnerschaft eines Tandems eintreten. Dieser große Zeitraum war zu dem Zeitpunkt, als wir uns dafür entschieden haben, zwischen den Ländern noch nicht Konsens. Trotzdem wollten wir diesen Schritt wagen und neu bestimmen, worin die Aufgabe der Eltern und der Lehrer bzw. Erzieher in den jeweiligen EinDer weite zeitliche Rahmen unseres hessischen Bildungsplans, richtungen besteht, um – von dort ausgehend – auch stärkere der vom Säuglingsalter bis zum 10-jährigen Schüler reicht, ist Kooperationsstrukturen zu finden. meiner Ansicht nach dasjenige, was diesen zunächst von Bildungsplänen anderer Länder unterscheidet. Diese Altersspanne Die Basis für die Arbeit in den Modellprojekten, wo Grundschubetrifft die beiden unterschiedlichen Bereiche Kindergarten len und Kindertageseinrichtungen in Tandems kooperieren, ist, und Grundschule, in denen oftmals unterschiedliche Mentalitä- dass sich alle gegenseitig kennen. Das ist vielleicht banal und ten herrschen und vielfach auch zwei Welten eines je unter- klingt auch banal, aber es ist nicht die Regel, dass die Personen, schiedlichen Bildungs- und Erziehungsverständnisses aufeinan- die in diesen Einrichtungen arbeiten, sich gegenseitig kennen, der stoßen. Dabei geht es aber nicht darum, welche Einrichtung dass sie versuchen, gemeinsame Fortbildungen zu organisieren, sich wie definiert, möglichst noch in Abgrenzung zu oder in dass sie sich gemeinsame Schwerpunkte setzen, beispielsweise bedingter Zusammenarbeit mit den Eltern, sondern es geht den Schwerpunkt Kommunikation, und dann die Methoden des darum, dass wir in den Blick nehmen, worin das Potenzial von Lernens in den jeweiligen Einrichtungen und auch die BeraKindern in diesem frühen Lebensalter liegt, von dem wir tung, die Kooperation mit den Eltern darauf einstimmen. STATEMENT Karin Wolff 150 Fthenakis/Wolff: Bildungspläne von Blindtext 0 bis 10 Ein Beispiel: Eine Schule sagt: Wir setzen uns gezielt den Schwerpunkt Lesen, und wir nehmen das Geschehen im Kindergarten mit hinein. Der Kindergarten bestimmt für sich ebenfalls sehr bewusst: Wir bieten nicht nur Bildung und Betreuung für die ersten beiden Kindergartenjahre und dann ein Vorschuljahr, sondern wir betrachten den Prozess des Lesenlernens als einen nicht unterbrechbaren Prozess, der vom Vorlesen, der Begegnung mit den Geschichten, in das selbst Lesenlernen übergeht. Dann erfahren beispielsweise Kinder im Kindergarten von Kindern der 2. Klasse, wie es ist, mittlerweile lesen und den Kleinen auch etwas vorlesen zu können. Das sind Prozesse, die sehr lebendig sind. Wir müssen uns Rechenschaft darüber ablegen, was uns im Kontext der frühkindlichen Bildung wichtig ist. Und hier steht die Frage im Zentrum, wie wir Menschen qualifizieren, wie wir ihnen inhaltliche Rahmenbedingungen geben, um das leisten zu können, was wir alle sehr dringend brauchen. Das heißt auch, dass wir eine solche Diskussion nicht damit überlagern sollten, zu sagen, ein Veränderungsprozess, ein Umdenken könne nur dann eintreten, wenn wir Strukturen und finanzielle Rahmenbedingungen verändern, wie es immer wieder gefordert wird. Sicherlich ist auch die finanzielle Gewichtung der Primarbildung, wie wir sie aufgrund der aktuellen Gehälter haben, z.B. gegenüber der Bildung in den weiterführenden Schulen in den Blick zu nehmen. Das muss man realistisch sehen. Wir haben, glaube ich, alle erkannt, dass die Frage, welche Aufmerksamkeit wir der Art und Ausstattung der Aus- und Fortbildung zuwenden, eine ganz wesentliche Rolle spielt. Insofern wird eine sukzessive Verlagerung in den Bereich der frühen Bildung gar nicht vermeidbar sein. bildungsgänge in unterschiedlichen Ländern miteinander vergleichen. Ich führe diese Auseinandersetzung jedes Mal, wenn mit internationalen Statistiken gearbeitet wird. Das, was in anderen Ländern insgesamt eine Fachhochschul- oder Hochschulausbildung ist und was in Deutschland im Rahmen der dualen Ausbildung oder in Fachschulen geleistet wird, geschieht nach meiner Überzeugung in vielen Bereichen auf gleichem Niveau, ist aber unterschiedlich verortet und deswegen international auch immer in einem Ungleichgewicht. Wir haben im beruflichen Bereich einfach eine andere Form von Ausbildung. Es würde mir sehr schwer fallen, grundsätzlich zu fordern, die Ausbildung für Erzieherinnen müsse akademisiert werden, weil wir die Frage meines Erachtens unter dem Aspekt inhaltlicher Leistungsfähigkeit sehen müssen. Und weil natürlich damit die Frage verbunden ist, ob wir es grundsätzlich Realschulabgängern, Abgängern der Schule mit einem mittleren Abschluss, die sich in Deutschland für eine mit fünf Jahren sehr lange Ausbildung bewerben – das ist in anderen Ländern auch ganz anders –, nicht zutrauen, durch eine fundierte Ausbildung zu einem guten Niveau in der Berufsausübung zu kommen. Ich hätte in der Tat ganz gerne den Weg dahingehend geöffnet, dass wir innerhalb der Kindertageseinrichtungen differenzieren, dass wir im Rahmen einer modernisierten Berufsausbildung Module bilden, dass wir aber auch die Kräfte, die sich auf eine Leitungsaufgabe im Erziehungsbereich vorbereiten wollen, an Fachhochschulen, an Berufsakademien oder ähnlichen Einrichtungen weiterqualifizieren. Es ist mein Ziel, dies zu einem Berufsbaustein zu machen und den Fachkräften auf dieser Grundlage die Leitung einer Einrichtung übertragen zu können. Dagegen habe ich nichts einzuwenden. In einem anderen Punkt würde ich nach Möglichkeit die Frage aber lieber nicht struktu- „Es ist eine mittlerweile auch entwicklungspsychologisch, neurobiologisch sehr gut unterfütterte Erkenntnis, dass das, was in diesen ersten zehn Jahren geleistet wird, ein wunderbares Fundament für das Leben ist, und das, was in den ersten zehn Jahren nicht geleistet oder nicht an Potenzialen entfaltet wird, dementsprechend auch ein starkes Handicap für die weitere Zukunft darstellt.“ Ich werde immer wieder gefragt, ob es für das Land Hessen ein Modell sein könnte, die Leitungen von Kindertagesstätten mit einer akademischen Ausbildung auszustatten und dann auch entsprechend besser zu bezahlen. Doch ich bin grundsätzlich misstrauisch gegenüber dieser formalisierten Diskussion. Sie ist meines Erachtens formalisiert, weil wir nicht kompatible Aus- rell, sondern vom Inhalt der Ausbildung her diskutieren. Und in der Tat sind wir gerade dabei, die Erzieherinnenausbildung durch neue Lehrpläne neu zu gestalten. Wir haben sie schon umgestaltet auf Grundlage der Erprobung des Bildungs- und Erziehungsplans, und bin ich mir sicher, dass dieser Prozess auch künftig weitergehen wird. 151 „LERNKOMPETENZ STÄRKEN“ – Die Cornelsen Stiftung Lehren und Lernen startete 2005 den mit 15 000 Euro dotierten CORNELSEN FÖRDERPREIS ZUKUNFT SCHULE. Unter der Schirmherrschaft von Günther Jauch suchte die Cornelsen Stiftung Unterrichtsprojekte, die die Entwicklung von Lernkompetenz fördern. Der Preis wird jährlich mit wechselndem Themenschwerpunkt ausgeschrieben. Er richtet sich an Lehrkräfte und Referendare jeder Schulform. Die Lernkultur verändern und den Dialog zwischen Unterrichtspraxis und Schulforschung fördern: Das ist das Ziel des Wettbewerbs. Zum Thema Lernkompetenz waren Unterrichtsmethoden gesucht, die aus der Zusammenarbeit mit Hochschulen, Landes- oder Forschungsinstituten hervorgegangen sind und nachweisen können, die Lernkompetenzen von Schülerinnen und Schülern zu stärken. Dabei sollten neue Impulse für den Unterricht gegeben und Schülerinnen und Schüler zu einem kooperativen und problemorientierten Lernen befähigt werden. Die Cornelsen Stiftung Lehren und Lernen Fritz von Bernuth Fritz von Bernuth, geb. 1942. Seit 1997 Geschäftsführer der Cornelsen Verlagsholding. Fritz von Bernuth nahm nach dem Abitur eine Lehre als Verlagsbuchhändler auf. Nach Beendigung der Lehrzeit machte Fritz von Bernuth Station beim Westermann Verlag, Karl Rauch Verlag und Otto Maier Verlag. 1986 kam er nach Berlin und begann seine Arbeit beim Cornelsen Verlag. 1987-97 war er verlegerischer Geschäftsführer des Cornelsen Verlags. Fritz von Bernuth ist Beiratsmitglied der Cornelsen Stiftung Lehren und Lernen. Wolf-Rüdiger Feldmann Wolf-Rüdiger Feldmann, geb. 1955, ist Geschäftsführer des Cornelsen Verlags für den Bereich Marketing. Feldmann ist seit 1973 im Cornelsen Verlag und hatte ab 1984 verschiedene Vertriebsleiterfunktionen inne. Seit 1993 ist er Prokurist für den Bereich Marketing und seit 1999 Marketingleiter des Verlages. Darüber hinaus ist Feldmann stellvertretender Vorsitzender des VdS Bildungsmedien e. V. und ebenfalls im Beirat der Cornelsen Stiftung Lehren und Lernen. Hilbert Meyer Hilbert Meyer, geb. 1941, ist seit 1975 Professor für Schulpädagogik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg mit den Schwerpunkten Allgemeine Didaktik (seit 1975), Unterrichtsmethodik (seit 1982) und Schulentwicklung (seit 1992); 1994 Gründung der Forschungswerkstatt „Schule und LehrerInnenbildung“; 2000 Leiter des BLK-Modellversuchs „Lebenslanges Forschendes Lernen im Kooperationsverbund Schule, Seminar und Universität“. Hilbert Meyer ist Autor zahlreicher Publikationen. Meyer ist Vorsitzender der Jury Cornelsen Förderpreis Zukunft Schule. 152 „Zukunft Schule“ – Cornelsen Förderpreis 2005/2006 Blindtext Die Cornelsen Stiftung Lehren und Lernen wurde 1978 von Franz Cornelsen gegründet, um das Bildungssystem in Deutschland zu verbessern. Sie will den Dialog zwischen Unterrichtspraxis und Schulforschung fördern. Sie unterstützt Forschungsvorhaben und methodisch kontrollierte Projekte aus der Schule, den Hochschulen oder der Lehreraus- und -weiterbildung mit jährlich rund 15 000 Euro. Die gemeinnützige Stiftung ist unter dem Dach des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft angesiedelt. Um die Erfahrungen und Kompetenzen von Lehrerinnen und Lehrern aus der Praxis in die bildungspolitischen und wissenschaftlichen Anstrengungen zur Qualifizierung von Unterricht einzubinden, schreibt die Stiftung jährlich den Cornelsen Förderpreis Zukunft Schule aus. Cornelsen Förderpreis Zukunft Schule Die Cornelsen Stiftung Lehren und Lernen vergab auf der „didacta – die Bildungsmesse“ 2006 erstmals den mit 15 000 Euro dotierten Cornelsen Förderpreis Zukunft Schule. Um den Dialog zwischen Schulpraxis und Unterrichtsforschung anzuregen, waren Lehrerinnen und Lehrer aufgefordert, mit wissenschaftlichen Einrichtungen zusammenzuarbeiten. Aufgabe war die Entwicklung und Förderung von Lernkompetenz. Aus 166 Einsendungen hat eine Jury aus führenden Bildungswissenschaftlern unter Vorsitz von Professor Dr. Hilbert Meyer vier Preisträger aus Baden-Württemberg, Bayern und Hamburg ermittelt. An dem Wettbewerb unter der Schirmherrschaft von Günter Jauch beteiligten sich Grundschulen, Gymnasien, Real- und Hauptschulen sowie Berufsschulen aus allen Bundesländern: Mit 25,6 Prozent der Einreichungen war NordrheinWestfalen das teilnahmestärkste Land; gefolgt von BadenWürttemberg und Bayern (beide 14 Prozent). Es gingen auch zwei Wettbewerbsbeiträge von deutschsprachigen Schulen aus Medellin/Kolumbien und Vaduz/Liechtenstein ein. Die am häufigsten vertretenen Schulformen waren Gymnasien (46,6 Prozent) und Gesamtschulen (13,5 Prozent). Neue Methoden zur Förderung der Lernkompetenz wurden in allen Jahrgangsstufen und mit breiter Medienvielfalt umgesetzt, wobei die Jahrgangsstufe 6 (11 Prozent) am häufigsten vertreten war. Das Fächerspektrum reichte von Deutsch über Englisch, Mathematik und Naturwissenschaften bis hin zu Kunst, Musik oder Sport. Die fächerübergreifenden Arbeiten stellten jedoch mit 33,3 Prozent den größten Anteil der eingereichten Arbeiten dar. Lernkultur verändern und den Dialog mit Wissenschaftlern suchen: Diese Anforderung des Wettbewerbs wurde von Lilo Halbleib an der bayrischen Hauptschule Heuchelhof hervorragend umgesetzt. Sie erhält den mit 6000 Euro dotierten ersten Preis. Die Jury ehrt damit ihr Projekt „Coltan-Stoffgeschichten“, das vernetztes Denken und Medienkompetenz fördert. Für eine jahrelange Entwicklungsarbeit des Projektunterrichts unter Einsatz eines Portfolios werden Silvia Pfeifer und Joachim Kriebel vom Carl-Friedrich-Gauß-Gymnasium in Hockenheim (Baden-Württemberg) mit dem zweiten Preis in Höhe von 4000 Euro ausgezeichnet. Herwig Sünnemann und Roland Susel von der Gesamtschule Winterhude aus Hamburg überzeugten die Jury mit einem altersgemischten Projektunterricht in den Naturwissenschaften und erhalten 2000 Euro für den dritten Platz. Der Sonderpreis für Referendarinnen und Referendare in Höhe von 3000 Euro geht an Carmen Ellermann. Damit honoriert die Jury eine kreative Methodik, die Schülern die englische Sprache spielerisch beibringt. Alle Projekte zeichnen sich durch eine hohe didaktische Kreativität und intensive wissenschaftliche Begleitung aus. Der Cornelsen Förderpreis Zukunft Schule wird künftig alle zwei Jahre vergeben. Die Aufgabenstellung 2007 lautet: „Vernetztes Lernen fördern“. www.cornelsen.de/zukunft-schule 153 Die Jury Prof. Susanne Bögeholz Didaktik der Biologie Georg-August-Universität Göttingen Prof. Hilbert Meyer Fachbereich Pädagogik Carl von Ossietzky Universität Oldenburg Prof. Ilka Parchmann Konzeptionelle Forschungs- und Entwicklungsarbeiten für den Chemieunterricht der Sekundarstufen I und II Universität Oldenburg Prof. Annedore Prengel Institut für Grundschulpädagogik Universität Potsdam Martin Spiewak Redaktion Bildung/Erziehung Die ZEIT Prof. Heinz-Elmar Tenorth Institut für Erziehungswissenschaften Humboldt-Universität zu Berlin Prof. Klaus-Jürgen Tillmann Didaktik und Curriculumentwicklung Universität Bielefeld Die Laudatoren Ilka Parchmann Ilka Parchmann, Professor Dr., geb. 1969, studierte an der Universität Oldenburg Chemie und Biologie für das Lehramt an Gymnasien. 1993 legte sie das 1. Staatsexamen ab und wurde 1997 im Arbeitskreis von Prof. Dr. Walter Jansen promoviert. Nach einem Postdoc-Aufenthalt an der University of York (UK) absolvierte sie ihr 2. Staatsexamen am Studienseminar in Wilhelmshaven. 1999 wechselte sie an das IPN in Kiel, wo sie 2002 nach Ablehnung eines Rufes an die FU Berlin eine Professur, verbunden mit der stellvertretenden Abteilungsleitung in der Didaktik der Chemie, übernahm. Seit September 2004 ist sie Professorin für Didaktik der Chemie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Hilbert Meyer Hilbert Meyer, geb. 1941, ist seit 1975 Professor für Schulpädagogik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg mit den Schwerpunkten Allgemeine Didaktik (seit 1975), Unterrichtsmethodik (seit 1982) und Schulentwicklung (seit 1992); 1994 Gründung der Forschungswerkstatt „Schule und LehrerInnenbildung“; 2000 Leiter des BLK-Modellversuchs „Lebenslanges Forschendes Lernen im Kooperationsverbund Schule, Seminar und Universität“. Hilbert Meyer ist Autor zahlreicher Publikationen. Meyer ist Vorsitzender der Jury Cornelsen Förderpreis Zukunft Schule. 154 „Zukunft Schule“ – Cornelsen Förderpreis 2005/2006 Blindtext Witlof Vollstädt Witlof Vollstädt, Professor Dr. Nach Berufsausbildung zum Industriekaufmann Abitur und Studium an der PH Dresden. 1973-75 Lehrer für Physik und Mathematik; 1975 Promotion in Didaktik; seit 1975 in der Lehrerausbildung tätig. 1982 Habilitation in Pädagogik. 1986 Berufung zum ordentlichen Professor für Didaktik an der PH Dresden. Ab 1992 Vertretungsprofessuren in Hamburg und Kassel. 1999 bis 2001 Wiss. Angestellter an der Universität Kassel. Seit 2005 Dozent und Leiter der Abteilung Lehrerfortbildung am DIALOG-Institut Dr. Kilian in Kassel. Klaus-Jürgen Tillmann Klaus-Jürgen Tillmann, Professor Dr. paed., geb. 1944. Hauptschullehrer im Ruhrgebiet, 1971-78 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Schulentwicklungsforschung in Dortmund; 1979-90 Professor für schulische Sozialisation an der Universität Hamburg und 1991/92 Gründungsdirektor des „Pädagogischen Landesinstituts Brandenburg“. Seit 1992 Universitätsprofessor für „Pädagogik und Didaktik der Sekundarschule“, seit 1994 zugleich Wissenschaftlicher Leiter der Laborschule in Bielefeld. 155 Preisträger und Projekte LAUDATIO zum 1. Preis Ilka Parchmann Ausgezeichnet wird das Projekt „Coltan-Stoffgeschichten“, das von der Klasse M8 der Hauptschule Würzburg-Heuchelhof in Kooperation mit dem Weltladen Würzburg und den Universitäten Würzburg und Augsburg in den Schuljahren 2004/2005 und 2005/2006 durchgeführt wurde. Der Projekttitel verrät zunächst wohl nur wenigen, worum es sich handelt. Tatsächlich hat die Klasse M8 aber ein Thema aufgegriffen, das mittlerweile fast alle angeht: Coltan ist ein Rohstoff, der hauptsächlich in Afrika abgebaut wird, um daraus das Metall Tantal zu gewinnen, das wiederum ein wichtiger Bestandteil in Handys ist. Woher genau kommt dieser Stoff, wie und unter welchen Bedingungen wird er abgebaut, wer schlägt den meisten Profit daraus? Diesen Fragen gingen die Schülerinnen und Schüler an der Hauptschule Würzburg-Heuchelhof in diesem Projekt nach, wobei insbesondere die Bedingungen der Arbeiter auf der einen Seite und die Profitmöglichkeiten durch den Handel mit Coltan und Tantal auf der anderen Seite beleuchtet wurden. Das besonders Bemerkenswerte an diesem Projekt ist aber nicht allein die bedeutsame Thematik, sondern mindestens ebenso die Art und Weise, wie das Thema von der Schülergruppe aufbereitet und präsentiert wurde. Als Einstieg haben die Schülerinnen und Schüler zunächst eine Ausstellung im Weltladen Würzburg besucht. Das Projekt wurde dann in Schülergruppen weiter verfolgt und bearbeitet, wobei bei Bedarf Fachpersonen auch von außerhalb der Schule einbezogen wurden. Zur Vorbereitung der Präsentationen wurde von den Schülerinnen und Schülern sogar ein Rhetorikkurs besucht, der sicherlich nicht nur für diese Projektarbeit gewinnbringend war. Entgegen üblichen Projektarbeiten waren die Aktivitäten der Klasse M8 mit dieser Präsentation aber lange noch nicht abgeschlossen! Als Transfer wurde zunächst eine weitere vergleichbare Problematik erschlossen. Im darauf folgenden Schuljahr wurden die gewonnenen Erkenntnisse in fantasievolle Geschichten der 156 „Coltan-Figur und ihrer Reise ins Handy“ überführt; das Erstellen dieser Stoffgeschichten-Leporellos hat sicherlich neben der Kreativität auch die Schreibkompetenz der Schülerinnen und Schüler gestärkt. Krönender Höhepunkt des Projekts war schließlich die Ausstellung der Leporellos und die eigene Präsentation der Geschichten in Vorträgen an der Universität – eine Erfahrung, die vermutlich nicht viele Schülerinnen und Schüler der Hauptschule machen dürfen. Begleitet wurde diese Arbeit durch eine Gruppe von Studierenden, die dabei vermutlich nicht nur die Arbeit der Schülerinnen und Schüler unterstützt hat, sondern auch ihrerseits vieles mit und von den Schülerinnen und Schülern gelernt haben dürfte. Abschließend ist hervorzuheben, dass das ausgezeichnete Coltan-Projekt keine „Eintagsfliege“ darstellt, sondern an eine langjährige Arbeit der Hauptschule Würzburg-Heuchelhof anknüpft. Auch in den Jahren davor zeichnete sich die Schule durch ein hohes Engagement in verschiedenen Projekten aus, in denen Schülerinnen und Schüler etwa mit Senioren zusammengearbeitet oder Grundschülerinnen und Grundschüler beim Lernen unterstützt haben. Die Jury kommt daher übereinstimmend zu der Ansicht, dass sich diese Schule auch durch das Coltan-Projekt in besonderem Maße hervorgehoben hat und die Kooperation mit Universitäten und außerschulischen Lernorten in vielfältiger Weise und unter großem Gewinn für alle Seiten umgesetzt wurde. Sie zeichnet daher Frau Lilo Halbleib von der Hauptschule Würzburg-Heuchelhof mit dem 1. Preis aus. Lilo Halbleib • Hauptschule Heuchelhof • Berner Straße 3 97084 Würzburg Wettbewerbsbeitrag: Coltan-Stoffgeschichten – Zusammenhänge erkennen und vernetzt denken „Zukunft Schule“ – Cornelsen Förderpreis 2005/2006 LAUDATIO zum 2. Preis Hilbert Meyer Ein neues Schlagwort setzt sich in der Schulentwicklung durch: „Portfolio-Arbeit“: vor fünf, sechs Jahren nur von Insidern benutzt – heute ein pädagogischer Begriff mit Strahlkraft: Junge Menschen sollen lernen, den eigenen Lernfortschritt in einem „Portfolio“ zu dokumentieren. Sie sollen sich daran gewöhnen, auch in der späteren Berufsausbildung mit Portfolios zu arbeiten. Und sie sollen ganz nebenbei lernen, das Lernen zu lernen, also ihren Lernfortschritt zu beobachten, Lerndefizite selbst zu erkennen und zukünftiges Lernen besser zu planen. Das Carl-Friedrich-Gauß-Gymnasium in Hockenheim hat sich auf den Weg gemacht und die seit Langem bekannte und vielerorts praktizierte Projektarbeit auf eine ausgesprochen kreative und erfolgreiche Art und Weise mit einem Portfolioprozess verknüpft. Ich fasse in sechs Punkten zusammen, was der Cornelsen-Jury an der Arbeit des Gauß-Gymnasiums besonders gefallen hat. 1. Die Schülerinnen und Schüler des Gauß-Gymnasiums ent- wickeln ihre Lernkompetenzen selbst: Sie lernen, selbstständig zu recherchieren und zu präsentieren. Sie erwerben Methoden- und Sozialkompetenz. Und jene Schüler, die schon mehrfach ein Portfolio angelegt haben, kommen zu erstaunlichen Leistungen. 2. Die Lehrerinnen und Lehrer dieser Schule helfen ihnen dabei mit pfiffigen Methoden: Sie führen „Peer-Beratungen“ der Schüler ein. Sie lassen „Forschungsfragen“ bearbeiten, die wirklich Spaß machen. Sie fördern die Teamkompetenz und üben sich in der ungewohnten Rolle des Lernberaters. Und sie nutzen ein Geheimrezept, das leider viel zu wenig bekannt ist: Sie nehmen ihre Schüler ernst – als Fachleute für das eigene Lernen. 3. Die Arbeit ist nachhaltig: Die Jury hat besonders überzeugt, dass es sich beim PortfolioProzess des Gauß-Gymnasiums nicht um einen Schmetterling handelt, der kurz vorbeigeflattert kam, sondern um eine jahrelange konsequente Entwicklungsarbeit, die auch im Jahr 2006 weitergeführt wird: Die Portfolio-Arbeit ist zum festen Bestandteil des Schulcurriculums geworden. Neue Kollegen bekommen ein Coaching-Angebot, um im Teamteaching in die Portfolio-Arbeit eingeführt zu werden. Die Schule ist aktives Mitglied im Netzwerk „Lebenslanges Lernen“. 4. Der Arbeits- und Entwicklungsprozess der Schule ist auf- wändig dokumentiert und gekonnt evaluiert: Dafür spricht die Jury vor allem Frau Silvia Pfeifer besondere Anerkennung aus. 5. Die Zusammenarbeit mit der Wissenschaft hat bestens geklappt: Die Schule ist nicht zum Zulieferbetrieb für wissenschaftliche Untersuchungen degradiert worden. Es war genau umgekehrt: Die Schule hat sich etwas vorgenommen; und die Wissenschaftler haben die Rolle von „kritischen Freunden“ übernommen. Anerkennung verdienen also auch die wissenschaftlichen Begleiter von der Pädagogischen Hochschule Heidelberg: Professor Dr. Michael Schallies, Dr. Thomas Häcker und Dr. Jürgen Dumke. 6. Last, not least: Diese ganze mühevolle Arbeit hat den Schülerinnen und Schülern, den Lehrerinnen und Lehrern dieser Schule auch noch Spaß gemacht! Kurz und gut: Carl Friedrich Gauß, mein Göttinger Kollege, hätte an dieser hochmodernen, interdisziplinär ausgerichteten Arbeit sein Vergnügen gehabt. Die Jury war ebenfalls begeistert. Stellvertretend für alle beteiligten Schülerinnen und Schüler, Kolleginnen und Kollegen verleihen wir den 2. Preis des Cornelsen-Förderpreises Zukunft Schule an Frau Silvia Pfeifer, Lehrerin am Gauß-Gymnasium Hockenheim, und Herrn Studiendirektor Joachim Kriebel, stellvertretender Schulleiter dieser Schule. Silvia Pfeifer • Joachim Kriebel • Carl-FriedrichGauß-Gymnasium • Schubertstraße • 68766 Hockenheim Wettbewerbsbeitrag: Portfolio-Prozess am Carl-Friedrich-Gauß-Gymnasium 157 LAUDATIO zum 3. Preis Witlof Vollstädt Seit dem Schuljahr 2004/2005 gibt es an der Gesamtschule Winterhude in Hamburg ein deutlich verändertes Konzept für den naturwissenschaftlichen Unterricht in den Jahrgängen 8 bis 10. Die für die Fächer Biologie, Chemie und Physik zur Verfügung stehenden Unterrichtsstunden wurden gebündelt und in zwei Bereiche aufgeteilt: In 50 Prozent der Unterrichtszeit findet der naturwissenschaftliche Unterricht als fächerübergreifender Projektunterricht in altersgemischten Lerngruppen statt. In der restlichen Zeit können fachspezifische Methoden und Themenschwerpunkte im Epochenunterricht unter Anleitung der jeweiligen Fachkräfte bearbeitet werden. Auf die weiteren Ergebnisse dieses Projektes dürfen wir zu Recht gespannt sein. Die Jury wünscht den Akteuren weiterhin viel Erfolg und verleiht im Rahmen des Wettbewerbs Cornelsen Förderpreis Zukunft Schule den 3. Preis an Herwig Sünnemann und Roland Susel von der Gesamtschule Winterhude in Hamburg. Herwig Sünnemann • Roland Susel • Gesamtschule Winterhude • Meerweinstraße 28 • 22303 Hamburg Wettbewerbsbeitrag: Konzept Naturwissenschaften an der Gesamtschule Winterhude Foto: Cornelsen Verlag Nach einer ersten Evaluation, der nach Meinung der Jury weitere differenziertere Evaluationen folgen sollten, begrüßen etwa drei Viertel der Schülerinnen und Schüler diese Veränderungen, weil sie vor allem gern mit anderen Altersgruppen zusammenarbeiten, sich gegenseitig helfen und so voneinander lernen, im Projektunterricht eigene Themenschwerpunkte setzen und bearbeiten können, selbstständiges Lernen als deutlich nachhaltiger erleben und mit höherer Motivation bei der Sache sind und sich intensiv mit naturwissenschaftlichen und technischen Fragestellungen beschäftigen. Die Jury ist der Meinung, dass dieses Konzept nicht nur erfolgreiche Reformschulbemühungen, sondern auch die im Rahmen nationaler und internationaler Vergleichsstudien geäußerte Kritik an den naturwissenschaftlichen Leistungen deutscher Schülerinnen und Schüler konstruktiv aufgreift. Im Kern geht es hier um eine zielgerichtete und systematische Entwicklung und Förderung grundlegender Lernkompetenzen, vor allem um die Selbstständigkeit und Motivation bei der Bearbeitung naturwissenschaftlicher Fragestellungen sowie um die Befähigung der Schülerinnen und Schüler zum kooperativen, problemorientierten und nachhaltigen Lernen sowie zur Reflexion der Lernprozesse und -ergebnisse. Durch die enge Zusammenarbeit mit dem Pädagogischen Landesinstitut und der Universität Hamburg kann die erforderliche wissenschaftliche Begleitung gewährleistet werden. 158 „Zukunft Schule“ – Cornelsen Förderpreis 2005/2006 LAUDATIO zum Sonderpreis für Referendarinnen und Referendare Klaus-Jürgen Tillmann Englischunterricht in einer 6. Hauptschulklasse in Mannheim – mehr als zwei Drittel der Kinder stammen aus Migrantenfamilien. Unter diesen schwierigen Bedingungen entfaltet die Referendarin Carmen Ellermann einen kreativen Unterricht, der die Schülerinnen und Schüler in engagierte und vielfältige Arbeit setzt. Der Ausgangspunkt ist die didaktische Überlegung, durch Materialien und Ereignisse reale Sprech- und Schreibanlässe zu schaffen. Umgesetzt wird dies mit einer neuen, einer originellen Idee: Drei ausgewählte Maskottchen (die „Buddies“) werden per Post auf eine Weltreise geschickt („Travel Buddies“). Damit werden Freundschaften zu Schulklassen in anderen Ländern aufgebaut. Dies bedeutet, dass man Päckchen mit „typisch deutschem“ Inhalt (Münzen, Fotos etc.) versenden muss – und entsprechende Päckchen aus dem Ausland erhält: Sprechanlässe, Schreibanlässe, Anstöße zu interkulturellem Lernen. Zugleich muss die Gruppe gut kooperieren und gut organisieren, damit alles klappt. Buddy“ stand in der Warteschlange beim Essen, besuchte den Mannheimer Wasserturm, musste zum Zahnarzt. Und über dies alles wurde in Englisch berichtet. Zugleich hing in der Klasse eine große Weltkarte, um die Reisewege der Buddies zu verfolgen – und daran jeweils Landeskunde-Unterricht anzuknüpfen. Der erste Schritt der Realisierung dieses Projekts bestand darin, über das Internet Partnerschulen in den USA, in Australien und in Japan zu finden. Carmen Ellermann fand neun solcher Partnerschulen und musste diese von nun an koordinieren – als eine Art Weltzentrale der Buddy-Reisen. Das Ganze entwickelte eine eigene Dynamik, weil auch die neun Kooperationsschulen jeweils drei Buddies auf die Weltreise schickten. Insgesamt waren also zwischen September und Dezember 2004 dreißig Buddies unterwegs. Carmen Ellermann und die 6. Klasse beherbergten in dieser Zeit insgesamt neun Buddies – vom Bongo-Tiger „Mr. Nelson“ aus den USA bis zum weißen Bären „Magnum“ aus Japan. Die Jury ist der Meinung, dass hier mit hoher didaktischer Kreativität und großem Engagement das Lernen fachlicher und überfachlicher Kompetenzen bei einer als schwierig geltenden Schülergruppe intensiv angeregt und anschließend kritisch evaluiert wurde. Dafür verleiht sie den Sonderpreis für Referendarinnen und Referendare an Frau Carmen Ellermann für das Projekt „Learning English through a Travel Buddy Project“. Die Aktivitäten, die die Schülerinnen und Schüler der 6. Klasse daraufhin entfalteten, sind gut dokumentiert: Der „Travel Carmen Ellermann hat dieses Projekt nicht nur angestoßen und durchgeführt, sondern zugleich auch mit sozialwissenschaftlichen Verfahren evaluiert: Die Befragung in englischer Sprache der Schülerinnen und Schüler in Mannheim und im Ausland und die Befragung der kooperierenden Lehrkräfte gibt Auskunft über die große Begeisterung der Kinder, verweist auf die umfassenden pädagogischen und organisatorischen Leistungen der Lehrkräfte – und macht zugleich einen Hauptkritikpunkt der Schülerinnen und Schüler deutlich: „We want Travel Buddy to stay longer!!!“ Carmen Ellermann • Johannes-Keppler-Ganztageshauptschule mit Werkrealschule in Mannheim • 68159 Mannheim Wettbewerbsbeitrag: Travel-Buddy-Projekt 159 bildung online Die Suchmaschine für Bildungsmedien www.b-o.de die Internetadresse für Bildungsmedien eine Suchmaschine für mehr als 60.000 Unterrichtsmedien mit Kurzinfos immer aktuell – laufend neue Downloads zur Unterrichtsvorbereitung für Lehrer aller Schulen und Fächer, auch der Berufsbildung, geeignet