Italien, maßeshalber

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Italien, maßeshalber
| OUT OF OFFICE 3
FREITAG, 2. JULI 2010
FINANCIAL TIMES DEUTSCHLAND
N ICHTS A LS DIE WAH RH EIT
Italien,
maßeshalber
VON TILLMANN PRÜFER
H
Eine kleine Gruppe von Anzugfans geht weite Wege für ihr Büro-Outfit:
In Internetforen verabreden sie sich zu Gruppenreisen nach Italien –
um sich dort perfekte Businesskleidung maßschneidern zu lassen
Annette Pruefer, AFP/Abdelhak Senna, Getty Images/Image Source, Nina Anika Klotz (2)
Attraktion für Anzugtouristen: In ihrer Ein-Zimmer-Nähstube bei Verona
fertigen Luciano De Togni (o.) und Sohn Adamo (u. r.) maßgeschneiderte
Anzüge – und locken damit Bespoke-Fans aus Deutschland wie Tim K. (u. M.)
Maßkonfektionen fühle ich mich
oft wie in einer Ritterrüstung“, sagt
as Schlimmste, was einem er. „Weil sie innen geklebt statt
Schneider
passieren genäht sind, passen sie sich dem
kann, sagt Adamo De Körper nicht an.“ Max ist aus Berlin
Togni und wirft einen angereist, bei De Togni hat er unter
Blick nach oben Richtung Mutter- anderem einen Smoking in Auftrag.
Tim und Max sind Fremde, die
gottes – möge sie ihm verzeihen! –,
das Schlimmste also ist, wenn der ein gemeinsames Ziel in die nordKunde seine Frau mit zur Anprobe italienische Provinz geführt hat:
bringt. Die Signoras wissen alles Beide möchten sich einen Anzug
besser, und immer gibt es Diskus- fertigen lassen. Bespoke, wie der
sionen. Wenn allerdings ein italie- Kenner auf Englisch sagt, also:
nischer Schneider und sein Sohn maßgeschneidert. Dafür haben sie
an einem Kunden herumzerren, sich einer sehr kleinen Reisegruppe
mamma mia, dann gibt es auch angeschlossen, bestehend aus ihdibattimento: Der Vater zippelt nen beiden und einem Modeberaparlierend am Hosenbein, Sohn ter. Der brachte sie dorthin, wo die
Schneider nur eine
Adamo murrt, während
sprechen – Itaer Stecknadeln in den
Erst in die Sar- Sprache
lienisch –, dafür aber
Kragen rammt. Der
Kunde versteht nur
toria, dann für nach Tims Ansicht ihr
Handwerk beherrschen
quattro stagioni – er
kommt aus Deutsch- Maßhemden in wie nirgendwo sonst
land, ist aber zum Glück
die Camiceria: auf der Welt.
Natürlich klingt so ein
ohne Frau da.
Anstrengend! Unterfangen
erst mal
Tim K. aus Weimar
ganz schön abgehoben.
sieht müde aus. Für die
Anreise mit Billigflieger und Miet- Aber Tim und Max sind nicht die
wagen musste er früh aufstehen, Einzigen, die für ihre Businessheute Abend geht es wieder zurück. kleidung weite Wege gehen. In einEs ist sein zweiter Shoppingtrip schlägigen Modeforen wie Thelonnach Italien zur Schneiderei De donlounge.net tauschen sich SuTogni, und weil zu Hause niemand chende und bereits Eingekleidete
von seinem teuren Hobby wissen aus – und verabreden sich zu Einsoll, bleibt er lieber anonym. „Ir- kaufs-Gruppentrips nach Italien.
Tim und Max zum Beispiel sind
gendwann ergab sich die Notwendigkeit für Maßgeschneidertes“, heute gut 18 Stunden unterwegs,
sagt er, oder einfacher ausgedrückt: morgens eine Anprobe in der Sarto„Alles andere sieht doof aus. Was ria, dann für Maßhemden in die Caman in Deutschland im Laden kau- miceria eine halbe Stunde entfernt,
fen kann, sind Anzüge für Kartons.“ später zurück für die zweite AnproTim ist kein Karton, im Gegenteil, be. Anstrengend. Und Aufwand: ein
er ist sehr schmal gebaut – und nor- Urlaubstag! Hin- und Rückflug! Womale Anzüge von der Stange sind für nur? Kann man so etwas denn
ihm zu weit geschnitten. Maß- nicht auch in Deutschland …?
Natürlich kann man. Nur zu welkonfektion, also die Kompromisslösung aus Massenfertigung und chem Preis: Adamo und Luciano De
Schneiderhandwerk, findet er Togni stellen für einen Zweiteiler
ebenfalls nicht optimal – und ist 1200 € in Rechnung, Arbeitsmatedamit einer Meinung mit Max B., rial wie Zwirn und Innenfutter
Beteiligungsmanager in einem eingerechnet, Stoff exklusive. Der
großen Medienunternehmen. „In Münchner Anzugschneider Max
VON NINA ANIKA KLOTZ, RALDON
D
Dietl verlangt für die Manufaktur
inklusive Zutaten 3880 €, Volkmar
Arnulf in Berlin, bei dem Helmut
Kohl seinerzeit schneidern ließ,
möchte 2850 € ohne jedes Material, nur fürs Anfertigen. Zwar findet
man in Deutschland auch unberühmte Schneider, die gute Anzüge
herstellen können – für weniger als
2000 € macht’s aber keiner. So
rechnet sich der italienische Anzug
trotz mindestens zweier Italienflüge für die Anprobetermine.
Das Schneiderei-Erlebnis mit
Sinnesgenossen und ein bisschen
Bella Italia gibt’s obendrauf. „Früher war es ganz normal, dass Männer viel Zeit bei ihren Schneidern
verbrachten“, sagt Max. Heute ist
das eher ein Luxus, den er genießt,
für den aber freilich nicht jeder
Pflichtanzugträger Verständnis hat.
Bespoke-Reisende machen deshalb oft ein Geheimnis aus ihren
Italienfahrten: Es muss nicht jeder
wissen, dass man rund 2000 € plus
Reisekosten für seine Bürouniform
ausgibt.Die Entscheidung für Maßschneiderei sei eine sehr persönliche Sache, findet dann auch Tim,
der gerade im leuchtstoffgrellen
Anprobezimmer der De Tognis vermessen wird. Brust, Gesäß, Beinund Armlänge, das war’s. Maßkonfektionäre nehmen gefühlte
hundert Maße mehr, die sie alle in
einen Computer eingeben, der später einen fast passenden Anzug ausspuckt. Damit aus „fast“ ein „perfekt“ wird, sind nicht schnöde Zahlen nötig, sondern der kritische
Blick eines erfahrenen Schneiders
wie Luciano. Der 69-Jährige scannt
den Kunden nach körperlichen
Defiziten ab: hängende Schultern,
nach hinten oder vorn kippend,
runde Rücken, eng zusammenstehende Oberschenkel und natürlich
kleine und nicht so kleine Wampen.
Das alles wird vermerkt, ganz heimlich. Niemals spricht De Togni die
difetti an. Und nein, der Schneider
fragt auch nie: „Links- oder Rechts-
träger?“ Das ist eine Mär, die nett zu ne?“ Va bene. Was soll Tim anderes
erzählen, in Wahrheit aber Unfug sagen, ihn überfährt ja schon die
ist. Einzig das Thema Bauch muss, nächste Frage: Revers? Steigend?
so vorhanden, offen diskutiert wer- Fallend? „Muss ich dazu eine Meiden: Bund darüber oder darunter? nung haben?“ Sì! Die Schultern –
Deutsch ist drunter. Italienisch wie hoch, wie breit? Neapolitadrüber. Der Kunde ist König, er ent- nisch? Wie groß die Taschen? Wie
scheidet. Die menschlichen Makel, schief? Der Abstich? Hä? Was mag
zusammengefasst unter dem Be- ich? Wer bin ich? Und wenn ja,
griff „Problemfigur“, sind ein weite- welche Größe?
Ihr Vorteil ist zugleich der Nachrer, für viele entscheidender Grund,
teil der Maßschneiderei: Man kann
maßanfertigen zu lassen.
Das große Problem ist freilich: so entsetzlich vieles selbst entWie bitte findet der Kunde aus scheiden. Im Grunde geht alles. Nur
Deutschland einen wie De Togni in was? Während namhafte sarti wie
Raldon, einem 3300-Einwohner- Gianni Campagna in Mailand ihren
Dorf, 20 Autominuten von Verona, Hausstil durchziehen, arbeitet De
regional bekannt einzig für sein Togni strikt nach den Wünschen
des Kunden – so der
„Festival della Pizza“?
a) welche hat und
Woher soll der FremdFrage: Revers? denn
b) sie ausdrücken kann.
ling wissen, dass LuKurz bevor die Deutciano De Togni mit seiSteigend? Falschen mit der Gewissnem Sohn in einer EinZimmer-Nähstube seit lend? „Muss ich heit abreisen, in ein
48 Jahren so exzellente
dazu eine Mei- paar Wochen perfekt
Anzüge abhoAnzüge
schneidert,
nung haben?“ sitzende
len zu können, kommt
dass die Dottores aus
es noch zu einer lautMilano scharenweise zu
ihm kommen? Seine Suche nach starken Diskussion über die Länge
einem italienischen Schneider hat eines Hosenbeins. Es geht um
auch Tim im Internet begonnen – Hochwasser in Venedig und die
und dort in einem Forum Herbert physischen Anlagen des Italieners
Stricker kennengelernt, einen in an sich, der versucht, mittels knapItalien aufgewachsenen Mode- per Hosenbeine mehr Körpergröße
kenner und Geschäftsmann. Stri- vorzutäuschen. Unausgesprochen
cker organisiert Gruppenreisen geht es auch darum, dass die De
nach Italien und bietet individuelle Tognis eigentlich keine Lust haben,
Bespoke-Beratung über seine Web- eine bereits finalisierte Naht wieder
site an. Auf Wunsch nimmt er sich aufzutrennen. Als Adamo schließder Maßanzugfans ohne Italie- lich die Tür hinter den tedesci
nischkenntnisse an, um ihnen ers- schließt, seufzt er ermattet und voll
tens Leute wie De Togni vorzustel- südländischer Dramatik: „Morgen
len und zweitens bei der Bestellung steht in der ,L’Arena‘: ‚Zwei Schneizu helfen. Sprachlich. Und wenn es der aus Raldon haben sich aus Versein muss, auch als Ersatz für die zweiflung über deutsche SonderGott sei Dank nicht anwesende wünsche umgebracht!‘“
Dann macht er sich an die Arbeit.
Ehefrau, indem er Verbesserungsvorschläge einbringt und Entschei- Hosenbeine ändern.
dungen trifft.
Beinweite? Po? Schritt? Stulpen? AUF NACH ITALIEN Experte Herbert
Bitte, was sind Stulpen? Tim wirkt Stricker hat seinen Onlineauftritt unter
gestresst. Stricker entscheidet: www.gentlemansgazette.com/de, Bespoke„Sechs Zentimeter Stulpen. Va be- Forum unter www.thelondonlounge.net
allo, ich bin die Mittelschicht,
Ich schufte für mein Geld.
Doch nur behalten darf ich’s nicht,
So ist sie, meine Welt.
Ich kriege nix von dem Gehalt,
Der Staat behält es ein.
Es wird mir fast nichts ausgezahlt –
Nur mal ein kleiner Schein.
Der Staat sagt, es sei besser so,
Ich käm damit schon aus.
Ich sei doch meistens im Büro
Und bräuchte doch kein Haus.
Nur etwas Kaffee, etwas Tee
Und manchmal Vitamine,
Das sei zum Leben voll okay
Und gäb’s in der Kantine.
Ach, wäre ich doch arbeitslos,
Dann säße ich zu Haus,
Vom Staats gäb’s stets ne Menge Moos,
Das gäbe ich dann aus.
Dann würde ich ein Auto fahrn,
Am besten BMW,
Und führe auf der Autobahn
Zu meinem Haus am See.
Ich bräuchte dazu auch ein Boot
Und Flachbild mit HD
Und wählte bei den Wahlen rot
Und niemals FDP.
Doch leider hab ich einen Job,
Nen echten Arbeitsplatz.
Drum finanziere ich den Mob,
Sonst droht er mit Rabatz.
Mir soll das recht sein, bitte sehr,
Ich nehm die Sache leicht.
Ich schufte gern auch etwas mehr,
Wenn euch das Geld nicht reicht.
Ich weiß schon,
Wer viel Geld verprasst,
Braucht bald davon noch mehr.
Zu großer Wohlstand ist ne Last,
Ein Sack voll Gold wiegt schwer.
Ich hab ein Hemd und ein Stück Brot,
Das füllt mir meinen Magen.
Und schufte ich mich einmal tot,
Dann könnt ihr mich verklagen.
DA S WI LL I C H AU C H !
Die Sonnenbrille von
König Mohammed VI.
Am Ende ist ja fast alles eine Frage der
Reife. Mit zunehmendem Alter kriegt
man eben nicht nur Stirnfalten, Pigmentflecken und Nasenhaar-Wildwuchs – es ändert sich auch die Funktion, die man Alltagsgegenständen
beimisst. Nehmen Sie nur Sonnenbrillen. Als 16-jähriger Akne-Jungspund weiß man ziemlich präzise, wozu diese Produkte da sind: Man kann
damit am Strand absolut unbemerkt
die Bikinimädels begaffen, vor allem,
wenn die Brille auch noch verspiegelt
ist. Einfach den
Kopf leicht abwenden und
seitlich rüberlinsen – dank
Sonnenbrille
sieht kein
Mensch, wo
man gerade
hingeifert. Dass
man sich mit
getönten Gläsern auch
gegen grelles
Sonnenlicht
schützen kann,
schnallt man
bewusst erst ab einem gewissen Punkt
im Leben – so mit Ende 20, auf jeden
Fall aber in dem Alter, in dem sich
Mohammed VI. gerade befindet. Mohammed VI. ist der König von Marokko, ein Mann, der ohnehin ein Faible
hat für schicke Kleider und Designersonnenbrillen. Jetzt erschien er zur
Einweihung eines riesigen Windparks
nahe Tanger mit klassisch verspiegelter Pilotenbrille – einem Modell, nach
dem sich in den frühen 90ern jeder
Teenager am Strand die sandigen
Wichsgriffel geleckt hätte. Mohammed VI., ohnehin einer von der muskulös-wandschrankartigen Fraktion,
sieht auf Fotos dieser Veranstaltung
aus wie sein eigener Bodyguard. Mit
royaler Effizienz nutzt er beide Funktionen seiner Spiegelbrille: Einerseits
müssen seine Königsäuglein nicht
gegen die grelle Sonne Marokkos
ankniepen. Und andererseits kann
er – wenn die üblichen WindparkEröffnungsreden allzu öde werden –
andere Leute beobachten. Absolut
unbemerkt. Schön, wenn man im
Geiste jung geblieben ist. RAINER LEURS
PI LOTEN-SON N EN BRI LLE
verspiegelt, etwa über ASMC, 7,99 €,
www.asmc.de