Predigt Nr - EMK Bülach–Oberglatt
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Predigt Nr - EMK Bülach–Oberglatt
Bibelarbeit zur Passionsgeschichte THEMA: ICH GEHÖRE DAZU … Pfr. Daniel Eschbach am 26.03.2016 im Gemeindewochenende der EMK Bülach-Oberglatt Die Passionsgeschichte ist insgesamt ein bedrückendes Schauspiel. Es braucht noch nicht einmal die realistische Darstellung der Gewalt- und Kreuzigungsszenen (→ wie in Mel Gibsons deswegen umstrittenem Spielfilm ‚THE PASSION‘) um betroffen zu sein von dem unglaublich Schweren, dass Jesus auf seinem Leidensweg durchmacht. Als ZuschauerIn, als LeserIn möchte man gerne reinfunken und den Soldaten, den jüdischen Leadern, dem Volk, Pilatus … zurufen, sie sollten aufhören. Es ist doch falsch, einen ‚Unschuldigen‘ so zu plagen und leiden zu lassen. Diesen Impuls sollen LeserInnen und HörerInnen von Jesu Passionsgeschichte durchaus empfinden. Es soll betroffen machen, was Jesus durchmacht. Aber noch mehr. Wir sollen merken ( und darüber betroffen sein), dass Jesus diesen Weg ja auch für uns, wegen uns geht. Wir gehören dazu, zu denen die Jesus plagen, foltern, leiden lassen. Auch für, ja wegen uns, hat er das auf sich genommen. Es ist, wie es ein Lied aus unserem Gesangbuch sagt: Ich gehöre dazu, zu den Dränglern und Rufern … EMK-GB Nr. 212, Liedtext von Kurt Rose ‚Ich gehöre dazu …‘ Auch wegen mir musste Jesus seinen schweren Weg gehen. Wir trugen und tragen zu seinem Leiden bei. Wir sind erlösungsbedürftig und angewiesen auf das, was er für uns in seinem Weg ans Kreuz vollbracht hat. – Es ist Ziel und Absicht der ntl. Passionsberichte, dass bei LeserInnen und HörerInnen diese Erkenntnis ‚einschlägt‘. Adam Hamilton zeigt in seinem Buch eindrücklich auf, wie sich in vielen Personen etwas davon spiegelt, warum auch ich erlösungsbedürftig bin. – Mit diesem Fokus gehe ich nun auf verschiedene Figuren der Passionsgeschichte ein, immer mit der Frage: Inwiefern spiegelt sich meine eigenes Tun und Lassen in dem, was Judas, Petrus ….. rund um Jesu Passion tun? Was kann ( muss?) ich von ihnen über meine eigene Erlösungsbedürftigkeit lernen. Ich im Spiegel der Passionsgeschichte a) Judas Iskarioth Danach ging einer der Zwölf – es war Judas Iskariot – zu den führenden Priestern. Er fragte: »Was gebt ihr mir dafür, dass ich euch Jesus in die Hände liefere?« Sie zahlten ihm dreißig Silberstücke. Von da an suchte Judas nach einer günstigen Gelegenheit, um ihnen Jesus in die Hände zu liefern. Judas, einer der Zwölf, näherte sich ihm. Mit ihm kam eine große Truppe, die mit Schwertern und Knüppeln bewaffnet war. Die führenden Priester und Ratsältesten hatten sie geschickt. Der Verräter hatte mit den Männern ein Erkennungszeichen ausgemacht: »Wem ich einen Kuss gebe, der ist es. Nehmt ihn fest!« Judas ging sofort auf Jesus zu. Er sagte: »Sei gegrüßt, Rabbi!« Dann gab er ihm einen Kuss. Doch Jesus sagte zu ihm: »Mein Freund, dazu bist du gekommen?« Matthäus 26,14-16.37-50a Wenn ich die Passionsgeschichte als Spiegel meines Lebens und Verhaltens lese, dann muss ich fragen: Steckt etwas von Judas in mir? – Ein erschreckender Gedanke. Schliesslich spielt Judas in der Passionsgeschichte von allen ‚Bösewichten‘ die unsympathischste Rolle. Sein Name ist sprichwörtlich geworden für verräterisches Verhalten. Ein Verräter will aber niemand sein. Auf keinen Fall! Judas hatte sich in den engsten Jüngerkreis von Jesus berufen lassen. Er war überzeugt, den Richtigen, den Messias gefunden zu haben. Er hatte sich engagiert für das Reich Gottes. Jesus war nicht nur sein Herr, sondern vor allem auch sein Freund gewesen. – Was ist passiert, dass Judas den Entschluss fasste, Jesus an die jüdische Obrigkeit auszuliefern? Wie brachte er es fertig, in dieser Nacht am Rand des Gartens von Jesus als Freund angeredet zu werden … und dennoch das verabredete Zeichen zu geben und damit der Auslöser zu sein für Jesu Verhaftung, Prozess, Verurteilung und Tod? Die Evangelien erklären Judas‘ Verhalten als Verführung durch den Satan (so z.B. Jh 13,2). - Klar! Dem ist kaum zu widersprechen. Aber es ist eine Verurteilung, ja Dämonisierung des Judas. Als Erklärung hilft sie nicht weiter, vor allem dann nicht, wenn ich verstehen will, wie ich es vermeiden kann, selbst in die gleiche Falle zu tappen. Darum: Was könnten die Gründe für Judas‘ Verhalten gewesen sein? - Blosse Geldgier halte ich für unwahrscheinlich. Wäre Judas auf Geld aus gewesen, hätte er Jesus lange vor der Passionswoche wieder verlassen. Eher begann es mit der Enttäuschung, als Judas merkte, dass Jesus das Reich Gottes nicht so durchsetzen würde, wie er es hoffte. Jesus verweigerte sich der Idee, die politischen Verhältnisse in Jerusalem auf den Kopf zu stellen und als neuer König David Israel zu alter Grösse zu führen. Das aber musste der Messias doch. Davon war Judas überzeugt (seit er vor der Begegnung mit Jesus ein Anhänger der Zeloten, einer rebellischen Gruppe im Untergrund, geworden war ). Jesus verfolgte die falsche Strategie. Also reifte in Judas der Gedanke, dass er Jesus zum Handeln zwingen müsste. Wenn er Jesus an die Juden ausliefern würde, dann würde dies– so könnte das Kalkül des Judas wohl gewesen sein – einen Verteidigungsreflex in Jesus auslösen. Dann würde er endlich doch noch zum Widerstand aufrufen. Und dann würden viele bereit sein zu kämpfen, sogar die Jünger. Diese Kampf- und Widerstandsbereitschaft kann man ja dann daran ablesen, dass bei Jesu Gefangennahme ein Jünger einem Knecht das Ohr abgeschlagen hat. Und auch der Umstand, dass das Volk den Untergrundkämpfer Barrabas Jesus vorzog, ist ein Zeichen dafür. Judas Kalkül war nicht so falsch. Nur einen Fehler machte er. Er rechnete nicht damit, dass Jesus sich widerstandslos in sein Schicksal ergeben würde. Darum lief es dann überhaupt nicht so, wie er sich das vorgestellt (und gehofft) hatte. Judas wollte doch nicht Jesu Untergang. Er wollte nur, dass er endlich aktiv würde, d.h. für das Reich Gottes und das Volk Israel – notfalls auch mit Gewalt - kämpfte. Die Geschichte entwickelte sich dann aber so, dass sie für Judas zum GAU (→ ‚grösster anzunehmender Unfall) wurde. Darum stürzte er ins Bodenlose, geriet in tiefste Depression und nahm sich das Leben, kaum dass Jesus gestorben war. Ostern erlebte Judas nicht mehr. Was von Judas steckt in mir? Wo bin ich gefährdet, statt auf Gott zu hören, ihn in mein Schema, meine Vorstellung zu pressen? Bin ich womöglich auch fähig und bereit, um eines höheren Zweckes willen ( sogenannte Sachzwänge) Nachteile für andere bewusst in Kauf zu nehmen, Beziehungen und gar Freundschaften aufs Spiel zu setzen? Judas ist eine tragische Gestalt: Hin und her gerissen; von Angst geleitet; tatsächlich in der Lage, die eigene beschränkte Sicht auf die Welt für die ganze Wahrheit zu halten. Und so tut er das Falsche und verrät – ausgerechnet mit einem Kuss – seinen besten Freund. – Übrigens: Das griechische Wort für ‚Kuss‘, das hier in der Bibel steht, ist ein Begriff, der echte gegenseitige Zuneigung ausdrückt. Das zeigt sein ganzes Dilemma: Judas liebt Jesus, aber er ist auch bereit, ihn zu verraten. Er liebt ihn, aber er ist auch enttäuscht von ihm. Er liebt ihn, aber er verkauft seinen Freund für 30 Silberstücke. Was ist eigentlich mit Judas nach Ostern? Manche Ausleger sagen, wenn Jesu Gnade unendlich sei, müsse er Judas schliesslich vergeben haben. Judas gehöre in den Himmel und das sei das ultimative Zeichen der Gnade Gottes. Andere Stimmen – und sie haben Jahrhunderte lang dominiert und sind wohl auch heute noch stärker, widersprechen dieser Sicht und sehen Judas in der Hölle schmoren. Frage zur Vertiefung: Was meinen Sie? Wenn Judas Jesus um Gnade gebeten hätte, hätte sie ihm Jesus dann wohl gewährt? b) Jesu Jünger Nicht nur Judas, sondern alle seine engsten Jünger scheitern an der Aufgabe, als seine Freunde Jesus auf seinem schweren Weg zu unterstützen. Sehr schnell sind in der Passionsgeschichte alle von der Bildfläche verschwunden. Und schon vorher zeigt sich im Garten Gethsemane, dass sie der Situation nicht gewachsen sind. Matthäus erzählt so davon: Dann kam Jesus mit seinen Jüngern zu einem Garten, der Getsemani hieß. Dort sagte er zu seinen Jüngern: »Bleibt hier sitzen. Ich gehe dort hinüber und bete.« Er nahm Petrus und die beiden Söhne des Zebedäus mit. Plötzlich wurde er sehr traurig und Schrecken überfiel ihn. Da sagte er zu ihnen: »Ich bin ganz verzweifelt. Am liebsten wäre ich tot. Wartet hier und wacht mit mir.« Jesus selbst ging noch ein paar Schritte weiter. Dort warf er sich zu Boden und betete: »Mein Vater, wenn es möglich ist, erspare es mir, diesen Becher auszutrinken! Aber nicht wie ich will, soll es geschehen, sondern wie du willst!« Jesus kam zu den drei Jüngern zurück und sah, dass sie eingeschlafen waren. Da sagte er zu Petrus: »Könnt ihr nicht diese eine Stunde mit mir wach bleiben? Matthäus 26,36-40 Man muss die Jünger ja schon verstehen. Manchmal ist das Schlafbedürfnis einfach zu stark (→ Fragt mal meine Familie, wie oft ich mich schon abends aufs Sofa gesetzt habe um eine bestimmte TV-Sendung zu sehen … von der ich dann kaum etwas mitgekriegt habe). Wie schläfrig macht nach üppigem Essen ein voller Bauch! Ausser- dem ist Mitternacht längst vorbei. - Doch das ändert nichts an der Challenge: Jesus hätte seine Freunde jetzt wach gebraucht. Und sie schafften es nicht. Es ist bei Jesus nicht anders als bei uns. In Momenten, in denen wir Angst haben, wütend sind oder traurig, brauchen wir Freunde, mit denen wir diese Gefühle teilen können. Wir brauchen auch unseren Petrus, Johannes und Jakobus. Häufig müssten sie dabei gar nicht viel sagen. Jesus bittet die drei ja auch nicht um Rat oder um aufmunternde Worte. Er möchte, dass sie einfach nur da sind. – Dreimal versucht er es. Dreimal findet er die Jünger danach wieder schlafend. Und das Fazit lautet: «Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach.» (Mt 26,41) Das erleben wir auch. Wir wissen, was gefordert oder erwartet ist. Wir sind sogar willig, das auch zu geben, wollen da sein für Freunde. Doch wir sind zu schwach. Wir kriegen nicht hin, was wir wollen oder uns vorgenommen haben. Und wir fühlen uns schuldig, weil ein Mensch wegen unserer Schwäche im Stich gelassen wird, weil ein(e) Freund(in) allein bleibt. Und vermutlich ist mir das nicht nur Menschen gegenüber, sondern auch mit Jesus schon passiert. Fragen zur Vertiefung: Habe ich einmal Freunde so im Stich gelassen wie die Jünger Jesus? – Und: Wann, wo habe ich es nicht geschafft, Jesus so zu unterstützen, wie er sich das von mir gewünscht hätte? c) Petrus Ich bin manchmal wie die Jünger, die vom Schlaf übermannt werden, als sie Jesus betend unterstützen sollten. Manchmal gleiche ich ihnen – vor allem Petrus – auch, wenn ich mehr verspreche, als ich halten kann. Oder wenn ich, unter Druck geraten, dann doch lieber die eigene Haut rette. Trotz Warnung gelingt es Petrus nicht, bis zuletzt zu Jesus zu halten, obwohl er doch nichts Anderes wollte und versprochen hat: Jesus sagte zu seinen Jüngern: »Ihr werdet euch alle von mir abwenden …« Aber Petrus widersprach ihm: »Auch wenn sie sich alle von dir abwenden – ich nicht.« Jesus antwortete ihm: »Amen, das sage ich dir: Heute, in dieser Nacht, noch bevor der Hahn zweimal kräht, wirst du dreimal abstreiten, dass du mich kennst.« Aber Petrus behauptete noch fester: »Sogar wenn ich mit dir sterben muss – ich werde nie abstreiten, dich zu kennen.« aus Mk 14,27-31 Wer immer Petrus für seine Verleugnung kritisiert, sollte freilich zunächst anerkennen, wie mutig dieser Jünger lange war. Es mag dumm gewesen sein von ihm. Aber bei der Gefangennahme Jesu ist er der einzige, der es wagt, für ihn zu kämpfen. Und während alle anderen bereits in diesem Moment fliehen, folgt Petrus Jesus bis in den Palast des Hohenpriesters und mischt sich dort unter die Bediensteten, um mitzukriegen, was mit Jesus geschieht. Ich glaube, ich wäre nicht annähernd so weit gekommen wäre. Ich entdecke mich eher in dem jungen Mann, der bei der Gefangennahme sogar seine Kleider zurückliess und nackt floh ( vgl. Mk 14,51f) – Da handelte Petrus noch eine ganze Weile nach seinem Treueversprechen. Doch als er dann im Hof des Hohepriesterpalastes aufzufliegen droht, behauptete er dreimal, nicht zu Jesus zu gehören, ja ihn nicht einmal zu kennen. – Ein Reflex. In die Enge getrieben, dominiert bei Petrus der Überlebenstrieb. Was dabei vor sich geht, wird ihm zu spät klar. Erst als kurz darauf sich Petrus’ Blick mit dem von Jesus kreuzt, schaltet das Denken wieder ein. Damit erwacht das Schuldbewusstsein. Und dann ist es um ihn geschehen. Petrus bricht weinend zusammen und flieht, wie vorher schon alle anderen. Wie ist diese ganze Geschichte zu werten? – Adam Hamilton stellt fest (vgl. S.69:) Die Geschichte von Jesu Verleugnung ist eine der wenigen Episoden, die von allen vier Evangelien berichtet wird. Das unterstreicht ihre Wichtigkeit. Doch sie wurde bestimmt nicht erwähnt, um Petrus zu beschämen. Die Evangelien wurden ja erst geschrieben, nachdem (der Überlieferung nach) Petrus wegen seines Glaubens mit dem Kopf nach unten gekreuzigt worden war. Die Verfasser der Evangelien wussten von diesem Zwischenfall nur, weil Petrus selbst regelmässig davon erzählt haben muss. Dabei war ausser ihm ja wohl keiner (ausser vielleicht Johannes) gewesen. Petrus muss davon erzählt haben, wenn er predigte. Vielleicht hat er das etwa so getan (Stellt Euch Petrus als Gastprediger in einer erst gegründeten christlichen Gemeinde nach Ostern vor): «Ich weiss, dass ihr Jesus verleugnet habt. Das habe ich selbst nämlich auch getan. Ich habe ihn auf eine Weise verleugnet, für die ich mich zutiefst schäme. Aber ich muss es euch trotzdem erzählen: Ich habe den Herrn verleugnet, aber er war mir gnädig und hat mich wieder aufgenommen. Und wenn ihr ihn verleugnet habt, dann wird er auch euch wieder annehmen.» Petrus bezeugt: Auch wenn es Situationen gibt, in denen wir alle Christus verleugnen, nimmt er uns trotzdem wieder an und setzt uns ein, um sein Werk zu vollenden. Und von diesem Moment an verleugnete Petrus Jesus jedenfalls nie mehr. Diese Geschichte von Petrus’ Verleugnung hat – so tragisch sie auch ist – vielen Menschen geholfen auf ihrem Weg der Nachfolge, gerade wenn ihnen vielleicht der Faden gerissen war und sie neu anzuknüpfen suchten. Frage zur Vertiefung: Wie geht es uns damit? Inwiefern ermuntert/motiviert mich Petrus Geschichte mit Jesus über Passion und Ostern? Und wie fordert sich mich besonders heraus? d) Hohepriester, Schriftgelehrte und Pharisäer Ausgelöst hat die Verhaftung Jesu zwar der Verrat durch Judas. Dahinter stand aber die führende Schicht im Volk Israel, bestehend aus Hohepriester, Priestern, Schriftgelehrten und wohl auch etlichen Pharisäern. Sie wollten Jesus weghaben. Warum? Was steckt dahinter? – A.Hamilton schreibt (vgl. S.57ff): «Christen glauben, dass in Jesus Gott als Mensch auf diese Erde gekommen ist. So gesehen ist er wie ein Kaiser, der inkognito seine Untertanen besuchen will. Der Schöpfer des Universums lebt als Wanderprediger, Lehrer, Zimmermann, Heiler – und vor allem als Armer bei uns, als unseresgleichen. Er heilt Kranke, vergibt Sündern, zeigt denen, die verloren sind, Mitgefühl und macht den Menschen deutlich, wie Gott wirklich ist. Die Ironie ist kaum zu übersehen: Es sind nicht die ‘Sünder’, die den Mensch gewordenen Gott verhaften lassen, der unter uns lebt, sondern die frömmsten und gläubigsten Leute der damaligen Zeit. Der Gott, dem zu dienen sie behaupten, lebt als Mensch unter ihnen, aber sie erkennen ihn nicht. Sie sind so geblendet von ihrer Liebe zur Macht und von ihrer Angst, diese Macht zu verlieren, dass sie ihn nicht erkennen. Die Menschen also, von denen man am meisten erwarten müsste, dass sie Jesus erkennen und ihm zujubeln, ausgerechnet sie nehmen ihn fest, machen ihm den Prozess, befinden und für schuldig. Die Frömmsten der Frommen überführen Gottes eines Verbrechens, das die Todesstrafe verdient haben soll – Gotteslästerung gegen sich selbst.» WIE IST DAS MÖGLICH? Wie können 71 (→ so viele Mitglieder hatte der Hohe Rat bzw. Sanhedrin) rechtschaffene, gottesfürchtige Männer so etwas tun? – Die Antwort lautet: Aus Angst. Diese Leute sehen in Jesus eine Bedrohung für ihren Lebensstil, ihre Autorität und ihren Status im Volk Israel. Sie drohen so viel zu verlieren. Jesus ist in ihren Augen eine Bedrohung für die gesamte Ordnung der Gesellschaft. Angst leitet die führenden Juden damals in ihrer Aktivität gegen Jesus … so wie ich mich manchmal auch von Angst leiten lasse. Nun gehört Angst ja zum Menschsein dazu. Sie ist ein Teil unseres Selbsterhaltungstriebes und kann in manchen Situationen hilfreich, sogar lebensrettend sein. Auf der anderen Seite ist leider gerade unser Selbsterhaltungstrieb nicht geschützt vor unserem Hang, das Falsche zu tun (→ sündigen). In uns allen steckt etwas Destruktives. Wir neigen dazu, das Falsche zu tun, zu verdrehen, was eigentlich zum Guten gedacht ist, es zu missbrauchen und zu verzerren. Darum hat Angst oft auch eine vergiftende Wirkung, vor allem, wenn sie unsere stärkste oder ganz einzige Motivation zum Handeln ist. Wie weit werden wir von Angst verleitet, als Einzelpersonen, aber auch als ganze Völker, das Falsche zu tun … und dann dieses Handeln auch noch als zwingend notwendig zu rechtfertigen? – (Übrigens: Wie stark ist wohl das Reagieren nach den neusten Terroranschlägen in Europa von destruktiver Angst geleitet? Auf dem Hintergrund der Passionsgeschichte kann, ja muss man m.E. fragen: Kann es zielführend sein, wenn wir uns in der Reaktion auf den Terror von der Angst davor, was wir verlieren könnten, leiten lassen?) Da richtig einzuschätzen und gut zu reagieren, ist im Moment ausgesprochen schwierig. Ein bisschen einfacher scheint es manchmal im geschichtlichen Rückblick: Welche Rolle spielte Angst beim Rassismus in den USA in den 50er- und 60er-Jahren oder bei der Apartheid in Südafrika? Was war, als in der Schweiz Fahrenden ihre Kinder weggenommen wurden, junge ledige Mütter zur Abtreibung gezwungen und in Erziehungsanstalten gesteckt wurden, als Juden an der Grenze zurück nach Nazi-Deutschland geschickt wurden …. war solches aus heutiger Sicht total falsches Verhalten nicht vor allem angstgeleitet? Und doch noch einmal etwas Aktuelles: Heute, in unseren Aktionen in der Flüchtlingskrise, wie oft ist da (gesellschaftlich gesehen) pure (Verlust-)Angst unser Ratgeber (oder gar ‘Diktator’) … und bringt uns womöglich dazu, Dinge zu tun, die wir später zutiefst bereuen werden? ANGST HAT EINE UNGLAUBLICHE MACHT ÜBER MENSCHEN. Es ist so: Wenn wir unsere Berufung zu lieben überschatten lassen von unserer angeborenen Angst, dann sind wir fähig, unausdenkbar Falsches zu unterstützen oder sogar selbst zu tun. – Und der Ausweg (vgl. A.Hamilton, S.60f): «Die Frage, die wir uns als Christen sowohl für unser persönliches Leben als auch in Bezug auf das Verhalten in der Gesellschaft stellen müssen, lautet nicht: ‘Was bietet mir am meisten Sicherheit?’, sondern ‘wie verhalte ich mich am liebevollsten?’ Am Ende siegt die Liebe auf eine Weise, wie es Angst und Hass und Gewalt niemals können. Und genau das lehrt uns die Bibel darüber, wie Gott handelt. Ich denke dabei an Formulierungen aus dem 1. Johannesbrief: «Wir haben die Liebe, die Gott uns schenkt, kennengelernt und im Glauben angenommen. Gott ist Liebe. Und wer in der Liebe lebt, lebt in Gottes Gegenwart und Gott ist in ihm gegenwärtig. Darin ist Gottes Liebe bei uns ans Ziel gelangt: Am Tag des Gerichts werden wir voller Zuversicht sein. Denn wie Christus untrennbar eins ist mit dem Vater, so sind es auch wir – schon hier in dieser Welt. Die Liebe kennt keine Furcht, sondern die vollkommene Liebe vertreibt die Furcht. Denn Furcht rechnet mit Strafe. Bei dem, der sich fürchtet, ist die Liebe noch nicht an ihr Ziel gelangt. Wir können ja nur lieben, weil er uns zuerst geliebt hat. Wer behauptet: »Ich liebe Gott!«, aber seinen Bruder und seine Schwester hasst, ist ein Lügner. Schließlich sieht er seine Geschwister vor sich. Wenn er sie dennoch nicht liebt, kann er Gott erst recht nicht lieben. Denn Gott kann er ja nicht sehen.» (1.Jh 4,16-20) Frage zur Vertiefung: Wie vermeide ich, dass meine angeborene Angst mich stärker bestimmt als meine Berufung zur Liebe? – Was wäre wohl eine angstfreie, an Jesu Verhalten orientierte, gesellschaftliche Reaktion auf Terror? e) Pontius Pilatus Die führenden Juden in Jerusalem konnten das Todesurteil gegen Jesus nicht selbst rechtsgültig fällen und vollstrecken. Dazu waren sie auf Pontius Pilatus angewiesen. Er war von 26-36 n.Chr. römischer Gouverneur in Judäa. Er war ein Karrierist und skrupelloser Machtmensch, der ohne zu Zögern auch über Leichen ging, wenn das seinen Zielen diente. Jesus gegenüber legt er allerdings ein anderes Verhalten an den Tag. Die Evangelisten berichten übereinstimmend, dass er die Hohepriester und ihr Gefolge durchschaute. Es ist ihm klar, dass es Unrecht ist, Jesus hinzurichten. Und offensichtlich beunruhigt Pilatus die Begegnung mit Jesus, durch die er sich selbst zutiefst hinterfragt erlebt. Er versucht zunächst, Jesus das Todesurteil zu ersparen (Vorschlag, Jesus oder Barrabas freizugeben; Versuch, die ‘Juden’ zu überzeugen, es mit einer Auspeitschung bewenden zu lassen). Später unternimmt er alles, um nicht für das Todesurteil verantwortlich gemacht werden zu können (Jesus zu Herodes schicken; Hände in Unschuld waschen). Unter dem Strich ist aber doch festzuhalten. Pilatus gibt dem Druck nach und fällt – wider besseres Wissen – das geforderte Todesurteil und befiehlt seine sofortige Vollstreckung. Warum hält Pilatus dem von den Hohepriestern angestachelten Mob nicht stand? Er hätte die Mittel dazu in der Hand gehabt und wäre stark genug gewesen. Die Antwort lässt sich in einem Wort zusammenfassen: GRUPPENDRUCK. Pilatus ist ein krasses Beispiel dafür, wie Menschen dem Gruppendruck erliegen. Zwar würden wir gerne das Richtige tun. Aber wir möchten dafür nicht gegen den Strom schwimmen müssen. Schliesslich wollen wir dazu gehören oder wenigstens respektiert werden. Niemand liebt es, ausgegrenzt, angefeindet und verurteilt werden. Wenn wir aber zulassen, dass die Meinung der anderen unser Reden und Handeln bestimmt, wenn wir unsere Haltung und Meinung nur nach der Mehrheit richten, verlieren wir unsere Selbständigkeit. Und das führt dazu, dass wir schweigen, wenn wir reden sollten, und dass wir Dinge unterstützen, von denen wir wissen, dass sie falsch sind. Das Beispiel von Pilatus warnt uns, wie leicht sogar mächtige und einflussreiche Leute sich fernsteuern lassen und dann wider besseres Wissen das Falsche tun und sagen. Frage zur Vertiefung: Wie vermeide ich den Fehler von Pilatus? Wie kann es gelingen, im Blick auf den Glauben ‘als lebendiger Fisch gegen den Strom zu schwimmen’ (→ Liedtext von Manfred Siebald)? f) Herodes Auch Herodes (der Sohn von Herodes dem Grossen, der in der Weihnachtsgeschichte eine unrühmliche Rolle spielt) hat einen Auftritt in der Passionsgeschichte. Ähnlich wie Pilatus will er nicht schuld sein am Tod von Jesus (vielleicht spielte da eine Rolle, dass ihn noch immer das schlechte Gewissen plagte, weil er Johannes den Täufer auch ‘wider besseres Wissen’ – hatte hinrichten lassen). Lk erzählt so: Da ließ Pilatus Jesus zu Herodes bringen. Herodes hielt sich zu dieser Zeit gerade in Jerusalem auf. Als Herodes Jesus sah, freute er sich sehr. Er wollte ihn schon lange kennenlernen, denn er hatte viel von ihm gehört. Vor allem hoffte er, eins seiner Wunder mitzuerleben. Herodes stellte ihm viele Fragen. Aber Jesus gab ihm keine Antwort. Die führenden Priester und Schriftgelehrten standen dabei und beschuldigten ihn schwer. Herodes und seine Soldaten hatten nur Verachtung für ihn übrig. Um ihn lächerlich zu machen, zogen sie ihm ein strahlend weißes Gewand an. Dann schickten sie ihn zu Pilatus zurück. aus Lk 23,7-11 Herodes ist zunächst durchaus interessiert. Allerdings bleibt sein Interesse am Äusserlichen haften: Ein Wunder würde er gerne erleben. Für ein Selfie mit dem Messias wäre er wohl auch zu haben gewesen – wenn es das damals schon gegeben hätte. Oder einfach einmal die brillante Rhetorik des Lehrers aus Nazareth bestaunen. Das wär’s gewesen. Und wer weiss, vielleicht würde ja ein wenig von der Verehrung, die das Volk für Jesus hegte, auch für Herodes abfallen. Denn darunter litt der Herrscher vor allem, dass er von den Juden zwar gefürchtet, aber nicht respektiert und schon gar nicht geliebt wurde. Herodes ist der typische Fan. Ein Trittbrettfahrer, der etwas vom Glanz des Stars für sich erheischen möchte. – Der Fan ist ein ziemlich sprunghaftes und wankelmütiges Wesen. Das zeigt sich auch bei Herodes. Als er von Jesus nicht erhält, was er will, kippt seine Stimmung und er wird zum radikalen Gegner, der Jesus verachtet und der Lächerlichkeit preisgibt. Eine ähnliche Wandlung vom Fan zum erbitterten Gegner passiert übrigens auch mit dem Volk. Am Palmsonntag jubelt die Menschenmenge Jesus noch zu. Wenig später aber lässt sie sich dazu manipulieren, zuerst Barrabas den Vorzug vor Jesus zu geben und dann für Jesus die Kreuzigung zu fordern. Frage zur Vertiefung: Was unterscheidet einen Fan von einem Jünger Jesu? g) Römische Soldaten Nachdem das Urteil gesprochen ist, übernehmen römische Soldaten und Folterknechte Jesus. Ziemlich detailliert wird beschrieben, wie sie ihn auspeitschen, ihn lächerlich machen und plagen. Sogar eine Art Krönung inszenieren sie mit ihm, mit einem Purpurmantel und einer Krone aus Dornengestrüpp. Nebst massiven körperlichen Schmerzen bereiten sie Jesus also auch seelisches Leiden, indem sie ihn beschämen und demütigen. – W ARUM TUN DIE RÖMISCHEN SOLDATEN DAS? Jesus hatte ihnen doch nichts getan. Und sie wussten wohl auch, dass er sich für Verlorene eingesetzt hatte, Kranke geheilt und Arme getröstet hatte. Warum plagen sie Jesus? Ich glaube, die Soldaten sind an dieser Stelle Anschaungsbeispiel für die irritierende, ja verstörende Tatsache, dass normale, nette, brave Menschen unter Umständen zu schlimmsten Dingen fähig sind. Das Böse steckt in uns drin und kann in gewissen Situationen unkontrolliert ausbrechen. - Zwei berühmt-berüchtigte Beispiele dafür sind: 1971 wurde an der Stanford University in einem Experiment das Verhalten von Menschen in Gefängnissen untersucht. 24 Studenten aus der Mittelschicht (d.h. normale, gut gebildete und wohlerzogene Leute) wurden in ein Gefängnis gebracht. Willkürlich wurden zwölf zu Gefängniswärtern und zwölf zu Gefangenen bestimmt. Und dann sollte deren Verhalten 14 Tage lang beobachtet werden. – Doch schon nach 6 Tagen musste das Experiment abgebrochen werden. Die ‘Gefängniswärter’ nahmen ihre Rolle so ernst, dass sie begannen, ihre ‘Gefangenen’ zu mobben und verletzen. Sie hatten längst vergessen, dass es sich um ein Experiment handelte. Ein anderes, noch berühmteres Experiment wurde 1963 durchgeführt. Für 4$/Stunde wurden Menschen vor eine Anzeigetafel mit Messgeräten gesetzt und bekamen die Aufgabe, Elektroschocks zu verabreichen, wenn in einem Nebenraum jemand, den sie nicht sehen, aber hören konnten, Fragen falsch beantwortete. Das Experiment sollte zeigen, wie weit die Menschen gehen, wenn eine Autoritätsperson den Befehl erteilt, die Stärke der Stromschläge stetig zu steigern, bis sie sogar tödliche Wirkung haben würden. In Wirklichkeit bekam natürlich niemand einen Stromschlag, aber das wussten die Probanden nicht, weil sie die Opfer der Stromstösse ja nicht sahen, sondern nur hörten. Vor dem Versuch schätzten die Wissenschaftler, dass nur ein Prozent der Versuchspersonen bereit sein würde, vermeintlich tödliche Stromstösse zu verabreichen. Das deprimierende Ergebnis aber lautete: 65 % der Probanden waren bereit, die Stromstärke – trotz vermeintlicher, ab Band eingespielter Schmerzensschreie, bis zur tödlichen Gefahr zu steigern … nur, weil ihnen die Autoritätsperson sagte, der Versuch müsse unbedingt und auf jeden Fall zu Ende geführt werden. Ganz normale Leute können dazu gebracht werden, furchtbare Dinge zu tun. Dieser Realität müssen wir uns stellen. Es gilt wachsam zu sein, auf Gott zu schauen und zu begreifen und zu verinnerlichen, wozu er uns berufen hat. Frage zur Vertiefung: Wie kann das Böse in mir in Schach gehalten oder - besser noch - sogar überwunden werden? h) Simon von Kyrene Widmen wir uns abschliessend noch kurz der Person Simon von Kyrene. In ihm spiegelt sich nicht wie in allen anderen genannten meine/unsere Erlösungsbedürftigkeit. Sondern Simons Beispiel zeigt, wie die Begegnung mit dem leidenden Christus zum Glauben führen kann. Es ist nicht bekannt, ob Simon vor dem Tag, an dem er Jesu Leidensweg kreuzt und für ihn das Kreuz, d.h. wohl den Querbalken, zur Hinrichtungsstätte trug, schon zu Jesu Anhängern gehört hatte. Mk berichtet aber, dass Simon von diesem Moment an Jesus nachfolgt. Das Erlebnis, Christi Kreuz zu tragen, hat ihn offenbar tief berührt. In Mk 15,21 heisst es: «Da kam ein Mann vorbei. Es war Simon von Kyrene, der Vater von Alexander und Rufus. Er kam gerade vom Feld zurück. Den zwangen sie, für Jesus das Kreuz zu tragen.» Die Tatsche, das Mk die Namen von Simons Söhnen erwähnt, lässt vermuten, dass die Menschen, für die er sein Evangelium schreibt (Christen in Rom um 70 n Chr.), wissen, wer Alexander und Rufus sind. Simon lebt da sicher nicht mehr. Paulus schreibt ein paar Jahre vor der Abfassung des Mk-Ev an die Christen in Rom: «Grüßt Rufus, den der Herr ausgewählt hat. Und grüßt seine Mutter, die auch für mich wie eine Mutter ist.» Wahrscheinlich ist also dieser Rufus der Sohn von Simon und unterdessen Leiter einer christlichen Gemeinde geworden. Die Erfahrung, neben Jesus zu leiden, sein Kreuz zu tragen und mit anzusehen, wie er gekreuzigt wird, bewegte Simon und seine Familie so stark, dass sie zu Christen der ersten Stunde und zu Säulen der christlichen Gemeinde wurden. Wo finden wir uns in der Passionsgeschichte Jesu wieder und was sagt uns das über uns? – Adam Hamilton schreibt (S.110): «Erkennen sie sich selbst in den Soldaten wieder, die vor Jesus niederknien und sagen: ‘Es lebe der König der Juden!’, ihn damit aber nur verspotten wollen? Es sind Männer, die gern Macht haben, die anderen gern Schmerzen zufügten, und die letztlich völlig blind sind. Ich habe einmal einen Freund gefragt: ‘Hast du dich jemals durch Worte oder Taten über Jesus lustig gemacht? ’ Und er antwortete: ‘Die Frage müsste ehe lauten, wann ich das nicht tue. Ich habe das Gefühl, dass ich eigentlich ständig damit zu kämpfen habe, Jesus zu verspotten, indem ich das eine über ihn sage, wenn ich im Gottesdienst und in der Gemeinde bin, ihn aber den Rest der Woche oft durch Worte und Taten verhöhne. Ich lebe jedenfalls nicht so, als wäre er mein König.’ Bejubeln sie Jesus auch am Sonntag als König und verspotten ihn dann am Montag durch Worte und Taten? Aber vielleicht erkennen wir uns ja auch in Simon wieder. Er sieht Jesus leiden und ist davon so bewegt, dass er ihm nachfolgt; und Jahrzehnte später, als er schon tot ist, dienen seine Frau und seine Söhne immer noch Christus. Das ist die Art von Verwandlung, die wir anstreben sollen, wenn wir uns das Leiden und den Tod Jesu anschauen.