Pippi, Michel und der liebe Gott. Neue Blicke auf Astrid Lindgren
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Pippi, Michel und der liebe Gott. Neue Blicke auf Astrid Lindgren
LiU 1/09 PERSPEKTIVEN – Ballis: Pippi, Michel und der liebe Gott 17 Pippi, Michel und der liebe Gott Neue Blicke auf Astrid Lindgren und ihr Werk 1 Von Anja Ballis „Niemals würde ich ein Buch schreiben! Bereits der Prediger Salomo klagt ja: ‚Denn viel Büchermachens ist kein Ende.‘“ 2 Es ist gut, dass Astrid Lindgren diesem in der Jugend gefassten Vorsatz untreu geworden ist. Überblickt man die Würdigung ihres Schaffens in der Kinder- und Jugendliteratur, so sieht man sich mit einer Fülle von Superlativen konfrontiert: Sie wird als Schriftstellerin bezeichnet, die auf der ganzen Welt Bedeutung und Wirkungsmacht entfaltet; 3 sie habe den Nobelpreis für Literatur tausendmal verdient, 4 ihre Werke gelten als Höhepunkt der Kinderliteratur: „Und niemand wird jemals wieder so wie sie über Kinder und für Kinder schreiben: voller Respekt, voller Verständnis für ihren Kummer und für ihre Freuden.“ 5 Das Werk Astrid Lindgrens gilt inzwischen als klassisch-kanonisch; unbestritten ist ihr Rang als Schriftstellerin, die in ihren Büchern für Kinder bedeutende Grundthemen, wie Freiheit und Humanität, fassbar gemacht hat. Man gewinnt beinahe den Eindruck, dass man die Superlative nicht mehr überbieten könne und dass mit der klassisch-kanonischen Einordnung alles über Astrid Lindgren und ihr Werk gesagt worden sei. Daher mag es überraschen, ja vielleicht unnötig erscheinen, die Frage nach religiösen Elementen im Werk Astrid Lindgrens zu stellen. Hat sie sich nicht selbst in ihrer Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahre 1978 mit der Auslegung der Bibelstelle „Wer die Rute schont, verdirbt den Knaben“ (Sprüche Salomo 13,24) befasst, um eine von Liebe und Respekt geprägte 1 2 3 4 5 Antrittsvorlesung gehalten an der Pädagogischen Hochschule Weingarten am 23.11.2008. Astrid Lindgren, ³2003, Es begann in Kristins Küche, in: Das entschwundene Land. Erinnerungen. Aus dem Schwedischen von Anna-Liese Kornitzky, München: dtv, S. 83-93, hier: S. 91. Holger Kreitling, 2002, Astrid Lindgren als Erzieherin, in: Die Welt vom 29.01.2002, http://www.welt.de/print-welt/article370954/Astrid_Lindgren_als_Erzieherin.html (aufgerufen am 12.02.2009). Susanne Gaschke, 2002, Pippi geht von Bord, in: Die Zeit vom 31.01.2002, http://www.zeit.de/2002/06/200206_1._leiter.lindgr.xml?page=1 (aufgerufen am 12.02.2009). Ebd. 18 PERSPEKTIVEN – Ballis: Pippi, Michel und der liebe Gott LiU 1/09 Erziehung einzufordern? 6 Um Missverständnissen vorzubeugen: Es geht im Folgenden nicht darum, Astrid Lindgren als religiöse Schriftstellerin auszuweisen und einseitige Zuordnungen vorzunehmen; vielmehr unternehme ich – mit einem gewissen zeitlichen Abstand zur Entstehung ihres Werkes – den Versuch, religiöse Spuren, die in ihren Texten auszumachen sind und die in der gegenwärtigen Rezeption kaum Beachtung finden, freizulegen, zu gewichten und zu deuten. Dabei werde ich zwei Spuren näher verfolgen: Zum einen werde ich mich dem Christentum zuwenden, das Astrid Lindgren kannte. 7 Zum anderen werde ich mich, ausgehend von existenziellen Fragen zu Leben und Tod, mit Paradiesvorstellungen in ihren Werken näher beschäftigen. Abschließend suche ich eine Anbindung an die aktuelle Diskussion in der Didaktik um Werteorientierung und Werteerziehung. „Sowohl ich als auch meine Geschwister wollten gerne rechte Gotteskinder sein.“ Astrid Lindgren, geboren 1907 im Schwedischen Småland, wuchs mit ihren drei Geschwistern auf einem Pachthof auf. Sie wurde, was zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht weiter erstaunt, im Sinne des Protestantimus skandinavischer Prägung sozialisiert. In ihren Erinnerungen Das entschwundene Land gibt sie darüber Auskunft: „Daß ich die Sonntagsschule nicht mochte, bedeutete nicht, daß ich eine verstockte Ketzerin gewesen wäre, im Gegenteil. Sowohl ich als auch meine Geschwister wollten gerne rechte Gotteskinder sein, genau wie die schwarze kleine Sara und andere Märtyrer zarten Alters, von denen in so vielen Liedern die Rede war. Wir glaubten innig an Gott. Allabendlich scharten wir uns im Schlafzimmer um unsere Mutter, sprachen unsere Abendgebete und sangen ‚Breit aus die Flügel beide‘, bevor wir in die Federn krochen.“ 8 In diesem Zitat spiegeln sich die Einstellungen Astrid Lindgrens zum Christentum ihrer Zeit exemplarisch wider: Sie lehnte das Christentum mit seinen institutionellen Prägungen – hier am Beispiel der Sonntagsschule – ab. Dagegen konnte sie sich für das in der Familie praktizierte und ritualisierte, für das gelebte Christentum begeistern: In protestantisch-lutherischer Tradition wurden u. a. Texte von Paul Gerhardt 6 7 8 Astrid Lindgren, 2001, Zum Donnerdrummel. Ein Werk-Porträt in einem Band, hrsg. von Paul Berf und Astrid Surmatz, Hamburg: Rogner&Bernhard, S. 610-617, hier: S. 613. Vgl. dazu auch Werner Thissen, 2008, Lindgrens Zeit und Ewigkeit. Religiöse Elemente bei Astrid Lindgren, in: Astrid Lindgren. Ein neuer Blick: Kinderkultur, Illustration, Literaturgeschichte, hrsg. von Frauke Schade, Berlin/Münster: LIT Verlag, S. 7787, hier: S. 78. Anton Stephan Reyntjes, 2003, Literarisches Stichwort Gott. Im Spannungsfeld von Literatur und Theologie – Folge XXX. Gottes Kinder. Sprachlich kreative Religiosität im Werk von Astrid Lindgren, in: Religion heute 58, S. 122-129. Astrid Lindgren, ³2003, Das entschwundene Land, in: Das entschwundene Land [Anm. 2], S. 51-82, hier: S. 66. LiU 1/09 PERSPEKTIVEN – Ballis: Pippi, Michel und der liebe Gott 19 gesungen und gebetet, die Geschichten aus der Bibel wurden den Kindern vorgelesen und beschäftigten ihre Einbildungskraft. Auch in einem Interview aus dem Jahre 1995 kam sie auf ihre religiöse Sozialisation im Elternhaus zu sprechen; auf die Frage, ob sie an Gott glaube, antwortete sie: „Oft zweifle ich an meinen eigenen Zweifeln. Ich pflege zu sagen, daß ich an Gott glaube, wenn ich ihn brauche. Aber dann bekomme ich jedesmal ganz aufgeregte Leserbriefe. Ich bin in einem christlichen Haus aufgewachsen und hoffe, wie die meisten Menschen, daß es ein Weiterleben nach dem Tode geben wird. Dann gerät meine Hoffnung wieder ins Wanken.“ 9 Die Frage nach Gott, das Weiterleben nach dem Tod, die biblischen Geschichten sowie geistliche Lieder beschäftigten Astrid Lindgren zeitlebens. Gerade die Bibel bietet ihr ein bedeutsames Universum für Motive und Konflikte, die sie in ihren Büchern aufgreift. 10 Spuren I – Biblische Geschichten und Weihnachten Diese Geschichten gehören wie selbstverständlich zum Wissen der Kinder, von denen Astrid Lindgren erzählt. Dabei erfüllen sie unterschiedliche Funktionen: Zum einen dienen sie der Charakterisierung von Mensch und Tier. Zum anderen sind sie für die Strukturierung der Handlung hilfreich. Die Kinder aus Bullerbü beschreiben ihren Großvater folgendermaßen: „Großvater sitzt in seinem Schaukelstuhl und er hat einen langen weißen Bart, genau wie der Weihnachtsmann. Seine Augen sind so schlecht, dass er fast nichts sehen kann. Er kann weder Bücher noch Zeitungen lesen, aber das macht nichts, denn er weiß alles, was in den Büchern steht. Er erzählt uns Geschichten aus der Bibel und auch, wie es früher auf der Welt war, als Großvater ein kleiner Junge war.“ 11 Der Großvater – als Weihnachtsmann personifiziert – ist noch ganz der intensiven Wiederholungslektüre verpflichtet – „er weiß, was in den Büchern steht“ – und lässt die Kinder an diesen angeeigneten, verinnerlichten Texten teilhaben. Immer wieder charakterisiert Astrid Lindgren Erzählfiguren auch, indem sie auf deren Bibelkenntnisse verweist. Doch nicht nur Menschen werden auf diese Weise dargestellt. Als in Ferien auf Saltkrokan ein von seiner Mutter verlassener Seehund gefunden wird, erhält er – darin sind sich die Kinder einig – den Namen Moses: „,Ich weiß, wie er heißen soll‘, sagte Tjorven. ‚Moses! Vesterman hat ihn genauso gefunden wie die, die Moses im 9 10 11 Felizitas von Schönborn, 1995, Astrid Lindgren – Das Paradies der Kinder, Freiburg i. Br. u. a.: Herder, S. 56. Werner Thissen, Lindgrens Zeit und Ewigkeit [Anm. 7], S. 79. Astrid Lindgren, 2007, Die Kinder aus Bullerbü, Hamburg: Oetinger, S. 42. 20 PERSPEKTIVEN – Ballis: Pippi, Michel und der liebe Gott LiU 1/09 Schilf fand – das weißt du doch noch, Freddy?‘“ 12 In Ferien auf Saltkrokan werden die Erlebnisse der Stockholmer Familie Melcherson auf der Insel beschrieben; da sie dort eine so glückliche Zeit verlebt hat, beschließt sie, für immer dort zu bleiben und ihr Sommerhäuschen zu kaufen. Pelle, der neunjährige Sohn, fasst dieses Ereignis mit den Worten des Psalms 139 zusammen, mit denen das Buch endet: „Nähme ich Flügel der Morgenröte, machte ich mir eine Wohnung zuäußerst im Meer … War es möglich, dass sie jetzt eine hatten, eine, die ihnen gehörte? Ja – ja – ja! Sie hatten eine. Ein Wohnung zuäußerst im Meer.“ 13 Darüber hinaus integriert Astrid Lindgren biblische Geschichten, die sie – in intertextueller Manier – adaptiert und für die Struktur ihrer Erzählungen fruchtbar macht. In Michel bringt die Welt in Ordnung findet sich das Kapitel „Sonntag, der 14. November, als auf Katthult die Glaubensbefragung stattfand und Michel seinen Vater in der Trissebude einsperrte“. 14 Astrid Lindgren ist sich durchaus bewusst, dass ihre jugendlichen Leser(innen) nicht mit der Einrichtung einer „Glaubensbefragung“ vertraut sind und erläutert ihnen diese: „[Z]u jener Zeit war es so, dass die Leute einigermaßen Bescheid wissen mussten über das, was in der Bibel steht und im Katechismus. Deshalb sollte der Pastor von Zeit zu Zeit Befragungen machen, um festzustellen, wie viel sie wussten, und zwar nicht nur die Kinder, […] sondern alle in der Gemeinde, die Großen und Kleinen.“ 15 Die Funktion, die der Glaubensbefragung zukam, bestand darin, eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den biblischen Geschichten anzustreben und die Gemeinde in ihrem Wissen um solche Geschichten zu bestärken. Bei der Befragung, die auf Katthult stattfand, erzählte der Geistliche ausführlich von Adam und Eva sowie von ihrer Vertreibung aus dem Garten Eden; als er anschließend dieses Wissen bei der Magd Lina abrufen wollte, antwortete diese auf die Frage nach den Namen der beiden ersten Menschen mit „Thor und Freya“, sehr zum Ärger von Michels Mutter. 16 Es zeigt sich, dass neben der christlichen Tradition auch noch nordische Mythologie wirksam ist. Darüber hinaus wird in diesem Kapitel die doch sehr ernste Angelegenheit der Glaubensbefragung durch einen weiteren Handlungsstrang unterlaufen: Versehentlich sperrt Michel seinen Vater, den Kirchenältesten der Gemeinde, auf der Toilette, der Trissebude, ein. So hängt – wie Lindgren schreibt – der „Kirchenälteste mit dem Vorderteil draußen im Regenschauer und mit dem Hinterteil innen im Lokus […].“ 17 Die Einrichtung der Glaubensbefragung mit dem Abprüfen der biblischen Geschichten steht also in einem gewissen Spannungsverhältnis zu den tatsächlichen Bibelkennt12 13 14 15 16 17 Astrid Lindgren, 2003, Ferien auf Saltkrokan. Aus dem Schwedischen von Thyra Dohrenburg, München: dtv, S. 204. Ebd., S. 319. Astrid Lindgren, 2007, Michel aus Lönneberga, Hamburg: Oetinger, S. 292. Ebd., S. 292. Ebd., S. 293. Ebd., S. 301. LiU 1/09 PERSPEKTIVEN – Ballis: Pippi, Michel und der liebe Gott 21 nissen der Bevölkerung und den doch sehr weltlichen Bedürfnissen der Kirchenvertreter. Eine andere Akzentuierung erfährt die alttestamentliche Geschichte von Joseph und seinen Brüdern in Madita. Astrid Lindgren greift hier ein bekanntes und in der Literatur vielfach verwendetes Motiv auf. Denken wir nur an Thomas Mann und seine Josephs-Romane oder an Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss und ihr Ballett Josephslegende. Astrid Lindgren verortet die Josephsgeschichte im Spiel der Kinder: Lisabet spielt Joseph, und Madita spielt die bösen Brüder, die Josef verkaufen wollen. Doch ihr Spiel um die biblische Geschichte wird überlagert von einem Streit, den Madita und Lisabet zuvor ausgetragen haben. Madita verlangt von ihrer Schwester – als diese schon im Brunnen sitzt – dafür eine Entschuldigung. Diese wird ihr von Lisabet „apselut“ verweigert. Somit entschließt sich Madita, am Brunnen das Schild anzubringen: „Kleiner schöner Sklafe zu ferkaufen.“ 18 Sie lässt voller Wut die Schwester im Brunnen allein zurück. Als sie nach einiger Zeit – mit schlechtem Gewissen – zurückkehrt, findet sie folgende Notiz auf ihrem Zettel: „Diesen Sklaven habe ich für fünf Öre gekauft. Mustafa al Akmar, Sklavenhändler“. 19 Was als Nachspielen einer biblischen Geschichte begann, scheint nun in eine Wiederholung derselben zu münden: Madita ist – wie die Brüder der alttestamentlichen Geschichte – über ihre Schwester verärgert, will sie los werden und bietet sie feil. Sie durchlebt den Verlust der Schwester und die Schuld, die sie auf sich geladen hat. Erlösung bringt schließlich das Wiedersehen mit Lisabet, die vom benachbarten Jungen ,gerettet‘ worden ist. Neben Passagen, in denen biblische Geschichten adaptiert werden, sind in besonderem Maße die Schilderungen des Weihnachtsfestes auffällig, die sich in nahezu allen Lindgren-Büchern finden. In Die Kinder aus Bullerbü und Die Kinder aus der Krachmacherstraße wird Weihnachten als besonderes Fest für die Kinder und ihre Familien dargestellt: Die Vorbereitungen beginnen mit Pfefferkuchenbacken, das Haus schmücken, den Weihnachtsbaum besorgen sowie Geschenke basteln und Einkäufe erledigen. Der eigentliche Höhepunkt des Festes ist der Weihnachtsabend. MiaMaria erzählt in den Kindern aus der Krachmacherstraße, wie das Fest seinen Lauf nimmt: „Am Heiligabend durften wir so lange aufbleiben, wie wir wollten. Wir saßen vor dem Kamin, aßen Nüsse und Apfelsinen, tanzten um den Tannenbaum und alles war wunderschön. Und am nächsten Tag gingen wir in die Weihnachtsmesse. […] Da leuchteten die Sterne, darum finde ich die Sterne am schönsten, obwohl die Sonne und der Mond auch schön sind. Wenn die Sterne auf die Krachmacherstraße scheinen, dann wird die Straße so geheimnisvoll. In fast allen Häusern brannten Kerzen, und das sah auch wunderschön und geheimnisvoll aus.“ 20 18 19 20 Astrid Lindgren, 2007, Madita, Hamburg: Oetinger, S. 161. Ebd. Astrid Lindgren, 2007, Die Kinder aus der Krachmacherstraße, in: Erzählungen und Märchen, hrsg. von Astrid Lindgren, Hamburg: Oetinger, S. 84. 22 PERSPEKTIVEN – Ballis: Pippi, Michel und der liebe Gott LiU 1/09 Das Licht des Weihnachtssterns, wie Mia-Maria ihn bezeichnet, findet seine Entsprechung in den Lichtern der Menschen und sorgt für eine geheimnisvolle Stimmung, der sich die Kinder nicht entziehen können. Astrid Lindgren bedient sich hier – wie viele Schriftsteller vor und nach ihr – der Sterne am Himmel, um einen Erfahrungsraum der Frömmigkeit zum Leuchten zu bringen; gelten doch die Sterne am Himmel, wie sie auf- und untergehen, wie sie leuchten und verblassen, als Spiegelbild des menschlichen Lebens, das erkundet und gedeutet werden sollte; spätestens seit der Geburt Christi ist der Glaube weit verbreitet, dass für jeden neugeborenen Menschen ein Stern am Himmel aufgehe, der ihn durch sein Leben begleite. 21 In ihrem 1961 erschienenen Bilderbuch Weihnachten im Stall begibt sich Astrid Lindgren zu den Wurzeln des Weihnachtsfestes. Einem Kind, das nach Weihnachten fragt, erklärt die Mutter das Geschehen der Geburt Christi: „Da erzählte die Mutter von Weihnachten im Stall. Das war ein Weihnachten vor langer Zeit und in einem fernen Land, doch das Kind sah alles vor sich, als wäre es daheim geschehen, in ihrem eigenen Stall auf ihrem eigenen Hof.“ 22 In solch harmonische Darstellungen des Weihnachtsfestes mischen sich in einigen Texten auch sozialkritische Töne. Astrid Lindgren war sich sowohl der Härten des Kinderlebens als auch der Armut im ländlichen Schweden und in den Ballungszentren zu Beginn des 20. Jahrhunderts bewusst. Sie thematisierte die Not, von der in besonderem Maße Kinder betroffen waren und auch heute noch sind. 23 In Madita und Pims sieht sich Madita mit der Aussage ihrer Freundin Mia konfrontiert: „Papa, weißt du, was Mia neulich gesagt hat? Sie hat gesagt: Der Weihnachtsmann, ach, der kommt ja nur zu den Reichen, zu uns nie.“ 24 Diese Aussage beschäftigt sie und verleidet ihr – wie sie es ausdrückt – „dieses ganze Weihnachten“. Auch Michel ist über das armselige Weihnachtsfest der Armenhäusler so entrüstet, dass er sie zum Festessen nach Katthult einlädt. Michel, Ida und Alfred tischen den Ärmsten der Armen alles auf, was sie schleppen können. 25 Die Eltern beurteilten Michels Wohltätigkeit anders, wie dem Tagebucheintrag seiner Mutter zu entnehmen ist: „,Zweiter Weihnachtstag, abends, in meiner Not‘, stand da als Überschrift. Und dann: ‚Heute hat es den ganzen Tag im Tischlerschuppen gesessen, das arme Kind. Sicher ist er eigentlich fromm, der Junge, obwohl ich manchmal glaube, er ist verrückt.‘“ 26 Michels un21 22 23 24 25 26 Wolfgang Frühwald, 2008, Das Gedächtnis der Frömmigkeit. Religion und Literatur in Deutschland, Leipzig: Verlag der Weltreligionen, S. 19. Astrid Lindgren, 1961, Weihnachten im Stall. Bilder von Harald Wiberg. Aus dem Schwedischen von Anna-Liese Kornitzky, Hamburg: Oetinger, S. [2]. Susanne Gaschke, 2006, Die Zeit empfiehlt: Die Puppe Mirabell und andere Geschichten, in: Die Puppe Mirabell und andere Geschichten. Aus dem Schwedischen von Anna-Liese Kornitzky und Karl Kurt Peters, Hamburg: Zeitverlag Gerd Bucerius, S. 185189, hier: S. 186. Astrid Lindgren, 2007, Madita, Hamburg: Oetinger, S. 358. Lindgren, Michel aus Lönneberga [Anm. 14], S. 175. Ebd., S. 190. LiU 1/09 PERSPEKTIVEN – Ballis: Pippi, Michel und der liebe Gott 23 konventionelles Verhalten, das eigentlich auch im Sinne der christlichen Nächstenliebe und Fürsorge gedeutet werden könnte, stößt auf keine Zustimmung, auch nicht beim Kirchenältesten und seiner Frau. Das Motiv einer unkonventionellen Weihnachtsfeier findet sich auch im PippiStoff. In der bereits 1947 entstandenen, aber erst 2002 publizierten Geschichte Pippi feiert Weihnachten bringt Pippi weihnachtliche Freude zu Kindern, die allein, ohne ihre Eltern Weihnachten feiern müssen. Pippi wird hier zum Weihnachtsbaum und tanzt gemeinsam mit den Kindern. 27 Auch für die Kinder der kleinen Stadt veranstaltet sie in Pippi plündert den Weihnachtsbaum eine wunderbare Feier, die alle Elemente des Weihnachtsfestes enthält: Geschenke, feines Essen, Tanz um den Weihnachtsbaum und Weihnachtslieder. Sie fordert die Kinder der kleinen Stadt auf: „,Ihr Kinderlein, kommet!‘, schrie Pippi. ‚Kommt her und lasst die alten Weisen erklingen vom Weihnachtsmann, der mit seinen Gabeln kommt, und vom Esel, der bis Ostern im Hafer raschelt.‘“ 28 Auch wenn Pippi nicht ganz mit dem weihnachtlichen Festritus vertraut ist, kommt nach einer lauten und lustigen Feier auch hier eine stimmungsvolle Atmosphäre auf: „Der Schnee leuchtete weiß und oben am Himmel funkelten die Sterne. Es war Zeit nach Hause zu gehen. […] ‚Ihr seht aus wie lauter kleine Weihnachtsbäume‘, sagte Pippi. Und dann schenkte sie jedem noch einen Kerzenstummel, damit sie Weihnachtsbäumen noch ähnlicher sahen und sich auch heimleuchten konnten. Die Lichter spiegelten sich in ihren Augen, ja, es war, als leuchteten Kerzenflammen darin, als sie auf Pippi zugingen, um ihr Auf Wiedersehen zu sagen.“ 29 Es hat den Anschein, als ob Pippi ein Licht in diesen Kindern entzündet, das ihnen den Weg nach Hause zu leuchten vermag. Fasst man zusammen, dann zeigt sich eine Vielzahl von christlichen Elementen und Motiven im Werk Astrid Lindgrens: Biblische Geschichten als Anspielungshintergrund, das Weihnachtsfest als Kristallisationspunkt von Idylle, aber auch von Not und Elend sowie eine gewisse Distanz zum traditionellen Festritus in den erwähnten Pippi-Geschichten. Doch warum habe ich diese Themen und Motive herausgearbeitet? Welche Funktion kommt ihnen in den Texten Astrid Lindgrens zu? Zum einen wird dadurch deutlich, dass das Werk in einem historischen Kontext entstanden ist, in 27 28 29 Astrid Lindgren, 2004, Pippi feiert Weihnachten. Bilder von Katrin Engelking. Aus dem Schwedischen von Angelika Kutsch, Hamburg: Oetinger. Astrid Lindgren, 1997, Pippi plündert den Weihnachtsbaum, Hamburg: Oetinger, S. 50. Ebd., S. 56-59. In Pippi in Taka-Tuka-Land verlegt Pippi kurzerhand das Weihnachtsfest, da aufgrund der verspäteten Rückkehr aus Taka-Tuka-Land das Weihnachtsfest schon vorbei ist: „,Der Kalender der Villa Kunterbunt geht ganz schön nach. Ich muss ihn zu einem Kalendermacher bringen, dass er ihn richtig stellt und wieder in Fahrt kommt.‘ ‚Wie herrlich‘, sagte Annika. ‚Dann haben wir doch noch Weihnachten gefeiert […].‘“ (Astrid Lindgren, 1987, Pippi Langstrumpf. Aus dem Schwedischen von Cäcilie Heinig. Zeichnungen von Rolf Rettich, Hamburg: Oetinger, S. 383). 24 PERSPEKTIVEN – Ballis: Pippi, Michel und der liebe Gott LiU 1/09 dem das Wissen um biblische Geschichten und eine christliche geprägte Sozialisation, wie auch die Biografie Astrid Lindgrens veranschaulicht, noch wirkmächtig ist. Damit stelle ich ihr Leben und Werk in einen kulturgeschichtlichen Zusammenhang, der bisher kaum berücksichtigt worden ist und der das Zusammenspiel von Literatur und Religion zum Gegenstand hat. Zum anderen wird auf eine bislang einseitige Rezeption ihres Werkes verwiesen, in der die religiösen Elemente nur vereinzelt zum Gegenstand der Reflexion wurden. Vielmehr stand im Mittelpunkt die „Entdeckung der Kindheit“ als einer von Autonomie und Liebe geprägten Zeit. Diese Rezeption ist sicherlich richtig und bedeutsam, da Astrid Lindgren tatsächlich einen „neuen Ton“ in die Kinderliteratur gebracht hat. Fast könnte man aber den Eindruck gewinnen, dass das Schweigen in der Forschung über Religion im Werk Astrid Lindgrens Methode hat, gilt doch in unseren aufgeklärten Zeiten das Nachdenken über religiöse Bezüge in der Literatur allzu oft als unmodern und wissenschaftlich wenig aussagekräftig. Die Frage nach der Religion führt jedoch – wie die skizzierten Passagen verdeutlichen – immer auch ins Zentrum von existenziell bedeutsamen Erfahrungen und Erlebnissen. Dies trifft in besonderem Maße auf die von ihr geschaffenen literarischen Figuren, aber auch auf die Autorin selbst zu. Spuren II – Paradiesvorstellungen Ich komme nun zur zweiten Spur, der ich im Werk Astrid Lindgrens nachgehen möchte: den Schilderungen von paradiesischen Gärten. Auffällig ist, dass in den Werken Sonnenau, Im Land der Dämmerung, Mio, mein Mio und Die Brüder Löwenherz Gärten geschildert werden, die dem Garten Eden sehr nahe kommen. Es gilt zum einen die Struktur dieser Gärten nachzuzeichnen und sich zum anderen mit ihrer Funktion näher zu beschäftigen. In der Forschung wird für den Zeitraum der Entstehung dieser Werke der Eingang „düsterer Motive“ angesetzt, die in der Regel auf die schwierige private Situation Astrid Lindgrens in den 50er-Jahren zurückgeführt werden. Ihr Mann Sture, der zum Alkoholiker geworden ist, und ihr Sohn Lasse, der ein unbeständiges Leben führt, geben Anlass zur Sorge. 30 Geht man von der These aus, dass eine defizitäre Ordnung nicht ohne einen positiven, glücklichen Gegenentwurf gedacht werden kann – gerade im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur –, so entwirft Astrid Lindgren eine Gegenwelt, die „anders“ und v. a. „kindgerechter“ gestaltet ist. Dass sie in besonderer Weise die Kinder im Blick hat, wird deutlich, wenn sie über ihre eigenen Paradiesvorstellungen Auskunft gibt; auf die Frage „Wie stellen Sie sich eigentlich das Paradies vor?“ verweist sie in einem 1995 geführten Interview auf eines ihrer Lieblingsgedichte des schwedischen Nobelpreisträgers Erik Axel Karlfeldt; darin thematisiert er, wie ein Vater seinem unehelichen Sohn, der krank ist, nicht über einen 30 Maren Gottschalk, 2006, Jenseits von Bullerbü. Die Lebensgeschichte der Astrid Lindgren, Weinheim u. a.: Beltz&Gelberg, S. 127. LiU 1/09 PERSPEKTIVEN – Ballis: Pippi, Michel und der liebe Gott 25 Zaun hilft, hinter dem gesunde und fröhliche Kinder lärmen. Der Vater verweigert nicht nur dem Sohn diese Hilfe, sondern er gibt sich ihm auch nicht zu erkennen. Als das Kind bald darauf stirbt, quält sich der Vater mit bitteren Schuldzuweisungen; er verleiht aber seiner Hoffnung Ausdruck, dass sich sein Sohn nun in einem Garten befinden wird, in dem Armut und Not keinen Platz haben, sondern das Zusammensein vom Spiel der Kinder geprägt ist. Er selbst steht außerhalb dieses Gartens und würde so gerne das Lachen seines Sohnes hören. 31 Die von Karlfeldt geschilderte Szene kann als „Keimzelle“ der Gartendarstellungen bei Astrid Lindgren gelten: Motiviert durch körperliche und/oder seelische Not wird den Kindern eine Gegenwelt präsentiert. Die Erzählung Sonnenau beginnt mit den Worten: „Vor langer Zeit, in den Tagen der Armut, da gab es zwei kleine Geschwister, die waren ganz allein auf der Welt.“ 32 Die Waisen Anna und Matthias müssen bei einem Bauern hart arbeiten, um einen Platz im Leben zu haben; auch Bo Vilhelm Olsson, der im Verlauf der Erzählung zu „Mio, mein Mio“ wird, fristet bei seinen Pflegeeltern Tante Edla und Onkel Sixten ein trauriges Dasein; 33 unter körperlichen Gebrechen leidet Göran in der Erzählung Im Land der Dämmerung, da er nicht laufen kann und den ganzen Tag im Bett liegen muss; 34 Krümel aus den Brüdern Löwenherz kann die Wohnung nicht verlassen und lebt mit seinem Bruder und seiner Mutter – als Halbwaise – in Stockholm. 35 Diese Kinder gelangen nun mithilfe von „Boten“, das können Vögel, aber auch imaginierte Wesen sein, durch eine Pforte in einen Garten, der sie ihr Leid vergessen lässt. In den Erzählungen wird nicht deutlich, ob die Kinder diese Geschichten träumen bzw. fantasieren. Gerade in Sonnenau fallen die Parallelen zu Hans Christian Andersens Märchen Das Mädchen mit den Schwefelhölzern auf, in dem das Mädchen frierend, aber vom Paradies träumend stirbt. In den erwähnten Texten gestaltet Astrid Lindgren die Gärten ähnlich, um nicht zu sagen stereotyp: Sie sind umgeben von Bergen, stellen ein von Strömen durchzogenes fruchtbares Tal dar, in dem der ewige Frühling blüht: Apfel- und Kirschbäume stehen in voller Pracht, weiße Lilien, rote Rosen und blühender Flieder säumen Gärten und Wiesen – beschienen von strahlendem Sonnenlicht. In Sonnenau erleben die Kinder Anna und Matthias den Garten in all seiner Pracht: „Alle Lieblichkeit des Frühlings überfiel sie im klingenden Hui, tausend kleine Vögel sangen und jubilierten in den Bäumen, es plätscherte in allen Bächen, alle Frühlingsblumen leuchteten und auf einer Wiese, so grün wie die des Paradieses, spielten Kin31 32 33 34 35 Schönborn, Astrid Lindgren [Anm. 9], S. 43f. Astrid Lindgren, 2007, Erzählungen und Märchen. Zeichnungen von Ilon Wikland, Hamburg: Oetinger, S. 319. Astrid Lindgren, 2007, Mio, mein Mio. Zeichnungen von Ilon Wikland, Hamburg: Oetinger, S. 42. Astrid Lindgren, Erzählungen und Märchen [Anm. 32], S. 248. Astrid Lindgren, 1974, Die Brüder Löwenherz. Aus dem Schwedischen von Anna-Liese Kornitzky. Zeichnungen von Ilon Wikland, Hamburg: Oetinger, S. 5. 26 PERSPEKTIVEN – Ballis: Pippi, Michel und der liebe Gott LiU 1/09 der. Ja, es waren Kinder, die dort spielten, sie hatten sich Borkenschiffchen geschnitzt, die sie in den Bächen und Gräben schwimmen ließen. Und sie hatten Weidenflöten geschnitten, auf denen sie flöteten, dass es klang, als zwitscherten Stare im Frühling. Und sie trugen rote und blaue und weiße Kleider und leuchteten wie die Frühlingsblumen im grünen Gras.“ 36 Eine solche Idylle befördert ein spezifisches Verhalten der Menschen untereinander: Sie helfen sich gegenseitig, musizieren gemeinsam und lachen miteinander; zudem wird Im Land der Dämmerung den Tieren auch ihr Recht zugestanden, dass sie sich frei bewegen und sich mit den Menschen verständigen können. 37 Doch dieses Paradies ist in Mio, mein Mio und in den Brüdern Löwenherz bedroht und bedarf des besonderen Schutzes der Kinder, die gegen die bösen Mächte eines Ritter Kato und gegen Tengil und seine Mannen zu bestehen haben. Vergegenwärtigt man sich die Darstellung des Paradieses in Gen. 2, 8-15, so findet sich hier zum einen das Motiv der Gartenlandschaft, in deren Mitte der Baum der Erkenntnis umgeben von vier Strömen steht. Zum anderen dient im Neuen Testament die Paradies-Vorstellung dem Entwurf und der Illustration kollektiver Heilserwartung: Die Seligen werden ins Paradies eingehen. 38 Diese beiden Pole – die Gartenlandschaft der Genesis und der künftige Aufenthaltsort der Seligen im Jenseits – bestimmen auch die ikonografische Darstellung des Paradieses in der Kunst: In der Frühzeit des Christentums wird das Gartenmotiv häufig aufgegriffen; zunehmend finden sich Bäume und Blumen, u. a. der Rosengarten der Madonna als Hortus conclusus; in mittelalterlichen Darstellungen erhält das Lamm ebenso seinen Platz wie Scharen von Heiligen, die die Paradieslandschaft bevölkern. In der Renaissance erfährt die bildliche Darstellung des Paradieses einen weiteren Impuls, indem die Landschaft – zumeist im Frühling – dargestellt wird. Damit einher geht eine vielschichtige Interpretation des Paradiesmotives, das eine religiöse, aber auch allegorische Deutung erfahren kann, indem es auf den Sinn des menschlichen Lebens und die Fruchtbarkeit der Natur bezogen wird. 39 Wie deutlich geworden sein dürfte, orientiert sich Astrid Lindgren in der Konzeption ihrer Gartenlandschaften sehr eng an biblisch tradierten Vorstellungen und ikonografisch wirkmächtigen Darstellungen des Paradieses: Sie entwirft eine irreale Gegenwelt zur Realität, die als ein glücklicher Aufenthaltsort für die Bedürftigen und Notleidenden anzusehen ist; dabei wird die Bedrohung dieses Paradieses nicht negiert, sondern durchaus als Bestandteil dieser idyllischen Ordnung betrachtet. Zusätzlich erfährt das Paradiesmotiv durch Astrid Lindgren eine spezifische Deutung, indem der Garten größtenteils von Kindern bevölkert wird bzw. ihnen eine zentrale Rolle darin zukommt. In ihrem 1975 publizierten Gedicht Wär ich Gott 36 37 38 39 Astrid Lindgren, Erzählungen und Märchen. [Anm. 32], S. 328. Ebd., S. 256. Vgl. Fritz Stolz, 1995, Paradies. II. Biblisch, in: TRE, Bd. XXV, Berlin u. a.: de Gruyter, S. 708-711, hier: S. 710. Johannes Zahlten, 1995, Paradies. VII. Ikonografisch, in: TRE [Anm. 38], S. 725f. LiU 1/09 PERSPEKTIVEN – Ballis: Pippi, Michel und der liebe Gott 27 stimmt sie ein Klagelied an, da die Menschen in Feindschaft zueinander leben, die Erde verwüsten und sich zu wenig um die Kinder sorgen: „Ja, wenn ich Gott wäre, / dann würde ich viel über die Kinder weinen, / denn ich hatte mir nicht gedacht, / daß es ihnen so ergehen wird.“ 40 Die Kinder gelten ihr in dieser Welt als besonders trostund erlösungsbedürftig. Doch wie gelangen die Kinder in das Paradies? Wie werden sie erlöst? Astrid Lindgren gibt in ihren Werken darauf eine spezifische Antwort: Die von ihr dargestellten Kinder sind in der Lage, sich selbst zu erlösen. So ziehen Anna und Matthias die Pforte nach Sonnenau zu, um für immer dort bleiben zu können; 41 die Brüder Löwenherz springen bewusst nach Nangilima, wo sie ein Leben „frei von allem Übel“ erwartet. 42 Der Gedanke der Selbsterlösung steht im Gegensatz zur christlichen Vorstellung von Erlösung und Vergebung. Diese Darstellung hat der Autorin, gerade bei der Rezeption der Brüder Löwenherz, vielfach Kritik eingebracht, da der Sprung der Brüder als „Todessprung“ und Aufforderung zum Selbstmord gedeutet wurde. 43 Astrid Lindgren hat dieser Kritik widersprochen und – wiederum sehr christlich – begründet, welche Ziele sie mit ihren Paradiesvorstellungen verfolgt: „Ich glaube an das Bedürfnis von Kindern nach Trost. Als ich ein Kind war, glaubte man, wenn ich sterbe, dass ich in den Himmel komme, und das war sicherlich nicht gerade das Allerlustigste, was man sich vorstellen konnte. Aber wenn alle dorthin kamen… […] Doch diesen Trost haben heutige Kinder nicht. Dieses Märchen gibt es für sie nicht mehr. Und da habe ich mir gedacht: Man kann ihnen ja eine andere Art von Märchen geben, an dem sie sich etwas wärmen könnten […].“ 44 Mit dem Gedanken des Trostes greift Astrid Lindgren ein Thema auf, das immer wieder das Verhältnis von Literatur und Religion prägt: der Trost, der den Schriften der Bibel zu entnehmen ist, sowie die tröstende Funktion der Bibellektüre. Astrid Lindgren wendet dieses Denkmuster auf die Kinder- und Jugendliteratur an. Sie ist sich bewusst, dass Kinder auch und vielleicht gerade in einer säkularisierten Welt des Trostes bedürfen; mit ihren Paradiesvorstellungen, die sich in Sprache und Symbolik eng an der christlichen Tradition orientieren, versucht sie, einen Garten Eden zu entwerfen, der Kindern als ein Gegenentwurf zu der ihnen bekannten, vielfach defizitären Welt erscheint. Und das Vertrauen auf diese „Märchen“, auf die Wirkmächtigkeit des geschriebenen Wortes – sola scriptura – kann auch als ein Ausdruck des lutherischen Protestantismus gewertet werden. 40 41 42 43 44 Felizitas von Schönborn, Astrid Lindgren [Anm. 9], S. 52. Astrid Lindgren, Erzählungen und Märchen [Anm. 32], S. 335. Astrid Lindgren, Die Brüder Löwenherz [Anm. 35], S. 235. Astrid Lindgren, Zum Donnerdrummel [Anm. 6], S. 520. Zitiert nach Vivi Edström, 1997, Astrid Lindgren. Im Land der Märchen und Abenteuer. Aus dem Schwedischen von Astrid Surmatz, Hamburg: Oetinger, S. 289. 28 PERSPEKTIVEN – Ballis: Pippi, Michel und der liebe Gott LiU 1/09 Was bleibt? Mit den vorangegangenen Ausführungen wurde der Versuch unternommen, einen neuen, wenig bekannten Blick auf Astrid Lindgren und ihr Werk zu richten. Noch allzu oft bedient man sich in der Auseinandersetzung mit Lindgren und ihrem Schaffen der eingangs erwähnten Superlative bzw. der Vorstellung einer 1:1-Relation von Leben und Werk. Dies mag den Blick auf die literarische Qualität ihrer Texte nicht selten verstellen und ihre Rezeption erschweren. 45 Nun lassen sich freilich ihre Werke auch als Adaption ihrer Kindheit, 46 als Abenteuergeschichten sowie als fantastische und surreale Literatur lesen. Mit dem Offenlegen von biblischen Geschichten und paradiesischen Vorstellungen will ich einen weiteren Weg aufzeigen, wie ernsthafte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihrem Werk in seinen Tiefenstrukturen aussehen könnte; zudem wirft die Thematisierung von biblisch-christlichen Elementen und paradiesischen Vorstellungen auch die Frage auf, warum und zu welchem Zweck Kinder- und Jugendliteratur gelesen und vermittelt werden soll. Astrid Lindgren hat in ihren Werken Position bezogen – eine Position, die Kinder zum Handeln befähigt und ihnen die Veränderbarkeit der Verhältnisse zum Guten aufzeigt. Dabei verzichtet sie auf Appelle und Ermahnungen und verwirklicht in und mit ihrer Literatur Vorstellungen eines in der Pädagogik diskutierten Konzeptes der Werteerziehung. Darunter wird u. a. die Erziehung zur individuellen und sozialen Wertefindung verstanden, die mithilfe einer Diskussions- und Streitkultur, einer Orientierung an Begründungszusammenhängen und einer Perspektivübernahme initiiert werden kann. 47 Mit einem so verstandenen Konzept der Werteerziehung lässt sich gleichsam eine Brücke zum Literaturunterricht schlagen. Es gehört zu seinen grundlegenden Aufgaben, literarästhetische Erfahrungen des Gutseins und des Glücksgefühls zu reflektieren, wenn der Held über seine bösen Gegenspieler triumphiert. Das Gute ist nicht zwangsläufig ein Gegenbegriff zur Bedürfnisbefriedigung: „Es gibt die Sehnsucht nach einer besseren Welt, nach Gerechtigkeit, nach eigener moralischer Auszeichnung […].“ 48 In ihrem Werk eröffnet Astrid Lindgren solche Projektionsräume, die uns immer wieder neu zu den Grundfragen menschlicher Existenz führen. 45 46 47 48 Astrid Lindgren, Zum Donnerdrummel [Anm. 6], S. 881. Vgl. Astrid Surmatz, 2005, Pippi Långstrump als Paradigma. Die Deutsche Rezeption Astrid Lindgrens und ihr internationaler Kontext, Tübingen u. a.: Francke, S. 437. Vgl. dazu exemplarisch Margareta Strömstedt, 2001, Astrid Lindgren. Ein Lebensbild. Aus dem Schwedischen von Brigitta Kicherer, Hamburg: Oetinger, S. 183: „Die Kindheit ist die Voraussetzung für Astrid Lindgrens literarisches Werk. Es ist, als würde sie zeit ihres Lebens in ihrer Kindheit weiterleben.“ Eva Matthes, 2004, Werteorientierte Unterricht – aktuelle Konzeptionen, in: Werteorientierter Unterricht – eine Herausforderung für die Schulfächer, hrsg. von Eva Matthes, Donauwörth: Auer, S. 12-25, hier: S. 12f. Kaspar H. Spinner, 2004, Werteorientierung im literar-ästhetischen Unterricht, in: Werteorientierter Unterricht [Anm. 47], S. 102-113, hier: S. 107.