Landtag von Baden-Württemberg Antrag Stellungnahme
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Landtag von Baden-Württemberg Antrag Stellungnahme
Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 12 / 12. Wahlperiode 21. 08. 98 3194 Antrag der Abg. Carla Bregenzer u. a. SPD und Stellungnahme des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport Förderung der Kultur kurdischer Immigranten Antrag Der Landtag wolle beschließen, die Landesregierung zu ersuchen zu berichten, 1. wie die Landesregierung den Beschluß des Bundestages vom 7. November 1991 verwirklicht, nachdem den in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Kurden „die Möglichkeit zur Bewahrung und Entfaltung ihrer kulturellen Identität gegeben werden (muß)“ (BT-Drucksache Nr. 12/987); 2. welche Maßnahmen die Landesregierung in der Vergangenheit ergriffen hat und in Zukunft ergreifen wird, um die Forderungen der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 12. Juni 1992 umzusetzen, nach der in Punkt 25 die Mitgliedsstaaten aufgefordert werden, „den kurdischen Immigranten in der Gemeinschaft ihre kulturellen Rechte zu gewähren, ihre Sprache zu fördern, Radio- und Fernsehsendungen in kurdischer Sprache zu ermöglichen und die Hindernisse zu beseitigen, die es den kurdischen Eltern unmöglich machen, ihren Kindern kurdische Namen zu geben“; 3. in welchen Bundesländern welche Projekte und Angebote des muttersprachlichen Unterrichts für Kurdinnen und Kurden seit wann in welchem finanziellen und zeitlichen Umfang und mit welcher Resonanz existieren; 4. welche Überlegungen es in Baden-Württemberg gibt, kurdischen Kindern Angebote in Muttersprache und kultureller Identitätsstiftung zu unterbreiten. 20. 08. 98 Carla Bregenzer, Zeller, Braun, Christine Rudolf, Wintruff SPD Eingegangen: 21. 08. 98 / Ausgegeben: 16. 11. 98 1 Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 12 / 3194 Begründung Die Vielfalt von Sprachen und Kulturen, die in unserer Gesellschaft und nicht zuletzt in den Schulen präsent ist, bedeutet für uns Chance und Herausforderung zugleich. Erziehung zu Toleranz und zu einem gedeihlichen Miteinander verschiedener Nationen und Kulturkreise ist eine zentrale Bildungsaufgabe. Nicht umsonst haben der Deutsche Bundestag in seinem Beschluß vom 7. November 1991 und das Europäische Parlament in seiner Entschließung am 12. Juni 1992 daher die Förderung der Kultur kurdischer Immigranten eingefordert. Zur interkulturellen Bildung und zu dem Lernen mit- und voneinander gehört vor allem die Förderung des sprachlichen Potentials. Gerade der muttersprachliche Unterricht leistet in diesem Zusammenhang einen wichtigen Beitrag, denn Muttersprache ist nicht nur die Basis der individuellen Entwicklung eines Kindes, die die ethnische und kulturelle Identität des Individuums und der Gruppe bzw. der Gesellschaft prägt, sondern ist gleichzeitig der wichtigste Träger der Kultur und Geschichte eines Volkes und damit Brücke zu anderen Völkern und deren Kulturen. Geringe Kenntnisse in der Muttersprache können zur Folge haben, daß Kinder halb- oder doppelhalbsprachig aufwachsen. Wenn die Muttersprache im Kindergarten, in der Kindertagesstätte und in den Schulen gelehrt wird und dieser Unterricht in den Regelstunden stattfindet, können sich die Kinder gegenseitig besser akzeptieren und anerkennen, so daß Fremdenfeindlichkeit keinen Platz findet. Stellungnahme Mit Schreiben vom 11. November 1998 Nr. III/3–6642.0/223 nimmt das Ministerium für Kultus, Jugend und Sport unter Einbeziehung von Beiträgen des Staatsministeriums und des Innenministeriums zu dem Antrag wie folgt Stellung: Zu 1.: Die im Antrag genannte Bundestags-Drucksache 12/987, ein Antrag der Gruppe der PDS/Linke Liste, der die Wiederaufnahme der regelmäßigen Berichterstattung der Bundesregierung zur Entwicklung in der Türkei fordert, wurde mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU, F.D.P. und SPD abgelehnt. Der zitierte Text findet sich in Drucksache 12/1362 – Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses –, mit dem die Drucksache 12/279 – Zur aktuellen Situation der Kurden am 16. März 1991, dem 3. Jahrestag von Halabja –, die Drucksache 12/282 – Lage der Kurden nach dem Golfkrieg – und die Drucksache 12/373 – Die Lage im Irak und die Situation der irakischen Flüchtlinge, insbesondere der Kurden – zusammenfassend dem Bundestag zur abschließenden Beratung vorgelegt wurden. Diese Beschlussempfehlung hat der Deutsche Bundestag am 7. November 1991 bei Enthaltungen aus der Gruppe PDS/Linke Liste angenommen. Ziffer 6 des Beschlusses lautet: „In der Bundesrepublik Deutschland lebt eine große Gruppe von Kurden. Auch ihnen muss die Möglichkeit zur Bewahrung und Entfaltung ihrer kulturellen Identität gegeben werden.“ 2 Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 12 / 3194 Dieser Appell des Deutschen Bundestages erinnert an die Möglichkeiten, die grundsätzlich allen in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Gruppen im Rahmen der bestehenden Rechts- und Verfassungsordnung offen stehen, kulturelle Identitäten zu wahren und zu pflegen. Dies kann etwa im Wege der freien Vereinstätigkeit geschehen. Der Beschluss des Deutschen Bundestages begründet jedoch keine Verpflichtung der Länder dahingehend, kurdische Vereinigungen besonders zu fördern. Zu 2.: Die Entschließung des Europäischen Parlaments A 3-0192/92 – Entschließung zu den Rechten des kurdischen Volkes – wurde am 12. Juni 1992 noch unter dem Eindruck des Golfkrieges gefasst und war als Appell vorrangig an den Irak sowie an die Türkei, den Iran und Syrien gerichtet. Zu Punkt 25 der Entschließung, der sich an die Mitgliedstaaten richtet, wird wie folgt Stellung genommen: Aufgrund des in Artikel 5 GG festgelegten Instituts der Rundfunkfreiheit bestehen keine Einflussmöglichkeiten der Landesregierung auf die Veranstaltung von Radio- und Fernsehsendungen in kurdischer Sprache. Vielmehr liegt die alleinige Verantwortung für die Gestaltung von Rundfunkprogrammen bei den jeweiligen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und privaten Rundfunkveranstaltern. Im Bereich der ARD sind nach Angaben des Südwestrundfunks für die Ausländerprogramme derzeit keine Sendungen in kurdischer Sprache geplant, auch können von der ARD die vielfältigen Wünsche, das muttersprachliche Angebot zu erweitern, ohnehin im gegebenen finanziellen und frequenztechnischen Rahmen nur begrenzt erfüllt werden. So werden ab 1. Januar 1999 neben den bisherigen Sprachen Italienisch, Türkisch, Spanisch, Griechisch, Kroatisch und Serbisch zusätzliche Sendungen in russischer und polnischer Sprache aufgenommen. Ob sich in absehbarer Zeit das Angebot auf Sendungen in kurdischer Sprache erweitern lässt, muss auf Ebene der ARD erst geprüft und entschieden werden. Der Empfang von Beiträgen öffentlich-rechtlicher Anstalten in kurdischer Sprache ist nach Angaben des Südwestrundfunks in Baden-Württemberg über das Internet möglich. So wird im Rahmen der Internet-Ausstrahlung des Programms SFB 4-Radio MultiKulti des Senders Freies Berlin bundesweit ein Empfang von wöchentlich drei jeweils halbstündigen muttersprachlichen Sendungen für die in Deutschland lebenden Kurden angeboten. Die Landesanstalt für Kommunikation hat berichtet, dass ihr kurdischsprachige Sendungen in den Programmen privater kommerzieller TV- und Hörfunkveranstalter nicht bekannt seien. In den Programmen der nichtkommerziellen Veranstalter Radio Dreyeckland Freiburg (Sendung Denge Kurdistan wöchentlich samstags von 15–16 Uhr), Freies Radio für Stuttgart (Sendung Denge Welat wöchentlich sonntags von 12–14 Uhr) und Querfunk Karlsruhe (Sendung Denge Mesopotamien wöchentlich montags von 16–17 Uhr und freitags von 16–17 Uhr) werden Beiträge auch in kurdischer Sprache ausgestrahlt. Ob darüber hinaus die Kultur der kurdischen Minderheit in den persisch- und türkischsprachigen Sendungen der nichtkommerziellen Veranstalter Beachtung findet, ist der Landesanstalt nicht bekannt. Jedenfalls sind die kurdische Kultur und die Belange in der Bundesrepublik lebender Kurden immer wieder Thema internationaler Redaktionen im nichtkommerziellen Hörfunk. Hinzuweisen ist auch auf die Möglichkeit, über den Satelliten Hot Bird 4 das kurdischsprachige Fernsehprogramm Med-TV zu empfangen, das Pressebe- 3 Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 12 / 3194 richten zufolge rund 35 Mio. Kurden in der Türkei, in Europa und im Nahen Osten erreicht. Hinsichtlich der Namensgebung bestehen keine Hindernisse. In Baden-Württemberg ist es kurdischen Eltern schon jetzt möglich, ihren Kindern kurdische Vornamen zu geben. Probleme können allerdings entstehen, wenn die Geburt eines Kindes mit türkischer Staatsangehörigkeit und kurdischer Volkszugehörigkeit durch die zuständigen türkischen Stellen registriert werden soll und der Vorname des Kindes nach türkischer Auffassung nicht den dort maßgebenden Kriterien entspricht. Bestehen die Eltern jedoch gleichwohl auf dem kurdischen Namen, wird er im Geburtenbuch beurkundet. Im Übrigen stehen den in Baden-Württemberg lebenden Kurden die gleichen kulturellen Rechte zu wie allen anderen ausländischen Gruppen, die sich selbst um die Pflege ihrer jeweiligen Sprache bemühen. Eine Verpflichtung des Landes zur Förderung einer oder mehrerer der kurdischen Sprachen lässt sich aus der Entschließung des Europäischen Parlaments nicht herleiten. Zu 3.: Eine Umfrage bei den übrigen Ländern in der Bundesrepublik Deutschland hat ergeben, dass außer Baden-Württemberg weitere elf Länder muttersprachlichen Unterricht in Kurdisch weder anbieten noch fördern. Lediglich in vier Ländern existieren Projekte oder Angebote eines muttersprachlichen Unterrichts für Kinder kurdischer Eltern. Dabei gilt, dass dieser Unterricht in aller Regel von Lehrkräften erteilt wird, die bereits zuvor als Lehrkräfte des muttersprachlichen Unterrichts im Dienst des jeweiligen Landes standen. Solche Angebote bestehen in den Ländern Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Im Einzelnen stellt sich die Situation wie folgt dar: Freie Hansestadt Bremen Der muttersprachliche Unterricht in Kurdisch wurde in der Stadtgemeinde Bremen als Schulversuch im März 1993 eingeführt, und zwar zunächst an zwei Grundschulen. Die Schülerinnen und Schüler erhielten jeweils vier Wochenstunden Unterricht zusätzlich zum normalen Stundenplan. Während der gesamten Dauer des zunächst auf drei Jahre angelegten Modells wurde das Projekt wissenschaftlich begleitet durch eine Mitarbeiterin der Universität Bremen. Inzwischen findet dieser muttersprachliche Unterricht - die Teilnahme ist freiwillig - an acht Schulstandorten statt. Der Unterricht ist zum Teil in den Vormittag integriert, findet überwiegend jedoch am Nachmittag statt. Er umfasst zwei bis drei Wochenstunden und wird von zwei kurdischen Lehrkräften, die im bremischen Schuldienst tätig sind, erteilt. Insgesamt nehmen zur Zeit 180 Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen 1 - 8 dieses Unterrichtsangebot wahr. Freie und Hansestadt Hamburg Im Rahmen der Koalitionsvereinbarung ist im Jahr 1997 in Hamburg die Absicht bekundet worden, den muttersprachlichen Unterricht in die Verantwortung der Freien und Hansestadt Hamburg zu überführen. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind dafür insgesamt zehn Stellen für alle Nationalitäten vorhanden. Mit Wirkung vom 1. November 1998 wird zunächst an zwei Standorten in Hamburg muttersprachlicher kurdischer Unterricht eingeführt, der durch 4 Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 12 / 3194 einen von der hamburgischen Schulverwaltung angestellten Lehrer mit halbem Deputat erteilt wird mit der Option, bei entsprechender Nachfrage das Angebot auf ein volles Deputat aufzustocken. Über Akzeptanz und Besuch dieses Unterrichts kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nichts ausgesagt werden. Niedersachsen In Niedersachsen wird seit dem Jahr 1995 an sechs Orten (Hannover, Hildesheim, Celle, Osterholz-Scharmbeck, Oldenburg und Leer) muttersprachlicher Unterricht in Kurdisch (Kurmanci) angeboten. Die Zahl der teilnehmenden Schülerinnen und Schüler ist dabei von 116 (Schuljahr 1995/96) auf 413 (Schuljahr 1997/98) angestiegen. Parallel dazu hat sich die Zahl der eingerichteten Lerngruppen von 12 auf 54 erhöht, für die im Schuljahr 1997/98 129 Lehrerwochenstunden benötigt wurden. Vom Land Niedersachsen wird der finanzielle Aufwand für die Vergütung der sechs Lehrkräfte, die muttersprachlichen Unterricht in Kurmanci erteilen, auf 500.000 DM jährlich beziffert. Zur Akzeptanz dieses Unterrichtsangebots teilt das Niedersächsische Kultusministerium mit, dass die Resonanz bei den betroffenen Eltern und Schülerinnen und Schülern positiv sei. Nordrhein-Westfalen Seit Februar 1998 wird versuchsweise in Nordrhein-Westfalen an fünf Standorten (in Bielefeld, Bergisch-Gladbach, Bottrop, Duisburg und Dortmund) muttersprachlicher Unterricht in Kurdisch (Kurmanci) im Umfang von jeweils fünf Wochenstunden angeboten. Der Unterricht wird von Lehrern erteilt, die dazu befähigt sind und bereits seit Jahren als muttersprachliche Lehrer im Dienste des Landes Nordrhein-Westfalen stehen. Rund 100 Schülerinnen und Schüler besuchen diesen Unterricht. Die Personalkosten für dieses Unterrichtsangebot errechnen sich aus den anteiligen Lehrerdeputaten. Eine erste Auswertung dieses versuchsweise eingeführten Unterrichtsangebots liegt im nordrhein-westfälischen Kultusministerium noch nicht vor, nähere Ausführungen zur Resonanz können daher nicht gemacht werden. Zu 4.: In Baden-Württemberg wird muttersprachlicher Zusatzunterricht ausschließlich in den Unterrichtssprachen der früheren Anwerbeländer über deren diplomatische oder konsularische Vertretungen gefördert, nicht jedoch seitens des Landes angeboten. Es gibt keine Überlegungen, von diesem System abzugehen und kurdischen Kindern Angebote in Muttersprache und kultureller Identitätsstiftung zu unterbreiten. Dr. Annette Schavan Ministerin für Kultus, Jugend und Sport 5