Die janze Richtung paßt un
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Die janze Richtung paßt un
THEMA 24 „Die janze Richtung Biographische Bruchstücke zu einer Geschichte der Medienzensur Ernst Zeitter „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“ Georg Büchner – Ludwig Weidig und der Hessische Landbote Das Großherzogtum Hessen in der Realität und im Spiegel der deutschen Literatur in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts Das Großherzogtum Hessen war mit einer Fläche von 8.200 Quadratkilometern in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts das neuntgrößte Mitgliedsland des deutschen Bundes. Das Territorium des Großherzogtums blieb unzusammenhängend, durch angrenzende Nachbarstaaten geteilt. Vier Wegstunden von der Residenz Darmstadt entfernt überschritt man schon die Nordgrenze der Provinz Starkenburg. Ein Lustspiel, das erst nach sechs Jahrzehnten die Praxis der deutschen Bühnen erreichte, beschrieb um das Jahr 1834 das Großherzogtum als das Reich Popo des Königs Peter: Der Hessische Landbote: Titelblatt der 2. Fassung, 1834. tv diskurs 21 „Peter: […] Sind meine Befehle befolgt? Werden die Grenzen beobachtet? Zeremonienmeister: Ja, Majestät. Die Aussicht von diesem Saal gestattet uns die strengste Aufsicht. (Zu dem ersten Bedienten.) Was hast Du gesehen? Erster Bediente: Ein Hund, der seinen Herrn sucht, ist durch das Reich gelaufen. Zeremonienmeister: (Zu einem andern.) Und Du? Zweiter Bediente: Es geht jemand auf der Nordgrenze spazieren, aber es ist nicht der Prinz, ich könnte ihn erkennen.“ (Leonce und Lena, Büchner 1994, S. 184) THEMA 25 paßt uns nicht“ in Deutschland Viermal nahezu hätte das Großherzogtum Hessen im heutigen Bundesland Hessen Platz gehabt. In dem Agrarstaat gab es nur zwei Städte mit mehr als 20.000 Einwohnern. Die landwirtschaftliche Produktion war in ihren Methoden veraltet. Die Bevölkerung verarmte. Unter dem Einfluss der Aufklärung gab es im Großherzogtum tastende Versuche einer Staatsreform. Das Lustspiel lacht über sie, indem es die Philosophie der Aufklärung parodiert: „König Peter wird von zwei Kammerdienern angekleidet. Peter: […] Der Mensch muß denken und ich muß für meine Untertanen denken, denn sie denken nicht, sie denken nicht. – Die Substanz ist das an sich, das bin ich. (Er läuft fast nackt im Zimmer herum.) Begriffen? An sich ist an sich, versteht Ihr? Jetzt kommen meine Attribute, Modifikationen, Affektionen und Akzidenzien, wo ist mein Hemd, meine Hose? – Halt, pfui! Der freie Wille steht da vorn ganz offen. Wo ist die Moral, wo sind die Manschetten? Die Kategorien sind in der schändlichsten Verwirrung, es sind zwei Knöpfe zuviel zugeknöpft, die Dose steckt in der rechten Tasche. Mein ganzes System ist ruiniert“. (Leonce und Lena, Büchner 1994, S. 164) Das ganze System ruiniert. Wo war in dieser zögerlichen, zugleich aber brutalen Herrschaft die Moral? Die Lage in den deutschen Kleinstaaten hat Wilhelm Grimm in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts wie folgt charakterisiert: „Die Freiheit war allmählich bis zu einem Grade untergegangen, von dem niemand, der es nicht selbst miterlebte, einen Begriff hat. Jede Unbe- T E I L fangenheit, ich sage nicht einmal Freiheit der Rede, war unterdrückt. Die Polizei, öffentliche und heimliche, angeordnete und freiwillige, durchdrang alle Verhältnisse und vergiftete das Vertrauen des geselligen Lebens. Alle Stützen, auf welchen das Dasein eines Volkes beruht, Religiosität, Gerechtigkeit, Achtung vor der Sitte und dem Gesetz, waren umgestoßen oder gewaltsam erschüttert. Nur eins wurde festgehalten: Jeder Widerspruch gegen den geäußerten Willen, direkt oder indirekt ausgesprochen, sei ein Verbrechen.“ (Enzensberger 1965, S. 40) 4 Georg Büchner, 1813 –1837. Agitation und Repression Am 1. August des Jahres 1834 nimmt die großherzogliche Polizei am Stadttor von Gießen den Studenten Karl Minnigerode fest. Sie beschlagnahmt ein Paket mit Druckschriften, die den auf den ersten Blick harmlosen Titel Der Hessische Landbote tragen: „Im Jahre 1834 siehet es aus, als würde die Bibel Lügen gestraft. Es sieht aus, als hätte Gott die Bauern und Handwerker am 5ten Tage, und die Fürsten und Vornehmen am 6ten gemacht, und als hätte der Herr zu diesen gesagt: ‚Herrschet über alle Gethier, das auf Erden kriecht‘, und hätte die Bauern und Bürger zum Gewürm gezählt. Das Leben der Vornehmen ist ein langer Sonntag, sie wohnen in schönen Häusern, sie tragen zierliche Kleider, sie haben feiste Gesichter und reden eine eigne Sprache; das Volk aber liegt vor ihnen wie Dünger auf dem Acker. Der Bauer geht hinter dem Pflug, der Vornehme aber geht hinter ihm und dem Pflug und treibt ihn mit den Ochsen am Pflug, er nimmt das Korn und läßt ihm die Stoppeln. Das Leben des Bauern ist ein langer Werktag; Fremde verzehren seine Äcker vor seinen Augen, sein Leib ist eine Schwiele, sein Schweiß ist das Salz auf dem Tische des Vornehmen. […] Friedrich Ludwig Weidig, 1791 –1837. Minna (Wilhelmine) Jaegle, 1810 –1880. tv diskurs 21 THEMA 26 Studentenbude in Gießen, Federzeichnung von Ernst Elias Niebergall, 1835. Kyra Madlek und Boy Gobert in Leonce und Lena, Aufführung des Deutschen Schauspielhauses, Hamburg, in den 60er Jahren. Hebt die Augen auf und zählt das Häuflein eurer Presser, die nur stark sind durch das Blut, das sie euch aussaugen, und durch eure Arme, die ihr ihnen willenlos leihet. Ihrer sind vielleicht 10.000 im Großherzogthum und Eurer sind es 700.000 und also verhält sich die Zahl des Volkes zu seinen Pressern auch im übrigen Deutschland. […] Wann der Herr euch seine Zeichen gibt durch die Männer, durch welche er die Völker aus der Dienstbarkeit zur Freiheit führt, dann erhebet euch […]. Und bis der Herr euch ruft durch seine Boten und Zeichen, wachet und rüstet euch im Geiste und betet ihr selbst und lehrt eure Kinder beten: ‚Herr, zerbrich den Stecken unserer Treiber und laß dein Reich zu uns kommen, das Reich der Gerechtigkeit. Amen.‘ (Enzensberger 1965, 5ff.) Die Voruntersuchungen unter dem Hofgerichtsrat Conrad Georgi, einem sadistischen Trinker, beginnen sofort. Sehr bald gerät der Student der Medizin Georg Büchner in den Verdacht, einer der Autoren des Pamphlets zu sein. Büchner warnt unverzüglich seine Mitverschworenen. Der Inhaber einer Druckerei im hessischen Offenbach, der die Kampfschriften hergestellt hat, flieht nach Frankreich. Als Büchner in seine Studentenbude nach Gießen zurückkehrt, findet er seine Papiere durchsucht, sein Schrank ist versiegelt. Durch den Hofgerichtsrat Georgi ist eine Vorladung ergangen. Doch Büchner macht sich einige Prozessfehler Georgis kaltblütig zunutze und kann sich einer Verhaftung zunächst entziehen. Der konservative Vater, leitender ärztlicher Funktionär in Darmstadt, durch die Vorgänge beunruhigt, setzt durch, dass Büchner Gießen verlässt und den Winter zu Hause in Darmstadt verbringt. Georgi hat Minnigerode auf die Festung Friedberg schaffen und dort in Ketten legen lassen. Als Büchner zusammen mit dem Butzbacher Pfarrer und Schulrektor Ludwig Weidig den Hessischen Landboten schrieb und in ständiger Auseinandersetzung mit dem Büchners Radikalität abschwächenden Weidig redigierte, war er 20 Jahre alt. Er hatte noch drei Jahre zu leben: Ein Jahr vor seinem Tod schloss er das Manuskript des Lustspiels Leonce und Lena ab, das uns in das Reich Popo des Königs Peter führt. Manuskriptseite aus der „Cartesius“-Handschrift. Bei den gestrichenen Anfangszeilen handelt es sich um ein Fragment aus Leonce und Lena. tv diskurs 21 Der Student Büchner war bei seinen Kommilitonen nicht beliebt. Ein Studiengenosse berichtet in einer um Jahrzehnte verspäteten Rückschau: „Offen gestanden, dieser Büchner war uns nicht sympathisch. Er trug einen hohen Zylinderhut, der ihm immer tief unten im Nacken saß, machte beständig ein Gesicht wie eine Katze, wenn’s donnert, hielt sich gänzlich abseits, verkehrte nur mit einem etwas verlotterten und verlumpten Genie, August Becker, gewöhnlich nur der ‚rote August‘ genannt. Seine Zurückgezogenheit wurde für Hochmut ausgelegt, und da er offenbar mit politischen Umtrieben zu tun hatte, ein- oder zweimal auch revolutionäre Äußerungen hatte fallen lassen, so geschah es nicht selten, daß man abends, von der Kneipe kommend, vor seiner Wohnung still hielt und ihm ein ironisches Vivat brachte: ‚Der Erhalter des europäischen Gleichgewichtes, der Abschaffer des Sklavenhandels, Georg Büchner, er lebe hoch!‘ – Er tat, als höre er das Gejohle nicht, obgleich seine Lampe brannte und zeigte, daß er zu Hause sei“. (Enzensberger 1965, S. 65) Die Studiengenossen müssen etwas von der inneren Verstörung geahnt haben, die Büchner in Gießen befallen hatte. An seinen Vater schreibt er später über diese Zeit: „Ich war im Äußeren ruhig, doch war ich in tiefe Schwermut verfallen; dabei engten mich die politischen Verhältnisse ein, ich schämte mich, ein Knecht mit Knechten zu sein, einem vermoderten Fürstengeschlecht und einem kriechenden Staatsdiener-Aristokratismus zu Gefallen. Ich kam nach Gießen in die widrigsten Verhältnisse, Kummer und Widerwillen machten mich krank.“ (Enzensberger 1965, S. 68) Die Schlinge zieht sich enger zu. Büchner wird denunziert und zu einer Vernehmung vorgeladen. Büchner schickt seinen Bruder. Nun droht der Untersuchungsrichter mit polizeilicher Vorführung: Büchner flieht über das elsässische Vissembourg auf französischen Boden. Seinen Eltern schreibt er: „Ihr könnt, was meine persönliche Sicherheit einlangt, völlig ruhig sein. Sicheren Nachrichten gemäß bezweifele ich auch nicht, daß mir der Aufenthalt in Straßburg gestattet werden wird.“ (Büchner 1994, S. 298) Büchner hat seine Lage zu optimistisch gesehen. Hofgerichtsrat Georgi setzt die Fahndung fort: THEMA 27 „Hätte ich in Unabhängigkeit leben können“ Der Steckbrief im Original, mit dem Hofgerichtsrat Georgi Georg Büchner zur Fahndung ausschrieb. 2493. Steckbrief Der hierunter signalisirte Georg Büchner, Student der Medizin aus Darmstadt, hat sich der gerichtlichen Untersuchung seiner indicirten Theilnahme an staatsverrätherischen Handlungen durch die Entfernung aus dem Vaterlande entzogen: Man ersucht deßhalb die öffentlichen Behörden des In- und Auslandes, denselben im Betretungsfalle festnehmen und wohlverwahrt an die unterzeichnete Stelle abliefern zu lassen. Darmstadt, den 13. Juni 1835 Der von Großh. Hess. Hofgericht der Provinz Oberhessen bestellte Untersuchungsrichter Hofgerichtsrath Georgi Personal-Beschreibung Alter: 21 Jahre, Größe: 6 Schuh, 9 Zoll neuen Hessischen Maaßes, Haare: blond, Stirne: sehr gewölbt, Augenbrauen: blond, Augen: grau, Nase: stark, Mund: klein, Bart: blond, Kinn: rund, Angesicht: oval, Gesichtsfarbe: frisch, Statur: kräftig, schlank, Besondere Kennzeichen: Kurzsichtigkeit. (zit. nach Enzensberger 1965, S. 80) Büchner ist nun ein mittelloser Emigrant. Von der Schriftstellerei kann er nicht leben. In einer rigorosen Neuorientierung wendet er sich der Wissenschaft zu: „Ich sehe mich eben nach Stoff zu einer Abhandlung über einen philosophischen oder naturhistorischen Gegenstand um. Jetzt noch eine Zeit lang anhaltendes Studium, und der Weg ist gebrochen. Es gibt hier Leute, die mir eine glänzende Zukunft prophezeien. […] Aus der Schweiz habe ich die besten Nachrichten. Es wäre möglich, daß ich noch vor Neujahr von der Züricher Fakultät den Doktorhut erhielte, in welchem Fall ich alsdann nächste Ostern anfangen würde, dort zu dozieren.“ (Büchner 1994, S. 310) Im Dezember 1835 beginnt Büchner mit den Vorarbeiten zu einer naturwissenschaftlichen Studie: Zum Nervensystem der Fische. Er entwickelt eine wissenschaftliche Doppelstrategie. Im September 1836 schreibt er: „Ich habe mich jetzt ganz auf das Studium der Naturwissenschaften und der Philosophie gelegt, und werde in kurzem nach Zürich gehen, um in meiner Eigenschaft als überflüssiges Mitglied der Gesellschaft meinen Mitmenschen Vorlesungen über etwas ebenfalls höchst Überflüssiges, nämlich über die philosophischen Systeme der Deutschen seit Cartesius und Spinoza zu halten.“ (Büchner 1994, S. 321) Für die Einreise in die Schweiz braucht der Asylant Büchner ein Visum der französischen Behörden in Straßburg. Es wird erteilt. Die Schweizer Behörden reagieren: „[…] auf Ansuchen des Herrn Georg Büchner von Darmstadt, Doktor der Philosophie, daß keine Hindernisse obwalten, dem genannten Büchner in seiner Eigenschaft als politischer Flüchtling gegen Erfüllung der gesetzlichen Erfordernisse den Aufenthalt im hiesigen Kanton zu gestatten […]“ (Hauschild 1992, S. 121). Einem Umzug nach Zürich steht nun nichts mehr im Wege. Es ist für Büchner die Einreise in ein sympathisches Land: „Die Straßen laufen hier nicht voll Soldaten, Akzessisten und faulen Staatsdienern, man riskiert nicht von einer adligen Kutsche überfahren zu werden; dafür überall ein gesundes, kräftiges Volk, und um wenig Geld eine einfache, gute, rein republikanische Regierung, die sich durch eine Vermögenssteuer erhält, eine Art Steuer, die man bei uns überall als den Gipfel der Anarchie ausschreien würde.“ (Büchner 1994, S. 324) Georg Büchner betrieb auch naturwissenschaftliche Forschung. Hier Skizzen zu seiner Studie: Zum Nervensystem der Fische. tv diskurs 21 THEMA 28 Aber für Büchner werden die Monate in Zürich zu einer Zeit finanziellen Elends und schonungsloser Selbstausbeutung: „Ich sitze am Tage mit dem Skalpell und die Nacht mit den Büchern […] Das Mühlrad dreht sich als fort ohne Rast und Ruh […] Heute und gestern gönne ich mir jedoch ein wenig Ruhe und lese nicht; morgen geht’s wieder im alten Trapp, du glaubst nicht, wie regelmäßig und ordentlich. Ich gehe fast so richtig, wie eine Schwarzwälder Uhr.“ (Büchner 1994, S. 324f.) Am 5. November 1836 hält Büchner in der Aula academica der Universität Zürich mit Erfolg die für eine Habilitation notwendige öffentliche Probevorlesung. In der Stadt geht in diesem Winter nach einer Grippewelle ein „typhöses Nervenfieber“ um. Büchner infiziert sich im Januar 1837, vielleicht an einem Skalpell für seine Präparationen. Seit dem Februar 1837 liegt Büchner mit steigendem Fieber im Bett seiner spartanischen Studierstube. Freunde halten die Krankenwache. Als seine Braut am 17. Februar an sein Bett tritt, findet sie einen Sterbenden. Freunde berichten: „Nach langem Anstarren, da mildert sich sein großer verwirrter Blick, u. die krampfhaft verzogene Miene gestaltet sich zu einem leisen Lächeln – er erkennt sie – einen Augenblick u. sinkt wieder in das gräßliche Delirium zurück.“ (Georg Büchner Jahrbuch 1988/89, S. 381) Am 19. Februar 1837, nachmittags um halb vier stirbt Georg Büchner. Ein Freund, der Schriftsteller und Politiker Wilhelm Schulz, Flüchtling wie Büchner, erinnert sich später an ein letztes Wort: „Mit einer flüchtigen Bemerkung auf seinem Totenbette: ‚Hätte ich in Unabhängigkeit leben können, die der Reichtum gibt, so konnte etwas Rechtes aus mir werden.‘ – wies er selbst auf den tieferen, auf den sozialen Grund seines frühzeitigen Todes. Aber selbst seine nächste Umgebung konnte sein baldiges Ende nicht ahnen; denn Büchner, der Proletarier der geistigen Arbeit und das Opfer derselben, hatte sich lächelnd zu Tode gearbeitet.“ (Grab 1985, S. 67). Büchners Sterbezimmer, Zeichnung von Johann Jakob Tschudi, aus dem Jahre 1877. tv diskurs 21 Weidigs Verhöre und sein Ende Vier Tage nach Georg Büchners Tod, am 17. Februar 1837, findet der Untersuchungsrichter, Hofgerichtsrat Georgi, um acht Uhr morgens im Arresthaus in Darmstadt den Pfarrer und Schulrektor Ludwig Weidig schwer verletzt in seiner Zelle vor. Weidig war seit dem Frühjahr 1835 ununterbrochen in Untersuchungshaft („Man stirbt für seine Sache. Aber so im Gefängnis auf langsame Weise aufgerieben zu werden! Das ist entsetzlich!“ – Georg Büchner in einem Brief vom 16. Juli 1836; zit. nach Enzensberger 1965, S. 82). Weidig hatte Georgi durch Standhaftigkeit und Ironie immer wieder gereizt. Die Akten der Verhöre sind erhalten geblieben. In einem „Bericht über den Fortgang der Untersuchung gegen Weidig vom 18. Oktober 1935“ hebt der „Inquirent“ Georgi hervor, dass Weidig durch seine „Zuchtlosigkeiten“ nicht allein seinen eigenen Prozess, sondern auch den Fortgang desjenigen gegen seine Mitschuldigen hemme. „‚Auf dem bisherigen Wege kann es […] nicht fortgehen, Inquisit muß dahin gebracht werden, die Autorität zu achten und ein Benehmen einzuhalten, wie es ein peinlich Verklagter schuldig ist. Selbst Kettenstrafen haben nicht geholfen, ich weiß keine Schärfung als das Anschließen an die Wand, und wenn auch dieß nicht hilft, die Anwendungen anderer körperlicher Strafen.‘ Inzwischen hatte der Arzt (am 7. Okt.) angezeigt, Weidig sei gesund, die ihm dictirte Kettenstrafe könne ohne Nachtheil vollstreckt werden, und es wurde ihm darauf nach dem Protocolle ‚eine Kette von der linken Hand an den rechten Fuß gehend, angelegt, wobei er sich ruhig verhielt.‘“ (Enzensberger 1965, S. 142) Georgi hatte beim Großen Hessischen Hofgericht die Prügelstrafe für Weidig beantragt. Als das Hofgericht eine pauschale Genehmigung verweigerte, baute Georgi vor: Weidigs hervorgehobene bürgerliche Stellung spiele keine Rolle. „Gr. Hofgericht hat sich in der rubricirten, in der Sache Dr. Weidigs ergangenen Verfügung bewogen gesehen, ganz allgemein zu verordnen, daß wenn ich für nothwendig erachte, Schläge zur Anwendung zu bringen, ich vorher berichten und Genehmigung abwarten solle. Diese Ordination scheint mir, mit gnädiger Erlaubniß sei es gesagt, meine Befugnisse THEMA als Criminal-Richter auf eine unveranlaßte Weise zu verengen, und eine AusnahmsJustiz, ein Privilegium zu begründen, welches, wie ich glaube, ohnmöglich in den Absichten des Gr. Hofgerichts liegen kann. […] sollen diese Leute, weil man sie des Wagstücks wegen, Flugschriften revolutionären Inhalts unter das Volk zu verbreiten, die Behörden nicht zu achten und zu verhöhnen etc., den Gebildeten zuzählen will, das Privilegium zu Lügen und zu Widersetzlichkeiten haben? Wer vor dem Richter lügt, setzt sich unter die Linie eines Gebildeten, er gehört dem großen Haufen an, eben so sehr, wie der Dieb ein Dieb bleibt, und wenn er der Sohn des Ausgezeichnetsten in der Gesellschaft und der Gelehrteste ist. […] [Da] kein rechtlicher Grund da ist, mir eine in meiner Amtsgewalt liegende Befugniß zu beengen […] da auch ein Mißbrauch dieser Befugniß meiner Seits nicht vorliegt […], so muß ich zur Aufrechterhaltung der Befugniß meines Amtes […] mit schuldiger Bescheidenheit gegen jene oberrichterliche Beschränkung remonstriren, und gehorsamst bitten: sie ausdrücklich zurückzunehmen oder stillschweigend in Gnaden zu gestatten, daß ich sie als nicht vorhanden ansehe. Darmstadt, den 26. November 1835, Georgi.“ (Enzensberger 1965, S. 148ff.) Nun gibt der Bericht ein optisches Protokoll des Todesortes und dokumentiert die letzten verzweifelten Versuche des Sterbenden, sich seiner Mitwelt (der Nachwelt?) verständlich zu machen: „[…] sein Hals zeigte, da er mit einem Tuche nicht umwunden war, und nachdem man den Kinnbart abgenommen hatte, eine ziemlich tiefe offene Wunde, vor dem Bette lag eine Quantität geronnenen Blutes auf der Erde, und auf dem Bette neben dem Körper eine große mit Blut befleckte Glasscherbe. Durch die Länge des Zimmers zogen sich dicht neben einander gedrängte Blutspuren, von den Füßen des Arrestaten abgedrückt, auf dem Boden fand man hinter der Kopfseite des Bettes eine noch zusammen gewundene Halsbinde, welche besonders an der Stelle, nahe der Mitte des Tuchs, mit noch feuchtem Blut befleckt war, – an der Wand stand eine blutige Schrift (nämlich eine mit Blut aufgetragene) des Inhalts: da mir der Feind jede Vertheidigung versagt, so nahm [unleserlich] ich einen schimpflichen Tod [unleserlich] freies Sterben. F. L.W.“ (Enzensberger 1965, S. 153f.) Ärztliche Untersuchungen der Leiche Weidigs machen es wahrscheinlich, dass Georgi die Prügelstrafe an dem Arrestanten doch hatte vollziehen lassen. 29 Literatur: Breuer, D.: Geschichte der literarischen Zensur in Deutschland. Heidelberg 1982. Büchner, G.: Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. München 19944. Enzensberger, H. M.: Georg Büchner, Ludwig Weidig: Der Hessische Landbote. Texte, Briefe, Prozessakten. Frankfurt am Main 1965. Grab, W. (unter Mitarbeit von T. M. Mayer): Georg Büchner und die Revolution von 1848. Der Büchner-Essay von Wilhelm Schulz aus dem Jahr 1851. Königstein 1985. Hauschild, J.- C.: Georg Büchner mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1992. Mayer, T. M. (Hrsg.): Georg Büchner Jahrbuch 7. 1988/1989. Prof. em. Ernst Zeitter war Schulfunkredakteur beim Südwestfunk und Professor für Medienpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Der Text entstand unter Mitarbeit von Georgi findet am 17. Februar 1837 Weidig in seiner Zelle blutverschmiert auf dem Rücken liegend. Er atmet noch. Aus einem späteren gutachterlichen Bericht: „Was soll, was darf, was muß man denken, wenn man hört, dass um halb 8 Uhr Morgens ein Mensch in seinem Blute liegend, aber lebend aufgefunden wurde, hier in Darmstadt, wo eine Legion von Aerzten und Wundärzten sich befindet […], daß erst eine Stunde später wirklich ärztliche Hülfe herbeigeschafft wurde, als es zu spät war, irgendein Rettungsmittel anzuwenden. Und wie auffallend ist es, daß als nun endlich die Aerzte erschienen waren, noch eine weitere Viertel Stunde verstreichen gelassen wurde, ehe man sie zu dem Vulneraten führte, anstatt auch nicht einen Moment zu verlieren.“ (Enzensberger 1965, S. 154f.) Burkhard Freitag. Teil 5 zur Geschichte der Medienzensur in Deutschland folgt in tv diskurs 22. Das Grab Georg Büchners bei Zürich. tv diskurs 21