Die janze Richtung paßt un

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Die janze Richtung paßt un
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„Die janze Richtung
Biographische Bruchstücke zu einer Geschichte der Medienzensur
Ernst Zeitter
„Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“
Georg Büchner – Ludwig Weidig
und der Hessische Landbote
Das Großherzogtum Hessen in der Realität
und im Spiegel der deutschen Literatur in
den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts
Das Großherzogtum Hessen war mit einer
Fläche von 8.200 Quadratkilometern in den
ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts das
neuntgrößte Mitgliedsland des deutschen Bundes. Das Territorium des Großherzogtums blieb
unzusammenhängend, durch angrenzende
Nachbarstaaten geteilt. Vier Wegstunden von
der Residenz Darmstadt entfernt überschritt
man schon die Nordgrenze der Provinz Starkenburg. Ein Lustspiel, das erst nach sechs Jahrzehnten die Praxis der deutschen Bühnen erreichte, beschrieb um das Jahr 1834 das Großherzogtum als das Reich Popo des Königs Peter:
Der Hessische Landbote:
Titelblatt der 2. Fassung, 1834.
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„Peter: […] Sind meine Befehle befolgt?
Werden die Grenzen beobachtet?
Zeremonienmeister: Ja, Majestät. Die Aussicht von diesem Saal gestattet uns die
strengste Aufsicht. (Zu dem ersten Bedienten.) Was hast Du gesehen?
Erster Bediente: Ein Hund, der seinen
Herrn sucht, ist durch das Reich gelaufen.
Zeremonienmeister: (Zu einem andern.)
Und Du?
Zweiter Bediente: Es geht jemand auf der
Nordgrenze spazieren, aber es ist nicht der
Prinz, ich könnte ihn erkennen.“
(Leonce und Lena, Büchner 1994, S. 184)
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paßt uns nicht“
in Deutschland
Viermal nahezu hätte das Großherzogtum Hessen im heutigen Bundesland Hessen Platz gehabt. In dem Agrarstaat gab es nur zwei Städte
mit mehr als 20.000 Einwohnern. Die landwirtschaftliche Produktion war in ihren Methoden veraltet. Die Bevölkerung verarmte.
Unter dem Einfluss der Aufklärung gab es
im Großherzogtum tastende Versuche einer
Staatsreform. Das Lustspiel lacht über sie, indem es die Philosophie der Aufklärung parodiert:
„König Peter wird von zwei Kammerdienern
angekleidet.
Peter: […] Der Mensch muß denken und
ich muß für meine Untertanen denken,
denn sie denken nicht, sie denken nicht. –
Die Substanz ist das an sich, das bin ich.
(Er läuft fast nackt im Zimmer herum.)
Begriffen? An sich ist an sich, versteht Ihr?
Jetzt kommen meine Attribute, Modifikationen, Affektionen und Akzidenzien, wo
ist mein Hemd, meine Hose? – Halt, pfui!
Der freie Wille steht da vorn ganz offen.
Wo ist die Moral, wo sind die Manschetten? Die Kategorien sind in der schändlichsten Verwirrung, es sind zwei Knöpfe
zuviel zugeknöpft, die Dose steckt in der
rechten Tasche. Mein ganzes System ist
ruiniert“.
(Leonce und Lena, Büchner 1994, S. 164)
Das ganze System ruiniert. Wo war in dieser zögerlichen, zugleich aber brutalen Herrschaft die
Moral? Die Lage in den deutschen Kleinstaaten
hat Wilhelm Grimm in den 30er Jahren des
19. Jahrhunderts wie folgt charakterisiert: „Die
Freiheit war allmählich bis zu einem Grade untergegangen, von dem niemand, der es nicht
selbst miterlebte, einen Begriff hat. Jede Unbe-
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fangenheit, ich sage nicht einmal Freiheit der
Rede, war unterdrückt. Die Polizei, öffentliche
und heimliche, angeordnete und freiwillige,
durchdrang alle Verhältnisse und vergiftete das
Vertrauen des geselligen Lebens. Alle Stützen,
auf welchen das Dasein eines Volkes beruht, Religiosität, Gerechtigkeit, Achtung vor der Sitte
und dem Gesetz, waren umgestoßen oder gewaltsam erschüttert. Nur eins wurde festgehalten: Jeder Widerspruch gegen den geäußerten
Willen, direkt oder indirekt ausgesprochen, sei
ein Verbrechen.“ (Enzensberger 1965, S. 40)
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Georg Büchner, 1813 –1837.
Agitation und Repression
Am 1. August des Jahres 1834 nimmt die großherzogliche Polizei am Stadttor von Gießen den
Studenten Karl Minnigerode fest. Sie beschlagnahmt ein Paket mit Druckschriften, die den auf
den ersten Blick harmlosen Titel Der Hessische
Landbote tragen: „Im Jahre 1834 siehet es aus,
als würde die Bibel Lügen gestraft. Es sieht aus,
als hätte Gott die Bauern und Handwerker am
5ten Tage, und die Fürsten und Vornehmen am
6ten gemacht, und als hätte der Herr zu diesen
gesagt: ‚Herrschet über alle Gethier, das auf
Erden kriecht‘, und hätte die Bauern und Bürger zum Gewürm gezählt. Das Leben der Vornehmen ist ein langer Sonntag, sie wohnen in
schönen Häusern, sie tragen zierliche Kleider,
sie haben feiste Gesichter und reden eine eigne
Sprache; das Volk aber liegt vor ihnen wie Dünger auf dem Acker. Der Bauer geht hinter dem
Pflug, der Vornehme aber geht hinter ihm und
dem Pflug und treibt ihn mit den Ochsen am
Pflug, er nimmt das Korn und läßt ihm die Stoppeln. Das Leben des Bauern ist ein langer Werktag; Fremde verzehren seine Äcker vor seinen
Augen, sein Leib ist eine Schwiele, sein Schweiß
ist das Salz auf dem Tische des Vornehmen. […]
Friedrich Ludwig Weidig,
1791 –1837.
Minna (Wilhelmine) Jaegle,
1810 –1880.
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Studentenbude in Gießen,
Federzeichnung von Ernst Elias
Niebergall, 1835.
Kyra Madlek und Boy Gobert in Leonce und
Lena, Aufführung des Deutschen Schauspielhauses, Hamburg, in den 60er Jahren.
Hebt die Augen auf und zählt das Häuflein eurer Presser, die nur stark sind durch das Blut,
das sie euch aussaugen, und durch eure Arme,
die ihr ihnen willenlos leihet. Ihrer sind vielleicht 10.000 im Großherzogthum und Eurer
sind es 700.000 und also verhält sich die Zahl
des Volkes zu seinen Pressern auch im übrigen
Deutschland. […] Wann der Herr euch seine
Zeichen gibt durch die Männer, durch welche er
die Völker aus der Dienstbarkeit zur Freiheit
führt, dann erhebet euch […].
Und bis der Herr euch ruft durch seine Boten und Zeichen, wachet und rüstet euch im
Geiste und betet ihr selbst und lehrt eure Kinder
beten: ‚Herr, zerbrich den Stecken unserer Treiber und laß dein Reich zu uns kommen, das
Reich der Gerechtigkeit. Amen.‘ (Enzensberger
1965, 5ff.)
Die Voruntersuchungen unter dem Hofgerichtsrat Conrad Georgi, einem sadistischen
Trinker, beginnen sofort. Sehr bald gerät der
Student der Medizin Georg Büchner in den Verdacht, einer der Autoren des Pamphlets zu sein.
Büchner warnt unverzüglich seine Mitverschworenen. Der Inhaber einer Druckerei im
hessischen Offenbach, der die Kampfschriften
hergestellt hat, flieht nach Frankreich. Als
Büchner in seine Studentenbude nach Gießen
zurückkehrt, findet er seine Papiere durchsucht, sein Schrank ist versiegelt. Durch den
Hofgerichtsrat Georgi ist eine Vorladung ergangen. Doch Büchner macht sich einige Prozessfehler Georgis kaltblütig zunutze und kann
sich einer Verhaftung zunächst entziehen. Der
konservative Vater, leitender ärztlicher Funktionär in Darmstadt, durch die Vorgänge beunruhigt, setzt durch, dass Büchner Gießen verlässt und den Winter zu Hause in Darmstadt
verbringt. Georgi hat Minnigerode auf die Festung Friedberg schaffen und dort in Ketten legen lassen.
Als Büchner zusammen mit dem Butzbacher Pfarrer und Schulrektor Ludwig Weidig
den Hessischen Landboten schrieb und in ständiger Auseinandersetzung mit dem Büchners
Radikalität abschwächenden Weidig redigierte,
war er 20 Jahre alt. Er hatte noch drei Jahre zu
leben: Ein Jahr vor seinem Tod schloss er das
Manuskript des Lustspiels Leonce und Lena ab,
das uns in das Reich Popo des Königs Peter
führt.
Manuskriptseite aus der „Cartesius“-Handschrift.
Bei den gestrichenen Anfangszeilen handelt es sich
um ein Fragment aus Leonce und Lena.
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Der Student Büchner war bei seinen Kommilitonen nicht beliebt. Ein Studiengenosse berichtet in einer um Jahrzehnte verspäteten Rückschau: „Offen gestanden, dieser Büchner war
uns nicht sympathisch. Er trug einen hohen Zylinderhut, der ihm immer tief unten im Nacken
saß, machte beständig ein Gesicht wie eine Katze, wenn’s donnert, hielt sich gänzlich abseits,
verkehrte nur mit einem etwas verlotterten und
verlumpten Genie, August Becker, gewöhnlich
nur der ‚rote August‘ genannt. Seine Zurückgezogenheit wurde für Hochmut ausgelegt, und
da er offenbar mit politischen Umtrieben zu tun
hatte, ein- oder zweimal auch revolutionäre
Äußerungen hatte fallen lassen, so geschah es
nicht selten, daß man abends, von der Kneipe
kommend, vor seiner Wohnung still hielt und
ihm ein ironisches Vivat brachte: ‚Der Erhalter
des europäischen Gleichgewichtes, der Abschaffer des Sklavenhandels, Georg Büchner, er
lebe hoch!‘ – Er tat, als höre er das Gejohle nicht,
obgleich seine Lampe brannte und zeigte, daß
er zu Hause sei“. (Enzensberger 1965, S. 65)
Die Studiengenossen müssen etwas von der
inneren Verstörung geahnt haben, die Büchner
in Gießen befallen hatte. An seinen Vater
schreibt er später über diese Zeit: „Ich war im
Äußeren ruhig, doch war ich in tiefe Schwermut
verfallen; dabei engten mich die politischen
Verhältnisse ein, ich schämte mich, ein Knecht
mit Knechten zu sein, einem vermoderten Fürstengeschlecht und einem kriechenden Staatsdiener-Aristokratismus zu Gefallen. Ich kam
nach Gießen in die widrigsten Verhältnisse,
Kummer und Widerwillen machten mich
krank.“ (Enzensberger 1965, S. 68)
Die Schlinge zieht sich enger zu. Büchner
wird denunziert und zu einer Vernehmung vorgeladen. Büchner schickt seinen Bruder. Nun
droht der Untersuchungsrichter mit polizeilicher Vorführung: Büchner flieht über das elsässische Vissembourg auf französischen Boden. Seinen Eltern schreibt er: „Ihr könnt, was
meine persönliche Sicherheit einlangt, völlig
ruhig sein. Sicheren Nachrichten gemäß bezweifele ich auch nicht, daß mir der Aufenthalt
in Straßburg gestattet werden wird.“ (Büchner
1994, S. 298)
Büchner hat seine Lage zu optimistisch gesehen. Hofgerichtsrat Georgi setzt die Fahndung fort:
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„Hätte ich in Unabhängigkeit leben können“
Der Steckbrief im Original, mit
dem Hofgerichtsrat Georgi Georg
Büchner zur Fahndung ausschrieb.
2493. Steckbrief
Der hierunter signalisirte Georg Büchner, Student der Medizin aus Darmstadt, hat sich der
gerichtlichen Untersuchung seiner indicirten
Theilnahme an staatsverrätherischen Handlungen durch die Entfernung aus dem Vaterlande entzogen: Man ersucht deßhalb die
öffentlichen Behörden des In- und Auslandes,
denselben im Betretungsfalle festnehmen und
wohlverwahrt an die unterzeichnete Stelle
abliefern zu lassen.
Darmstadt, den 13. Juni 1835
Der von Großh. Hess. Hofgericht der
Provinz Oberhessen bestellte
Untersuchungsrichter Hofgerichtsrath
Georgi
Personal-Beschreibung
Alter: 21 Jahre,
Größe: 6 Schuh, 9 Zoll neuen Hessischen
Maaßes,
Haare: blond,
Stirne: sehr gewölbt,
Augenbrauen: blond,
Augen: grau,
Nase: stark,
Mund: klein,
Bart: blond,
Kinn: rund,
Angesicht: oval,
Gesichtsfarbe: frisch,
Statur: kräftig, schlank,
Besondere Kennzeichen: Kurzsichtigkeit.
(zit. nach Enzensberger 1965, S. 80)
Büchner ist nun ein mittelloser Emigrant. Von
der Schriftstellerei kann er nicht leben. In einer
rigorosen Neuorientierung wendet er sich der
Wissenschaft zu: „Ich sehe mich eben nach Stoff
zu einer Abhandlung über einen philosophischen oder naturhistorischen Gegenstand um.
Jetzt noch eine Zeit lang anhaltendes Studium,
und der Weg ist gebrochen. Es gibt hier Leute,
die mir eine glänzende Zukunft prophezeien.
[…] Aus der Schweiz habe ich die besten Nachrichten. Es wäre möglich, daß ich noch vor Neujahr von der Züricher Fakultät den Doktorhut
erhielte, in welchem Fall ich alsdann nächste
Ostern anfangen würde, dort zu dozieren.“
(Büchner 1994, S. 310)
Im Dezember 1835 beginnt Büchner mit
den Vorarbeiten zu einer naturwissenschaftlichen Studie: Zum Nervensystem der Fische. Er
entwickelt eine wissenschaftliche Doppelstrategie. Im September 1836 schreibt er: „Ich habe mich jetzt ganz auf das Studium der Naturwissenschaften und der Philosophie gelegt, und
werde in kurzem nach Zürich gehen, um in meiner Eigenschaft als überflüssiges Mitglied der
Gesellschaft meinen Mitmenschen Vorlesungen
über etwas ebenfalls höchst Überflüssiges,
nämlich über die philosophischen Systeme der
Deutschen seit Cartesius und Spinoza zu halten.“ (Büchner 1994, S. 321)
Für die Einreise in die Schweiz braucht der
Asylant Büchner ein Visum der französischen
Behörden in Straßburg. Es wird erteilt. Die
Schweizer Behörden reagieren: „[…] auf Ansuchen des Herrn Georg Büchner von Darmstadt, Doktor der Philosophie, daß keine Hindernisse obwalten, dem genannten Büchner in
seiner Eigenschaft als politischer Flüchtling gegen Erfüllung der gesetzlichen Erfordernisse
den Aufenthalt im hiesigen Kanton zu gestatten
[…]“ (Hauschild 1992, S. 121). Einem Umzug
nach Zürich steht nun nichts mehr im Wege. Es
ist für Büchner die Einreise in ein sympathisches Land: „Die Straßen laufen hier nicht voll
Soldaten, Akzessisten und faulen Staatsdienern, man riskiert nicht von einer adligen Kutsche überfahren zu werden; dafür überall ein
gesundes, kräftiges Volk, und um wenig Geld eine einfache, gute, rein republikanische Regierung, die sich durch eine Vermögenssteuer erhält, eine Art Steuer, die man bei uns überall als
den Gipfel der Anarchie ausschreien würde.“
(Büchner 1994, S. 324)
Georg Büchner betrieb auch
naturwissenschaftliche Forschung.
Hier Skizzen zu seiner Studie:
Zum Nervensystem der Fische.
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Aber für Büchner werden die Monate in Zürich
zu einer Zeit finanziellen Elends und schonungsloser Selbstausbeutung: „Ich sitze am Tage mit dem Skalpell und die Nacht mit den
Büchern […] Das Mühlrad dreht sich als fort
ohne Rast und Ruh […] Heute und gestern gönne ich mir jedoch ein wenig Ruhe und lese nicht;
morgen geht’s wieder im alten Trapp, du
glaubst nicht, wie regelmäßig und ordentlich.
Ich gehe fast so richtig, wie eine Schwarzwälder
Uhr.“ (Büchner 1994, S. 324f.)
Am 5. November 1836 hält Büchner in der
Aula academica der Universität Zürich mit Erfolg die für eine Habilitation notwendige öffentliche Probevorlesung. In der Stadt geht in
diesem Winter nach einer Grippewelle ein „typhöses Nervenfieber“ um. Büchner infiziert sich
im Januar 1837, vielleicht an einem Skalpell für
seine Präparationen.
Seit dem Februar 1837 liegt Büchner mit
steigendem Fieber im Bett seiner spartanischen
Studierstube. Freunde halten die Krankenwache. Als seine Braut am 17. Februar an sein Bett
tritt, findet sie einen Sterbenden. Freunde berichten: „Nach langem Anstarren, da mildert sich
sein großer verwirrter Blick, u. die krampfhaft
verzogene Miene gestaltet sich zu einem leisen
Lächeln – er erkennt sie – einen Augenblick u.
sinkt wieder in das gräßliche Delirium zurück.“
(Georg Büchner Jahrbuch 1988/89, S. 381)
Am 19. Februar 1837, nachmittags um halb
vier stirbt Georg Büchner. Ein Freund, der
Schriftsteller und Politiker Wilhelm Schulz,
Flüchtling wie Büchner, erinnert sich später an
ein letztes Wort: „Mit einer flüchtigen Bemerkung auf seinem Totenbette: ‚Hätte ich in Unabhängigkeit leben können, die der Reichtum
gibt, so konnte etwas Rechtes aus mir werden.‘ –
wies er selbst auf den tieferen, auf den sozialen
Grund seines frühzeitigen Todes. Aber selbst
seine nächste Umgebung konnte sein baldiges
Ende nicht ahnen; denn Büchner, der Proletarier der geistigen Arbeit und das Opfer derselben,
hatte sich lächelnd zu Tode gearbeitet.“ (Grab
1985, S. 67).
Büchners Sterbezimmer,
Zeichnung von Johann Jakob
Tschudi, aus dem Jahre 1877.
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Weidigs Verhöre und sein Ende
Vier Tage nach Georg Büchners Tod, am 17. Februar 1837, findet der Untersuchungsrichter,
Hofgerichtsrat Georgi, um acht Uhr morgens im
Arresthaus in Darmstadt den Pfarrer und Schulrektor Ludwig Weidig schwer verletzt in seiner
Zelle vor. Weidig war seit dem Frühjahr 1835
ununterbrochen in Untersuchungshaft („Man
stirbt für seine Sache. Aber so im Gefängnis auf
langsame Weise aufgerieben zu werden! Das ist
entsetzlich!“ – Georg Büchner in einem Brief
vom 16. Juli 1836; zit. nach Enzensberger
1965, S. 82).
Weidig hatte Georgi durch Standhaftigkeit
und Ironie immer wieder gereizt. Die Akten der
Verhöre sind erhalten geblieben. In einem „Bericht über den Fortgang der Untersuchung gegen Weidig vom 18. Oktober 1935“ hebt der „Inquirent“ Georgi hervor, dass Weidig durch seine
„Zuchtlosigkeiten“ nicht allein seinen eigenen
Prozess, sondern auch den Fortgang desjenigen
gegen seine Mitschuldigen hemme. „‚Auf dem
bisherigen Wege kann es […] nicht fortgehen,
Inquisit muß dahin gebracht werden, die Autorität zu achten und ein Benehmen einzuhalten,
wie es ein peinlich Verklagter schuldig ist.
Selbst Kettenstrafen haben nicht geholfen, ich
weiß keine Schärfung als das Anschließen an
die Wand, und wenn auch dieß nicht hilft, die
Anwendungen anderer körperlicher Strafen.‘
Inzwischen hatte der Arzt (am 7. Okt.) angezeigt, Weidig sei gesund, die ihm dictirte Kettenstrafe könne ohne Nachtheil vollstreckt werden, und es wurde ihm darauf nach dem Protocolle ‚eine Kette von der linken Hand an den
rechten Fuß gehend, angelegt, wobei er sich ruhig verhielt.‘“ (Enzensberger 1965, S. 142)
Georgi hatte beim Großen Hessischen Hofgericht die Prügelstrafe für Weidig beantragt.
Als das Hofgericht eine pauschale Genehmigung verweigerte, baute Georgi vor: Weidigs
hervorgehobene bürgerliche Stellung spiele
keine Rolle.
„Gr. Hofgericht hat sich in der rubricirten,
in der Sache Dr. Weidigs ergangenen Verfügung bewogen gesehen, ganz allgemein
zu verordnen, daß wenn ich für nothwendig erachte, Schläge zur Anwendung zu
bringen, ich vorher berichten und Genehmigung abwarten solle.
Diese Ordination scheint mir, mit gnädiger
Erlaubniß sei es gesagt, meine Befugnisse
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als Criminal-Richter auf eine unveranlaßte
Weise zu verengen, und eine AusnahmsJustiz, ein Privilegium zu begründen, welches, wie ich glaube, ohnmöglich in den
Absichten des Gr. Hofgerichts liegen kann.
[…] sollen diese Leute, weil man sie des
Wagstücks wegen, Flugschriften revolutionären Inhalts unter das Volk zu verbreiten, die Behörden nicht zu achten und zu
verhöhnen etc., den Gebildeten zuzählen
will, das Privilegium zu Lügen und zu
Widersetzlichkeiten haben? Wer vor dem
Richter lügt, setzt sich unter die Linie eines Gebildeten, er gehört dem großen
Haufen an, eben so sehr, wie der Dieb ein
Dieb bleibt, und wenn er der Sohn des
Ausgezeichnetsten in der Gesellschaft und
der Gelehrteste ist. […]
[Da] kein rechtlicher Grund da ist, mir eine in meiner Amtsgewalt liegende Befugniß zu beengen
[…] da auch ein Mißbrauch dieser Befugniß meiner Seits nicht vorliegt […], so
muß ich zur Aufrechterhaltung der Befugniß meines Amtes […] mit schuldiger
Bescheidenheit gegen jene oberrichterliche Beschränkung remonstriren, und
gehorsamst bitten:
sie ausdrücklich zurückzunehmen oder
stillschweigend in Gnaden zu gestatten,
daß ich sie als nicht vorhanden ansehe.
Darmstadt, den 26. November 1835,
Georgi.“
(Enzensberger 1965, S. 148ff.)
Nun gibt der Bericht ein optisches Protokoll des
Todesortes und dokumentiert die letzten verzweifelten Versuche des Sterbenden, sich seiner
Mitwelt (der Nachwelt?) verständlich zu machen: „[…] sein Hals zeigte, da er mit einem
Tuche nicht umwunden war, und nachdem man
den Kinnbart abgenommen hatte, eine ziemlich
tiefe offene Wunde, vor dem Bette lag eine
Quantität geronnenen Blutes auf der Erde, und
auf dem Bette neben dem Körper eine große mit
Blut befleckte Glasscherbe.
Durch die Länge des Zimmers zogen sich
dicht neben einander gedrängte Blutspuren,
von den Füßen des Arrestaten abgedrückt, auf
dem Boden fand man hinter der Kopfseite des
Bettes eine noch zusammen gewundene Halsbinde, welche besonders an der Stelle, nahe der
Mitte des Tuchs, mit noch feuchtem Blut befleckt war, – an der Wand stand eine blutige
Schrift (nämlich eine mit Blut aufgetragene)
des Inhalts:
da mir der Feind jede Vertheidigung versagt,
so nahm [unleserlich] ich einen schimpflichen
Tod [unleserlich] freies Sterben. F. L.W.“ (Enzensberger 1965, S. 153f.)
Ärztliche Untersuchungen der Leiche Weidigs machen es wahrscheinlich, dass Georgi die
Prügelstrafe an dem Arrestanten doch hatte
vollziehen lassen.
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Literatur:
Breuer, D.:
Geschichte der literarischen
Zensur in Deutschland.
Heidelberg 1982.
Büchner, G.:
Werke und Briefe. Münchner
Ausgabe. München 19944.
Enzensberger, H. M.:
Georg Büchner, Ludwig
Weidig: Der Hessische
Landbote. Texte, Briefe,
Prozessakten. Frankfurt am
Main 1965.
Grab, W. (unter Mitarbeit
von T. M. Mayer):
Georg Büchner und die
Revolution von 1848. Der
Büchner-Essay von Wilhelm
Schulz aus dem Jahr 1851.
Königstein 1985.
Hauschild, J.- C.:
Georg Büchner mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei
Hamburg 1992.
Mayer, T. M. (Hrsg.):
Georg Büchner Jahrbuch 7.
1988/1989.
Prof. em. Ernst Zeitter war Schulfunkredakteur beim
Südwestfunk und Professor für Medienpädagogik an der
Pädagogischen Hochschule Heidelberg.
Der Text entstand unter Mitarbeit von
Georgi findet am 17. Februar 1837 Weidig in
seiner Zelle blutverschmiert auf dem Rücken
liegend. Er atmet noch. Aus einem späteren gutachterlichen Bericht: „Was soll, was darf, was
muß man denken, wenn man hört, dass um
halb 8 Uhr Morgens ein Mensch in seinem Blute liegend, aber lebend aufgefunden wurde,
hier in Darmstadt, wo eine Legion von Aerzten
und Wundärzten sich befindet […], daß erst eine Stunde später wirklich ärztliche Hülfe herbeigeschafft wurde, als es zu spät war, irgendein Rettungsmittel anzuwenden. Und wie auffallend ist es, daß als nun endlich die Aerzte erschienen waren, noch eine weitere Viertel
Stunde verstreichen gelassen wurde, ehe man
sie zu dem Vulneraten führte, anstatt auch nicht
einen Moment zu verlieren.“ (Enzensberger
1965, S. 154f.)
Burkhard Freitag.
Teil 5 zur Geschichte der Medienzensur in
Deutschland folgt in tv diskurs 22.
Das Grab Georg Büchners
bei Zürich.
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