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Masterarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Master of Arts der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich Moralische Überforderung Lukas Naegeli Referent: Prof. Dr. Peter Schaber Philosophisches Seminar 25.06.2014 [...] the aim is to sharpen perception, to make one more acutely and honestly aware of what one is saying, thinking and feeling. Bernard Williams, Morality Truth gains more even by the errors of one who, with due study and preparation, thinks for himself, than by the true opinions of those who only hold them because they do not suffer themselves to think. John Stuart Mill, On Liberty Inhalt Einleitung 1 Teil I: Die Explikation des Überforderungseinwands 5 1. Intuitive Attraktivität und erste Irritationen 1.1. Paradigmatische Beispiele 1.2. Skeptische Fragen 6 7 15 2. Die Höhe moralischer Forderungen und die Idee der moralischen Überforderung 18 2.1. Unterschiedliche Interpretationen 18 2.2. Etwas nicht tun können 20 2.3. Murphys Herausforderung 26 2.4. Überforderung als Einwand 34 Teil II: Die Berechtigung des Überforderungseinwands 3. Wohlerwogene moralische Überzeugungen 38 38 3.1. Hookers Argumentation 39 3.2. Moralische Intuitionen und ethische Methodologie 43 4. Auf der Suche nach einer Begründung 54 4.1. Schefflers menschliche Moral 54 4.2. Einwände und Erwiderungen 65 Schluss 76 Literatur 79 Einleitung Müssen wir einen Vertrag auch einhalten, wenn wir dabei wider Erwarten viel Geld verlieren? Ist eine Lüge auch moralisch falsch, wenn uns durch eine ehrliche Äusserung erhebliche Nachteile entstehen? Und sind wir selbst dann verpflichtet, Menschen in grosser Not zu helfen, wenn uns infolgedessen die Verwirklichung eines zentralen Lebensplans unmöglich wird? Moralische Forderungen können allem Anschein nach ziemlich anspruchsvoll sein. Denn zum einen entspricht es unserer Alltagsmoral, mehr als bloss eine der genannten Fragen mit „Ja“ zu beantworten, und zum anderen legen so unterschiedliche Moraltheorien wie der Kontraktualismus, der Kantianismus oder der Konsequentialismus ebenfalls mindestens eine affirmative Antwort darauf nahe. Finanzielle Verluste können einen Vertragsbruch zumindest für eine Kontraktualistin nicht rechtfertigen, drohende Nachteile heben das Lügenverbot jedenfalls aus der Sicht eines Kantianers keineswegs auf und die Preisgabe eines bedeutenden persönlichen Projekts kann angesichts notleidender Menschen wenigstens für eine Konsequentialistin geboten sein. Wer sich also moralisch einwandfrei verhalten möchte, muss seinen eigenen Interessen wohl unter Umständen entsagen. Zwischen dem, was uns wichtig ist, und dem, was die Moral uns auferlegt, scheint nicht zwingend ein harmonisches Verhältnis zu bestehen. Gleichwohl wird manchen Moralprinzipien und -theorien vorgehalten, sie stellten zu hohe Anforderungen an uns und seien deshalb nicht plausibel. Folgt aus einer ethischen Auffassung etwa, dass es nur äusserst selten zulässig ist, im eigenen Interesse zu handeln, dann ist sie Joseph Raz zufolge absurd und zweifellos falsch.1 John Leslie Mackie hält den klassischen Handlungsutilitarismus für eine „Ethik der Fantasie“, deren Vertreter schlicht zu viel von uns erwarten.2 Und ergibt sich schliesslich aus einer unparteilichen Moralkonzeption, dass wir im Konfliktfall unsere fundamentalen Lebensprojekte aufgeben müssen, spricht dies nach Bernard Williams entschieden gegen eine solche Konzeption: [I]mpartial morality, if the conflict really does arise, must be required to win; and that cannot necessarily be a reasonable demand on the agent. There can come a point at which it is quite unreasonable for a man to give up, in the name of the impartial good ordering of the world of moral agents, something which is a condition of his having any interest in being around in that world at all.3 Derart viel, so der Tenor, kann die Moral nicht von uns verlangen. Es wäre absurd, zu denken, wir müssten aus moralischen Gründen gegebenenfalls unsere Familie oder uns selbst opfern, uns einen Körperteil amputieren lassen oder darauf verzichten, unsere Kinder zu besuchen, die vielleicht auf einem anderen Kontinent leben. Solch exzessive Forderungen sind, wie 1 Vgl. Raz (1993), 1297. Vgl. Mackie (1977), 129f. 3 Williams (1981), 14; vgl. dazu auch Williams (1973). 2 1 vermutlich viele meinen, überzogen, unzumutbar oder überfordernd, und eine Moraltheorie, die sie beinhaltet, büsst dadurch – jedenfalls gemäss dem, was man in einer ersten Annäherung als Überforderungseinwand bezeichnen kann – entweder an Plausibilität ein oder erweist sich sogar als unhaltbar. Die Anhänger des Überforderungseinwands sind dementsprechend der Ansicht, dass (i) nicht alle Moraltheorien gleich anspruchsvoll sind und (ii) manche davon zu viel von uns verlangen. Ihrer Meinung nach gibt es einerseits Grenzen dessen, was die Moral von Menschen fordern darf, und andererseits sowohl Theorien, welche diese Grenzen respektieren, als auch Theorien, welche diese Grenzen nicht respektieren.4 Beide Thesen – (i) und (ii) – mögen zwar auf den ersten Blick einleuchtend scheinen, entpuppen sich aber bei näherem Hinsehen als in hohem Masse erläuterungs- und begründungsbedürftig. So denkt Liam B. Murphy etwa, dass die Idee exzessiver Ansprüche selbst letztlich unklar bleibt,5 während andere nicht einmal die moraltheoretische Relevanz der Höhe moralischer Forderungen einräumen und schulterzuckend feststellen: „[I]f morality is demanding, it is demanding.”6 In diesem Geist meint Derek Parfit beispielsweise, wir könnten mitnichten davon ausgehen, sondern bloss darauf hoffen, dass die beste Moraltheorie nicht unrealistisch anspruchsvoll sei.7 Wird mit dem Überforderungseinwand also lediglich ein eigennütziges Vorurteil zum Ausdruck gebracht? Bleibt rätselhaft, worin der Einwand überhaupt bestehen soll? Handelt es sich weniger um ein philosophisches Argument, als vielmehr um die rhetorische Maskerade einer egoistischen Haltung? Der intuitiven Attraktivität der Thesen (i) und (ii) steht, wie es scheint, ihre besondere Erläuterungs- und Begründungsbedürftigkeit entgegen. Was auf den ersten Blick vielversprechend klingt, droht uns auf den zweiten insofern zu entgleiten, als sowohl fraglich ist, was damit genau ausgesagt werden soll, als auch, was eigentlich dafür spricht, dass das Behauptete zutrifft. Daraus erwächst eine Spannung, die zum Anlass werden muss, sich Klarheit darüber zu verschaffen, wie der Überforderungseinwand zu verstehen ist und ob er je berechtigt sein kann. Entsprechend ist es das Ziel der vorliegenden Untersuchung, der folgenden Frage auf den Grund zu gehen: Lässt sich der Überforderungseinwand so explizieren, dass er dazu geeignet ist, gegenüber gewissen Moralprinzipien oder -theorien berechtigterweise vorgebracht zu werden? Eine zufriedenstellende Antwort darauf setzt indes, wie bereits die motivierenden Überlegungen andeuten, die Lösung zweier Probleme voraus, falls sie positiv ausfallen soll. Zum einen müssen diejenigen, die gewillt sind, für den Einwand in die Bresche zu 4 Siehe dazu etwa Fishkin (1982), 14; Kagan (1989), xi; Murphy (2000), 15. Vgl. Murphy (2000), 6. 6 Griffin (1986), 185; vgl. dazu auch Murphy (2000), 15. 7 Siehe Parfit (1984), 29. 5 2 springen, ein Interpretations- und zum anderen ein Rechtfertigungsproblem bewältigen. Es fragt sich, wie eine angemessene Interpretation des Überforderungseinwands aussehen könnte und warum er – so interpretiert – auch stichhaltig sein soll. Aufgrund dessen gliedert sich die Arbeit in zwei Teile, die jeweils hauptsächlich einer dieser beiden Herausforderungen gewidmet sind. Im ersten Teil sollen Schwierigkeiten im Vordergrund stehen, die sich im Zusammenhang mit der Explikation des Einwands ergeben, der zweite Teil dagegen rückt die Frage nach der Berechtigung des Einwands in den Mittelpunkt. Dabei darf allerdings nicht in Vergessenheit geraten, dass die philosophischen Probleme, die den beiden Teilen der Untersuchung zugrunde liegen, eng miteinander zusammenhängen. Das erste kann nicht ohne Berücksichtigung des zweiten und das zweite nicht ohne Berücksichtigung des ersten angegangen werden. Wie überzeugend der Überforderungseinwand ist, hängt klarerweise davon ab, wie er verstanden wird. So könnte es unterschiedliche Varianten des Einwands geben, von denen manche vielleicht plausibler sind als andere. Darum erfordert eine Prüfung der Berechtigung des Einwands auf jeden Fall eine Klärung seines Gehalts. Wir müssen wissen, wie ein Argument beschaffen ist, bevor wir die Möglichkeit haben, es zu kritisieren. Ebenso wenig kann aber die Frage danach, wie der Einwand zu verstehen ist, unabhängig von jeglicher Einschätzung seiner Überzeugungskraft beantwortet werden. Als moraltheoretischer Einwand gegen fordernde ethische Ansätze kommt dem Überforderungseinwand nämlich eine bestimmte argumentative Rolle zu. Er soll eine konkrete Aufgabe übernehmen und es gehört daher auch zu den Erfolgsbedingungen seiner Erläuterung, dass er auf eine Weise gefasst wird, die es ihm erlaubt, diese Aufgabe möglichst gut zu erfüllen. Die Auslegung muss auf die Überzeugungskraft des Einwands ausgerichtet sein. Sie sollte ihn so stark wie möglich machen. Jede Explikation bleibt demnach, um frei mit Kant zu sprechen, ohne Blick auf die Rechtfertigungsdimension leer, jede Evaluation aber bleibt ohne Blick auf die Interpretationsdimension blind. Dies ändert jedoch nichts daran, dass die vorgeschlagene Zweiteilung hilfreich ist, um verschiedene Aspekte dessen zu beleuchten, was Anhänger des Überforderungseinwands leisten müssen, wenn ihre Argumentation überzeugen soll. Von den Schwierigkeiten, mit denen sie sich konfrontiert sehen, resultieren manche nämlich aus der Herausforderung der unerlässlichen Explikation, andere dagegen aus dem erhobenen Anspruch auf Berechtigung. Demgemäss ist im ersten Abschnitt des ersten Teils aufzuzeigen, inwiefern mit den naheliegenden Überzeugungen (i) und (ii) Explikationsprobleme einhergehen, die schwierige Fragen nach sich ziehen, während im zweiten Abschnitt deutlich werden soll, wie sich diese Fragen be- 3 antworten lassen. Ob der Überforderungseinwand indes je berechtigt sein kann, stellt sich in den beiden Abschnitten des zweiten Teils heraus. Je intensiver die Auseinandersetzung mit dem Einwand wird, um den sich die Arbeit dreht, desto evidenter wird auch, dass er mit grossen philosophischen Fragen verbunden ist, deren Beantwortung kein leichtes Unterfangen darstellt. So involviert die Beschäftigung mit dem Überforderungseinwand etwa die folgenden Gretchenfragen. Was ist eine moralische Forderung? Welcher ethischen Methodologie gebührt der Vorrang? Wodurch zeichnet sich die Moral aus? Weil es sich dabei um philosophische Probleme handelt, die keine einfachen Lösungen kennen, lässt sich die Ausgangsfrage der vorliegenden Untersuchung letztlich bloss vorsichtig positiv beantworten: Der Überforderungseinwand ist wohl ein aussichtsreicher Einwand, den seine Gegner ernst nehmen sollten. 4 Teil I: Die Explikation des Überforderungseinwands Der erste Teil der Untersuchung fokussiert primär darauf, wie der Überforderungseinwand erläutert werden sollte und wie mit den Schwierigkeiten umzugehen ist, die einen entsprechenden Explikationsversuch behindern. Vorab ist deshalb zweierlei zu klären: Was ist im gegebenen Kontext, erstens, unter einer Explikation zu verstehen und wann ist eine solche, zweitens, als adäquat anzusehen? Wenn von der Explikation eines Ausdrucks die Rede ist, dann ist damit für gewöhnlich eine präzisierende Bedeutungsbestimmung gemeint, die sich – im Unterschied zur stipulativen Definition – zwar am etablierten Sprachgebrauch orientiert, aber – im Unterschied zur lexikalischen Definition – trotzdem bis zu einem gewissen Grad davon abweicht. In exakt diesem Sinn wird nachfolgend nur die Wendung „moralische Überforderung“, nicht jedoch der Überforderungseinwand selbst, der schliesslich kein sprachlicher Ausdruck ist, zu explizieren sein. Insofern gilt es streng genommen, zwei Arten von Explikationen zu unterscheiden, die beide relevant sind für die folgenden Ausführungen: die Explikation eines Ausdrucks auf der einen und die Explikation eines Einwands auf der anderen Seite. Erstere ist, wie gesagt, eine präzisierende Bestimmung der Ausdrucksbedeutung, die etwa zu wissenschaftlichen oder philosophischen Zwecken vorgenommen wird und ihren Ausgang mit einer groben Analyse der alltagssprachlichen Verwendung eines Wortes nimmt. Unter der letzteren soll demgegenüber eine Erläuterung des Gehalts eines Einwands verstanden werden, welche darauf abzielt, zu erklären, worin er genau besteht und wie er im Einzelnen funktioniert. Diese kann nicht in gleicher Weise von der Alltagssprache ausgehen, sondern allenfalls von zirkulierenden Formulierungen des Einwands. Für Präzisierungen aber sollte sie ebenso offen sein, wie es die Ausdrucksexplikation per definitionem ist. Im ersten Teil der vorliegenden Abhandlung müssen die beiden Explikationsarten indes zusammenspielen. Denn die Explikation des Überforderungseinwands bedarf einer Explikation des Begriffs der moralischen Überforderung. Um dem Überforderungseinwand auf die Schliche zu kommen, sollten wir dazu in der Lage sein, uns einen Reim darauf zu machen, was eine moralische Überforderung sein könnte. Doch was sind dabei die Adäquatheitskriterien? Wann ist die Begriffsexplikation und wann die Einwandsexplikation adäquat? Ob die Explikation des Begriffs der moralischen Überforderung im bestehenden Kontext als geglückt zu betrachten ist, scheint von mindestens zwei Bedingungen abzuhängen: Das Explikat sollte unserer vorreflexiven Idee von einer moralischen Überforderung mehr oder minder entsprechen und den Überforderungseinwand so interessant und plausibel wie möglich erscheinen 5 lassen.8 Dadurch wäre gewährleistet, dass wir einerseits besser verstehen, was jene umtreibt, die den Überforderungsbegriff bemühen, und andererseits abschätzen können, wie weit man damit auf der Suche nach der besten Moraltheorie kommt. Hinsichtlich der Explikation des Einwands bieten sich denn auch ähnliche Kriterien zur Adäquatheitsbeurteilung an. Erstens sollte der Überforderungseinwand als solcher erkennbar bleiben und darum sowohl an unserem Begriff der moralischen Überforderung als auch an der philosophischen Debatte zum Thema orientiert sein. Zweitens müssen die begrifflichen und argumentativen Zusammenhänge zwischen dem Überforderungseinwand, dem Überforderungsbegriff sowie denjenigen moraltheoretischen Vorschlägen transparent werden, gegen die der Einwand gerichtet ist. Und drittens ist der Überforderungseinwand vor allem so zu erläutern, dass er als ein möglichst gutes Argument gegen anspruchsvolle Moraltheorien erkennbar wird. Abweichungen von traditionellen Auffassungen desselben sind demnach insbesondere dann gerechtfertigt, wenn sie ihn in einem besseren Licht erscheinen lassen. Allerdings gilt dies aus naheliegenden Gründen nur in einem bestimmten Sinn: Eine Explikation sollte allfällige Mängel, falls möglich, beheben und nicht bloss übertünchen. Es wäre sinnlos, den Überforderungseinwand zunächst zum Schein zu verbessern, um sich später gezwungen zu sehen, einen faulen Zauber aufzuklären. 1. Intuitive Attraktivität und skeptische Fragen Wer den Überforderungseinwand akzeptiert, ist der Überzeugung, dass (i) manche Moralprinzipien oder -theorien mehr von uns verlangen als andere und (ii) einige davon darüber hinaus zu viel von uns verlangen. Aber sind diese beiden Thesen tatsächlich, wie in der Einleitung behauptet wurde, auch auf den ersten Blick plausibel, während sie sich auf den zweiten als erläuterungs- und begründungsbedürftig herausstellen? Selbst eine solch zurückhaltende Einschätzung dürfte nicht unbestritten bleiben. Manche werden bezweifeln, dass die Thesen (i) und (ii) intuitiv reizvoll sind, andere hingegen werden dafür einstehen, dass sie auch ohne besondere Erläuterung problemlos verständlich und ohne besondere Begründung überzeugend sind. Deswegen liegt es nahe, sich eingangs erstens die intuitive Attraktivität der beiden Thesen vor Augen zu führen (1.1.) und zweitens darzulegen, welche skeptischen Fragen sich 8 Carnap führt vier Kriterien zur Beurteilung der Adäquatheit einer Begriffsexplikation an: Ein Explikat sollte, wie er meint, (1) dem Explikandum ähnlich sein, sein Gebrauch sollte (2) exakt geregelt sein, es sollte (3) theoretisch fruchtbar sein und schliesslich sollte es (4) möglichst einfach sein (siehe etwa Carnap/ Stegmüller (1959), 15). Meine beiden Bedingungen gleichen (1) und (3), für (2) und (4) hingegen finden sich keine Entsprechungen. Das hat einen einfachen Grund: Obwohl grundsätzlich nichts dagegen einzuwenden wäre, zwei Pendants von (2) und (4) hinzuzufügen, spricht eine pragmatische Überlegung dagegen: Die beiden zusätzlichen Kriterien würden nebensächliche Selbstverständlichkeiten ausdrücken, denen bei der Explikation des Überforderungsbegriffs keine wesentliche Rolle zukommt. 6 demgegenüber aufdrängen (1.2.). So entsteht zum einen ein lebhaftes Bild der philosophischen Problemlage, aus der die Fragestellung der Untersuchung entspringt. Und zum anderen entfaltet sich ein exemplarischer Hintergrund moraltheoretischer Ansätze, vor dem wir die Idee der moralischen Überforderung anschliessend konkretisieren können. 1.1. Paradigmatische Beispiele Warum es zumindest prima facie einleuchtet, dass manche Moralprinzipien oder -theorien mehr fordern von uns als andere (i) und uns einige sogar überfordern (ii), soll die Betrachtung zweier Beispiele verdeutlichen. Zuerst ist es hilfreich, sich zwei unterschiedliche Hilfsprinzipien näher anzusehen, die in der ethischen Diskussion um die globale Armut vorgeschlagen wurden, danach soll die Konzeption der optimierenden Moral illustrieren, dass es Theorien gibt, die höhere Forderungen an uns stellen, als sie dem gesunden Menschenverstand je im Traum einfielen. Wie lauten die beiden Hilfsprinzipien und was können sie veranschaulichen? Während Peter Singer in seinem bekannten Aufsatz „Famine, Affluence, and Morality” ein Prinzip verteidigt, das weithin für ausgesprochen anforderungsreich gehalten wird,9 spricht sich der Libertäre Jan Narveson in „We Don’t Owe Them a Thing!” für eine sogenannte „charity-view“10 aus, wonach es zwar lobenswert ist, etwas gegen die Weltarmut zu unternehmen, nicht jedoch moralisch geboten. Ersterer meint, wir hätten die Pflicht, etwas Schlechtes zu verhindern, wenn es (a) in unserer Macht liegt und wir dabei (b) nichts von vergleichbarer moralischer Bedeutung opfern müssen: „if it is in our power to prevent something bad from happening, without thereby sacrificing anything of comparable moral importance, we ought, morally, to do it.”11 Und weil etwa die schwere Armut zahlloser Menschen sowie ihre Folgen – Krankheit, Schmerz, Leid, Tod – gewiss schrecklich sind, sollten wir dagegen nach Singer auch alles tun, was wir tun können, ohne etwas aufzugeben, was moralisch ähnlich bedeutungsvoll ist. Letzterer sieht uns im Gegensatz dazu nicht in der Pflicht, anderen zu helfen, solange diese uns nicht ebenfalls unterstützen könnten oder wollten, falls wir darauf angewiesen wären.12 Denn um zu entscheiden, ob es angemessen ist, eine Hilfspflicht anzunehmen, muss Narveson zufolge geprüft werden, ob es für alle Beteiligten von Vorteil ist, eine solche zu akzeptieren. Das Resultat dieser Prüfung hängt wesentlich davon ab, wie gross die Wahrscheinlichkeit dafür ist, dass (a) auch wir irgendwann Hilfe benötigen und die anderen dann (b) helfen kön- 9 Vgl. dazu etwa Bleisch/ Schaber (2009), 15. LaFollette (2003), 238; vgl. auch Murphy (2000), 5. 11 Singer (1972), 231. 12 Vgl. Narveson (2003), 422f. und 426f. 10 7 nen und wollen. Für die Bedürftigen in der Ferne verheisst dies nichts Gutes. Nach Narveson ist es lediglich zu begrüssen, wenn wir ihnen zur Seite stehen, verlangen kann man es indes nicht von uns: „Very distant people are unlikely ever to be in a strictly reciprocal relation to us. Even so, we should all be disposed to approve of action to aid persons, however distant, even though such action is not required of us.”13 Was aber ist damit über die Höhe der moralischen Forderungen Singers einerseits und Narvesons andererseits gesagt? Singers Hilfsprinzip hat, wie er selbst feststellt, radikale Implikationen.14 Wenn es korrekt ist, sollten wir uns nämlich nahezu rund um die Uhr darum bemühen, das grosse Leid zu lindern, vom dem zurzeit viele betroffen sind. Ereignete sich heutzutage nichts Schlechtes, könnten wir zwar tun, was wir wollten, aber unter den gegebenen Umständen sind wir gemäss dem vorgeschlagenen Prinzip extrem gefordert: „Given the present conditions in many parts of the world [...] it does follow from my argument that we ought, morally, to be working full time to relieve great suffering of the sort that occurs as a result of famine or other disasters.”15 Immerhin liesse sich aufgrund der mangelnden Effektivität überarbeiteter Helfer, wie auch Singer einräumt, eine gewisse Beschränkung unserer Hilfeleistungen rechtfertigen. Trotzdem ist klar, dass wir nicht nur auf Nebensächlichkeiten verzichten müssen, falls wir den Ansprüchen des singerschen Hilfsprinzips gerecht werden wollen, sondern auch auf unzählige Dinge, die uns sehr viel bedeuten. Denn um so viel Schlechtes verhindern zu können, wie wir verhindern können, ohne dabei etwas von vergleichbarer moralischer Bedeutung zu opfern, sehen wir uns mit Sicherheit gezwungen, einige der folgenden potentiellen Herzensangelegenheiten zu vernachlässigen, zu wechseln oder aufzugeben: unsere Urlaubspläne, unsere Freizeitbeschäftigungen, unsere Berufe, unsere Freundschaften, unsere Liebe oder unser ganzes Leben. Aufgrund dessen, wie unsere Lebenssituationen typischerweise beschaffen sind, scheint es unumgänglich zu sein, dass wir Projekte, Tätigkeiten und Beziehungen zur Disposition stellen, die für gewöhnlich als natürlich, unbedenklich oder sogar wünschenswert gelten. Statt monatlich mit Freunden ins Theater zu gehen, sollten wir unser Erspartes beispielsweise der Against Malaria Foundation oder der Schistosomiasis Control Initiative spenden.16 Statt deutsche Sprachgeschichte oder prähistorische Archäologie zu studieren, sollten wir uns womöglich den Wirtschaftswissenschaften zuwenden, damit wir 13 Narveson (2003), 432. Vgl. Singer (1972), 238. 15 Singer (1972), 238. Zum gegenwärtigen Ausmass der Weltarmut vgl. z. B. Bleisch/ Schaber (2009); Pogge (2009). 16 Siehe dazu etwa die Spenden-Empfehlungen von Giving What We Can (www.givingwhatwecan.org), The Life You Can Safe (www.thelifeyoucansafe.org) oder GiveWell (www.givewell.org). 14 8 später mehr verdienen.17 Und statt unendlich viel Zeit in unsere Romanzen zu investieren, sollten wir vielleicht mit vollem Einsatz eine politische Kampagne vorantreiben. Demgegenüber nehmen sich die Forderungen, die Narveson akzeptiert, geradezu harmlos aus. Da Hilfspflichten seiner Ansicht nach nur bestehen, wenn ihre Annahme für alle Beteiligten von Vorteil ist,18 dürfen sie weder den möglichen Hilfsempfängern noch den möglichen Helfern ein Dorn im Auge sein und müssen sich, wenn auch nicht immer mit ihren kurzfristigen, so doch mit ihren mittel- oder langfristigen rationalen Interessen vereinbaren lassen. Ob dabei für beide Parteien etwas auf dem Spiel steht, was aus moralischer Sicht gleich gewichtig ist, spielt keine Rolle. Narvesons Ansatz fordert daher, wie es scheint, deutlich kleinere Opfer, als sie Singer den Handelnden abverlangt, sein Hilfsprinzip ist viel einfacher zu befolgen als das seines Kollegen und es gewährt uns weitaus grössere Handlungsspielräume. Schliesslich ist unschwer zu erkennen, dass es etwa für eine wohlhabende Schweizerin in aller Regel nicht vorteilhaft ist, ihr ganzes Leben in den Dienst von Notleidenden zu stellen. Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass sie irgendwann auf die Hilfe derjenigen angewiesen sein wird, denen sie helfen könnte (a), und diese ihr dann auch helfen können und wollen (b), ist klarerweise zu klein, um die Bürde eines stetigen Einsatzes, eines unablässigen Verzichts aufzuwiegen. Ihre Hilfeleistungen würden sich für sie kaum lohnen. Die erwartbaren Kosten übersteigen den erwartbaren Nutzen bei Weitem. Folgt man Narvesons Argumentation, darf sich die Schweizerin deshalb auf beglückende Theaterabende freuen, sich in die faszinierende Geschichte der deutschen Sprache vertiefen und sich dem Rausch der Liebe hingeben. Vergleichen wir die beiden vorgestellten Ansätze zur Frage, wozu wir in Anbetracht der Weltarmut verpflichtet sind, wird zweierlei deutlich. Zum einen scheinen die Hilfsprinzipien Singers und Narvesons ein paradigmatisches Beispiel für zwei Prinzipien abzugeben, die ungleich viel von uns verlangen. Das Prinzip, das Singer vorschlägt, mutet weit anspruchsvoller an als dasjenige, für das Narveson argumentiert. Zum anderen erwecken Singers Forderungen den Eindruck, derart hoch zu sein, dass sie für viele zu hoch sind.19 Libertäre wie Narveson denken ohne Frage, dass Singer zu viel von uns fordert, aber selbst in den Augen einer breiten Mehrheit dürften seine Ansprüche als realitätsfremd, unzumutbar oder überfordernd gelten. Denn wer ist der Meinung, er müsse aus moralischen Gründen auf sämtliche Kino- oder Theaterbesuche verzichten, seinen Traumberuf aufgeben oder seine grosse Liebe enttäuschen? 17 Vgl. dazu auch die Vorschläge zur Karriereplanung von 80,000 hours (www.80000hours.org). Siehe Narveson (2003), 426. 19 Umgekehrt dürften die bescheidenen Forderungen Narvesons allerdings von vielen als zu tief eingeschätzt werden. Es fragt sich deshalb, wie wir in Erinnerung behalten sollten, ob gegen sein Hilfsprinzip – in Analogie zum Überforderungseinwand – ein Unterforderungseinwand vorzubringen ist (vgl. dazu den Unterabschnitt 4.1.). 18 9 Obwohl uns die Moral unter Umständen viel abverlangen kann, darf sie uns, so die verbreitete Überzeugung, solche Dinge nicht streitig machen. Entsprechend können wir bloss zu einer mehr oder weniger extensiven Teilzeit-Hilfe, keineswegs aber zu der von Singer geforderten Vollzeit-Hilfe verpflichtet sein. Sogar mit Singers Hilfsprinzip liegt also möglicherweise ein exemplarischer Fall eines Moralprinzips vor, das uns zu anspruchsvoll erscheint. Allerdings ist die extreme Armut, auf die er in seinem Aufsatz reagiert, auch ein Phänomen, das vielen zu Recht grosses Unbehagen bereitet. So lässt sich beispielsweise mindestens darüber streiten, ob die gegenwärtige Weltlage mit einer Krisensituation gleichzusetzen ist, in der sich unaufhörlich schwere Notfälle ereignen.20 Schliesslich geraten tagtäglich zahllose Menschen in ernsthafte Notlagen, aus denen sie sich ohne fremde Hilfe kaum befreien können. Ausgehend von dieser Diagnose bietet es sich an, ein einfaches Argument für eine anspruchsvolle Hilfspflicht vorzubringen, das in einer gewissen Spannung zur Behauptung steht, Singer erwarte zu viel von uns: (P1) (P2) (K) Wenn wir Menschen gefahrlos helfen können, die sich in einer lebensbedrohlichen Notlage befinden, dann sollten wir ihnen helfen. Wir können gefahrlos Menschen helfen, die sich momentan in einer lebensbedrohlichen Notlage befinden. Also sollten wir derzeit Menschen helfen, die sich in einer lebensbedrohlichen Notlage befinden. Da es sich um einen Modus Ponens handelt, ist der Schluss von den Prämissen (P1) und (P2) auf die Konklusion (K) zweifellos gültig. Doch sind die beiden Prämissen auch wahr? Jedenfalls scheinen sie auf den ersten Blick ziemlich unstrittig zu sein. Es ist eine empirische Gewissheit, dass sich gegenwärtig – im Einklang mit (P2) – unzählige Menschen in einer lebensbedrohlichen Notlage befinden und wir vielen davon gefahrlos helfen könnten, indem wir geeignete Hilfsorganisationen unterstützten.21 Und es dürfte vielen als eine moralische Gewissheit gelten, dass wir Menschen in Not, denen wir gefahrlos helfen können, auch – (P1) entsprechend – helfen sollten. Wenn wir etwa, wie Singer in seinem populären Teichbeispiel schreibt, an einem seichten Teich vorbeikommen und sehen, wie darin ein Kind ertrinkt, dann sollten wir hineinwaten, um das Kind zu retten.22 20 Vgl. z. B. Ashford (2000) und (2003), 274: „[...] we have reason to view the current state of the world as a constant emergency situation [...]”. Siehe auch Ashford (2009), 210: „Solange das Problem chronischer Armut auf institutioneller Ebene nicht angemessen gelöst ist, besteht permanent eine Notfallsituation grössten Ausmasses: Jederzeit stehen die Lebensinteressen einer riesigen Zahl von Menschen auf dem Spiel.“ 21 Vgl. z. B. auch Chappell (2009). 22 Siehe Singer (1972), 231; vgl. dazu auch den rechtlichen Grundsatz Unterlassung der Nothilfe, wie er z. B. in Artikel 128 des Schweizerischen Strafgesetzbuches formuliert wird: „Wer einem Menschen, den er verletzt hat, oder einem Menschen, der in unmittelbarer Lebensgefahr schwebt, nicht hilft, obwohl es ihm den Umständen nach zugemutet werden könnte, wer andere davon abhält, Nothilfe zu leisten, oder sie dabei behindert, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.“ 10 Folglich scheint selbst aus der Perspektive unserer Alltagsmoral viel dafür zu sprechen, dass wir uns – in Übereinstimmung mit (K) – für die Unterstützung notleidender Menschen einsetzen sollten. Berücksichtigt man dabei überdies, wie gross die Anzahl der Hilfsbedürftigen ist, wird ausserdem Folgendes klar: Die Konklusion (K) lässt sich so auslegen, dass sie im Widerspruch zur Auffassung steht, Singer fordere zu viel von uns. Weil zurzeit unzählige Menschen in lebensbedrohliche Situationen geraten und wir heutzutage die Möglichkeit haben, ihnen gefahrlos zu helfen, erlaubt die verbreitete Überzeugung (P1) den Schluss darauf, dass wir moralisch verpflichtet sind, sehr viel Zeit und Geld in Hilfsprojekte zu investieren. Daher ist ungewiss, ob unsere intuitive Einschätzung, wonach Singers Forderungen zu hoch sind, stabil ist. Aussergewöhnliche Zeiten erfordern, wie man der Überforderungsthese entgegenhalten könnte, auch aussergewöhnliche Massnahmen. Dies mag ein weiteres Beispiel Singers veranschaulichen: A doctor faced with hundreds of injured victims of a train crash can scarcely think it defensible to treat fifty of them and then go to the opera [...]. The life-or-death needs of others must take priority. Looking at the world as a whole, and our ability to make a difference, we are like the doctor in that we live in a time when we all have an opportunity to help to mitigate a disaster.23 Vielleicht dürfen wir die menschlichen Tragödien, die sich Tag für Tag auf unserem Planeten ereignen, genauso wenig ignorieren, wie ein Arzt nach einem katastrophalen Zugunglück das Weite suchen darf. Aufgrund dessen – und nur dies sollte das obige Argument deutlich machen – ist es ratsam, ein zweites Beispiel für einen zu anspruchsvollen ethischen Ansatz vorzustellen, das nicht mit derartigen Komplikationen behaftet ist. Deshalb verdient nun die Konzeption der optimierenden Moral unsere Aufmerksamkeit. Denn für die Vertreter einer optimierenden Moral ist – im Gegensatz zu den Verteidigern der Alltagsmoral und anderen Ethikern – nur das Beste gut genug.24 Sie behaupten nämlich, dass wir in jeder Situation die bestmögliche Handlung ausführen müssen. Wenn uns unterschiedliche Handlungsoptionen zur Verfügung stehen, sind wir demnach stets verpflichtet, uns für diejenige zu entscheiden, welche moralisch gesehen die beste ist. Wir dürfen niemals auch nur die zweit- oder die drittbeste, geschweige denn eine der schlechteren Optionen wählen. Wir sollten, um Susan Wolfs Terminologie zu bemühen, alle zu moralisch Heiligen werden, zu Menschen also, deren Handlungen besser nicht sein könnten.25 Für Optimierer gibt es nämlich keine supererogatorischen Handlungen, d. h. keine Handlungen, zu deren Ausführung wir 23 Singer (2011), 213. Siehe Lawlor (2009), 23f. und 102; vgl. zu den folgenden Ausführungen Lawlor (2009). 25 Siehe Wolf (1982), 419: „By moral saint I mean a person whose every action is as morally good as possible, a person, that is, who is as morally worthy as can be.” 24 11 nicht verpflichtet sind, obwohl sie moralisch besser sind als andere, die uns offenstehen.26 Einzig die Wahl moralisch optimaler Handlungen ist nach ihnen zulässig. Sämtliche weniger guten Taten sind uns untersagt. Welche Implikationen die Annahme einer optimierenden Konzeption der Moral hat, können wir uns anhand zweier fiktiver Szenarien vergegenwärtigen. Dabei ist indes zu beachten, dass sich zwei Anhänger einer optimierenden Moral zwar per definitionem darin einig sind, dass wir stets die beste Handlung ausführen sollten, sie aber keinesfalls auch darin übereinstimmen müssen, welches die moralisch beste Handlung ist. Die Antwort auf die Frage, wozu wir in einer bestimmten Situation verpflichtet sind, hängt für alle Optimierer davon ab, welche der realisierbaren Optionen moralisch gesehen die beste ist. Aber sie können unterschiedlicher Auffassung darüber sein, was die moralische Güte von Handlungen ausmacht und welches demgemäss die beste Handlung ist. Auf Fragen der Art „Welche der Handlungen H1, H2 und H3 müssen wir in Situation S ausführen?“ geben zwei Optimierer daher nicht notwendigerweise die gleiche Antwort. Wenn der erste Optimierer die Handlung H1 für die moralisch beste hält, während der zweite H2 den Spitzenplatz im Ranking der moralischen Güte einräumt, dann werden sie mit H1 respektive H2 zwei unterschiedliche Handlungen als geboten ansehen, obwohl sie beide einer optimierenden Moralkonzeption anhängen. So kann es zum Beispiel konsequentialistische Optimierer geben, für die die Güte einer Handlung allein davon abhängt, wie gut ihre Konsequenzen sind, 27 und nicht- konsquentialistische Optimierer, für die auch andere Faktoren – etwa solche, die mit der Existenz moralischer Rechte, mit der Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen oder mit dem Prinzip der Doppelwirkung zusammenhängen – eine Rolle spielen, wenn wir bestimmen wollen, wie gut eine Handlung ist. Als Vertreter einer optimierenden Moral gelten indes beide, solange sie die These vertreten, dass jederzeit ausschliesslich die moralisch bestmögliche Handlung gut genug ist. Für die spätere Auseinandersetzung mit dem Überforderungseinwand gerät so – im Gegensatz zur ursprünglichen Debatte28 – von vornherein in den Blick, dass er sich nicht nur gegen konsequentialistische sondern auch gegen kantianische, kontraktualistische oder tugendethische Moraltheorien richten kann. Obwohl die Forderung, eine moralisch 26 Vgl. zum Begriff der Supererogation Urmson (1958); Wessels (2002); Heyd (2011). Einfachheitshalber soll diese Formulierung hier genügen. Eine raffiniertere und vielleicht plausiblere Variante lautete: „The better the reasonably expected consequences of the act, the better the act” (Lawlor (2009), 14). Siehe dazu auch Lawlor (2009), 13f. 28 Traditionell war es der klassische Utilitarismus, wonach das Glück fühlender Wesen zu maximieren ist, der sich dem Überforderungseinwand ausgesetzt sah (vgl. z. B. Raz (1993), 1297; Hooker (2009), 151), in jüngerer Zeit wurden jedoch auch die hohen Forderungen anderer Moraltheorien diskutiert. So hat Elisabeth Ashford beispielsweise dafür argumentiert, dass sich aus dem Kontraktualismus Scanlons mindestens genauso anspruchsvolle Verpflichtungen, anderen zu helfen, ergeben wie aus dem Utilitarismus (vgl. Ashford (2003)). 27 12 Heilige zu werden, nicht an den Utilitarismus geknüpft ist, handelt es sich um eine paradigmatische Kandidatin für eine Forderung, die zu anspruchsvoll ist. Alle Optimierer verlangen also, wie es scheint, viel von uns, aber sie verlangen nicht unbedingt dasselbe. Für die folgende Analyse zweier Szenarien möchte ich allerdings von den Unterschieden zwischen konsequentialistischen und nicht-konsequentialistischen Optimierern absehen. Dies hat den Vorteil, dass die diffizile Frage, wie die moralische Güte von Handlungen zu bestimmen ist, unbeantwortet bleiben kann. Es hat jedoch, wie man dagegen einwenden könnte, den Nachteil, dass die Diskussion der Implikationen der optimierenden Moralkonzeption gewisse Einschätzungen der Handlungsgüte voraussetzen muss, mit der vielleicht nicht alle Optimierer einverstanden sind. Verunmöglicht es uns dies, uns ein Bild von den Implikationen der optimierenden Moral zu verschaffen? Nein, denn in Bezug auf etliche Fälle besteht eine verbreitete Einigkeit darüber, welche Handlungen besser als andere sind. So ist beispielsweise bezüglich der fünf folgenden Einschätzungen kaum mit grossem Widerstand zu rechnen (wobei zuweilen wohl eine Ceteris-paribus-Klausel hinzuzufügen wäre): (a) (b) (c) (d) (e) Ein Mord ist eine moralisch schlechtere Handlung als eine grundlose Sachbeschädigung. Einer Hilfsorganisation 1000 Franken zu spenden, ist besser, als ihr bloss 100 Franken zukommen zu lassen. Jemandem einen üblen Streich zu spielen, ist vielleicht moralisch problematisch, ihn aber zu demütigen oder zu erniedrigen, ist viel schlimmer. Das Beste, was eine Bäuerin mit einem todkranken und leidenden Tier noch tun kann, ist, es möglichst schmerzfrei zu töten. Einem Jugendlichen, der einen Fussball gestohlen hat, eine Ohrfeige zu geben, ist moralisch schlechter, als ihn dafür zu tadeln.29 Dass es viele solch unstrittige Beurteilungen gibt, kann man sich zu Nutze machen, wenn man gewisse Aspekte der Höhe der moralischen Forderungen einer optimierenden Moralkonzeption exemplarisch veranschaulichen möchte. Sollten die ethischen Einschätzungen der beiden gewählten Szenarien aber für manche Optimierer gleichwohl nicht akzeptabel sein, liessen sie sich problemlos durch analoge Fälle ersetzen. Das erste Szenario ist ein Bürgerkriegsszenario (1): Stellen wir uns einen waffenlosen Eremiten vor, der zufälligerweise beobachtet, wie in der Nähe seiner Hütte zwei alte Bekannte von einer Rebellengruppe in einen tödlichen Hinterhalt gelockt werden. In dieser Situation bedeutet die einzige Möglichkeit, die beiden unschuldigen Personen zu retten, den sicheren Tod. Sie besteht darin, aus der Hütte zu stürmen, um sich den Angreifern entgegenzustellen und den ahnungslosen Kameraden die Flucht zu ermöglichen. Ist es dem Einsiedler moralisch geboten, die Heldentat auszuführen? Weil die heroische Rettung zweifellos die moralisch beste Handlung ist, welche er in seiner prekären Lage vollführen kann, müssen Anhänger der 29 Siehe auch die zum Teil ähnlichen Beispiele von Lawlor (2009), 3. 13 optimierenden Moral die Frage bejahen. Der Eremit sollte sich in ihren Augen opfern, um seinen beiden Bekannten das Leben zu retten. Um aber darüber hinaus zu verdeutlichen, dass die optimierende Moral nicht nur in schwierigen Verhältnissen, sondern auch unter alltäglichen oder sogar idyllischen Umständen hohe Anforderungen an uns stellt, lohnt es sich, ein zweites Szenario zu betrachten: das utopische Szenario einer heilen Welt (2).30 Statt an einen Bürgerkrieg zu denken, versetzen wir uns nun in eine friedliche Zeit, zu der alle Menschen gesund, wohlhabend und glücklich sind. Ist es uns als moralisch Heilige nun gestattet, zu ruhen und unser Glück zusammen mit den anderen zu geniessen? Nein, auch in einer heilen Welt ist es keineswegs ein Selbstläufer, stets die moralisch bestmögliche Handlung auszuführen. Vielleicht müssen wir uns nicht für andere aufopfern, aber es gibt genügend Gelegenheiten, um beweisen zu können, dass wir im Unterschied zu unseren Mitbürgern moralisch Heilige sind. So könnten wir beispielsweise unsere Nachbarn unterstützen, indem wir ihnen den Rasen mähen oder uns anerbieten, ihre Kinder von der Schule abzuholen. Wir könnten im Bus aufstehen, um unseren Sitzplatz anderen zu offerieren. Wir könnten niemals ein Versprechen brechen oder jemanden belügen. Wir können anderen bei ihren täglichen Aufgaben helfen, wo wir nur können. Oder wir könnten unser Vermögen verschenken, um ein schöneres Schulgebäude bauen zu können. Dagegen liesse sich einwenden, dass wir es sich bei den genannten Beispielen nicht um moralisch gute, sondern um moralisch neutrale Taten handelt. Erstens ist dies meines Erachtens jedoch nicht plausibel und zweitens gilt es mit Sicherheit nicht für sämtliche Optimierer. Für den utilitaristischen Optimierer beispielsweise ist klar, dass die erwähnten Handlungen in der Regel moralisch gut sind, weil sie zur Vermehrung menschlichen Glücks beitragen. Welche Rückschlüsse auf die Implikationen einer optimierenden Moralkonzeption erlauben die beiden Szenarien? Liegen die Optimierer richtig, sind der Moral – wie Szenario (1) zeigt – keine Grenzen gesetzt. Sie kann alles von uns verlangen. Wenn es die Umstände nicht gut mit uns meinen, müssen wir alles opfern, was uns lieb und teuer ist, bis hin zu unserem eigenen Leben. Wer sich die Forderungen des Optimierers zu Herzen nimmt, wird aber – wie Szenario (2) zeigt – so oder so zu einer Magd oder einem Diener der Moral. Sowohl in unserer realen Welt als auch in einer utopischen Welt voller Wohlstand müssen sie die Beförderung ihrer eigenen Interessen zugunsten der moralisch besten Handlung vernachlässigen. Zwar mag es dennoch Kontexte geben, in denen es auch gemäss einer optimierenden Moral erlaubt ist, zu tun, was einem beliebt – etwa dann, wenn sämtliche anderen Lebewesen gestorben sind oder 30 Vgl. dazu auch Portmore (2011), 121. 14 wenn alle existierenden Lebewesen in einer Lustmaschine sitzen31 –, aber in jedem realistischen Zustand der Welt verhalten sich die Dinge anders. Die Frage, ob uns Singers Hilfsprinzip überfordert, fördert aufgrund der extremen Armutszustände grössere Meinungsverschiedenheiten zutage, als man zunächst annehmen könnte, die Konzeption der optimierenden Moral lässt aber keine Zweifel darüber aufkommen, dass sie zumindest prima facie zu anspruchsvoll ist. Denn es ist nicht dasselbe, ob man zugunsten einer hungernden Person auf etwas verzichtet oder ob man es zugunsten einer Person tut, der es besser geht als einem selbst. 1.2. Skeptische Fragen Während Peter Singers Hilfsprinzip also zumindest fordernder zu sein scheint als dasjenige, das Jan Narveson verteidigt, erwecken optimierende Moralkonzeptionen sogar den Eindruck überfordernd zu sein. A fortiori ist damit auch die intuitive Attraktivität der Thesen (i) und (ii) deutlich gemacht: Es scheint Moraltheorien zu geben, die anspruchsvoller sind als andere, und es scheint Moraltheorien zu geben, die zu anspruchsvoll sind. Demgegenüber drängt sich jedoch eine ganze Reihe skeptischer Fragen auf, die sich aus Irritationen speisen, welche entweder der Erläuterungs- oder der Begründungsbedürftigkeit der beiden Behauptungen geschuldet sind. Dabei lassen sich mindestens vier fundamentale Irritationen unterscheiden, die bei näherer Betrachtung weitere Probleme nach sich ziehen. Erstens ist nicht klar, wie die schwächere These (i) zu verstehen ist: Woran könnte es liegen, dass uns manche Forderungen höher und andere weniger hoch dünken? Was meinen wir damit, wenn wir sagen, dass eine Theorie anspruchsvoller ist als eine andere? Wenn beispielsweise im Zusammenhang mit einer Schadenersatzforderung, bei Lohnverhandlungen oder nachdem eine Staatsanwältin eine 15-jährige Gefängnisstrafe gefordert hat, von hohen Forderungen die Rede ist, dann ist leicht verständlich, worum es gehen soll. Je höher der verlangte Geldbetrag ist, desto höher sind die finanziellen Forderungen, und je länger die verlangte Gefängnisstrafe dauern soll, desto höher sind die Forderungen der Staatsanwältin. Die Höhe einer finanziellen Forderung bemisst sich also an der Höhe der Summe und die Höhe der staatsanwaltschaftlichen Forderung an der Länge der Strafe. Weniger klar ist indes, wie sich dies bei moralischen Forderungen verhält. Ergibt es auch innerhalb der vielgestaltigen Sphäre der Moral Sinn, von höheren und weniger hohen 31 Vgl. Nozick (1974) sowie dazu z. B. Wessels (2011), 57: „Lustmaschinen sind, so will es ihr »Erfinder« Robert Nozick, fehler- und wartungsfrei laufende Geräte, die physisch unschädlich sind und uns, würden wir an sie angeschlossen, für den Rest unseres Lebens nur angenehme Empfindungen gäben – zum Beispiel das Gefühl, das wir im wirklichen Leben haben, wenn wir ein Vanilleeis essen, eine anstrengende Arbeit erfolgreich abgeschlossen haben oder bei Sonnenschein am Ufer des Bodensees entlang paddeln.“ 15 Forderungen zu sprechen? Inwiefern lassen sich so unterschiedliche Pflichten, wie es etwa die Pflicht zur Vertragstreue, das Lügenverbot oder die Hilfspflicht sind, im Hinblick darauf vergleichen, wie hohe Forderungen mit ihnen einhergehen? Sind positive Pflichten dabei mit negativen vergleichbar? Können auch Pflichten gegenüber sich selbst mit Pflichten gegenüber anderen verglichen werden? Ob wir solche Fragen überzeugend beantworten können, hängt unter anderem davon ab, ob wir uns klar machen können, was bei moralischen Forderungen das Analogon zur Geldsummenhöhe oder zur Strafenlänge sein könnte, das den Vergleich ermöglicht, d. h. worauf es bei der Beurteilung der Höhe moralischer Forderungen ankommt. Zweitens bedürfen auch die stärkere These (ii) und die Idee der moralischen Überforderung einer Klärung. Die zentralen Fragen lauten dabei: Was kann es heissen, zu behaupten, dass eine Theorie zu anspruchsvoll ist? Was ist damit gemeint, wenn jemand sagt, dass eine Theorie zu hohe Forderungen stellt? Während es, wie bei der obigen Irritation zu These (i), zweifellos Kontexte gibt, in welchen die Formulierungen „zu anspruchsvoll“ und „zu hohe Forderungen“ problemlos verständlich sind, ist nicht leicht zu sehen, inwiefern sie mit Bezug auf Moralprinzipien oder -theorien verwendet werden können. Wird etwa eine Rechenaufgabe als zu anspruchsvoll bezeichnet, dürften normalerweise keine Missverständnisse darüber entstehen, wie die entsprechende Aussage aufzufassen ist. Für gewöhnlich ist damit gemeint, dass die Aufgabe – gemessen an den ausgebildeten Fähigkeiten einer Schulklasse oder eines Schülers – zu schwierig ist. Weil jedoch unklar ist, ob sich die moraltheoretische These (ii) ähnlich verstehen lässt wie ein solches Beispiel, ist zum einen zu prüfen, inwieweit die Lösung der Probleme von (i) hilfreich ist für das Verständnis von (ii), und zum anderen zu untersuchen, welche zusätzlichen Schwierigkeiten der Übergang von These (i) zu These (ii) mit sich bringt. Verwirrend ist in diesem Zusammenhang die folgende Auffälligkeit: Ausgehend von unseren vagen vortheoretischen Einschätzungen wurden bislang in ähnlichen Kontexten – etwa wenn die beiden Thesen (i) und (ii) in Erinnerung gerufen wurden – unterschiedliche Formulierungen verwendet: „zu viel verlangen“, „zu anspruchsvoll“, „überfordern“, „unzumutbar“, „realitätsfern“, „überzogen“, „exzessiv“, „zu hohe Forderungen stellen“. Irritierend ist dabei, dass die Ausdrücke zwar gewisse semantische Parallelen aufweisen, aber nicht allesamt als Synonyme gelten können. Dies trägt zu einer Verschärfung der Explikationsproblematik bei, insofern keine Klarheit darüber zu bestehen scheint, welche Idee mit dem Überforderungseinwand eigentlich aufgegriffen werden soll. Ziemlich unstrittig ist einzig, dass der Höhe moralischer Forderungen eine tragende Rolle zukommen muss, wie aber die angeführten Ausdrücke genau damit zusammenhängen und auf welche davon man sich konzentrieren sollte, wenn man den Überforderungseinwand prüfen möchte, liegt nicht auf der Hand. Um unsere 16 vortheoretischen Vermutungen darüber zu erfassen, was mit anspruchsvollen moraltheoretischen Vorschlägen nicht stimmen könnte, ist es sinnvoll, sich nicht von Beginn weg auf einen einzigen Ausdruck festzulegen, soll der Einwand jedoch vertieft betrachtet werden, ist es unumgänglich, deutlich zu machen, worum es geht. Drittens stellt sich die Frage, wie die Thesen (i) und vor allem (ii) begründet werden können: Was spricht dafür, dass gewisse Moraltheorien mehr von uns verlangen als andere und manche sogar zu anspruchsvoll sind? Warum sollte es gegen Prinzipien oder Theorien sprechen, wenn sie mit aussergewöhnlich hohen Forderungen verbunden sind? Schliesslich gibt es viele Situationen, in denen wir es als einen Fehler oder eine Schwäche derjenigen ansehen, die hohen Ansprüchen nicht genügen, und nicht als ein Defizit der Ansprüche. So käme es niemandem in den Sinn, die Anforderungen anzupassen, die an Eltern, Ärzte oder Politiker gestellt werden, weil es manchen schwer fällt, ihnen gerecht zu werden. Falls viele daran scheitern, die Herausforderungen zu meistern, die mit den genannten Rollen einhergehen, mögen Überforderungsphänomene eine Entschuldigung für einzelne Akteure darstellen, die ihren Aufgaben nicht gewachsen sind, nach unten korrigiert aber werden die Anforderungen vermutlich nicht. Die Ansprüche sind mit gutem Grund hoch und ihre Höhe allein spricht nicht dagegen, sie weiterhin an Eltern, Ärzte oder Politiker zu stellen. Zuletzt gibt viertens das Verhältnis zwischen den beiden Thesen und dem Überforderungseinwand Rätsel auf. Insbesondere fragt sich nämlich, wie (ii) mit dem Überforderungseinwand zusammenhängt. Besteht der Einwand in einer Anwendung der These (ii)? Ist (ii) bloss eine Prämisse des Arguments? Oder handelt es sich dabei um die Konklusion? Wer gewillt ist, den Überforderungseinwand zu vertreten, sollte sich darüber im Klaren sein, wie diese Fragen zu beantworten sind. 17 2. Die Höhe moralischer Forderungen und die Idee der Überforderung Mit der Entfaltung des Kontrasts zwischen der intuitiven Attraktivität der Thesen (i) und (ii) und den skeptischen Fragen, die ihrem Reiz entgegenstehen, ist das weitere Vorgehen ein Stück weit vorgezeichnet. Im zweiten Abschnitt soll nämlich untersucht werden, zu welcher Explikation des Überforderungseinwands man bestenfalls gelangt, wenn man sich eingehend mit den Fragen aus 1.2. auseinandersetzt. Dazu ist in einem ersten Schritt zu überlegen, wie das Verständnis der ersten These (i) mit dem Verständnis der zweiten These (ii) in Verbindung gebracht werden könnte (2.1.). Daraufhin ist ein naheliegender Explikationsansatz zurückzuweisen, der den Überforderungseinwand in die Nähe der „Sollen impliziert Können“Regel rückt (2.2.), bevor schliesslich eine vertiefte Auseinandersetzung mit den philosophischen Fallgruben erfolgen kann, die (i) betreffen (2.3.) und (ii) umgeben (2.4.). So wird klar, welche Klippen zu umschiffen sind, wenn das Ziel einer vielversprechenden Explikation des Überforderungseinwands nicht verfehlt werden soll. 2.1. Unterschiedliche Interpretationen Gemäss der ersten skeptischen Frage können diejenigen, die von höheren und tieferen moralischen Forderungen sprechen, uns nicht einmal verständlich machen, was damit genau gemeint sein soll. Unter Zuhilfenahme der paradigmatischen Beispiele aus 1.1. sind daher in 2.1. mehrere Interpretationsvorschläge zur Diskussion zu stellen, die in Reaktion auf den unterstellten Missstand aufzeigen, wie die Thesen (i) und (ii) verstanden werden könnten. Welche Eigenschaften von Moralprinzipien oder -theorien sollen also ausschlaggebend dafür sein, wie anspruchsvoll diese sind? Es gibt unterschiedliche Faktoren, die bei der Beantwortung dieser Frage in Erwägung zu ziehen sind. Ein erster naheliegender Vorschlag besagt, dass die Kosten, die eine Person dadurch trägt, dass sie eine moralische Regel befolgt, massgebend dafür sind, wie anspruchsvoll die Regel ist: (α) Je höher die Kosten – zum Beispiel verstanden als Preisgabe des persönlichen Wohls oder als Opferung eigener Interessen – ausfallen, desto mehr wird Handelnden abverlangt.32 So muss, wer sich nach Singers Hilfsprinzip richtet, bestimmt grössere Opfer bringen als jemand, der sich mit Narvesons Prinzip begnügt. Während eine wohlhabende Schweizerin etwa, wie in Unterabschnitt 1.1. deutlich wurde, verschiedenen Leidenschaften frönen darf, wenn Narveson recht behält, muss sie die eigenen Interessen Singer zufolge stiefmütterlich behandeln und sich beinahe den ganzen Tag über für Hilfsprojekte einsetzen. Da uns letzteres ver- 32 Siehe dazu Kagan (1989), 231f.; Scheffler (1992), 98.; Murphy (2000), 16f. 18 mutlich schwerer fällt als ersteres ist zweitens zu bedenken, ob der Schwierigkeitsgrad einer moralischen Aufgabe von Belang sein könnte: (β) Je schwieriger es ist, ein Prinzip zu befolgen, desto anspruchsvoller ist es. Schliesslich ist unübersehbar, dass die Wahlfreiheit, die uns Narvesons Prinzip zugesteht, grösser ist als diejenige, die uns Singers Prinzip gewährt. Eine Fülle von Optionen steht einer spärlichen Auswahl erlaubter Vorgehensweisen gegenüber. Deshalb könnte drittens die Einschränkung des Handlungsspielraums entscheidend sein, so dass die Höhe moralischer Forderungen wie folgt zu bestimmen wäre: (γ) Je stärker ein Prinzip die Anzahl zulässiger Handlungsalternativen reduziert, desto mehr wird dem Handelnden zugemutet.33 Orientiert man sich also am paradigmatischen Fall der zwei ungleich anspruchsvollen Hilfsprinzipien aus 1.1., lassen die Vorschläge (α), (β) und (γ) allesamt nachvollziehbare Interpretationen zu These (i) erkennen, wonach manche Prinzipien mehr von uns fordern als andere. Darüber hinaus können die drei Vorschläge aber auch zum Verständnis dessen beitragen, was jene im Blick haben, welche die Idee der moralischen Überforderung bemühen, indem sie die These (ii) vertreten. Sobald wir nämlich begreifen, wie eine Aussage der Form „T1 ist anspruchsvoller als T2“ mit Bezug auf zwei Moraltheorien T1 und T2 zu deuten ist, gewinnen wir auch eine gewisse Vorstellung davon, wie Aussagen von der Art „T1 ist zu anspruchsvoll“ zu verstehen sind. Falls ausschliesslich (α) korrekt ist, scheint eine Theorie gemäss dem Überforderungseinwand genau dann überfordernd zu sein, wenn ihre Forderungen für Handelnde zu kostspielig sind (α*). Unter der Voraussetzung, dass bloss (β) zutrifft, könnte eine Theorie genau dann als zu anspruchsvoll bezeichnet werden, wenn ihre Befolgung zu schwierig ist (β*). Und ist nur (γ) richtig, überfordert uns eine Theorie genau dann, wenn sie unseren Handlungsspielraum zu stark einschränkt (γ*). Lässt sich also entscheiden, wie die drei Interpretationsvorschläge (α), (β) und (γ) zu beurteilen sind, stellt sich auch heraus, was jemand, der ein Prinzip oder eine Theorie mithilfe des Überforderungseinwands kritisiert, als einen normativ relevanten Faktor erachtet. Doch wie ist mit den Interpretationsvorschlägen umzugehen? Es ist interessant, zu sehen, dass den Verfechtern des Überforderungseinwands im Prinzip mehrere Möglichkeiten offenstehen. Sie können sich erstens für einen der drei Vorschläge entscheiden und die anderen beiden für inadäquat erklären. Sie können zweitens sämtliche Vorschläge gelten lassen und drei unterschiedliche Überforderungseinwände formulieren. Oder sie können die Kosten, den Schwierigkeitsgrad und die Einschränkung des Handlungsspielraums drittens als verschiedene 33 Vgl. dazu Scheffler (1992), 98. 19 Faktoren akzeptieren, die eine Theorie mehr oder weniger anspruchsvoll machen, und trotzdem bloss mit einem einzigen Überforderungseinwand verknüpfen. Gleichgültig, für welche der drei theoretischen Alternativen sie sich entscheiden möchten, gilt jedoch Folgendes: Um sich einem spezifischen Einwand gegen exzessive Forderungen anzunähern, sind sie lediglich darauf angewiesen, dass mindestens eine der vorgeschlagenen Interpretationen überzeugt. Aufgrund dessen sollen (α), (β) und (γ) beziehungsweise (α*), (β*) und (γ*) nachfolgend nicht je für sich und in allen Einzelheiten geprüft werden,34 sondern primär ein begriffliches Raster bilden, anhand dessen sich mögliche Stossrichtungen des Überforderungseinwands und ihre allgemeinen Probleme erörtern lassen. Ob es sich bei den drei Vorschlägen allerdings um unbefriedigende ad hoc-Antworten auf die skeptischen Fragen aus 1.2. handelt, ist dabei dennoch im Auge zu behalten. 2.2. Etwas nicht tun können Setzt man mit dem Explikationsvorhaben bei der alltagssprachlichen Verwendung des Ausdrucks „Überforderung“ an, um unsere vorreflexive Idee von einer moralischen Überforderung einzufangen, ist es naheliegend, zunächst an Situationen zu denken, in denen jemand nicht dazu in der Lage ist, einer Forderung nachzukommen. Wenn eine Person beispielsweise unter der Last eines schweren Pakets zusammenbricht, das sie transportieren sollte, dann war sie, wie wir sagen, überfordert. In Analogie zu solchen Fällen könnte man geneigt sein, auch von einer moralischen Überforderung nur dann zu sprechen, wenn eine Moraltheorie etwas von einem Akteur verlangt, was er nicht tun kann. Diese Auffassung soll in 2.2. zu den Vorschlägen (α*), (β*) und (γ*) in Beziehung gesetzt, mit einem Argument von James Griffin kombiniert und zuletzt kritisiert werden. Die Überzeugung, dass menschliches Unvermögen eine notwendige Bedingung für das Vorliegen einer moralische Überforderung darstellt, ist ausschliesslich mit dem Vorschlag (β*) vereinbar, wonach die Forderungen einer Moraltheorie genau dann zu hoch sind, wenn ihre Befolgung für uns zu schwierig ist. Denn ob die Kosten einer Theorie höher oder tiefer sind und ob sie unseren Handlungsspielraum mehr oder weniger stark beschränkt, hat unter dieser Voraussetzung nichts mit der Überforderung von Handelnden zu tun. Zwischen dem Schwierigkeitsgrad einer moralischen Aufgabe und der „können“-„nicht können“-Differenz hingegen besteht ein Zusammenhang. Moralische Aufgaben können so schwierig sein, dass es 34 Vgl. zur Kritik an (γ) etwa Murphy (2000), 26f. Die dringlichste Frage ist dabei meines Erachtens, ob sich (β) und (γ) auf (α) reduzieren lassen. Denn warum, so kann man einwenden, sollten der Schwierigkeitsgrad einer moralischen Aufgabe und die Einschränkung des Handlungsspielraums unabhängig davon, dass sie unser Wohlergehen tangieren, relevant sein für die Bestimmung der Höhe moralischer Forderungen? Um (β) und (γ) als eigenständige Kriterien zu verteidigen, muss man darauf eine überzeugende Antwort geben können. 20 uns nicht möglich ist, sie zu erledigen. So sind wir Menschen etwa normalerweise nicht in der Lage, schreckliche Erdbeben zu verhindern, obwohl es moralisch gut wäre, wenn dies jemand – zum Beispiel ein allmächtiger Gott – täte. Ist man entsprechend der Ansicht, dass uns Moraltheorien nur überfordern, wenn sie für uns unerfüllbare Forderungen enthalten, bietet es sich an, den Vorschlag (β*) folgendermassen zu komplettieren. Auf die bislang offene Frage, wann denn die Befolgung einer Theorie zu schwierig ist, lässt sich vor dem Hintergrund der obigen Überlegungen eine präzise Antwort geben: Eine moralische Aufgabe ist genau dann zu schwierig, wenn ein Akteur sie nicht ausführen kann. Damit rückt der Überforderungseinwand in die Nähe der „Sollen impliziert Können“Regel, derzufolge jemand etwas auch tun kann, wenn er es tun soll. Einer Theorie vorzuhalten, sie sei zu anspruchsvoll, liefe dann auf dasselbe hinaus wie der Einwand, sie respektiere nicht, dass jedes Sollen ein Können voraussetzt. Deshalb lohnt es sich, ein Argument in die Untersuchung einzubeziehen, das James Griffin unter der Überschrift „The limits of the will“ verhandelt.35 Weil uns nicht nur physische, sondern auch psychische Grenzen gesetzt sind, muss die Moral, wie Griffin meint, den seelischen Realitäten genauso Rechnung tragen wie den körperlichen: Any morality must meet what might be called the requirement of psychological realism. Moral rules must mesh with natural human motivation. One cannot ask for what the human frame cannot deliver. One certainly may ask someone to get his trousers wet in order to save a drowning child, but not to sacrifice his life to do it.36 Wenn man von Menschen nicht fordern kann, was ihre Fähigkeiten übersteigt, dann kann man von ihnen auch nicht verlangen, wozu sie unmöglich motiviert sein können. Nebst dem, was man „physische Überforderung“ nennen könnte, ist daher auch auf das zu achten, was man als „psychische Überforderung“ bezeichnen könnte.37 Doch wo liegen die Grenzen der menschlichen Motivation? Das ist für Griffin eine komplexe empirische Frage, deren Antwort wir letztlich nicht kennen.38 Uns bleibt nichts anderes übrig, als Mutmassungen darüber anzustellen, um ein Bild dessen zu entwerfen, wozu ein normaler menschlicher Akteur in der Lage ist. Als Anhaltspunkt kann uns dabei dienen, dass wir um unseren evolutionär verwurzelten Egoismus wissen, der an ein begrenztes Mass an Altruismus gekoppelt ist: 35 Siehe Griffin (1992), 127f. und Griffin (1993), 162f. Griffin (1993), 162. 37 Zusätzlich mag es hilfreich sein, den Terminus „kognitive Überforderung“ einzuführen, um Fälle zu beschreiben, in welchen wir etwas wissen müssten, was wir nicht wissen oder nicht wissen können, damit wir in der Lage wären, etwas Gefordertes zu tun. Griffin behandelt ähnliche Probleme in den Unterabschnitten „The personal circumstances of decision” und „The limits of knowledge” (vgl. Griffin (1993), 161f. und 168f.; Griffin (1992), 128f.). Für die vorliegende Arbeit ergeben sich daraus aber keine weiteren Schwierigkeiten, weshalb es ausreichend ist, von der physischen und der psychischen Überforderung zu sprechen. 38 Vgl. Griffin (1993), 162f. und 168f. 36 21 We, like other species, defend ourselves with a tenacity that we do not display over many others. Our form of consciousness itself reflects the primacy of self-interest: Our perceptions of our own pleasure and pain have a unique vividness to our minds and a privileged link to our motivation; our own everyday concerns fill our field of attention, the concerns of others appearing faintly at the periphery.39 Bis zu einem gewissen Grad ist es uns zwar möglich, die Fokussierung auf das eigene Wohl zu überwinden, vollständig aber kann dies einem normalen menschlichen Akteur nach Griffin nicht gelingen. Wir können uns selbst sowie unsere Familie nicht gut genug ignorieren und moralische Normen müssen diese Grenzen unseres Willens – wo immer sie auch genau liegen mögen – respektieren. Was ist von Griffins Ansatz zu halten? Zunächst ist anzumerken, dass sein Argument nicht mit einem zweiten zu verwechseln ist, das sich ebenfalls auf Beobachtungen zur motivationalen Ausstattung von uns Menschen stützt. Anders als Griffin könnte man auch dafür eintreten, dass es kontraproduktiv sei, Handelnde mit exzessiven Forderungen zu konfrontieren, weil es sie demotiviert und sie infolgedessen weniger Gutes tun als angesichts niedrigerer Forderungen. Im Unterschied zu diesem Argument, welches nur die öffentliche Verteidigung moralischer Pflichten und nicht das, was wir tatsächlich tun müssen, betrifft,40 greift Griffins Ansatz nämlich tiefer. Wenn man etwas nicht tun kann, dann soll man es gemäss der „Sollen impliziert Können“-Regel effektiv auch nicht tun. Aber ist es uns wirklich nicht möglich, den Willen aufzubringen, uns etwa für ein ertrinkendes Kind zu opfern? Es gibt, wie ich denke, in der Tat Situationen, in denen Menschen psychisch überfordert sind. Ein Vater, der aufgefordert wird, sein eigenes Kind zu töten, bringt dies vielleicht nicht übers Herz, eine Künstlerin, die angehalten wird, ihr Lebenswerk zu zerstören, kann sich vielleicht nicht dazu durchringen und jemand, der sich selbst erschiessen soll – man denke an die berühmte Russisch-RouletteSzene aus dem Film The Deer Hunter –, kann sich vielleicht nicht überwinden. Deswegen irrt sich Peter Singer, wenn er behauptet, dass es für unsere Annäherung an unparteiliche Massstäbe keine psychische Grenze gebe, die wir nicht überschreiten könnten.41 Gleichwohl bleibt es indes aus mehreren Gründen fraglich, ob damit eine gelungene Explikation des Überforderungseinwands vorliegt. Zwar hätte es, wie zunächst darzulegen ist, auch einige Vorteile, den Einwand so zu fassen, die Nachteile überwiegen jedoch zweifellos. Wenn die einleuchtende „Sollen impliziert Können“-Regel Geltung hat und es eine notwendige Bedingung für das Bestehen einer moralischen Pflicht ist, dass wir dazu imstande sind, das zu tun, wozu wir verpflichtet sein sollen, lassen sich klarerweise gewisse Moralvorstellungen als 39 Griffin (1993), 162; vgl. Mackie (1977), 132: „But why, it may be asked, are such moralities of universal concern impracticable? Primarily because a large element of selfishness – or, in older terminology, self-love – is a quite ineradicable part of human nature.” 40 Vgl. auch Singer (2011), 213f. 41 Vgl. Singer (2011), 211. 22 überfordernd zurückweisen. So ist es, wie man dann sagen kann, beispielsweise sinnlos, von einem Nichtschwimmer zu verlangen, eine Ertrinkende zu retten. Da es für den Nichtschwimmer unmöglich ist, das drohende Unheil abzuwenden, kann ihm die Rettung auch nicht moralisch geboten sein. In einem solchen Fall von einer moralischen Überforderung zu sprechen, stimmt mit unserem alltäglichen Gebrauch des Ausdrucks „Überforderung“ überein. Der Nichtschwimmer ist mit der moralischen Aufforderung „Rette die Ertrinkende!“ in einem ähnlichen Sinn überfordert, wie eine Schülerin mit einer Rechenaufgabe überfordert ist, die für eine höhere Klassenstufe konzipiert wurde. Beide scheitern an der Herausforderung, falls sie einen Versuch wagen. Versteht man den Vorschlag (β*) also im Einklang mit Griffins Ansatz, zieht er keine unbefriedigenden ad hoc-Antworten auf die skeptischen Fragen aus 1.2. nach sich. Ausserdem scheint der Überforderungseinwand infolge der vorgeschlagenen Explikation gleich plausibel zu sein wie die „Sollen impliziert Können“-Regel und dürfte deshalb auf eine hohe Akzeptanz stossen. Aus welchen Gründen sollte man sich trotzdem nicht damit zufriedengeben? Erstens werden die interessanten Fälle von sehr anspruchsvollen Moraltheorien oder -prinzipien allein unter Zuhilfenahme der „können“-„nicht können“-Differenz nicht vom Überforderungseinwand erfasst. Selbst die Kombination von physischer und psychischer Überforderung sorgt keinesfalls dafür, dass etwa die paradigmatischen Beispiele, die in 1.1. vorgestellt wurden, Gefahr laufen dem Einwand zum Opfer zu fallen. Einerseits sind wir dazu in der Lage, deutlich höhere psychische Hürden zu überwinden, als es Griffin suggeriert. So berichtet Singer etwa von Menschen, die beinahe ihren gesamten Besitz zugunsten anderer verkauften oder einer fremden Person eine Niere spendeten.42 Und nimmt man überdies an, dass wir nicht wissen, wie die Grenze zwischen der psychischen Belastung und der psychischen Überforderung, zwischen unserer Unlust und unserem Unvermögen in concreto verläuft,43 dann sollten wir – wie gegen Griffins Haltung einzuwenden ist44 – im Zweifelsfall immerhin versuchen, uns zu einem unerträglichen Entschluss durchzuringen, indem wir uns die relevanten Handlungsgründe vor Augen führen, oder auf lange Sicht unsere Willenskonstitution zu verändern, indem wir andere Menschen werden. Andererseits gibt es zwar Moralkonzeptionen, welche die „Sollen impliziert Können“-Regel nicht durchweg respektieren,45 aber es handelt sich dabei nicht um die aussergewöhnlich fordernden Konzeptionen, von denen bislang die Rede war. 42 Siehe Singer (2011), 211f. Vgl. Singer (2011), 2012 und auch Griffin (1992), 129 sowie Griffin (1993), 168. 44 Siehe Griffin (1992), 129 und Griffin (1993), 169: „To what extent can I deny myself and my family in order to help the world’s starving? Our large measure of ignorance about that, along with our ignorance about the value of various institutions and practices, will mean that we have simply to choose a policy for ourselves (say, to contribute 2 percent of gross income to famine relief) and then stick to it.” 45 Vgl. z. B. Sellmaier (2008), 58f. 43 23 Die Anhänger einer optimierenden Moral sind, um ein treffliches Beispiel zu nennen, nur der Meinung, dass wir stets die moralisch bestmögliche Handlung ausführen sollten, die beste Handlung also, die wir ausführen können. Irren sie sich nicht, müssen wir bloss moralisch Heilige werden, keine Superhelden. Ähnliches gilt auch für das anspruchsvollere der beiden Hilfsprinzipien aus 1.1. Es beinhaltet eine Klausel, welche die artikulierte Hilfspflicht auf Handlungen beschränkt, die uns möglich sind: „if it is in our power to prevent something bad from happening [...].”46 Wir müssen Schlechtes Singer zufolge verhindern, wenn es in unserer Macht liegt. Er fordert nichts von uns, was wir nicht tun können. Zweitens ist unklar, ob der Explikationsvorschlag der etablierten Stossrichtung des Überforderungseinwands gerecht wird. Weil es, wie eben angedeutet, ein schwieriges Unterfangen ist, Ethikerinnen und Ethiker zu finden, die selbst vor Nichtschwimmern nicht haltmachen und sie für eine hoffnungslose Rettungsaktion in die Fluten schicken, wird der Einwand, der im Englischen als „Demandingness Objection“ oder als „Over-Demandingness Objection” bekannt ist,47 häufig nicht so verstanden, dass er auf die „Sollen impliziert Können“-Regel zurückgeführt werden könnte. Stattdessen ist es zu Recht üblich, diese beiden Themen voneinander getrennt zu diskutieren. Denn soll der Überforderungseinwand in der philosophischen Debatte darüber, welche Moraltheorie die richtige ist, eine tragende Rolle spielen, empfiehlt es sich, bei seiner Interpretation nicht bloss auf die Differenz zwischen dem zu achten, was wir tun können, und dem, was wir nicht tun können, sondern auch weitere Hinsichten im Auge zu behalten, in denen sich erhobene Forderungen unterscheiden. Um einen interessanten Einwand prüfen zu können, ist der Begriff der Überforderung folglich weiter zu fassen. Damit eine Moraltheorie den Verfechtern des Überforderungseinwands zufolge als überfordernd gelten kann, muss es keine Akteure geben, die nicht dazu imstande sind, ihren Forderungen nachzukommen. Es ist ausreichend, wenn die postulierten Forderungen zu hoch sind und die zugehörige Theorie entsprechend – wie es mit der These (ii) ausgedrückt wird – zu viel von uns verlangt. Für alternative Formulierungen wie „T ist zu anspruchsvoll“ oder „T stellt überzogene Forderungen“ (wobei „T“ für eine beliebige Moraltheorie steht) soll in der Folge dieselbe Lesart massgebend sein. Die verwirrende Feststellung bezüglich der Verwendung nicht-synonymer Ausdrücke bei der Darstellung unserer vortheoretischen Überforderungsintuitionen, die in 1.2. getroffen wurde, ist damit entschärft. Im Fokus der Untersuchung steht – nach der erfolgreichen Disambiguierung des Ausdrucks „Überforderung“ – einzig die Frage, wie es zu verstehen sein könnte, wenn behauptet wird, dass 46 47 Singer (1972), 231. Vgl. z. B. Murphy (2000); Sobel (2007); Hooker (2009). 24 gewisse moralische Forderungen zu hoch sind, nicht aber die speziellere Frage, inwiefern Moraltheorien jemanden überfordern, indem sie mehr von ihm verlangen, als er leisten kann. Zu unserer intuitiven Idee von einer moralischen Überforderung passt diese Ausrichtung des Explikationsvorhabens gleichwohl hinlänglich gut. Denn falls mit der optimierenden Moralkonzeption in 1.1. tatsächlich das Musterbeispiel für eine Auffassung vorliegt, die uns zu anspruchsvoll erscheint, dann ist – wie soeben gezeigt wurde – gerade ein Überforderungseinwand, der sich ausschliesslich auf unser Unvermögen beruft, kein geeignetes Gegenmittel, während einer, der die Höhe moralischer Forderungen per se zum Problem erhebt, eine vielversprechende Waffe darstellt. Die erörterte Vervollständigung des Vorschlags (β*) führt daher auf Abwege, eröffnet uns aber zugleich wichtige Einsichten in die Struktur von (α*), (β*) und (γ*). Unterbreitet jemand einen der drei Vorschläge, kann man ihn noch immer fragen, wann denn die Forderungen einer Theorie seiner Ansicht nach zu kostspielig sind, wann ihre Befolgung zu schwierig ist oder wann sie unseren Handlungsspielraum zu stark einschränkt. Es ist, so lässt sich argumentieren, eine strukturelle Lücke von (α*), (β*) und (γ*), dass sie keine Antwort darauf enthalten. Doch an welche Arten von Antworten ist dabei überhaupt zu denken? Das soll abschliessend geklärt werden. Zum einen lassen sich die drei Vorschläge ergänzen, indem man ein bestimmtes Kostenniveau angibt, einen kritischen Schwierigkeitsgrad benennt oder eine Mindestanzahl zulässiger Handlungsalternativen vorgibt. Verfährt man auf diese Weise, gibt man einen Grenzwert an, der fordernde Moraltheorien oder -prinzipien von überfordernden trennt. Demgegenüber ist festzuhalten, dass es nicht erforderlich ist, eine exakte Trennlinie zwischen Theorien zu finden, die vom Überforderungseinwand betroffen sind, und Theorien, die nicht davon betroffen sind. Solange die Anhänger des Einwands auf klare Fälle beidseits einer unscharfen Grenze verweisen können, ist es um ihr Argument nicht schlechter bestellt als um viele andere philosophische Argumente, die vage Prämissen enthalten. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist allerdings – die Ausführungen zur ersten skeptischen Frage aus 1.2. nehmen es vorweg –, dass sich unterschiedliche Moralprinzipien ähnlich gut im Hinblick auf ihre Kosten (α), ihren Schwierigkeitsgrad (β) oder ihre Beschränkung unseres Handlungsspielraums (γ) miteinander vergleichen lassen, wie sie sich anhand der „können“-„nicht können“Differenz einem Vergleich unterziehen lassen. Darauf soll im nächsten Unterabschnitt ausführlich eingegangen werden. Zum anderen kann die obige Frage danach, wann eine Theorie zu kostspielig, zu schwierig oder zu einengend ist, jedoch auch als eine Frage nach dem Massstab aufgefasst werden, mithilfe dessen wir beurteilen können, ob eine anspruchsvolle Theorie zu anspruchsvoll, d. h. 25 eine kostspielige Theorie zu kostspielig, eine schwierige Theorie zu schwierig, eine einengende Theorie zu einengend, ist. Zur Veranschaulichung dieses Unterschieds mag die folgende Analogie dienen. Wird eine Architektin während der Planungsphase von einem Mitarbeiter gefragt, wann ein Turm zu hoch sei, könnte sie ebenfalls Unterschiedliches zur Antwort geben. Entweder sie sagt – dem ersten Frageverständnis gemäss – „Der Turm ist zu hoch, wenn er höher als 150 Meter ist“ und nennt einen Grenzwert oder sie sagt – dem zweiten Frageverständnis gemäss – „Der Turm ist zu hoch, wenn er die umstehenden Häuser für unser Empfinden zu weit überragt“ und nennt einen Bewertungsmassstab. Auf die Schwierigkeiten, welche mit dem zweitgenannten Verständnis der Frage einhergehen, komme ich im übernächsten Unterabschnitt sowie im zweiten Teil der Arbeit zu sprechen. 2.3. Murphys Herausforderung Nicht erst mit der Verteidigung der Vorschläge (α*), (β*) oder (γ*), sondern bereits mit der Verteidigung von (α), (β) oder (γ) sind aber ernst zu nehmende Fragen verbunden. So ist bei näherem Hinsehen insbesondere weniger klar, als man zunächst meinen könnte, wie sich die Höhe der moralischen Forderungen einer Theorie überhaupt ermitteln lässt. Wesentlich dazu beigetragen, dass dieses Problem zur Kenntnis genommen werden muss, hat Liam B. Murphy. In seiner Monografie Moral Demands in Nonideal Theory entwickelt er ein kompliziertes Argument, das den Überforderungseinwand ausgehend von Überlegungen zur Kostenberechnung (α) unterminieren soll. Nachdem einige erste Unklarheiten beseitigt sind, ist der Unterabschnitt 2.3. deshalb vor allem der Herausforderung zu widmen, die den Anhängern des Überforderungseinwands aus Murphys Argumentation erwächst, um schliesslich einen interessanten Gedanken aufzugreifen, welcher der Plausibilität des Einwands zuträglich ist: den Gedanken, dass gewisse Moraltheorien auch unter besten Bedingungen extrem anspruchsvoll sind. Auf den ersten Blick täuschen die einfachen Vorschläge (α), (β) oder (γ) darüber hinweg, dass dieselbe Moraltheorie zu verschiedenen Zeiten und für verschiedene Menschen unterschiedlich anspruchsvoll sein kann.48 Wie hoch, um mich an (α) zu orientieren, die Kosten einer Theorie für ein bestimmtes Individuum zu einem bestimmten Zeitpunkt sind, hängt – zumindest bei aussichtsreichen Theorievorschlägen – von einer Reihe veränderlicher Faktoren ab und ist infolgedessen kontextrelativ. Was mir von einer Theorie heute geboten ist, muss mir morgen aufgrund veränderter Umstände nicht mehr geboten sein. Hilfsgüter sind beispielsweise – gemäss allen plausiblen Hilfsprinzipien – nur dann zu versenden, wenn sie auch 48 Siehe dazu Scheffler (1992), 98f. 26 von jemandem gebraucht werden. Wäre dies im Leben des wohlhabenden Moritz nie der Fall, während es im Leben des wohlhabenden Max täglich geschieht, hätte dasselbe Prinzip für zwei Menschen sehr unterschiedlich hohe Kosten. Weiter kann die Höhe moralischer Forderungen auch davon beeinflusst werden, was die Handelnden selbst können und wollen. Was mir heute schwer fällt, kann mir morgen leicht fallen, weil ich in der Zwischenzeit neue Fähigkeiten erworben oder andere Wünsche ausgebildet habe. Verlangt eine Theorie etwa, dass wir darauf verzichten, tierische Produkte zu konsumieren, sind ihre Kosten für einen Fleischliebhaber viel höher als für jemanden, dem Fleisch nicht schmeckt. Deswegen fragt es sich, ob man die Rede von der Höhe der moralischen Forderungen einer Theorie nicht aufgeben sollte, um stattdessen einzig Aussagen darüber zu tätigen, wie anspruchsvoll eine Theorie für bestimmte Menschen zu bestimmten Zeiten ist.49 Vergleiche zwischen der Höhe der Forderungen zweier Moraltheorien, wie sie die These (i) voraussetzt, könnten dann nicht gezogen werden und dem Überforderungseinwand fehlte es an einer entscheidenden Grundlage für seine Explikation. Auf dieses Gegenargument reagiert Samuel Scheffler, indem er daran festhält, dass manche Theorien im Laufe eines Lebens höhere Forderungen an typische Akteure stellen als andere: „Certain theories will on balance make greater demands of typical agents over the course of a lifetime than will others, and we may express this truth by saying that some theories are more demanding than others.”50 Als Erwiderung auf das vorgestellte Problem der Kontextrelativität ist diese Einschätzung überzeugend, weil sie sich folgendermassen begründen lässt. Es gibt, so kann man diagnostizieren, Bedürfnisse, Interessen und Fähigkeiten, die wir als menschliche Wesen für gewöhnlich in ähnlichem Ausmass haben. Relativ zu diesem mehr oder weniger stabilen Bezugspunkt ist Singers Hilfsprinzip, um auf das Beispiel aus 1.1. zurückzukommen, anspruchsvoller, als es Narvesons Prinzip ist. Niemand arbeitet gerne nahezu vierundzwanzig Stunden pro Tag, niemand verzichtet gerne auf Freundschaften oder Liebesbeziehungen und niemand verliert gerne den Raum für persönliche Leidenschaften und Projekte. Darüber hinaus scheint es auch eine gewisse Konstanz menschlicher Lebensumstände zu geben. Obwohl sich vieles verändert und wir keineswegs alle von Krisenzeiten, Unrechtsregimen oder Naturkatastrophen betroffen sind, bleiben wesentliche Parameter unserer Leben konstant. Wir wachsen alle als Teil einer Gesellschaft auf, wodurch wir in Kooperationsprozesse eingebunden werden, jederzeit andere Menschen unterstützen können und um gegenseitige Freiheiten ringen müssen. Doch hängen die Erfolgsaussichten des Überforderungseinwands zwangsläufig von der Wahrheit solcher Aussagen ab? Nein, denn nimmt man die „nicht können“-Version des Ein49 50 Vgl. auch Scheffler (1992), 99. Scheffler (1992), 99. 27 wands zum Vorbild, die im vorangegangenen Unterabschnitt abgehandelt wurde, wird deutlich, wie eine Explikation des Überforderungseinwands aussehen könnte, die ihn aus der Geiselhaft empirischer Behauptungen befreite. Auch für unlösbare moralische Aufgaben gilt womöglich zweierlei: Nicht alle Menschen werden in ihrem Leben mit derselben Anzahl davon konfrontiert und was für den einen unlösbar ist, ist für die andere vielleicht lösbar. Trotzdem droht dem Argument aus 2.2. kein Ungemach. Sobald sich aus einer Moraltheorie eine Forderung ergibt, die ein beliebiger Akteur, der sie erfüllen soll, nicht erfüllen kann, muss die Theorie gemäss der „Sollen impliziert Können“-Regel revidiert werden. Es ist also einzig darauf zu achten, ob die Forderungen einer Theorie gegenüber einzelnen Handelnden einen kritischen Schwierigkeitsgrad erreichen. Ob die Forderungen auch an andere Akteure gerichtet sind und ob diese ebenfalls unfähig wären, ihnen nachzukommen, ist für die Kritik daran unerheblich. Von denen, die ϕ-en können, darf man es verlangen, von denen, die nicht ϕ-en können, darf man es nicht verlangen. Wenn sich dieses Modell auf den Überforderungseinwand übertragen lässt, dann sind die empirischen Hypothesen des voranstehenden Absatzes überflüssig. Das ändert indes nichts daran, dass die Anhänger des Überforderungseinwands dazu in der Lage sein müssen, die Höhe der moralischen Forderungen einer Theorie gegenüber einzelnen Akteuren zu bestimmen. Ist ihnen dies möglich? Murphy bezweifelt aufgrund ausgefeilter Überlegungen zur Bemessung der Kosten von Moraltheorien (α), dass wir überhaupt beurteilen können, wie hoch die Forderungen einer Theorie für ein Individuum sind. Deshalb soll seine Argumentation in der Folge zuerst dargestellt und anschliessend geprüft werden. Um die Kosten eines Moralprinzips abschätzen zu können, müssen wir nach Murphy wissen, wie gut es einem Akteur geht und wie gut es ihm ginge, wenn er das Prinzip nicht beachtete, d. h. wir benötigen eine Basis („baseline”), vor deren Hintergrund wir die Kosten eines Prinzips messen können.51 Im Unterschied zu Brad Hooker, der eine normativ eingefärbte Basis vorzieht, schlägt Murphy die Basis des faktischen Status quo vor: „how things are now and can be expected to be in the future.”52 Entsprechend zählt für ihn alles zu den Kosten eines Prinzips, was wir voraussichtlich dadurch verlieren, dass wir dem Prinzip Folge leisten, statt in unserem Eigeninteresse zu handeln: „The appropriate measure of the demands of a 51 Vgl. Murphy (2000), 34f. Murphy (2000), 35; vgl. Hooker (2009), 160: „So here is a proposal for a baseline: the baseline should include how well off a person is now minus any stolen goods and any other possessions that are inherently unownable (such as slaves, the North Pole, etc.) but not minus whatever might be extracted by this or that proposed principle of beneficence.” Siehe zur Kritik an einer normativ eingefärbten Basis Murphy (2000), 36f. 52 28 moral theory is thus the difference between the agent’s expected well-being as a perfect complier and her expected well-being in an optimally prudent life.”53 Ernsthafte Schwierigkeiten für die Abschätzung der Kostenhöhe entstehen Murphy zufolge aber, weil wir dabei nicht nur aktive Forderungen („active demands“), sondern auch passive Forderungen („passive demands”) berücksichtigen sollten.54 Wenn wir ermitteln wollen, wie anspruchsvoll eine Moraltheorie ist, müssen wir sowohl einkalkulieren, was uns die Theorie auferlegt, wenn wir ihr selbst folgen („active“), als auch bedenken, was sie uns auferlegt, indem ihr andere folgen („passive“). Ansonsten könnten Moralvorstellungen, die gesetzlich effektiv erzwungen werden – man denke etwa an die staatliche Eintreibung von Steuern –, absurderweise keine Forderungen an uns enthalten, weil man sich von einer Abweichung davon keinerlei Vorteile versprechen darf. Zwischen dem erwarteten Wohlergehen eines moralkonform Handelnden und dem erwarteten Wohlergehen eines klug Handelnden besteht in einem solchen Fall nämlich keine Differenz. Ignorieren wir die Lasten, die ein Akteur trägt, weil andere die Pflichten einer Moraltheorie befolgen, gelangen wir in Murphys Augen zu einer künstlich niedrigen Einschätzung ihrer Forderungen. Gleicherweise erhalten wir aber, wie er meint, auch eine künstlich hohe Einschätzung ihrer Forderungen, wenn wir die Vorteile nicht ebenfalls miteinbeziehen, die einem Handelnden durch die moralische Regelbefolgung anderer erwachsen: „What we are interested in, in fact, is the net effect the compliance of others with a moral theory has on our agent’s well-being.”55 Die Kosten und der Nutzen der Theorie-Einhaltung anderer sollten also miteinander verrechnet werden, um einen positiven oder einen negativen Nettoertrag zu bekommen. Dabei ist interessant, dass sich die passiven Forderungen und Begünstigungen für Murphy ausschliesslich aus den erwartbaren Konsequenzen von Handlungen speisen, zu denen andere gemäss einer Theorie verpflichtet sind, nicht jedoch aus den erwartbaren Konsequenzen von Handlungen, die anderen erlaubt sind.56 Wie aber sollen sich aus diesen Neuerungen Schwierigkeiten für die Kostenberechnung ergeben? Man kann die Frage nach der Höhe moralischer Forderungen entweder als eine Frage der idealen Theorie oder als eine Frage der nicht-idealen Theorie behandeln, d. h. entweder unter der Voraussetzung, dass eine Moraltheorie von sämtlichen Akteuren befolgt wird („fullcompliance“), oder unter der Voraussetzung, dass es Akteure gibt, welche die Moraltheorie nicht befolgen („partial-compliance“).57 Wer sich mit dem Problem der moralischen Überfor53 Murphy (2000), 42; vgl. dazu auch Murphy (2000), 47. Murphy (2000), 47f. 55 Murphy (2000), 48. 56 Vgl. Murphy (2000), 48 und 145. 57 Siehe Murphy (2000), 5, 50f. und 56f. 54 29 derung auseinandersetzt, muss nach Murphy auch und vor allem Situationen beachten, die von der bloss partiellen Befolgung einer Theorie geprägt sind. Daher zielt er mit seinem Hauptargument auf das Scheitern der Kosten-Nutzen-Rechnung unter „partial-compliance”Bedingungen ab: Unter Berücksichtigung der Kosten, die aufgrund der partiellen Befolgung einer bestimmten Moraltheorie durch andere anfallen, lässt sich seiner Meinung nach nicht beurteilen, wie hoch die Kosten dieser Moraltheorie für ein Individuum sind.58 Warum Murphy diese Ansicht vertritt, erklärt sich wie folgt. Um die Höhe passiver Forderungen abschätzen zu können, brauchen wir zunächst eine neue Basis („baseline”), vor deren Hintergrund sich die Kosten einer Theorie herauskristallisieren. Als geeignet erachtet Murphy eine Welt, in der keine anderen Akteure die entsprechende Theorie je befolgen: „[...] the passive effect on [agent] A of a prevailing level of (partial) compliance with theory T in a world W is assessed by comparing A’s expected well-being in W with her expected well-being in a baseline world of zero compliance with T.”59 Konstruiert man eine solche Basis-Welt ausgehend von einer mehr oder weniger plausiblen Theorie T, muss das Resultat dem hobbesschen Krieg aller gegen alle ähneln. Wenn niemand je das tut, was gemäss T seine moralische Pflicht ist, dann dürfte die entstehende Atmosphäre keine sehr angenehme sein. Relativ dazu – soviel lässt sich immerhin sagen – fördern die Kosten-Nutzen-Rechnungen zu sämtlichen partiell befolgten Theorien einen positiven Nettoertrag und keinen Nettoverlust zutage: „Take any plausible mixture of different degrees of compliance with different theories, and asses the passive effect of compliance with any of them against a baseline of zero compliance with that theory, and the result will be a net benefit.”60 Davon, dass irgendeine dieser Theorien unter „partial-compliance”-Bedingungen extrem anspruchsvoll ist, kann also nach Murphy ohnehin nicht die Rede sein. Sein Hauptargument ist jedoch ein anderes. Wollen wir unterschiedliche Moraltheorien hinsichtlich ihrer passiven Effekte („passive effects”) für einen Handelnden miteinander vergleichen, tritt eine schwerwiegende Komplikation auf. Für relevante „partial-compliance“Situationen, die der wirklichen Welt ähneln und in denen nahezu jedermann beinahe allen plausiblen Theorien wenigstens unvollständig entspricht, können wir nicht spezifizieren, in welchem Ausmass eine bestimmte Theorie befolgt wird. Aufgrund dessen ist es wenig hilf58 Vgl. Murphy (2000), 48 und vor allem 56f. Allerdings argumentiert Murphy zunächst auch dafür, dass uns das Problem der moralischen Überforderung abhanden kommt, wenn wir die Kosten-Nutzen-Rechnung unter „fullcompliance”-Bedingungen durchführen. So stellt er dazu etwa Folgendes fest: „the sum of passive effects and active demands, which we can call the compliance effect, will always be a net benefit. The basis of this claim is simply the idea, familiar at least since the time of the Sophists, that a person’s prospects are always going to be better if everyone, including her, follows one of the moral conceptions we take seriously” (Murphy (2000), 52). Siehe dazu ausserdem Murphy (2000), 50f. sowie 53f. 59 Murphy (2000), 56. 60 Murphy (2000), 59. 30 reich, wenn wir wissen, dass die Kosten-Nutzen-Rechnung zu allen plausiblen Theorien in etwa gleich positiv ausfällt:61 „Without some sense of what levels of compliance we are talking about, we are in no position to say that one theory has a more or less beneficial passive effect than another.”62 Weil wir keine Ahnung haben, wie hoch das Niveau der partiellen Einhaltung einzelner Moraltheorien ist, scheitern wir daran, die Theorien hinsichtlich ihrer passiven Effekte zu vergleichen. Da uns eine entscheidende Information fehlt, bleibt unklar, ob eine Theorie T1 vorteilhafter für einen Akteur ist als eine Theorie T2. Wie ist Murphys Argumentation zu beurteilen? Es gibt mindestens zwei Möglichkeiten, Einspruch gegen seine herausfordernden Überlegungen zu erheben. Entweder man bestreitet, dass die Verfechter des Überforderungseinwands aktive und passive Forderungen einberechnen müssen, oder man bestreitet, dass es nicht möglich ist, die Höhe passiver Forderungen abzuschätzen. Der zweiten Option gemäss möchte ich zuerst gewisse Zweifel daran säen, dass sich passive Effekte unter „partial-compliance”-Bedingungen nicht berechnen lassen, und der ersten Option gemäss soll in der Folge – als zentraler Einwand – dafür plädiert werden, die „passiven Forderungen“ nicht als genuine moralische Forderungen zu begreifen. Zugegebenermassen sind wir nicht in der Lage, aus dem Lehnstuhl über die vorherrschenden Befolgungsniveaus verschiedener Moralprinzipien Auskunft zu geben. Doch weshalb genau sollte es ausgeschlossen sein, sich einerseits hypothetische Muster der Prinzipienbefolgung und ihre Konsequenzen für einzelne Akteure auszudenken und sich andererseits mittels empirischer Studien einer Beschreibung der verbreiteten Befolgungsniveaus anzunähern, um gewisse Parallelen zwischen der realen Lage und den fiktiven Szenarien herauszuarbeiten? Murphy macht zu wenig deutlich, welche prinzipiellen Probleme uns daran hindern sollten, ein solches Forschungsprojekt anzugehen. Deshalb gibt es gute Gründe, sein Argument zumindest noch einmal zu überdenken. Viel naheliegender ist es indes, bereits die erste Option zu wählen und zu negieren, dass für die Einschätzung der Höhe moralischer Forderungen sowohl aktive als auch passive Kosten relevant sind. Denn das, was Murphy „passive Forderungen“ nennt, sind keine echten Forderungen. Um einzusehen, wie merkwürdig seine Auffassung des Begriffs der moralischen Forderung ist, kann es hilfreich sein, sich zunächst eine sonderbare Konsequenz derselben vor Augen zu führen. Da sich die passiven Forderungen einer Theorie für Murphy nur daraus ergeben, was 61 Vgl. Murphy (2000), 58: „We know that in our actual world any plausible theory can be credited with a passive effect on me equivalent to the difference between my expected well-being now and my expected well-being in a world of zero compliance with the theory. Since the baseline world is one where everyone would have the same very low level of expected well-being, we can give as a rough measure of that passive effect my actual level of expected well-being from now.” 62 Murphy (2000), 58. 31 anderen geboten ist, nicht aber auch daraus, was anderen erlaubt ist,63 offenbart die Beurteilung der beiden Theorien T1 und T2 Erstaunliches, wenn jemand in einer Situation S nach T1 verpflichtet ist, mich zu töten, während es ihm nach T2 bloss erlaubt ist, mich zu töten. Unter der Annahme, dass ich in beiden Fällen umgebracht werde, fliesst die schwere Bürde des Todes trotzdem ausschliesslich in die Kosten-Nutzen-Rechnung zu T1 ein und nicht in diejenige zu T2. Jemanden zu verpflichten, eine Person zu töten, erhöht die passiven Forderungen gegenüber dieser Person erheblich. Jemandem hingegen zu erlauben, eine Person zu töten, erhöht die passiven Forderungen gegenüber dieser Person überhaupt nicht. Das ist sehr seltsam. Aber wie sollen wir darauf reagieren? Wieder haben wir zwei Möglichkeiten: Entweder rechnen wir auch die erwartbaren Folgen zulässiger Handlungen anderer irgendwie in die Forderungen einer Theorie ein oder wir verabschieden uns vom Konzept der passiven Forderungen und zählen die erwartbaren Folgen gebotener Handlungen anderer nicht länger zu den Forderungen einer Theorie gegenüber einem Akteur. Entscheiden sollten wir uns meines Erachtens für die zweite Alternative. Selbstverständlich bürdet mir ein Moralprinzip Kosten auf, wenn es meine absehbare Tötung durch jemand anderen für zulässig oder sogar für geboten erklärt. Doch sind diese Kosten mit moralischen Forderungen zu identifizieren, die an mich gestellt werden? Nein, mir gegenüber müssen T1 und T2 in Situation S gar keine Forderungen erheben. Vielleicht ist es mir gemäss den beiden Theorien geboten, mich nicht zu wehren, vielleicht aber ist es mir nach ihnen auch nicht geboten, meine Tötung kampflos hinzunehmen. Das hängt von der weiteren Ausgestaltung dieser Moraltheorien ab. Jedenfalls ist es nicht dasselbe, ob eine Theorie eine Forderung an uns stellt oder unserem Wohlergehen keine prioritäre Behandlung einräumt. Selbst falls einzig der Vorschlag (α) korrekt ist, was nicht erwiesen ist, gilt nämlich höchstens Folgendes: Jede moralische Forderung bürdet uns Kosten auf, aber nicht jedes Aufbürden von Kosten stellt eine moralische Forderung dar. Damit ist nicht gesagt, dass den hohen Kosten, die ich in Situation S gegebenenfalls tragen muss, keine moralische Relevanz zukommt, sondern nur, dass mir gegenüber dadurch, dass ich sie tragen muss, nicht ipso facto eine moralische Forderung erhoben wird. Was lässt sich weiter zugunsten dieser Position vorbringen? Der Begriff der passiven Forderungen hat den bitteren Beigeschmack einer contradictio in adjecto. Eine moralische Forderung ist etwas, was jemandem gegenüber erhoben wird und dem man nachkommen kann, nicht etwas, das einem auferlegt wird, ohne dass man sich dazu entschliessen könnte, ihm zu entsprechen oder nicht zu entsprechen. Demgegenüber liesse sich einwenden, dass Murphy eine rein stipulative 63 Vgl. Murphy (2000), 48 und 145. 32 Definition des Ausdrucks „passive Forderung“ anstrebt, die nicht am etablierten Sprachgebrauch gemessen werden sollte.64 Aber obwohl diese Verteidigungsstrategie auf den ersten Blick aussichtsreich scheint, kann sie nicht überzeugen. Die Explikation des Begriffs der moralischen Überforderung beruht auf der Explikation des Begriffs der moralischen Forderung. Letztere sollte daher – wie erstere – einerseits an unsere alltägliche Verwendung des Ausdrucks „moralische Forderung“ anknüpfen und den Überforderungseinwand andererseits so interessant und plausibel wie möglich machen. Beide Kriterien erfüllt Murphys Ansatz nicht. Erstens sind „passive Forderungen“ keine genuinen Forderungen und zweitens führt ihre Einbeziehung nicht dazu, dass der Überforderungseinwand an Plausibilität gewinnt. Vor diesem Hintergrund müssen die zahlreichen Schwierigkeiten, die Murphy dank den „passive demands“ für die Anhänger des Überforderungseinwands herleitet,65 eher als Teile einer reductio ad absurdum seiner Interpretation des Einwands gelten, denn als Anzeichen seiner Unzulänglichkeit. Indem Murphy moralische Forderungen und das, was er „passive Forderungen“ nennt, miteinander vermengt, wechselt er das Thema – nicht erst später, als er dies im Zuge der Zurückweisung möglicher Auswege seinen Gegnern vorwirft.66 Beschränkt man sich bei der Explikation des Überforderungseinwands folglich auf aktive Forderungen, lässt sich Murphys Herausforderung bewältigen. Die Kosten, die Handelnde tragen, weil sie ein moralisches Prinzip befolgen, können – in Übereinstimmung mit dem Vorschlag (α) – unter „full-compliance”- wie auch unter „partial-compliance”-Bedingungen eingeschätzt werden. Es gibt Prinzipien, die mehr von uns verlangen, und es gibt Prinzipien, die weniger von uns verlangen. Und es gibt Theorien, die – wie es das utopische Szenario einer heilen Welt aus 1.1. verdeutlicht – selbst in den glücklichsten Kontexten so anspruchsvoll sind, dass sie uns nicht plausibel erscheinen:67 Insofern zeigt die optimierende Moralkonzeption, deren Vertreter stets die bestmögliche Handlung zur Pflicht erklären, zugleich weitere Grenzen der eingangs von 2.3. thematisierten Bedenken zur Kontextrelativität (der Höhe 64 Vgl. dazu die Formulierung von Murphy (2000), 48: „But also intuitively important are the demands that morality imposes on us, not through our own compliance, but through the compliance of others. We can call these passive demands.” Während die Tatsache, dass bereits im ersten Satz von „demands“ die Rede ist, eher gegen die Interpretation der stipulativen Definition spricht, könnte der zweite Satz – „We can call these passive demands” – als ein Indiz betrachtet werden, das diese Interpretation stützt. 65 Siehe dazu Murphy (2000), 50f. Die obige Darstellung von Murphys Argumentation ist leicht verkürzt. 66 Vgl. Murphy (2000), 56. Lehnt man die Einbeziehung passiver Forderungen ab, sollte man allerdings, besser früher als später, eine Lösung für die Probleme finden, die Murphy dazu bewegen, von passiven Forderungen zu sprechen (siehe dazu Murphy (2000), 47f. und 60). Dieser Herausforderung kann ich mich im Rahmen der vorliegenden Untersuchung jedoch nicht stellen. 67 Vgl. dazu auch Ashfords Ausführungen zur Höhe der moralischen Forderungen des Kontraktualismus: „However, Scanlon’s contractualism is also demanding in a way that is much less defensible because of the fact that it rejects all interpersonal trade-offs. This rejection commits Scanlon’s theory to extremely demanding principles for any situation in which any one person may be harmed by activities which involve any small risk, and that is the situation in any practically realizable state of the world” (Ashford (2003), 302). 33 moralischer Forderungen) auf und ruft uns in Erinnerung, dass mit der Beschränkung auf aktive Forderungen einstweilen auch das obige Problem positiver Kosten-Nutzen-Rechnungen entschärft ist. Solange aktive Forderungen nicht mit „passiven Forderungen“ verrechnet werden müssen, sehen wir uns als Handelnde mit den echten Kosten kostspieliger Forderungen konfrontiert und nicht mit positiven Nettoerträgen, gegen die nichts einzuwenden ist. 2.4. Überforderung als Einwand Mit These (i) zu behaupten, dass manche Moraltheorien anspruchsvoller sind als andere, ist eines, mit These (ii) zu behaupten, dass manche Moraltheorien zu anspruchsvoll sind, ist etwas anderes. Die Stolpersteine, die die Vorschläge (α*), (β*) und (γ*) begleiten, lassen sich nicht allesamt aus dem Weg räumen, indem – wie im vorhergehenden Unterabschnitt – mögliche Komplikationen von (α), (β) und (γ) behoben werden. In 2.4. ist deshalb zu untersuchen, zu welchen Zweifeln der Übergang von (i) zu (ii) Anlass gibt und ob sich diese nach gründlichem Nachdenken verflüchtigen, bevor darauf eingegangen wird, wie die beiden Thesen genau mit dem zusammenhängen, was man als Überforderungseinwand verstehen sollte. Gegen Ende von Unterabschnitt 2.2. wurde festgestellt, dass die Frage, wann eine Moraltheorie zu anspruchsvoll ist, als eine Frage nach dem Massstab aufgefasst werden kann, anhand dessen wir darüber befinden können, ob eine anspruchsvolle Theorie zu anspruchsvoll ist. Offen blieb dabei allerdings, wohin uns diese Einsicht führt und welche philosophischen Gefahren in ihrem Umfeld lauern. Damit ist der Ausgangspunkt der nachstehenden Überlegungen benannt. Um sich Klarheit darüber zu verschaffen, inwiefern der Überforderungseinwand durch Hindernisse der besagten Provenienz bedroht sein könnte, lohnt es sich, ein Argument zu betrachten, das von Peter Schaber stammt.68 Wenn man gegen eine Theorie einwendet, ihre Forderungen seien zu hoch, dann bewertet man, so Schaber, die Forderungen der Theorie und verleiht der Überzeugung Ausdruck, dass dasjenige, was von uns gefordert wird, von Menschen nicht gefordert werden darf. Wer sagt, es werde zu viel von ihm verlangt, tätigt eine Aussage über die Legitimität einer moralischen Forderung. Trifft dies aber zu, kann die Überforderung, wie Schaber darlegt, nicht der Grund dafür sein, dass eine Forderung illegitim ist: Eine Forderung darf nicht deshalb nicht gefordert werden, weil sie nicht gefordert werden darf.69 Da die Diagnose der Überforderung durch eine Forderung F also nicht unabhängig ist von der Diagnose der Illegitimität von F und entsprechend voraussetzt, dass eine Moraltheorie, die 68 69 Vgl. Schaber (2014), 5f. Vgl. Schaber (2014), 6. 34 F beinhaltet, falsch ist, erbringt der Überforderungseinwand keine eigenständige argumentative Leistung.70 Wer einer Theorie vorhält, sie überfordere uns, der bedient sich, so könnte man sagen, einer petitio principii: Er setzt bloss voraus, was sein Einwand zeigen müsste. Wir müssen zuerst klären, wozu Menschen berechtigt sind, bevor wir konstatieren können, welche Forderungen zu anspruchsvoll sind und welche nicht. Dazu ist im Rahmen einer Debatte um die richtige Moraltheorie herauszufinden, ob etwa eine kantianische oder eine utilitaristische Position präferiert werden sollte.71 Die Idee der moralischen Überforderung kann dabei jedoch keine Rolle spielen und ist daher nicht dazu geeignet, als Schlüsselkomponente eines moraltheoretischen Einwands zu fungieren. Welche Lehren sind aus diesem Gegenargument zu ziehen? Müssen diejenigen, die auf der Suche nach einer schlagkräftigen Explikation des Überforderungseinwands sind, ihre Hoffnungen begraben? Wenn Moraltheorien oder -prinzipien als zu anspruchsvoll kritisiert werden, drängt sich – dies verdeutlicht das Argument – die Frage nach dem Bewertungsmassstab auf, der dem Überforderungsurteil zugrunde liegt. Akzeptiert man Schabers Analyse vollumfänglich, liegt der Massstab jeweils in der Moraltheorie, die ein Vertreter des Überforderungseinwands für die richtige hält. Ist es einer Akteurin A gemäss der Moraltheorie, die eine Philosophin P favorisiert, moralisch erlaubt, eine Handlung H auszuführen, dann wird P eine Forderung, welche H entgegensteht, als überfordernd kritisieren. Ist es A gemäss der moralischen Einstellung von P dagegen nicht erlaubt, H zu verüben, dann wird P eine Forderung, welche H entgegensteht, auch nicht als überfordernd kritisieren. Diese Ansicht spiegelt sich in einem anschaulichen Beispiel Schabers wider: Wenn ein Konsequentialist wie Singer es für moralisch verboten hält, weniger als 10% seines Einkommens an Hilfsorganisationen zu spenden, ist der Hinweis auf die hohen Kosten für ihn genauso moralisch irrelevant wie der Hinweis, für mich könnte der Verzicht auf Demütigungen mit sehr hohen Kosten verbunden sein.72 Nur diejenigen, die denken, es sei erlaubt, weniger als zehn Prozent des eigenen Einkommens zu spenden, halten Singers Forderung für zu hoch und neigen dazu, einen Überforderungseinwand vorzubringen. Nimmt man demgemäss stets diejenige Moraltheorie, der man selbst anhängt, zum Massstab für ein Überforderungsurteil, ist die Idee der moralischen Überforderung zweifelsohne nicht relevant für die moralphilosophische Diskussion. Falls jemand nämlich unter dieser Voraussetzung der Meinung ist, dass eine Theorie zu viel von uns verlangt, kann er bestenfalls andere Gründe anführen, aus denen das Geforderte nicht gefordert werden 70 Siehe dazu Schaber (2014), 10, 12 und 13. Vgl. Schaber (2014), 11f. und zur Verteidigung einer kantianischen Theorie Schaber (2010). 72 Schaber (2014), 8. 71 35 darf. Einzig auf der angeblichen Überforderung zu beharren, trägt nichts aus und ist klarerweise als question begging zu verurteilen. Doch es ist keineswegs ausgemacht, dass immer eine Moraltheorie, die wir präferieren, zur Richtschnur für unsere Überforderungsurteile werden muss. Gelingt es uns, den Bewertungsmassstab anderswo zu verorten, sind wir nicht gezwungen, substantielle Moralprinzipien vorauszusetzen, damit wir von der These (i) zur These (ii) übergehen können. Um der drohenden Gefahr eines Question-begging-Fehlschlusses zu entgehen, ist demzufolge ein moraltheorieexterner Standard ausfindig zu machen, der zum einen richtigerweise zur Beurteilung der Angemessenheit von Moraltheorien dient und zum anderen eine Grundlage für unsere Überforderungsurteile bildet. Die Diagnose der Überforderung ist dementsprechend als eine Inadäquatheitsdiagnose aufzufassen. Wer gegen eine Theorie einwendet, ihre Forderungen seien zu hoch, bringt mit der Aussage „Theorie T überfordert uns“ zum Ausdruck, dass T einem Standard zur Beurteilung konkurrierender Theorien nicht genügt. Er setzt jedoch keine moralischen Behauptungen voraus, die einer alternativen Moraltheorie angehören. Deswegen ist es nicht problematisch, wenn mit der Feststellung der Überforderung eine Bewertung moralischer Forderungen einhergeht. Schliesslich soll der Überforderungseinwand gewisse Moralprinzipien oder -theorien als inadäquat ausweisen. Behält man diese Vorbehalte im Auge, orientiert man sich bei der Explikation des Überforderungseinwands vorzugsweise an These (ii). Statt mit einer umständlichen Konstruktion jegliche Eingangsplausibilität aufs Spiel zu setzen, fängt man so die intuitive Attraktivität ein, die (i) und (ii) in Unterabschnitt 1.1. zuerkannt wurde. Eine Moraltheorie mit dem Überforderungseinwand zu konfrontieren, heisst, sie als zu anspruchsvoll – und somit gemäss den Interpretationsvorschlägen (α*), (β*) oder (γ*) als zu kostspielig, zu schwierig oder zu einengend – zu kritisieren. Die Standardform des Überforderungseinwands muss daher „Theorie T überfordert uns“, „T ist zu anspruchsvoll“ oder „Die Forderungen von T sind zu hoch“ lauten. Zu einem legitimen Ziel eines solchen Einwands wird eine Moraltheorie, wenn sie derart anspruchsvoll gerät, dass sie unplausibel ist. Damit ist indes vorausgesetzt, dass es tatsächlich ein Desiderat moralischer Standpunkte ist, eine gewisse Forderungshöhe nicht zu überschreiten. Überfordert uns eine Theorie, wird sie diesem angenommenen Erfordernis nicht gerecht und ist, falls keine gewichtigeren Gründe dagegen sprechen, zu revidieren. Hält man sich bei der Explikation des Überforderungseinwands an die Thesen (i) und (ii), beansprucht man folglich, um es anders auszudrücken, ein meta-ethisches Prinzip, anhand dessen beurteilt werden kann, ob – ansonsten vielversprechende – Moralprinzipien oder -theorien akzeptabel 36 sind.73 Wenn wir wissen wollen, ob es je berechtigt ist, eine Theorie als zu anspruchsvoll zu kritisieren, müssen wir uns demnach darüber Gedanken machen, warum es plausibel sein könnte, ein solches Meta-Prinzip anzunehmen. 73 Vgl. dazu auch Hooker (2009), 148 und Heilinger (2012), 195. 37 Teil II: Die Berechtigung des Überforderungseinwands Im zweiten Teil der Untersuchung sollen Probleme im Vordergrund stehen, die mit dem Thema der Berechtigung des Überforderungseinwands zusammenhängen. Dabei ist insbesondere zu klären, warum eigentlich die Frage, wie viel Moraltheorien von uns verlangen, relevant sein soll für die Beurteilung ihrer Angemessenheit. Denn solange wir keine überzeugende Begründung dafür vorweisen können, scheint nichts für die Existenz des meta-ethischen Adäquatheitskriteriums zu sprechen, auf welches der Überforderungseinwand angewiesen ist, um je berechtigt zu sein. Einer ersten Rechtfertigungsstrategie zufolge ist die Berufung auf unsere wohlerwogenen moralischen Überzeugungen der Schlüssel zur Verteidigung des Überforderungseinwands. Andere erachten diese Strategie als ungenügend und fordern eine tiefere philosophische Begründung für die moraltheoretische Relevanz der Höhe moralischer Forderungen. Und schliesslich gibt es auch Stimmen, die beide Herangehensweisen für aussichtslos erklären und den Überforderungseinwand nach dem Motto „[I]f morality is demanding, it is demanding”74 zurückweisen. Im dritten Abschnitt ist folgerichtig die erste Rechtfertigungsstrategie auf den Prüfstand zu stellen, im vierten soll die zweite Strategie getestet werden. Falls beide Versuche scheitern, bleibt uns nichts anderes übrig, als resignierend in den Abgesang des Überforderungseinwands einzustimmen: Wenn die Moral ausgesprochen viel von uns fordert, dann fordert sie eben ausgesprochen viel von uns. 3. Wohlerwogene moralische Überzeugungen Um die Rechtfertigungsstrategie, für die der Verweis auf unsere wohlerwogenen moralischen Überzeugungen zentral ist, von ihrer besten Seite kennenzulernen, empfiehlt es sich, ihren gewieftesten Anwalt zu Wort kommen zu lassen: den Regel-Konsequentialisten Brad Hooker. Deshalb soll seine Argumentation im nächsten Unterabschnitt vorgestellt (3.1.) und anschliessend – unter Berücksichtigung von weiteren methodologischen Überlegungen – einer Überprüfung unterzogen werden (3.2.). Zuvor ist es allerdings ratsam, eine kurze Vorbemerkung zum Ausdruck „Überzeugung“ anzubringen. In den Texten, welche in der Folge zu thematisieren sind, werden die englischen Wörter „intuition“, „belief“, „conviction“, „claim“, „judgement“ und „verdict“ zuweilen äquivalent verwendet.75 Von dieser Praxis weiche ich insofern nicht ab, als ich wahlweise von 74 Griffin (1986), 185. Vgl. z. B. Kagan (1989), 11: „Let me start with a model of moral theorizing which is, I believe, inadequate. On this account we begin moral philosophy with a set of pretheoretical moral intuitions – beliefs about the moral character of a variety of specific situations (both actual and hypothetical).” Siehe auch Hooker (2000), 104. 75 38 moralischen Überzeugungen, Intuitionen oder Urteilen spreche, ohne näher auf die philosophischen Debatten einzugehen, die sich um die Begriffe der Intuition und des moralischen Urteils ranken.76 3.1. Hookers Argumentation Hookers Argumentation besteht aus zwei Schritten. Zuerst beantwortet er die generelle Frage, wie wir konkurrierende Moraltheorien beurteilen sollen, darauf führt er aus, wovon eine solche Beurteilung im Einzelnen abhängt und wie sie seiner Ansicht nach ausfällt. Die folgenden Ausführungen sollen seine Argumentation nachzeichnen, insofern sie für die Evaluation des Überforderungseinwands von Belang ist. Nach Hooker gibt es, wie er in Ideal Code, Real World darlegt, fünf Kriterien zur Beurteilung von Moraltheorien, die er andernorts als „meta-ethische Prinzipien“77 bezeichnet: (1) Moral theories must start from attractive general beliefs about morality. (2) Moral theories must be internally consistent. (3) Moral theories must cohere with (i.e. economically systematize, or, if no system is available, at least endorse) the moral convictions we have after careful reflection. (4) Moral theories should identify a fundamental principle that both (a) explains why our more specific considered moral convictions are correct and (b) justifies them from an impartial point of view. (5) Moral theories should help us deal with moral questions about which we are not confident, or do not agree.78 Relevant für die Diskussion um die Berechtigung des Überforderungseinwands sind zunächst bloss das erste Kriterium, wonach Moraltheorien attraktive allgemeine Meinungen über die Moral zum Ausgangspunkt nehmen sollten, und vor allem das dritte, wonach Moraltheorien mit unseren wohlerwogenen moralischen Überzeugungen kompatibel sein müssen. Aufgrund dessen ist es ausreichend, aufzuzeigen, wie Hooker die Kriterien (1) und (3) erläutert und begründet, bevor geklärt werden kann, inwiefern diese beiden meta-ethischen Prinzipien mit dem Überforderungseinwand zusammenhängen. Das erste Prinzip, das er für unproblematisch hält, führt Hooker auf, weil er der Ansicht ist, dass uns eine Theorie, die alle anderen Kriterien erfüllt, gleichwohl suspekt wäre, wenn sie von unattraktiven Vorstellungen über die Moral ausginge, mit denen wir nicht vertraut sind.79 76 Zur Möglichkeit einer meta-ethisch neutralen Anwendung der Methode des Überlegungsgleichgewichts vgl. z. B. Hooker (2000), 14: „Noncognitivists in ethics believe that moral convictions are not really beliefs but instead sentiments or commitments. Some other philosophers (such as Mackie 1977: ch. 1) accept that moral convictions are beliefs, but think these beliefs are never literally true. Yet most contemporary moral philosophers – no matter what their views on metaphysics, epistemology, and language of morals – apply the same reflective-equilibrium methodology in normative ethics. In the case of noncognitivists, the search is for a reflective equilibrium between the moral attitudes at different levels of generality.” Siehe zur Diskussion um den Begriff der Intuition etwa Pust (2012) oder Cappelen (2012). 77 Vgl. Hooker (2009), 148. 78 Hooker (2000), 4. 79 Siehe dazu Hooker (2000), 4f. 39 Entsprechend nimmt er etwa für den Regel-Konsequentialismus in Anspruch, dass dieser dem Prinzip (1), wie viele andere Moraltheorien auch, gerecht wird, da er bei einer gängigen und reizvollen Frage ansetzt, um die Moralität einer Handlungsweise zu prüfen: „What would the consequences be if everyone felt free to do that?”80 Gemäss dem kontroverseren dritten Prinzip ist darauf zu achten, ob eine Theorie mit unseren festen moralischen Überzeugungen in ein Überlegungsgleichgewicht gebracht werden kann.81 Solange sich aus ihrem Zusammenspiel Unstimmigkeiten – wie etwa offene Widersprüche – ergeben, müssen wir entweder die Theorie anpassen oder unsere Überzeugungen aufgeben. Letztlich sollte eine Moraltheorie dann diejenigen unserer Meinungen zu moralischen Einzelurteilen und Prinzipien, an denen wir auch nach reiflicher Überlegung festhalten, systematisieren können oder zumindest für zutreffend erklären. Ansonsten stünde sie nicht, wie es (3) verlangt, im Einklang mit unseren wohlerwogenen moralischen Überzeugungen. Dieses Kriterium verteidigt Hooker einerseits gegen den Vorwurf der Konservativität und andererseits gegen den moralischen Skeptizismus. Machen wir unsere moralischen Überzeugungen zur letzten Berufungsinstanz der normativen Ethik, laufen wir, so der Konservativitätsvorwurf, Gefahr, althergebrachte Mängel vorherrschender Moralvorstellungen zu bewahren. Selbst wenn wir gewisse Überzeugungen im Lichte anderer Überzeugungen revidieren, können wir nicht ausschliessen, dass wir zentrale Fehler erhalten und weiterhin den moralischen Vorurteilen unserer kulturellen Tradition anhängen. Dem hält Hooker in einem ersten Schritt entgegen, dass wir zwangsläufig eine evaluative Perspektive einnehmen müssen, um moralische Positionen zu bewerten: „[...] we cannot evaluate our evaluative beliefs, or anything else, from a completely non-evaluative point of view.”82 Versuchten wir es dennoch, fehlte uns schlicht die Grundlage für die Bewertung. Doch warum sollten wir nicht als moralische Skeptiker sämtliche moralischen Auffassungen anzweifeln, weil wir über keine ausreichende Begründung für sie verfügen? Dagegen wendet Hooker etwas ein, das er in einem zweiten Schritt auch für seinen Umgang mit dem Vorwurf der Konservativität fruchtbar macht.83 Es gibt moralische Urteile, die derart überzeugend sind, dass wir sie kaum aufrichtig 80 Hooker (2000), 5. Der einflussreichste Vertreter der Methode des Überlegungsgleichgewichts („reflective equilibrium”) ist John Rawls. Siehe für seine Charakterisierung der Methode z. B. Rawls (1971), 19f. oder 46f. Üblicherweise wird zwischen einem engen und einem weiten Überlegungsgleichgewicht unterschieden: „Narrow equilibrium is obtained when we find a set of principles that economically systematizes our considered moral convictions. Wide reflective equilibrium is narrow reflective equilibrium plus consistency with ‘background conditions’. These background conditions are composed of theories of personal identity, human flourishing, rationality, and everything else” (Hooker (2000), 15). 82 Hooker (2000), 11. 83 Ausserdem nennt er das folgende Argument gegen den moralischen Skeptizismus: „[...] if we can make good sense of our moral convictions – that is, if we can show how they fit one another and fit with other things we believe – then moral scepticism is unjustified [...].“ (Hooker (2000), 11f.) 81 40 zurückweisen können. So ist es etwa offensichtlich verwerflich, einen Gefangenen aus Langeweile zu foltern. Möchte dies jemand ernsthaft bestreiten, könnten wir uns fragen, ob er wirklich verstanden hat, was er sagt. Die Tatsache, dass es so schwierig ist, gewisse moralische Behauptungen zu leugnen, sollte aber nicht nur gegenüber dem Skeptiker, sondern auch gegenüber einem Verfechter des Konservativitätsvorwurfs eine Rolle spielen: Wir kommen nicht umhin, unterschiedliche Moraltheorien daran zu messen, inwieweit sie denjenigen moralischen Überzeugungen entsprechen, denen wir nach reiflicher Überlegung am meisten vertrauen. Inwiefern hängen nun aber die Kriterien (1) und (3) mit dem Überforderungseinwand zusammen? Für Hooker ist der Überforderungseinwand eine Anwendung des dritten Kriteriums zur Beurteilung von Moraltheorien.84 Wer einer Theorie vorwirft, zu anspruchsvoll zu sein, kritisiert sie ihm zufolge dafür, in einer bestimmten Hinsicht nicht mit unseren wohlerwogenen moralischen Überzeugungen zusammenzustimmen. Denn wir sind fest davon überzeugt, dass uns die Moral nicht alles abverlangt, was wir opfern könnten: People who are not in need ought to be prepared to make some self-sacrifice to help those who are. Yet morality does not require you to be constantly making huge self-sacrifices for the sake of other people to whom you have no special connection. So much altruism is admirable, even saintly. But most of us believe that stopping short of sainthood is morally permissible.85 Wir teilen also, wie Hooker meint, die moralische Überzeugung, dass wir nicht dazu verpflichtet sind, fortwährend bedeutende Opfer zugunsten anderer zu bringen. Setzt man dazu die Geltung des dritten meta-ethischen Prinzips voraus, ergibt sich folgendes Bild. Wenn eine Moraltheorie diese Überzeugung nicht respektiert, dann lässt sie sich nicht nur als anspruchsvoll, sondern mit Fug und Recht auch als zu anspruchsvoll auffassen. Es sind unsere wohlerwogenen Überzeugungen, die uns – qua Kriterium (3) – einen Standard an die Hand geben, mithilfe dessen wir konkurrierende Moraltheorien beurteilen können: Zu anspruchsvoll ist eine Theorie, wie man im Anschluss an Hooker behaupten könnte, genau dann, wenn ihre Forderungen das übersteigen, was uns gemäss unseren stabilen Intuitionen moralisch geboten ist. Damit scheint das Problem des theorieexternen Massstabs, das in 2.2. angedeutet und in 2.4. vertieft wurde, gelöst zu sein. Folgt man Hookers Argumentation, ist der Überforderungseinwand demnach aus zwei Gründen genauso überzeugend, wie es andere Einwände sind, die auf der Methode des Überlegungsgleichgewichts beruhen. Wenn wir uns – erstens – mögliche Szenarien vor Augen führen, in denen etwa die moralisch bestmögliche Handlung extreme Opfer mit sich bringt, 84 85 Vgl. Hooker (2009), 149. Das erste Kriterium kann meiner Meinung nach ergänzend hinzugezogen werden. Hooker (2000), 16. 41 dann haben wir in der Tat die robuste Intuition, dass solche Handlungen supererogatorisch sind. Exemplarische Evidenz dafür mögen uns etwa das Bürgerkriegsszenario (1) aus 1.1. oder die folgenden Beispiele verschaffen. Seine eigene Familie in den Tod zu schicken, sich selbst zu opfern oder sich einen Körperteil amputieren zu lassen, um die Familie, das Leben oder den Arm eines anderen zu retten, ist vielleicht heldenhaft und bewundernswert, moralisch geboten aber ist es, wie wir denken, keinesfalls. Die Überzeugung, es sei in solchen Fällen zulässig, im eigenen Interesse zu handeln, ist tief verankert in unserem Arsenal moralischer Überzeugungen. Niemand wäre je darüber empört, wenn er bemerkte, dass mir das eigene Leben zu lieb ist, um mich für eine andere Person zu opfern. Niemand würde mir je Vorwürfe machen, wenn er sähe, dass ich meinen Arm nicht für den Arm eines anderen hergeben möchte. Vergleicht man den Überforderungseinwand – zweitens – mit anderen Argumenten, die sich auf wohlerwogene moralische Überzeugungen stützen, fällt ihre strukturelle Analogie auf: Wer letztere akzeptiert, muss daher auch ersterem beipflichten. In beiden Fällen konfligiert Moraltheorien nämlich mit moralischen Überzeugungen, die wir nach reiflicher Überlegung noch immer nicht aufgeben wollen.86 So sind zum Beispiel viele der Ansicht, dass der klassische Handlungsutilitarismus in unzähligen Situationen nicht diejenige Handlung für richtig erklärt, welche die gerechte Lösung eines moralischen Konflikts herbeiführt. Wie sollen wir etwa einen Kuchen unter zehn Kindern aufteilen, wenn nur Lindas immense Freude über ein grösseres Stück den gesamten Ärger aller Benachteiligten überwiegt? Sollen (a) dennoch alle gleich viel erhalten oder soll Linda (b) mehr bekommen? Ein hartgesottener Utilitarist muss für nutzenmaximierende Variante (b) votieren und damit der Alternative (a) widersprechen, die wir auch nach langem Nachdenken für gerecht erachten.87 Sieht man in derartigen Konflikten mit unseren wohlerwogenen Intuitionen aber einen guten Grund, den klassischen Handlungsutilitarismus zu verabschieden, muss man in Analogie dazu auch den Überforderungseinwand akzeptieren. Andernfalls gelangt man ebenso wenig zu einem Überlegungsgleichgewicht zwischen ethischer Theorie und moralischem Urteil, wie wenn man unsere Gerechtigkeitsintuitionen ignorierte. 86 Siehe auch Lawlor (2009), 33f. Weitere Beispiele könnten sich etwa aus unseren moralischen Einstellungen zur Verletzung moralischer Rechte, zur Tötung unschuldiger Personen, zum Brechen von Versprechen oder zur Missachtung besonderer Verantwortlichkeiten gegenüber den eigenen Eltern, Kindern oder Freunden ergeben (vgl. Lawlor (2009), 33f.; Hooker (2000), 16f.). 87 42 3.2. Moralische Intuitionen und ethische Methodologie Zeigt der Überforderungseinwand also aufgrund seiner Fundierung in Kriterium (3) tatsächlich, dass Moraltheorien, wie Hooker meint,88 Raum lassen sollten für ein beträchtliches Mass an Voreingenommenheit zugunsten der eigenen Person? Dies hängt wesentlich davon ab, welchen Stellenwert man wohlerwogenen moralischen Überzeugungen im Rahmen einer ethischen Methodologie beimessen sollte. Deshalb ist nun zu untersuchen, ob die methodologischen Voraussetzungen, die Hookers Argumentation zugrunde liegen, einer kritischen Prüfung standhalten. Dazu sollen zwei gegensätzliche Auffassungen miteinander verglichen werden, die entscheidende Unterschiede offenbaren: Brad Hookers Verteidigung der unabhängigen Glaubwürdigkeit moralischer Intuitionen und Shelly Kagans Bedenken gegenüber ungestützten Unterscheidungen.89 Hooker zufolge kommt den moralischen Überzeugungen, mit denen Moraltheorien nach eingehender Überlegung harmonieren sollten, unabhängige Glaubwürdigkeit („independent credibility”) zu.90 Sie scheinen für sich genommen, bevor wir uns Gedanken darüber machen, wie gut sie zu unseren anderen Überzeugungen passen, korrekt zu sein: „Like a self-evident proposition, an independently credible one is ‘evident without any need of proof, or of evidence beyond itself’. Unlike a self-evident proposition, an independently credible one might turn out to be mistaken [...].”91 Unsere Intuitionen könnten sich nach Hooker zwar letztlich als falsch erweisen, sie bedürfen aber keines Beweises, um plausibel zu sein. Sie leuchten aus eigener Kraft ein und nicht weil sie durch andere Überzeugungen gestützt werden: „In short, we search for a coherent set of moral beliefs and are willing to make many revisions so as to reach coherence. But we should start with moral beliefs that are attractive in their own right, that is, independently of how they mesh with our other moral beliefs.”92 Kagan betont demgegenüber, dass moralische Intuitionen nicht nur aus Konsistenzgründen verworfen werden sollten, sondern auch falls sie Prinzipien nahelegen, für die wir keine Begründung finden.93 Auf die unabhängige Glaubwürdigkeit unserer Überzeugungen zu verwei88 Vgl. Hooker (2000), 28. Siehe dazu auch Tedesco (2011), 98f. 90 Vgl. Hooker (2000), 12f. 91 Hooker (2000), 13; vgl. dazu Ross (1930), 29: „That an act, qua fulfilling a promise, or qua effecting a just distribution of good, or qua returning services rendered, or qua promoting the good of others, or qua promoting the virtue of insight of the agent, is prima facie right, is self-evident; not in the sense that it is evident from the beginning of our lives, or as soon as we attend to the proposition for the first time, but in the sense that when we have reached sufficient mental maturity and have given sufficient attention to the proposition it is evident without any need of proof, or of evidence beyond itself. It is self-evident just as a mathematical axiom, or the validity of a form of inference, is evident.” 92 Hooker (2000), 13; siehe auch Hooker (2000), 104. 93 Vgl. Kagan (1989), 12f. 89 43 sen, ist nach ihm dabei nicht ausreichend. Stattdessen müssen wir erklären können, warum die Aspekte, denen Moralprinzipien oder -theorien Bedeutung beimessen, moralisch relevant sind: „If a theory holds that a particular factor has relevance in a certain range of cases, what exactly is it about that factor that explains why it is relevant at all – and what explains why it is only relevant in the specified range of cases and not more generally?”94 Solange es uns nicht möglich ist, diese Frage zu beantworten, mangelt es unserer Theorie, wie Kagan meint, an einer adäquaten Rechtfertigung, weil sie eine ungestützte Unterscheidung („dangling distinction”) zulässt. Ein eindrückliches Beispiel dafür entwickelt er anhand eines fiktiven Sklavenhalters, für den es intuitiv erlaubt ist, Schwarze anders zu behandeln als Weisse.95 Gelingt es einer solchen Person Moralprinzipien zu identifizieren, die ihren Intuitionen entsprechen, werden es Prinzipien sein, gemäss denen die Hautfarbe eines Menschen ausschlaggebend ist für die Bewertung von Ungleichbehandlungen. So dürfte es nicht überraschen, wenn der Sklavenhalter das folgende Hilfsprinzip zur Praxis des Auspeitschens vorschlüge: (HP) Einer Person, die ausgepeitscht wird, sollte man helfen, wenn sie weiss ist, nicht jedoch, wenn sie schwarz ist. Denn es ist anzunehmen, dass die moralischen Einzelurteile, die sich aus diesem Prinzip ergeben, mit seinen Intuitionen zur Frage, ob wir verpflichtet sind, jemandem zu helfen, der ausgepeitscht wird, im Einklang stehen. Aber ist die Arbeit der normativen Ethikerin damit getan? Nein, Kagan zufolge sollten wir darüber hinaus darlegen können, warum ein Unterschied in der Hautfarbe moralisch relevant sein soll: Merely having found the distinction underlying his intuitions is not sufficient to justify it. We want to know why difference in skin color should support differential treatment. If the slaveholder cannot offer an explanation, then the distinction hangs free of the rest of his moral theory, and considerations of coherence give him reason to reject the distinction as morally irrelevant, as well as repudiating the intuitions which turn on it.96 Wenn der Sklavenhalter nicht in der Lage ist, die moralische Relevanz der Unterscheidung zwischen Schwarzen und Weissen ans Licht zu bringen, d. h. zu erklären, weshalb diese Differenz für die moralische Beurteilung unseres Handelns ins Gewicht fallen sollte, dann bleibt es eine ungestützte Unterscheidung, auf die sich kein Moralprinzip gründen darf. Auch Hooker ist der Meinung, dass eine moralische Überzeugung insofern durch eine andere gestützt werden kann, als sie sich aus ihr erklärt.97 Für ihn aber muss dies nicht der Fall sein, damit seinem dritten meta-ethischen Prinzip – „Moral theories must cohere with [...] the 94 Kagan (1998), 14. Vgl. Kagan (1989), 13f. 96 Kagan (1989), 14. 97 Vgl. Hooker (2000), 13. 95 44 moral convictions we have after careful reflection”98 – Genüge getan ist. Unsere moralischen Überzeugungen könnten mitunter auch eigenständige Bausteine darstellen, die dank ihrer unabhängigen Glaubwürdigkeit in die beste Moraltheorie zu integrieren sind. Denn sowohl monistischen wie auch pluralistischen Ansätzen sollte es möglich sein, Kriterium (3) zu erfüllen.99 Erlaubt uns dies, einen Einwand gegen Kagans methodologische Überlegungen geltend zu machen? Wäre es nicht seltsam, wenn die für viele offene Frage, ob ein Monismus oder ein Pluralismus vorzuziehen ist, aufgrund methodischer Ansprüche von vornherein aus dem Weg geräumt würde? Dazu ist zweierlei anzumerken. Obwohl es sicherlich übertrieben wäre, sämtliche Theorien mit pluralistischem Anstrich von vornherein zu verwerfen, ist es zum einen weniger befremdlich, als man meinen könnte, dass Kagan eine philosophische Methode verteidigt, die den ethischen Pluralismus einem gewissen argumentativen Druck aussetzt. Je stärker eine Moraltheorie nämlich einer blossen Auflistung unserer Intuitionen ähnelt, desto weniger lässt sie manche Tugenden einer philosophischen Theorie erkennen.100 Monistische Theorien machen die Moral als einen einheitlichen Gegenstand verstehbar, indem sie aufzeigen, welche Zusammenhänge zwischen unseren moralischen Urteilen bestehen. Sie sind auf eine geringere Anzahl von Annahmen angewiesen, um erklären zu können, warum unterschiedliche moralische Regeln Geltung haben. Und sie helfen uns dabei, ungelöste Fragen zu beantworten, angesichts derer wir mit schwankenden Intuitionen konfrontiert sind. Selbst Hooker ist deshalb der Ansicht, dass wir nach einem fundamentalen Moralprinzip suchen sollten.101 Fänden wir eines, wäre das in seinen Augen eine interessante Entdeckung. Unsere Moraltheorie würde dadurch systematischer, informativer und nützlicher. Zutiefst pluralistische Theorien drohen dagegen einer gewissen Beliebigkeit anheimzufallen, die Sphäre der Moral als Ganzes im Rätselhaften zu belassen und wenig hilfreich zu sein für schwierige Konfliktfälle. Zum anderen schliesst Kagans Methodologie, wie ich meine, nicht jeden Pluralismus aus. Einerseits gesteht er an einer Stelle zu, dass vielleicht gezeigt werden kann, dass es verschiedene Moralprinzipien gibt, die keiner weiteren Rechtfertigung bedürfen.102 Nur sollten wir davon nicht ausgehen, ohne ein Argument dafür anzugeben. Andererseits ist sein Umgang mit 98 Hooker (2000), 4. Vgl. Hooker (2000), 10; zur Frage, wie der Monismus-Pluralismus-Gegensatz zu verstehen ist, siehe etwa Hooker (2000), 105: „As I have defined ‘moral pluralism’, all moral pluralists hold that there is nothing like rule-consequentialism or contractualism or act-consequentialism that ties together and justifies our various moral intuitions.” 100 Siehe dazu auch Kagan (1989), 11f. 101 Siehe Hooker (2000), 19f. sowie sein viertes Kriterium zur Beurteilung von Moraltheorien: „Moral theories should identify a fundamental principle that both (a) explains why our more specific considered moral convictions are correct and (b) justifies them from an impartial point of view.” (Hooker (2000), 4) 102 Vgl. Kagan (1989), 13. 99 45 einem anderen Einwand instruktiv, der gegen die Kritik an ungestützten Unterscheidungen („dangling distinctions”) vorgebracht werden könnte: Müssen nicht auch Erklärungen und Begründungen irgendwo an ein Ende kommen? Plausibilisieren liesse sich diese Vermutung unter Verweis auf ein bekanntes Problem aus der Erkenntnistheorie. Gemäss dem sogenannten Münchhausen-Trilemma ist der Anspruch auf Letztbegründung nicht erfüllbar, weil man entweder (a) in einen infiniten Regress gerät, (b) einem Zirkelschluss zum Opfer fällt oder das Begründungsverfahren (c) dogmatisch abbricht. Eine Aussage abschliessend begründen zu wollen, ist daher unsinnig. Alles, was wir erlangen können, sind zufriedenstellende Begründungen, keine Letztbegründungen. Entsprechend akzeptiert Kagan, dass Erklärungen womöglich irgendwo enden müssen, hebt aber zugleich hervor, dass uns dies nicht dazu berechtigt, sie bereits auf einer oberflächlichen Ebene zu verweigern.103 Auch damit scheint er die Tür für pluralistische Ansätze zumindest einen Spalt breit zu öffnen. Wo also liegt der entscheidende Unterschied zwischen Hookers und Kagans Methodologien? Beiden dienen unsere moralischen Überzeugungen als ein Ansatzpunkt für ihre Ethik und beide hoffen, plausible Begründungen für sie zu finden. Inwiefern die vorgeschlagenen Methoden indes voneinander abweichen, wird deutlich, wenn wir uns vorstellen, dass eine Theorie, für die es gute, aber keine zwingenden Gründe gibt, gewissen wohlerwogenen moralischen Überzeugungen entgegensteht, denen wir uns sehr sicher sind. Sollen wir in diesem Fall die Theorie oder unsere festen Überzeugungen aufgeben? Obwohl jede präzise Antwort letztlich sowohl für Hooker als auch für Kagan von den Einzelheiten der philosophischen Konstellation abhängen dürfte, lässt sich eine allgemeine Differenz zwischen ihren Haltungen feststellen. Falls den Überzeugungen eine hohe unabhängige Glaubwürdigkeit („independent credibility”) zukommt, neigt Hooker dazu, sich von der Theorie zu distanzieren: „I admit that we are more certain of some intuitions (moral verdicts) than we are of any theory. So I admit that, in moral theorizing our confident shared intuitions are central.”104 Zwar erachtet er sie nicht als untrüglich, in praxi werden manche unserer wohlerwogenen moralischen Überzeugungen für ihn aber zu etwas Gegebenem, dem Moraltheorien Rechnung tragen müssen, um akzeptabel zu sein.105 Während Hooker im Zweifelsfall unseren robusten Intuitionen den Vorrang gibt, schlägt sich Kagan auf die Seite begründeter Theorien: „If a distinction stands isolated, or is at odds with more firmly supported beliefs, we have grounds for rejecting it, despite its intuitive ap103 Vgl. Kagan (1989), 14. Hooker (2000), 104. 105 Siehe dazu Kagan (1998), 13: „Some philosophers take the extreme position that certain intuitions should be treated as givens – no theory that fails to accommodate them can possibly be acceptable.” Vgl. auch Unger (1996), 10f. 104 46 peal.”106 Ohne Unterstützung durch Begründungen gebührt unseren Intuitionen ihm zufolge keine tragende Rolle bei der philosophischen Rechtfertigung von Moraltheorien. Gerät eine blosse Überzeugung darüber, was uns geboten, verboten oder erlaubt ist, in Konflikt mit einer theoretischen Position, für die es gute Gründe gibt, ist sie aufgrund dessen zurückzuweisen. Dass wir das starke Gefühl haben, sie sei richtig, kann allein kein hinreichender Grund dafür sein, sie einem argumentativ gestützten Prinzip vorzuziehen. Insofern tritt Kagan für einen potentiellen Revisionismus unserer Moral ein,107 Hooker dagegen für eine möglichst rekonstruktive Herangehensweise. Doch wessen Auffassung ist überzeugender? Kann Brad Hookers methodologischer Ansatz gegen die Argumente verteidigt werden, die für eine Methode sprechen, wie sie Shelly Kagan vorschwebt? Und welche Konsequenzen hat die Beantwortung dieser Fragen im Hinblick auf die Beurteilung der Berechtigung des Überforderungseinwands? Es gibt mindestens zwei herausfordernde Einwände gegen Hookers Standpunkt, die eine Überprüfung verdienen. Erstens wird an der Verlässlichkeit moralischer Intuitionen gezweifelt, was die Behauptung ihrer unabhängigen Glaubwürdigkeit in ein schiefes Licht rücken und sie als beständige Bausteine der Moralphilosophie diskreditieren soll: (P1) (P2) (K) Sich an moralischen Intuitionen zu orientieren, ist kein verlässliches Mittel der ethischen Theoriebildung. Wenn wir unseren Intuitionen nicht vertrauen können, dann sollte ihnen eine moralphilosophische Methodologie im Unterschied zu Hookers Vorschlag höchstens eine bescheidene methodische Rolle beimessen. Also sollten wir Hookers These von der hohen unabhängigen Glaubwürdigkeit gewisser moralischer Intuitionen widersprechen und ihnen keine bedeutende methodische Rolle zugestehen.108 Problematisch ist dabei hauptsächlich die erste Prämisse. Denn weder die Gültigkeit des Schlusses noch die Plausibilität der zweiten Prämisse werfen besondere Fragen auf. Mit der Struktur des Modus Ponens ist der Schluss trivialerweise gültig und solange es methodische Alternativen gibt, ist auch (P2) ohne Zweifel korrekt. Keine Methodenlehre sollte unsichere Pfade empfehlen, wo es Wege gibt, die sicherer ans Ziel führen. Prämisse (P1) jedoch, der Kern des Arguments, birgt schwerwiegende Probleme. So hat es nämlich den Anschein, als gerieten wir bei ihrer Begründung in einen bösartigen Zirkel. Es scheint, als müssten wir streng genommen bereits wissen, welche Moraltheorie die beste ist, um einschätzen zu können, ob unsere moralischen Intuitionen zuverlässige Führer sind. Gerade dies aber können wir unmöglich voraussetzen, da unser Interesse an methodologischen Fragen davon herrührt, dass 106 Kagan (1989), 14. Vgl. auch Kagan (1989), 15. 108 Argumente dieser Art finden sich etwa bei Kagan (2001), Singer (2005), Tedesco (2011) oder Braddock (2013). 107 47 wir der Berechtigung eines Einwands gegen bestimmte Moraltheorien auf den Grund gehen möchten. Gleichwohl gibt es aber den Verfechtern des obigen Arguments zufolge wenigstens vier Anhaltspunkte für die Richtigkeit von (P1): (a) Ein erster Grund dafür, der methodischen Orientierung an moralischen Intuitionen skeptisch gegenüberzustehen, besteht in den Uneinigkeiten, die sie vielfach offenbaren.109 Bezüglich etlicher Fälle haben verschiedene Menschen schlicht unterschiedliche Intuitionen. So ist etwa nicht damit zu rechnen, dass Befragte zu den Praktiken der Abtreibung, der Sterbehilfe oder der Todesstrafe vollständig übereinstimmende Intuitionen haben. Mit Blick auf solch umkämpfte Fragen von „unseren“ moralischen Überzeugungen zu sprechen, scheint lediglich ein rhetorisches Mittel zu sein, das über grundlegende Differenzen hinwegtäuscht. Schliesslich sind es gerade die moralischen Meinungsverschiedenheiten, welche die regen philosophischen Debatten befördern, die in den jeweiligen Bereichen der angewandten Ethik geführt werden. (b) Nach Peter Unger werden unsere moralischen Intuitionen zu möglichen Szenarien überdies dadurch beeinflusst, wie die Szenarien genau gefasst werden. Variiert man die Darstellung eines Szenarios, weichen unsere Intuitionen manchmal selbst dann voneinander ab, wenn keine moralisch relevanten Parameter verändert werden. So kann es zum Beispiel – wie er anhand seiner „Method of Several Options”110 demonstriert – einen Einfluss auf unsere Einschätzung der bekannten Trolley-Fälle111 haben, ob uns ein Fall mit zwei oder einer mit vier Handlungsoptionen geschildert wird. Für Ungers Argument sind die Beispielfälle The Heavy Skater und The Switches and Skates zu betrachten.112 In beiden Szenarien rollt ein leerer Wagen auf sechs Unschuldige zu, die ihren Tod finden, falls wir, was unsere erste Option ist, nicht eingreifen. Das erste Beispiel, The Heavy Skater, lässt uns nur eine zusätzliche Option: Wir haben die Möglichkeit, einen schweren Skater auf die Schienen zu lenken, um den Wagen aufzuhalten (wobei der Skater stirbt). Mit dem zweiten Beispiel, The Switches and Skates, kommen zwei weitere Handlungsalternativen hinzu. Wir können den leeren Wagen entweder auf ein Nebengleis lenken, auf dem sich drei Personen befinden, oder ihn mit einem anderen Wagen kollidieren lassen, was zwei Fahrgästen das Leben kostet. Doch wozu sollen solche fiktiven Finessen gut sein? Merkwürdigerweise heissen Befragte die Opferung des Skaters, wie Unger behauptet, im Vier-Optionen- 109 Vgl. Kagan (2001), 55f. Unger (1996), 88f. 111 Siehe dazu Foot (1978) und Thomson (1976). 112 Vgl. Unger (1996), 90f. 110 48 Fall gut, während sie sie Zwei-Optionen-Fall ablehnen. Ist diese empirische Beobachtung richtig, widersprechen sich selbst unsere eigenen Intuitionen schneller, als es uns lieb ist. Um aber die Tragweite dieses Problems zu erkennen, muss man sich nicht einmal näher mit den konstruierten Szenarien auseinandersetzen, sondern kann sich auch verbreiteten Überzeugungen zur Weltarmut zuwenden. Einerseits tendieren vermutlich viele dazu, sehr anspruchsvolle Hilfeleistungen für geboten zu halten, wenn man sie auf die Übel der gegenwärtigen Weltlage aufmerksam macht, andererseits sind wohl dieselben Personen auch der Ansicht, dass es moralisch zulässig ist, ein einsiedlerisches Leben zu führen.113 Miteinander vereinbar jedoch sind diese Meinungen nicht. (c) Weiter zeigen neurowissenschaftliche Experimente, die sich mit der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRI) eines bildgebenden Verfahrens bedienen, dass manche Trolley-Fälle – insbesondere die Fat Man-Variante, in der ein Mann von einer Brücke geworfen werden soll, damit fünf andere Person ihr Leben nicht verlieren – primär Gehirnareale aktivieren, in denen unsere emotionalen Reaktionen vorbereitet werden.114 Daraus muss für Singer und Tedesco eine kritische Haltung gegenüber ethischen Methoden resultieren, die unseren Intuitionen Gewicht geben. Denn moralische Intuitionen scheinen keine wichtigen Einsichten zu transportieren, sondern vielmehr Ausdruck unserer biologischen Prägung zu sein. Weil wir früher in Kleingruppen lebten, in welchen Gewalt nur auf eine persönliche Weise – mittels Schlägen oder Ähnlichem – ausgeübt werden konnte, haben wir emotionale Reaktionsmuster entwickelt, die uns solche Situationen intuitiv anders bewerten lassen als solche, die dieselben Ergebnisse zeitigen, aber keine persönliche Gewalt involvieren.115 Anstatt sich indes nach einer evolutionär bedingten Gefühlswelt zu richten, die nicht auf heutige Gegebenheiten abgestimmt ist, sollten sich Moralphilosophinnen und -philosophen auf ihre rationalen Fähigkeiten besinnen und ihre Theorien keinesfalls auf Intuitionen gründen. (d) Zuletzt argumentiert Matthew Braddock gegen die epistemische Zuverlässigkeit unserer Intuitionen zur Höhe moralischer Forderungen, indem er sie als ein Produkt un- 113 Vgl. auch Chappell (2009), 1f.: „Everyone knows that there are huge amounts of suffering in the world. Everyone knows that there are efficient charities at work which for just a few pounds can save lives. And everyone knows that it’s far better, morally speaking, to save lives than to see a film. [...] But that brings us to another ‘Everyone knows’. Everyone knows that we have the right to lives of our own; everyone knows that we don’t do wrong just by having families, or friends, or hobbies and interests like cinema, or restoring classic cars, or gardening.” 114 Siehe dazu Singer (2005), 341f. und 347f. sowie Tedesco (2011), 102. 115 Vgl. Singer (2005), 347f.; Singer (2011), 14. 49 verlässlicher Sozialisationsprozesse auszuweisen versucht.116 Selbst wenn unsere Sozialisation in einer nur leicht anderen Gesellschaft stattgefunden hätte, könnten wir, so das Argument, ganz andere Überforderungsintuitionen haben. Spendeten zum Beispiel unsere Eltern deutlich mehr, empfänden wir hohe Spendenforderungen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht als überfordernd.117 Unsere Intuitionen zur Höhe moralischer Forderungen sind, mit anderen Worten, hochgradig kontingent. Daher können wir den Sozialisierungsprozessen, aus denen unsere Überforderungsintuitionen hervorgehen, – im Unterschied zu sichereren Prozessen, die andere Überzeugungen begünstigen118 – nicht trauen. Was ist von diesen Argumenten zu halten? Ohne en détail auf die Probleme aller Anhaltspunkte eingehen zu können, möchte ich kurz andeuten, welche Vorkehrungen dazu verhelfen könnten, Hookers Position zu verteidigen. Sollen moralische Intuitionen berechtigterweise als Fixpunkte für die Ausarbeitung von Moraltheorien fungieren, muss es sich – wie in Reaktion auf (a) zuzugeben ist – um Intuitionen handeln, die wirklich geteilt werden und unkontrovers sind. Ausserdem können – wie (b) und (c) verdeutlichen119 – weniger einzelne spontane Reaktionen auf geschilderte Szenarien massgebend sein, als vielmehr wohldurchdachte Haltungen, die von emotionalen Verzerrungen befreit sind und belanglose Szenario-Variationen unbeschadet überstehen. Gegen Argument (d) ist schliesslich einzuwenden, dass es ihm aus zwei Gründen an durchschlagender Plausibilität mangelt. Zum einen scheinen, wie sogar Braddock zugesteht,120 nicht alle unsere Überforderungsintuitionen hochgradig kontingent zu sein. Zum anderen fragt es sich, ob wir durch leichte, aber gezielte Veränderungen von Sozialisationsprozessen nicht ausgesprochen viele unserer wahren Überzeugungen verlieren würden. Trotzdem kann (d) aber als ein weiterer Hinweis dafür aufgefasst werden, dass sich allerhöchstens stabile Intuitionen als Korrektiv gegen theoretische Auswüchse eignen. Ist es ausgeschlossen, den aus (a), (b), (c) und (d) abgeleiteten Bedingungen gerecht werden zu können? Nein, mit den Überlegungen in 2.1., 2.2. und 2.3. wurden bereits erste Schritte unternommen, die zu ihrer Erfüllung beitragen. Obwohl die vier genannten Anhaltspunkte also für sich genommen nicht zwingend sind, vermögen sie gewisse Zweifel an der Verlässlichkeit moralischer Intuitionen zu säen. Denn was garantiert uns, dass unsere konstanten In116 Vgl. Braddock (2013), 174f. Vgl. Braddock (2013), 176 und 178. 118 Vgl. Braddock (2013), 178: „The argument is not the silly one that our demandingness intuitions are unreliable because they are the products of socialization. After all, all moral intuitions are more or less the products of socialization.” – Sowohl die Argumentation von Braddock als auch diejenige von Tedesco, Singer, Unger und Kagan ist komplexer, als sie unter (a), (b), (c) und (d) dargestellt wird. Für meine Zwecke ist es aber ausreichend, eine Auswahl zentraler Argumente zur Kenntnis zu bringen. 119 Vgl. jedoch dazu auch die Kritik von Mulgan (2001), 30f. 120 Vgl. Braddock (2013), 182. 117 50 tuitionen nicht auf kulturell oder evolutionär bedingten Vorurteilen beruhen und die intraoder interpersonellen Widersprüche, die sich daraus ergeben, nicht verbreiteter, systematischer und tiefgreifender sind, als es den Anschein macht? Hinzu kommt, dass sich ein weiterer Einwand gegen Hookers Auffassung aufdrängt. Zweitens kann man der Position einer strikten Intuitionen-Priorität nämlich entgegenhalten, dass sie nur einem Teil unserer vernünftigen Diskussionspraxis entspricht. Zwar ist es auf der einen Seite verbreitet, sowohl Moralprinzipien als auch -theorien anhand unserer moralischen Überzeugungen zu verfeinern und zu testen.121 Darauf fokussiert Hooker, wenn er Fälle, in denen geteilte Intuitionen und theoretische Implikationen auseinanderklaffen, konsequent als Gegenbeispiele für Theorievorschläge akzeptiert. Auf der anderen Seite ist es aber ebenso üblich, geäusserte moralische Überzeugungen nicht bloss wie Axiome zur Kenntnis zu nehmen, sondern mit „Warum?“-Fragen zu konfrontieren. Gleichgültig, ob die folgenden Behauptungen die Kriterien für wohlerwogene moralische Überzeugungen erfüllen oder nicht, interessieren wir uns – ähnlich wie bei vielen anderen Aussagen auch – dafür, aus welchen Gründen sie zutreffen sollen: „Freunden schulden wir Loyalität“, „Versprechen sollte man halten“, „Abtreibung ist verwerflich“, „Staaten dürfen Einwanderungswillige abhalten“, „Sterbehilfe ist moralisch unproblematisch“ oder „Terroristen dürfen getötet werden“. Antwortete jemand auf eine entsprechende Frage, dass es sich hierbei um geteilte moralische Intuitionen handle, wären wir zu Recht erstaunt. Unabhängig davon, ob wir derselben Überzeugung sind oder nicht, erwarten wir, wie auch Kagans Sklavenhalter-Beispiel deutlich macht, eine andere Art von Begründung – eine, die spezifiziert, woran es weshalb liegt, dass eine thematisierte Handlungsweise zulässig oder unzulässig ist. Diesen Umstand berücksichtigt Hooker nicht in angemessener Weise. Denn eine Suche nach einer unparteilichen Rechtfertigung, wie er sie mit seinem vierten Kriterium zur Beurteilung von Moraltheorien fordert,122 verliert bis zu einem gewissen Grad ihren Sinn, wenn sie jederzeit mit dem Verweis auf eine starke Affinität zu einer Behauptung abgebrochen werden kann.123 Aufgrund der beiden dargestellten Einwände drohen Hookers methodologische Voraussetzungen sich als irrig herauszustellen. Zum einen ist nicht klar, inwieweit wir unseren moralischen Intuitionen trauen können und zum anderen scheint es nicht mit unserer in verschiedenen Wissensgebieten anerkannten und bewährten Rechtfertigungspraxis vereinbar zu sein, sie als Endpunkte einer Diskussion aufzufassen: „In mathematics, the natural sciences, and other branches of philosophy, finding a conclusion intuitively repugnant does not close an argu121 Vgl. Kagan (2001), 44f. Vgl. Hooker (2000), 4. 123 Siehe z. B. Hooker (2000), 27. 122 51 ment; it is a reason to start looking for a good argument.”124 Jeder Berufung auf moralische Intuitionen haftet daher – ohne zusätzliche Begründung – etwas Problematisches an. Weil es aber trotzdem schwer vorstellbar ist, dass wir vollständig darauf verzichten können, uns daran zu orientieren, wie gut Theorievorschläge mit unseren wohlerwogenen Überzeugungen harmonieren,125 und die Rolle, welche theoretische Rechtfertigungen in der Moralphilosophie spielen können, nicht restlos geklärt ist, sollten wir uns meines Erachtens – zumindest einstweilen – mit einem wenig ambitiösen Mittelweg anfreunden, der die vier Thesen (M1) bis (M4) umfasst: (M1) (M2) (M3) (M4) Es spricht für eine Moraltheorie, wenn sie mit unseren wohlerwogenen Überzeugungen im Einklang steht. Es spricht gegen eine Moraltheorie, wenn sie nicht mit unseren wohlerwogenen Überzeugungen im Einklang steht. Es spricht für eine Moraltheorie, wenn sie keine ungestützten Unterscheidungen zulässt. Es spricht gegen eine Moraltheorie, wenn sie ungestützte Unterscheidungen zulässt. Dabei nehmen (M1) und (M2) gewisse Aspekte von Hookers intuitionenbasierter Ansicht auf, während (M3) und (M4) als Erbe von Kagans Kritik an ethischen Methoden gelten müssen, die auf unsere moralischen Intuitionen bauen. Zusammen machen die vier Thesen den Weg frei für schwierige Abwägungen zwischen konfligierenden pro tanto-Gründen126 für respektive gegen unterschiedliche Moraltheorien. Falls eine beliebige Theorie T beispielsweise keine einzige ungestützte Unterscheidung beinhaltet, aber einer oder mehrerer unserer robusten moralischen Überzeugungen widerspricht, dann haben wir – (M3) entsprechend – einen Grund, T für adäquat zu halten, und – (M2) entsprechend – zugleich einen Grund, T für inadäquat zu halten. Wollen wir wissen, ob Theorie T oder eine andere Moraltheorie, die vielleicht ein Exempel für die Thesen (M1) und (M4) abgibt, angemessen ist, dann müssen wir eine Abwägung zwischen diesen beiden Gründen vornehmen. Im Hinblick auf die Evaluation der Berechtigung des Überforderungseinwands ist daraus zu schliessen, dass dem Einwand, falls er den Unterabschnitten 2.4. und 3.1. gemäss verstanden 124 Griffin (1986), 2. Vgl. Kagan (2001), 62f. und Mulgan (2001), 20; selbst Singer erwägt, zwischen zwei Arten von Intuitionen zu unterscheiden und einer davon eine gewichtige methodische Rolle zuzubilligen: „Thus the “intuition” that tells us that the death of one person is a lesser tragedy than the death of five is not like the intuitions that tell us we may throw the switch, but not push the stranger off the footbridge. It may be closer to the truth to say that it is a rational intuition, something like the three “ethical axioms” or “intuitive propositions of real clearness and certainty” to which Henry Sidgwick appeals in his defense of utilitarianism in The Methods of Ethics.” (Singer (2005), 350f.) 126 Vgl. zum Ausdruck „pro tanto-Grund“ z. B. Kagan (1989), 17: „A pro tanto reason has genuine weight, but nonetheless may be outweighed by other considerations. Thus, calling a reason a pro tanto reason is to be distinguished from calling it a prima facie reason, which I take to involve an epistemological qualification: a prima facie reason appears to be a reason, but may actually not be a reason at all, or may not have weight in all cases it appears to. In contrast, a pro tanto reason is a genuine reason – with actual weight – but it may not be a decisive one in various cases.” 125 52 wird, auf jeden Fall ein gewisses Gewicht zukommt. Denn nach (M2) stellt es einen pro tanto-Grund gegen eine Moraltheorie dar, wenn sie unseren wohlerwogenen Überforderungsintuitionen nicht entspricht. Theorien, die uns nicht überfordernd dünken, sind Theorien, die zu anspruchsvoll anmuten, ceteris paribus vorzuziehen. Ebenso klar ist jedoch, dass der Überforderungseinwand unter Umständen von einem (M3)- oder einem (M4)-Argument überwogen wird. Eine Moraltheorie, die unsere Überforderungsintuitionen nicht berücksichtigt, könnte – alles in allem – dennoch adäquater sein als eine Theorie, die mit unseren Intuitionen zur legitimen Höhe moralischer Forderungen übereinstimmt. Deshalb ist im nächsten Abschnitt zu prüfen, ob sich die Gefahr eines (M3)- oder (M4)-Einwands beseitigen lässt. 53 4. Auf der Suche nach einer Begründung Im Anschluss an Überlegungen von Thomas Nagel hat sich insbesondere Samuel Scheffler darum bemüht, eine tiefer gehende philosophische Rechtfertigung für die systematische Begrenzung moralischer Forderungen zu finden, welche mit dem Überforderungseinwand postuliert wird. In seinen einflussreichen Monografien The Rejection of Consequentialism und Human Morality entfaltet er vielversprechende Argumente für ein Prärogativ des Handelnden („agent-centred prerogative”) einerseits sowie für eine moderate Moral („moderate morality“) andererseits.127 Weil der Überforderungseinwand dadurch argumentativ fundiert werden könnte, müssen sich sowohl seine Verfechter wie auch seine Gegner für die Ausführungen Schefflers interessieren.128 Aufgrund dessen ist nun zunächst darzulegen, wie und wofür Scheffler in seinen beiden Texten genau argumentiert (4.1.). Daraufhin soll seine Argumentationsstrategie kritisch betrachtet und erweitert werden (4.2.). 4.1. Schefflers menschliche Moral Der erste Unterabschnitt des vierten Abschnitts verfolgt drei miteinander verbundene Ziele. Erstens ist zu klären, welche Auffassung Scheffler mit seiner These von der moderaten Moral vertritt. Zweitens soll verdeutlicht werden, wie er für diese Position argumentiert. Und drittens ist einsichtig zu machen, welcher Zusammenhang zwischen Schefflers Auffassung, seinen Argumenten und dem Überforderungseinwand besteht. Was versteht Scheffler unter der These, dass die Moral nicht rigide („stringent“), sondern moderat („moderate“) ist? Eine moderate Moral weist, wie er in Human Morality ausführt, zwei Merkmale auf: Zum einen erlaubt sie den Menschen unter günstigen Bedingungen, innerhalb ziemlich weiter Grenzen zu tun, was sie wollen, und zum anderen stellt sie gleichwohl Forderungen und erlegt ihnen Beschränkungen auf, indem sie manches verbietet, anderes verlangt und Handelnden Kosten aufbürdet.129 Damit positioniert er die moderate Moralkonzeption zwischen zwei Extremen: „between the view that morality and self-interest ultimately coincide, and the view that they are diametrically opposed.”130 Das erste Merkmal unterscheidet eine moderate von einer rigiden Moral, die ausgesprochen fordernd ist und andau- 127 Vgl. Scheffler (1994a) und Scheffler (1992). Daneben gibt es weitere theoretische Ansätze, die vergleichbare Positionen stützen und eine kritische Auseinandersetzung verdienten, aber aufgrund der Kürze der vorliegenden Arbeit nicht näher untersucht werden können (vgl. z. B. Fishkin (1982); Slote (1985); Nagel (1991); Mulgan (2001); Cullity (2004); Cullity (2009)). Selbst wenn Schefflers Argumentation nicht verfängt, lässt sich also möglicherweise ein theoretische Fundierung des Überforderungseinwands finden. 129 Vgl. Scheffler (1992), 100. 130 Scheffler (1992), 4. 128 54 ernd mit unserem Eigeninteresse in Konflikt gerät.131 Mit der Nennung des zweiten Merkmals grenzt er die These der moderaten Moral von minimalistischen Positionen ab, denen zufolge sich moralische Forderungen etwa mit den Forderungen der rationalen Befriedigung eigener Interessen decken und Handelnden keine Nettokosten auferlegen.132 Ist die Moral tatsächlich moderat, kann sich ihre Beachtung unter ungünstigen Bedingungen sogar als äusserst kostspielig erweisen. Scheffler ist demnach der Meinung, dass der moralische Standpunkt und der Standpunkt einzelner Akteure in einem Verhältnis zueinander stehen, das als eines der potentiellen Kongruenz („potential congruence”) beschreibbar ist. Dabei verknüpft er diese Auffassung mit den folgenden drei Vorstellungen.133 Erstens: Obwohl moralische Anliegen nicht immer auf die Interessen der Handelnden abgestimmt sind, müssen sich die Normen der Moral auf eine stimmige und attraktive Weise in ein menschliches Leben integrieren lassen. Moralische Normen dienen dazu, menschliches Handeln zu regulieren, und ihr möglicher Gehalt wird durch diese regulative Rolle beschränkt. Zweitens: Der unbestreitbaren Intensität eigennütziger Motive zum Trotz, können Menschen auch starke Motivationen entwickeln, die für moralische Erwägungen empfänglich sind. Diese Motivationen gestalten ihrerseits die Interessen derer mit, die sie besitzen, und sorgen dafür, dass sich das Ausmass des Konflikts zwischen der Moral und unserem Eigeninteresse verringert. Drittens: Eine möglichst hohe Übereinstimmung zu erreichen zwischen den Anforderungen der Moral und dem, was unsere motivationalen Ressourcen hergeben, ist weitgehend eine praktische gesellschaftliche Aufgabe, die wir meistern können. Denn was moralisch gefordert ist, hängt vom Zustand der Welt ab, wozu Menschen motiviert sind, hängt von ihrer Sozialisation ab, und diese beiden Faktoren sind wiederum von der institutionellen Struktur und dem Funktionieren einer Gesellschaft abhängig. Insofern bilden eigene Interessen und moralische Forderungen nach Scheffler keinen markanten Gegensatz, sondern kongruieren potentiell: Die moralische Perspektive und die Perspektive der einzelnen Handelnden lassen sich miteinander versöhnen. Die Theorie aus seinem früheren Werk The Rejection of Consequentialism, die – wie konsequentialistische Ansätze – keine deontologischen Schranken („agent-centred restrictions”) umfasst,134 aber – im Unterschied zum klassischen Utilitarismus – ein Prärogativ für Handeln- 131 Siehe dazu Scheffler (1992), 6, 26 und 100. Vgl. Scheffler (1992), 100. 133 Vgl. dazu Scheffler (1992), 4; Scheffler (2008), 118. 134 Vgl. zum Ausdruck „agent-centred restrictions” Scheffler (1994a), 80: „Agent-centred restrictions [...] are restrictions on action which have the effect of denying that there is any non-agent-relative principle for ranking overall states of affairs such that it is always permissible to produce the best available state of affairs so construed.” Siehe auch Kagan (1989), 4, der „agent-centered constraints“ als Teil der Alltagsmoral erkennt: „The 132 55 de („agent-centred prerogative”) beinhaltet, kann als ein Beispiel für eine Moraltheorie interpretiert werden, die den moderaten Charakter der Moral widerspiegeln soll. Anstelle der aussergewöhnlich hohen Anforderungen eines maximierenden Utilitarismus sorgt das akteurszentrierte Prärogativ nämlich innerhalb eines konsequentialistischen Rahmens für weniger anspruchsvolle Forderungen. Es erlaubt Handelnden, ihren eigenen Interessen bei der Beurteilung dessen, was moralisch geboten ist, ein grösseres Gewicht beizumessen als den Interessen anderer: Suppose, in other words, that each agent were allowed to give M times more weight to his own interests than to the interests of anyone else. This would mean that an agent was permitted to perform his preferred act (call it P), provided that there was no alternative A open to him, such that (1) A would produce a better overall outcome than P, as judged from an impersonal standpoint which gives equal weight to everyone’s interests, and (2) the total net loss to others of his doing P rather than A was more than M times as great as the net loss to him of doing A rather than P.135 Ist dieser Vorschlag richtig, kommt uns das moralische Privileg zu, sämtliche Handlungen ausführen zu dürfen, welche – verglichen mit der aus konsequentialistischer Sicht optimalen Handlung – mindestens M mal besser für uns sind, als sie für andere schlechter sind. Es ist uns gestattet, den Wert unserer eigenen Interessen mit einem Faktor M zu multiplizieren, dessen Höhe noch zu bestimmen wäre. Damit macht Scheffler die Einteilung möglicher Handlungen in zulässige und unzulässige von zwei Aspekten abhängig: von der Menge an Gutem, das man hervorbringen könnte, und von der Grösse des Opfers, das man dazu erbringen müsste. Sein erklärtes Ziel ist es dabei, unter anderem zu verhindern, dass die resultierende Theorie unhaltbar anspruchsvoll wird. Übermässig kostspielige oder belastende Handlungen sollen uns daher nicht moralisch geboten sein.136 Aus welchen Gründen aber ist die Moral in Schefflers Augen überhaupt moderat und nicht rigid? Die Uneinigkeit darüber, welcher dieser beiden Optionen der Vorzug gebührt, wurzelt seiner Ansicht nach in einem Konflikt zwischen zwei unterschiedlichen Idealen der Moral, die er „Ideal der Reinheit“ („Ideal of Purity”) und „Ideal der Menschlichkeit“ („Ideal of Humanity”) nennt.137 Wer die moralische Perspektive insofern als eine reine Perspektive versteht, als ihr ausschliesslich spezifische Überlegungen angehören, die scharf vom Standpunkt der Interessen einzelner Handelnder abzugrenzen sind, der wird die Moral für rigide halten. Theoretische Massnahmen wie die Einführung von akteurszentrierten Prärogativen, die zum second broad feature of ordinary morality is that it lays down certain strict limits on our actions – forbidding various types of acts even if the best consequences overall could be achieved only by performing such an act.” 135 Scheffler (1994b), 169; vgl. Scheffler (1994a), 20 und Kagan (1989), 3f., der auch „agent-centered options“ als Teil unserer Alltagsmoral begreift: „Many acts which would lead to the best results overall nonetheless are not required of us by ordinary morality, typically because the sacrifice would be too great to demand it of us.” 136 Vgl. Scheffler (1994a), 20. 137 Siehe dazu Scheffler (1992), 6 und vor allem 101f. 56 Schutz dessen installiert werden, was den Handelnden selbst wichtig ist, müssen aus der Sicht von Befürwortern des Ideals der Reinheit als eine Verwässerung des unverwechselbaren moralischen Kerns einer ethischen Haltung erscheinen. Die altruistische Essenz einer Theorie läuft, so die Meinung, Gefahr von egoistischen Tendenzen zersetzt zu werden. Wer die moralische Perspektive hingegen insofern als eine menschliche Perspektive begreift, als sich der einzelne Akteur idealerweise mit ihr identifizieren kann, für den wird die Moral moderat sein: „The claim of moderation grows out of an ideal according to which morality is, from the standpoint of the individual agent, fundamentally a reasonable and humane phenomenon, despite the demands that it makes.” 138 Moralische Normen dienen, wie die Vertreter des Menschlichkeitsideals argumentieren, in erster Linie dazu, das Verhalten von Menschen zu regeln. Sie sollten deshalb auf eine stimmige und attraktive Weise in das Leben eines einzelnen Akteurs eingebettet werden können, woraus sich wesentliche Vorbedingungen für die Bestimmung ihres Gehalts ableiten. Die Funktion, welche die Moral für uns erfüllen soll, gibt der Diskussion um ihren Inhalt also – wenn wir dem Ideal der Menschlichkeit folgen – gewisse Parameter vor. Für Scheffler hängt die Richtigkeit der Entscheidung darüber, ob die Moral als rigide oder als moderat aufgefasst werden soll, folglich davon ab, welches der beiden fundamentalen Moralverständnisse sachgemäss ist. Infolgedessen wendet er sich einerseits gegen zwei verbreitete Argumentationsstrategien, mit denen das Reinheitsideal verteidigt wird, und bringt andererseits ein Argument für das Menschlichkeitsideal vor. Um Schefflers Position sorgfältig überdenken zu können, sind zunächst sowohl die negative als auch die positive Komponente seiner Apologie der moderaten Moral zu beleuchten. Die beiden Strategien zur Verteidigung der Reinheitsvorstellung, die in Human Morality kritisiert werden, lassen sich folgendermassen auf den Punkt bringen: (1) (2) Nimmt man gewisse unstrittige Eigenschaften moralischer Urteile – wie ihre Universalisierbarkeit (a) oder ihre Unparteilichkeit (b) – ernst, ist man gezwungen die These von der Reinheit der Moral zu akzeptieren. Das übliche Verständnis der Natur der Moral, wie es der alltägliche Gebrauch unserer moralischen Sprache sowie unser Umgang mit moralischen Begriffe reflektieren, legt nahe, die Reinheitsthese und nicht die Menschlichkeitsthese gutzuheissen.139 Wenn man sich mit der ersten Strategie (a) auf die formale Eigenschaft der Universalisierbarkeit konzentriert, dann liegt ihr nach Scheffler eine logische Verwirrung zugrunde. Auch akteurszentrierte Prärogative und andere akteursrelative Prinzipien werden für gewöhnlich so formuliert, dass sie, formallogisch ausgedrückt, über alle moralischen Subjekte quantifizieren 138 139 Scheffler (1992), 6. Vgl. Scheffler (1992), 102; siehe dazu auch Singer (2011), 11f. 57 und entsprechend für alle gleichermassen gelten. Sie enthalten in aller Regel keine Individuenkonstanten („a, b, c,...“), sondern nur durch All- oder Existenzquantoren gebundene Individuenvariablen („x, y, z,...“), d. h. sie enthalten keine Symbole, die für bestimmte Gegenstände stehen, sondern nur Symbole, die als Leerstellen Ersatz für beliebige Gegenstände derselben Kategorie sind.140 Deswegen sind die moralischen Urteile, die sich aus moderaten Moralkonzeptionen ergeben, genauso universalisierbar wie die moralischen Urteile, die rigiden Moralkonzeptionen entstammen. Nimmt ein Anhänger der ersten Argumentationsstrategie aber (b) die Eigenschaft der Unparteilichkeit zum Ausgangspunkt, ist sie Scheffler zufolge ebenfalls zum Scheitern verurteilt. Denn es gibt keine Spielart der Unparteilichkeit, die unstrittigerweise als Charakteristikum der Moral gilt und zugleich ihre Reinheit impliziert: „No truly uncontroversial property of morality implies that it is stringent. And no property that implies that it is stringent can be uncontroversially ascribed to it.”141 Entweder ist die Unparteilichkeitsauffassung, für die man sich, um eine Äquivokation zu vermeiden, entscheidet,142 also, mit anderen Worten, zu stark oder zu schwach: Entweder ist sie derart gehaltvoll, dass sie nicht länger unstrittig ist, oder sie ist derart gehaltlos, dass sich die Reinheitsthese nicht mehr aus ihr ergibt. Die zweite Strategie beruft sich darauf, dass moralische Überlegungen typischerweise Erwägungen sind, die mit Überlegungen kontrastieren, welche auf den persönlichen Vorteil ausgerichtet sind.143 Wenn jemand Raum lässt für moralische Gedanken, dann stellt er eigene Interessen etwa zugunsten von Fairnessaspekten, Rechtsansprüchen oder Gleichheitsvorstellungen zurück. Wer sich moralisch verhält, der verhält sich, so das Argument, selbstlos und nicht eigennützig, altruistisch und nicht egoistisch. Die Tatsache, dass dieser Gegensatz tief in unserer moralischen Sprache verankert ist, weist drauf hin, dass das alltägliche Verständnis der Moral dem Reinheitsideal näher steht als dem Menschlichkeitsideal. Ist die zweite Argumentationsstrategie plausibler als die erste? Wenn wir Scheffler Glauben schenken, dann ist sie aus drei Gründen nicht überzeugend. Selbst wenn es zuträfe, dass die Moral normalerweise so verstanden wird, dass sie nur aus Forderungen besteht, die unserem Eigeninteresse entgegenlaufen, wäre erstens noch nicht geklärt, wie schwierig oder kostspielig es gemäss dem Common Sense ist, diese Forderungen zu erfüllen. Zweitens gehört es auch zu unserem Verständnis der Moral, dass erlaubt oder zulässig ist, was weder geboten noch verboten ist. Das moralische Vokabular, das wir verwenden, ist komplexer, als es der simple Gegensatz 140 Vgl. Hare (1981), 140 sowie Scheffler (1992), 104. Scheffler (1992), 110. 142 Vgl. dazu Scheffler (1992), 109. 143 Siehe Scheffler (1992), 111f. 141 58 zwischen altruistischen und egoistischen Verhaltensweisen suggeriert. Und drittens ist auch die Überzeugung, dass uns relativ weitreichende Erlaubnisse gestatten, eigene Projekte und Pläne zu verwirklichen, ein fester Teil unseres moralischen Denkens: For even if what are paradigmatically thought of as moral considerations do not include “personal” considerations, the fact remains that many people who devote more attention to their own projects and plans than a stringent morality would allow nevertheless regard themselves as morally justified in so doing.144 Weshalb Scheffler die argumentativen Strategien (1) und (2), die zur Verteidigung des moralischen Ideals der Reinheit gedacht sind, für fehlgeleitet hält, ist damit klar. Wichtiger für die vorliegende Untersuchung ist jedoch das positive Argument, das er für das Ideal der Menschlichkeit und die moderate Moral vorbringt.145 Wie also lässt sich die vertrackte Argumentation aus dem zentralen Kapitel „The Case for Moderation“ interpretieren und zur „Purity“-„Humanity“-Differenz in Beziehung setzen? Ausgehend von der Frage, welches Gewicht Handelnde ihren eigenen Interessen – gemäss der moralischen Perspektive – beimessen dürfen, kontrastiert Scheffler einen konsequent unpersönlichen Ansatz („impersonal construal”) mit einer hybriden Auffassung („alternative construal“), die zwischen der Neutralität des unpersönlichen Standpunkts und den persönlichen Standpunkten einzelner Akteure zu vermitteln versucht.146 Während der unpersönliche Ansatz Handelnden keine besonderen Vorrechte zugesteht und sie dazu anhält, eigene Interessen gleich zu gewichten wie fremde, ist es das Kennzeichen der hybriden Auffassung, den folgenden beiden Thesen gleichermassen Rechnung zu tragen: (A) (B) Aus einer unpersönlichen Perspektive kommt dem Leben aller Menschen derselbe Wert und den Interessen aller Menschen dieselbe Bedeutung zu. Für alle Menschen haben ihre eigenen Interessen gleichwohl eine Bedeutung, die diejenige übersteigt, welche ihren Interessen von unpersönlicher Warte aus zukommt.147 Im Gegensatz zu den Anhängern einer unpersönlichen Moral, welche ausschliesslich der Behauptung (A) Beachtung schenken, wollen die Vertreter des hybriden Ansatzes die Thesen (A) und (B) miteinbeziehen. Die Moral kalkuliert für sie nicht nur den unpersönlichen Wert 144 Scheffler (1992), 112. Vgl. Scheffler (1992), 115f. 146 Der Terminus „hybrid“ ist daher treffender als Schefflers inhaltsleerer Ausdruck „alternative”. Meine abweichende Wortwahl setzt aber voraus, dass man sich bewusst macht, dass die damit bezeichnete Auffassung nicht mit der hybriden Theorie („hybrid theory”) zu verwechseln ist, die Scheffler in The Rejection of Consequentialism entfaltet (siehe Scheffler (1994a); vgl. dazu auch Scheffler (1992), 121: „Thus, in particular, I am not arguing here for a hybrid theory of the type described in The Rejection of Consequentialism.”). 147 Vgl. Scheffler (1992), 122, 123 und 126; siehe zur Einbeziehung des persönlichen Standpunkts auch Scheffler (1994a). Vgl. auch Griffin (1993), 174: „One has to strike a balance between our desire for individual flourishing and our attraction to impartial benevolence. [...] The principle of impartial benevolence may animate the content of morality, but so indirectly and so incompletely that it is, I think, better to regard it merely as an important influence and not as the criterion of right and wrong.” 145 59 anderer ein, sondern auch die überproportionale Wichtigkeit, die unser eigenes Leben und unsere eigenen Interessen naturgemäss für uns haben. Doch weshalb trifft Scheffler diese weitere Unterscheidung? Indem er den unpersönlichen Ansatz der hybriden Ausgestaltung der moralischen Perspektive gegenüberstellt, vertieft er, wie ich meine, den Kontrast zwischen dem Ideal der Reinheit und dem Ideal der Menschlichkeit. Mit seiner Beschreibung der beiden Ansichten konkretisiert er nämlich, aufgrund der Berücksichtigung respektive Nichtberücksichtigung welches Faktors sich die Differenz zwischen den beiden Idealen plausiblerweise ergibt: Ausschlaggebend für ihre Divergenz ist, dass nicht alle Moraltheorien die besondere Bedeutung berücksichtigen, die die Interessen von Handelnden für sie selbst haben. Das Menschlichkeitsideal der Moral verspricht, diesem Faktor das ihm gebührende Gewicht zu geben, das Reinheitsideal dagegen speist sich einzig aus (A)-Überlegungen. Entsprechend lässt sich auch der Unterschied zwischen einer rigiden und einer moderaten Moralkonzeption unter Rückgriff auf die „impersonal“-„alternative“Unterscheidung erklären. So spiegeln die beiden Wesensmerkmale der moderaten Moral eine hybride Auffassung wider, welche sowohl die These (A) und als auch die These (B) einbindet. Denn aus (A) resultieren anspruchsvolle moralische Forderungen,148 (B) aber legt nahe, den Handelnden trotzdem beträchtliche Freiräume zuzugestehen.149 Aufgrund dessen wird klar, dass der Vorschlag der moderaten Moral nicht völlig aus der Luft gegriffen ist, sondern mithilfe der hybriden Auffassung gestützt werden kann, die konkrete Faktoren als moralisch relevant behauptet. Allerdings ist nach Scheffler auch der konkurrierende unpersönliche Ansatz verwurzelt in unserem Denken über die Moral.150 Moralische Haltungen und Verhaltensweisen werden zuweilen als eine Form der radikalen SelbstTranszendenz („self-transcendence“) verstanden, die mit einer Loslösung von unserer natürlichen Selbstliebe verbunden ist: „The moral point of view, according to this strand of thought, is a standpoint that one attains by renouncing any distinctive attachment to oneself, and by acting instead from a thoroughly selfless concern for all.”151 Der hybriden Auffassung liegt demgegenüber eine zweite wichtige Vorstellung über die Moral zugrunde, die Scheffler zufolge letztlich den Vorrang gegenüber der Idee der Selbsttranszendenz geniesst: die Vorstellung, dass uns die Moral eine elementare Form der persönlichen Integration („personal inte148 Vgl. dazu das zweite Merkmal der moderaten Moral: „The second point is that morality does nevertheless make demands and impose constraints: it prohibits some things, requires others, and imposes costs – sometimes very great costs – on agents.” (Scheffler (1992), 100) 149 Vgl. dazu das erste Merkmal der moderaten Moral: „The first is that, under favorable conditions, morality permits people to do as they please within certain broad limits, and that it therefore lacks stringency.” (Scheffler (1992), 100) 150 Siehe dazu Scheffler (1992), 120f. 151 Scheffler (1992), 120. 60 gration”) ermöglicht.152 Demgemäss ist es für viele eine realistische Möglichkeit, moralisch anständige Menschen zu werden, die einerseits den gleichen Wert anderer respektieren und andererseits ihrem natürlichen Anliegen nachgehen, ein erfülltes Leben zu leben. Die Moral bietet uns – durch ihre Zusammenführung von (A)- und (B)-Gesichtspunkten – die Chance, zwei unterschiedliche Motivationstendenzen miteinander zu verbinden, die beide charakteristisch sind für menschliche Wesen. Insofern stellt es eines ihrer entscheidenden Merkmale dar, dass sie normalen Akteuren motivational zugänglich ist: „[...] living morally is a serious if not always easy option for normally constituted agents under reasonably favorable conditions.”153 Dabei ist jedoch zu beachten, dass Scheffler diese Eigenschaft nicht als ein blosses Zugeständnis der Moral an die motivationalen Realitäten von menschlichen Mängelwesen verstanden wissen möchte.154 Es ist in seinen Augen nicht zutreffend, einem Anhänger des Menschlichkeitsideals zu unterstellen, dass er feststehende moralische Anforderungen nachträglich aufgrund von Unvollkommenheiten der menschlichen Natur reduziert. Wer das Menschlichkeitsideal vertritt, optiert keineswegs für die zweitbeste, sondern für die beste Moral. Denn gemäss der hybriden Position ist die Moral als ein System zur Regelung menschlichen Handelns von Beginn weg auf uns Menschen – mit unseren menschlichen Zielen und Interessen – bezogen. Als Verkörperung eines Ideals der Menschlichkeit kann die hybride Auffassung, die zwischen dem persönlichen und dem unpersönlichen Standpunkt vermittelt, folgerichtig aus zwei Gründen gelten: Erstens weist sie – qua (B)-Anerkennung – eine übermässige Abstraktion von den Bedingungen zurück, denen die menschliche Handlungsfähigkeit unterliegt, und zweitens verleiht sie – qua (A)-Anerkennung – einer normativen Auffassung dessen, was es heisst, ein Mensch zu sein, Ausdruck: Um unsere Menschlichkeit nicht zu verlieren, müssen wir den Eigenwert anderer Individuen achten.155 Warum aber soll die Idee der persönlichen Integration, die mit der hybriden Auffassung einhergeht, diejenige der Selbst-Transzendenz, die den unpersönlichen Ansatz begleitet, übertrumpfen und der moderaten Moralkonzeption zu einem argumentativen Durchbruch gegenüber ihrem rigiden Kontrahenten verhelfen? Scheffler ist der Ansicht, dass erstere tiefer verwurzelt ist in unserem Denken über die Moral und der dominanten Realität unserer moralischen Praxis besser entspricht.156 Begreifen wir moralisches Handeln als eine Form der radika- 152 Vgl. Scheffler (1992), 124f.; Scheffler (2008), 122. Scheffler (1992), 125. 154 Siehe Scheffler (1992), 125; Scheffler (2008), 119. 155 Vgl. Scheffler (1992), 125f. 156 Vgl. Scheffler (1992), 128f. Ausserdem besteht eine gewisse Asymmetrie hinsichtlich der Eignung der beiden Vorschläge, die Vorzüge des je anderen wenigstens teilweise zu imitieren: Die hybride Auffassung kann die Idee der Selbst-Transzendenz besser eingliedern als der unpersönliche Ansatz die Idee der persönlichen Integration. 153 61 len Selbst-Transzendenz, die für viele unerreichbar bleiben dürfte, können wir die Rolle, welche die Moral in unserem Leben spielt, nicht angemessen erfassen. Moralische Überzeugungen prägen – unabhängig davon, ob sie Teil einer expliziten Erwägung sind – unsere Eindrücke, Emotionen, Reaktionen, Beziehungen und Überlegungen sowie unsere Interessen und Ambitionen. Auf mannigfache Weise durchziehen sie das tägliche Leben, strukturieren zwischenmenschliche Motivations- und Handlungsmuster und tragen zur Bestimmung dessen bei, wer wir sind. Dass die Moral für unser Leben eine integrative Funktion ausübt, ist insofern nicht bloss etwas, das einen abstrakten Reiz für uns hat: „[...] moral beliefs and concerns actually do help to shape integrated lives.”157 Indem wir uns moralische Normen zu eigen machen, kann es uns gelingen, unseren Respekt für den Wert anderer Menschen auf der einen Seite und unser natürliches Interesse an einem erfüllten Leben mit eigenen Projekten und Verbindlichkeiten auf der andere Seite miteinander zu verknüpfen und zu einem geschlossenen Ganzen zusammenzuführen. Die Zuschreibung dieser Funktion aber harmoniert, so Scheffler, nicht mit der Idee der radikalen Selbst-Transzendenz. Unsere moralische Praxis, die mit allem verwoben ist, was uns als menschliche Wesen wichtig ist, steht der hybriden Auffassung und dem Menschlichkeitsideal näher als der unpersönlichen Auffassung und dem Reinheitsideal. Zusammenfassend lässt sich Schefflers Argument folglich folgendermassen rekapitulieren. Wenn wir die zentrale Rolle, die die Moral in unserer Lebenspraxis spielt, ernst nehmen, können wir sie nicht als rigide verstehen, sondern müssen ihren moderaten Charakter anerkennen. Die moralische Perspektive und die Perspektive des Eigeninteresses stehen zueinander in einem Verhältnis der potentiellen Kongruenz. Zu klären ist nun allerdings, inwiefern Schefflers Argumentation überhaupt mit dem Überforderungseinwand zusammenhängen soll. So liesse sich etwa einwenden, dass wir es mit zwei unterschiedlichen Einwänden gegen anspruchsvolle Moraltheorien zu tun haben, die voneinander unabhängig sind und gesondert geprüft werden müssen. Falls Schefflers Ausführungen überzeugen, bliebe demzufolge trotzdem offen, ob der Überforderungseinwand je berechtigt sein kann, und die Bemühungen um eine Interpretation seiner Vorschläge zur menschlichen Moral müssten zumindest in Anbetracht des Ziels der vorliegenden Untersuchung als reichlich sinnlos erscheinen. Aber ist dem tatsächlich so oder ist ein substantieller Zusammenhang auszumachen? Um eine zufriedenstellende Antwort auf diese Frage zu erhalten, muss dargelegt werden, wie der kontroverse Konnex genau beschaffen sein könnte. Als hilfreich erweist sich dabei der folgende Hinweis Schefflers: Denn als ein supererogatorisches Ideal ist Selbst-Transzendenz auch innerhalb der hybriden Auffassung beheimatet (vgl. Scheffler (1992), 127). 157 Scheffler (1992), 129. 62 As I have said, the alternative construal supports the idea that morality is moderate, but it does not support a particular moral theory or tell us precisely how demanding moral norms are. What it does do is explain why it may in principle be legitimate to object to a given theory either that it is too demanding or that it is insufficiently demanding. It explains why both types of criticism have standing.158 Vermittelst der hybriden Auffassung des moralischen Standpunkts lässt sich demnach, wie Scheffler meint, erklären, warum es legitim sein kann, einer Moraltheorie vorzuhalten, dass sie entweder zu anspruchsvoll oder zu anspruchslos ist. Wenn die Moral sowohl den persönlichen als auch den unpersönlichen Standpunkt berücksichtigt und infolgedessen dem gleichen Wert aller Menschen genauso Tribut zollt wie unserem Hang, das eigene Leben unverhältnismässig wichtig zu nehmen, dann gerät sie nämlich häufiger mit den Interessen der Handelnden in Konflikt, als jene meinen, die sie bloss dem persönlichen Standpunkt verpflichtet sehen, und seltener, als jene meinen, die sie bloss dem unpersönlichen Standpunkt verpflichtet sehen. Konsequenterweise muss gegen die Theorien der zweiten Gruppe ein Überforderungseinwand, gegen die Theorien der ersten Gruppe aber ein Unterforderungseinwand berechtigt sein. So könnte libertären Kreisen, zu denen Narveson gehört, etwa vorgeworfen werden, dass sie zu wenig von uns verlangen, wohingegen die Utilitaristen um Singer womöglich zu viel von uns fordern. Erstere gewichten die (A)-These im Vergleich zur (B)-These tendenziell zu wenig stark, was sich beispielsweise darin zeigt, dass die Existenz von Hilfspflichten für Narveson dadurch bestimmt ist, ob ihre Annahme im rationalen Interesse aller Beteiligten ist.159 Libertäre fokussieren in solchen Fragen auf den persönlichen Standpunkt und erklären die überproportionale Bedeutung, welche die Interessen der Handelnden für sie selbst haben, implizit für sakrosankt. Dass von einem unpersönlichen Standpunkt aus alle Menschenleben gleich wertvoll sind, rückt in den Hintergrund. Diejenigen, die helfen können, dürfen ihre eigenen Interessen weit über das Leid von Hilfsbedürftigen stellen. Alles, was ihnen nicht zum Vorteil gereicht, kann ihnen auch nicht geboten sein. Letztere vernachlässigen indes die (B)-These zugunsten der (A)-These. Weil traditionelle Utilitaristen keinen Grund dafür erkennen, gewisse Interessen unabhängig von ihrer Stärke höher zu gewichten als andere,160 stehen sie für die Überwindung unserer natürlichen Priorisierung der eigenen Person ein. Damit erheben sie den unpersönlichen Standpunkt zum alleinigen Standpunkt der Moral und erklären die Gleichgewichtung der Interessen aller Lebewesen durchweg für ethisch massgebend. Dass aus der persönlichen Perspektive von Handelnden die eigenen Interessen bedeut158 Scheffler (1992), 130. Vgl. z. B. Narveson (2003), 426 sowie die Ausführungen in Unterabschnitt 1.1. 160 Vgl. z. B. Singer (2011), 11f. Die beiden Hilfsprinzipien, die Singer in seinem Aufsatz „Famine, Affluence, and Morality” vorschlägt, lassen sich allerdings nicht-utilitaristisch interpretieren. 159 63 samer sind als diejenigen anderer, muss Utilitaristen dagegen irrelevant erscheinen. Solange etwa für potentielle Helfer keine ähnlich starken Interessen auf dem Spiel stehen wie für Hilfsbedürftige, besteht gemäss dem klassischen Utilitarismus eine moralische Pflicht zur Hilfeleistung. Allen Unterschieden zum Trotz ist Libertären und Utilitaristen also eines gemeinsam: Ihre Moraltheorien lassen den nach Scheffler wünschenswerten Ausgleich zwischen den Behauptungen (A) und (B) aus dem Gleichgewicht geraten. Deshalb wird für beide Lager die Höhe ihrer Forderungen zum Problem. Die einen müssen einen Überforderungseinwand, die anderen einen Unterforderungseinwand gewärtigen. Schefflers Argumentation für eine moderate Moral hängt daher eng mit der Frage nach der Berechtigung des Überforderungseinwands zusammen. Wenn sein Vorschlag zum Umgang mit der Kluft zwischen dem persönlichen und dem unpersönlichen Standpunkt, der in eine hybride Auffassung der moralischen Perspektive mündet, erklären kann, warum wir manche Moraltheorien als überfordernd zurückweisen dürfen, dann verhilft er dazu, die Herausforderung zu bewältigen, die sich in Unterabschnitt 3.2. herauskristallisierte. Auf Unterscheidungen, deren moralische Relevanz nicht begründbar ist, sollten Moralprinzipien und -theorien – wie etwa Kagans Sklavenhalter-Beispiel verdeutlicht – nach Möglichkeit nicht fussen. Entsprechend spricht es – gemäss (M3) – für eine Theorie, wenn sie keine ungestützten Unterscheidungen beinhaltet, und – gemäss (M4) – gegen eine Theorie, wenn sie ungestützte Unterscheidungen beinhaltet. Obgleich sogar einem intuitionenbasierten Überforderungseinwand ein gewisses Gewicht zukommt, stellen (M3) und (M4) seine Berechtigung grundlegend infrage. Denn solange unklar bleibt, woran es aus welchen Gründen liegt, dass die Höhe erhobener Forderungen relevant ist für die Beurteilung ihrer Angemessenheit, kann einem Verfechter des Überforderungseinwands vorgehalten werden, er schmuggle – im Unterschied zu seinem Gegner – eine ungestützte Unterscheidung ein: diejenige zwischen höheren und tieferen moralischen Forderungen. Falls dieses Gegenargument tatsächlich auf einem naheliegenden Irrtum beruht, dann lässt es sich mithilfe von Überlegungen entkräften, wie sie Scheffler in Human Morality anstellt. Muss die moralische Perspektive nämlich als eine hybride verstanden werden, die einen Ausgleich schafft zwischen der gleichen Wichtigkeit der Interessen aller Menschen (A) und der Tatsache, dass unsere eigenen Interessen für uns selbst von zentraler Bedeutung sind (B), erklärt sich, weshalb es für die Beurteilung der Adäquatheit einer Moraltheorie relevant ist, wie hoch ihre Forderungen sind. Während sehr anspruchslose Forderungen Gefahr laufen, den Aspekt (A) nicht hinlänglich zu reflektieren und zu anspruchslos zu geraten, drohen sehr anspruchsvolle Forderungen den Aspekt (B) nicht angemessen zu reflektieren und zu an64 spruchsvoll zu geraten. Die Höhe moralischer Forderungen ist, wie man im Anschluss an Schefflers Ausführungen festhalten kann, ein normativ bedeutsamer Faktor, weil für die Bewertung unserer Handlungen aus einer moralischen Perspektive nicht nur der grundsätzlich gleiche Wert aller Menschen zählen sollte, sondern auch das erhöhte Gewicht, das unsere eigenen Interessen für uns Handelnde haben. Es ist Ausdruck einer Missachtung des persönlichen Standpunkts einzelner Akteure, wenn die Forderungen einer Theorie so hoch ausfallen, dass sie unmöglich einem Kompromiss zwischen (A) und (B) entstammen können. Wie hoch eine erhobene Forderung ist, ist darum nach Scheffler durchaus relevant dafür, ob sie zu Recht bestritten werden kann. Liegt er mit seiner Begründung richtig, geniesst die Differenz zwischen tieferen und höheren Forderungen als eine ethisch signifikante Unterscheidung moraltheoretischen Rückhalt und hängt nicht in der Luft. 4.2. Einwände und Erwiderungen Gegen den Überforderungseinwand im Allgemeinen und gegen Schefflers Verteidigung der moderaten Moral im Besonderen können jedoch unterschiedliche Einwände vorgebracht werden. So meint Shelly Kagan etwa, wer sich mit dem Argument der hohen Kosten (α) gegen eine anspruchsvolle Moraltheorie wende, müsse nicht nur manches Zulassen von Leid („allowing harm”) als moralisch akzeptabel erachten, sondern auch – und unplausiblerweise – manche Schädigung anderer („doing harm”).161 Daneben macht David Sobel geltend, dass diejenigen, welche den Überforderungseinwand gegenüber einem Konsequentialisten in Stellung bringen, die moralische Relevanz einer Unterscheidung voraussetzen, die sie rechtfertigen müssten: nämlich die Bedeutsamkeit der Unterscheidung zwischen den Kosten dessen, was eine Theorie verlangt, und den Kosten dessen, was eine Theorie erlaubt.162 Darüber hinaus drängen sich mindestens zwei weitere Schwierigkeiten auf: Erstens fragt sich, ob die moralische Perspektive wirklich eine hybride ist, und zweitens ist darüber nachzudenken, wie gut Schefflers Argumentation überhaupt dazu geeignet ist, den Überforderungseinwand zu fundieren. Ausgehend von einer kritischen Prüfung dieser vier Probleme in Unterabschnitt 4.2. soll dann der Schlussabschnitt der abschliessenden Frage gewidmet sein, ob der Überforderungseinwand – trotz der zahlreichen Hindernisse, mit denen er konfrontiert ist – als ein aussichtsreicher Einwand gelten kann. Dazu muss man sich klar machen, welche 161 Siehe Kagan (1989), 19f. Siehe Sobel (2007), 3f.; vgl. ausserdem z. B. Wolf (1995) sowie Murphy (2000) und für eine kritische Auseinandersetzung mit weiteren Einwänden Scheffler (1995) und (2008). Die folgenden Ausführungen erheben nicht den Anspruch, sämtliche Gegenargumente zu behandeln, die vorgebracht wurden. Vielmehr sollen bloss die meines Erachtens dringlichsten Probleme angesprochen werden. 162 65 der erwogenen Ansichten sich verteidigen lassen, welche Thesen widerlegt wurden und welche offenen Fragen weiterhin einer überzeugenden Antwort harren. Es ist naheliegend, sich zuerst mit denjenigen Einwänden zu befassen, die unmittelbar auf die Position Schefflers bezogen sind. Deswegen soll in einem ersten Schritt die Hybridität der moralischen Perspektive auf dem Prüfstand stehen, bevor dann die Beziehung der hybriden Auffassung zum Überforderungseinwand noch einmal beleuchtet sowie die beiden Einwände von Sobel und Kagan aufgegriffen werden. Scheffler prägt im Rahmen seiner philosophischen Erörterung eine Vielzahl neuer Ausdrücke, deren Relation zueinander nicht immer klar ist. Auf der einen Seite ist dabei hauptsächlich an die Termini „stringent“, „purity“, „impersonal construal“ und „self-transcendence“ zu denken, auf der anderen an „moderate“, „humanity“, „alternative construal“ und „personal integration“ sowie „potential congruence“. Zwar konnten die elementarsten Zusammenhänge innerhalb dieser begrifflichen Landschaft in 4.1. wenigstens insoweit blossgelegt werden, wie es für die Zwecke der Arbeit vonnöten ist, aufgrund der erforderlichen Überprüfung von Schefflers Gedankengang ist das Augenmerk nun aber insbesondere darauf zu richten, wie die argumentativen Lasten unter den angeführten Konzepten verteilt sind. Dass die Moral moderat und nicht rigide ist, sollte erklärtermassen ein Fazit von Human Morality sein.163 Gleiches gilt auch für die umfassendere These von der potentiellen Kongruenz zwischen Moral und Eigeninteresse, die (a) auf die regulative Rolle moralischer Normen, (b) auf die moralische Formung unserer Interessen und (c) auf die gesellschaftliche Veränderbarkeit des Konfliktausmasses (zwischen Moral und Eigeninteresse) abstellt.164 Gestützt werden sollen beide Ergebnisse negativ durch die Entkräftung der Argumente (1) und (2) für das Reinheitsideal und positiv durch die hybride Auffassung der moralischen Perspektive, welche ihre Attraktivität dem Umstand verdankt, dass die Moral ihr zufolge eine für uns wichtige Form der persönlichen Integration ermöglicht.165 Weniger klar ist aber, wie die Begründung der Hybriditätsthese genau mit der Charakterisierung des Menschlichkeitsideals einerseits und der ersten Überlegung zur potentiellen Kongruenz (a) andererseits verbunden ist. Führt Scheffler zusätzliche Gründe für die Behauptung, die Moral sei moderat, an, wenn er schreibt, dass der Gehalt moralischer Normen durch die regulative Rolle mitbestimmt wird, die sie für uns Menschen spielen?166 Dazu ist zweierlei festzustellen: Erstens ist die akzentuierte Unklarheit ein Hinweis darauf, wie Scheffler argumentiert. Statt einen strengen Beweis zu führen, 163 Vgl. z. B. Scheffler (1992), 100 oder 115. Vgl. Scheffler (1992), 4; Scheffler (2008), 118 sowie den Unterabschnitt 4.1. 165 Siehe dazu z. B. Scheffler (1992), 102, 121 und 124. 166 Vgl. Scheffler (1992), 4 und 101f.; Scheffler (2008), 118f. 164 66 schlägt er ein grobes Bild der Moral vor, das möglichst gut mit möglichst vielem zusammenstimmen soll, was wesentlich ist für uns.167 Und zweitens ist die Frage, wie ich denke, verneinend zu beantworten. Denn die vielgestaltige Rolle, welche der Moral als Regelungssystem menschlichen Verhaltens zukommt, ist nach Scheffler eben eine, die uns die erwähnte Integrationsleistung ermöglicht, indem sie uns erlaubt, unsere Achtung vor dem gleichen Wert anderer und unsere Sehnsucht nach einem erfüllten Leben zu vereinigen. Dreh- und Angelpunkt der Argumentation ist daher die hybride Auffassung der moralischen Perspektive. Ob diese auch vertretbar ist, wenn einen die Suggestivkraft von Ausdrücken wie „Menschlichkeit“, „Integration“ oder „Selbst-Transzendenz“ nicht beeindruckt, entscheidet über Erfolg oder Misserfolg von Schefflers Projekt. Ein guter Grund, daran zu zweifeln, scheint sich in der folgenden Frage auszudrücken: Wie kann die These (B) von zentraler Bedeutung für die moralische Bewertung unserer Handlungen sein, wenn es offensichtlich ist, dass jemand, der (B) missachtet und eigene wie fremde Interessen gemäss (A) gleich gewichtet, moralisch besser handelt als jemand, der (B) in Rechnung stellt? Zeigt diese Überlegung nicht, dass die moralische Perspektive keine hybride ist und bloss (A) als Referenzpunkt kennt? Wer sich wirklich, könnte man sagen, auf die Moral einlässt, der abstrahiert von (B) und nimmt sich selbst niemals wichtiger als andere. Unplausibel ist dieser Einwand, weil sich gegenüber der sicherlich unverdächtigen These (A) ganz ähnliche Einwendungen machen liessen. Er fällt, mit anderen Worten, einer reductio ad absurdum anheim. Akzeptiert man ihn, legt man sich darauf fest, einer höchst abwegigen Aussage zuzustimmen. Wenn jemand nämlich weder (A) noch (B) beachtet und gänzlich davon absieht, eigene Interessen in die ethische Waagschale zu werfen, um ausschliesslich auf die Sorgen und Nöte anderer zu reagieren, dann werden seine Handlungen ebenfalls moralisch besser sein, als diejenigen von einer Person, die sich an (A) orientiert. Dies kann ein einfaches Beispiel veranschaulichen. Nehmen wir an, Benedikt und Franziskus haben die Möglichkeit, anstelle eines gemeinsamen Bekannten ein kleines Übel auf sich zu nehmen, das für sie selbst schlimmer ist als für ihren Bekannten. Benedikt überlegt kurz und entscheidet sich dann aufgrund von (A) gegen das Opfer, der gutherzige Franziskus aber verbietet es sich, überhaupt an das eigene Wohl zu denken, und wählt die unangenehmere Handlungsoption. Welcher der beiden Päpste hat moralisch besser gehandelt? Die Antwort ist klar: Nicht der emeritierte, der amtierende Bischof von Rom führte die bessere Handlung aus. Seine selbstlose Tat verdient zweifellos unser Lob. Hält man den obigen Einwand für triftig, muss man deshalb auch dagegen opponieren, dass die These (A) im Herzen der moralischen Perspektive 167 Siehe auch Scheffler (1992), 114. 67 liegt. Wer sich wirklich, so wäre man dann gezwungen zu sagen, auf die Moral einlässt, der abstrahiert sowohl von (B) als auch von (A) und nimmt sich selbst nicht einmal gleich wichtig wie andere. Damit ist man jedoch bei einer ziemlich absurden Aussage angelangt, die den formulierten Einwand gegen die hybride Auffassung in Verruf bringt. Gleichwohl stellt sich natürlich die Frage, ob die Hybriditätsthese einem unpersönlichen Moralverständnis tatsächlich aufgrund von Schefflers Überlegungen zum Gegensatz zwischen der integrativen Funktion der Moral und der Idee der radikalen Selbst-Transzendenz vorzuziehen ist. Schliesslich würde es nicht überraschen, wenn die Anhänger des Reinheitsideals die komplexe Realität unserer Lebenspraxis, die Scheffler zufolge mit dem Ziel der persönlichen Integration harmoniert,168 als zutiefst fehlerbehaftet empfänden. Das gesellschaftlich verankerte Moralsystem übernimmt zwar de facto, könnten sie argumentieren, eher eine integrative Funktion, als dass es Ausdruck einer reinen Vorstellung der Selbst-Transzendenz ist, aber es sollte eine andere Rolle spielen. Denn es ist nicht die Moral, die sich an der vorherrschenden Lebensgestaltung ausrichten muss, wir sind es, die unsere Lebensführung nach der wahren Moral zu richten haben.169 Dem wird Scheffler, so der Einwand, nicht gerecht, wenn er sich auf die dominante Realität unserer moralischen Praxis beruft, um den hybriden Ansatz zu verteidigen: [...] even if the impersonal construal embodies an idea of radical self-transcendence to which we genuinely attach some importance, nevertheless that idea does not reflect the dominant reality of our moral practice. That is, it does not accurately reflect the role that morality actually plays in our lives.170 Gleichgültig, welche Rolle moralische Belange in unseren Leben momentan spielen, ist contra Scheffler danach zu fragen, ob sie diese Rolle auch innehaben sollen. Handelt es sich hierbei um ein Gegenargument, das dem hybriden Moralverständnis gefährlich werden kann? Begeht Scheffler sogar einen Sein-Sollens-Fehlschluss, indem er implizit von deskriptiven Aussagen über unsere Lebensweise auf den normativen Gehalt der Moral schliesst? Man sollte sich die Struktur seiner Argumentation in Erinnerung rufen, bevor man diese kritischen Fragen beantwortet. Scheffler ist der Meinung, dass die unpersönliche wie auch die hybride Auffassung der moralischen Perspektive eine gewisse Plausibilität für sich beanspruchen können, weil beide an bedeutende Aspekte dessen anknüpfen, wie wir über die 168 Vgl. Scheffler (1992), 128f. sowie den Unterabschnitt 4.1. Vgl. dazu die verwandte Diskussion um den Terminus „direction of fit“ (siehe Anscombe (1957) und z. B. Alvarez (2010), 66f.). 170 Scheffler (1992), 128; siehe auch Scheffler (1992), 129: „By contrast, although the idea of morality as radical self-transcendence has its abstract appeal, and although it continues to be influential, the notion that morality represents a possibly unattainable ideal that is distinguished precisely by its remoteness from normal patterns of agency and motivation does not reflect the dominant reality of how moral concerns actually function in human life.” 169 68 Moral denken.171 In Ermangelung eines Beweises für die eine oder die andere Ansicht versucht er daher aufzuzeigen, welche der tiefer liegenden Überlegungen besser mit dem übereinstimmt, was wir für zutreffend und wichtig halten. Auf unsere moralische Praxis kommt er in diesem Zusammenhang zu sprechen: Wenn wir uns die Rolle genauer ansehen, welche moralische Normen in unserem Leben spielen, dann stellen wir fest, von wie beeindruckender Relevanz die These der integrativen Funktion der Moral – im Vergleich mit derjenigen der Selbst-Transzendenz – ist. Ihre Bedeutung erschöpft sich nicht in unserer expliziten moralischen Reflexion, sie offenbart sich auch darin, wie eng das Phänomen der Moral mit unzähligen Sphären unseres Lebens verwoben ist: mit unserer Wahrnehmung, unseren Gefühlen, unseren Beziehungen, unseren Plänen und unseren Verbindlichkeiten. Der Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses ist demzufolge – wider den ersten Anschein – verfehlt. Scheffler benutzt die Beschreibung der gegenwärtigen Verhältnisse nicht dazu, um ihr Fortbestehen zu motivieren. Er schliesst nicht von ihrem So-Sein auf ihr SoSein-Sollen. Vielmehr ist ihm die funktionelle Verflechtung zwischen der Moral und der Vielfalt des menschlichen Lebens ein Indiz für die tiefe Verankerung der Hybriditätsthese in unserem Denken und ihr einträchtiges Zusammenspiel mit dem, was uns viel bedeutet.172 Der so verstandenen Position liesse sich allerdings entgegenhalten, sie erhebe sich nicht über einen Intuitionismus à la Hooker und biete entsprechend keine Absicherung gegen (M3)- oder (M4)-Einwände, wie sie in Unterabschnitt 3.2. eingeführt wurden. Ist damit gezeigt, dass uns Schefflers menschliche Moral nicht weiterhilft? Nein, denn es gibt mehrere Unterschiede zwischen der Berufung auf unsere wohlerwogenen moralischen Überzeugungen, die im dritten Abschnitt der Arbeit thematisiert wurde, und der Bezugnahme auf unser moralisches Denken, von der nun die Rede ist. Erstens bürgt die gründliche Analyse unterschiedlichster Praxiszusammenhänge dafür, dass die verteidigte Haltung gedanklich tief verwurzelt und essenziell für uns als menschliche Wesen ist. Scheffler macht deutlich, dass die Hybriditätsthese mit einer Integrationsbemühung verbunden ist, die unser gesamtes Leben durchzieht und wesentlich dafür ist, wer wir sind. Zweitens haben wir es nicht mit moralischen Einzelurteilen zu tun, dessen sich manche spontan sicher sind, während andere vielleicht zweifeln, sondern mit einem moraltheoretischen Vorschlag, dessen Bedeutung indirekt belegt wird. Drittens bemüht Scheffler nicht die Überforderungsintuitionen selbst, die den Ausgangspunkt der philosophischen Debatte um den Überforderungseinwand bilden und von den Gegnern desselben naheliegenderweise nicht vollumfänglich geteilt werden. Die tiefe Verwurzelung anderer Ansichten soll uns im Hinblick auf den kontroversen 171 172 Vgl. Scheffler (1992), 120, 124 und 127. Vgl. Scheffler (1992), 114 und 128. 69 Fall der problematischen oder unproblematischen Höhe moralischer Forderungen Orientierung bieten. Und viertens ist die Ebene, auf welcher der Rekurs auf unser moralisches Denken erfolgt, vor allem viel weniger oberflächlich als diejenige, der Hookers unmittelbarer Rückgriff auf Intuitionen angehört. Alle Begründungen müssen irgendwo enden und der vergleichsweise tiefgründige Schlusspunkt, den Scheffler setzt, scheint nicht unangemessen zu sein. Immerhin rühren seine Beobachtungen zur persönlichen Integration daran, wie die menschliche Lebensform als solche beschaffen ist. Scheffler deckt enge Zusammenhänge zwischen der integrativen Funktion moralischer Normen und verschiedenartigen Kernbestandteilen unseres zutiefst humanen Strebens auf.173 Selbst wenn die hybride Auffassung der Moral aber korrekt ist, drängt es sich – und damit komme ich zur zweiten Schwierigkeit, die in 4.2. verhandelt werden soll – auf, darüber nachzudenken, ob sie überhaupt ein geeignetes Mittel ist, um den Überforderungseinwand mit einer moraltheoretischen Grundlage zu versehen. Dabei gilt es vornehmlich, das folgende Gegenargument in den Blick zu nehmen. Gemäss der Hybriditätsthese misst die Moral, wie in Unterabschnitt 4.1. dargelegt wurde, nicht nur der These (B), sondern auch der These (A) Bedeutung zu: Der gleiche Wert aller Menschenleben und die überproportionale Wichtigkeit, die unsere eigenen Interessen für uns haben, sind gleichermassen zu berücksichtigen, wenn das moralisch Gebotene vom Verbotenen und dem Erlaubten unterschieden wird. Daraus ergibt sich indes eine Komplikation bezüglich der vorgeschlagenen Erklärung der Berechtigung des Überforderungseinwands.174 Die Höhe erhobener Forderungen scheint allein nicht ausschlaggebend dafür zu sein, ob eine Theorie als zu anspruchsvoll beziehungsweise als zu anspruchslos gelten muss. Es kann nämlich, so das Argument, zwei Theorievorschläge T1 und T2 geben, die zwar gleich viel von uns verlangen, aber nicht beide von einem im Anschluss an Scheffler fundierten Überforderungseinwand betroffen sind. Denn während die Forderungen von T1 vielleicht trotz ihrer aussergewöhnlichen Höhe aus einem Ausgleich zwischen (A) und (B) resultieren, könnten die Forderungen von T2 aus anderen Gründen sehr hoch sein und den (A)-(B)-Kompromiss vermissen lassen. An T1 gäbe es dementsprechend nichts auszusetzen, T2 hingegen wäre als zu anspruchsvoll einzuschätzen, obwohl die Forderungen der beiden Theorien in Bezug auf ihre Höhe nicht voneinander abweichen. Muss dies den Verfechtern des Überforderungseinwands nicht merkwürdig vorkommen? 173 Meine Ausführungen machen deutlich, wie plausibel Schefflers hybride Moralkonzeption ist, sie können seine Ansicht jedoch nicht beweisen oder abschliessend gegen mögliche Einwände absichern (vgl. auch Scheffler (1992), 114). Eine ausführlichere Verteidigung müsste insbesondere Kagans Kritik an Schefflers früherem Werk The Rejection of Consequentialism mitberücksichtigen (siehe Kagan (1989) sowie dazu z. B. die Repliken von Bratman (1994), 325f. und Scheffler (1994b), 167f.). 174 Vgl. zur kritisierten Erklärung der Berechtigung des Überforderungseinwands den Unterabschnitt 4.1. sowie Scheffler (1992), 130. 70 Darüber hinaus vergrössert sich ihr Unbehagen möglicherweise noch, wenn sie zur Kenntnis nehmen, dass es sogar zwei Theorievorschläge T3 und T4 geben zu können scheint, für die Folgendes gilt: Die Forderungen von T3 sind höher als diejenigen von T4 und trotzdem ist es die Theorie T4, die zu anspruchsvoll ist, nicht jedoch die Theorie T3. Begründen lässt sich diese erstaunliche Feststellung auf dieselbe Weise wie die Quintessenz des vorangestellten T1-T2-Falls. Die sehr hohen Forderungen von T3 spiegeln einen Kompromiss zwischen den Behauptungen (A) und (B) wider, die etwas niedrigeren, aber noch immer sehr hohen Forderungen von T4 dagegen sind nicht das Ergebnis einer erfolgreichen Abwägung zwischen (A) und (B). Gegen erstere ist daher kein Überforderungseinwand vorzubringen, nur letztere muss einen solchen gewärtigen. Denn die Theorie T4 scheint dem persönlichen Standpunkt der Handelnden im Verhältnis zu anderen Überlegungen zu wenig Gewicht zu geben. Folgt aus der Verquickung von der hybriden Moralkonzeption Schefflers und dem Überforderungseinwand also, dass zu anspruchsvolle Forderungen tiefer sein können als solche, an deren Höhe kein Anstoss zu nehmen ist? Und wirkt sich diese Konsequenz, so es denn tatsächlich eine ist, fatal auf das Projekt der Untermauerung des Überforderungseinwands aus? Das sind irritierende Fragen, die nicht leicht zu beantworten sind. Ist man dennoch gewillt, den Überforderungseinwand aufrechtzuerhalten, kommen vorderhand drei Repliken in Betracht. Eine erste Möglichkeit besteht darin, die Verträglichkeit der beiden Szenarien, des T1T2-Falls und des T3-T4-Falls, mit der theoretischen Konstruktion zu bestreiten. Wenn T1 und T3 gemäss der Hybriditätsthese nicht überfordernd sind, dann, so liesse sich einwenden, sind es T2 und T4 ebenso wenig. Es gehört nicht zu den Wahrheitsbedingungen von Urteilen der Art „T ist zu anspruchsvoll“, dass kein Kompromiss zwischen (A) und (B) vorliegt. Relevant dafür, ob eine Moraltheorie als überfordernd gelten muss, ist einzig, ob sie die These (B) nicht einkalkuliert und unserer natürlichen Priorisierung eigener Interessen nicht hinlänglich Rechnung trägt. Und falls die hohen Forderungen von T1 und T3 diesem Kriterium nicht zum Opfer fallen, ist anzunehmen, dass auch die gleich hohen Forderungen von T2 und die niedrigeren Forderungen von T4 nicht gefährdet sind. Diese Theorien mögen aus anderen Gründen unplausibel sein, überfordernd jedoch sind sie nicht. Als zweite Option bietet es sich an, eine Bite the bullet-Strategie zu verfolgen. Ob eine Moraltheorie zu anspruchsvoll ist, hängt, wie man zugestehen könnte, nicht nur von der Höhe der Forderungen ab. Ausserdem kommt es darauf an, wie hoch der moralische Gegenwert ist, den Handelnde für den geforderten Aufwand erhalten. Steht, moralisch gesehen, viel auf dem Spiel, sind ungewöhnlich hohe Forderungen womöglich nicht zu hoch, steht indessen wenig auf dem Spiel, können bereits tiefere Forderungen den Bogen überspannen. Das Überforde71 rungsurteil ist, anders gesagt, stets relativ zu dem, was – der These (A) gemäss – aus unpersönlicher Sicht zu verlieren oder zu gewinnen ist. Um eine solche Behauptung zu plausibilisieren, liesse sich eine einfache Analogie anführen. Ob ein angepriesener Verkaufsgegenstand zu teuer ist, hängt ebenfalls nicht bloss von der Höhe des Preises ab, sondern auch davon, was man für sein Geld erhält. Genauso ist die Höhe aufgestellter Forderungen mit den korrelierenden „Gaben“ einer Theorie in Beziehung zu setzen, bevor sie gegebenenfalls als zu anspruchsvoll eingestuft wird. Der dritte Weg, der den Anhängern des Überforderungseinwands prinzipiell offensteht, ist schliesslich kurz erklärt: Statt in Kombination mit Schefflers Hybriditätsthese kann der Einwand selbstverständlich auch unabhängig davon vertreten werden. Für diese Option sollte man sich jedoch, wie aus 3.2. und 4.1. hervorgeht, nur dann entscheiden, wenn die beiden ersten Alternativen letztlich nicht überzeugen. Damit ist zweierlei klar: Erstens gestaltet sich die Verteidigung des Überforderungseinwands schwieriger, als man nach der Lektüre von Human Morality vielleicht denkt. Und zweitens gibt es gleichwohl gute Gründe, um anzunehmen, dass eine solche Verteidigung gelingen kann. Allerdings wurden dabei die äusserst bedrohlichen Einwände von Kagan und Sobel noch nicht beachtet, die abschliessend dargestellt und kritisiert werden sollen. In seiner Monografie The Limits of Morality wirft Kagan ein Problem auf, das allen Sorgen bereiten muss, die einen Überforderungseinwand vorbringen wollen.175 Wenn die Vermeidung hoher Kosten (α) für Handelnde, so sein Argument, tatsächlich dafür spräche, dass es uns erlaubt ist, gewisse Hilfeleistungen nicht zu erbringen, dann müsste es unplausiblerweise auch als moralisch zulässig gelten, anderen aus purem Eigeninteresse zu schaden: [...] it seems intuitively clear that an appeal to cost will support an option to allow harm – for preventing harm can be quite costly. [...] The point I want to press here, however, is that an appeal to cost supports options to do harm as well as options to allow harm [...]. For it is not only preventing harm which can be costly – refraining from harming can be costly too.176 Falls einem Akteur zum Beispiel nicht zugemutet werden kann, auf drei Millionen zu verzichten, um ein Menschenleben zu retten, dann kann ihm ceteris paribus ebenso wenig zugemutet werden, von der Ausübung eines Mordes abzusehen, mit dem drei Millionen zu verdienen wären.177 Diese Konsequenz aber ist hochgradig kontraintuitiv. Ergibt sie sich aus dem Überforderungseinwand, verliert er die intuitive Attraktivität, die ihm mit 1.1. attestiert wurde, und sollte daher von Anhängern der Common Sense-Moral zurückgewiesen werden. 175 Vgl. Kagan (1989), 19f.; siehe dazu auch Kagan (1984), 239f.; Murphy (2000), 39f.; Sobel (2007), 4f. sowie Scheffler (1994b), 167f. 176 Kagan (1989), 22; vgl. zur Bedeutung des Ausdrucks „option” Kagan (1989), 3 sowie die Fussnote 135. 177 Siehe dazu Kagan (1989), 22f. 72 Für den Umgang mit diesem Gegenargument sind zwei Fragen entscheidend: Müssen diejenigen, die sich zum Überforderungseinwand bekennen, zwingend akzeptieren, dass man anderen manchmal aus Eigennutz Schaden zufügen darf? Und liegt, falls die erste Frage zu bejahen ist, wirklich ein Knock-down-Argument gegen den Überforderungseinwand vor? Ich gehe zuerst auf die erste Frage ein, danach soll die zweite beantwortet werden. Es ist, wie Kagan selbst einräumt,178 nicht ohne Weiteres klar, dass man sich mit dem Kosten-Argument darauf festlegt, dass es moralisch zulässig sein kann, andere aus Eigeninteresse zu schädigen. Bestehen nämlich deontologische Schranken, die gewisse Typen von Handlungen – wie Tötungen oder Folterungen – verbieten,179 gibt es möglicherweise unabhängige Gründe, welche gegen die moralische Zulässigkeit von Schädigungen sprechen und den Überforderungseinwand überwiegen. Ob derartige Schranken existieren, ist eine umstrittene Frage, die hier nicht erörtert werden kann,180 aber zum einen gehören sie mit Sicherheit zu unserer Alltagsmoral und zum anderen gibt es viele Philosophinnen und Philosophen, die von ihrer Existenz überzeugt sind. Deshalb stehen die Chancen dafür, dass die erste Frage negativ beantwortet werden kann, nicht allzu schlecht. Selbst wenn wir jedoch mit einer positiven Antwort vorliebnehmen müssen, weil sich deontologische Schranken als unhaltbar erweisen, formuliert Kagan kein Knock-down-Argument gegen den Überforderungseinwand. Denn unter der Voraussetzung, dass es – entgegen unserer alltagsmoralischen Überzeugung – keine deontologischen Schranken gibt, sind die theoretischen Konsequenzen des Überforderungseinwands nicht länger irritierend.181 Dies lässt sich mithilfe des folgenden Beispiels illustrieren. Ist es etwa moralisch zulässig, Reiche zu bestehlen, um das Geld Ärmeren zu geben, sollte es uns nicht weiter erstaunen, wenn es einer armen Person auch erlaubt ist, Reiche zu bestehlen, um das Geld selbst zu behalten. Falls wir dem Überforderungseinwand einerseits eine gewisse Eingangsplausibilität zugestehen und andererseits nicht glauben, dass es deontologische Schranken gibt, haben wir keinen Grund, an Fällen wie diesen Anstoss zu nehmen. Kagans Argument kann die Hoffnungen der Anhänger des Einwands also ohnehin nicht ruinieren. Zuletzt ist daher zu bedenken, ob dies dem neueren Gegenargument gelingt, das David Sobel in die Diskussion eingebracht hat. Wer den Überforderungseinwand gegen konsequentialistische Moraltheorien vorbringt, setzt, wie Sobel meint, die moralische Relevanz der Unter- 178 Vgl. Kagan (1989), 23f. Scheffler verwendet dafür den Ausdruck „agent-centred restrictions” (vgl. Scheffler (1994a), 80), Kagan spricht von „agent-centered constraints“ (vgl. Kagan (1989), 4); siehe dazu auch die Fussnote 134). 180 Vgl. dazu z. B. Alexander/ Moore (2012); Kagan (1989), 24f. und 83f.; Scheffler (1994a), 80f. sowie die Diskussion um das sogenannte „paradox of deontology” (vgl. z. B. Heuer (2011), 236f.). 181 Siehe auch Lawlor (2009), 53f. 179 73 scheidung zwischen den Kosten dessen, was eine Theorie verlangt, und den Kosten dessen, was eine Theorie erlaubt, voraus.182 Zur Veranschaulichung seiner These beschreibt er den Fall von Joe und Sally. Joe hat zwei gesunde Nieren, Sally aber braucht eine der beiden Nieren, um überleben zu können. Ist er moralisch verpflichtet, ihr eine Niere zu überlassen? Während optimierende Konsequentialisten diese Frage bejahen, könnte man mit dem Überforderungseinwand vielleicht dagegenhalten: „Even though the transfer would result in a situation that is better overall, the Demandingness Objection’s thought is that it is asking so much of Joe to give up a kidney that he is morally permitted to not give.”183 Doch was wäre, wenn Sally analog dazu gegen eine nicht-konsequentialistische Theorie, die ihr keine Niere zuspricht, einwendete, dass diese ihr gegenüber zu anspruchsvoll sei? Nach Sobel hätte Sally nicht begriffen, wie der Überforderungseinwand üblicherweise verstanden wird. Für die Kostenberechnung (α) zählen, wie gemeinhin angenommen wird, nur die Kosten dessen, was eine Theorie von uns verlangt, nicht aber die Kosten dessen, was uns einer Theorie zufolge widerfahren darf.184 Nichtsdestoweniger zeigen der Joe-Sally-Fall und insbesondere Sallys Reaktion indes, dass der Überforderungseinwand die Bedeutsamkeit einer Unterscheidung voraussetzt, die Konsequentialisten für moralisch irrelevant halten: The moral significance of the distinction between costs a moral theory requires and costs it permits must already be in place before the Objection gets a grip. But this is for the decisive break with Consequentialism to have already happened before we feel the pull of the Demandingness intuitions.185 Zumindest gegen konsequentialistische Ansätze kann der Überforderungseinwand deswegen für Sobel nichts ausrichten. Entweder sollten wir sie aus anderen Gründen ablehnen oder wir sollten ihnen zustimmen. Demgegenüber ist meiner Ansicht nach herauszustellen, dass die Unterabschnitte 3.1. und 4.1. Ressourcen bergen, um den Überforderungseinwand auch als Einwand gegen konsequentialistische Moraltheorien zu rehabilitieren. Wenn Hooker recht hat und wir auf einen intuitionenbasierten Einwand bauen können,186 dann liegt es auf der Hand, Sobels Kritik zu begegnen, indem man klarstellt, dass es für den Überforderungseinwand wesentlich ist, worauf sich unsere Überforderungsintuitionen beziehen. Wird eine Sally-Situation (erlaubterweise keine Niere zu erhalten) nicht als moralisch überfordernd empfunden, während eine Joe-Situation (eine Niere spenden zu müssen) als überfordernd bewertet wird, ist die unterschiedliche Einschätzung der beiden Situationen Teil des Überforderungseinwands. Die Relevanz der von 182 Vgl. Sobel (2007), 3. Sobel (2007), 3. 184 Siehe dazu auch Murphy (2000), 48 und 145 sowie den Unterabschnitt 2.3. 185 Sobel (2007), 3. 186 Vgl. dazu die Ausführungen in den Unterabschnitten 3.1. und 3.2. 183 74 Sobel erwähnten Unterscheidung wird, mit anderen Worten, nicht vorausgesetzt, sondern beruht auf der Beschaffenheit unserer moralischen Intuitionen. Es sind unsere Überforderungsintuitionen, die determinieren, welche Moralprinzipien zu anspruchsvoll sind und welche nicht. Und wenn Scheffler recht hat,187 dann kann der Überforderungseinwand gegen den Anwurf Sobels verteidigt werden, indem er mit einer Erklärung verbunden wird, die deutlich macht, warum es moralisch relevant ist, ob Kosten aus erhobenen Forderungen oder aus eingeräumten Erlaubnissen erwachsen. Weil die moralische Perspektive als eine hybride verstanden werden sollte und die Moral den gleichen Wert aller Menschen (A) ebenso berücksichtigt wie die überproportionale Wichtigkeit, die unsere eigenen Interessen für uns selbst haben (B), kommt der Höhe moralischer Forderungen eine besondere Bedeutung zu. Aufgrund der Sensitivität, welche die moralische Perspektive dafür hat, dass Handelnden ihr eigenes Leben unverhältnismässig wichtig ist, dürfen die Forderungen einer Moraltheorie nicht beliebig hoch sein. Andernfalls missachtet die Theorie den persönlichen Standpunkt einzelner Akteure und reflektiert den Gesichtspunkt (B) nicht angemessen. 187 Vgl. dazu die Ausführungen in den Unterabschnitten 4.1. und 4.2. 75 Schluss Kann der Überforderungseinwand trotz der vielen Probleme, die ihm gegenüberstehen, als ein aussichtsreicher Einwand gelten? Die Beantwortung dieser Frage involviert grosse Rätsel und stellt ein schwieriges Unterfangen dar. Mit der vorliegenden Arbeit wurde deshalb der Versuch unternommen, möglichst klar herauszuarbeiten, welche Möglichkeiten den Verfechtern des Einwands angesichts der zahllosen Angriffe ihrer Kritiker offenstehen. Dazu waren im ersten Teil Schwierigkeiten zu erörtern, die eine erfolgreiche Explikation des Überforderungseinwands gefährden, während im zweiten Teil die Frage nach der Berechtigung des Einwands in den Fokus rückte. Als Ausgangspunkt dienten dabei zwei Thesen, die – wie in 1.1. und 1.2. gezeigt wurde – zwar intuitiv attraktiv sind, bei näherem Hinsehen aber ihre Erläuterungs- und Begründungsbedürftigkeit zu erkennen geben: (i) (ii) Manche Moralprinzipien oder -theorien fordern mehr von uns als andere. Manche Moralprinzipien oder -theorien fordern zu viel von uns. In Reaktion auf die skeptischen Fragen aus 1.2. konnten anschliessend in 2.1. unterschiedliche Interpretationen vorgestellt werden, die vor Augen führen, wie die beiden Thesen (i) und (ii) bestenfalls zu verstehen sind. Gemäss Vorschlag (α) sind die Kosten, welche eine Person trägt, die ein Moralprinzip befolgt, massgebend dafür, wie anspruchsvoll das Prinzip ist: (α) Je höher die Kosten eines Prinzips ausfallen, desto mehr wird Handelnden abverlangt. Alternativ akzentuiert der Vorschlag (β) den Schwierigkeitsgrad einer moralischen Aufgabe: (β) Je schwieriger es ist, ein Prinzip zu befolgen, desto anspruchsvoller ist es. Und nach Vorschlag (γ) ist es schliesslich die Einschränkung des Handlungsspielraums, die entscheidend ist für die Bestimmung der Höhe moralischer Forderungen: (γ) Je stärker ein Prinzip die Anzahl zulässiger Handlungsalternativen reduziert, desto mehr wird Handelnden zugemutet. Im Hinblick auf das Verständnis der Idee der moralischen Überforderung, welche ihren Ausdruck in These (ii) findet, ergaben sich daraus die Deutungsvarianten (α*), (β*) und (γ*). Falls nur (α) korrekt ist, scheint eine Theorie nämlich genau dann überfordernd zu sein, wenn ihre Forderungen für Handelnde zu kostspielig sind (α*). Unter der Voraussetzung, dass ausschliesslich (β) zutrifft, könnte eine Theorie genau dann als zu anspruchsvoll bezeichnet werden, wenn ihre Befolgung zu schwierig ist (β*). Und ist bloss (γ) richtig, überfordert uns eine Theorie genau dann, wenn sie unseren Handlungsspielraum zu stark einschränkt (γ*). Damit der Überforderungseinwand weiterhin Aussicht auf Erfolg hat, muss mindestens eine dieser drei Deutungen überzeugen. 76 Nachdem in Unterabschnitt 2.2. ausgehend vom begrifflichen Raster, das die Interpretationsvorschläge (α*), (β*) und (γ*) bilden, die möglichen Zusammenhänge zwischen dem Überforderungseinwand und der „können“-„nicht können“-Differenz ausgelotet wurden, mussten in 2.3. fundamentale Fragen zu These (i) und in 2.4. fundamentale Fragen zu These (ii) beantwortet werden. Murphy irrt sich, wenn er – contra (i) – behauptet, dass wir nicht beurteilen können, wie hoch die moralischen Forderungen konkurrierender Moraltheorien für ein Individuum sind. Begnügen wir uns bei der Kostenberechnung mit den aktiven Forderungen einer Theorie und lassen das, was er „passive Forderungen“ nennt, beiseite, ist es uns möglich, die Höhe der moralischen Forderungen einer Theorie abzuschätzen. Entsprechend gibt es Moraltheorien, die mehr von uns verlangen, und Moraltheorien, die weniger von uns verlangen. Doch ist auch die These (ii) so harmlos, wie sie scheint? Schaber zufolge setzt eine Überforderungsdiagnose die Falschheit der kritisierten Theorie voraus und eignet sich daher nicht dazu, als Schlüsselkomponente eines moraltheoretischen Einwands zu fungieren. Demgegenüber konnte in 2.4. aufgezeigt werden, wie die drohende Gefahr einer petitio principii abzuwenden ist: Unsere Überforderungsurteile müssen sich an einem moraltheorieexternen Massstab orientieren, anhand dessen über die Adäquatheit von Moraltheorien zu befinden ist. Weil sich also die anfänglichen Bedenken gegenüber den Thesen (i) und (ii) zerstreuten, liess sich eine vielversprechende Explikation des Überforderungseinwands vorschlagen. Gegen eine Moraltheorie den Überforderungseinwand zu erheben, heisst, sie als zu anspruchsvoll – und damit gemäss (α*), (β*) oder (γ*) als zu kostspielig, zu schwierig oder zu einengend – zu kritisieren. Die Standardform des Einwands lautet „Theorie T überfordert uns“ und besagt, dass T einem Massstab zur Beurteilung konkurrierender Moraltheorien nicht entspricht, der auf die Höhe moralischer Forderungen bezogen ist. Ob ein solcher Überforderungseinwand aber je berechtigt ist, hängt davon ab, ob es plausibel ist, ein meta-ethisches Prinzip anzunehmen, das die Rolle des unterstellten Massstabs übernimmt. Deshalb war im zweiten Teil der Untersuchung zu klären, warum die Frage, wie viel eine Theorie von uns verlangt, relevant sein soll für die Beurteilung ihrer Angemessenheit. Für Hooker, dessen Ansatz in 3.1. eingeführt und in 3.2. geprüft wurde, dienen unsere wohlerwogenen moralischen Überzeugungen als theorieexterner Standard. Wer einer Moraltheorie vorwirft, zu anspruchsvoll zu sein, kritisiert sie dafür, nicht mit unseren wohlerwogenen moralischen Überzeugungen übereinzustimmen. Überfordernd ist eine Theorie genau dann, wenn ihre Forderungen höher sind, als sie gemäss unseren robusten Intuitionen sein sollten. Um herauszufinden, inwieweit sich Hookers Ansicht aufrechterhalten lässt, mussten in Unterabschnitt 3.2. methodologische Diskussionen aufgegriffen und vertieft werden. Leitend war da77 bei die Frage, ob Hookers Verteidigung der unabhängigen Glaubwürdigkeit moralischer Intuitionen oder Kagans Skepsis gegenüber ungestützten Unterscheidungen überzeugender ist. Als Ergebnis wurde ein gangbarer Weg der Mitte skizziert: Es spricht in der Tat gegen eine Moraltheorie, wenn sie nicht mit unseren wohlerwogenen moralischen Überzeugungen harmoniert, aber es spricht genauso gegen eine Moraltheorie, wenn sie ungestützte Unterscheidungen zulässt. Dem Überforderungseinwand kommt infolgedessen auf jeden Fall ein gewisses Gewicht zu. Steht eine Moraltheorie nicht mit unseren wohlerwogenen Überforderungsintuitionen im Einklang, liegt ein pro tanto-Grund gegen sie vor. Da jedoch nicht ausgeschlossen werden kann, dass ein solcher Grund von anderen Gründen überwogen wird, war in 4.1. und 4.2. Schefflers Rechtfertigungsstrategie zu untersuchen, welche der Bedrohung ungestützter Unterscheidungen entgegenwirkt und den Überforderungseinwand mit einem moraltheoretischen Fundament versieht. Falls die moralische Perspektive eine hybride ist, die zwischen dem unpersönlichen und dem persönlichen Standpunkt vermittelt, erklärt sich nämlich, weshalb die Differenz zwischen tieferen und höheren Forderungen moralisch relevant ist. Ausgesprochen anspruchsvolle Forderungen laufen Gefahr, die These (B) nicht angemessen zu reflektieren, wonach die Interessen von Handelnden für sie selbst überproportional wichtig sind. Allerdings mussten in Unterabschnitt in 4.2. mehrere Gegenargumente zur Kenntnis genommen werden, die zumindest noch nicht abschliessend entkräftet werden konnten. Daher lässt sich die Ausgangsfrage der Untersuchung nur vorsichtig positiv beantworten: Der Überforderungseinwand kann wohl trotz der vielen Probleme, die sowohl seine Explikation als auch die Frage nach seiner Berechtigung bereiten, als ein aussichtsreicher Einwand gelten. 78 Literatur § Alexander, Larry/ Moore, Michael (2012): Deontological Ethics. In: Edward N. Zalta (Hg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy, URL: http://plato.stanford.edu/entries/ethics-deontological/ (20.06.2014). § Alvarez, Maria (2010): Kinds of Reasons. An Essay in the Philosophy of Action. Oxford University Press: Oxford. § Anscombe, G. Elisabeth M. (1957): Intention. Blackwell: Oxford. § Ashford, Elisabeth (2003): The Demandingness of Scanlon’s Contractualism. 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