KULTUR Die Welt ist kein Dorf und das Andere nicht das Eigene

Transcription

KULTUR Die Welt ist kein Dorf und das Andere nicht das Eigene
KULTUR
Seite 28
Dienstag, 18. September 2001 / Nr. 216
Die Welt ist kein Dorf und das Andere nicht das Eigene
JOURNAL: Was die Welt jetzt erschüttert, wirft auch ein Licht auf die Brüchigkeit selbstverständlich gewordener Weltbilder
Von unserem Redaktionsmitglied
Thomas Groß
Es war in den Tagen vor den verheerenden
Terroranschlägen in den USA, die schon
jetzt viele als Wende zu einer neuen Zeit
begreifen, da hatte die Rede vom „Global
Village“, dem globalen Dorf, noch Konjunktur. Und dies besonders, nachdem mit
dem Ende des (alten) Ost-West-Konflikts
die letzte große Wende sich vollzogen hatte.
Die Globalisierung, so meinte man, knüpfe
ein derart weltumspannendes Netz, dass
man überall nur noch auf Nachbarn träfe,
auf Menschen, die die gleichen Werte und
Interessen hätten und der technokratischwirtschaftlichen Moderne nach westlichem
Verständnis aufgeschlossen begegneten.
Als ob man in jedem Weltwinkel zum Gegenüber nur freundlich „How do you do?“
sagen müsste, um es sogleich als Mitglied
der allübergreifenden Weltwirtschaftsfamilie willkommen zu heißen. Natürlich war
jedem bewusst, dass die Erde auch weiterhin ihre Konfliktherde hatte, in Nahost
oder Sri Lanka, und der politische Global
Player Nummer Eins, die USA, nicht nur
Freunde. Aber wer dachte im Ernst, die
Anderen könnten derart widerständig sein,
dass sie, statt sich schließlich doch auf die
Seite des Guten zu stellen, in extremen Fällen sich zu Personifikationen des Bösen stilisieren lassen würden?
Nun ist es grausige Gewissheit: Eine
Weltsicht, wie sie sich in der Rede vom globalen Dorf offenbart, hält der Wirklichkeit
nicht stand. Bestätigt fühlen können sich
indessen auch unverbesserliche Polarisierer nicht, die nach der Auflösung des alten
kommunistischen Feindbilds ein neues islamisches konstruieren. Die Wirklichkeit
ist nun mal komplizierter, als es schöne
Utopien oder gängige Freund-Feind-Schemata vermitteln können.
Natürlich ist es am bequemsten, das Andersartige und Fremde, wo man es schon
nicht leugnen kann, als Feindbild zu dämonisieren. Dass dies auf mehr oder weniger
hohem Niveau auch unterhaltsam sein
kann, hat die „Traumfabrik“ Hollywood
immer wieder bewiesen, nicht zuletzt in
zahllosen
Science-Fiction-Streifen.
Schließlich sind die darin oft dem (amerikanischen) Menschengeschlecht übel mitspielenden außerirdischen „Aliens“ nichts
anderes als die in den Weltraum projizierten Ängste vor dem Fremden – fremd, ausländisch, feindselig bedeutet das lateinische „alienus“ eben, wovon der „Alien“
sich herleitet. Was die Grunderfahrung so-
man nur durch das Verstehen des Gegenübers – denn anders, als es der durch die
moderne Aufklärung beförderte, selbstherrliche Subjektivismus nahelege, ist weder der Einzelne noch die gesamte Menschheit das Maß aller Dinge; ein verständiger
Umgang mit der Welt und den Mitmenschen setze die Akzeptanz von Andersartigkeit voraus, so Gadamer, und deshalb
sind für ihn Dialog und Gespräch die
Schlüssel zum Wahren. Nur durch sie lerne
man sich endlich auch selber kennen. Im
gleichberechtigten Gespräch, so Gadamer,
wird Trennendes erst bewusst und dadurch
eine „Verwandlung ins Gemeinsame“ möglich, das auf gegenseitiger Anerkennung
basiert (am Rande bemerkt: Gadamer ist
davon überzeugt, der Umgang mit Literatur und Kunst fördere ganz entscheidend
die Fähigkeit zu solchem Gespräch, weil
sich deren Werke vorschnellem Zugriff beharrlich entziehen und eine andere Wirklichkeit behaupten als die alltägliche).
Die Voraussetzungen einer Weltgemeinschaft des Dialogs, als die man die Globalisierung im Sinne Gadamers begreifen
müsste, erfüllt freilich nur derjenige, der
Andersartigkeit ernst zu nehmen vermag,
der dem Anderen nicht seine Fremdartigkeit abspricht und dies auch praktisch unter Beweis stellt, indem er etwa sein Handeln mitbestimmende welt- und sicherheitspolitische oder wirtschaftliche Interessen eingesteht – womit freilich nicht behauptet werden kann, dass so die Anschläge zu verhindern gewesen wären.
Wie alles Fremde präsentiert sich auch der Islam zunächst in Rückansicht. Um ihm ins Gesicht
sehen zu können, muss man auch eigene Vorbehalte und Ängste hinterfragen.
Bild: ddp
zialen Lebens betrifft, die Begegnung mit
Anderem, Fremdem, ist die multikulturelle
Gesellschaft noch längst keine Wirklichkeit. Ihr nach den Terroranschlägen aber
nur noch skeptisch, wenn nicht ablehnend
gegenüber zu stehen, wäre ein Gebot der
Ängstlichkeit, nicht der Vernunft. Die Psychoanalyse hätte dafür schnell eine Erklärung parat, die die weltpolitische Lage dieser Tage gar nicht berücksichtigen muss:
US-Intellektuelle in Sorge
MEINUNG: Rorty und Mailer befürchten Schaden für Demokratie
Renommierte USAutoren und Wissenschaftler sehen
keine
Alternative
zum Kampf gegen
den
Terrorismus.
Sie fürchten durch
den angekündigten
Krieg aber Schaden
für die Demokratie
in den USA und das
Ansehen des Landes
in Teilen der Welt.
„Jedes Mal, wenn Norman Mailer
die
Vereinigten
Staaten Krieg geführt haben, haben die
Bürgerrechte – die Rechte des einzelnen
Bürgers gegen den Staat – gelitten“, sagte
der Philosoph Richard Rorty (StanfordUniversität) in einem Beitrag für eine Sonderausgabe der Wochenzeitung „Die Zeit“.
Rorty zeigte Verständnis für eine militärische Reaktion der USA, kritisierte aber
die Bush-Administration. „Der John-Wayne-Machismo, der uns dazu brachte, weiterhin Menschen in Vietnam zu töten, obwohl wir längst wussten, dass wir diesen
Krieg nicht würden gewinnen können, beherrscht nach wie vor die Politik in Washington.“ Was immer nun geschehe – sicher sei, dass sich Amerika noch stärker
militarisieren werde, als es ohnehin schon
ist. Rorty bezweifelt, dass die US-Regierung die Öffentlichkeit wahrheitsgemäß
informiere.
Der Schriftsteller Norman Mailer hält
neben der Terrorbekämpfung ein politi-
sches Umdenken der USA für notwendig.
Die Amerikaner sollten „endlich lernen,
weshalb so viele Menschen ihr Land verabscheuen“, meinte Mailer in einem Zeitungsbeitrag. Große Teile der Welt und besonders die zurückgebliebensten Nationen
empfänden die USA als „ihre kulturellen
und ästhetischen Unterdrücker“. Vor allem
den Armen werde das einzige, was sie haben, genommen, ihre Wurzeln. „Bis Amerika den Schaden begreift, den es anrichtet,
indem es darauf besteht, dass der amerikanische, auf Profit ausgerichtete ,way of life‘
nicht notwendigerweise zu allen Ländern
passt, werden wir in Schwierigkeiten sein“,
befürchtet Mailer. Er schloss mit den Worten: „Wir werden die meistgehasste Nation
auf der Erde sein.“ Mailer sprach sich dafür aus, die stählernen Zacken des zerstörten World Trade Centers als nationales
Denkmal stehen zu lassen.
Nach Ansicht des Harvard-Professors
Samuel Huntington („Der Kampf der Kulturen“, 1996) ist eine Koalition der USA
mit ihren Verbündeten und islamischen
Staaten gegen den Terrorismus notwendig,
um einen „Kampf der Kulturen“ zwischen
westlicher und islamischer Welt doch noch
zu vermeiden. Entscheidend sei, wie islamische Staaten jetzt mit den USA zusammen arbeiten. Für den US-Schriftsteller
E.L. Doctorow ist die amerikanische Gesellschaft nach dem Terror eng zusammengerückt. Sie stehe jetzt geschlossen hinter
Präsident Bush, sagte der Autor, dessen
New-York-Roman „City of God“ soeben
auf Deutsch erschienen ist, der „Zeit“. dpa
Andere Themen gefragt
FILM: Hollywood setzt jetzt auf „heile Welt“
Angesichts der Terroranschläge stoppt
Hollywood viele Filmprojekte. „In Zeiten wie diesen sind völlig andere Filme
gefragt“, sagt Produzent Doug Wick, „ab
jetzt gehen die Leute ins Kino, um Krieg
und Terror für zwei Stunden zu vergessen.“ Filmregisseur Wolfgang Petersen
ist überzeugt: „Im Film wird in der
nächsten Zeit kein Hochhaus mehr explodieren, es wird kein Flugzeug entführt werden und auch keines abstürzen.“ Und Dana Fox, Präsidentin von
20th Century Fox, meint: „Filme müssen
immer eine Alternative zur Realität bieten. Wahrscheinlich für Jahre werden
die Menschen nun im Kino die heile Welt
suchen.“
Was Hollywood bislang in der Pipeline
hat, zeigt dagegen alles andere als eine
heile Welt. Katastrophenfilme, Spionage-Thriller und Terror-Dramen liefen
bislang gut. Auch die Fernsehanstalten
stellen sich auf die neue Sitiuation ein.
Neue Chancen sehen die Produzenten
für leichtere Unterhaltungsfilme und
Fluchtdramen: „Geschichten, in denen
Menschen der Gefahr entkommen, laufen jetzt bestimmt besser“, meint Dana
Walden. Und auch der Produzent Ed
Gernon hat schon eine Idee, wie man
vom neuen Zeitgefühl profitieren kann:
„Wir müssen jetzt wertorientierte Familienfilme zeigen und mehr Patriotismus.“
mag/dpa
Für sie sind die Ängste vor dem Fremden
ohnehin nur übertragene Ängste vor eigenen seelischen Abgründen.
Vor Jahren schon hat der Heidelberger
Philosoph Hans-Georg Gadamer angemerkt, dass sein hermeneutisches Denken
in Zeiten der Globalisierung von besonderer Aktualität sei. „Sich-Verstehen“ begreift Gadamer dialektisch: Zu einem adäquaten Verständnis seiner selbst gelange
Das aber dürfte klar sein: Je internationaler die Auswirkungen auch regionalen
Handelns im Zeichen der Globalisierung
wurden, desto dringlicher ist es zugleich
geworden, das Andere in seiner Andersheit
ernst zu nehmen und kennen zu lernen.
Nicht zuletzt deshalb, weil so erst auch ein
kritischer Blick auf einen selbst möglich
wird. Wer im Islam als solchem die Wurzeln des arabischen Terrorismus finden
will, berücksichtigt dies ebenso wenig wie
derjenige, der nur mit blankem Unverständnis darauf reagiert, dass die USA in
Teilen der globalisierten Welt auch gehasst
werden. Mit Unverständniss mag man nur
auf das Ausmaß des Hasses reagieren.
„Die Hölle, das sind die Andern“, heißt
es in Sartres „Geschlossener Gesellschaft“.
Paradies und Himmelreich sieht man dagegen gerne nur sich selber vorbehalten.
Auch dies mag eine Lehre der vergangenen
Tage sein – wie notwendig es ist, eine solche Haltung „dialogisch“ zu überwinden.
Umschau
Ballettchefin klagt erfolgreich
Das Theater Altenburg-Gera muss die zwei
Mal fristlos gekündigte Ballett-Chefin Silvana Schröder weiter beschäftigen. Dies
gelte bis zum rechtskräftigen Abschluss
des Verfahrens, entschied das Bühnenschiedsgericht Chemnitz in erster Instanz.
Damit entsprach das Gericht der Klage
Schröders auf Erfüllung ihres Arbeitsvertrages bis zum 31. Juli 2005. In seiner Urteilsbegründung befand das Schiedsgericht, die Vorwürfe der Intendanz rechtfertigten bestenfalls eine Abmahnung. Die
Theaterleitung hatte den Vertrag mit der
32-Jährigen nach Differenzen um die
Spielplangestaltung Anfang Juli nach nur
einem Jahr überraschend gekündigt. dpa
Eine Million für Baden-Baden
Private deutsche Geldgeber und der amerikanische Mäzen Alberto Vilar haben dem
Festspielhaus Baden-Baden in diesem Jahr
bisher rund eine Million Mark gespendet.
Intendant Andreas Mölich-Zebhauser versicherte gestern, dass das größte Opernhaus Deutschlands bei den Einnahmen im
Plan liege. Das Ziel, trotz ausschließlich
privater Finanzierung kostendeckend zu
arbeiten, werde jedoch erst in ein bis zwei
Jahren erreicht. Der Intendant will nach
eigenen Angaben noch in diesem Jahr weitere private Gesellschafter für die Festspielhaus-Betreibergesellschaft präsentieren.
dpa
Depeche Mode
in Mannheim
Seit langem ausverkauft ist die
Deutschland-Tournee der britischen
Synthie-Popband Depeche Mode, die
kürzlich in Berlin begann und Ende
Oktober in München endet (wir berichteten). Doch wer keine Karten bekommen hat, kann sich trösten: Der
Mannheimer Agentur BB Promotion
ist es gelungen, die Gruppe für ein Zusatzkonzert am Montag, 5. November,
in der Mannheimer Maimarkthalle zu
gewinnen. Karten gibt es ab sofort
über
die
Ticket-Hotline
01805 15 25 30 und an allen bekannten
Vorverkaufsstellen.
ew.
Ludwigsburg schloss
mit Gedenken
Beschwörung des Humanen
Mit einer Verneigung vor den Opfern der
US-Anschläge sind die Ludwigsburger
Schlossfestspiele am Sonntagabend ausgeklungen. Zum Abschluss spielte das Ensemble der Festspiele unter Leitung von
Wolfgang Gönnenwein „Ein deutsches Requiem“ von Johannes Brahms. Ursprünglich hatte Giuseppe Verdis „Un ballo in
maschera“ auf dem Programm des Schlusskonzertes gestanden. „Das ist auch für das
Publikum eine würdige Reaktion“, sagte
Gönnenwein vor dem Konzert.
Von unserem Mitarbeiter
Klaus Keil
Seit dem 13. Juni standen 75 Veranstaltungen auf dem Programm der Schlossfestspiele, die sich in diesem Jahr vor allem
dem Jubilar Giuseppe Verdi widmeten. Als
Saisonauftakt wurde das „Requiem“ des
vor 100 Jahren gestorbenen italienischen
Komponisten gespielt. Zudem wurde auf
der Bodenseeinsel Mainau, einem der Gastspielorte der Schlossfestspiele, „Nabucco“
als Freiluft-Oper präsentiert, mit geschriebenen Zwischentexten von Walter Jens,
vorgetragen von Klaus Maria Brandauer.
Weitere Schwerpunkte waren die deutsche Erstaufführung der „Friedenssinfonie“ von Philip Glass, ein von den Salzburger Festspielen zur Jahrtausendwende in
Auftrag gegebenes Werk, sowie die Neuinszenierung von Gaetano Donizettis Oper
„L’elisir d’amore“ („Der Liebestrank“) im
Schlosstheater des Ludwigsburger Residenzschlosses. (Internet: www.schlossfestspiele.de)
dpa
Nochmals: Verdis
Requiem in Speyer
Einen überwältigenden Widerhall fand die
Einladung zu einer abermaligen Aufführung des Verdi-Requiems, die zwei Tage
nach dem Konzert im Rahmen der „Internationalen Musiktage“ bei freiem Eintritt
im Dom zu Speyer stattfand. Auf Initiative
des Bistums Speyer, der Evangelischen
Kirche der Pfalz, der Staatsphilharmonie
Rheinland-Pfalz und der „Rheinpfalz“
hatten sich die Mitwirkenden bereit erklärt, mit Verdis Totenmesse im Dom „einen Raum des gemeinsamen Trauerns und
Hoffens“ zu schaffen. Unter den mehr als
3000 Menschen, die größtenteils dicht gedrängt stehend in Seiten- und Querschiff
der bewegenden Aufführung unter Leitung
von Domkapellmeister Leo Krämer folgten, waren auch viele Amerikaner, die unter Tränen für dieses Zeichen der Solidarität dankten.
W.B.
AUSZEICHNUNG: Deutscher Tanzpreis an Hans Werner Henze
Einen „gewissenhaften Rebell“ nannte Altbundespräsident Richard von Weizsäcker
in seiner Laudatio den Komponisten Hans
Werner Henze, dem jetzt in Essen der
Deutsche Tanzpreis verliehen wurde. Henze sei einer, der mit seiner Kunst die Bühne
wieder zur „Stätte der Vermittlung von Leben“ gemacht habe, und „mit einem Blick
auf die Ereignisse in New York: in dessen
Musik wir Menschlichkeit neu sehen, hören
und fühlen können“. Damit stehe Henze in
einer großen und würdigen Tradition, und
deshalb, so von Weizäcker an Henze gewandt, „bin ich ein dankbarer Zeitgenosse
ihrer Kunst und Musik“.
Ein Novum in der jetzt 18-jährigen Geschichte des international renommierten
Tanzpreises ist die Verleihung an einen
Komponisten. Damit wird Henzes „Bekenntnis zum Bühnentanz als künstlerischer Ausdrucksform“ gewürdigt, das unter den Komponisten unserer Zeit leider
selten geworden sei, wie der Stifter des
Preises, der Berufsverband für Tanzpädagogik in Essen, beklagt. Das Credo der
Menschlichkeit bestimmt auch Hans Werner Henzes Ballett „Orpheus“ von 1979,
das für diesen Abend von Heinz Spoerli
neu erarbeitet wurde. Der Ballettabend
wurde zu einem Triumph für Henzes Musik, und die Essener Philharmoniker unter
Patrick Ringborg meisterten das schwierige Werk hervorragend.
Der Choreografie von Heinz Spoerli dagegen gelingt es nur teilweise, den tiefen
emotionalen Gehalt der Ballettgeschichte
auf der Bühne umzusetzen. Vor allem der
allgemein gültige Humanitätsanspruch,
wie ihn Henze mit dem Orpheus-Thema
verfolgt, taucht bei Spoerli nur am Rande
auf. Erst drei Choreografen, William Forsythe (1979), Ruth Berghaus (1986) und
Heinz Spoerli (1988), haben bislang mit
diesem Ballett gearbeitet. Spoerlis Neuinszenierung ist sehr auf dramatische Wirkung angelegt. In dumpfem Erdbraun erscheint das arme Landvolk. In schreiendem
Kontrast dazu die knallroten Kleider der
Reichen. Die Bühne (Ernst P. Rebeisen) ist
als schräge Ebene angelegt und symbolisiert, wie leicht der Mensch das Gleichgewicht verlieren kann. Ab und zu schiebt
sich seitlich eine goldene Himmelstreppe
ein, über die Apollo die Szenerie betritt.
Das sind dann auch die Sternstunden dieses Balletts.
Allein schon wie Gregor Seyffert über
die Stufen schreitet, mit was für einer Grazie und was für einen Ausdruck! Da spielt
einer nicht nur den Gott Apoll, das ist
Hans Werner Henze
Bild: dpa
Apollo. Spoerli hat ihm seinen Part geradezu auf den Leib choreografiert. Seine
Sprünge, die Grand Jets, sind höher, weiter, fantastischer, als man bislang glaubte,
sie tanzen zu können. Und wenn er manchmal springend, noch in der Luft die Beine
kreuzt, glaubt man ihn fast schwebend.
Und noch eine Szene besticht durch ihre
Größe: der Liebes-Pas de deux, den Margaret Illmann und Raimondo Rebeck gleich in
der ersten Szene tanzen. Genau da gerät
Spoerlis Ballett aber auch auf die falsche
Bahn: Ab jetzt dreht sich alles um die
Lovestory und die Rettung der geliebten
Eurydike aus den Klauen des Bösen. Der
zeitlose Anspruch des Orpheus-Mythos
bleibt auf der Strecke. Bei Spoerli ist Orpheus persönlich befangen, ein Zauderer,
Unentschlossener, jedenfalls keine charismatischer Wegbereiter einer neuen Humanität. Am Ende hadert Orpheus nur mit seinem persönlichen Schicksal, kann gar
nicht verstehen, warum sich das Landvolk
von ihm abwendet. Zwar gelingen in dem
grellen Bühnenambiente ebenso wie in den
dunklen Gewölben der Unterwelt Spoerli
und seinen Tänzern fantastisch anmutende, manchmal sehr bizarre choreografische
Bilder. Doch letztlich bleibt das Gefühl,
dass sich in diesen schönen Bildern auch
das Anliegen des Komponisten verliert: Die
„Sprachlichkeit der Musik“ (so Henze) für
ein visionär anmutendes Menschlichkeitsideals zu nutzen.