Fachbereich Literatur Stephanie Jentgens Kevin und Ulrich Greiner
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Fachbereich Literatur Stephanie Jentgens Kevin und Ulrich Greiner
Fachbereich Literatur Stephanie Jentgens Kevin und Ulrich Greiner Bildung nach PISA 69 Kevin ist acht Jahre alt. Er geht in das dritte Schuljahr. Seine Mutter kam vor mehr als einem Jahr ins Krankenhaus. Seitdem lebt Kevin im Heim. Zu seinem Vater hat er keinen Kontakt. Bis vor Kurzem ging Kevin gern in die Schule, denn er mochte seine Lehrerin, aber vor zwei Monaten ist sie in Erziehungsurlaub gegangen und Kevin hat einen neuen Lehrer bekommen. Den findet er „scheiße“ und „ungerecht“. Im Diktat hat Kevin 28 Fehler gemacht und dafür eine Sechs bekommen. Zu mir sagt er: „Ej, ich bin froh, ej, wenn ich von der Schule fliege.“ Die Erzieher im Heim sind nett zu Kevin, er findet sie „okay“. Im Heim hat er Kontakt zu Jugendlichen, die bereits weitaus drastischere Schicksale hinter sich haben als er. Er lernt ihre Sprache und ihre scheinbare Coolness. Kevin spricht einen Slang, der ihn als „ungebildet“ ausweist. Dabei hat er in den ersten beiden Jahren seiner Schulzeit enorm viel gelernt. Allerdings macht er noch viele Fehler. Seit es Noten gibt, ist er immer häufiger frustriert. Er geht mit einer angestauten Wut durch die Welt, die immer mal wieder in aggressiven Aktionen aus ihm herausbricht. Sein junger und noch unerfahrener Lehrer reagiert mit Druck auf Kevin. Vertrauen zu einer Person aufzubauen, fällt Kevin sehr schwer. Seine Handlungen gegenüber den Mitschülern sind völlig inkosistent. Kevin ist ein deutsches Kind und er gehört zu den sogenannten „Benachteiligten“ unserer Gesellschaft. Sollte man eine Prognose für sein Leben formulieren, so ist schon jetzt abzusehen, dass er in unserem Bildungssystem und in unserer Arbeitswelt zu den „Versagern“ gehören wird. Auch der Aufbau persönlicher Bindungen wird ihm schwer fallen. Seine Aussichten auf ein glückliches Leben sind – geht man von der jetzigen Situation aus – gering. Die Ursachen sind sicher vielfältig. Man kann sie aber unterscheiden in ungünstige Zufälle und systemische Faktoren. Auf die ungünstigen Zufälle hat man relativ wenig Einfluss, wie z.B. den Lehrerwechsel. Systemische Faktoren dagegen lassen sich ändern, wie z.B. die Notengebung an Grundschulen und das Leistungs- und Selektionsmuster des institutionellen Bildungssystems. Während ich über Kevin schreibe, fällt mein Blick auf einen Artikel von Ulrich Greiner vom 10. Oktober 2002 (erschienen in Die Zeit), den ich in meiner Materialsammlung auf dem Schreibtisch liegen habe. Die Überschrift lautet „Die Zeit-Schülerbibliothek. Weshalb wir einen literarischen Kanon brauchen.“ In sehr überzeugenden Worten mahnt Greiner eine Bewegung gegen das Vergessen unseres kulturellen, besonders des literarischen Erbes an. Das ist löblich. Auch seine Position zu den Folgen von PISA kann ich gut nachvollziehen: „Die wirkliche Katastrophe der gegenwärtigen, durch die PISA-Studie neu entfachten Bildungsdebatte liegt darin, dass sich alle Energie auf die Steigerung von Leistung und Effizienz richtet“. Wenn man bedenkt, dass Schülerinnen und Schüler jetzt im Deutschunterricht den Messkategorien von PISA folgend daraufhin trainiert werden, einen 70 neuerlichen Test besser zu bewältigen, kann einem in der Tat nur angst und bange um die Inhalte werden. Ich schweife weiter und mein Blick bleibt an der Liste der 50 ausgewählen Titel hängen, die von einer Jury für eine Schülerbibliothek als obligatorisch ausgesucht wurden. Muss ich mich schämen? Einige der Titel sind mir selbst im Germanistikstudium nicht begegnet. Kennen Sie Anna Maria Jokls „Die Perlmutterfarbe“? Aber ich werde getröstet, denn auch die Juroren bekennen auf der folgenden Seite, dass sie noch nicht alle Titel gelesen haben. Wie konnten sie dann über diese abstimmen? Das ist nur eine Frage am Rande. Was mich wirklich erschüttert, ist die Diskrepanz zwischen dem, was ein Kind wie Kevin erlebt, welche Bildungschancen ihm geboten werden und dem Versuch einen literarischen Kanon für Schüler und Schülerinnen zu formulieren, in dem nur sechs jugendliterarische Schriften aufgenommen sind neben Lichtenbergs „Aphorismen“ und Goethes „Faust“. Diese Schere klafft sehr weit auseinander. Gibt es zwischen Kevin und den Kindern, die als zukünftige Zielgruppe des Zeit-Kanons auserkoren sind, überhaupt noch Berührungspunkte? Vielleicht begegnen sie sich noch in der Grundschule, aber spätestens ab der vierten Klasse trennen sich ihre Wege im Bildungssystem. Ulrich Greiner formuliert in seinem Artikel, für welchen Bildungsbegriff er eintritt: „Wenn aber der Begriff Bildung überhaupt einen Sinn hat, dann verknüpft er sich mit der Idee, den ganzen Menschen in all seinen Fähigkeiten auszubilden; und dazu gehört zweifellos die Fähigkeit, Schmerz ebenso zu empfinden wie Glück; die Fähigkeit, zwischen schön und hässlich, zwischen gut und böse unterscheiden zu können; schließlich die Fähigkeit, ein gutes, ein richtiges, ein veranwortliches Leben zu führen.“ Diese humanistische Bildungsdefinition liegt wesentlich auch dem zu Grunde, was die kulturelle Jugendbildung anstrebt. Ich denke auch, dass viele Werke, die Greiner und seine KollegInnen in ihrer Liste aufgeführt haben, dazu beitragen können, all diese Fähigkeiten eines gebildeten Menschen zu erwerben. Aber das Ansinnen einer Kanonbildung kann hier nur kontraproduktiv wirken. Ein Kanon macht das Lesen zum Leistungssport und nur, wer die fünfzigste LektüreHürde noch nimmt, gehört zur Bildungselite. Der Gedanke einer „Steigerung von Leistung“, den Greiner in seinem Artikel so deutlich ablehnt, schleicht sich über den Kanon eben doch ein. Im wesentlichen taugen die Titel, die Die Zeit aufführt, für eine Schülerbibliothek der Oberstufe. Sie in einen Kanon zu pressen, tut den literarischen Werken im Einzelnen im Grunde Unrecht. Man könnte einige von ihnen einfach so zum Vergnügen lesen. Ich springe wieder auf die andere Seite der BildungsSchlucht: zu Kevin. Er ist kein Einzelfall. Spätestens seit PISA ist deutlich geworden, dass unser Schulsystem gerade die schwachen Schüler fallen lässt. Die OECD-Studie „Bildung auf 71 einen Blick“ bestätigt dieses Bild: In Deutschland werden im Vergleich der „entwickelten“ Länder die meisten Schulversager produziert. Der Ausweg, den die Politik sucht, heißt „Ganztagsschule“. Durch sie sollen die mangelnde Aufsicht und Förderung der Kinder durch die Eltern ausgeglichen werden. Ich stelle mir Kevin vor, wie er gezwungen wird, noch mehr Stunden in der verhassten Schule zu bleiben. Ich möchte dann nicht in seiner Nähe sein. Die wenige Zeit, die ihm bleibt, um durch unser Stadtviertel zu stromern, die alte Bahntrasse zu erkunden oder auf dem Fußballplatz zu toben, würde ihm genommen werden. Dieses Problem betrifft im Übrigen noch viel mehr die Kinder, die bereits jetzt mit einem gut gefüllten Terminkalender ausgestattet sind. Natürlich könnten auch in der Schule gute Angebote gemacht werden, aber das löst das Problem nicht, dass die Ganztagsschule den Kindern einen wesentlichen Teil ihrer Freizeit und damit ihrer Freiheit rauben würde. Im Moment kann Kevin sich noch entscheiden, ob er an einem Nachmittags-Angebot des CVJM teilnehmen möchte oder sich den Abenteuern der Straße überlässt, die sicher viele positive Erfahrungen bergen. Die Ganztagsschule würde ihn um diese Entscheidungsmöglichkeit berauben. Vorzüge der außerschulischen Jugendbildung Freiwilligkeit ist das A und O der außerschulischen Jugendbildung. Hierin liegt ein wesentlicher Unterschied zur Schule und damit auch in der Wahrnehmung der Angebote. Schule ist – eine meist lästige – Pflicht, Angebote der Bibliothek, um nur eine der vielen Einrichtungen der außerschulischen Jugendbildung zu nennen, sind dagegen kein Muss. Kinder und Jugendliche lernen in der außerschulischen Jugendbildung selbst zu entscheiden, wie sie ihre Zeit verbringen wollen. Natürlich gibt es auch außerschulische Angebote, die von Kindern als Pflicht empfunden werden und zwar dann, wie z.B. die Hortunterbringung, manchmal auch schon der Kindergarten, wenn ihnen nicht die Wahl gelassen wird. Diesem Problem ließe sich z.B. durch eine flexiblere Gestaltung von Arbeitszeiten für Eltern begegnen. Das ist aber eine andere Diskussion. Wenn der Anspruch der Freiwilligkeit erfüllt wird, dann können auch Lernprozesse ausgelöst werden, die die Selbsttätigkeit der Kinder fordern und fördern. An zweiter Stelle ist sicher der fehlende Selektionsdruck als Vorzug anzuführen. In der Bibliothek oder im Jugendzentrum gibt es keine Noten, auch die meisten Jugendmusikschulen arbeiten ohne dieses Druckmittel. Gerade in der notenfreien Zone liegt ein ganz großer Vorteil der außerschulischen Jugendarbeit, denn hier, manchmal nur hier, haben Kinder die Chance zu lernen, dass sich der Wert eines Menschen nicht über seine Noten oder sein Einkommen definiert und dass man auch Fehler machen darf. Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in der außerschulischen Jugendarbeit müssen kreativ in der Wahl ihrer pädagogischen Mittel sein, da ihnen kaum 72 formale Möglichkeiten des Lobs oder der Sanktion zur Verfügung stehen. Hier gibt es ein Methodenrepertoire, das bei einer engeren Kooperation von außerschulischen mit schulischen Pädagogen sich positiv auf die Schule auswirken könnte. Ein weiterer wesentlicher Vorzug der außerschulischen Jugendbildung ist der freiere Umgang mit Zeit. Während meines Praxisprojektes, das ich aufgrund der guten medialen Ausstattung in einer Gesamtschule durchgeführt habe, wurde mir und den beteiligten Jugendlichen dieser Aspekt schmerzhaft bewusst. Der Dreiviertelstunden-Takt von Schulen steht der Kreativität und Intensität von Bildungsprozessen sehr im Wege. Nichts haben die Jugendlichen so sehr beklagt, wie den durch die kurzen Einheiten künstlich gedehnten Entstehungsprozess der Produkte. In außerschulischen Angeboten sind Kinder und Jugendliche natürlich nicht von Zeitgrenzen befreit, aber sie bewegen sich zumindest nicht in einem so eng gefassten Zeitraster. Partizipation ist ein weiteres zentrales Stichwort, durch das die Arbeit in den meisten Einrichtungen der außerschulischen Jugendarbeit gekennzeichnet ist. Schon im Kindergarten lernen die Kinder im täglichen Morgenkreis zu entscheiden, welches der Angebote der Erzieherinnen sie wahrnehmen wollen. Jugendbibliotheken bemühen sich zunehmend Jugendliche in die Gestaltung der Bibliothek und die Anschaffung von Medien miteinzubeziehen. Diese Bestrebungen sind wichtige Schritte für eine Erziehung von mündigen und entscheidungsfähigen Menschen. All die genannten Vorzüge der außerschulischen Jugendarbeit haben zumindest eine gemeinsame Ursache. Das Diktat der Funktionalität hat hier in weiten Teilen noch nicht Einzug gehalten. Wenn ein Kind in der Bibliothek eine Hörkassette ausleiht, dann steht dahinter kein unmittelbarer Zweck. Es macht es zu seinem momenta- nen Vergnügen. Vielleicht lernt es sogar etwas beim Hören der Kassette, aber dieser Bildungsprozess wird nicht benotet oder sonst wie bewertet, sondern „nur“ angeboten. In der jüngsten Shell JugendStudie wird die gegenwärtige Jugend als die pragmatische Generation bezeichnet, die bei allem, was sie unternimmt, danach frage, „Was bringt mir das?“. Das darf im Grunde niemanden wundern, denn nach diesem Muster erzieht die Hauptbildungsinstanz unserer Gesellschaft seit Jahrzehnten. Angesichts stetig steigender Arbeitslosenzahlen kann sie nicht einmal mehr eine befriedigende Antwort auf diese Frage der Jugendlichen geben, denn ein guter Schulabschluss bedeutet noch lange nicht, dass man auch einen Arbeitsplatz bekommt. Leseförderung und Literaturvermittlung nach PISA Die Verletzung des „deutschen Selbstwertgefühls“ durch die Ergebnisse von PISA hat durchaus positive Folgen gehabt. 73 Bildung ist wieder ein Thema und eine wirkliche Schulreform schien zumindest zeitweilig möglich zu sein. Die Auswirkungen von PISA machen sich auch ganz konkret bei den Anmeldungen für die Fortbildungen im Fachbereich Literatur bemerkbar. Die langfristige Fortbildung „Kinder- und Jugendliteratur praktisch“ war seit 1995 nicht mehr so gut nachgefragt, wie jetzt. Es melden sich u.a. Fachschullehrerinnen an, in deren Arbeitsfeld das Fach Kinder- und Jugendliteratur auf einmal wieder größere Beachtung findet, aber auch Buchhändlerinnen, Bibliothekarinnen, Erzieherinnen, die die Leseförderung und Literaturvermittlung professioneller angehen möchten. Literatur ist in der außerschulischen Jugendarbeit, wenn man einmal von der Arbeit in Kinder- und Jugendbibliotheken absieht, eine Randerscheinung. In den letzten Jahren habe ich in meinem Fachbereich, z.B. über Kooperationen mit der Spielpädagogik, versucht ein Bewusstsein für die Möglichkeiten des Umgangs mit Sprache und Literatur in die unterschiedlichen Berufsfelder der Jugendarbeit hineinzutragen. Für die meisten Mitarbeiter in Jugendtreffs oder im Hort ist Literatur ein schulisch besetztes Fach. Es mischen sich eigene Ressentiments, die aus der Schulzeit stammen, mit der Idee, dass die Schule sich ja schließlich schon darum kümmere. Institutionen, die innovativ im Bereich der Leseförderung und Literaturvermittlung arbeiten, wie z.B. LesArt in Berlin, und auch unsere eigenen Bemühungen u.a. im Bereich der Erzähl-Pädagogik haben sicher schon einige Vorurteile aufweichen können. PISA – und frühere Untersuchungen – haben gezeigt, dass die Methodik, die in Schulen praktiziert wird, offenbar nicht sehr erfolgreich ist. Wie sonst ist es zu erklären, dass nur jeder vierte deutsche Fünfzehnjährige lediglich simpelste Texte versteht und 42 % aller Befragten erklären, dass sie „niemals“ zum Vergnügen etwas lesen. Diese Probleme lassen sich nicht durch eine Verlängerung der täglichen Schulzeit lösen. Es müssen Methoden geändert werden und die Verantwortlichkeit für das Leseverhalten muss von einer breiteren Basis getragen werden. Ideen, Methoden und Konzepte gibt es viele, zum Teil wurden sie von einzelnen engagierten BibliothekarInnen oder PädagogInnen in Freizeittreffs entwickelt, zum Teil entstanden sie im Umkreis der Stiftung Lesen oder des Arbeitskreises für Jugendliteratur. Ein großes Manko der institutionellen außerschulischen Lese- und Literaturförderung ist, dass sie zu sehr mit den Konkurrenzen in der Szene beschäftigt ist. Darunter leiden Bestrebungen ein Netzwerk zu bilden und ein eigenständiges Profil gegenüber der Schule auszuprägen. Außerschulische Einrichtungen könnten gerade im Bereich der Leseförderung und Literaturvermittlung komplementär zum Deutschunterricht arbeiten. Die Vermittlung von Buchstabenerkennung, Rechtschreibregeln, Grammatik, den Grundlagen einer Kulturtechnik ist die eine Seite des Umgangs mit Sprache, die andere ist die Einführung in die Rezeption und Produktion künstlerischer Aus- 74 drucksformen, die sich nur schwer mit dem Zeittakt der Schulen, der Vermittlung formalen Wissens und der Vergabe von Noten vereinbaren lassen. Diese Seite des Deutschunterrichts soll nicht aus der Schule herausgenommen werden, aber Lehrer könnten zumindest entlastet werden, wären nicht mehr auf das enge Gerüst der schulischen Rahmenbedingungen beschränkt. In der Kooperation mit außerschulischen Einrichtungen, deren Bildungserfolge sich nicht in Noten bemessen lassen und auch nicht bemessen lassen sollen, könnten Vorlesestunden, kreative Projekte zur Umsetzung literarischer Vorlagen, Sprecherziehung und Schreibwerkstätten durchgeführt werden. Wichtig hierfür wäre die gegenseitige Anerkennung der Partner als gleichwertig. So dürften Bibliotheken nicht mehr als Zulieferer für Schulen betrachtet werden. Hier sitzen z.B. die Expertinnen, die sich in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur auskennen. Ein Wissen, das mit viel Zeit und Aufwand erworben wurde und bei Leh- rern und Lehrerinnen nur höchst selten anzutreffen ist und viel zu wenig in die Bildungsprozesse von Kindern und Jugendlichen einbezogen wird. Ansätze für Kooperationen gibt es bereits, aber sie leiden unter der unterschiedlichen Wertzuschreibung der außerschulischen und schulischen Bildungsarbeit. Wenn die Bibliothek in die Schule eingeladen wird, ist das eine kleine Abwechslung im Schulalltag, aber keine kontinuierliche und planvolle Kooperation. (Die Schulbibliotheken, die in ca. 20% der Schulen zu finden sind, lasse ich hier einmal außen vor.) Dabei geht es nicht nur um die gegenseitige Anerkennung, sondern auch um die Ansiedlung der jeweiligen Stellen bei den Geldgebern und um das gesellschaftliche Ranking. Auch für Vorlesestunden und Sprachspiele müssen Profis engagiert werden, die es bereits in der außerschulischen Jugendbildung gibt, und ihr Bildungsauftrag muss deutlich benannt sein. Keine Chance für Kevin? Ich möchte zum Abschluss noch einmal auf den achtjährigen Jungen Kevin zurückkommen. Hat er wirklich keine Chance auf ein glückliches Leben? Könnte ihm eine sinnvolle Kooperation von Schule und außerschulischer Jugendarbeit vielleicht helfen? Die Erschütterungen seines Vertrauens, die er bisher erlebt hat, kann niemand ungeschehen machen. Aber ich behaupte, dass es Ansatzpunkte gibt, die ihm in einem neu strukturierten Bildungssystem auch neue Chancen einräumen würden. Ich will das nur an dem Bereich aufzeigen, in dem ich mich wirklich auskenne: in der Vermittlung von Literatur. Kevin hat die ersten beiden Schuljahre mit einer Lehrerin verbracht, die die Technik des Vorlesens gut beherrschte und den Kindern jeden Tag aus einem Kinderbuch vorgelesen hat. Diese Lese-Zeit war eine Konzentrationsphase, die die Kinder als Belohnung empfunden haben. Auch Kevin hat bei seiner Lehrerin gelernt zuzuhören und sich einer Geschichte zu über- 75 lassen. Der neue Lehrer liest zwar auch vor, aber er liest zu leise und unsicher in der Betonung. Außerdem mag Kevin ihn nicht, vor allem, weil er ihm schlechte Noten gibt. Von sich aus greift Kevin nicht zu einem Buch. Seine Erzieher im Heim sind zwar freundlich, aber sie lesen ihm nicht vor. Würde regelmäßig im Heim als außerschulisches freiwilliges „Bildungsangebot“ ein Vorleser eine halbe Stunde lang abends vorlesen, könnten vielleicht die positiven Ansätze, die die Lehrerin gemacht hat, ausgebaut werden. Darüber hinaus sollte ihm die Chance gegeben werden in anderen LiteraturProjekten die helfende Kraft von Fiktion und Sprachfähigkeit zu erleben. Würden Schule, Heim und z.B. CVJM hierbei kooperieren, würde auch die Arbeit auf mehrere Schultern verteilt sein. Natürlich würde Kevin dadurch noch nicht zu einem glücklichen Menschen, aber zumindest in einem Bereich würde sein Bildungswille nicht durch formale Anforderungen erstickt werden. Literatur Ina Bielenberg: Im Doppel- pack zum Bildungserfolg. In: Kultur leben lernen. BKJ, Remscheid 2002, S. 275ff. Ulrich Greiner: Die ZeitSchülerbibliothek. Weshalb wir einen literarischen Kanon brauchen. In: Die Zeit, Nr. 42, S. 45f. Klaus Ring: Der BildungsTurm ist weiterhin schief. In: Forum Lesen, Dezember 2002, S. 2.