Fachbereich Literatur Stephanie Jentgens Kevin und Ulrich Greiner

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Fachbereich Literatur Stephanie Jentgens Kevin und Ulrich Greiner
Fachbereich Literatur
Stephanie Jentgens
Kevin und Ulrich Greiner
Bildung nach PISA
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Kevin ist acht Jahre alt. Er geht
in das dritte Schuljahr. Seine
Mutter kam vor mehr als einem
Jahr ins Krankenhaus. Seitdem
lebt Kevin im Heim. Zu seinem
Vater hat er keinen Kontakt. Bis
vor Kurzem ging Kevin gern in
die Schule, denn er mochte
seine Lehrerin, aber vor zwei
Monaten ist sie in Erziehungsurlaub gegangen und Kevin hat
einen neuen Lehrer bekommen. Den findet er „scheiße“
und „ungerecht“. Im Diktat hat
Kevin 28 Fehler gemacht und
dafür eine Sechs bekommen.
Zu mir sagt er: „Ej, ich bin froh,
ej, wenn ich von der Schule
fliege.“ Die Erzieher im Heim
sind nett zu Kevin, er findet sie
„okay“. Im Heim hat er Kontakt
zu Jugendlichen, die bereits
weitaus drastischere Schicksale
hinter sich haben als er. Er lernt
ihre Sprache und ihre scheinbare Coolness.
Kevin spricht einen Slang, der
ihn als „ungebildet“ ausweist.
Dabei hat er in den ersten beiden Jahren seiner Schulzeit
enorm viel gelernt. Allerdings
macht er noch viele Fehler. Seit
es Noten gibt, ist er immer häufiger frustriert. Er geht mit einer
angestauten Wut durch die
Welt, die immer mal wieder in
aggressiven Aktionen aus ihm
herausbricht. Sein junger und
noch unerfahrener Lehrer reagiert mit Druck auf Kevin. Vertrauen zu einer Person aufzubauen, fällt Kevin sehr schwer.
Seine Handlungen gegenüber
den Mitschülern sind völlig
inkosistent.
Kevin ist ein deutsches Kind
und er gehört zu den sogenannten „Benachteiligten“ unserer Gesellschaft. Sollte man
eine Prognose für sein Leben
formulieren, so ist schon jetzt
abzusehen, dass er in unserem
Bildungssystem und in unserer
Arbeitswelt zu den „Versagern“
gehören wird. Auch der Aufbau
persönlicher Bindungen wird
ihm schwer fallen. Seine Aussichten auf ein glückliches Leben sind – geht man von der
jetzigen Situation aus – gering.
Die Ursachen sind sicher vielfältig. Man kann sie aber unterscheiden in ungünstige Zufälle
und systemische Faktoren. Auf
die ungünstigen Zufälle hat
man relativ wenig Einfluss, wie
z.B. den Lehrerwechsel. Systemische Faktoren dagegen lassen sich ändern, wie z.B. die
Notengebung an Grundschulen
und das Leistungs- und Selektionsmuster des institutionellen
Bildungssystems.
Während ich über Kevin
schreibe, fällt mein Blick auf
einen Artikel von Ulrich Greiner vom 10. Oktober 2002
(erschienen in Die Zeit), den
ich in meiner Materialsammlung auf dem Schreibtisch liegen habe. Die Überschrift lautet „Die Zeit-Schülerbibliothek.
Weshalb wir einen literarischen
Kanon brauchen.“ In sehr überzeugenden Worten mahnt
Greiner eine Bewegung gegen
das Vergessen unseres kulturellen, besonders des literarischen
Erbes an. Das ist löblich. Auch
seine Position zu den Folgen
von PISA kann ich gut nachvollziehen: „Die wirkliche Katastrophe der gegenwärtigen,
durch die PISA-Studie neu entfachten Bildungsdebatte liegt
darin, dass sich alle Energie auf
die Steigerung von Leistung
und Effizienz richtet“. Wenn
man bedenkt, dass Schülerinnen und Schüler jetzt im
Deutschunterricht den Messkategorien von PISA folgend daraufhin trainiert werden, einen
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neuerlichen Test besser zu bewältigen, kann einem in der Tat
nur angst und bange um die
Inhalte werden.
Ich schweife weiter und mein
Blick bleibt an der Liste der 50
ausgewählen Titel hängen, die
von einer Jury für eine Schülerbibliothek als obligatorisch ausgesucht wurden. Muss ich mich
schämen? Einige der Titel sind
mir selbst im Germanistikstudium nicht begegnet. Kennen Sie
Anna Maria Jokls „Die Perlmutterfarbe“? Aber ich werde getröstet, denn auch die Juroren
bekennen auf der folgenden
Seite, dass sie noch nicht alle
Titel gelesen haben. Wie konnten sie dann über diese abstimmen? Das ist nur eine Frage
am Rande. Was mich wirklich
erschüttert, ist die Diskrepanz
zwischen dem, was ein Kind
wie Kevin erlebt, welche Bildungschancen ihm geboten
werden und dem Versuch einen literarischen Kanon für
Schüler und Schülerinnen zu
formulieren, in dem nur sechs
jugendliterarische
Schriften
aufgenommen sind neben Lichtenbergs „Aphorismen“ und
Goethes „Faust“. Diese Schere
klafft sehr weit auseinander.
Gibt es zwischen Kevin und
den Kindern, die als zukünftige
Zielgruppe des Zeit-Kanons
auserkoren sind, überhaupt
noch Berührungspunkte? Vielleicht begegnen sie sich noch in
der Grundschule, aber spätestens ab der vierten Klasse trennen sich ihre Wege im Bildungssystem.
Ulrich Greiner formuliert in
seinem Artikel, für welchen
Bildungsbegriff
er
eintritt:
„Wenn aber der Begriff Bildung
überhaupt einen Sinn hat, dann
verknüpft er sich mit der Idee,
den ganzen Menschen in all
seinen Fähigkeiten auszubilden; und dazu gehört zweifellos die Fähigkeit, Schmerz ebenso zu empfinden wie
Glück; die Fähigkeit, zwischen
schön und hässlich, zwischen
gut und böse unterscheiden zu
können; schließlich die Fähigkeit, ein gutes, ein richtiges, ein
veranwortliches Leben zu führen.“ Diese humanistische Bildungsdefinition liegt wesentlich
auch dem zu Grunde, was die
kulturelle Jugendbildung anstrebt. Ich denke auch, dass
viele Werke, die Greiner und
seine KollegInnen in ihrer Liste
aufgeführt haben, dazu beitragen können, all diese Fähigkeiten eines gebildeten Menschen
zu erwerben. Aber das Ansinnen einer Kanonbildung kann
hier nur kontraproduktiv wirken. Ein Kanon macht das Lesen zum Leistungssport und
nur, wer die fünfzigste LektüreHürde noch nimmt, gehört zur
Bildungselite. Der Gedanke
einer „Steigerung von Leistung“, den Greiner in seinem
Artikel so deutlich ablehnt,
schleicht sich über den Kanon
eben doch ein. Im wesentlichen taugen die Titel, die Die
Zeit aufführt, für eine Schülerbibliothek der Oberstufe. Sie in
einen Kanon zu pressen, tut
den literarischen Werken im
Einzelnen im Grunde Unrecht.
Man könnte einige von ihnen
einfach so zum Vergnügen lesen.
Ich springe wieder auf die andere Seite der BildungsSchlucht: zu Kevin. Er ist kein
Einzelfall. Spätestens seit PISA
ist deutlich geworden, dass
unser Schulsystem gerade die
schwachen Schüler fallen lässt.
Die OECD-Studie „Bildung auf
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einen Blick“ bestätigt dieses
Bild: In Deutschland werden
im Vergleich der „entwickelten“ Länder die meisten Schulversager produziert. Der Ausweg, den die Politik sucht,
heißt „Ganztagsschule“. Durch
sie sollen die mangelnde Aufsicht und Förderung der Kinder
durch die Eltern ausgeglichen
werden. Ich stelle mir Kevin
vor, wie er gezwungen wird,
noch mehr Stunden in der verhassten Schule zu bleiben. Ich
möchte dann nicht in seiner
Nähe sein. Die wenige Zeit, die
ihm bleibt, um durch unser
Stadtviertel zu stromern, die
alte Bahntrasse zu erkunden
oder auf dem Fußballplatz zu
toben, würde ihm genommen
werden. Dieses Problem betrifft
im Übrigen noch viel mehr die
Kinder, die bereits jetzt mit
einem gut gefüllten Terminkalender ausgestattet sind. Natürlich könnten auch in der Schule
gute Angebote gemacht werden, aber das löst das Problem
nicht, dass die Ganztagsschule
den Kindern einen wesentlichen Teil ihrer Freizeit und
damit ihrer Freiheit rauben
würde. Im Moment kann Kevin
sich noch entscheiden, ob er an
einem
Nachmittags-Angebot
des CVJM teilnehmen möchte
oder sich den Abenteuern der
Straße überlässt, die sicher viele
positive Erfahrungen bergen.
Die Ganztagsschule würde ihn
um diese Entscheidungsmöglichkeit berauben.
Vorzüge der außerschulischen Jugendbildung
Freiwilligkeit ist das A und O
der außerschulischen Jugendbildung. Hierin liegt ein wesentlicher Unterschied zur
Schule und damit auch in der
Wahrnehmung der Angebote.
Schule ist – eine meist lästige –
Pflicht, Angebote der Bibliothek, um nur eine der vielen
Einrichtungen der außerschulischen Jugendbildung zu nennen, sind dagegen kein Muss.
Kinder und Jugendliche lernen
in der außerschulischen Jugendbildung selbst zu entscheiden, wie sie ihre Zeit verbringen wollen. Natürlich gibt es
auch außerschulische Angebote, die von Kindern als Pflicht
empfunden werden und zwar
dann, wie z.B. die Hortunterbringung, manchmal auch
schon der Kindergarten, wenn
ihnen nicht die Wahl gelassen
wird. Diesem Problem ließe
sich z.B. durch eine flexiblere
Gestaltung von Arbeitszeiten
für Eltern begegnen. Das ist
aber eine andere Diskussion.
Wenn der Anspruch der Freiwilligkeit erfüllt wird, dann
können auch Lernprozesse
ausgelöst werden, die die
Selbsttätigkeit der Kinder fordern und fördern.
An zweiter Stelle ist sicher der
fehlende Selektionsdruck als
Vorzug anzuführen. In der Bibliothek oder im Jugendzentrum
gibt es keine Noten, auch die
meisten
Jugendmusikschulen
arbeiten ohne dieses Druckmittel. Gerade in der notenfreien
Zone liegt ein ganz großer Vorteil der außerschulischen Jugendarbeit, denn hier, manchmal nur hier, haben Kinder die
Chance zu lernen, dass sich der
Wert eines Menschen nicht
über seine Noten oder sein
Einkommen definiert und dass
man auch Fehler machen darf.
Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in der außerschulischen
Jugendarbeit müssen kreativ in
der Wahl ihrer pädagogischen
Mittel sein, da ihnen kaum
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formale Möglichkeiten des Lobs
oder der Sanktion zur Verfügung stehen. Hier gibt es ein
Methodenrepertoire, das bei
einer engeren Kooperation von
außerschulischen mit schulischen Pädagogen sich positiv
auf die Schule auswirken könnte.
Ein weiterer wesentlicher Vorzug der außerschulischen Jugendbildung ist der freiere
Umgang mit Zeit. Während
meines Praxisprojektes, das ich
aufgrund der guten medialen
Ausstattung in einer Gesamtschule durchgeführt habe,
wurde mir und den beteiligten
Jugendlichen dieser Aspekt
schmerzhaft bewusst. Der Dreiviertelstunden-Takt von Schulen steht der Kreativität und
Intensität von Bildungsprozessen sehr im Wege. Nichts haben die Jugendlichen so sehr
beklagt, wie den durch die
kurzen Einheiten künstlich gedehnten
Entstehungsprozess
der Produkte. In außerschulischen Angeboten sind Kinder
und Jugendliche natürlich nicht
von Zeitgrenzen befreit, aber
sie bewegen sich zumindest
nicht in einem so eng gefassten
Zeitraster.
Partizipation ist ein weiteres
zentrales Stichwort, durch das
die Arbeit in den meisten Einrichtungen der außerschulischen Jugendarbeit gekennzeichnet ist. Schon im Kindergarten lernen die Kinder im
täglichen Morgenkreis zu entscheiden, welches der Angebote der Erzieherinnen sie wahrnehmen wollen. Jugendbibliotheken bemühen sich zunehmend Jugendliche in die Gestaltung der Bibliothek und die
Anschaffung von Medien miteinzubeziehen. Diese Bestrebungen sind wichtige Schritte
für eine Erziehung von mündigen und entscheidungsfähigen
Menschen.
All die genannten Vorzüge der
außerschulischen Jugendarbeit
haben zumindest eine gemeinsame Ursache. Das Diktat der
Funktionalität hat hier in weiten Teilen noch nicht Einzug
gehalten. Wenn ein Kind in der
Bibliothek eine Hörkassette
ausleiht, dann steht dahinter
kein unmittelbarer Zweck. Es
macht es zu seinem momenta-
nen Vergnügen. Vielleicht lernt
es sogar etwas beim Hören der
Kassette, aber dieser Bildungsprozess wird nicht benotet oder
sonst wie bewertet, sondern
„nur“ angeboten.
In der jüngsten Shell JugendStudie wird die gegenwärtige
Jugend als die pragmatische
Generation bezeichnet, die bei
allem, was sie unternimmt,
danach frage, „Was bringt mir
das?“. Das darf im Grunde
niemanden wundern, denn
nach diesem Muster erzieht die
Hauptbildungsinstanz unserer
Gesellschaft seit Jahrzehnten.
Angesichts stetig steigender
Arbeitslosenzahlen kann sie
nicht einmal mehr eine befriedigende Antwort auf diese Frage der Jugendlichen geben,
denn ein guter Schulabschluss
bedeutet noch lange nicht, dass
man auch einen Arbeitsplatz
bekommt.
Leseförderung und Literaturvermittlung nach PISA
Die Verletzung des „deutschen
Selbstwertgefühls“ durch die
Ergebnisse von PISA hat durchaus positive Folgen gehabt.
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Bildung ist wieder ein Thema
und eine wirkliche Schulreform
schien zumindest zeitweilig
möglich zu sein. Die Auswirkungen von PISA machen sich
auch ganz konkret bei den
Anmeldungen für die Fortbildungen im Fachbereich Literatur bemerkbar. Die langfristige
Fortbildung „Kinder- und Jugendliteratur praktisch“ war seit
1995 nicht mehr so gut nachgefragt, wie jetzt. Es melden sich
u.a. Fachschullehrerinnen an,
in deren Arbeitsfeld das Fach
Kinder- und Jugendliteratur auf
einmal wieder größere Beachtung findet, aber auch Buchhändlerinnen, Bibliothekarinnen, Erzieherinnen, die die
Leseförderung und Literaturvermittlung professioneller angehen möchten.
Literatur ist in der außerschulischen Jugendarbeit, wenn man
einmal von der Arbeit in Kinder- und Jugendbibliotheken
absieht, eine Randerscheinung.
In den letzten Jahren habe ich
in meinem Fachbereich, z.B.
über Kooperationen mit der
Spielpädagogik, versucht ein
Bewusstsein für die Möglichkeiten des Umgangs mit Sprache
und Literatur in die unterschiedlichen Berufsfelder der
Jugendarbeit
hineinzutragen.
Für die meisten Mitarbeiter in
Jugendtreffs oder im Hort ist
Literatur ein schulisch besetztes
Fach. Es mischen sich eigene
Ressentiments, die aus der
Schulzeit stammen, mit der
Idee, dass die Schule sich ja
schließlich schon darum kümmere. Institutionen, die innovativ im Bereich der Leseförderung und Literaturvermittlung
arbeiten, wie z.B. LesArt in
Berlin, und auch unsere eigenen Bemühungen u.a. im Bereich der Erzähl-Pädagogik haben sicher schon einige Vorurteile aufweichen können. PISA
– und frühere Untersuchungen
– haben gezeigt, dass die Methodik, die in Schulen praktiziert wird, offenbar nicht sehr
erfolgreich ist. Wie sonst ist es
zu erklären, dass nur jeder vierte deutsche Fünfzehnjährige
lediglich simpelste Texte versteht und 42 % aller Befragten
erklären, dass sie „niemals“
zum Vergnügen etwas lesen.
Diese Probleme lassen sich
nicht durch eine Verlängerung
der täglichen Schulzeit lösen. Es
müssen Methoden geändert
werden und die Verantwortlichkeit für das Leseverhalten
muss von einer breiteren Basis
getragen werden. Ideen, Methoden und Konzepte gibt es
viele, zum Teil wurden sie von
einzelnen engagierten BibliothekarInnen oder PädagogInnen in Freizeittreffs entwickelt,
zum Teil entstanden sie im
Umkreis der Stiftung Lesen
oder des Arbeitskreises für Jugendliteratur. Ein großes Manko
der institutionellen außerschulischen Lese- und Literaturförderung ist, dass sie zu sehr mit
den Konkurrenzen in der Szene
beschäftigt ist. Darunter leiden
Bestrebungen ein Netzwerk zu
bilden und ein eigenständiges
Profil gegenüber der Schule
auszuprägen.
Außerschulische Einrichtungen
könnten gerade im Bereich der
Leseförderung und Literaturvermittlung komplementär zum
Deutschunterricht arbeiten. Die
Vermittlung von Buchstabenerkennung, Rechtschreibregeln,
Grammatik, den Grundlagen
einer Kulturtechnik ist die eine
Seite des Umgangs mit Sprache, die andere ist die Einführung in die Rezeption und Produktion künstlerischer Aus-
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drucksformen, die sich nur
schwer mit dem Zeittakt der
Schulen, der Vermittlung formalen Wissens und der Vergabe von Noten vereinbaren lassen.
Diese Seite des Deutschunterrichts soll nicht aus der Schule
herausgenommen werden, aber
Lehrer könnten zumindest entlastet werden, wären nicht
mehr auf das enge Gerüst der
schulischen Rahmenbedingungen beschränkt. In der Kooperation mit außerschulischen
Einrichtungen, deren Bildungserfolge sich nicht in Noten bemessen lassen und auch nicht
bemessen lassen sollen, könnten Vorlesestunden, kreative
Projekte zur Umsetzung literarischer Vorlagen, Sprecherziehung und Schreibwerkstätten
durchgeführt werden. Wichtig
hierfür wäre die gegenseitige
Anerkennung der Partner als
gleichwertig. So dürften Bibliotheken nicht mehr als Zulieferer für Schulen betrachtet
werden. Hier sitzen z.B. die
Expertinnen, die sich in der
aktuellen Kinder- und Jugendliteratur auskennen. Ein Wissen,
das mit viel Zeit und Aufwand
erworben wurde und bei Leh-
rern und Lehrerinnen nur
höchst selten anzutreffen ist
und viel zu wenig in die Bildungsprozesse von Kindern
und Jugendlichen einbezogen
wird. Ansätze für Kooperationen gibt es bereits, aber sie
leiden unter der unterschiedlichen Wertzuschreibung der
außerschulischen und schulischen Bildungsarbeit. Wenn die
Bibliothek in die Schule eingeladen wird, ist das eine kleine
Abwechslung im Schulalltag,
aber keine kontinuierliche und
planvolle Kooperation. (Die
Schulbibliotheken, die in ca.
20% der Schulen zu finden
sind, lasse ich hier einmal außen vor.) Dabei geht es nicht
nur um die gegenseitige Anerkennung, sondern auch um die
Ansiedlung der jeweiligen Stellen bei den Geldgebern und
um das gesellschaftliche Ranking.
Auch für Vorlesestunden und
Sprachspiele müssen Profis
engagiert werden, die es bereits
in der außerschulischen Jugendbildung gibt, und ihr Bildungsauftrag muss deutlich
benannt sein.
Keine Chance für Kevin?
Ich möchte zum Abschluss
noch einmal auf den achtjährigen Jungen Kevin zurückkommen. Hat er wirklich keine
Chance auf ein glückliches Leben? Könnte ihm eine sinnvolle
Kooperation von Schule und
außerschulischer Jugendarbeit
vielleicht helfen? Die Erschütterungen seines Vertrauens, die
er bisher erlebt hat, kann niemand ungeschehen machen.
Aber ich behaupte, dass es
Ansatzpunkte gibt, die ihm in
einem neu strukturierten Bildungssystem auch neue Chancen einräumen würden. Ich will
das nur an dem Bereich aufzeigen, in dem ich mich wirklich
auskenne: in der Vermittlung
von Literatur. Kevin hat die
ersten beiden Schuljahre mit
einer Lehrerin verbracht, die
die Technik des Vorlesens gut
beherrschte und den Kindern
jeden Tag aus einem Kinderbuch vorgelesen hat. Diese
Lese-Zeit war eine Konzentrationsphase, die die Kinder als
Belohnung empfunden haben.
Auch Kevin hat bei seiner Lehrerin gelernt zuzuhören und
sich einer Geschichte zu über-
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lassen. Der neue Lehrer liest
zwar auch vor, aber er liest zu
leise und unsicher in der Betonung. Außerdem mag Kevin
ihn nicht, vor allem, weil er
ihm schlechte Noten gibt. Von
sich aus greift Kevin nicht zu
einem Buch. Seine Erzieher im
Heim sind zwar freundlich,
aber sie lesen ihm nicht vor.
Würde regelmäßig im Heim als
außerschulisches
freiwilliges
„Bildungsangebot“ ein Vorleser
eine halbe Stunde lang abends
vorlesen, könnten vielleicht die
positiven Ansätze, die die Lehrerin gemacht hat, ausgebaut
werden. Darüber hinaus sollte
ihm die Chance gegeben werden in anderen LiteraturProjekten die helfende Kraft
von Fiktion und Sprachfähigkeit
zu erleben. Würden Schule,
Heim und z.B. CVJM hierbei
kooperieren, würde auch die
Arbeit auf mehrere Schultern
verteilt sein.
Natürlich würde Kevin dadurch
noch nicht zu einem glücklichen Menschen, aber zumindest in einem Bereich würde
sein Bildungswille nicht durch
formale Anforderungen erstickt
werden.
Literatur



Ina Bielenberg: Im Doppel-
pack zum Bildungserfolg.
In: Kultur leben lernen.
BKJ, Remscheid 2002,
S. 275ff.
Ulrich Greiner: Die ZeitSchülerbibliothek. Weshalb
wir einen literarischen Kanon brauchen. In: Die Zeit,
Nr. 42, S. 45f.
Klaus Ring: Der BildungsTurm ist weiterhin schief.
In: Forum Lesen, Dezember 2002, S. 2.