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Lifestyle Chrom und geschwungener Stahl Dem Alltagsstress entfliehen – nicht Leistung oder Körperertüchtigung stehen beim «Easycruising» im Vordergrund. Kommt dazu: Auf einem Cruiserbike sieht man einfach cool aus. Ein Blick auf dessen Geschichte und die neue Schweizer Szene. Bruno Angeli (Text), Marcel Kaufmann (Fotos) Das Lifestyle-Gefährt für Gemütliche Cruiserbikes zu fahren, übt auf viele Menschen eine ganz eigene Faszination aus. Menschen, die sonst kaum auf ein Velo steigen, werden hier zu Pedal-Fans. Zum Beispiel Fabian Wohlgemuth aus Zürich, der sich keineswegs als typischen Velofahrer bezeichnen würde. Gäbe es keine Cruiser, hätte er als junger Erwachsener nicht mehr zu einem muskelbetriebenen Fahrzeug zurückgefunden. Das liege daran, «dass man es hier mit Gemütlichkeit zu tun hat. Cruisen läuft der heutigen gesellschaftlichen Realität entgegen. Wenn ich mit meinem 3G-Cruiser unterwegs bin, fühle ich mich frei und losgelöst von den Alltagsproblemen. Ich nehme die Umwelt wahr, und Zeit spielt keine Rolle mehr.» Begonnen hat alles mit Schwinn. Die 1895 in Chicago gegründete Fahrradfirma gilt als Pionier auf dem Gebiet der Cruiserbikes. Ob der Begriff «Imagetransfer» bereits damals gebraucht wurde oder nicht: Die grösste und bekannteste Fahrradschmiede, als die sie 1920 galt, liess sich für ihre Schöpfungen von der Automobil- und Motorradindustrie sowie vom Art-déco-Stil inspirieren. Design war dabei wichtiger als etwa Leichtlauf oder der sportliche Aspekt des Radfahrens. Radfahren galt für die Menschen besonders in den Fünfzigerjahren als eine «Übergangsphase», vom Fussgänger zum Homo automobilensis. Wer es sich leisten konnte, trat nicht länger freiwillig in die Pedale, sondern kaufte sich ein Auto. Eines der interessantesten Fahrräder war das 1933 gebaute Schwinn «Motorbike», das – obwohl es der Name suggeriert – gar kein Motorrad war. Vielmehr stattete Schwinn dieses Velo mit einer Tank-Attrappe aus. 1954 erschien dann der «Phantom Cruiser», der eigentliche Klassiker, der als grosses Vorbild für die heutigen Modelle gilt. Im Zuge einer ersten Retro-Welle lieferte Schwinn in den Neunzigerjahren als erstes grosses Unternehmen Cruiserbikes in die Schweiz. Später kamen die Marken Electra und auch Felt auf den Schweizer Autor Bild (BellGothic Black, 7pt, lw:0, zs:8pt, Flattersatz) Retrostyle von gestern für die Jugend von heute: Cruiser lassen Hektik und Zeit vergessen. Pamela Barmettler aus Luzern fährt mit ihrem Electra-Cruiser – Modell Gypsy – täglich zur Arbeit. Für sie bedeutet Cruiserfahren lässiges, gemütliches Velofahren. Die junge Frau hat Freude an ihrem Velo: «Das farbige Design macht mehr Spass und Freude als die langweiligen Citybikes, die man sonst so sieht.» Und wie fährt es sich? Barmettler: «Toll, einfach super bequem. Halt das klassische Cruiser-Gefühl.» 12 | 4/2007 velojournal Markt. Heute bieten viele arrivierte Velofirmen ihre eigenen Cruisermodelle an. Dazu fertigen kleine spezialisierte Custom-Bike-Schmieden Unikate an. Da findet man etwa Cruiser, die aussehen wie eine Harley-Davidson, oder Chopperbikes, die in Form und Design den gleichnamigen Motorrädern ähneln. Der Zürcher Fabian Wohlgemuth fährt sowohl Cruiser- als auch Chopperbikes. «Für kürzere Strecken und im Alltag benutze ich meistens einen Beachcruiser. Wenn am Wochenende schönes Wetter herrscht, fahre ich aber mit Vorliebe meinen Chopper aus.» Der Chopper erregt noch mehr Aufmerksamkeit. Wohlgemuth weiss sich aber zu helfen: «Geschützt mit einer Sonnenbrille, kann man die neugieren Blicke abblitzen lassen. Die Leute sehen dich, du selber musst die Leute aber nicht unbedingt sehen.» Cruiser und Chopper im Markt Die ungewohnten Modelle haben sich in der Schweiz etablieren können. Der Handel setzt neben den üblichen Citybikes mittlerweile auch fleissig Beachcruiser ab. «Technisch gesehen sind Cruiserbikes eher unvorteilhaft ausgerüstet, vom Design her stellen sie jedoch Meisterwerke dar», schwärmt Fritz Lang, Marketingfachmann beim Nirve-Importeur Intercycle. Einige Velohändler bleiben diesen etwas verrückt anmutenden Rädern gegenüber skeptisch. Felix Erny von Electra-Importeur Verdeno Sport stellt aber fest, dass die Skepsis allmählich schwindet: «Die Velohändler haben bemerkt, dass die Qualität stimmt, also nicht viel Arbeitszeit beim Einstellen von technischen Komponenten verloren geht, und dass das Preis-Leistungs-Verhältnis attraktiv ist. Die Händler wissen, dass vor allem Enthusiasmus und nicht technisches Know-how den Verkauf positiv beeinflusst.» Im Jahre 2000 brachte Ernys Firma die ElectraCruiser in die Schweiz. «Als damals knapp 150 Velos verkauft wurden, rechnete wohl niemand damit, dass es sieben Jahre später gegen 1000 sein würden», so Erny zum Erfolg dieser Räder. Er ist zufrieden: «Die lässigen Cruiser finden jedes Jahr mehr Anhänger. Grund dafür sind sicherlich die bequeme Sitzposition und das farbenfrohe Design, aber auch der allgemeine Beach-Trend.» Eine kleine Fahrrad-Revolution Cruiser seien ein Lifestyle-Produkt geworden, findet auch Peter Züst von der Firma Amsler, der Felt-Importeurin. «Sie werden auch nicht vom Markt verschwinden», ist er überzeugt. «Mittlerweile bieten diverse Anbieter irgendeinen Cruiser oder zumindest ein Cruiser-ähnliches Fahrrad an. Damit teilt sich der sehr kleine Markt automatisch weiter auf.» Für Fritz Lang von Intercycle ist der Boom bereits gelaufen. «Mit Verzögerung traf er bei den Händlern Ende 2004 und bei den Endkonsumenten ab 2005 ein. Als die ersten Modelle 13 | 4/2007 velojournal Moderner Klassiker: Beachcruiser vor Strandidylle. bei den Fachhändlern und Events zur Schau gestellt wurden, herrschte ein reges Interesse. Diese extravagant gebauten und toll designten Bikes faszinierten. Dieser ‹Wow-Effekt› nimmt langsam ab. Obwohl ein schöner Cruiser immer noch ein Eyecatcher ist.» Neben den etablierten Importeuren versucht auch die junge Firma citycruiser.ch im Markt mitzumischen. Mit dabei ist Fabian Wohlgemuth. Er importiert zusammen mit seinem Geschäftspartner Frank Schaffner Cruiser und Chopper von 3G in die Schweiz. Er hofft, dass die Cruiser- und Chopper-Welle noch lange anhält und der Anfang einer kleinen Fahrrad-Revolution ist. Warum sich dieser Lifestyle nur langsam durchsetzt, ist ihm ein Rätsel. «In den meisten Ländern mit ausgeprägten Strand-Regionen sind solche Cruiser gang und gäbe. Vor allem in Amerika und Australien ist es schon fast ein Muss, mit seinem Beachcruiser und dem Surfbrett unter dem Arm am Strand zu erscheinen.» Wer sein Rad liebt, der liebt es verziert Lifestyle und Design gehören zusammen. Die Hersteller bewerben ihre Cruiser oft in einem farbenprächtigen, grafisch opulent gestalteten Umfeld. Der Phantasie scheinen keine Grenzen gesetzt zu sein. Doch die Käufer unterscheiden sich dann in der Realität meist vom angepeilten Zielpublikum. Den typischen Cruiser-Fahrer gibt es nicht, und er ist auch kein Homeboy, wie ihn die Werbung kreiert. Ein Cruiser oder Chopper muss gut aussehen. Dazu wird das Velo von manchem Fan mächtig «aufgepimpt.» Das beginnt zum Beispiel bei der Ventilkappe mit Totenkopfsujet oder einer Hupe statt der Klingel. Die Lenkerenden werden mit Lederbändern verziert, dazu kommt ein spezieller Rückspiegel. Erst jetzt wird ausgefahren. In Zürich treffen sich an manchen Wochenenden jeweils zwischen zehn und zwanzig Leute zu gemeinsamen Ausfahrten. Ähnliche Gruppen gibt es auch in anderen Städten. Es scheint, als sei die CruiserBewegung in unserem Land angekommen. n Technik Technik? Nebensache! Am Cruiser spielt die Technik eine Nebenrolle. Das ist nicht weiter schlimm, solange man sich ans Bummeltempo hält. velojournal rollte mit sechs Cruisern über die Promenade und stellte dabei grosse Qualitätsunterschiede fest. Noch nie haben Velos bei Testfahrten so viele lange Blicke auf sich gezogen. Die meisten erntete das Nirve «Cannibal» mit seiner Riesengabel und dem 80 Millimeter dicken Hinterreifen. Doch auch dem Modell von Elektra mit seinen blumenbemalten Schutzblechen und den roten Fransen am Sattel wurde nachgeschaut. Am ganz in Hellgelb gehaltenen GT-Kreuzer protzt ein mit Manchester-Stoff bezogener Sattel. Der sieht nicht nur aus wie ein Fauteuil, man sitzt auch so drauf. Ebenfalls ein Bijou ist das farblich bis ins Detail abgestimmte «Flying Machine» von Felt mit Federgabel und grossem Nummernschild. Bei allen Cruisern beeindruckt die Liebe zum Detail, die in speziell hergestellten Reifen, den Felgen in Rahmenfarbe, farbigen Speichen und dem verzierten Sattel steckt. Auffallen geht vor Technik Die wichtigste Funktion der Cruiser ist Auffallen, nicht die Technik. Deshalb wird man mit den üblichen Beurteilungskriterien den Cruisern nicht gerecht. Denen hätten die sechs Modelle aber auch kaum standgehalten. So viel Velotechnik aus den untersten Schubladen hatten wir noch nie in einem velojournal-Test: Es dominieren einfache Ein- bis Dreigang-Antriebe und schlecht gedichtete BMX-Tretlager, welche die Pedale schon nach dem ersten Sturz eiern lässt. Das Fahrzeuggewicht liegt meist jenseits der 20-Kilo-Marke. Schrauben und Befestigungsteile sind schlecht vor Rost geschützt und vermiesen den Fahrzeugen nach dem ersten Winter die grosse Show. Dazu gesellen sich zwar bequeme, aber unergonomische Sitzpositionen und schwächliche Rücktritt- und Trommelbremsen wie an einem alten Dreigänger. Es scheint, als seien die Fortschritte der Velotechnik spurlos an den Cruisern vorbeigegangen. Das höchste technische Niveau erreichten der FeltCruiser und das Modell von Kona: Bei Felt finden sich immerhin ein Nabendynamo und eine 7Gang-Nabenschaltung. Kona setzt bei Tretlager, Steuersatz und Vorderradbremse auf zeitgemässe Technik und erreicht damit ein akzeptables Gewicht. Insgesamt gilt aber: Nie schnell fahren. Den Fahrzeugen wäre eine etwas bessere Velotechnik zu gönnen, damit die Freude am Cruisen auch nach dem ersten Sprint zum Bahnhof und der ersten Winterfahrt erhalten bleibt. Nur bedingt alltagstauglich Im Grunde sind Cruiser aber gar keine Velos, sondern übergewichtige Chihuahuas mit Pedalen: Gut zum Ausführen auf der Promenade. Man ist froh, wenn es nicht zu weit, zu schnell und zu steil wird. Bei schlechtem Wetter lässt man sie am besten in der Stube. Doch eines muss man ihnen lassen: Mit ihrem coolen, extravaganten Style abseits jeglicher Biederkeit bringen sie jene Boys und Girls aufs Velo zurück, die sich sonst wohl nie auf einen Fahrradsattel geschwungen hätten. 1| Nirve «Cannibal 3-speed» Das Nirve «Cannibal» gehört mit seiner langen Gabel zu den Choppern. Die Gabel sorgt für eigentümliches Lenkverhalten. Der lange Rahmen erfordert eine ungewöhnliche Sitzposition, dafür hat man die Show vor dem Glacestand auf sicher. Die 3-Gang-Nabenschaltung hilft bei kleinen Steigungen. Die Verarbeitung ist okay, das hohe Gewicht trägt der stolze Besitzer bestimmt mit Würde. Zahlen und Fakten: Stahlrahmen, extralange ScooperGabel, Trommelbremse vorne, Rücktrittbremse hinten, 3-Gang-Sturmey-Archer-Nabenschaltung, Schutzblech hinten, Bereifung 26x2,125 Zoll vorne und 24x3 Zoll hinten, Gewicht: 22,4 kg, Preis: 1199 Franken Bezugsquelle: Intercycle AG, 041 926 65 11, www.nirve.com 1| 2| 3| 14 | 4/2007 velojournal Fotos: zVg Marius Graber Wettbewerb velojournal verlost einen Cruiser Felt «Flying Machine». Auf unserer Homepage sind die Bedingungen zu finden. Einsendeschluss: 20. August 2007. Unterlagen unter: velojournal.ch/Wettbewerb 2| Electra «Gypsy Lady» Der «Gypsy Lady»-Cruiser von Electra zielt mit den aufgemalten Blumen auf den Schutzblechen, den dazu passenden roten Speichen, dem hübsch gefütterten Lenkerkörbchen und der klangvollen Dingdong-Glocke klar auf die weibliche Kundschaft ab. Die drei Gänge helfen schon mal über kleine Hügel, die Bremsen sind jedoch etwas zögerlich, die Verarbeitung insgesamt ist okay. Zahlen und Fakten: Aluminiumrahmen in 18-Zoll-Einheitsgrösse, Federgabel, 7-Gang-Shimano-Nabenschaltung, Rücktrittbremse hinten, Trommelbremse vorne, Nabendynamo und Scheinwerfer mit Ein-/Aus-Schalter, jedoch kein Rücklicht, Schutzbleche, 26x2,25-Zoll-Bereifung, Gewicht: 21,4 kg, Preis: 1199 Franken Bezugsquelle: Amsler und Co. AG, 052 647 36 36, www.feltcruiser.com Zahlen und Fakten: Stahlrahmen in 17-Zoll-Einheitsgrösse, Trommelbremse vorne, Rücktrittbremse hinten, 3-Gang-Shimano-Nabenschaltung, Schutzbleche, Ständer und Lenkerkorb, Gewicht: 20,2 kg, Preis: 949 Franken Bezugsquelle: Verdeno Sport AG, 055 418 40 55, www.electrabike.com 5| GT «Woodside» Noch weniger Technik geht nicht: ein Gang, eine Bremse und ein absolut leerer Lenker. So kommen die Tank-Imitation, der mit ManchesterStoff bezogene Sattel und die Surfboard-Ventildeckel besser zur Geltung. Die Rücktrittbremse ist schwach – das Velo kann aber kostenlos mit einer Vorderradbremse ausgerüstet werden. Die Material- und Verarbeitungsqualität ist insgesamt nicht optimal. 3| Kona «HumuHumu-NukuNuku-Apua’a» Kona integriert in ihrem Cruiser geschickt aktuelle Velotechnik: Die mechanische Scheibenbremse greift sicher, das Gesamtgewicht bleibt angenehm tief. Dank der drei Rahmengrössen können auch langbeinige Girls und Boys einigermassen angenehm fahren. Die extrabreiten, aber etwas schwerfälligen Pneus schlucken einiges an Schlägen. Die Verarbeitungsqualität ist in Ordnung. Zahlen und Fakten: Stahlrahmen in drei Grössen, 1-Gang, mechanische Scheibenbremse vorne, Rücktrittbremse hinten, ohne Licht, Schutzbleche und Ständer, 26x3,0Zoll-Bereifung, Gewicht: 14,6 kg, Preis: 799 Franken Bezugsquelle: Kona Distribution, 022 960 83 00, www.konaeurope.com 4| Felt «Flying Machine» Der am besten ausgerüstete Cruiser. Felt gönnt seinen Kunden einige Errungenschaften der Velotechnik: rostfreie Speichen, Nabendynamo, 7-Gang-Schaltung, Schutzbleche und Trommelbremse machen ihn alltagstauglich. Schade, dass nicht auch noch das Rücklicht installiert wurde. Insgesamt schön und mit viel Liebe zum Detail. . Zahlen und Fakten: Stahlrahmen in 17-Zoll-Einheitsgrösse, 1-Gang, Rücktrittbremse hinten, vorne keine Bremse, Schutzbleche und Gepäckträger, 26x2,15-ZollBereifung, Gewicht: 20,8 kg, Preis: 649 Franken Bezugsquelle: Velobaze, Telefon 044 733 20 20, www.gtbikes.com 6| Schwinn «Cruiser Three – Mans’s» Der Schwinn-Cruiser hält sich streng an sein historisches Vorbild. Was Retro-Fans schätzen mögen, geht zu Ungunsten der Verarbeitungsqualität. Das einzige Teil aus der modernen Velotechnik ist die V-Brake-Felgenbremse vorne, die den Rücktritt unterterstützt. Im Vergleich zu den andern Cruisern hat das Schwinn-Modell ein angenehmes Gewicht. Zahlen und Fakten: Stahlrahmen in 17-Zoll-Einheitsgrösse, Rücktrittbremse hinten, V-Brake vorne, 3-GangShimano-Nabenschaltung, Schutzbleche und Ständer Gewicht: 18,4 kg, Preis: 790 Franken Bezugsquelle: Airtool AG, 044 915 33 61, www.schwinnbike.com n 4| 5| 6|