Natalia Kleist: Kinder des Krieges Suche nach Vater von Karl Hilbe
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Natalia Kleist: Kinder des Krieges Suche nach Vater von Karl Hilbe
Natalia Kleist: Kinder des Krieges Suche nach Vater von Karl Hilbe (geb. 1945 in Dornbirn) Das Schicksal verwöhnt mich. Was interessante Begegnungen angeht, hatte ich immer Glück. Auf meinen Reisen – egal ob in Russland oder in Europa – lernte ich immer wieder zufällig oder aus beruflichen Gründen neue Menschen kennen. So passierte es auch dieses Mal. Meine Reportage über den Besuch der österreichischen Stadt Dornbirn (Juni 2008; Organisatoren: W.Matt, W.Bundschuh, M.Ruff) von einer Gruppe ukrainischer Kriegsveteranen aus der Stadt Rowenki bekam plötzlich eine Fortsetzung in Form einer interessanten Bekanntschaft. Schon während des Empfanges der ukrainischen Delegation vom Dornbirner Bürgermeister im Rathaus ging ein unbekannter Herr auf mich zu, drückte mir herzlich die Hand und stellte sich höflich vor: Karl Hilbe. Es stellte sich heraus, dass Herr Hilbe und ich Nachbarn sind und nur fünf Minuten Fußweg von einander entfernt wohnen: sein Haus ist von meiner Terrasse gut sichtbar. Von den Organisatoren der Veranstaltung hatte Herr Hilbe erfahren, dass ich aus Russland komme und äußerte mir jetzt seinen Wunsch Russisch zu lernen. Da habe ich gestaunt! Ich hätte nicht geglaubt, dass in der österreichischen Provinz jemand so lebhaftes Interesse für alles Russische bekundet. „Ich habe doch slawische Wurzeln, - erklärte Herr Hilbe. – Mein Vater stammte aus der Ukraine.“ Da sah ich mir diesen freundlichen Herrn näher an. Hohe Wangenknochen und blaue Augen wiesen tatsächlich auf slawisches Blut hin. Paar Tage später kam Herr Hilbe zu Besuch und ich erfuhr seine Geschichte… …Österreichische Stadt Dornbirn, die ganz im Westen des Landes und an der Schweizer Grenze liegt, unterlag während des Zweiten Weltkrieges keinen Luftangriffen und wurde nicht bombardiert. Hierher wurden allerdings aus von deutschen Truppen besetzten Regionen massenhaft Zwangsarbeiter getrieben. Niemand fragte diese jungen und alten Menschen, ob sie ihr Heimatland verlassen wollen. Sie wurden in Viehwagen und Güterzügen nach Deutschland und Österreich transportiert. Am Zielort angekommen, wohnten sie in Baracken und arbeiteten beim Bau der Bergkraftwerke und Straßen, in Webereien und Gussbetrieben sowie bei einheimischen Bauern. So kam am 12. Januar 1944 mit einem der Transporte auch ein starker Bursche aus der Ukraine nach Dornbirn. Er wurde ins Dornbirner Spital geschickt, um dort Sanitäts- und Haushaltsarbeiten zu verrichten. Anatol Arsentjew, so hieß der junge Mann, war flink, gewandt und fleißig und hübsch und gesellig dazu. In der Ukraine, in seiner Heimatstadt Stalino (heute Donezk) besuchte Anatol eine Fachschule für Medizin bzw. studierte Medizin, weswegen er in Dornbirn im Spital arbeiten durfte. Nachdem die Mitarbeiter des Spitals seine Gewandtheit und berufliche Fertigkeiten bemerkt hatten, durfte Anatol bei den Operationen assistieren. Da fiel ihm eines Tages eine junge österreichische Krankenschwester auf. Trotz des strengsten Kontaktverbotes zwischen Zwangsarbeitern und einheimischer Bevölkerung gelang es Anatol die schöne junge Frau kennenzulernen. Sie hieß Cecillia Winder. Trotz sprachlicher Schwierigkeiten entstand zwischen den jungen Leuten eine herzliche Beziehung. Von welchen Verboten kann wohl die Rede sein, wenn es um zwei mit Liebe und Lebenslust erfüllte Herzen geht? Anatol war damals nicht mal 20 Jahre alt und Cilli – so hat man die junge Frau im Freundeskreis genannt – 8 Jahre älter als er, man sah es ihr aber nicht an. Wahrscheinlich konnten sie beide nicht fassen, wozu dieser blutige Krieg nur nötig sei? Die jungen Leute schafften es, sich nach den langen Arbeitstagen heimlich zu treffen. Die Freundinnen von Cilli sahen diese Beziehung unterschiedlich an: manche beneideten das glückliche Pärchen, die anderen zeigten Mitgefühl, die dritten warnten vorsorglich vor bösen Folgen. Die Beziehung zwischen Anatol und Cilli entwickelte sich aber immer weiter. Wie alle Verliebten schmieden sie Pläne für eine glückliche Zukunft und hofften, dass sie für immer werden zusammen sein können. Doch ihr Glück währte nicht lange. Aus den Zeitungen wusste Cilli, welche Unannehmlichkeiten denjenigen drohen, die sich an die Ordnung des Nazi-Regimes nicht halten. Zähe, eisige Angst um sich selbst und um ihren Geliebten ergriff ihre Seele. So musste sie eine harte Entscheidung treffen: sie brach die Beziehung zu Anatol ab. Seit dem Tage mied sie den jungen Mann. Er kam aber immer wieder zu ihrem Haus, klopfte mit früher vereinbartem Klopfen an ihre Tür, hinter der sie stand und leise Tränen schluckte. Die Verliebten mussten sich irgendwie damit abfinden, dass eine fremde und starke Macht sie getrennt hatte. Kurze Zeit später verstand Cilli, dass sie schwanger ist. Sie verheimlichte allen ihre Schwangerschaft, denn die Angst klammerte sich immer noch ganz fest an ihr Herz. Man kann sich kaum vorstellen, wie viele bittere Stunden und Tage dieses junge Mädchen damals erlebte. In den Kriegsjahren herrschte in Österreich strengste Disziplin. Sitten, Moral und öffentliche Meinung unterschieden sich auch sehr von heutigen. … Der Krieg endete, Hitlers Regime ging unter… Und eines Tages erfuhr Cilli, dass am 11. Juli 1945 alle russischen und ukrainischen Zwangsarbeiter aus Vorarlberg nach Wien transportiert wurden. Darunter sollte auch Anatol gewesen sein. Doch sein Name stand nicht auf der Liste der in Wien angekommenen Zwangsarbeiter. Irgendwie gelang es Cilli diese Informationen herauszufinden. Da kam bei ihr Hoffnung auf: vielleicht konnte Anatol dem Transport entfliehen und würde bald zu ihr zurückkommen? Und doch verlor sich leider die Spur ihres Geliebten. Nie wieder hörte sie etwas von Anatol Arsentjew, dem sie nicht mitgeteilt hatte, dass sie sein Kind unter dem Herzen trägt. Es blieb unbekannt, ob Anatol seine Heimatstadt in der Ukraine erreichte und dort seine Verwandten wiedersah. Möglicherweise stellte ihn sein Schicksal wieder auf Probe und er musste in ein anderes fremdes Land oder nach Übersee fliehen. Fragen über Fragen, die ohne Antwort blieben. Das Kind von Cilli und Anatol – ein Junge - kam am 3. Oktober 1945 zur Welt. Cilli nannte ihn Karl, so hieß auch ihr Vater. Ab dem Tage musste die junge Mutter viele Schwierigkeiten bewältigen, um das Leben ihres Kindes und ihr eigenes auf die richtige Bahn zu kriegen. Lange Zeit versteckte sie ihr Kind bei einem älteren Ehepaar im Bergdorf am Kehlegg. Da konnte das Kind in Sicherheit aufwachsen und besser versorgt werden. Doch wie lange sollte Cilli noch diese Angst und Ungewissheit ertragen? Für ihre Geduld und Lebensfreude belohnte das Schicksal Cilli mit einer glücklichen Ehe. Ihr Ehemann Josef Hilbe wurde zu einem guten Vater für den kleinen Karl. Während des ganzen Lebens warf Josef Cilli ihre Liebe zum ukrainischen Zwangsarbeiter niemals vor. Später bekamen Cecillia und Josef noch gemeinsame Kinder. Und Karl, als das älteste Kind in der Familie, half den Eltern immer im Haushalt. Irgendwann erzählte Cilli ihrem ältesten Sohn über seinen biologischen Vater. Seitdem fragte der Junge seine Mutter immer wieder, wo jetzt wohl sein Vater sei? Ihre Augen füllten sich jedes Mal mit Tränen: ach, wenn sie die Antwort auf diese Frage nur wüsste! Es war doch nicht ihre Schuld, dass Anatol nie von der Geburt seines Sohnes erfuhr. Und deswegen empfahl sie Karl immer, später selbst zu versuchen, seinen Vater zu finden. Den gleichen Rat gab dem Jungen auch seine Patin. Die Jahre vergingen. Karl Hilbe wurde erwachsen, machte seine Lehre und heiratete. Als Hochzeitsgeschenk bekam er von seinem Stiefvater ein malerisches Grundstück, wo er ein Haus errichtete und seinen eigenen Haushalt zu führen begann. 1990 starb Mutter Cilli. Bis zu ihrem Tode sah sie Anatol Arsentjew nicht wieder und wusste nicht, was diesem Mann – der Liebe ihrer Jugend – passierte. Dennoch schaffte sie es, ihrem Sohn Karl Interesse und Respekt für die ferne Heimat seines Vaters beizubringen. Heute ist Karl Hilbe selbst Vater von drei erwachsenen Söhnen. Er spricht sowohl Vorarlberger Mundart, als auch Hochdeutsch und ist angenehmer Gesprächspartner und hervorragender Erzähler. Außerdem hat Herr Hilbe fast ganz Lateinamerika bereist und kann ziemlich gut Spanisch. Und natürlich gehört zu seinen Interessen auch alles, was so oder so mit Russland und der Ukraine verbunden ist, sei es Geschichte, Geographie, Politik oder Kultur. Im Fernsehen sieht er gerne Sendungen und Reportagen über diese Länder, versäumt keine Veranstaltungen in Vorarlberg, die zum Thema der heutigen Kontakte zwischen Österreich und der Ukraine bzw. Russland stattfinden. Und es wundert ihn selbst, warum er bis jetzt kein Russisch spricht. Heutzutage ist Herr Hilbe in Rente, träumt aber davon, zusammen mit einem seiner Söhne ein Bauernhof in der Ukraine zu besitzen. Er möchte das Vermächtnis seiner Mutter erfüllen und nicht nur seinen Vater und dessen Verwandte finden, sonder auch neue Kontakte im Lande seiner Vorfahren väterlicherseits knüpfen. In wie vielen solchen und ähnlichen Geschichten haben sich Hunderte und Tausende menschlicher Schicksalen verflochten? Wie viele Menschen hat der Krieg getrennt und durch die Welt zerstreut? Und wie schwierig ist es jetzt mithilfe alter vergilbter Fotos und Archivakten über all die Jahre den Pfad, diesen leitenden Faden zu dem teuren und geliebten Menschen zu finden, der einem das Leben geschenkt hatte und den man aber nie gesehen und verloren hat. Ich habe diese Reportage nicht aus Interesse an neuen Bekanntschaften geschrieben, sondern weil ich der Meinung bin, dass Mitgefühl, menschliche Anteilnahme und uneigennütziges Streben der Menschen, ihren Nächsten zu helfen, uns alle zu guten Freunden machen. Text auf Russisch: Natalia Kleist, Dornbirn, Österreich Übersetzung auf Deutsch: Ksenia Klyukina, St.-Petersburg, Russland Fotos aus Familienarchiv von Karl Hilbe; aus Stadtarchiv Dornbirn Anmerkung: Alle Namen, Ereignisse, Daten und Ortschaften, die in diesem Text vorkommen, sind echt und nicht erfunden und wurden der Autorin des Artikels als Ausgangsmaterial von Karl Hilbe erteilt mit der Bitte ihm bei der Suche nach Verwandten, Freunden und Bekannten seines leiblichen Vaters zu helfen. E-Mail-Adresse für Rückfragen und –meldungen: [email protected] Unten sind Informationen bzgl. der gesuchten Person angeführt: Name: Anatol Arsentjew (evtl. auch Aksentjew, Avsentjew, Ovsentjew) Geburtsdatum: 12. Dezember 1924 Geburtsort: Gorlowka, Ukraine Ort des Abtransportes zur Zwangsarbeit: Stalino (Donezk), Ukraine Ort der Zwangsarbeiten: Stadtspital in Dornbirn, Lustenauer Str. 2, Bundesland Vorarlberg, Österreich Dauer der Zwangsarbeiten: 11.Januar 1944 – 11.Juli 1945 Der Artikel wurde im Jahr 2008 auf Russisch im „Neuen Wiener Magazin“ publiziert. Im Juni 2015 wurde die Vatersuche von Karl Hilbe auf Russland erweitert. Der Artikel wurde für einen journalistischen Wettbewerb in „Gorodetzky Westnik“ frei gegeben. Meine Tochter Ksenia Klyukina hat den Artikel in die deutsche Sprache übersetzt.