Der Kaiser wie nur einer ihn sah

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Der Kaiser wie nur einer ihn sah
Der Kaiser wie nur
einer ihn sah: der
Kammerdiener und die
menschlichen Seiten
seiner Majestät
Eugen Ketterl war der letzte Kammerdiener Franz
Josephs. Seine Memoiren, die er nach dem Ende der
Monarchie verfasste, bieten interessante Einblicke und
skurrile Anekdoten aus dem kaiserlichen Alltag. Ketterl
zeigt den alten Kaiser und seine Welt eingetaucht in
goldenes Licht, gesehen aus der
Schlüssellochperspektive.
Was den Anzug anlangt, so muss ich schon tun, was
der Ketterl sagt, der versteht besser als ich,
was zusammenpasst.
Franz Joseph zu Katharina Schratt über das sachkundige Diktat
seines Kammerdieners in Modedingen.
Der Kaiser war zu uns allen sehr gütig und von
eigenartiger Höflichkeit. Niemals befahl er, immer
bat er um eine Dienstleistung und bedankte sich,
wenn ihm zum Beispiel ein Glas Wasser
gereicht wurde.
Ketterl über den Umgang Franz Josephs mit seinem Personal
Ketterl startete seine Karriere im Hofdienst als Servierkraft an
der Hoftafel. 1894 wurde er in die kaiserliche Kammer berufen,
wo er sich bis zum Tode Franz Josephs als Kammerdiener um
die Bewältigung des Alltags des alten Kaisers sorgte.
Die Kammer, deren Vorstand Ketterl war, bildete den
persönlichen Haushalt des Kaisers. Das Kammerpersonal, das
aus 14 Personen bestand, kümmerte sich um die individuellen
Bedürfnisse Franz Josephs, vom Bügeln der Wäsche bis zum
Entleeren des Nachttopfs. Neben Ketterl standen noch zwei
weitere Kammerdiener im Dienst, die sich im Turnus
abwechselten. Zwei Türhüter kontrollierten den Zutritt in die
Privatgemächer, vier Büchsenspanner waren für persönliche
Hilfsdienste eingesetzt sowie zwei Hausdiener und drei
Kammerfrauen für Haushaltsarbeiten.
Der Arbeitstag des Kammerdieners begann wie der des Kaisers
sehr früh. Um 3:30 morgens weckte Ketterl den Kaiser mit den
Worten: „Leg mich zu Füßen Eurer Majestät, guten Morgen!“
und half dem Kaiser beim Ankleiden. Um 5 Uhr servierte er das
Frühstück. Während der Kaiser sich dann den Akten widmete,
machte sich Ketterl in der Garderobe nützlich. Um 9 Uhr
begannen die Audienzen und Besprechungen mit Beamten,
unterbrochen durch das Mittagessen, das Ketterl an den
Schreibtisch zu servieren hatte. Abends bereitete der
Kammerdiener die Garderobe für Empfänge vor. Wenn der
Kaiser sich zu Bett begab, half er bei der Abendtoilette.
Was die persönliche Lebensart des Kaisers betrifft, so betont
Ketterl die Anspruchslosigkeit des Kaisers. Der kaiserliche
Hausrat war robust und wenig raffiniert, die technische
Ausstattung veraltet, es gab keine modernen Installationen. Der
Kaiser hatte eine Vorliebe für Uniformen, legte aber wenig
Augenmerk auf elegante Zivilkleidung, der kaiserliche
Kleiderschrank war daher äußerst bescheiden ausgestattet.
Ketterl versuchte, den Haushalt behutsam zu modernisieren:
Die Garderobe des Kaisers wurde erneuert und der Einbau von
technischen Neuerungen wie Telefon und WC veranlasst,
denen der Kaiser jedoch sehr reserviert gegenüber stand.
Ketterl äußert sich auch dezent zu den Schwächen und
menschlichen Seiten des Kaisers, wie das Rauchen von
Zigarren oder die Freundschaft zu Katharina Schratt. Er
schildert die zunehmende Isolation des alternden Kaisers
innerhalb der Familie, aber auch Franz Josephs innere Distanz
zur modernen Welt außerhalb des kaiserlichen Hofes, der zu
einem Relikt einer längst vergangenen Epoche wurde.
Autor
Martin Mutschlechner
Literatur
Ketterl, Eugen: Der alte Kaiser. Wie nur einer ihn sah. Der
wahrheitsgetreue Bericht des Leibkammerdieners Kaiser Franz
Josephs I., Wien 1929, Reprint Wien u. a. 1980