A. Benatar - Reisebericht - Korsika - Schwarzkopf

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A. Benatar - Reisebericht - Korsika - Schwarzkopf
Alexander Benatar
Brüssel, Paris, Ajaccio, die Mafia
± wer regiert Korsika?
Bericht über eine Reise nach Korsika im Sommer 2013
... oder: Der korsische Nationalismus und was von Europa übrig bleibt.
Einleitung
In der jüngsten Vergangenheit hat Korsika hauptsächlich durch negative
Schlagzeilen auf sich aufmerksam gemacht: Bandenkriege, organisiertes
Verbrechen, hohe Mordraten und Anschläge – Nachrichten, die zum Glück selten
aus Europa und wenn überhaupt, dann am ehesten noch vom Balkan stammen.
Korsika, das ist Frankreich. Kern Europas – gemeinsam mit Deutschland historisches
Rückgrat der Europäischen Union. Und doch: zunehmende Kriminalität,
Einwanderungsströme
aus
dem
Maghreb
und
eine
erstarkende
Unabhängigkeitsbewegung, der die Pariser Zentralregierung auf dem französischen
Festland schon viel zu weit weg zu sein scheint, erschüttern die Insel. Wieviel Platz
für Europa bleibt da noch mitten in Europa? Dieser Frage ging ich im Juli und August
2013 auf Korsika nach und erhielt dafür großzügige Unterstützung durch die
Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa.
Diese wilde Insel ist unbekannter und ferner
als Amerika, auch wenn man sie von
Frankreich mitunter sehen kann.
Guy de Maupassant, Le Bonheur
Historisches
Korsika durchlebte bis in die Neuzeit das Schicksal des westlichen Mittelmeers:
lange Zeit gehörte die Insel zu Rom und wurde nach Zerfall des Weströmischen
Reiches von Vandalen, Aragoniern und verschiedenen weiteren Völkern angegriffen
und überrannt, bis es im Hochmittelalter unter genuesische Herrschaft geriet. Diese
Zeit italienischer Besatzung prägt bis heute Stadtbild, Leben, Selbstverständnis und
vor allem den korsischen Dialekt.1 Im 17. und 18. Jahrhundert kam es zu Aufständen
der korsischen Bevölkerung gegen die im Niedergang begriffene italienische
Republik, die 1736 für einige Monate zur Krönung des deutschen Abenteurers
Theodor v. Neuhoff zum König von Korsika führten. Hierauf konnte das finanziell
geschwächte Genua lediglich mit einer Seeblockade reagieren. Die Neuhoff
unterstützenden Familienklans zerstritten sich jedoch, sodass er bald auf den
Kontinent fliehen musste und die Genueser die Macht wieder an sich rissen. Auch
wenn „König Theodor I“ sich also nicht lange auf Korsika behaupten konnte, brachte
er der Insel doch zumindest das Wappen mit dem Maurenkopf – eine Erinnerung an
Korsikas Zeit unter aragonischer Herrschaft. Außerdem inspirierte er den jungen
Pascal Paoli, die italienischen Unterdrücker endgültig zurückzuschlagen und 1755
Korsikas Unabhängigkeit zu proklamieren.
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1
Ob es sich hier um eine eigenständige Sprache oder „Vulgärtoskanisch“ handelt, ist umstritten.
Jedenfalls scheint Korsisch dem Italienischen näher verwandt als dem Französischen und italienische
Korsikaurlauber können sich in ihrer eigenen Sprache recht problemlos verständigen.
!
1
Es folgten die 13 goldenen Jahre der korsischen Selbstbestimmung: Paoli erließ eine
aufgeklärte Verfassung (einschließlich Frauenwahlrecht!), ließ sich demokratisch als
Oberhaupt legitimieren und machte die Stadt Corte in der Inselmitte zur neuen
Hauptstadt, die bald auch eine eigene Universität erhielt. Bis zum heutigen Tag
blicken korsische Separatisten immer wieder auf diese Zeit zurück und Paoli wird
zum Nationalhelden stilisiert, während „Der Kleine Korse“ Napoleon Bonaparte
später zwar den Kontinent eroberte, seine Landsleute jedoch eher vernachlässigte.
1768 verpachtete Genua, das die korsische Unabhängigkeit wie viele andere Staaten
nie anerkannt hatte, die Insel für vier Jahre an Frankreich. Dieses setzte seine
Besitzansprüche unverzüglich militärisch durch und nach der entscheidenden
„Schlacht von Ponte Novu“ 1769 mussten die Korsen sich den neuen Besatzern
beugen. Pascal Paoli floh nach Großbritannien. Während Paoli also vorübergehend
untertauchte und im Londoner Exil unter anderem mit amerikanischen
Unabhängigkeitskämpfern Kontakt aufnahm2, behielt Frankreich sein Pachtobjekt
nach Ablauf der Frist für sich. Damals wie heute wird deshalb der moralische und
rechtliche Herrschaftsanspruch Frankreichs auf Korsika von korsischen Nationalisten
infrage gestellt.
Eine von vielen Paoli-Gedenktafeln in Bastia.
Eine von vielen Statuen Napoleons in Ajaccio.
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2
Teilweise wird behauptet, Paoli habe dort auch mit „Founding Fathers“ gesprochen und dabei direkt
inhaltlichen Einfluss auf die spätere amerikanische Verfassung genommen; ein korsischer Historiker
versicherte mir jedoch, dies sei eine zwar hübsche, aber geschichtlich nicht belegbare Legende.
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2
Zwischen 1794 und 1796 unternahm Paoli einen letzten Versuch, ein AngloKorsisches Königreich zu etablieren, der jedoch rasch scheiterte. Mit Ausnahme des
Zweiten Weltkriegs, als Korsika von 1940 bis 1943 italienisch besetzt wurde, gehört
Korsika seit 1769 also zu Frankreich. Von da an kämpften und fielen Korsen für
Frankreich (v.a. im Ersten Weltkrieg – La Grande Guerre), halfen das französische
Kolonialreich aufzubauen und nahmen nach dessen Zusammenbruch und
insbesondere dem Algerienkrieg Ende der Sechziger Jahre viele ehemalige
Kolonialisten und Algerierfranzosen (pieds noirs) bei sich auf. Letzteren wurde durch
die französische Regierung zum Teil Land auf Korsika zugeteilt und Inselbewohner
dafür enteignet3 – die Geburtsstunde des modernen korsischen Nationalismus.
Politisches
Frankreich ist ein Zentralstaat. Aus deutscher Perspektive schwer nachvollziehbar
gibt es bei unserem Nachbarn unterhalb der nationalen Ebene kein gesetzgebendes
Organ. Die Jakobiner setzten dies nach der Französischen Revolution durch, um
Frankreich zu einigen und zu stärken; seither hat sich an diesem Grundkonzept
wenig geändert. Die Verwaltung der Grande Nation gliedert sich in eine Handvoll
Regionen, die wiederum in je ein Dutzend Départements unterteilt werden. Zwei
dieser Départements entfallen auf Korsika, das der Region Povence-Alpes-Côte
d’Azur angehört
Der korsische Nationalismus keimte in den späten 1960er Jahren auf, als
Siedlungswellen aus dem Maghreb auf die Insel trafen (s.o.), die Sprache Korsikas
nach dem Zweiten Weltkrieg langsam auszusterben drohte und der Kontinent die
Insel als Tourismusziel zu entdecken begann. Land auf Korsika wurde immer teurer
und für viele korsische Landwirte unerschwinglich, die zum Teil nicht einmal die
inzwischen tatsächlich eingetriebene Erbschaftssteuer bezahlen konnten, um
Familienbesitz in die nächste Generation zu tragen. Hieran knüpften also auch die
Nationalisten an: Korsisch sollte neben Französisch offizielle Amtssprache, ein
„Anwohnerstatus“ (status de résident) eingeführt, der nur Korsen den Landerwerb
gestattet und eine Ausnahmeregelung zur Erbschaftssteuer wiedereingeführt
werden4.
Paris reagierte seit den Siebzigern mit Zugeständnissen: die Universität in Corte
wurde 1981 wiedereröffnet und ein Jahr später erhielt Korsika einen gewissen
Sonderstatus (statut particulier), der eigentlich den Regionen vorbehaltene
Verwaltungsaufgaben der Insel zuordnete. Mit Begründung der Collectivité territoriale
de Corse (CTC) und einem weiteren nationalen Gesetz wurden diese Kompetenzen
in den Bereichen von Transport, Ausbildung und Denkmalschutz 1991 bzw. 2002
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3
Heftigen Protest ernteten 1960 auch Pariser Bestrebungen, Atomtests auf Korsika durchzuführen;
schließlich wich man aber nach Französisch-Polynesien aus.
4
Seit 1801 zu Napoleons Zeiten hatte auf Korsika eine Ausnahme von der französischen
Erbschaftssteuer gegolten (Les arretés Miot) , die 1949 zwar offiziell abgeschafft wurde, faktisch
jedoch noch Jahrzehnte weiter bestand, Canard enchaîné, Corsa Nostra, S. 43f.
!
3
noch einmal erweitert, beschränken sich
jedoch weiterhin ausschließlich auf
administrative Tätigkeiten.5 Frankreich ist
und bleibt ein Zentralstaat. Wichtigstes
Organ der CTC ist die korsische
Nationalversammlung
(Assemblée
Corse) in Ajaccio, die dem Pariser
Parlament
zumindest
Gesetzesvorschläge unterbreiten kann und
departementübergreifende Verwaltungsentscheidungen trifft, die dann vom
! Conseil
executif,
der
korsischen
„Regierung“
unter
Führung
des
Sitzung der Assemblée Corse in Ajaccio.
Sozialisten Paul Giacobbi, ausgeführt
werden. Außerdem wurde 1996 fakultativ an vielen Schulen ein französisch-korsisch
bilingualer Unterricht eingeführt.
Den Separatisten nahm diese Entwicklung zunächst ein wenig den Wind aus den
Segeln – 2003 scheiterte ein Referendum über Wiedervereinigung der seit 1975
getrennten Départements Korsikas klar. Im letzten Jahrzehnt jedoch gewannen die
Nationalisten in Wahlen wieder an Aufschwung.
Sitzung der Assemblée Corse in Ajaccio.
Stimmen
Über Woher und Wohin dieser neuen Unabhängigkeitsbewegung auf Korsika besteht
allerdings Uneinigkeit je nach Hintergrund und Motivation der Befragten:
Sebastien QUENOT
Die Forderungen nicht weniger Korsen gehen über die bisherigen Zugeständnisse
aus Paris hinaus: die Nationalisten unterteilen sich in Autonome (autonomistes) und
Separatisten (indépendantistes), erklärt mir Sebastien Quenot, Leiter des im letzten
Dezember eingerichteten Büros für korsische Sprache in Corte und selbst
Nationalist. Während die Autonomen eine Sonderstellung Korsikas mit eigenen
legislativen Befugnissen aber innerhalb der französischen Nation fordern, sehnen die
Separatisten sich nach einer vollständigen Unabhängigkeit Korsikas von Frankreich.
André FAZI
Prof. André Fazi, Politikwissenschaftler an der Université de Corte Pascal Paoli und
Spezialist für Regionalisierung in Europa, ergänzt außerdem, dass die korsische
Nationalbewegung erst in jüngerer Zeit politisch geworden ist. Im letzten Jahrzehnt
gründeten
Untergrundbewegungen
nationalistische
Parteien
und
die
Parteienlandschaft konsolidiere sich schnell, was positiven Widerhall in der
Bevölkerung finde. „Seit 1995 ist die öffentliche Unterstützung für die Nationalisten
von 17% auf fast 36% gestiegen.“ Von diesen 36% bei der letzten Territorialwahl
2010 entfielen dabei knapp 26% auf die autonome Femu a Corsica und 9,85% auf
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5
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Fazi, The Western Mediterranean islands and the many faces of independentism, S. 489.
4
die Separatisten der Corsica Libera. In der Assemblée Corse halten die „natios“
damit gemeinsam bereits immerhin eine relative Mehrheit. Einigkeit besteht dort
bereits darüber, Korsisch zur weiteren Amtssprache Korsikas machen zu wollen und
sich um eine Änderung der Erbschaftssteuer zu bemühen. Die nächsten Wahlen
finden im März 2014 statt.
Fazi sieht diese politischen Bestrebungen der korsischen Nationalisten dennoch vor
große Herausforderungen gestellt:
1. müsste dafür die französische Verfassung geändert werden und
2. reicht es auf Korsika nicht, Stimmen zu fangen, sondern man müsse als
Politiker vor allem die Unterstützung der mächtigsten Klans der Insel suchen.
Die Unabhängigkeit ist sicherlich ein schärferes Schwert als die Autonomie. Beide
Bemühungen führen jedoch auf absehbare Zeit einen aussichtslosen Kampf: seit der
Französischen Revolution ist Frankreich ein zentralisierter Staat. Ein Abweichen von
dieser jakobinischen Tradition erforderte fundamentale Änderungen der
französischen Verfassung; und damit entweder eine 3/5 Mehrheit im Parlament, d.h.
partei- und regierungsübergreifend in Senat und Nationalversammlung oder aber ein
nationales Referendum, das ebenfalls von Paris ausgehen müsste. Beides ist
angesichts der Tatsache, dass Korsika mit seinen 300.000 Einwohnern eine
Wählerschaft von nicht einmal einem halben Pariser Arrondissement stellt,
bestenfalls sehr unwahrscheinlich.
Jean-Guy TALAMONI
Ganz anders sieht das Jean-Guy Talamoni: die Nationalisten hätten einen immer
stärkeren Rückhalt in der Bevölkerung, vor allem in der Jugend, die die mangelnde
Transparenz der französischen Besatzer endlich leid sei. Talamoni ist Vorsitzender
der
separatistischen
Partei
Corsica
Libera,
ehemaliger
Leiter
des
Europaausschusses der Assemblée Corse, Anwalt und Schriftsteller – die eloquente
Universalwaffe der korsischen Unabhängigkeitsbewegung.
Außerdem billigt er politisch motivierte Gewalt. Auf einem Treffen der Corsica Libera
anlässlich der 32. Journées internationales de Corte6, die dieses Jahr am 3. und 4.
August stattfanden, sandte er am Ende seiner Rede unter Applaus einen
„brüderlichen Gruß an diejenigen, die andere Mittel zum Kampf wählen als wir.“
Gemeint ist damit die 1976 gegründete und bis heute bestehende nationalistische
Untergrundorganisation Front de libération nationale de la Corse (FLNC), die bis in
die Neunziger Attentate auf Vertreter des französischen Staates verübte, seine
Sprengsätze heutzutage aber nur mehr gegen Immobilien richtet.7
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6
Zu dieser Veranstaltung treffen sich jährlich Separatisten aus Korsika, Sardinien, Sizilien, Katalonien
und dem Baskenland, um Kontakte zu knüpfen und Erfahrungen auszutauschen. Eine Art
„Separatisten-Selbsthilfegruppe“ also, zu der in diesem Jahr als Besonderheit auch der Tuareg und
Schriftsteller Moussa Ag Assarid aus Nord-Mali eingeladen wurde.
7
Antwort auf seinen Gruß erhielt Talamoni später in Form von Maschinengewehrsalven, die in den
umliegenden Wäldern abgefeuert wurden und nachts durch das Tal von Corte hallten.
!
5
Ein Separatist räumt auf bei den Journées internationales in Corte.
Frankreich: unser Widerstand wird immer stärker sein als Deine Unterdrückung
– korsisch-sprachiges Graffiti von Nationalisten in Corte
!
6
Alle bisherigen Zugeständnisse sind für Talamoni nur „Reformprojekte“ und auch die
Ziele der Autonomisten lediglich Schritte in die richtige Richtung. Stolz ist er, dass die
Assemblé Corse Ende September nun endlich einen Gesetzesvorschlag zur
Verfassungsänderung (s.o.) beschließen möchte.
François ALFONSI
Früher saß auch François Alfonsi in der Assemblée Corse. Heute vertritt er den
Wahlbezirk „Südostfrankreich“ für die Grünen im Europäischen Parlament in Brüssel
und ist dort unter anderem Mitglied im Ausschuss für regionale Entwicklung. Mit
Korsika ist der autonom gesinnte Politiker eng verbunden, nicht zuletzt durch das
Amt des Bürgermeisters der kleinen korsischen Gemeinde Osani, das er seit über
einem Jahrzehnt innehat. Auch Alfonsi ist zu den Journées internationales
gekommen, um seine nationalistischen Freunde „zu ermutigen, beharrlich die Ziele
der Assemblée Corse zu verfolgen“. Aus Sicht der EU sei das Problem Korsikas
überraschend und unverständlich, sagt er; und zwar sowohl das Drängen der Korsen
auf größere Freiheit als auch die Weigerung des Zentralstaates Frankreichs, ihnen
diese zu gewähren. Die EU sei wie die meisten ihrer Mitglieder per se dezentral,
sodass Minderheiten dort eben weniger unterdrückt würden. „Aber“, betont er,
„schwere Konflikte auf europäischem Boden sind auch europäische Konflikte!“
Gleichzeitig erkennt Alfonsi jedoch auch, dass die Nationalisten auf Korsika (noch)
nicht die Mehrheit der Korsen vertreten und deshalb das unmittelbare politische Ziel
ein Kompromiss mit Frankreich sein müsse. Für einen solchen sei es natürlich
erforderlich, dass Frankreich sich dialogbereit zeige, „denn Dialog, das ist doch die
Demokratie!“
Frankreich in Europa
Das Gründungsduo des modernen Europas verfolgte seit Mitte des letzten
Jahrhunderts mit seinem gemeinsamen Mittel unterschiedliche Zwecke: für
Deutschland war die europäische Integration von Anfang an ein willkommener Schritt
heraus aus der politischen Isolation nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Es ging ihm
darum, wieder „dabei" zu sein. Das besetzte Frankreich hingegen war schon in die
alliierten Konferenzen der letzten Kriegsjahre als Siegermacht diskussionslos
eingebunden gewesen. In Paris sah man Europa eher als Instrument, um dem
eigenen internationalen Führungsanspruch Nachdruck zu verleihen und sich der
neuen Weltmacht USA gegenüber zu behaupten.8
!Alfonsis Assistentin Antonia ist sehr viel skeptischer, was die korsische
Unabhängigkeit betrifft: „Hier wohnt doch niemand! Das Landesinnere ist praktisch
tot, es gibt keine Arbeit im Winter und ändern wird sich so schnell auch nichts, weil
jeder zehnte auf Korsika in irgendein Amt gewählt und damit von seinen Stimmen
abhängig ist.“ Sie sieht auch eine Gefahr, dass Europa von den Nationalisten
ausgenutzt wird: „Bei diesen ganzen regionalen Programmen im Mittelmeerraum9
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8
vgl. auch Stark, Frankreichs Rolle in der Welt, In: Informationen zur politischen Bildung - Frankreich,
S. 51.
9
z.B. „Italie-France Maritime“, oder aber die von Sarkozy angestoßene „Union pour la Méditerranée“,
die dann jedoch an der Uneinigkeit von Israelis und Palästinensern scheiterte.
!
7
geht es doch immer ums Geld. Warte nur ab, bis die Krise schlimmer wird! Und die
Regionen sind sowieso nationale Kompetenz – da haben die von Brüssel ohnehin
nicht viel zu erwarten.“
Jean-Marc RAFFAELLI
Weniger kritisch sieht die Situation dagegen Jean-Marc Raffaelli, politischer
Redakteur beim „Corse Matin“, der auflagenstärksten Tageszeitung Korsikas: „Nach
und nach gewinnt die Politik hier gegen die Waffen die Überhand. Und die
Nationalisten sind in der korsischen Bevölkerung tief verwurzelt.“ Die Gewerkschaft
Syndicat des Travailleurs Corses (STC) sei fest mit der Unabhängigkeitsbewegung
verwoben, die auch großen Einfluss auf die Arbeiter in den Häfen, auf Fähren und
den Flughäfen hätten. „Und wie wichtig das auf einer Insel ist, können Sie sich wohl
vorstellen.“
Raffaelli bezweifelt allerdings, dass es sich bei der
wachsenden Wählerschaft der nationalistischen
Parteien immer um waschechte Patrioten handelt.
Gewählt würden sie eher als Mittel zum Zweck der
Dezentralisierung und größeren Selbstbestimmung.
Dies hätten die Politiker auch erkannt und verfolgten
statt der indiskutablen Unabhängigkeit mittlerweile
eine „Politik der kleinen Schritte“, in der um
symbolische Etappenziele wie die Einführung des
Korsischen als zweite Amtssprache gefeilscht
werde. Eine vollständige Unabhängigkeit Korsikas
bei entsprechendem Willen der Korsen hält er
Zweisprachiges Ortsschild.
jedoch auch nicht für undenkbar: „Immerhin zahlen
die Menschen hier Steuern. Und man sehe sich nur einmal Malta an. Da funktioniert
es ja auch.“
Galeran DUSSER
Die korsischen Nationalisten wenden sich mit ihren Bemühungen gegen die
Zentralregierung in Paris. Die Vertretung Pariser Interessen auf Korsika wiederum
geschieht durch die Präfektur, den französischen „Gouverneurssitz“ gleichermaßen.
Auf Korsika gibt es je eine Präfektur in den jeweiligen Hauptstädten der beiden
korsischen Departments: für Corse du Sud in Ajaccio und in Bastia für Haute-Corse.
„Korsische Angelegenheiten“ werden in der Präfektur in Ajaccio bearbeitet und
Pressesprecher des Europabüros dieser Präfektur wiederum ist Galeran Dusser.
Seines Erachtens pflegt man dort „ein gutes Verhältnis zu den politisierten
Nationalisten. Zu einer Bedrohung werden die Nationalisten erst dann, wenn sie zu
illegalen Mitteln greifen. Aber das gilt für entsprechende links- oder rechtsgerichtete
Gruppierungen doch genauso.“ Ein großes Problem mit den nationalistischen
Parteien hat Dusser also nicht.
!
8
Das Problem ist Paris!
Sebastien Quenot
Mit unseren Überseegebieten haben wir noch ganz andere Probleme...
Ehepaar aus der Normandie, Korsikaurlauber seit 30 Jahren
Korsika und Europa
Korsikas Verhältnis zur EU ist weniger ambivalent, als ich es zunächst vermutete.
Sebastien Quenot drückte es so aus: „Wirklich Entscheidungen trifft Brüssel ja nun
nicht. Das sind ja doch die Nationalstaaten. Insofern ist die EU für Korsika mehr ein
Geldgeber und auch so weit weg von den Bürgern. Paris ist das Problem!“
Ähnlich sieht das auch der autonom gesinnte Edmond Simeoni, gewissermaßen der
„Urvater“ des korsischen Nationalismus, der schon 1975 das Weingut eines pied noir
besetzte10: Nach zweieinhalb Jahrhunderten der Fremdherrschaft und fünfzigjähriger
Konfrontation ist die Zeit reif dafür, dass Korsika im Schoße Europas [sic!] und
Herzen des Mittelmeers sein Schicksal selbst in die Hand nimmt, wie es ihm
historisch und rechtlich zusteht.11 Europa wird also durch den korsischen
Nationalismus nicht infrage gestellt. Im Gegenteil: „Je mehr Brüssel wir haben, desto
weniger Paris!“, erläutert mir Pierre-Antoine, Vorstandsmitglied der Corsica Libera
und Doktorand im Öffentlichen Recht an der Universität Corte. Und auch Talamoni
stimmt zu: „Wir wollen raus aus Frankreich, nicht aus Europa.“ Die Insel soll also
indépendante (unabhängig) werden, aber interdépendante (von ihren Nachbarn
abhängig) bleiben.12
Autonome wie Separatisten befassen sich also eher mit korsischen Problemen. Und
davon gibt es mehr als genug: Korsika ist die kriminellste Region Europas, eine der
ärmsten Frankreichs und die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei etwa 25%. Auf der Insel
gibt es keine nennenswerte Industrie13, dafür aber einen umso größer aufgeblasenen
Verwaltungsapparat – in mancherlei Hinsicht ist Korsika also „das Griechenland
Frankreichs". Die Insel ist angewiesen auf die umfangreichen Zahlungen aus Paris
und Brüssel.14 Und das muss nicht so bleiben: „Korsika hat eine unberührte Küste
mit wunderschönen Stränden und Bergen zum Wandern und Skilaufen – das
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10
Im Laufe dieser Besetzung wurden zwei Polizisten getötet und ein Besetzer schwer verletzt,
woraufhin Paris Panzer nach Bastia schickte.
11
Vorwort zu: Christian Mondoloni, CORSE – Renaissance d’une nation, 2012, S. 14f.
12
„Natürlicher Gegner ist die dominierende Nation, nicht ein Europa ohne eigene kulturelle
Dimension.“, Hermant, Nationalismes et construction européenne.
13
„Die Geschichte der Industrialisierung Korsikas ist kurz und chaotisch“, Le musée de la Corse,
Corte
14
Zwischen 2007 und 2013 erhielt Korsika insgesamt 265 Millionen Euro, womit es zu den am
stärksten subventionierten Territorien Franreichs gehört, Gaillard, Corsa Nostra, S. 45.
!
9
touristische Potenzial ist immens!15 Auch IT-Firmen könnten sich auf Korsika
ansiedeln. Gerade in unserer Generation werden doch auch Arbeitsumgebung und
Freizeitangebot zunehmend wichtiger“, ist Tumansgiu D’Orazio überzeugt, Jahrgang
1989 und seit fünf Jahren Delegierter für korsische Sprache und Kultur im Rathaus
von Ajaccio.
Die Nationalisten wollen bei diesem wirtschaftlichen Potenzial ansetzen und Korsika
zu größerer politischer und ökonomischer Selbstständigkeit verhelfen. Mangels
gesetzgeberischer Kompetenzen stehen sie dabei allerdings vor der
Herausforderung, eine außerparlamentarische Opposition zu sein, die sich zunächst
ein Parlament schaffen muss. Hierfür muss die französische Verfassung geändert
werden (s.o.).
Das Ziel ist also klar. Allein über die Mittel, sich in Paris Gehör zu verschaffen,
besteht innerhalb der korsischen Unabhängigkeitsbewegung noch Uneinigkeit.
Korsischer Nationalismus? Das ist doch alles nur
organisiertes Verbrechen unter dem Deckmantel der Politik!
Fabien, bretonischer Küstenwächter und Zöllner
Bei uns gibt es mehr Attentate als anderswo:
niemals aber haben diese Verbrechen einen unrühmlichen Grund.
Wir haben viele Morde, das stimmt. Aber keinen einzigen Diebstahl.
Prosper Mérimée, Colomba
Mafia, Morde und Gewalt
„Auf Korsika ist die Mafia am Werk!“, erkannte der französische Premierminister
Jean-Marc Ayrault im November 2012 nach dem gewaltsamen Tod Jacques Nacers,
des Präsidenten der Industrie- und Handelskammer Südkorsikas. Dem Nationalisten
Sebastien Quenot zufolge ist dies ein relativ neues Phänomen, das erst in den
letzten Jahrzehnten auf die Insel gelangte. Mafia-Erfahrung wiederum hatten einige
Korsen schon länger: die legendäre „French Connection“, ein transatlantischer
Drogenring, der in den 1960er und 1970er Jahren gewissermaßen die Brücke
zwischen der sizilianischen Cosa Nostra und deren amerikanischen Ablegern
darstellte, rekrutierte sich fast ausschließlich aus Korsen. Seit auf Korsika
zunehmend Geld zu machen ist, kam nun auch das organisierte Verbrechen auf die
Insel. Glücksspiel, Drogen und vor allem das von touristischen Bauvorhaben
profitierende Immobiliengeschäft versprechen hohe Renditen für solche
Geschäftsleute, die es mit Recht und Moral nicht so genau nehmen.
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15
Später fügte er hinzu: „Und Ajaccio ist ja auch noch Geburtsstadt Napoleons – immerhin der
bekanntesten Person nach Jesus Christus!“
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10
Denn im Zentralstaat Frankreich gibt es keinen gewählten Gemeinderat, der darüber
entscheidet, ob Ackerland zu Bauland wird (und damit je nach Lage pro Hektar um 1
bis 2 Millionen Euro an Wert gewinnt), sondern diese Macht liegt allein beim
Bürgermeister. In der Einflussnahme auf den Bürgermeister sind einige Korsen
kreativ und zuweilen nicht besonders zimperlich: organisierte Banden – am
bekanntesten wohl „Brise de Mer“16, „Petit Bar“17 und „Bergers de Venzolasca“ –
schreiben nötigenfalls Drohbriefe, setzen Scheunen in Brand „oder erschießen den
Bürgermeister selbst oder eine ihm sonst nahestehende Person. Entscheidend ist die
Drohkulisse!“, so Quenot. Rund 20 Morde und ebenso viele Mordversuche gebe es
jährlich auf Korsika. „Und wenn dann der Eine den Zuschlag erhält und ein großes
Haus für Leute vom Festland baut, jagt der Andere aus Neid das fertige Haus in die
Luft.“ Und die Polizei unternehme nichts dagegen, obwohl bei 300.000 Einwohnern
die Suche nach den Tätern eigentlich nicht unmöglich sein sollte: „Rechnet man die
Frauen raus und dann alle Einwanderer, dann bleiben kaum 20.000 Korsen zwischen
20 und 40 übrig. Und davon müssten die dann nur noch diejenigen mit Familie, Beruf
und Perspektive abziehen et voilà!“
Trotzdem werde den Tätern nicht das Handwerk gelegt – es bestehe einfach kein
politischer Wille, die Mafia zu bekämpfen, behauptet Quenot. Im Gegenteil: zur
Anfangszeit des Nationalismus in den Siebzigern und Achtzigern habe die Polizei
sogar mit der Mafia zusammengearbeitet, um Mitglieder der FLNC zu fassen.18
Heute sieht der französische Staat das ein bisschen anders: nach dem Mord an dem
in südkorsische Immobiliengeschäfte verwickelten Anwalt Antoine Sollacaro im
Oktober 2012 kündigte Premierminister Ayrault schließlich an, „den Kampf gegen
das organisierte Verbrechen zu verstärken“. Und als ein halbes Jahr später im April
2013 dann auch noch Jean-Luc Chiappiani, Präsident des Nationalparks Korsikas
und Herr über ein Personalbudget in Millionenhöhe, das er großzügig und zuzüglich
Spesen an Mitarbeiter und Aufsichtsrat verteilte19, mit drei Kopfschüssen getötet
wurde, glaubte der französische Innenminister Manuel Valls in dieser Tat ein
erneutes Zeichen der „in der korsischen Kultur verwurzelten Gewalt“20 zu erkennen.
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16
verwickelt in sieben von zehn Bauprojekte, Gaillard, Corsa Nostra, S. 86.
17
unter Anleitung eines Veteranen der „French Connection“, Gaillard, Corsa Nostra, S. 10.
18
So wird ein korsischer Polizist zitiert: „Zwischen 1975 und 1983 [...] hatten wir Befehl, uns allein um
die FLNC zu kümmern“, Canard enchaîné, Corsa Nostra, S. 29.
19
Gaillard, Corsa Nostra, S. 87.
20
Die Corsica Libera empfand diesen Kommentar als „unangemessen, um nicht zu sagen
unqualifiziert“, Lucciardi, U Ribombu Internaziunale, 08/2013, S. 4.
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11
Hier ist es sicherer, Mörder zu sein,
als einen abgenutzten Reifen zu haben.
Einwohner von Bonifacio
21
Vor zwei Jahren haben sie mir die Apotheke nebenan in die Luft gejagt!
Und aufgeklärt wurde das natürlich nie...
Ulrich Bäcker, Arzt aus Deutschland, der seit vier Jahren auf Korsika arbeitet
Mit der Aufklärung von Verbrechen tut die Polizei auf Korsika sich jedoch schwer.
Jeder kennt jeden auf der Insel und obwohl dadurch auch die Identität der Täter
häufig allgemein bekannt ist, bleibt Blut doch immer dicker als Wasser: man hält
zusammen, ist miteinander verwandt oder verschwägert; die Grenze zwischen
Verbrechern und ihren Verfolgern wird als „porös“22 bezeichnet und einige Polizisten,
die früh in Rente gehen, finden auffallend schnell Beschäftigung in Aufsichtsräten der
lokalen Glücksspielindustrie, die sie kurz zuvor noch überwachen sollten.23 Unlängst
wurde der Anwalt Pascal Garbarini von seinem wegen Mordes angeklagten
Mandanten vor Gericht mit Küsschen begrüßt – sie stammten aus dem gleichen Dorf
und hatten in ihrer Kindheit gemeinsam Fußball gespielt.24
Für die obersten Ordnungshüter vom französischen Festland ist dieses Geflecht von
Familien, Beziehungen und „Ehre“ auf Korsika oftmals unverständlich und schier
undurchdringlich. Aufgeben dürfen sie jedoch nicht: „Wenn es um die Mafia geht,
dann heißt es, das sei ein korsisches Problem, aber den Separatisten wird wieder
gesagt, Korsika gehöre zu Frankreich. Das ist doch scheinheilig!“, empört sich
Sebastien Quenot. Er fasst die Gefahr dieser zentralstaatlichen Grundeinstellung
folgendermaßen zusammen: wenn auf den Staatsapparat offensichtlich kein Verlass
sei, greifen die Menschen eben in alter Tradition der Vendetta zur Selbstjustiz.25
Der Rechtsstaat hat es nicht leicht auf Korsika.
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21
über die Aufklärungsrate von Verbrechen, Gaillard, Corsa Nostra, S. 7.
22
Gaillard, Corsa Nostra, S. 32.
23
Gaillard, Corsa Nostra, S. 30.
24
ebenso das Opfer!, vgl. Gaillard, Corsa Nostra, S. 36f.
25
„Unter Umgehung des Notars findet ein wahrer Erbfolgekrieg statt“, meint so Pascal Garbari,
Gaillard, Corsa Nostra, S. 37.
!
12
Die Korsen waren schon immer Insulaner und Bergvolk zugleich.
Gloguen, Le Routard – Corse
Menschliches
Manche behaupten, Begegnungen seien das Salz in der Suppe des Reisens. Das
stimmt nicht. Sie sind das Wasser. Eine Auswahl:
Immigration
Freitag, der 19. Juli 2013
"Und die Nationalisten haben Dich jetzt hergeschickt, um uns rauszuschmeißen, oder
wie?", fragt mich Natacha, Immigrantin aus Madagaskar, die mit ihrer Mutter und
zwei Kindern in den Salises wohnt, einem Projekt für sozialen Wohnungsbau in
einem Vorort von Ajaccio. Der Vater ihrer Kinder ist da, wo der Pfeffer wächst. Zum
Glück kann ich Natacha schnell beruhigen: die Nationalisten sind im Moment eher
auf die Kontinentalfranzosen aus als auf ihre kolonialen Leidensgenossen. Ganz von
ungefähr kommt ihre Angst allerdings nicht. Vor gut zehn Jahren jagte die autonome
Splittergruppe Clandestini Corsi Häuser marokkanischer und portugiesischer
Einwanderer in die Luft26 und häufig begegnet man dem Grafittislogan "Arabi fora!" korsisch für "Araber raus!" Bei der
letzten Präsidentschaftswahl im April
2012 erzielte die Front National von
Marine Le Pen auf Korsika mehr
Stimmen als der spätere Präsident
François Hollande27. Nach Ansicht
des Redakteurs Jean-Marc Raffaelli
ist dies jedoch weniger eine
Besonderheit
der
Nationalisten,
sondern auf Korsika gebe es eben
genauso Rassismus wie überall
anders auch.
Diese Meinung teilt jedenfalls Antha,
die beste Freundin von Natacha und
ebenfalls aus Madagaskar. Jeden
Sommer „macht sie Saison“ und verkauft afrikanische Produkte auf dem Markt in
Ajaccio. Von den korsischen Separatisten hat sie noch nie gehört. – „Jetzt komme
ich seit Jahren nach Korsika und Du bringst mir hier noch was Neues bei!“
Gern geschehen.
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26
Gaillard, Corsa Nostra, S. 65. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die korsischen Nationalisten
unbedingt als politisch rechts einzuordnen sind. Traditionell ist eher das Gegenteil der Fall, vgl. Fazi,
The Western Mediterranean islands and the many faces of independentism, S. 478.
27
Der französische Präsident wird vom Volk alle fünf Jahre in zwei Wahlgängen direkt gewählt, vgl.
auch Vogel, Charakteristika des politischen Systems, In: Informationen zur politischen Bildung Frankreich, S. 38.
!
13
Integrität
Montag, der 22. Juli 2013
"Die Korsen sind stolz auf sich und zu Recht!", glaubt Stephane. Der 37jährige
pinzutu (die korsische Bezeichnung für Festlandfranzosen28) ist von Beruf Bäcker,
versucht sich in diesem Sommer in der Heimat seines Vaters aber einmal als
Eismacher. Stephane ist homosexuell und war ungewollt jahrelang alleinerziehender
Vater zweier Kinder. Das mit der Tochter sei eben irgendwie passiert, die Mutter im
Pariser Drogensumpf verschwunden und zu seiner Tochter habe Stephane
inzwischen auch keinen Kontakt mehr, seit sie ihm vor einigen Jahren seinen
damaligen Freund ausspannte. „Und damals war sie erst 14!“ Religion ist für
Stephane Opium fürs Volk, ansonsten war er Opiaten aber Zeit seines Lebens
durchaus zugeneigt. Nach Marokko solle ich mal fahren, rät er mir, in das Land von
Drogen und Prostitution. Stephanes Vater ist erzkonservativer Korse aus Calvi, für
den die Familie über allem steht. Dies geht so weit, dass er sich mehrfach auch
diskussionslos hinter seinen Sohn stellte, als dieser von homophoben
Familienfreunden malträtiert wurde. „Mein Vater ist ein feiner Kerl“, sagt Stephane.
Das sei etwas sehr Korsisches. Man halte hier eben noch zusammen. „Aus dem
Grund ist Korsika auch die einzige Region Frankreichs, aus der im Zweiten Weltkrieg
kein einziger Jude deportiert wurde. Die haben sich einfach geweigert, ihre Nachbarn
zu verraten!“29
Isolation
Montag, der 5. August 2013
"Ach, Du bist also der Held?!", wurde Jean-Philippe von einem alten Mann auf der
Straße begrüßt, als er 2004 das Gefängnis verließ. Dort hatte er sechs Jahre
verbüßt, war früher rausgekommen wegen guter Führung. Zu zehn Jahren hatte man
ihn verurteilt, weil er Anschläge auf dem französischen Festland geplant und
durchgeführt hatte. Auf Gerichtsgebäude, die Eliteuniversität École nationale
d’Administration (ENA) in Straßburg – Statussymbole der französischen
Kolonialmacht eben. "Und auf diese Begrüßung warst Du stolz?" – "Ja", grinst JeanPhilippe, "natürlich!"
Inzwischen leitet Jean-Philippe ein Reisebüro und ist begeisterter Hobby-Archäologe.
In der Bergregion Niolo führt er mich durch seine aktuelle Ausgrabungsstätte. Mit
einer Gruppe von Archäologiestudenten und sonstigen Interessierten gräbt er sich
bis in die korsische Frühgeschichte. „Dieses Dorf hier entstand im Neolithikum.
Korsika wurde vor mindestens 10.500 Jahren besiedelt.“ Außerdem ist er
Vorstandsmitglied der Separatistenpartei Corsica Libera und Präsident der Sulidarità,
einer Vereinigung zur Unterstützung der politischen Gefangenen Korsikas. Davon
gebe es derzeit etwa 25, die für diverse Delikte säßen, wie unerlaubten Waffenbesitz
oder Anschläge. „Hauptsächlich aber einfach deshalb, weil sie Korsen sind!“, meint
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
28
Der Ausdruck geht zurück auf die spitzen Hüte französischer Soldaten im 18. Jahrhundert.
29
Dies stimmt tatsächlich, s. auch Goaguen, Le Routard – Corse, S. 53. Viele korsische Juden waren
Nachfahren verfolgter Einwanderer aus Italien, die Neuhoff und Paoli im 18. Jahrhundert auf die Insel
einluden.
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14
Jean-Philippe. In den letzten acht Jahren habe es auf Korsika 80 Morde gegeben,
die auf das Konto der Mafia gingen. Davon sei ein einziger aufgeklärt worden. „Im
gleichen Zeitraum gab es aber 600 Verurteilungen gegen Nationalisten!“30
Auch heute noch bräuchte es mehr politische Anschläge, um den Separatisten
politisches Gehör zu verschaffen. „1992 sind 10.000 nationalistische Demonstranten
in Bastia auf die Straße gegangen. Die größte Demonstration der Geschichte
Korsikas und kein Schwein hat es interessiert. Ein paar Monate später hat dann die
FLNC 30 Bombenattentate hintereinander verübt und plötzlich waren wir dann in
allen Zeitungen!“
Seit dem Attentat auf den
damaligen Präfekten Frankreichs
Claude
Erignac
1998
seien
Menschen allerdings nicht mehr
Ziel
der
Nationalisten.
Die
Anschläge richteten sich eher wie
bei
ihm
damals
gegen
Statussymbole
des
Staates:
Gerichtsgebäude, Polizeigebäude,
die Post, Banken. Und gegen
Luxusvillen, mit denen reiche
Franzosen Korsikas schöne Küste
verschandeln. „Da verwischen
dann schon die Grenzen zwischen
Anschlägen der Nationalisten und
denen der Mafia“, gibt JeanPhilippe zu und tatsächlich haben
IFF – I Francesi Fora („Franzosen raus!“)
im
Laufe
der
Jahre
bei
FLNC – Front de libération nationale de la Corse
gleichbleibenden Mitteln einige
GI - Ghjuventù Independentista („unabhängige Jugend“)
ursprünglich
nationalistische
Bombenleger ihre Ziele ausgetauscht. „Aber die FLNC schützt mit ihren Anschlägen noch immer nicht die
Interessen bestimmter Personen, sondern unsere Küste.“ Insgesamt habe die Zahl
der nationalistisch gesinnten Anschläge seit der Politisierung der separatistischen
Bewegung in den letzten Jahren aber abgenommen. Ob er denn heute noch vorher
Bescheid wüsste, wann und wo Anschläge verübt werden, frage ich ihn. – „Wenn ich
jetzt ‚Ja.’ sage, dann hieße das, ich sei Mitglied der FLNC...“
Als Mitglied der Corsica Libera ist Jean-Philippe inzwischen offen politisch aktiv und
kann Anschläge nur mehr ideell unterstützen. „Franzosen raus!“, skandiert er auf
dem Parteitag der Corsica Libera und erhält dafür pflichtschuldigen Beifall vom
Publikum. Vor mir raunt ein Mädchen ihrer Nachbarin zu: „Und das, obwohl seine
Frau doch aus Marseille kommt...“
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
30
Eine Anwältin aus Bastia, Angehörige einer Vereinigung nationalistisch gesinnter Anwälte, sprach
auf den Journées internationales in Corte von einer wahren „Menschenjagd“ auf Angehörige der
Ghjuventù Independentista vor allem in den letzten Monaten vor der Tour de France, die in diesem
Jahr auf Korsika begann. Jugendliche erhielten Vorstrafen für Bagatellen wie das Aufhängen
nationalistischer Poster und setzten damit auch ihre Karriere aufs Spiel. – „Und die Jungs waren auch
von der Brise de Mer bedrängt worden, bei ihnen Mitglied zu werden!“
!
15
Auf weite Sicht geht nur Aufklärung der Bevölkerung und Kampf um Mehrheiten.
Theologe Helmut Gollwitzer in Dokumentarfilm über Rudi Dutschke
Fazit
Entgegen meiner Befürchtung droht Europa vorerst wohl keine Renationalisierung,
die in den Regionen beginnt. Separatisten aus unterschiedlichen abtrünnigen
Regionen Westeuropas sprachen Anfang August in Corte vielmehr gar von einer Art
„EU-Westerweiterung“ durch die Abspaltung neuer Nationen. Regionalisierung und
Europäisierung schließen sich also nicht aus.31 Gerade in der Eurokrise könnte eine
Schwächung der Nationalstaaten zugunsten einzelner Regionen sogar eine Chance
für die EU als supranationale Organisation bedeuten. Dass hierbei ein Konsens
zwischen immer mehr Wortführern gefunden werden muss, ist Teil des
Entwicklungsprozesses der EU. Maßgeblich begründet durch die einstigen Erzfeinde
Frankreich und Deutschland, war die doch EU von Anbeginn ein Kompromiss. Und
dies seit über 60 friedlichen Jahren ein recht erfolgreicher.
Und dennoch ist im Falle Korsikas ein wenig Realismus angebracht: die Demokratie
ist ein Spiel, in dem es bei jeder Wahl Gewinner und Verlierer gibt. Eine
Unabhängigkeit Korsikas ist jetzt und auf absehbare Zeit nicht mehrheitsfähig.
Gefragt ist also auch ein Kompromiss innerhalb der nationalistischen Bewegung.
Selbst Separatistenführer Jean-Guy Talamoni erkannte dies bei den Journées
internationales: „Was uns eint ist wichtiger als was uns unterscheidet.“, sagte er an
die anwesenden Autonomen gewandt, aber auch an all seine Kollegen in der
Assemblée Corse, die also gemeinsam mit politischen Mitteln und demokratisch
legitimiert für größere Freiheiten innerhalb Frankreichs streiten müssen. Wenn sich
diese Einsicht eines Tages auch auf die Sinnlosigkeit politisch motivierter Gewalt
erstreckt, wären die Beteiligten um existenzielle Sorgen erleichtert: Franzosen,
Europäer und allen voran die Korsen selbst.
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31
Europa wird durch Geheimorganisationen nicht bedroht, weil diese es nicht auf dem Schirm haben,
Hermant, Nationalismes et construction européenne.
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Le soleil a tant fait l’amour à la mer
qu’ils ont fini par enfanter la Corse.
Antoine de Saint-Exupéry, Essais
Reisen auf Korsika
Korsika ist ein wunderschönes Reiseziel.
Das Wasser ist blau wie an der Côte
d’Azur und kristallklar noch dazu. Die
Natur ist unglaublich vielseitig – alpines
Saint Antonino im Norden Korsikas.
Hochgebirge um Corte verwandelt sich
zwei Täler weiter im Niolo in eine zerklüftete Marslandschaft, Weinberge am Cap
Corse gehen über in eine trockene Wüste, in der es kaum Pflanzen, geschweige
denn Häuser gibt. Bäche und Seen laden im Inland zum Baden ein und überall in
greifbarer Nähe an der Küste finden sich einsame Buchten mit Kies- und
Sandstränden, die großteils noch genauso unverbaut sind wie vor hundert Jahren –
nicht zuletzt aufgrund der Anschläge der FLNC, die in den Achtzigern die Baulöwen
des westlichen Mittelmeers abschreckte. Im Vergleich zum französischen Festland
ist die Insel zwar recht teuer, allen Anschlägen zum Trotz in der Touristensaison im
Juli und August aber sehr sicher – Rechnungen werden auf Korsika im Winter
beglichen. Ohne französische Sprachkenntnisse und fahrbaren Untersatz ist das
Reisen auf Korsika allerdings etwas beschwerlich. Erstere konnte ich zum Glück
vorweisen, ein Auto aber nicht. Und die Insel ist größer als man denkt! Also musste
ich für alle längeren Strecken per Anhalter fahren, was dann aber erstaunlich gut
ging und immer wieder zu interessanten neuen Bekanntschaften führte. Die Korsen
wussten um die mangelhafte Infrastruktur in ihrem Land und die Touristen waren
meist gut gelaunt und freuten sich über die Gespräche, die sich auf der Fahrt
entwickelten. Die einen wie die anderen halfen mir sehr bei der Recherche.
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Literaturverzeichnis bzw. Lektüreempfehlungen:
de Maupassant, Guy
Histoire Corse
de Maupassant, Guy
Le Bonheur
de Maupassant, Guy
Une vendetta
Dumas, Alexandre
Les Frères Corses
Fazi, André
The Western Mediterranean islands and
the many faces of independentism,
Commonwealth & Comparative Politics,
50:4, S. 474-493.
Gaillard, Michel (Hrsg.)
Corsa Nostra, Les dossiers du Canard
enchaîné, 07/2013
Gloaguen, Philippe (Hrsg.)
Le Routard – Corse, 2013
Hermant, Daniel
Nationalismes et construction européenne, Cultures et Conflits n° 7, 1992.
Hesse, Christine (verantw. Redakteurin)
Informationen zur politischen Bildung –
Frankreich, Nr. 285/2004
Lucciardi, Jean-Bapstiste (Hrsg.)
U Ribombu Internaziunale, 08/2013,
Zeitschrift der Partei Corsica Libera
Mérimée, Prosper
Colomba
Mérimée, Prosper
Matteo Falcone
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