„Kraft, Muskeln und Geschlecht. Performanz muskulöser Körper im

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„Kraft, Muskeln und Geschlecht. Performanz muskulöser Körper im
„Kraft, Muskeln und Geschlecht. Performanz muskulöser Körper im Spitzensport“. Bericht zur
Jahrestagung der dvs-Sektion Sportphilosophie 2016 in Darmstadt
Marcel Reinold
Vom 28.-30. Januar 2016 fand die Jahrestagung der dvs-Sektion Sportphilosophie am Institut
für Sportwissenschaft in Darmstadt statt. „Kraft, Muskeln und Geschlecht. Performanz
muskulöser Körper im Spitzensport“ – so lautete der interessante Titel dieser Konferenz, auf
der Kraft im thematischen Geflecht von Muskeln und Performanz diskutiert werden sollte.
Kraft scheint auf den ersten Blick unmittelbar körperlich präsent: Im Blick auf die Physis
kommen Muskeln zum Vorschein. Zugleich sind Kraft und Körper kulturell überformt: Sie
erfahren ihre Bedeutung innerhalb ästhetischer und ethischer Kategorien, die sich wiederum
aus sportlichen und anderen gesellschaftlichen Kontexten speisen. Vor dem Hintergrund
eines vielschichtigen Geflechts bedeutungshaltiger Bezüge sind Blicke aus unterschiedlichen
Perspektiven notwendig.
Tatsächlich bot die Tagung ein breites Spektrum an körperhistorischen, soziologischen und -philosophischen Vorträgen. Aus einer primär historischen Perspektive
näherten sich Wolf Junghanns, Bernd Wedemeyer-Kolwe, Andreas Müller sowie Marcel
Reinold der Thematik. Junghanns befasste sich in seinem Beitrag mit dem Titel „‚Science‘
vs. ‚Strength‘: Demonstration und Dissimulation körperlicher Stärke in frühen britischen
Boxdiskursen (ca. 1740-1850)“ mit einer relativ frühen Phase der Boxgeschichte. Anhand der
Rhetorik von Handbüchern und Historiographien wurde das Verhältnis von „art“ und
„science“ einerseits sowie „size“ und „strength“ andererseits untersucht. Grundsätzlich stellte
Junghanns fest, dass körperliche Kraft und Stärke im betrachteten Zeitraum eher wenig
thematisiert wurden. Mit der Betonung von „art“ und „science“ fand vielmehr eine
Nobilitierung pugilistischer Kampfkraft statt, die das Boxen nicht zuletzt gegen Kritik
immunisieren sollte. Des Weiteren konstatierte Junghanns in diachroner Perspektive eine
Verschiebung weg von Kraft hin zu Wissen und Können. Diese Veränderung ist nur zu
verstehen im Kontext der Verwissenschaftlichung und Kommerzialisierung des Boxens
sowie der Entwicklung des englischen Sports im 18. und 19. Jahrhundert generell. Noch
stärker als im Profiboxen, wo nackte Oberkörper zum Kampf gegeneinander antreten, ist
Kraft im Bodybuilding sichtbar präsent. Eine Reihe von Beiträgen beschäftigte sich daher mit
dieser Thematik. Bernd Wedemeyer-Kolwes Vortrag trug den Titel „Bodybuilding. Zur
sporthistorischen Genese einer Körperpraxis“. Bodybuilding ist heutzutage außerhalb des
traditionellen Vereins- und Verbandsports organisiert. Eine der historischen Wurzeln dieser
Körperpraxis liegt jedoch – neben der Zirkusbranche und der Unterhaltungsindustrie – im
klassischen schwerathletischen Vereinssport. Die Trennung von Bodybuilding als
professionellem Berufsschauspiel und Gewichtheben als vereins- bzw. verbandsbezogenem
Amateursport vollzog sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Während Wedemeyer-Kolwe
den historischen Ursprüngen, Bedingungen und Abgrenzungen des Bodybuildings nachging
und sich dabei vor allem auf das Ende des 19. und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts
konzentrierte, verglich Andreas Müller in seinem Vortrag „Bodybuilding in Ost und West:
Analyse eines Phänomens der Körperkultur aus sporthistorischer und gender-Perspektive“ die
Entwicklungen in beiden deutschen Staaten nach 1945. Während im Westen Bodybuilding in
die Strukturen des Kapitalismus integriert wurde, stand man im Osten vor der
Herausforderung, die „Körperkulturistik“ (wie Bodybuilding in der DDR genannt wurde)
innerhalb eines Sportsystems zu legitimieren, in dem außerhalb der offiziellen Strukturen
kein organisierter Sport geduldet wurde und darüber hinaus der Leistungssport ein wichtiges
Instrument im Kampf gegen den Klassenfeind darstellte. Letzteres zog eine klare
Prioritätensetzung auf medaillenintensive olympische Sportarten nach sich. Als kaum
geförderte Sport-II-Sportart war in der Körperkulturistik Improvisationskunst gefragt:
Hanteln und Geräte mussten nämlich oftmals selbst hergestellt werden. Des Weiteren waren
Körperkulturistiker bezüglich möglicher Starts bei Wettkämpfen im Ausland starken
Restriktionen unterworfen. Dies lag nicht zuletzt in der Furcht vor positiven Dopingproben
von DDR-Athleten bei internationalen Wettkämpfen begründet, da – im Unterschied zu den
Sport-I-Sportarten – in der Körperkulturistik keine geheimen „Ausreisekontrollen“ zur
Vermeidung positiver Proben vorgenommen wurden. Um Doping ging es auch beim Vortrag
von Marcel Reinold mit dem Titel „Perfektionierbare Körper? Wissenschaftliche
Vorstellungen zur Steigerung sportlicher Leistung mit Anabolika im 20. Jahrhundert“. Aus
heutiger Sicht steht außer Frage, dass mit Anabolika in bestimmten Sportarten Leistung
gesteigert werden kann. Historisch betrachtet war dies keineswegs selbstverständlich. Die
Praxis pharmakologischer Leistungssteigerung setzt vielmehr Körper voraus, die zunächst
grundsätzlich als steigerungsfähig begriffen werden müssen. Unter der analytischen
Perspektive eines kulturhistorischen Vokabulars rückte daher die Frage in den Fokus, wie der
Athletenkörper als pharmakologisch perfektionierbarer Körper konstruiert wurde. Deutlich
wurde dabei auch, dass die Konstruktion von Wissen eng mit sportpolitischen Interessen
sowohl bei der Bekämpfung als auch bei der Legitimierung der Anwendung von Anabolika
im Sport verknüpft war.
Eine stärker soziologische Perspektive nahmen Mischa Kläber, Martin Meyer und
Paula-Irene Villa ein. In seinem Beitrag „Körpersoziologische Aspekte des Bodybuildings“
ging Kläber der Frage nach, warum sich Bodybuilder in einer aus der Perspektive von
Außenstehenden oftmals schwer nachvollziehbaren Weise extremen Trainingsbelastungen
aussetzen. Die hintergründig wirkenden Motive verweisen einerseits auf unzeitgemäß
gewordene Bedürfnisse: Mit dem Gang ins Fitnessstudio wird den meist eher
bewegungsarmen, körperentfremdeten Lebensweisen der Moderne ein bewegungsreiches,
körperlich äußerst anstrengendes Kontrastprogramm entgegengestellt. Andererseits weist
Bodybuilding Züge einer steigenden McDonaldisierung mit den Faktoren der Effizienz,
Berechenbarkeit, Vorhersagbarkeit und Kontrolle auf und entspricht damit grundlegenden
Entwicklungen in der Moderne. Um extreme Körper ging es auch im Beitrag von Martin
Meyer. Sein Titel „Kurobune – Kraftmenschen in Ost und West“ nimmt Bezug auf ein
historisches Ereignis, nämlich die Landung schwarzer US-amerikanischer Schiffe
(Kurobune) in Japan im Jahr 1853, welche die Öffnung des Landes zum Welthandel
erzwingen sollten. Auf einem solchen Schiff fand damals auch ein Kampf zwischen einem
amerikanischen Seemannsboxer und einem japanischen Sumo-Ringer statt, den letzterer
gewann. 140 Jahre später inszenierte die World Wrestling Federation am 4. Juli 1993, dem
Unabhängigkeitstag der USA, einen Kampf auf einem amerikanischen Flugzeugträger
zwischen Lex Luger, der als Nachfolger des prototypischen Wrestlinghelden Hulk Hogan
aufgebaut werden sollte, und dem Bösewicht der Liga, Rodney Anoa’i, der mit seinen
samoanischen Wurzeln und über 200 Kilogramm Körpergewicht mit dem Gimmick eines
japanischen Sumo-Ringers ausgestattet war. Der Sieg des sternenbanner-gekleideten
Modellathleten Luger gegen den asiatisch aussehenden Schwergewichtler Anoa’i illustriert
erstens, wie Kraftmenschen nationalistisch instrumentalisiert werden, und zweitens, wie
unterschiedlich dabei der kulturelle Archetyp des Krafthelden in Ost und West skizziert wird.
Um maßvoll gestaltete Oberarme ging es hingegen im Vortrag von Paula-Irene Villa mit dem
Titel „Yes, you can! Was uns Michelle Obamas Oberarme über die vergeschlechtlichte
Sozialität der Gegenwart verraten“. Obama als schwarze Frau aus einfachen Verhältnissen
muss sich vor dem Hintergrund einer Tradition von First Ladies positionieren, die
typischerweise weiß, heterosexuell-feminin, bildungsbürgerlich, upper-class sowie christlich
(protestantisch) waren. Sie inszeniert sich daher sowohl konventionell als auch Konventionen
überschreitend: Mit elegant-femininer Kleidung und geglätteten Haaren entspricht Obama
einerseits dem klassischen Bild einer First Lady. Andererseits symbolisieren ihre
durchtrainierten Oberarme, die durch entsprechende Kleidung oft gezielt betont werden, den
Aufstieg einer schwarzen working-class woman, die – dem Imperativ der Selbstermächtigung
folgend – die Fixierung durch die Kategorien von race, class und gender hinter sich gelassen
hat. Die Oberarme Obamas verkörpern so die zeitgenössische Normativität des post-
essentialistischen „unternehmerischen Selbst“, das sich sichtbar als maximal souveränes
Subjekt setzt.
Aus primär philosophischer Perspektive näherten sich Jörg Scheller, Volker Caysa,
Mario Staller, Gunter Gebauer, Elk Franke und Monika Roscher der Thematik. In seinem
Beitrag „Sich in Fleisch hauen. Ethik und Ästhetik im Bodybuilding“ ging Jörg Scheller auf
ethische und ästhetische Aspekte von Bodybuilding ein. Von einer Ethik ist im
Zusammenhang mit Bodybuilding selten die Rede, obwohl das Leben dieser Athleten von
einer Reihe strenger Regeln und Tabus dominiert wird. Der Akt der Unterwerfung unter ein
hartes Trainingsregime inklusive eines asketischen Lebensstils wurzelt in einer
existenzialistisch zu fassenden Ethik der Freiheit – einer Freiheit zur Selbstformung und
Transformation des Körpers. Im Hinblick auf die ästhetische Dimension stellte Scheller
heraus, dass sich das Bodybuilding im Laufe der Zeit der Kunst annäherte und zwar unter
anderem, weil im Wettbewerb seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausschließlich
Ästhetik und nicht mehr Kraft prämiert wurde. Die innerhalb des Bodybuildings geltenden
ästhetischen Kriterien lassen sich in Abgrenzung zum Fitnesssport umreißen: Der
Fitnesskörper ist funktional, affirmativ und löst mit seinen als „normal“ empfundenen
Proportionen ein konsensuelles Wohlgefallen aus. Im Gegensatz dazu sprengt der Körper des
Bodybuilders die Grenzen des Normalen. Anders ausgedrückt: Der Bodybuilder will nicht
gefallen, sondern auffallen. Um Fragen der körperlichen Selbstgestaltung ging es auch
Volker Caysa in seinem Beitrag mit dem Titel „Körperträume und Körperbilder im Zeitalter
ihrer technologischen Reproduzierbarkeit: über die Zeugung des schönen Körpers“. In der
ersten Moderne galt das Auto als Konsumgegenstand, mit dem man hohe
Distinktionsgewinne erzielen konnte. In der zweiten, bioindustriellen Moderne wurde der
schöne Körper zur schärfsten Distinktionswaffe. Entscheidend ist, dass der Körper heutzutage
in einem bisher unbekannten Ausmaß durch Biotechnologie gestaltbar ist. Dadurch kommt
eine Dialektik der Träume und Sehnsüchte in Gang, die letztlich für alles offen zu sein
scheint. Mario Staller setzte sich in seinem Beitrag mit dem Titel „Aus großer Kraft folgt
große Verantwortung – Die ethische Dimension eines vermeintlich brutalen
Selbstverteidigungssystems“ mit dem israelischen Nahkampfsystem Krav Maga auseinander.
Es gilt einerseits als sehr effektiv, andererseits aber auch als sehr brutal. Gerade wenn die
Kompetenz zerstörerisch zu wirken zunimmt, muss Gewalt eingehegt werden. Mit Blick auf
pädagogische Zielstellungen und unter Rekurs auf Prinzipien des Stilbegründers Imi
Lichtenfeld wurde daher eine ethische Position herausgearbeitet, die einen neuen Blickwinkel
auf die Trainingspraxis im Krav Maga ermöglicht. Gunter Gebauer versuchte in seinem
Beitrag „Die Kraft der Sprache – die Kraft des Körpers“ eine Verbindung zu schlagen
zwischen Sprache und Sport. Die Kräfte der Sprache sind symbolischer, die Kräfte des
Körpers hingegen physikalischer bzw. physiologischer Natur. Es gibt jedoch Verbindungen:
Symbole rufen biologische Reaktionen hervor und biologische Funktionen wirken wiederum
auf symbolisches Handeln ein. Gerade im Sport, wo Entscheidungen innerhalb kürzester Zeit
getroffen werden müssen, appelliert die Spielsituation oft scheinbar unmittelbar an den
Körper. Hinzu kommt, dass Sportler ihr Handeln oft nicht explizit machen können. Dennoch
ist jede Spielsituation und jede Handlung im Sport hochgradig symbolisch durch Sprache
strukturiert. Die Brücke zwischen Biologie und Sprache lässt sich durch die Annahme einer
symbolisch aufgeladenen Zwischenwelt denken: Dinge bekommen eine Bedeutung für uns
insofern wir sie sehen, fühlen, ergreifen etc. Aufgrund von Umgangserfahrung mit der Welt
antizipieren wir die Antwort der Dinge: Ohne das Gestein zu berühren sieht der Bergsteiger
beispielsweise, ob ihn das Gestein halten wird. Die Eigenschaften der Dinge werden in der
Sphäre des praktischen Verhaltens sprachmäßig und Erfahrung im Gedächtnis des Leibes
verfügbar gehalten. Das Thema des Beitrags von Elk Franke – „Die einmalige Leistung im
Sport – ein ‚Kraft-Akt’ für die Sportphilosophie“ – nimmt den Topos der „Eigenleistung“
von Hans Lenk aus den 1980er Jahren auf und kommentiert dessen nahezu vergessene
Rezeptionsgeschichte innerhalb der Sportwissenschaft. Deutlich wurde in diesem
Zusammenhang, dass das Phänomen des Außergewöhnlichen und Kontingenten im Sport,
wie etwa Bob Beamons Weitsprungleistung bei den Olympischen Spielen 1968, eine
praktische Form des Könnens darstellt, die trotz externer Unterstützungsleistungen
unhintergehbar an die Person des Athleten gebunden bleibt. Dieser Gedanke wurde vom
Referenten in ästhetischer (Baumgarten) und prozessphilosophischer Hinsicht (Cassirer)
variiert und für die Frage sportlicher Kraftentfaltung fruchtbar gemacht. Monika Roscher
versuchte in ihrem Beitrag „Der Athlet als Hermaphrodit“ das Geschlecht als eine Form des
ästhetischen Ausdrucks zu begreifen. Im Sport haben wir es mit einer spezifischen Medialität
ästhetischer Praxis zu tun, nämlich dem menschlichen Körper. In der Praxis ist die Sportlerin
bzw. der Sportler sowohl selbstbewusstes Vermögen als auch rauschhaft entfesselte Kraft und
damit im Übergang vom einen zum anderen anzusiedeln. Diese Annahme ermöglicht – laut
Roscher – eine neue Betrachtung des geschlechtsspezifischen Ausdrucks im Sport: Der
Mensch als Übergangswesen zwischen weiblich und männlich.
Die Tagung wurde sowohl in wissenschaftlich-programmatischer als auch in
organisatorischer Hinsicht von Kathrin Schulz und Franz Bockrath (Arbeitsbereich
Sportpädagogik des Instituts für Sportwissenschaft der Universität Darmstadt) vorbereitet.
Ihnen sowie den wissenschaftlichen Hilfskräften gebührt ein herzlicher Dank für die
gelungene Durchführung und die stets angenehm familiäre Atmosphäre während der Tagung.