Leseprobe - Wilhelm Fink Verlag
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Matei Chihaia, Ursula Hennigfeld (Hg.) Marcel Proust – Gattungsgrenzen und Epochenschwelle Matei Chihaia, Ursula Hennigfeld (Hg.) Marcel Proust – Gattungsgrenzen und Epochenschwelle Wilhelm Fink Für Ursula Link-Heer Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2014 Wilhelm Fink, Paderborn (Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.fink.de Umschlagabbildung: © Birte Fritsch Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-5750-9 Inhaltsverzeichnis MATEI CHIHAIA & URSULA HENNIGFELD Einleitung. Gattungsgrenzen und Epochenschwelle............................................ 7 LUZIUS KELLER Proust und die Avantgarde ................................................................................ 17 ULRICH ERNST Marcel Prousts À la recherche du temps perdu und die Tradition des Ikonozentrischen Romans. Befunde und Thesen im Kontext interartistischer Gattungsprofile .......................................... 33 VOLKER ROLOFF Prousts Recherche als Theaterroman ................................................................... 93 LÁSZLÓ TENGELYI Proust im Wettstreit mit der Philosophie ........................................................ 109 RÜDIGER ZYMNER Zeitpunkt und Zeitfolge. Lyrik als Modell von Prousts À la recherche du temps perdu ........................................................................... 127 MICHAEL SCHEFFEL Auf der Suche nach dem verlorenen Halt – Arthur Schnitzlers Traumnovelle als „Parallelaktion“ zu Marcel Prousts À la recherche du temps perdu? .......................................................................... 141 GABRIELE SANDER / MATEI CHIHAIA Else Lasker-Schülers Hebräische Balladen und Marcel Prousts À la recherche du temps perdu – Poetik und Religion an der Epochenschwelle .................................................. 159 CORDULA REICHART Apostel der Avantgarde: Baudelaire, Nietzsche, Proust oder zum tieferen Zusammenhang heterodoxer PaulusDeutungen mit der Ästhetik der Moderne....................................................... 183 FERNAND HÖRNER Auf der Suche nach dem verlorenen Körper .................................................... 197 HERMANN DOETSCH À la recherche du temps perdu als Telefon-Buch – Zu den medialen Grundlagen der Literatur im 20. Jahrhundert ...................... 207 URSULA HENNIGFELD Autor-Fiktionen. Marcel Proust als literarische Figur....................................... 237 MATEI CHIHAIA & URSULA HENNIGFELD Einleitung. Gattungsgrenzen und Epochenschwelle Dieser Sammelband ist Ursula Link-Heer gewidmet, der begeisterten ProustLeserin und der Wissenschaftlerin, deren Schriften schon seit längerer Zeit zu den Standardwerken der Proust-Forschung gehören. Dabei nimmt Link-Heer sich ganz zentrale Aspekte von Prousts Werk vor, beginnend mit der Poetik autobiographischer Literatur, über die Bezüge auf medizinische und philosophische Diskurse bis hin zur Konstruktion von Körper und Geschlecht: Die zusammenhängende Lektüre ihrer Untersuchungen zu diesen Themen ergibt ein facettenreiches und kohärentes Bildnis Marcel Prousts. Dass Link-Heer ihrerseits zudem frühere Proust-Lektüren, etwa von Georges Poulet und Walter Benjamin eindrucksvoll kommentiert hat,1 erleichtert nicht unbedingt unser Vorhaben, einleitend ihren Beitrag zur Forschung vorzustellen. Dies soll auch nur in aller Kürze geschehen. Die umfangreichste Veröffentlichung Ursula Link-Heers zu Proust, ihre Dissertation, untersucht die Gattungspoetik der Recherche und ihr Verhältnis zur Form der Autobiographie – verstanden als eine historisch transformierbare Struktur des Schreibens. Von den Selbstbetrachtungen und Selbstbeschreibungen Rousseaus ausgehend, wird die trichotomische Grundstruktur der Recherche auf eine Tradition fiktionaler und autobiographischer Berufungsgeschichten bezogen – und als Produkt einer Interferenz dieser traditionell voneinander getrennten Modelle erkannt.2 Literatur im Wechselverhältnis mit verschiedenen Wissenschaften bzw. Literatur als Interdiskurs steht im Zentrum von Ursula Link-Heers Arbeiten zur Medizin und Philosophie. Sie weist nach, wie Proust das, was er in der Bibliothek seines Vaters an medizinischer Fachliteratur findet, auf solche Weise radikalisiert, dass jede Vorstellung eines geschlossenen und selbst-identischen Charakters dekonstruiert wird. So entstehen die multiplen Persönlichkeiten der Recherche. Der Bezug auf die medizinischen Diskurse geht allerdings weit über eine explizite Thematisierung oder eine thematische Prägung der Figurenkonstellation hinaus. Proust verhandelt nicht nur Fragen von Memoria und Amnesie, sondern verbindet „pastiche volontaire“ und „mémoire involontaire“ zu einer völlig neuen 1 2 Ursula Link-Heer: „Georges Poulet: L’Espace proustien – wiedergelesen“, in: Angelika CorbineauHoffmann (Hg.): Marcel Proust. Orte und Räume, Köln: Marcel Proust Gesellschaft 2003, S. 23– 44; dies.: „Zum Bilde Prousts“, in: Burkhardt Lindner (Hg.): Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Weimar: Metzler 2006, S. 507–521. Ursula Link-Heer: Prousts ‚A la recherche du temps perdu‘ und die Form der Autobiographie. Zum Verhältnis fiktionaler und pragmatischer Erzähltexte, Amsterdam: B.R. Grüner 1988; dies.: „Fragment und Roman. Notizen zu Proust und Musil“, in: Arlette Camion/Wolfgang Drost/Geraldi Leroy/Volker Roloff (Hg.): Über das Fragment/Du fragment, Heidelberg: Winter 1999, S. 85– 125. 8 MATEI CHIHAIA & URSULA HENNIGFELD Schreibweise: Krankheit und Schreiben treten bei Proust in ein symbiotisches Verhältnis zueinander.3 Der Zusammenhang zwischen der Figur des Dandy, dem Manierismus und der Kunst der Verstellung stellt einen weiteren Schwerpunkt von Ursula LinkHeers Arbeit dar. Prousts „nomadisierende Liebe“ wird auf den Code der Traktate über den Hofmann (Baldassare Castiglione, Baltasar Gracián, Amelot de la Houssaie) zurückgeführt. Aus den dort vorfindlichen Dissimulationsstrategien und den Inszenierungsformen höfischer Gesellschaftskunst erzeugt Proust eine neue Romankunst, deren Figuren das Verbergen von Absichten und die Sprachen der Verstellung meisterlich beherrschen. Der Dandy und Autor Robert de Montesquiou, der seinen jüngeren Kollegen etwas abfällig als „mon page délicieux“ betitelt, überlebt überhaupt nur dank Proust, weil dieser ihn metamorphotisch in den Baron de Charlus, eine literarische Schlüsselfigur, transformiert. Prousts eigentümliche, manieristische Konfiguration verwebt Leben und Literatur untrennbar und bewegt sich zwischen einer realistisch intendierten Zerstörung der ‚schönen Rede‘ und einer manieristisch intendierten Zerstörung des klassischen Kunstideals.4 Dabei hat Ursula Link-Heer die Forschung immer wieder durch überraschende Konstellationen bereichert: So etwa in ihrem Vergleich von Proust und Colette, die beide in ihren literarischen Werken eine implizite Gender-Theorie entwerfen. Ursula Link-Heer belegt, dass Colettes Le pur et l’impur den Anspruch erhebt, das Pendant zu Prousts Sodome et Gomorrhe zu sein.5 In einer anderen diskursgeschichtlichen Perspektive gelingt es ihr zu zeigen, dass die Intensität der Sinneswahrnehmungen und Empfindungen bei Proust enger mit dem französischen Sensualismus, besonders mit Condillacs Statuenexperiment im Traité des sensations (1754), verklammert ist, als es den Anschein hat. Sowohl die „mémoire du corps“ als auch die „mémoire affective“ und „mémoire involontaire“ folgen dem Weg, den Condillacs ‚Autopilot‘ am Ende des 18. Jahrhunderts aufweist. 3 4 5 Ursula Link-Heer/Volker Roloff (Hg.): Marcel Proust und die Philosophie, Köln: Marcel Proust Gesellschaft 1997; Ursula Link-Heer: „Pastiches und multiple Persönlichkeiten. Proust: Eine Vater-Sohn-Geschichte“, in: Marianne Schuller/Claudia Reiche/Gunnar Schmidt (Hg.): BildKörper. Verwandlungen des Menschen zwischen Medium und Medizin, Hamburg: LIT 1998, S. 169–183; dies.: „‚Malgré le formidable obstacle de santé contraire…‘. Schreiben und Kranksein bei Proust“, in: Angelika Corbineau-Hoffmann/Albert Gier (Hg.): Aspekte der Literatur des fin-de-siècle in der Romania, Tübingen: Narr 1983, S. 179–200. Ursula Link-Heer: „Mode, Möbel, Nippes, façons et manières. Robert de Montesquiou und Marcel Proust“, in: Thomas Hunkeler/Luzius Keller (Hg.): Marcel Proust und die Belle Époque, Köln: Marcel Proust Gesellschaft 2002, S. 84–123; dies.: „Manieristische Konfigurationen am Fin de siècle: Robert de Montesquiou, Mallarmé, Proust“, in: Erika Greber/Bettine Menke (Hg.): Manier – Manieren – Manierismen, Tübingen: Narr 2003, S. 193–212; dies.: „‚Chi sprezza, ama.‘ Prousts Ars Erotica der Verstellung und Nonchalance“, in: Friedrich Balke/Volker Roloff (Hg.): Erotische Recherchen. Zur Decodierung von Intimität bei Marcel Proust, München: W. Fink 2003, S. 211–227. Ursula Link-Heer/Ursula Hennigfeld/Fernand Hörner (Hg.): Literarische Gendertheorie. Eros und Gesellschaft bei Proust und Colette, Bielefeld: transcript 2006. EINLEITUNG. GATTUNGSGRENZEN UND EPOCHENSCHWELLE 9 Das Prinzip des vorliegenden Bandes folgt der hermeneutischen Warnung, die sie mit Blick auf die intertextuelle Beziehung von Proust und Condillac formuliert hat: „So wenig Proust sich auf eine einzige Poetik zurückführen lässt, so wenig ist er auch mit einer einzigen Philosophie zu erklären“.6 Die folgenden Beiträge illustrieren diese Beobachtung, indem sie gerade die Vielfalt generischer und diskursgeschichtlicher Kontexte erkunden, in denen Proust gelesen werden kann. * Bereits der kurze Überblick von LUZIUS KELLER, der die Geschichte des Proustschen Œuvres und seine Stellungnahmen zur Kunst und Literatur kommentiert, deutet die erstaunlichen Spannungen seiner Poetik an. Schon sehr früh fällt das Interesse des Autors für nicht-narrative Gattungen auf, aus denen sich der spätere Roman herausbilden sollte: Salon, Essay, Ekphrasis.7 In dem breiten Spektrum seiner poetologischen und kritischen Stellungnahmen finden sich dann auch überraschende Affinitäten zu Autoren und Werken, deren Poetiken weitab von der Recherche zu liegen scheinen und auch untereinander schwer zu vereinbaren sind. Auffällig ist das Interesse für konservative (und ausdrücklich anti-moderne) Zeitgenossen wie Maurice Barrès; zugleich faszinierten Proust jedoch auch Motive der futuristischen und kubistischen Avantgarde. Seine häufig kommentierte Nähe zum Impressionismus in der Malerei bedeutet nicht, dass er sich der Ästhetik des Fin de siècle überlässt, in der seine literarische Sozialisierung stattfindet. Die Recherche verfolgt vielmehr eine „Poetik der Humilitas“ als Gegenentwurf zu den „raffinierten Inszenierungen“ seiner Zeitgenossen; in dieser Abwendung vom Zeitgeschmack lässt sich eine wichtige Gemeinsamkeit mit den Avantgarden finden. Anstatt also Einzelreferenzen auf bestimmte Künstler und Werke zu erkunden, die ohnehin widersprüchlich sind, müssten, so Keller, gemeinsam verwendete Verfahren erforscht werden. Und tatsächlich finden sich in der Recherche Beschreibungen, bei denen die Wahrnehmung vom Futurismus und Kubismus formatiert scheint, und Genres wie Pastiche und Collage, deren experimentelle Funktion an die Kunst der Avantgarde erinnert. An diese Beobachtung möchte die These des vorliegenden Sammelbands anknüpfen. Kann die Oberfläche der Leinwand in einem kubistischen Bild in ihrem Großteil zum Träger von Zeitungsausschnitten werden, verändert dies radikal die Funktion des Gemäldes; das Schrift-Medium der Zeitung usurpiert den Bildraum; bei einer dreidimensional aus der Oberfläche ragenden Collage sind es Elemente der Relief-Tradition, die das Gemälde über seine konventionellen Grenzen 6 7 Ursula Link-Heer: „‚La statue sensible‘ und der ‚Autopilot‘. Von Condillac zu Proust“, in: Uta Felten/Volker Roloff (Hg.): Die Korrespondenz der Sinne. Wahrnehmungsästhetische und intermediale Aspekte im Werk von Proust, München: W. Fink 2008, S. 203–213, hier S. 213. Vgl. Jean-Yves Tadié: Proust et le roman, Paris: Gallimard 1986, und die Online-Bibliographie http://tsar.mcgill.ca/bibliographie/Marcel_Proust (letzte Abfrage 23.04.2014). 10 MATEI CHIHAIA & URSULA HENNIGFELD hinaustreiben. Diese Verfahren der „Konterdetermination“8, bei der ein Genre so modifiziert wird, dass es seine ursprünglichen Bestimmungsmerkmale verliert, scheint uns eine Signatur der Epochenschwelle um 1913. Prousts ab diesem Jahr veröffentlichter Roman lässt sich derart als eine radikale Umbestimmung des Roman-Genres lesen. À la recherche du temps perdu aktualisiert eine Vielzahl anderer Gattungen und Medien als relevante Kontexte; da diese zumeist nicht mit der Romantradition vereinbar sind, stabilisieren sie das Genre also nicht, sondern verursachen einen Effekt der kontextuellen Konterdetermination. Die Erzählung lässt sich als ikonozentrisches, theatralisches, philosophisches, lyrisches Werk verstehen, als ein „entremêlement des genres: c’est de la prose et de la poésie; c’est un récit fictif, imaginaire et ce sont des mémoires où la réalité se mêle à la fiction; cela tient de l’essai littéraire, de la critique, cela confine à la philosophie parfois.“9 Mehr noch: indem die Poetik der literarischen Form derart umgedeutet und destabilisiert wird, können auch nicht-literarische Formen dazu in Konkurrenz treten und die Funktion des Mediums übernehmen. Alltagsdinge wie das bekannte Schmelzbrötchen oder der Telefonhörer werden zum Medium des Erinnerns, aber auch des Erzählens, stilisiert. Einige der Formen, die das narrative Genre von innen her umwandeln, werden im Detail analysiert und klassifiziert von ULRICH ERNST, der À la recherche du temps perdu als „Ikonozentrischen Roman“ liest. Dieses von Ernst entdeckte Subgenre des Romans, das sich weniger durch die narrative Entfaltung eines Sujets als durch die Dominanz einer intermedialen Spannung charakterisieren lässt, wird dabei systematisch in einer Formgeschichte des Verhältnisses von Erzählen und Bild situiert, die es gestattet, neben der Recherche auch andere Teile des Proustschen Gesamtwerks zu würdigen. So geht der Aufsatz detailliert auf die lange Tradition der Ekphrasis und der Bildmnemonik ein, aber auch auf die jüngeren Subgenres des Malerromans (als welcher À l’ombre des jeunes filles en fleurs erkannt wird) oder der Cathedral Novel. Die „handlungsarme“, dafür aber eine besondere Art von Anschaulichkeit fördernde Erzählung erscheint so als eine transhistorische Form, die im Fin de siècle und in der Avantgarde eine besondere Ausprägung erhält. In Prousts Schaffen äußert sich der Wandel dann im Übergang vom illustriert-vertonten Künstlerbuch Les plaisirs et les jours (1896), das sich unmissverständlich als ein kollektives und multimediales Werk präsentiert, zum Projekt der Recherche, das die generischen Charakteristika des Künstlerbuchs in die Gattung des Romans einschleust und diesen somit umkodiert. Auch für die weiteren Para-Gattungen des Bild-Gedichts und des Visuellen Romans deutet sich eine solche Konterdetermination der Recherche durch bestehende Bildgenres an. 8 9 Der Begriff der „Konterdetermination“ stammt von Harald Weinrich, der ihn zur Erklärung der rhetorischen Figur der Metapher verwendet („Allgemeine Semantik der Metapher“, in: ders.: Sprache in Texten, Stuttgart: Klett 1976, S. 317–327). Alain de Lattre: La doctrine de la réalité, Bd. 1, Paris: Corti 1978, S. 15. EINLEITUNG. GATTUNGSGRENZEN UND EPOCHENSCHWELLE 11 Auch VOLKER ROLOFF bestimmt das Genre des Theaterromans als eine Erzählung, die nicht nur das Theater thematisiert, sondern sich in seiner Struktur und seinem Diskurs an Formen des Schauspiels anlehnt. In der Recherche lassen sich theatralische Verfahren insbesondere mit Blick auf avantgardistische Subgenres des Theaters beobachten, die selbst die Traditionen der Bühne unterwandern. Proust trifft sich mit Zeitgenossen wie Jarry in dieser Tendenz, das klassische Gattungssystem, und insbesondere die Unterscheidung von Mimesis und Diegesis zugunsten neuer Formen aufzubrechen. Das Bezugssystem des Proustschen Theaterromans ist also gerade nicht in der aristotelischen Gattungspoetik zu finden, sondern in der Mannigfaltigkeit eines populären Schauspiels, das schon seit dem Mittelalter die Grenzen des Theaters (hin zur bildenden Kunst, zum Ritual, zum Schaukampf, zum Spiel, zum Fest und anderen Formen geselliger Performanz) überschreitet: „die Komödie (auch die Boulevardkomödie), die z.T. noch mittelalterlich geprägten Formen wie die Commedia dell’arte, das Narrenspiel, die Farce, Allegorie, das Mysterienspiel, das Märchenspiel, Zaubertheater (Féerie) und der Totentanz“. Auch hier wird also eine transhistorische Tendenz in der Avantgarde zugespitzt: der Roman präsentiert sich – in Analogie zu den ihm zeitgenössischen Experimenten – als Inszenierung ohne Bühne. Mit anderen Worten, und narratologisch formuliert: Das dramatisch-szenische Erzählen stützt sich nicht auf die Konventionen der Theaterbühne, sondern entfaltet eine Vielzahl überraschender Spielsituationen. Die imaginären Kulissen des Traums, das Parkett der Salons, die unerwarteten Guckkästen des Gelegenheits-Voyeurs erscheinen als Schauplätze eines Rollenspiels und einer Inszenierung, durch welche die narrative Substanz des Romans umgewandelt wird. LÁSZLÓ TENGELYI hingegen deutet den Roman als einen Diskurs, der als Alternative zu den ihm zeitgenössischen Denkern formuliert wird und sich doch nie in den Fallstricken des ‚Roman à thèse‘ verfängt. Ziel der Arbeit am Genre sei es vielmehr, „die Grenzen des Romans so weit hinauszuschieben, dass philosophische Inhalte in ihn aufgenommen und in ihm zum Teil sogar ausdrücklich formuliert werden können“. Dieser Beitrag nimmt also nicht etwa die Frage der Rezeption zeitgenössischer Philosophie durch den Autor auf, sondern erforscht das Verständnis von Wahrheit und Wirklichkeit in der Recherche. Die Gleichsetzung des Wirklichen mit dem Unmöglichen, die dabei entdeckt wird, konterkariert nicht nur mächtige philosophische Traditionen, sondern auch das für das Romangenre konstitutive Ziel der Mimesis, die für die Fiktion unerlässliche Behauptung einer ‚möglichen Welt‘. Während die ‚realistischen‘ Gesellschaftsschilderung mit ihrer endlosen Überlagerung von Symbolen zum Inbegriff des Unwirklichen werden, erscheint ausgerechnet die klassische Tragödienperformanz als Spur des Wirklichen. Am Beispiel von Phädras Liebeserklärung an Hippolyt (Phèdre, II, 5) in der Interpretation der „Berma“, genauer gesagt an den Etappen der Rezeption, die sich an unterschiedlichen Stellen der Recherche vollzieht, werden die Stadien rekonstruiert, die von der Aneignung des sinnlichen Eindrucks zu seinem künstlerischen Ausdruck führen. 12 MATEI CHIHAIA & URSULA HENNIGFELD RÜDIGER ZYMNER greift einen Topos der Proust-Forschung auf, der zuletzt prägnant von Karlheinz Stierle formuliert wurde: Dass nämlich À la recherche du temps perdu mit seiner Absage an aristotelisch-lineare Zeitgestalt und seiner „Verdichtung“ das Genre des Romans lyrisch umdeute.10 In Gegensatz zu Stierle betont Zymner, dass nicht die Komplexität des Erzählens, sondern die Absage an narrative Zeitentfaltung für die Gattung der Lyrik konstitutiv sei. Das lyrische Sprechen evoziere das Jetzt, den Augenblick, die stillgestellte Zeit. Während die Epik nach Paul Ricœur die Zeit formatiert, als Medium des Sinns und Verstehens funktionalisiert, erfüllt Lyrik also eher eine „Aufhebung“ oder „Stillstellung“ der Zeit in einem Augenblick der Epiphanie oder des Kairos. Anders als es die zu offensichtlichen Fährten der poetologischen Äußerungen zur ‚Mémoire involontaire‘ suggerieren (und ebenfalls in Kontrast zu den ausführlich referierten modernen Poetiken des Augenblicks), entdeckt Zymner diese lyrische Dimension der Recherche in einer Erosion der narrativen Substanz, in einem „schwachen Erzählen“. Weniger eine Affirmation des Lyrischen, als vielmehr der Widerstand gegen die Epik – durch kontextuelle Schwächung oder sogar Unterbrechung narrativer Kontinuität – steht am Ursprung der „lyrischen Augenblick[e]“ Prousts. In einer komparatistischen Perspektive lässt sich dieses Ausloten von Gattungsgrenzen noch genauer als Signatur einer Schwellen- und Krisenzeit beschreiben, die über die Grenzen der französischen Literatur hinausgeht. Eine ähnliche Grenzüberschreitung wie bei Proust findet MICHAEL SCHEFFEL in Arthur Schnitzlers Traumnovelle. Dieser nach einer intensiven Lektüre der Recherche durch den österreichischen Autor und mit markanten intertextuellen Bezügen auf Prousts Roman gestaltete Text stellt die Gattung der Novelle auf die Probe: bereits der Titel führt vor, wie die generische Bezeichnung durch das Kompositum mit „Traum“ umgedeutet wird. Tatsächlich lässt sich das traumartig-zeitlose Genre des Märchens – insbesondere die Erzählungen aus Tausendundeine Nacht, die mit ähnlich identifikatorischer Empathie zitiert werden wie bei Proust – als ein Modell der Sinngebung verstehen, das eine tröstende Gegenwelt zur typischen Novellenhandlung aufbaut. Der in der Krisenzeit des Jahrhundertanfangs gleichzeitig mit der Recherche entstandene Text kann insofern als eine „Parallelaktion“ verstanden werden; beide Texte suchen einerseits Halt im Erzählen und konterkarieren andererseits doch die generische Stabilität dieses Erzählens durch divergente intertextuelle (näherhin architextuelle) Referenzen. Eine eher kontrastive Betrachtung gestattet der Vergleich von Else LaskerSchüler mit Proust, den GABRIELE SANDER und MATEI CHIHAIA ziehen. Die Lyrikerin veröffentlicht im gleichen Jahr wie Du côté de chez Swann, also 1913, ihre Sammlung Hebräische Balladen. Der programmatische Bezug auf das Alte Testament und die altjüdische Tradition, die mit dem Adjektiv „hebräisch“ suggeriert wird, durchzieht die Metaphorik des gesamten Bandes und manifestiert die Suche nach einer religiösen Inspiration moderner Dichtung, für welche die 10 Karlheinz Stierle: Zeit und Werk. „À la recherche du temps perdu“ und Dantes „Commedia“, München: Hanser 2008, S. 18. EINLEITUNG. GATTUNGSGRENZEN UND EPOCHENSCHWELLE 13 Psalmen ein immer wieder angedeutetes Vorbild sein könnten. Auch das bekannte Gedicht Versöhnung verweist in diesem Sinne, wie der Titel einer Variante verrät, auf den Versöhnungstag (Jom Kippur). Allerdings setzt sich diese Variante nicht durch; auch fällt es auf, dass die Renaissance jüdischer Traditionen das zentrale alttestamentarische Genre der Psalmen zwar thematisiert, es aber nicht zu erneuern sucht: stattdessen greift Lasker-Schüler in Anschluss an Heinrich Heine die neuere „Ballade“ auf, die einer religiös inspirierten Dichtung eher fern steht. Dieses Dilemma zwischen biblisch-religiösen und literarisch-säkularen Genres vermeidet Marcel Proust in dem Maße, in dem die Psalmen in seiner Erzählung nur in Gestalt einfacher oder vielfacher Vermittlung erscheinen: Sie werden zum Inbegriff einer gewaltsamen intertextuellen Aneignung durch andere Gattungen, einer antisemitischen Travestie, die der Erzähler teils ironisch inszeniert, teils im Überschwang ästhetischer Profanation mitvollzieht. Das Spiel mit metapoetischen Bezügen kann sogar das Spektrum der spezifisch literarischen Formen verlassen und so den Eindruck einer generischen Indetermination erzeugen. So arbeitet CORDULA REICHART die filigranen Bezüge zwischen Baudelaire, Nietzsche und Proust heraus, die jeweils das paulinische Motiv des „Stachels im Fleisch“ zum „Stachel der Zeit“ dekonstruieren. Diese Art von ‚schwacher‘ Intertextualität durch unmarkierte Einzelreferenzen, die sich auf stilistische Verfahren, auf literarische Motive und sogar auf bestimmte Sinneseindrücke gründet, wird durch eine Erzählung ermutigt, die eben so bescheidene und alltägliche Dinge in den Vordergrund stellt wie ein Schmelzbrötchen mit Tee, ein Messer, das an einen Teller schlägt, oder einen Hammer. Diese Elemente tendieren dazu, sich von ihrem Genre-Kontext zu lösen oder mit diesen zu konkurrieren. Dass ein Signifikat derart zwischen einem pastoralen Sendbrief, einer philosophischen Schrift, einem Gedicht und einem Roman zirkulieren kann, negiert wirksam die bestimmende Rolle dieser Genres; die in ihnen vermittelte Form konstituiert sich selbst als Medium: Das an den Teller schlagende Messer wird zum Vehikel des Erinnerns, und das Erinnerte, das Werkzeug, das bei Nietzsche überraschenderweise zum Medium des Philosophierens „mit dem Hammer“ wird, erscheint bei Proust in einer ähnlichen Funktion, als ein Vehikel des Schreibens. Diese nichtliterarischen Medien konkurrieren also mit den literarischen Formen und übernehmen zumindest teilweise (und im Kontext der metapoetischen Allegorie) ihre Funktion. Körper und Telefon sind weitere derartige nichtliterarische Medien, welche die strukturelle Position der literarischen Genres usurpieren. FERNAND HÖRNER ermittelt in seiner kriminalistischen Lektüre der komplex verschachtelten Passage, die vom Tod Lucien de Rubemprés spricht, die – wie er mit Roland Barthes und Ottmar Ette sagt – „Friktion“ zwischen lebensweltlichen und fiktiven Körpern, also Körpern, die schreiben und Körpern im Text. Dieses Thema der unterschiedlichen Hypostasen des Erzählers, das von Marcel Muller sehr detailliert als ein Paradigma von Stimmen analysiert wurde11, wird am Beispiel der Kommunikati11 Marcel Muller: Les Voix narratives dans la „Recherche du temps perdu“, Genf: Droz 1965/1983. 14 MATEI CHIHAIA & URSULA HENNIGFELD on von Balzac, Wilde, Proust, Montesquiou und anderen als ein Netzwerk rekonstruiert, dass sich aus fiktionalen und nicht-fiktionalen Fäden zusammensetzt. Das Genre des realistischen Romans, für den Balzacs Splendeurs et Misères steht, wird durch dieses Netz intertextueller Bezüge dekonstruiert und kann entgegen seiner ursprünglichen Bestimmung als ein nicht-fiktionaler Kontext rezipiert werden. Eine medienanthropologische Untersuchung der Erzählerstimme entwirft hingegen HERMANN DOETSCH: Im Medium des Telefons entdeckt er die Voraussetzungen für ein Erzählen, das offenbar weniger von Gattungstraditionen als von den medialen Möglichkeiten geprägt ist, welche die neue Technik und die daran gebundenen Diskurse dem Autor erschließen. Die provokative Lektüre der Recherche als „Telefon-Buch“ unterstreicht, dass das Genre des Romans nicht nur von anderen literarischen Gattungen überformt wird, sondern auch von neuen Medien, welche deren Funktion übernehmen, d.h. die Kommunikation organisieren. Dabei arbeitet der Aufsatz systematisch fünf Paradoxa moderner Kommunikation heraus, die eine Folge der Veränderung sind, welche die neuen Technologien in die Lebenswirklichkeit und in den Erwartungshorizont von Prousts Zeit einführen: die Vermittlung als Voraussetzung des Eindrucks von unmittelbarer Gegenwart; die Entmächtigung des Subjekts durch ein Netzwerk, das die Illusion intimer, subjektzentrierter (oder gar selbstbezüglicher) Rede erzeugt; die Unschärfe von Zeit und Raum (welche die Übelagerung von Simultaneität / Kongruenz und Verzögerung / Divergenz zulässt); die Dislokation und Körper und Sprache; und schließlich die Amphibolie der Stimme, die zugleich materiell und symbolisch kodiert wird. Dieses charakteristische Profil wird nun eingehend an der Recherche veranschaulicht. Der Roman, so lässt sich folgern, reflektiert das für die Poetik des Erzählens höchst relevante Thema der Stimme unter Bezug auf diese epochentypischen Paradoxien und nicht etwa auf literarische oder spezifisch narrative Charakteristiken der Erzählerstimme (die Rede des Rhapsoden im Epos, des Freundes in der romantischen Erzählung, des moralisch verantwortlichen Individuums in der Autobiographie etc.). Das komplementäre Gegenstück zu diesem Funktionswandel der erzählten Formen innerhalb von Prousts Roman ist ihre Einführung in andere Romane, wo sie nicht mehr als Medien wirksam sind, sondern wieder nur Themen der Erzählung darstellen. URSULA HENNIGFELD untersucht an einem repräsentativen Korpus der französischen Gegenwartsliteratur diese Mythisierung der Figur Marcel Proust, der Figur des Erzählers der Recherche und der übrigen Figuren dieses Romans. Dabei muss differenziert werden zwischen Werken, die Prousts Werk als Modell und Material einer ‚Réécriture‘ verwenden, und somit das Spiel mit dem Roman potenzieren (Anne Garréta ist ein Beispiel hierfür), und solchen, die es ausschließlich als Form verwenden und dabei die stereotypen Merkmale des Mythos Proust (Madeleine, Homosexualität etc.) entweder identifikatorisch übernehmen (im Fall von Vacca), kontrafaktisch variieren (Lachgar, Besson, Grossvogel) oder in eine andere, stabile Gattung transponieren (Cau, Prieur). Wenigen der aktuellen literarischen Hommagen gelingt es also, wie Garréta, den EINLEITUNG. GATTUNGSGRENZEN UND EPOCHENSCHWELLE 15 Rückgriff auf die Figur des bekannten Autors mit einer Problematisierung gattungspoetischer Autorität zu verknüpfen, so wie Proust selbst sie in seinem Werk vorführt. LUZIUS KELLER Proust und die Avantgarde In einer zwar nicht epochemachenden, so doch denkwürdigen, 1986 erschienenen Studie hat Hans Robert Jauß das Jahr 1912 als Epochenschwelle bezeichnet.1 Sein Kronzeuge ist Guillaume Apollinaire mit den Gedichten „Zone“ und „Lundi Rue Christine“. „Zone“ ist in der Dezember-Nummer 1912 der von Apollinaire im selben Jahr mitbegründeten Zeitschrift Les Soirées de Paris erschienen; „Lundi rue Christine“ ein Jahr später in der Dezember-Nummer 1913 derselben Zeitschrift. Seit kurzem liegen die drei Jahrgänge der Soirées de Paris (1912-1914) auch in Buchform vor.2 In Abweichung von Jauß, doch in Anlehnung an das monumentale, 1971 erschienene Sammelwerk L’Année 19133 betrachte ich nicht 1912, sondern 1913 als Epochenschwelle: 1913, das Jahr von Prousts Du côté de chez Swann, von Strawinskys Sacre du Printemps, von zentralen Werken der Wiener Schule, dem Jahr von Picassos und Braques Collagen, von Cendrars’ Prose du Transsibérien, illustriert von Sonia Delaunay, schliesslich von Apollinaires Les Peintres cubistes und Alcools mit „Zone“ als erstem Gedicht. So wird „Zone“ zu einem doppelten Schwellentext. Nicht nur steht es an der Schwelle eines Buches, das Gedicht schaut auch gleichzeitig in die Vergangenheit zurück und virtuell in eine Zukunft voraus, die es von seiner Gegenwart aus selber mit gestaltet. Genau dasselbe tut auch Du côté de chez Swann. Wie Apollinaires Gedicht oszilliert Prousts Roman zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Für die meisten von Prousts Zeitgenossen war das schwer zu erkennen, weil sie dem Neuen ratlos gegenüberstanden; für uns ist es schwer zu erkennen, weil uns von Prousts Gegenwart nur jene Werke und Namen bekannt sind, die diese Gegenwart als Wegweiser in eine neue Zeit überdauert haben: Strawinsky, Picasso, Braque, Apollinaire, Cendrars …, doch wer hat schon – um im Bereich der französischen Literatur zu bleiben – Les Anges gardiens von Marcel Prévost, oder La Colline inspirée von Maurice Barrès gelesen? Und ich kann die Lektüre dieser beiden Romane auch nicht unbedingt empfehlen. Immerhin illustrieren sie, was 1913 alles gedruckt und offenbar auch gelesen wurde. Der Roman von Barrès ist ein Beispiel für jenen nach dem Fin-de-siècle-Raffinement sich herausbildenden (und eigentlich unerträglichen) katholisch-nationalistisch gefärbten Mystizismus. Er ist auch ein Beispiel für Prousts Verhalten im Literaturbetrieb seiner Zeit. Nach einem Vorabdruck in der Revue hebdomadaire erschien La Colline inspirée am 12. Februar 1913 im Verlag Émile-Paul. Kurz danach bemerkt Proust, dessen Romanmanuskript soeben vom Verlag Fasquelle zurückgewiesen wurde, gegenüber Louis de Robert, der Lektor von Fasquelle hätte wohl nicht anders reagiert, hätte 1 2 3 Hans Robert Jauß: Die Epochenschwelle von 1912, Heidelberg: Winter 1986. Paris: Éditions de Conti 2010. L’Année 1913, Paris: Klincksieck 1971 (3 Bände). 18 LUZIUS KELLER man ihm, ohne den Autor zu nennen, La Colline inspirée oder La Mort von Maeterlinck vorgelegt.4 Damit stellt sich Proust – was uns heute sehr merkwürdig vorkommt – neben Barrès und Maeterlinck. Ebenso merkwürdig erscheint uns ein lobhudlerischer Brief von Ende Oktober 1913 an Barrès: Ich denke oft an Sie! Als La Colline inspirée, Ihr Meisterwerk, in der Revue hebdomadaire erschien, […] schrieb ich einen Artikel, der zwar nicht exzellent ist, der aber nach einer Überarbeitung Ihnen doch als zutreffend erschienen wäre. Le Temps hat mir versprochen, ihn zu bringen, doch ist er nie erschienen.5 Man muss hinzufügen, dass Prousts Bemühungen um Barrès im Zusammenhang mit der bevorstehenden Publikation von Du côté de chez Swann stehen. Proust hoffte, so darf man annehmen, Barrès würde seinerseits eine Rezension seines Romans schreiben und er würde seinen Einfluss geltend machen, wenn es darum ginge, literarische Preise zu verleihen. Doch schielte Proust im Hinblick auf die Rezeption seines Romans nicht nur nach rechts. Am 12. November 1913, zwei Tage also vor Du côté de chez Swann, erschien in Le Temps ein Interview Prousts mit dem Journalisten Élie-Joseph Bois. Darin verwendet Proust Motive und er spricht Themen an, wie sie im Umkreis der Futuristen und Kubisten anzutreffen sind. So sagt er beispielsweise: Sie wissen, dass es eine Geometrie der Fläche und eine Geometrie des Raums gibt. Nun, für mich ist der Roman nicht nur die Psychologie der Fläche, sondern die Psychologie in der Zeit. Und etwas weiter: Wie eine Stadt, die, während der Zug seinem gewundenen Gleis folgt, bald zu unserer Rechten, bald zu unserer Linken auftaucht, werden die verschiedenen Ansichten, die ein und dieselbe Person in den Augen einer anderen annehmen wird – in einem Mass, dass man glaubt, es handle sich jedes Mal um eine andere Person […] –, die Empfindung der Zeit vermitteln.6 Auf die futuristisch gewundene Eisenbahntrasse werde ich noch zurückkommen. Ich habe schon an anderer Stelle darauf hingewiesen, wie erstaunlich es ist, dass die Kritik bis auf eine Ausnahme den Bezug von Du côté de chez Swann auf die futuristische und kubistische Avantgarde nicht erkannt hat.7 Die Ausnahme ist Jacques-Émile Blanches Rezension von Du côté de chez Swann in L’Écho de Paris. Zu Prousts Perspektiven und Perspektivenwechsel bemerkt Blanche: „[…] ich möchte beinahe sagen, es handle sich um die vierte Dimension der Kubisten.“8 Proust war von dieser Rezension so begeistert, dass er, was damals durchaus 4 5 6 7 8 Vgl. Marcel Proust: Correspondance, Paris: Plon 1970–1993 (21 Bände), Bd. XII, S. 85. Ebd., S. 285. Marcel Proust: Essays, Chroniken und andere Schriften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 351– 352. Marcel Proust Enzyklopädie, Hamburg: Hoffmann und Campe 2009, s.v. Artikel zu „Kubismus“. Zit. in: Franck Lhomeau/Alain Coelho: Marcel Proust à la recherche d’un éditeur, Paris: Olivier Orban 1988, S. 333. PROUST UND DIE AVANTGARDE 19 zum Literaturbetrieb gehörte, ein écho de presse verfasste und drei Zeitungen zusandte: Gil Blas, Le Figaro und Le Journal des débats. In letzterem wird der Satz über die vierte Dimension der Kubisten zitiert, und der zuständige Redaktor schliesst mit folgenden Sätzen: „Heute untersucht Monsieur Blanche Du côté de chez Swann. Man erinnert sich, dass er gestern über Le Sacre du Printemps schrieb.“9 Schön, wie sich hier zwei Sternstunden von 1913, Le Sacre du Printemps, dessen turbulente Uraufführung Proust miterlebt hat, und Du côté de chez Swann, zu einer Konstellation, einem Sternbild verbinden. Wie er in einem Brief vom 22. Juli 1922 bekennt, hat Jacques Rivière, der doch ein Kenner des Kubismus und einer der ersten Leser von Du côté de chez Swann war, erst nach der Lektüre von Sodome et Gomorrhe Prousts „Verwandtschaft mit dem Kubismus“, seine „tiefe Verwurzelung in der aktuellen ästhetischen Realität“ erkannt und hinzugefügt: „darüber werde ich mich eines Tages äussern.“10 Gelegenheit dazu fand er im Februar 1923 (also kurz nach Prousts Tod), als er im Théâtre du Vieux Colombier vier Vorträge über Proust hielt. Im letzten dieser Vorträge wendet sich Rivière gegen Ortega y Gasset, der in der am 1. Januar 1923 erschienenen Gedenknummer der Nouvelle Revue française, Hommage à Marcel Proust, bemerkt, Proust betrachte die Dinge mit dem Mikroskop und sei demzufolge ein Impressionist. Rivière hält dagegen: Ich gestehe, dass mir diese Analogie nicht zusagt. Dagegen sehe ich eine Analogie, und zwar eine sehr ausgeprägte zwischen Proust und dem Kubismus […]. Heute fehlt mir die Zeit, diesen Gedanken auszuführen.11 Rivière ist 1927 gestorben, ohne seine These von einem modernen, avantgardistischen Proust ausführlich dargelegt zu haben, und keiner seiner Zuhörer im Théâtre du Vieux Colombier hat den Mut gehabt, diese These aufzugreifen. Erst von den 1970er Jahren an haben einige Kritiker, die grösstenteils nichts voneinander wussten, damit begonnen, das traditionelle Proust-Bild zu korrigieren. Ich erwähne zwei wegweisende Studien von Reinhold Hohl, „Marcel Proust in neuer Sicht“12 und „Die Recherche und der Post-Impressionismus“13, sowie die wertvolle Studie von Paola Placella Proust e i movimenti pittorici d’avantguardia.14 Bedauerlicherweise wurden sowohl Hohl wie auch Placella in Frankreich kaum wahrgenommen. Dass sie das Schicksal anderer deutscher oder italienischer Studien teilen, ist ein kleiner Trost. Doch die Vorstellung eines impressionistischen Proust hat ein zähes Leben. Genährt wird sie durch die zahlreichen Passagen im Werk, in denen sich Proust – bald explizit, bald im Verborgenen – auf die impressionistische Malerei bezieht; durch jene auch, in denen er sich über den literarischen Impressionismus äussert. 9 10 11 12 13 14 Ebd., S. 336. Proust, Correspondance, Bd. XXI, S. 376. Jacques Rivière: Quelques progrès dans l’étude du cœur humain, Paris: Gallimard 1985, S. 180. In: Die Neue Rundschau 88 (1977), S. 54–72. In: Proustiana XXI, S. 67–84. Rom: Bulzoni 1982. 20 LUZIUS KELLER Dazu ein Beispiel: In seiner am 15. Juni 1907 in Le Figaro erschienenen Rezension des Gedichtbandes Les Éblouissements von Anna de Noailles erklärt Proust, er würde gerne ein Buch schreiben mit dem Titel „Die sechs Gärten des Paradieses“. Es wären, wie er ausführt, die Gärten von Ruskin, Maurice Maeterlinck, Henri de Régnier, Francis Jammes, Claude Monet und Anna de Noailles, Gärten, deren Anlage Proust seinem Wunsch gehorchend kurz skizziert. Es sind Gärten des Jugendstils, des Symbolismus und des Impressionismus. Dabei erscheinen ihm Les Éblouissements (der Garten von Anna de Noailles) als „eine der erstaunlichsten Leistungen, vielleicht das Meisterwerk des literarischen Impressionismus“.15 Wie im Fall von Barrès hat die Lobhudelei Prousts gegenüber der Comtesse de Noailles etwas Abstossendes. Man darf aber hinzufügen, dass, wer 1907 ein Werk dem Impressionismus zuordnet, gleichzeitig sagt, es sei von gestern, wenn nicht von vorgestern. Was nun aber den malerischen Impressionismus in Prousts Schriften betrifft, erwähne ich als Erstes ein Kuriosum. Als junger Student schrieb Proust für eine kleine Zeitschrift, Le Mensuel, zwei Chroniken von Bilderausstellungen, wobei er unzählige heute völlig vergessene Salonmaler der Zeit um 1890 erwähnt, die ebenfalls ausgestellten Landschaften von Sisley aber nicht beachtet. Das sollte sich schnell ändern, denn in den 1890er Jahren lernt er mehrere Kunstsammler kennen, die sich für die Impressionisten einsetzen: Mme Straus, Charles Ephrussi, das Ehepaar Charpentier, das Ehepaar Polignac … Auch beginnt er Galerien zu besuchen: 1895 sieht er bei Durand-Ruel Monets Kathedralen von Rouen, 1898 bei Georges Petit Monets Morgenstimmungen an der Seine, 1899 eine Impressionistenausstellung (Monet, Pissarro, Renoir, Sisley und Corot) bei Durand-Ruel, 1900 Monets erste Seerosen, 1904 Monets Ansichten der Themse, 1905 eine grosse Whistler-Retrospektive, 1912 schliesslich Monets Ansichten von Venedig. Über weitere Ausstellungen hat sich Proust in Zeitungen und Kunstzeitschriften informiert. Die wachsende Vertrautheit mit der impressionistischen Malerei hat im Werk Spuren hinterlassen, beispielsweise in gewissen Landschaften und Seestücken in Prousts 1896 erschienenem Erstling Les Plaisirs et les jours (Freuden und Tage). Dann aber besonders auch in einem Fragment gebliebenen Roman, an dem Proust von 1895-1899 gearbeitet hat und der 1952 unter dem Titel Jean Santeuil erstmals erschienen ist. Man erblickt Flieder- und Apfelblüten, blühende Gärten, Seestücke, Landschaften, Flussbilder, Kornfelder, Wälder, und es ist einmal von einer adligen Dame die Rede, die sich auch während ihres Aufenthalts auf ihrem Sommersitz nicht von ihren Lieblingsbildern trennen kann: Mit einem im übrigen ausgezeichneten Geschmack hatte sie, ohne dass dadurch der Stil des Schlosses beeinträchtigt wurde, die Claude Monets und Pissarros mitge- 15 Proust, Essays, S. 329. PROUST UND DIE AVANTGARDE 21 bracht, von denen sie sich am wenigsten trennen mochte, diejenigen zudem, die am besten zu der Natur der Gegend passten, in der sie sich befand.16 Sieht man diese Bilder nicht in der Gegend, in der sich die adlige Dame befindet, sondern in ihrem Kontext, so bilden sie eine schöne Mise en abyme der Landschaftsbilder, die Proust in diesem Teil seines Romans gemalt hat. Proust nennt die nur an dieser Stelle auftretende adlige Dame princesse de Durheim, Fürstin Dürheim, und er stellt sie in ein Spannungsfeld von Modeströmungen. Sie repräsentiert das ästhetizistische Raffinement des Fin de siècle. Ihr Schloss „umfasste unter anderem eine weitläufige Halle, die ganz mit weissen Fellen bedeckt und mit englischen Möbeln ausgestattet war. Nach dem Mittagessen spielte die Fürstin Orgel in diesem Raum“.17 Es folgt die Passage über die Monets und die Pissarros der Fürstin; dann heisst es, sie habe den Dorfpfarrer angewiesen, den Kindern Bachsche Choräle beizubringen, und sie unternehme mit ihren Gästen Spaziergänge, um den Mondschein von einem ganz bestimmten Punkt aus wahrzunehmen oder um von einem ganz bestimmten Punkt aus den Kirchenglocken zu lauschen. Aus der Sicht der 1890er Jahre repräsentiert so die Fürstin die Avantgarde: Englische Möbel (modern style), impressionistische Malerei, alte Musik, wie sie im Kreis der 1896 gegründeten Schola Cantorum wiederentdeckt und aufgeführt wurde. Proust war mit mehreren Repräsentanten jener avantgardistischen Elite von Kunstliebhabern bekannt: Graf Robert de Montesquiou, der nicht nur ein Dandy und Salonlöwe war, sondern auch ein engagierter Kunstliebhaber. Er pilgerte nach Bayreuth, reiste zum Händel-Festival nach London, setzte sich ein für Gallé, Whistler und viele andere. Dann die Gräfin Greffulhe, eine Cousine Montesquious, auch sie ein Star des Faubourg Saint-Germain und auch sie engagierte Mäzenin. Oder auch Graf und Gräfin Henri de Saussine, deren musikalischen Salon Proust in dem 1893 entstandenen Prosastück „Fächer“ („Éventail“) festgehalten hat. Schliesslich Fürst und Fürstin Polignac, er dilettierender Musiker, sie dilettierende Malerin und Musikerin. Dank ihres unermesslichen Vermögens pflegte die Fürstin – geborene Winnaretta Singer – ein nachhaltiges, bis heute wirksames Mäzenatentum. Man darf annehmen, sie habe Prousts princesse de Durheim Modell gestanden. Es sind zum Teil dieselben Leute, dieselben Kunstliebhaber, die in den folgenden Jahrzehnten auch die ersten Avantgarden des 20. Jahrhunderts unterstützten, im Besonderen die Ballets Russes. Schon in seinem Prosastück über den Salon Saussine hat Proust die Modeströmungen aufgezeigt, die die 1890er Jahre kennzeichnen. Auf dem Flügel sind Noten von Haydn, Händel und Palestrina aufgeschlagen, während die Partituren der Opern Wagners oder der Sinfonien Francks und d’Indys zum alten Eisen geworfen wurden. Einer der Gäste lässt die raffinierten Düfte seines Parfums verströmen, während sich ein anderer – ebenso raffiniert – mit einem billigen 16 17 Marcel Proust: Jean Santeuil, 2 Bde., übers. v. Eva Rechel-Mertens, revid. v. Luzius Keller, hrsg. v. Mariolina Bongiovanni Bertini, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, Bd. 1, S. 479. Ebd. 22 LUZIUS KELLER Veilchensträusschen zufrieden gibt. Eine der Damen scheint einem Bild Whistlers entstiegen zu sein, doch ihr Kunstverständnis reicht über die damalige Salonmalerei nicht hinaus. Ganz ähnlich stellt Proust in Jean Santeuil das raffinierte Leben auf Schloss Durheim dem Leben auf dem Nachbarschloss Réveillon gegenüber, wo der Protagonist, Jean Santeuil, bei den Réveillon seine Ferien verbringt und wo von alters her ein einfacher Lebensstil gepflegt wird. Im Roman repräsentiert Durheim die Avantgarde, Réveillon das Althergebrachte. Doch mit seinem Roman beziehungsweise Romanprojekt geht es Proust darum, die damalige Avantgarde zu überwinden. Dem ästhetizistischen Raffinement stellt er naturnahes Empfinden gegenüber, wie es von Whitman, Emerson oder auch Ruskin vorgelebt wurde. Zu seiner Begeisterung braucht der Proustsche Romanheld keine raffinierten Inszenierungen. Ihm genügt – wie dem Dichter in Emersons Essay „The Poet“ – ein Sonnenstrahl, ein Windstoss, ein Wasserrauschen oder – später – der Geschmack eines Schmelzbrötchens, ein kleines gelbes Mauerstück auf einem Bild, die Phrase aus einer Geigensonate. Von Jean Santeuil an folgt Proust einer Poetik der Humilitas; er sucht die bescheidenen, unscheinbaren Dinge, die er gerne mit dem vorangestellten Adjektiv petit kennzeichnet: petite madeleine, petite phrase, petit pan de mur jaune usw. Bevor wir uns nun mit der Recherche beschäftigen, im Besonderen mit den impressionistischen und dann den avantgardistischen Passagen der Recherche, gilt es eine weitere Phase im Schaffen Prousts zu betrachten oder zumindest zu erwähnen. Gegen Ende der 1890er Jahre gerät die Arbeit an dem Romanprojekt ins Stocken. Proust legt es zwar noch nicht weg, beschäftigt sich aber immer mehr auch mit Kunstkritik. Ausgehend von Bildern, die er gesehen und Büchern oder Aufsätzen, die er gelesen hat, entwirft er um 1899 Essays zu Watteau, Rembrandt, Moreau und besonders zu Monet. Zwei der drei Fragmente über Monet hat er versucht, in seinen Roman zu integrieren. Das Kapitel, dem die Herausgeber den Titel „Ein Kunstsammler – Monet, Sisley, Corot“ gegeben haben, ist in unserem Zusammenhang besonders aufschlussreich, versucht Proust doch in einem ersten Teil, fünf Bilder Monets sprachlich nachzubilden, wobei er alle nur möglichen Kunstmittel jener poetischen Prosa verwendet, die er schon in den Prosagedichten von Freuden und Tage erprobt hat. Betrachten wir kurz das erste Bild, ein Falaisenbild Monets beziehungsweise Prousts: Dieu, qu’il y a du soleil aujourd’hui sur la mer, voyez comme les ombres sont noires et fraîches, voyez comme les pierres sont roses, voyez comme au loin les bateaux papillonnent dans une mer volatilisée, mais ayant, aussi le plus petit, sa petite ombre noire (F. d’Étretat).18 Eingeleitet wird diese Passage durch folgenden Satz: „Mais tout ce Monet ne fait que nous répéter“, Doppelpunkt, Anführungszeichen. In diesem Satz spricht 18 Marcel Proust: Jean Santeuil précédé de Les Plaisirs et les jours, Paris: Gallimard 1971, S. 892–893. PROUST UND DIE AVANTGARDE 23 noch der Autor, in der zitierten Passage aber spricht das Bild selbst. Proust verwendet die Redefigur der Prosopopöie, um fünf Bilder Monets zu uns sprechen zu lassen. Der Imperativ voyez stellt jeweils den Bezug zwischen dem sprechenden Bild und dem das Bild betrachtenden Leser her. Es besteht ein deutlicher Zusammenhang zwischen dem deiktischen Imperativ beziehungsweise dem Akt des Schauens und der Antithese von Licht und Schatten, die das Bild umrahmt und bestimmt: Soleil am Anfang, ombre noire am Ende. Dazu kommen Farben: eigentliche Farben mit les pierres sont roses, Farben im übertragenen Sinn, Klangfarben, mit les bateaux papillonnent dans une mer volatilisée. Solche Passagen wirken nicht nur durch die semantische Bedeutung der Wörter, sondern auch durch deren lautliche Beschaffenheit, durch ihre Tönung, ihre Färbung, in dem uns vorliegenden Beispiel durch die Laute o, e, i, und l. Die Quelle dieser Laute ist das Wort soleil. Soleil ist sozusagen die Palette des Textbildes. Offensichtlich versucht Proust mit solchen Exerzitien, sprachliche Äquivalente zu den impressionistischen Bildern zu schaffen, die ihm als Vorbild dienen. Im weiteren Verlauf des Kapitels erprobt Proust jedoch andere Möglichkeiten, Bilder zu beschreiben und über Bilder zu sprechen. In der Beschreibung einer Corot-Landschaft – eines Bildes übrigens, das nicht aus dem Atelier Corots, sondern aus jenem Prousts stammt; es ist ein Pastiche – pendelt der kritische Text zwischen Beschreibung, Kommentar und Erzählung, ein Textmuster, das Proust in der Recherche wieder aufnimmt und weiterentwickelt. So gleichen denn die Fragment gebliebenen Texte aus den 1890er Jahren einem Laboratorium. Proust stellt Versuche an, bald gelungene, bald misslungene. Bei der um 1908 einsetzenden Arbeit an einem neuen Romanprojekt hat er immer wieder auf seine früheren Versuche zurückgegriffen; vieles hat er endgültig verworfen, anderes aber wieder aufgegriffen und in den neuen Kontext eingebaut, beispielsweise einige der an den Impressionismus gemahnenden Textbilder. Ich möchte nun À la recherche du temps perdu im Hinblick auf unser Thema „Proust und die Avantgarde“ näher betrachten. Dazu werde ich den Roman zwei Mal durchschreiten. In einem ersten Durchgang, der vom Anfang zum Ende führt, mache ich vor einigen impressionistischen Textbildern halt; in einem zweiten Durchgang, jetzt vom Ende zum Anfang, vor einigen avantgardistischen Textbildern. Im ersten Teil von Du côté de chez Swann folgen nach einem ersten Kapitel mit Ouvertüre, Drama des Zubettgehens und Madeleine-Episode in einem zweiten Kapitel die Erinnerungen an Combray mit all seinen Häusern, seinen Strassen, seiner Kirche, seinen Gärten und Parks, seinen Bewohnern, seiner Umgebung, wie sie in der Madeleine-Episode aus einer Tasse Tee aufsteigen. Gegliedert sind diese Erinnerungen in drei Handlungssequenzen. Ausgehend von den Zimmern und dem Haus Tante Léonies kreist die erste um den Ort selbst und die Kirche; die zweite erzählt die Spaziergänge in die Gegend von Méséglise, die dritte jene in die Gegend von Guermantes. In der ersten ist im Zusammenhang mit Swann 24 LUZIUS KELLER und der Lektürethematik zwar hauptsächlich von Giottos Allegorien die Rede, doch tauchen in der Erinnerung des Lesers beispielsweise bei der Beschreibung des Spargels in der Küche von Françoise auch impressionistische Bilder auf. Bei den Spaziergängen du côté de Méséglise und du côté de Guermantes werden dann impressionistische Textbilder zu einem dominierenden Thema: Blühender Flieder im Park von Swann, blühender Weissdorn am kleinen Pfad bei Tansonville, reife Kornfelder mit Mohnblumen, Lichteffekte auf dem Teich von Montjouvain, Gewitterwolken über Roussainville, dann – jetzt in der Gegend von Guermantes – die Flusslandschaften, die Brücke über die Vivonne und schliesslich die Seerosen. Hier ist die Übernahme eines malerischen Vorbilds mit Händen greifbar und philologisch belegbar. Man weiss nicht, ob Proust 1909 die zweite Ausstellung von Seerosen Monets bei Durand-Ruel gesehen hat. Sicher ist, dass er sich bei der Arbeit an seinem Textbild auf Zeitungs- und Zeitschriftenartikel über diese Ausstellung stützte. Ob Monets Nymphéas von 1909 noch dem Impressionismus zuzuordnen sind, ist allerdings eine andere Frage. Man kann sie durchaus auch als ein avantgardistisches Zeugnis des anbrechenden 20. Jahrhunderts begreifen. Im Kreis der französischen Proust-Gesellschaft, der Amis de Marcel Proust et de Combray, werden alljährlich während der journées des aubépines im Mai Spaziergänge in der Gegend von Illiers unternommen. Die Frage, ob man dabei auf den Spuren des jungen Marcel Proust wandelt, möchte ich nicht unbedingt bejahen. Für den Erzähler sind die Spaziergänge in Richtung Méséglise und in Richtung Guermantes Erinnerungen, für den Autor aber sind sie – oder sind sie auch, und ich meine in erster Linie – ein erzähltechnisches, ein kompositorisches Instrument. Proust hat sich immer wieder vehement gegen die Meinung verwahrt, sein Roman sei eine Folge von Erinnerungen oder Ideenassoziationen. Gleichzeitig hat er den komponierten und konstruierten Charakter des Werks betont, hat allerdings eingeräumt, dieser sei nach der Lektüre des ersten Bandes noch nicht klar erkennbar. So schreibt er z.B. am Schluss des Flaubert-Essays, in der Madeleine-Episode habe die Erinnerungsthematik zwar ihre Bedeutung, auf der Ebene der Komposition aber habe er sie einfach dazu benützt, um „von einer Ebene auf die andere überzuwechseln“.19 In gleicher Weise ist in der Dichtung auch der Spaziergang – von Rousseaus Rêveries du promeneur solitaire oder Seumes Spaziergang nach Syrakus bis zu Robert Walsers Der Spaziergang oder Thomas Bernhards Gehen – nicht nur ein Element der Handlung, sondern auch ein Instrument der Erzählung. Auch bei Proust geht es nicht – oder nicht nur – darum, von Spaziergängen im Familienkreis zu erzählen, sondern auch darum, den Leser von einer Station zur anderen, von einem Thema oder eben (wie in Mussorgskis Bilder einer Ausstellung) mit der promenade von einem Bild zum anderen zu führen. Dieses Handlungsmuster kommt bei den Spazierfahrten in der Kutsche der Marquise de Villeparisis im zweiten Band der Recherche wieder zur Anwendung, und auch dort sind die durch die promenade verbundenen Bilder impressionistischen Vorbildern nachgebildet. Zuvor aber führt Proust im dritten Teil von Du côté de chez Swann 19 Proust, Essays, S. 409. PROUST UND DIE AVANTGARDE 25 seinen Leser in die Gärten der Champs-Élysées, einem weiteren vom Impressionismus geprägten Ort. Dass Proust nach Combray und Paris Balbec als Handlungsort wählt, hängt auch damit zusammen, dass in der ästhetischen Erziehung seines Protagonisten nach Architektur und Skulptur nun die Malerei ins Zentrum rückt und die Kanalküste als Emblem der neueren Malerei gelten kann. Der ganze zweite Teil von À l’ombre des jeunes filles en fleurs steht unter dem Zeichen der Malerei, sei es auf der Ebene der Handlung (Begegnung mit Elstir, Besuche in Elstirs Atelier), sei es auf der Ebene des Textes. Wie die Impressionisten malt Proust Bilder, Textbilder von Bahnhöfen, Sonnenaufgängen, Landschaften, Ansichten des Meeres. Ja, er hat seinem Text – während einer narrativen Pause – eine ganze Galerie von Seestücken einverleibt. Dazu kommen die Beschreibungen der Bilder Elstirs: Der Hafen von Carquethuit, Miss Sacripant oder auch das Aquarell mit einer Ansicht von Les Creuniers, ein fiktives Bild, mit dem Proust eine seiner Monet-Ekphraseis aus dem Jahr 1899 wieder aufnimmt. Auch im dritten Band der Recherche, Le Côté de Guermantes, finden sich dem Impressionismus verpflichtete Textbilder: Morgenstimmungen in Doncières oder blühende Kirsch- und Birnbäume in einem Pariser Vorort, dann auch die an Whistler gemahnenden Porträts in der Elstir-Sammlung der Guermantes, doch mit den grossen Gesellschaftsszenen und der zunehmenden thematischen Verdüsterung werden vom dritten Band der Recherche an die impressionistischen Textbilder seltener. Immerhin erblickt man beim zweiten Aufenthalt in Balbec (in Sodome et Gomorrhe) blühende Apfelbäume, einige weitere Seestücke, einige weitere Landschaften, in La Prisonnière Renoir nachgebildete Porträts von Albertine, beim Aufenthalt in Venedig Ansichten, die an Whistler und Monet gemahnen oder im letzten Band eine Baumreihe im Licht der Abendsonne, die an Monets Pappelreihen erinnert. Gewiss liesse sich nun diese Liste erheblich erweitern, doch müssten dabei nicht nur die namentlich genannten Bilder und Maler berücksichtigt werden, wie es in den meisten Kompendien zu Proust und Malerei geschieht, zuletzt in dem reich illustrierten Band von Eric Karpeles20, sondern auch jene nicht genannten Vorlagen, die unter Prousts Textbildern durchschimmern. Als noch weniger ergiebig erweisen sich die Kompendien im Hinblick auf die Avantgarde. In der Recherche finden sich zwar immer wieder Anspielungen auf die Ballets Russes, doch für cubisme, cubiste und futurisme gibt Brunets Konkordanz nur gerade je einen Beleg. Im Vorwort zu Jacques-Émile Blanches Propos de peintre spricht Proust einmal im Hinblick auf das Porträt Cocteaus von „dem grossen, dem bewundernswürdigen Picasso“.21 Auch Yoshikawas Konkordanz des Briefwechsels gibt einige Belege zu Picasso. Diese stehen meist im Zusammenhang mit der Uraufführung von Cocteaus Ballet Parade am 18. Mai 1917 durch die Ballets Russes, Musik von Erik Satie, Bühnenbild von Picasso. Mit unserem Thema 20 21 Eric Karpeles: Marcel Proust und die Gemälde aus der Verlorenen Zeit, Berlin: Dumont 2010 (englische Originalausgabe London: Thames & Hudson 2008). Proust, Essays, S. 381.