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1880: Gründung des
Deutschen Vereins
Der Deutsche Verein entstand vor dem Hintergrund der gewal­ti­gen sozialen Probleme, die die
Industrielle Revolution seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland aufwarf. Die Politik von
Reichskanzler Bismarck zielte darauf ab, die soziale Frage mit einer Mischung aus Repression
und staatlichem Engagement zu lösen. In diesen Zeitraum, der durch das autoritäre „Sozia­lis­
tengesetz“ von 1878 und die fortschrittliche „Kaiserliche Botschaft“ von 1881 markiert wird,
Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V.
Albert Doell
* Gotha 2.9.1814, † Gotha 28.5.1892
Senator und Ratsmitglied der Stadt Gotha von
1854–1879, Leiter des Armen- und Krankenhaus­­we­sens in Gotha, lebte als Senator a.D. einige Jahre
in Bremen. 1879 Verfasser der Denkschrift „Die
Reform der Armen­pflege“, in der er die Einrichtung
eines „Centralvereins für Armenpflege“ anregte
und damit die Gründung des DV initiierte.
Wolfgang Straßmann
* Lissa/Posen 1821, † Berlin 6.12.1885
Dr. med., 1849 Militärarzt in der schleswig-holsteini­
schen Armee, ­1855 Arzt in Berlin, 1869 Gründer und
Vorsitzender des Berliner Vereins gegen Verarmung
und Bettelei, 1875–1885 Stadtverordnetenvorsteher
von Berlin, Mitbegründer und von 1880–1885 Vorsitzender des DV, 1882–1885 Mitglied des Preußischen
Abgeordnetenhauses.
Die Gründungsinitiative von Albert Doell
Im Jahre 1879 verschickte der ehemalige Leiter der Armenverwaltung in Gotha und Senator a.D. Albert Doell eine Denkschrift an eine
Reihe von bedeuten­den Persönlichkeiten des
öffentlichen und privaten Wohlfahrtswesens,
in der er die Gründung eines „Centralvereins
für deutsche Armenpflege“ anregte. Dieser
sollte jährlich führenden Vertretern der Armen­
pflege eine Plattform bilden, um Erfahrungen
auszutauschen und Lösungsansätze für die
vordringlichen Probleme zu entwerfen. Sein
Vorschlag, einen das ganze Reich umspannen­
den „Deutschen Verein“ ins Leben zu rufen,
stieß in den Fachkreisen auf eine positive
­Resonanz. Wolfgang Straßmann, Berliner
Stadtverordnetenvorsteher und Vorsitzender
des Berliner Vereins gegen Verarmung, griff
die Idee auf und lud zahlreiche Sachver­
ständige zu einer Gründungsveranstaltung
am 26. und 27. November 1880 in die Reichshauptstadt ein. Dort wurden ein Präsidium
mit Straßmann als Vorsitzendem durch Akklamation bestimmt, eine
Reihe von armen­politischen Fachfragen diskutiert und die Einsetzung einer Kom­­mission beschlossen, die zum nächsten Kongress
eine Satzung ausarbeiten sollte. Auf der am 11. und 12. November
1881 wiederum in Berlin stattfindenden Versammlung wurde die
Satzung einstimmig angenommen und damit der „Deutsche Verein
für Armenpflege und Wohlthätigkeit“ konstituiert.
Organisation und Arbeitsweise
An der Spitze des Vereins stand ein fünfköpfiger Vorstand, der die
laufen­den Geschäfte zu besorgen und die Kasse zu verwalten hatte.
Gewählt wurde der Vorstand durch einen aus 30 Mitgliedern bestehenden Zentralausschuss. Mitglieder im DV konnten Kommunen,
Kommunalverbände, private Wohlfahrts­einrichtungen sowie Einzel­
personen werden. Innerhalb dieses Verbundes dominierten die
norddeutschen Städte, während die ländliche und private Armen­
pflege nur schwach repräsentiert war. Dass die politische Durchschlagskraft eines ehrenamtlich tätigen Gremiums begrenzt war,
ist evident. Dennoch stell­te die Gründung des DV einen wichtigen
Schritt von der örtlichen Zersplitterung zur reichsweiten Vereinheitlichung der Armenpflege in Deutschland dar.
Foto: Stadtarchiv Krefeld
kein Bild vorhanden
1
Foto: Landesarchiv Berlin
fällt die Geburtsstunde des Deutschen Vereins.
Ludwig Friedrich Seyffarth
* Aachen 18.6.1827, † Krefeld 26.1.1901
1869–1901 Vorsitzender der Krefelder Armenverwaltung, 1869 Mitglied des Norddeutschen Reichstages,
1873–1898 Mitglied des Preußischen Landtages.
Seit 1881 Mitglied des DV-Zentralausschusses,
1886–1901 DV-Vorsitzender.
Zersplitterung des Armenwesens
im Deutschen Reich
Die mangelnde soziale Absicherung der
proletarischen Schichten spiegelte sich
auch auf dem Gebiet der Fürsorge wider.
Das Unterstützungswohnsitzgesetz von
1870 regelte die Rechte und Pflichten der
Armenverbände. Die inhaltliche Ausgestaltung der Armenfürsorge blieb jedoch jedem
einzelnen Armenverband vorbehalten, so
dass in den Städten und Gemeinden ein
buntscheckiges Bild der Armenpflege fortbestand. Auf Seiten der freien Armenpflege
bemühten sich viele höchst unterschiedliche Vereine und kirchliche Wohltätig­keits­
organisationen, Pauperismus, Massen­
verelendung und Bettelwesen lokal zu
bekämpfen. Dieses zersplitterte System
von öffentlicher und privater Armenpflege
war nicht in der Lage, die sozialen Probleme
zu bewältigen. Das Bürgertum in den
­besonders stark betroffenen Städten und
industriellen Ballungszentren, das sich durch Kostensteigerungen
für das Armenwesen und die Zunahme von Armut, Bettelei und
Kriminalität doppelt bedroht sah, drängte auf Maßnahmen zur
Eindämmung der krisenhaften Lage. Zahlreiche Reformvorschläge
zur Umgestaltung des Armenwesens wurden diskutiert.
Mitglieder 1881:
93 Stadtgemeinden
4 Provinzial- und Landarmenverbände
11 Wohlfahrtsvereine
78 Privatpersonen
„Honoratiorenverein“
im ausgehen­den
19. Jahrhundert
In den Anfangsjahren war der Deutsche Verein ein typischer Honoratiorenverein bürgerlichen
Zuschnitts, in dem wirtschaftsliberale Ansichten dominierten. Als Zusammenschluss von
Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V.
Wilhelm Merton
* Frankfurt a.M. 14.5.1848, † Berlin 15.12.1916
Großkaufmann, Industrieller und Sozialreformer,
1881 Begründer der Metallgesellschaft in Frankfurt
a.M., Urheber zahlreicher sozialer ­Einrichtungen,
u.a. 1899 der „Centrale für private Fürsorge“,
Mitbegründer der Frankfurter Universität.
Foto: Stadtarchiv Leipzig
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Foto: Prof. Florian Tennstedt, Kassel
kommunaler und privater Armenpflege gab man sich überkonfessionell und überparteilich.
Karl Victor Böhmert
* Quesitz b.Leipzig 23.8.1829, † Dresden 12.2.1918
Seit 1866 Professor für Nationalökonomie und
Sta­­tis­tik an der Universität Zürich und der Technischen Hochschule Dresden, 1875–1895 Direktor
des Königlich Sächsischen Statistischen Büros,
Geheimer Regierungsrat. Mitbegründer des DV ­
und Mitglied im Zentralausschuss seit 1886.
Leo Ludwig-Wolf
* Werdau 2.12.1839, † 14.6.1935
Rechtsanwalt, 1883–1908 Stadtrat, Vorsitzender des
Armendirektoriums und Generalvormund für Ziehkinder in Leipzig. 1885/86–1918 Mitglied des DVZentralausschusses und -Vorstands, dort Schrift­
führer und Schatzmeister, 1901–1911 Vorsitzender,
anschließend Ehrenmitglied des DV.
Initiativen gegen Bettelei
Centrale für soziale Fürsorge, Stiftstr. 30 in Frankfurt/M., Sitz des DV 1919–1936
Bereits 1880 auf der Ersten Armenpflege-Konferenz bildete die
Bekämpfung von Bettelei und Vagabundentum ein zentrales
Thema. Zahlreiche Vorschläge wurden unterbreitet, die u.a.
darauf abziel­ten, das unkontrollierte Almosengeben durch Bürger
oder private Vereine zu unterbinden und einen Arbeitszwang zu
statuieren. ­Die freie Vereinstätigkeit sollte der Polizeiarmenpflege
unterstellt werden, um die Haus- und Straßenbette­lei möglichst
aus der Kommune „hinaus­zutreiben“.
Darüber hinaus griff der DV die Unzufriedenheit vieler kommunaler Armenverwaltungen auf, die monierten, dass sie keine aus­
reichende Handhabe gegen die Verletzung der familiären Unter­
halts­pflicht besaßen. Gab sich ein Unterhalts­verpflichteter der
„Trunksucht“ hin oder legte er „unwirtschaftliches Verhalten“ oder
„Arbeitsscheu“ an den Tag, musste die öffentliche Armenpflege für
das Auskommen der Familienangehörigen sorgen. ⁄Der DV forderte deshalb die Wiedereinführung der Arbeits­haus­unter­bringung.
1912 konnte man als Erfolg verbuchen, dass Preußen die Arbeitshausmaßregel unter ausdrücklicher Berufung auf den DV wieder
einführte.
Die jährlichen Fachtagungen
Das „Elberfelder System“ der Armenpflege
Im Mittelpunkt des Vereinslebens standen die Jahresversammlun­
gen, die zwei bis vier Tage andauerten, meist in mittleren oder
Großstädten stattfanden und von einem vorbereitenden Ausschuss
organisiert wurden. Dort wurden aktuelle Fragen der Armenpflege
und Reform­konzepte erörtert sowie Resolutionen verabschiedet.
Seit 1886 wurden die Berichte der Tagungen veröffentlicht, so dass
sie in die Fachkreise und die Politik ausstrahlten und dem Experten­
votum gewissen Nachdruck verliehen. Weitere öffentliche Aufmerk­
samkeit konnte der DV durch die Beteiligung von Ministern oder
Oberbürgermeistern an seinen Jahresversammlungen erzielen.
Zu den herausragenden Persönlichkeiten der Gründerzeit gehör­ten
der erste Vereinsvorsitzende Straßmann und sein Nachfolger, der
Krefelder Landtagsabgeordnete Ludwig Friedrich Seyffardt. Später
traten der Leipziger Stadtrat Leo Ludwig-Wolf, der Berliner Stadtrat
Emil Münsterberg und der Colmarer Justizrat Heinrich Ruland an
die Spitze des Vereins.
Eine wesentliche Rolle in der Vereinsarbeit spielten statistische
Erhebungen, die objektives Material über die Armenpflege zur
Verfügung stellen sollten. Hervorzuheben ist das grundlegende
Werk des DV-Gründungsmitglieds Karl Victor Böhmert „Das Armen­
wesen in 77 deutschen Städten und einigen Land­armen­verbän­den“
von 1886/1887. Ein zweiter Schwerpunkt der Vereinsarbeit lag auf
der Organisation der Armen­pflege. Der DV trat nachdrücklich für
das „Elberfelder System“ ein, das den Einsatz von unbezahlten
bürgerlichen Armenpflegern in ihren jeweiligen Stadt­bezirken zur
Entlastung der Kommunalbeamten vorsah. Das Elberfelder System
verfolgte als Leitidee, die Prinzipien von Individualisierung,
­Dezen­tralisierung und Ehrenamtlichkeit konsequent umzusetzen.
Eng damit verbunden war die Einbeziehung der privaten Stiftungen
und Verbände, die die öffentliche Wohlfahrt ergänzen sollten. ­
Der DV favorisierte deshalb die Zusammenfassung der Privatwohltätigkeit. Bedeutende Einrichtungen dieser Art, die mit dem DV in
Verbindung standen, waren die 1899 von dem Industriellen Wilhelm
Merton gegründete „Centrale für private Fürsorge“ in Frankfurt a.M.
und die 1893 gebildete „Zentrale für private Fürsorge“ in Berlin.
Impulsgeber neuzeit­­­
licher Armenpflege
Mit den gestiegenen Anforderungen an die kommunale Sozialpolitik seit der Jahrhundertwende
setzte eine verstärkte Professionalisierung und Bürokratisierung ein, die den Deutschen Verein vor
neue Herausforderungen stellte. Mit Karl Flesch, dem „Vater des modernen Arbeitsrechts“, und
dem langjährigen Schriftführer Emil Münsterberg verfügte er über Persönlichkeiten, die praktische
Erfahrungen in der kommunalen Armenpflege mit wissenschaftlicher Reflexion zu verbinden
wussten. Beide trugen maßgeblich dazu bei, dass sich der Deutsche Verein von einem behäbigen
Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V.
Foto: Marlies Flesch-Thebesius
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Foto: Jüdische Frauen im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg: Rowohlt, 1993
Honoratiorenverein zu einem reformorientierten Impulsgeber des Fürsorgewesens wandelte.
Karl Flesch
* Frankfurt a.M. 6.7.1853, † Frankf. a.M. 15.8.1915
Begründer des modernen Arbeitsrechts und Sozialpolitiker, entwickelte das sog. „Frankfurter System“
der Armenpflege. Seit 1884 Stadtrat und Leiter des
Armenwesens in Frankfurt a.M. Seit 1886 Mitglied
des DV-Zentralausschusses, seit 1908 Mitglied des
Preußischen Landtages.
Emil Münsterberg
* Weimar 13.7.1855, † Berlin 25.1.1911
Dr. jur., 1889/90 Amtsrichter in Menden, anschließend Bürgermeister in Iserlohn, 1893–1895 in der
Hamburger Armenpflege tätig, 1895 Leiter der
Zentralstelle für Armenpflege und Wohltätigkeit
in Berlin, dort 1898 Stadtrat und Vorsitzender der
Armendirektion. Seit 1886 im DV-Zentralausschuss
und 1892–1911 Vorstandsmitglied und Schriftführer,
13.–25.1.1911 Vorsitzender des DV.
Dorothea Hirschfeld
* Berlin 26.2.1877, † Berlin 12.6.1966
Pionierin der Sozialarbeit und Mitbegründerin des Deutschen Verban­des der
Sozialbeamtinnen, 1904–1912 Sekretärin in der Zentralstelle für Ar­menpflege
und Wohltätigkeit. 1912–1919 DV-Referentin und Leiterin der DV-Geschäftsstelle,
1919–1921 Mitglied im DV-Vorstand und bis 1933 im Hauptausschuss.
1919–1933 Ministerialrätin im Reichsarbeitsministe­rium, seit 1918 SPD-Mitglied,
1919 Mitbegründerin der Arbeiterwohlfahrt, 1942 Deportation in das KZ Theresien­
stadt, 1945–1948 Referentin in der Berliner Hauptverwaltung für Gesundheitswesen der sowjetischen Besatzungszone.
Förderung der Sozialarbeit
von Frauen
Christian Jasper Klumker
* Insel Juist 22.12.1868, † Hedemünden 19.7.1942
Dr. phil., seit 1897 im Institut für Gemeinwohl in
Frankfurt a.M. tätig, 1899–1911 Geschäftsführer der
Centrale für private Fürsorge in Frankfurt a.M., ­
1906 Gründer und Vorsitzender des Archivs Deutscher Berufsvormünder, Mitbegründer des Vereins
„Kinder­schutz“ und des ersten Jugendgerichts in
Frankfurt a.M., seit 1914 außerordentlicher Professor
für Armenpflege und soziale Fürsorge, schuf 1918 mit
dem Werk „Fürsorgewesen“ eine wissenschaftliche
Grundlage für die moderne Sozialarbeit. Seit 1920
ordentlicher Professor an der Universität Frankfurt
a.M., Vorkämpfer der Jugendamtsbewegung und
1921/22 Sachverständiger in der Kommission zur
Vorbereitung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes.
1902–1933 Mitglied des DV-Zentral- bzw. Hauptausschusses, 1918–1933 Mitglied im Vorstand des DV.
Wandte sich 1933 offen gegen den Nationalsozialismus, wurde 1934 emeritiert.
Von der Armenpflege zur sozialen Fürsorge
Schon auf seiner konstituierenden
Versammlung hatte der Verein die
Einbeziehung von Frauen, die bislang
auf den Bereich der Privatwohltätigkeit
beschränkt gewesen waren, in die
­behördliche Sozialarbeit grundsätzlich
bejaht. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts
gelangten prominente Vertreterinnen,
vornehmlich aus der Kinder- und Jugend­
pflege, in den Zentralausschuss des DV,
so die Geschäftsführerin des Vereins
für Säuglingsfürsorge im Regierungsbezirk Düsseldorf, Marie Baum, die
Geschäftsführerin der Deutschen ­Zen­­trale für Jugendfürsorge, Frieda Duensing, die Vorsitzende des Katholischen
Fürsorgevereins für Mädchen, Frauen
und Kinder, Agnes Neuhaus, und die
Sozialpolitikerin Helene Simon. Auch
der Eintritt der berühmten Frauen­
rechtlerin und Gründerin der Sozialen
Frauenschulen, Alice Salomon, in den
Zentralausschuss im Jahr 1910 verdeut­
lichte die Aufgeschlossenheit des Vereins gegenüber der bürgerlichen Frauenbewegung und der sozialen
­Berufsarbeit von Frauen. Als 1912 aus der „Zentralstelle für Armen­
pflege und Wohltätigkeit“ in Berlin die erste Geschäftsstelle des DV
hervorging, wurde mit ihrer Leitung Dorothea Hirschfeld betraut,
die gleichzeitig als erste hauptamtliche Referentin in die Vereinsgeschichte einging.
Mit dem Begriff der „sozialen Ausgestaltung der Fürsorge“ wies
Karl Flesch 1901 der Weiterentwicklung der traditionellen Armenfürsorge zur sozialen Fürsorge den Weg. Der DV befasste sich nun
mit allen Facetten der Wohlfahrtspflege von der Arbeitslosen- über
die Wohnungs- bis zur Gesundheitsfürsorge. Breiten
Raum nahm auch die Kinder- und Jugendfürsorge
einschließlich der „Zwangserziehung“ ein. Mit
Christian Jasper Klumker hatte der DV einen der
führenden Experten auf diesem Gebiet in seinen
Reihen. Hinsichtlich der Armenunterstützung
­befürwortete der Verein zwar weiterhin repressive
Maßnahmen, bot aber auch ein Forum für fortschrittliche Ideen. So wurde bereits im Jahre 1905
vorgeschlagen, einen Rechtsanspruch auf Fürsorge
gesetzlich zu fixieren, eine Forderung, die erst 1961
durch das Bundessozialhilfegesetz erfüllt wurde.
Zudem sorgten Fachleute wie Rudolf Schwander
dafür, dass das „Elberfelder System“ den gewachsenen Erfordernissen der Gegenwart angepasst
Pestalozzi-Fröbel-Haus in Berlin-Schöneberg,
und zum „Straßburger System“ weiterentwickelt
Sitz der ersten Sozialen Frauenschule,
1908 gegründet von Alice Salomon
wurde. Die „Schriftenreihe des Deutschen Vereins“,
in der bis 1918 insgesamt 107 Titel erschienen, und
die „Zeitschrift für das Armenwesen“, die der DV
seit 1906 als Publikationsorgan nutzte, spiegeln
die Bandbreite der behandelten Themen wider.
Neue Herausforderungen im Ersten Weltkrieg
Der Erste Weltkrieg leitete eine Phase der Umorientierung und Modernisierung des DV ein. Er beteiligte
sich an der „Freien Vereinigung für Kriegswohlfahrt“
und anderen Zusammenschlüssen der großen Wohlfahrtsorganisationen. In den Vordergrund rückte verstärkt die Versorgung von Kriegsbeschädigten und
Kriegshinterbliebenen — Personengruppen, die den
Rahmen der traditionellen Armenpflege sprengten
und auch nach dem Ende des Krieges von Bedeu­tung
blieben. Zudem war der DV auf dem Gebiet der
Jugend­wohlfahrt aktiv und setzte sich für das Jugendamt ­als Träger der öffentlichen Jugendfürsorge ein.
Es zeichnete sich ab, dass der DV auf den Wandel
der inhaltlichen Arbeit mit einer Erneuerung seiner
Organisationsstruktur reagieren musste.
Mitglieder 1917:
273 Stadtgemeinden
35 Provinzial- und Kreisverbände
18 staatliche Behörden
91 private Vereine
zahlreiche Einzelpersönlichkeiten
Wohlfahrtspolitische
Großorganisation in
der Weimarer Republik
Mit der Ausrufung der Weimarer Republik 1918 trat der demokratische Sozialstaat an die
Stelle des monarchistischen Obrigkeitsstaates. Erstmals erhielten Fürsorge­empfänger/innen,
die im Kaiserreich von politischen Mitwirkungsmöglichkeiten ausgeschlossen waren, das
aktive und passive Wahlrecht. Auch für den Deutschen Verein begann eine neue Phase seiner
Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V.
Foto: Klaus Niermann, Hamburg
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Foto: Archiv der sozialen Demokratie, Bonn, 1993
Entwicklung, die eng mit der Persönlichkeit von Wilhelm Polligkeit verbunden ist.
Otto Lohse
* Hamburg 26.8.1865, † Hamburg 1.6.1946
1907–1917 Direktor des öffentlichen Armenwesens
in Hamburg, 1921 Hamburgischer Staatsrat.
Seit 1906 Mitglied des DV-Hauptausschusses,
1912-1931 Mitglied des DV-Vorstands,
1.3.1921–20.3.1922 Vorsitzender,
seit 1931 Ehrenmitglied des DV.
Marie Juchacz
* Landsberg/Warthe 15.3.1879,
† Düsseldorf 28.1.1956
Seit 1908 SPD-Mitglied, seit 1917 im Parteivorstand,
Mitglied in der Verfassungsgebenden Nationalversammlung und im Reichstag (1920–1933). 1919 Grün­­
derin und bis 1933 Vorsitzende der Arbeiterwohlfahrt.
1921–1931 Mitglied im DV-Vorstand. 1933 Flucht in
die USA, 1949 Rückkehr nach Deutschland, Ehrenvorsitzende der AWO.
Wilhelm Polligkeit
* Langenberg/Rheinland 14.5.1876, † Frankfurt a.M. 27.4.1960
Dr. jur. (1907), Dr. rer. pol. h.c. (1951), seit 1929 Honorarprofessor an der Universität Frankfurt a.M. Seit 1903 Privatsekretär von Wilhelm Merton und in verschiedenen Funktionen in
der „Centrale für private Fürsorge“ und im „Institut für Gemeinwohl“ in Frankfurt a.M. tätig,
1915 Begründer der Freien Vereinigung für Kriegswohlfahrt. Seit 1911 im Zentralausschuss,
seit 1918 im Vorstand des DV, 1920–1936 und 1946–1950 Geschäftsführer, 1922–1935 und
1946–1950 Vorsitzender des DV, 1946–1960 Mitglied im DV-Hauptausschuss. In der NS-Zeit
u.a. für den Bayerischen Landesverband für Wanderdienst und das Soziographische Institut
in Frankfurt a.M. aktiv, 1945/46 Leiter des Frankfurter Wohlfahrtsamtes. 1949 wesentlich an
der Reaktivierung des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes beteiligt.
Neuausrichtung des Deutschen Vereins
Modernisierung der Vereinsarbeit
Polligkeit hatte u.a. als Geschäftsführer der „Centrale für private
Fürsorge“ in Frankfurt a.M. umfassende Kenntnisse auf nahezu
allen Gebieten des Fürsorgewesens erworben. Im DV, für den er
seit 1911 tätig war, avancierte er nicht nur 1920 zum Geschäftsführer
als Nachfolger des Beigeordneten der Stadt Höchst a.M., Hermann
Hog, sondern löste auch 1922 den Hamburger Staatsrat Otto Lohse
als Vereinsvorsitzenden ab. Als herausragender Theoretiker und
Praktiker der sozialen Arbeit trug Polligkeit entscheidend zur
Modernisierung und Professionalisierung der Vereinsarbeit bei,
so dass der DV in den Kreis der bedeutendsten Organisationen
der Wohlfahrtspflege in Deutschland aufrückte. Er leitete im Jahre
1919 den Umzug des Vereins von Berlin nach Frankfurt in die Stiftstraße 30 ein. Dort befanden sich bereits die „Centrale für private
Fürsorge“ und das von Christian Jasper Klumker geleitete Fürsorge­
seminar der Universität. Gleichzeitig erfolgte die Umbenennung in
„Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge“. Damit
­dokumentierte man auch nach außen hin, dass der Verein sein
Aufgabengebiet sehr viel weiter fasste als die traditionelle Armenpflege und das gesamte Spektrum der sozialen Fürsorge, einschließ­
lich der Versorgung von Kriegsopfern und Kriegshinterbliebenen,
darin einschloss.
Eine neue Satzung erweiterte den Vorstand auf 14, später auf 20
Personen, benannte den Zentralausschuss in Hauptausschuss um
und legte die Zahl seiner Mitglieder auf 100 bis 150 fest. Die jährlichen Fachtagungen verloren ebenso wie die Mitgliederversammlung an Bedeutung. Stattdessen rief man Fachausschüsse ins
­Leben, die die Arbeit zu einzelnen Sachthemen effektivieren sollten.
Die Frankfurter Geschäftsstelle wurde zur eigentlichen Macht­
zentrale des Vereins. Unter Polligkeits Führung leisteten etwa ein
halbes Dutzend Fachreferent/innen die Zuarbeit für den Vorstand
und die Fachausschüsse. 1922 richtete Polligkeit zu seiner Entlastung die Stelle eines 2. Geschäftsführers ein, die er mit der Juristin
Hilde Eiserhardt besetzte. Als Kontinuitätsfigur von der Weimarer
zur Bundesrepublik zählte Eiserhardt zu den wichtigsten Persönlich­
keiten des DV in diesem Zeitraum. Veränderungen gab es auch im
Publikationswesen: Die alte Schriftenreihe wurde durch die
„Schriften des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge“ und die Serie „Aufbau und Ausbau der Fürsorge“ ersetzt.
An die Stelle der „Zeitschrift für das Armenwesen“ trat 1922 der
„Nachrichtendienst“ (NDV), der mit Ausnahme des Jahres 1945 bis
heute ununterbrochen erschienen ist.
Ausbau politischer
Einflussmöglichkeiten
Da sich in der Weimarer Republik die Fürsorge­
aktivitäten von den vormals dominierenden
städtischen Wohlfahrtsbehörden auf die
Reichsebene verlagert hatten, versuchte
Polligkeit durch Kommissionen, Denkschriften
und Expertisen Einfluss auf die Sozialgesetzgebung zu nehmen. Auch hatten sich Spitzen­
verbände der freien Wohlfahrtspflege kon­
stituiert, was neue Einflussmöglichkeiten
eröffnete. Sozialpolitisch hoch angesehene
Frauen saßen sowohl im Vorstand des DV als
auch als Abgeordnete im Reichstag, so die
Zentrumspolitikerinnen Agnes Neuhaus und
Helene Weber sowie die Sozialdemokratin
Marie Juchacz. Mitglied des DV-Hauptausschusses war darüber hinaus die DDP-Politike­
rin Gertrud Bäumer. Der DV verfügte also über
einen „kurzen Draht“ direkt ins Parlament,
den er wiederholt nutzte. Politisch behielt er
seine sachliche Linie und „Neutralität“ bei.
Er stützte sich vornehmlich auf die Parteien
der Weimarer Koalition und hielt sich von den
extremen Gruppierungen linker und rechter
Couleur fern.
Mitglieder 1928:
73 Regierungsbehörden in Reich und Ländern
25 Provinzial- und Landesfürsorgeverbände
16 Landesversicherungsanstalten
416 Städte, 340 Landkreise
340 Vereine und Anstalten
ca. 300 Einzelpersonen
(gesamt: 1.510)
Die erste gedruckte Ausgabe des NDV
Gestalter des Weimarer
Fürsorgerechts
Durch die Umwandlung des Deutschen Vereins zu einem professionell geführten Interessen­
verband verstand es Polligkeit, nachhaltig Einfluss auf die Fürsorgegesetzgebung des
Reiches zu nehmen. Grundlage dieses Erfolges war einerseits sein Geschick, divergierende
Positionen zu ausgewogenen Synthesen zusammenzuführen, andererseits seine überlegene
Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V.
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Foto: Sozialdienst katholischer Frauen, Dortmund
fachliche Kompetenz.
Agnes Neuhaus
* Dortmund 24.3.1854, † Soest 20.11.1944
1899 Gründerin und Vorsitzende des Katholischen Fürsorge­vereins für Mädchen, Frauen und Kinder, heute Sozialdienst katholischer Frauen, Mitglied
im Verbandsausschuss des Deutschen Caritas-Verbandes, im Allgemeinen
Deutschen Fürsorgeerziehungstag, in der Deutschen Zentrale für Jugend­
fürsorge und im Deutschen Verband für Einzelvormundschaft. 1919 Mitglied
der Verfassungsgebenden Nationalversammlung und des Reichstages
(1920–1930) für die Zentrums-Partei. Seit 1910 Mitglied im Zentralausschuss, 1918–1928 im Vorstand des DV, DV-Ehrenmitglied.
Hilde Eiserhardt
* Esch/Taunus 24.2.1888, † Frankfurt a.M. 6.4.1955
1918 Dr. jur., seit 1919 Referentin, von 1922–1936 und 1946–1950 Zweite
Geschäftsführerin des DV. 1929 Verfasserin der Monografie „Ziele eines
Bewah­rungsgesetzes“. Mitglied im Deutschen Berufsverband der Sozial­
beamtinnen, in der NS-Zeit für den Bayerischen Landesverband für Wander­
dienst und das Soziographische Institut in Frankfurt a.M., 1945/46 für das
Frankfurter Wohlfahrtsamt tätig. 1947–1950 Mitglied des DV-Vorstands,
1947–1955 des DV-Hauptausschusses.
Alice Salomon
* Berlin 19.4.1872, † New York 30.8.1948
1906 Dr. phil., 1932 Dr. med. h.c. Seit 1893 Mitglied und seit 1899 Vorsitzende der „Mädchen- und
Frauen­gruppen für soziale Hilfsarbeit“, 1900 Mitglied und bis 1920 stellvertretende Vorsitzende
des Bundes Deutscher Frauenvereine, 1908 Mitbegründerin der ersten überkonfessionellen
­So­­zia­len Frauenschule, 1912 Gründerin des Deutschen Verbandes der Jugendgruppen und Gruppen
für Soziale Hilfsarbeit, 1917 Gründerin der Konferenz sozialer Frauenschulen in Deutschland, 1920
Vizepräsidentin des International Council of Women, 1925 Gründerin der Deutschen Akademie
für soziale und pädagogische Frauenarbeit, seit 1929 Vorsitzende des International Committee ­
of Schools of Social Work, 1919–1933 Mitglied im Vorstand des DV. 1933 Verlust der öffentlichen
Ämter, 1937 Ausweisung aus Deutschland, 1939 Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft
und des Doktortitels, 1944 Annahme der US-amerikanischen Staatsbürgerschaft.
Mitwirkung an der Fürsorgerechtsreform
Die Notwendigkeit einer grundlegenden Reform des Unterstützungs­
wohnsitzgesetzes hatte sich schon im Ersten Weltkrieg gezeigt.
Polligkeit wollte die traditionelle Armenpflege modernisieren und
sie gleichzeitig mit der Unterstützung der bedürftigen Kriegopfer
in einem einzigen Gesetz zusammenfassen. Als nach der Inflations­
krise im Jahr 1924 die „Reichsfürsorgepflichtverordnung“ und die
„Reichsgrundsätze über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge“ verabschiedet wurden, konnte es der DV als
­Erfolg verbuchen, dass darin zahlreiche seiner Reformvorschläge
eingeflossen waren. Dazu gehörten die Schaffung leistungsfähiger
Fürsorgeträger, der Lastenausgleich der Verbände untereinander,
die Verankerung des Prinzips der Individualisierung und die Er­set­
zung des Unterstützungswohnsitzes durch den „gewöhnlichen
Aufenthalt“. Nicht durchsetzen konnte sich Polligkeits Forderung
nach Gleichstellung der Kriegsopfer mit den Empfängern der Armen­
fürsorge. Dennoch ist im Weimarer Fürsorgerecht seine Handschrift
deutlich erkennbar, und nicht wenige der damals formulierten
­Bestimmungen finden sich noch heute im Sozialgesetzbuch
(SGB XII) wieder.
Zwangsbewahrung für „asoziale“ Personen
Trotz seiner prinzipiell fortschrittlichen Ausrichtung fanden weiter­
hin repressive Elemente Eingang in die Programmatik des DV.
­Hervorzuheben ist das so genannte Bewahrungsgesetz, mit dem
„asoziale“ Personen (z.B. Alkoholiker, Obdachlose, Prostituierte)
gegen ihren Willen in geschlossenen Fürsorgeanstalten untergebracht werden sollten. Die Zentrumspolitikerin Agnes Neuhaus
war die treibende Kraft des Bewahrungsgesetzes im Reichstag und
im DV. In Hilde Eiserhardt fand sie eine engagierte Mitstreiterin, die
1929 ein Standardwerk zu der Materie vorlegte. Letztendlich kam
das Bewahrungsgesetz in der Weimarer Republik aus finanziellen
Gründen nicht zustande, aber auch rechtsstaatliche Bedenken
stan­den ihm entgegen. Durch Anträge an die Reichsregierung
konn­­te der DV erreichen, dass in das „Gesetz über die Arbeits­
vermittlung und Arbeitslosenversicherung“ vom 16. Juli 1927
Regelungen eingefügt wurden, die eine Verbindung zu dem ebenfalls diskutierten Wandererfürsorgegesetz herstellen sollten. In
beiden flossen ­Aspekte der Arbeitsmarkt- und der Fürsorgepolitik
zusammen. Der DV hielt neben Maßnahmen zur Unterstützung der
Wanderer Sanktionsmöglichkeiten für unabdingbar, weswegen er
den Ausbau strafrechtlicher Vorschriften über die Arbeitshauseinweisung sowie wiederum die Einführung des Bewahrungsgesetzes
befürwortete.
Der Vorstand des DV anlässlich der 50-Jahr-Feier am 26. November 1930 in der Berliner Krolloper.
Obere Reihe: 1. von rechts: Leo Baeck, Oberrabbiner Berlin; 2. von links: Hermann Luppe,
Oberbürgermeister von Nürnberg und 2. Vorsitzender des DV; 3. v. l.: Wilhelm Polligkeit, Vorsitzender
und Geschäftsführer des DV. Untere Reihe: 1. v. l.: Marie Juchacz, Gründerin der Arbeiterwohlfahrt;
5. v. l.: Christian Jasper Klumker, Professor in Frankfurt a.M.; 6. v. l.: Johannes Steinweg, Direktor im
Centralausschuss für die Innere Mission; Mitte: Hilde Eiserhardt, 2. Geschäftsführerin im DV;
6. v. r.: Hermann Heimerich, Stadtrat in Nürnberg; 5. v. r.: Prälat Benedict Kreutz, Präsident des
Deutschen Caritasverbandes; 4. v. r.: Albert Lenné, Domcapitular, Diözesancaritasdirektor;
2. v. r.: Johannes Horion, Landeshauptmann der Rheinprovinz.
Jugendwohlfahrtsrecht, Unehelichenrecht
und soziale Berufsarbeit
Das erste große Paragrafenwerk der Weimarer Republik, an dem
der DV aktiv mitwirkte, war das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz
vom 9. Juli 1922. Der wesentliche Beitrag des DV bestand in einer
Denkschrift, den eine Expertenkommission unter der Leitung
Polligkeits vorlegte und deren Vorschläge in das Gesetz einflossen.
Ein weiteres Themengebiet, dem sich der DV über einen Zeitraum
von rund zehn Jahren widmete, war die Reform des Rechtes der
unehelichen Kinder und der Annahme an Kindesstatt. Zudem
­enga­gierte er sich weiter auf dem Gebiet der sozialen Berufsausbildung und hatte 1919 mit Alice Salomon die führende Expertin in
seinen Vorstand berufen. Mit der Beteiligung an der ersten Lehrplankonferenz des Preußischen Ministeriums für Volkswohlfahrt
1924, der Veranstaltung des 39. Deutschen Fürsorgetages 1925
über die Berufslage der Fürsorgerinnen und nicht zuletzt der
Durchführung der 2. Internationalen Konferenz für Sozialarbeit in
Frankfurt a.M. 1932 gelang es dem DV in dieser Epoche, gleichsam
als Dachverband der Berufskräfte der sozialen Arbeit in Deutschland in Erscheinung zu treten.
Der Deutsche Verein
im Nationalsozialismus
Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten bedeutete das Ende eines demokratisch und
pluralistisch organisierten Deutschen Vereins. Die einzigen Alternativen bestanden in der Auflösung
des Vereins oder in seiner „Gleichschaltung“, also der Unterordnung unter die rassenhygienischautoritäre Sozialpolitik des Hitler-Regimes. Polligkeit ergriff die Initiative, um den Deutschen Verein
Günther Roestel
* Berlin 12.5.1908, † Kiel 1.7.1986
1931–1933 Referendar im Bezirkswohlfahrtsamt Berlin-Neukölln, 1933 Beitritt
zur Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt und NSDAP, 1935/36 Sachbearbeiter für Wanderer-, Trinker- und Strafentlassenenfürsorge sowie Krankenhauswirtschaft im Hauptamt für Volkswohlfahrt der Parteileitung der NSDAP
in Berlin. 1939 Dr. jur., 1936–1943 Geschäftsführer des DV. Ab 1939 zugleich
Sozialreferent für Werksfürsorge der Marinewerft Kiel, ab Februar 1943 als
Regierungsrat Abteilungsleiter des Marine-, Waffen- und Ausrüstungs­
betriebs Stettin. Wiederholt Konflikte mit verschiedenen NS-Institutionen
und -Repräsentanten, u.a. mit dem DV-Vorsitzenden Hermann Althaus. Nach
Kriegsende Jugendrichter am Amtsgericht Kiel, dort 1948 Amtsgerichtsrat,
1969–1973 Vizepräsident.
Foto: DIJuf Heidelberg
Foto: Prof. Florian Tennstedt, Kassel
Hermann Althaus
* Hoyel/Kreis Melle 10.1.1899, † Kassel 19.8.1966
Seit 1925 als Erzieher und Fürsorger tätig, seit 1932 Mitglied der NSDAP,
seit 1939 der SS, Aufstieg bis zum SS-Oberführer, 1933 Leiter der Wohlfahrtsund Jugendpflegeabteilung der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt,
u.a. Vorsitzender des Reichsverbandes für Strafgefangenen-Fürsorge und
des Deutschen Instituts für Jugendhilfe. 1936–1945 Vorsitzender des DV.
1945 Internierung, 1948 als „Minderbelasteter“ entlassen,
1950–1964 Geschäftsführer des hessischen Siechenhauses e.V. in Kassel.
Heinrich Webler
* Grünstadt/Rheinpfalz 2.5.1897, † Heidelberg 21.3.1981
Schüler von Christian J. Klumker, 1922 Dr. phil., 1923 Geschäftsführer des
Archivs Deutscher Berufsvormünder, später Deutsches Institut für Jugendhilfe, ab 1933 Mitglied in NSDAP, SA, Bund Nationalsozialistischer Juristen
und SS, Persönlicher Stab Heinrich Himmler, Akademie für Deutsches Recht.
1943–1945 Geschäftsführer des DV. Nach 1945 Wiederaufbau des Jugend­
hilfeinstituts als Deutsches Institut für Vormundschaftswesen (heute
Deutsches Institut für Jugendhilfe und Familienrecht) in Hildesheim bzw.
Heidelberg.
Von einigen Vorstandsmitgliedern ließ sich
Polligkeit am 24. März 1933 autorisieren,
den Vorstand geschlossen zum Rücktritt
aufzufordern und als alleiniger Repräsentant
kommissarisch weiter zu amtieren. Anschließend bat er schriftlich bei den übrigen Vorstandsmitgliedern um Zustimmung zu diesem
Vorgehen, wogegen nur der Sozialdemokrat
Gottlob Binder erfolglos protestierte. ­
Am 29. April 1933 setzte Polligkeit einen mit
Leo Baeck
nationalistischen und nationalsozialistischen
* Lissa/Posen 23.5.1873, † London 2.11.1956
Seit 1897 Rabbiner, führender Repräsentant der jüdischen Wohlfahrtspflege,
Vertretern besetzten „Überleitungsausschuss“
Mitbegründer der Jewish Agency for Palestine, 1922 Vorsitzender des All­
ein. Unter ihnen befand sich mit dem Müngemeinen Rabbinerverbandes in Deutschland, seit 1925 Vorsitzender der
Zentralwohlfahrtsstelle in Deutschland, 1925–1937 Präsident der Großloge
chener Oberbürgermeister Karl Fiehler ein prodes Unabhängigen Ordens B’nei B’rith. 1930–1933 Vorstandsmitglied des
DV. 1933 bis zur Auflösung 1943 Präsident der Reichsvertretung der Juden
minenter NSDAP-Aktivist der ersten Stunde.
in Deutschland, 1943–1945 Internierung im KZ Theresienstadt, nach 1945
Übersiedlung nach London.
Mit Hilfe des „Überleitungsausschusses“
setzte Polligkeit am 5. Mai 1933 die Auflösung
des DV-Hauptausschusses und die kommissarische Fortführung der Vereinsgeschäfte durch sich selbst durch.
Mit seinem autokratischen und satzungswidrigen Vorgehen
erreichte Polligkeit, dass der DV innerhalb weniger Wochen auf
NS-Linie gebracht wurde und Repräsentanten der sozialdemokratischen und jüdischen Wohlfahrtspflege aus den Vereinsorganen
ausgeschlossen wurden, unter ihnen der Präsident der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, Oberrabbiner Dr. Leo
Baeck, der seit 1930 dem Vorstand angehört hatte.
Foto: Archiv der Sozialen Demokratie, Bonn
„Gleichschaltung“ des Vereins
Foto: Worte des Gedenkens für Leo Baeck, Heidelberg: Lambert Schneider, 1959
Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V.
6
Foto: Universitätsarchiv Frankfurt/ M.
auf die NS-Linie zu bringen und dadurch sein Fortbestehen zu sichern.
Gottlob Binder
* Holzgerlingen 14.8.1885, † Frankfurt a.M. 16.8.1961
Seit 1905 SPD-Mitglied, Präsident des Deutschen Verbandes für Wohnungswesen, Städtebau und Raumplanung, 1919–1933 hauptamtlicher Stadtrat
und Wohlfahrtsdezernent von Bielefeld, in der Weimarer Republik in zahlreichen Vereinen und Verbänden aktiv, 1933 aus allen Ämtern entfernt und
inhaftiert. 1921–1933 und 1946–1950 Mitglied des DV-Vorstandes,
1921–1933 und 1946–1961 Mitglied des DV-Hauptausschusses. Nach 1945
u.a. Hessischer Minister für Wiederaufbau und politische Befreiung und
Präsident des Frankfurter Arbeitsamtes.
Machtkämpfe um die Ausgestaltung
des Deutschen Vereins
Auch inhaltlich versuchte die kleine Schar um Polligkeit die Vereins­
arbeit an der NS-Ideologie auszurichten, indem man den „Führer“
glorifizierte, sich rassenhygienischer Argumentationsmuster bediente und ein hartes
Vorgehen gegen „Asoziale“ und „Parasiten“
befürwortete. Als flankierende Maßnahme
der Anpassung sollten der DV-Chef sowie
die wenigen verbliebenen Referenten in die
NSDAP eintreten. Während Polligkeits Parteieintritt durch den Aufnahmestopp am 1. Mai
1933 unterbunden wurde, scheiterte Eiserhardts NSDAP-Beitritt am Einspruch eines
überzeugten Nationalsozialisten, der in der
DV-Geschäftsstelle beschäftigt gewesen war.
Er wies gegenüber den angerufenen Parteistellen darauf hin, dass sowohl Polligkeit als
auch Eiserhardt in der Vergangenheit überzeugte Demokraten mit besten Beziehungen
zu jüdischen Persönlichkeiten gewesen seien
und sich jetzt aus rein opportunistischen
Gründen bei der NS-Bewegung anzubiedern
suchten. Polligkeit gab sich in den nächsten
Monaten der Illusion hin, durch geschicktes
Lavieren und juristische Kniffe die Eigenständigkeit des DV bewahren zu können.
Artikel im NDV 1933–1940
Organisatorischer und
intellektueller Tiefpunkt
Am 14. August 1935 erhielt der DV eine
neue Satzung, die auf dem „Führerprinzip“ basierte. Im Folgejahr wurde
der Umzug des Vereins nach Berlin
beschlossen, woraufhin Polligkeit und
Eiserhardt aus der Geschäftsführung
ausschieden. Von 1936 bis 1945 residierte der DV in der Reichshauptstadt.
Ohne seine ihn tragenden Gremien
war er auf den Rang einer wissenschaftlichen Forschungsstelle beschränkt. Das Amt des Vereinsvorsitzenden übernahm der Abteilungsleiter
der Nationalsozialistischen Volkswohl­
fahrt, Hermann Althaus, den stellvertretenden Vorsitz Ralf Zeitler aus der
Leitung des nationalsozialistisch aus­
gerichteten Deutschen Gemeindetages.
Als Geschäftsführer fungierte zunächst
der Polligkeit-Schüler Günther Roestel.
Nach dessen Zerwürfnis mit Althaus trat 1943 Heinrich Webler seine
Nachfolge an, ein SS-Obersturmbannführer, der als Jugendhilfe­
experte eng mit Klumker zusammengearbeitet hatte. Der „Nach­
richten­dienst“ und eine Schriftenreihe wurden bis 1944 bezie­hungs­
weise 1945 fortgeführt.
Aufarbeitung
der NS-Geschichte
Eine kritische Auseinandersetzung des Deutschen Vereins mit seiner nationalsozialistischen
Vergangenheit fand bis in die 1980er-Jahre nicht statt. Mit dieser Unterlassung stand er nicht
allein, denn das Phänomen, den Zeitraum von 1933 bis 1945 aus dem Bewusstsein der Gegen­
wart zu verdrängen und zu verharmlosen, gehört zu den Charakteristiken der bundesdeutschen
Nachkriegsgeschichte. Auf diese Weise war es möglich, dass nationalsozialistisch belastete
Fachkräfte zum Wiederaufbau beitrugen und ein Zusammenarbeiten von Tätern und Opfern
stattfand.
Verdrängung der NS-Geschichte
in der Nachkriegszeit
Die „Entnazifizierung“ behinderte beim DV
nur in der unmittelbaren Nachkriegszeit die
Anstellung fachlich geeigneter, aber politisch
belasteter Mitarbeiter/innen. Ansonsten
spielte die NS-Belastung, die auf die formale
Mitgliedschaft in der NSDAP reduziert wurde,
nur bei der Auswahl eines Geschäftsführers
im Jahr 1949 eine nennenswerte Rolle, als
Teile des DV-Vorstandes den favorisierten
Kandidaten als politisch untragbar ablehnten.
In den fünfziger Jahren verschwand das
­Thema dann gänzlich von der Tagesordnung
und der DV wurde als politisch neutraler und
wissenschaftlich renommierter Fachverband
angesehen. Immerhin dokumentierte die
Festschrift zum 75-jährigen Vereinsjubiläum
1955 einige Publikationen und Aktivitäten
des Vereins während der NS-Zeit, hatte aber
nichts mit einer kritischen Aufarbeitung der
Epoche zu tun. Die Vereinszeitschrift bot
dasselbe Bild. Nahezu alle im NDV erschienen
Nachrufe waren dadurch geprägt, dass sie
den Zeitraum von 1933 bis 1945 aussparten.
Bis 1980 änderte sich an der Tabuisierung
der braunen Vergangenheit nichts.
Die 1980 zum 100-jährigen Vereinsjubiläum
vorgelegte Festschrift ging nur auf wenigen
Seiten auf das brisante Thema ein und stellte
den langjährigen Vorsitzenden Polligkeit als
Opfer der NS-Wohlfahrtspolitik dar. Obwohl
ausführlich aus dem NDV der damaligen Zeit
zitiert wurde, fanden die dort ebenfalls ersicht­­
lichen Anbiederungsversuche Polligkeits an
das Regime sowie die von ihm 1933 vollzogene
„Gleichschaltung“ des Vereins keine Erwähnung. Gegen dieses geschönte Bild der Vergangenheit erhoben sich nun erstmals Proteste. Vor allem kritische Sozialpädagogen
und Sozialwissenschaftler wiesen darauf hin,
dass sowohl Polligkeit als auch sein Nach­
folger Muthesius durch ihre nationalsozialistische Vergangenheit belastet seien. Der DV
wies jedoch die Vorwürfe ungeprüft zurück.
1985 wiederholte sich der Vorgang. Der DV
feierte den 100. Geburtstag seines früheren
Vorsitzenden Hans Muthesius mit einem
prominent besuchten Festakt im Frankfurter
Palmengarten und legte ein biografisches
Werk vor, das die Verdienste des Jubilars in
der sozialen Arbeit glorifizierte und in Bezug
auf die NS-Vergangenheit wahrheitsentstellend war. Erneut waren heftige Angriffe auf
den DV die Folgen. Erst drei Jahre später vergab der Vorstand einen Forschungsauftrag,
der 1991 die Gewissheit brachte, dass die
­gegen Muthesius gerichteten Vorwürfe im
Wesentlichen zutrafen und er an verbrecherischen NS-Erlassen beteiligt gewesen war.
Daraufhin distanzierte sich der DV von seinem
langjährigen Repräsentanten und beschloss
die Umbenennung
von Vereinshaus
und Ehrenplakette,
die bisher den
­Namen von Hans
Muthesius trugen.
Quelle: Frankfurter Rundschau, 19.9.1990
Quelle: Frankfurter Rundschau, 19.9.1990
Quelle: Die Zeit, 14.9.1990
Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V.
7
Konflikte um die DV-Geschichte
in den 1980er-Jahren
Kritischer Umgang mit der
„braunen“ Vereinsgeschichte
Dass sich der DV aus seiner langjährigen
Blockadehaltung gelöst hatte, zeigte u.a.
2003 der Abdruck eines biografischen Beitrages über die Geschäftsführerin Eiserhardt,
in dem auch die Vereinsgeschichte im „Dritten
Reich“ näher beleuchtet wurde. Einen weiteren Schritt zur Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit unternahm
der DV mit der Erstellung einer kritisch angelegten Vereinsgeschichte, die anlässlich des
125-jährigen Vereinsjubiläums 2005 erschien.
Sie ließ erkennen, dass zahlreiche Persönlichkeiten aus den Gremien des DV in die
Machenschaften des NS-Regimes verstrickt
waren. In erster Linie sind hier die Vereinsvor­
sitzenden Wilhelm Polligkeit, Hans Muthesius,
Hans Reschke und Käthe Petersen und, mit
gewissen Abstrichen, die Geschäftsführer
Hilde Eiserhardt und Rudolf Pense zu nennen.
Noch immer stehen zahlreiche Hindernisse wie
eine schwierige Quellenlage, die Vernich­tung
umfangreicher Aktenbestände, langjährige
Schutzfristen bei persönlichen Nachlässen
und das Fehlen der notwendigen Finanzmittel
einer weiteren Erforschung des fraglichen
Zeitraums entgegen.
Wiederaufbau nach 1945
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges lag der Deutsche Verein in Trümmern, seine Berliner
Geschäftsstelle war ausgebombt, die Bibliothek verloren, das Vereinsvermögen eingefroren
und die Vereinsspitze durch NS-Funktionäre diskreditiert. In dieser hoffnungslos erscheinen­den
Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V.
8
Foto: Magistrat der Stadt Hanau
Situation ergriff Wilhelm Polligkeit die Initiative für einen Neubeginn.
Hans Achinger
* Elberfeld 5.10.1899, † Frankfurt a.M. 6.7.1981. 1924
Dr. rer. oec., anschließend in der Fürsorgeerziehung des Rheinlandes und
als DV-Referent beschäftigt, 1925–1937 Geschäftsführer der Centrale für
private Fürsorge in Frankfurt/Main, Schriftleiter der Zeitschrift der Gau­
wirtschaftskammer des Rhein-Main-Gebietes, 1938 Habilitation und Dozent
für Sozialpolitik an der Frankfurter Universität. Nach 1945 Redakteur und
Dozent, 1952 außerordentlicher Professor, 1957 Ordinarius für Sozialpolitik
der Universität Frankfurt a.M. 1955 Mitverfasser der „Rothenfelser Denkschrift“. In zahlreichen sozialpolitischen Gremien und Verbänden aktiv,
im DV 1949–1979 Mitglied des Hauptausschusses und 1951–1975 des
Vorstandes, 1962–1974 stellvertretender Vereinsvorsitzender.
Kurt Blaum
* Straßburg 10.4.1884, † Bad Homburg 26.11.1970
1908 Straßburger Sozialreferent, 1910 Dr. rer. pol., seit 1912 Verwaltungs­
direktor des Straßburger Armenamtes, Urheber des sog. „Straßburger
Systems“ der sozialen Fürsorge, nach Ausweisung aus dem Elsass 1919 im
württembergischen Innenministerium tätig, Verfasser des Werkes „Jugendwohlfahrt“, 1921–1933 Oberbürgermeister von Hanau, 1933 aus politischen
Gründen aus dem Amt geschieden, danach Gutachter und Schriftsteller,
1942–1944 Leiter des Motorenforschungswerkes Oberursel, nach Kriegsende
kurzzeitig Oberbürgermeister von Hanau und Frankfurt a.M., 1916–1933 und
1946–1953 Mitglied des DV-Hauptausschusses, 1946–1951 des DV-Vorstandes,
1949/50 DV-Geschäftsführer, 1946–1951 stellvertretender Vereinsvorsitzender.
Das „Soziographische Institut“
als Ausgangspunkt
Ludwig Neundörfer
* Mainz 13.3.1901, † Frankfurt a.M. 25.9.1975
Seit 1922 als Kulturwissenschaftler tätig, 1929 Dr. phil., 1927–1932 Leiter der Städtischen
Volksschule in Offenbach, anschließend Hilfsreferent im Volksbildungsreferat des Hessischen
Kulturministeriums, 1933–1939 Stadt- und Sozialplaner in Heidelberg mit soziografischen
Untersuchungen betraut, seit 1940 für die Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung
tätig, seit 1943 Direktor des „Instituts zur Erforschung des deutschen Volksaufbaus Frankfurt/Main“ (Soziographisches Institut). Nach Kriegsende Umorientierung der Institutsarbeit
auf Wiederaufbauplanung und Flüchtlingsintegration, 1949 Professor für Soziologie in Jugen­
heim, 1961 Ordinarius in Frankfurt a.M. 1955 Mitverfasser der „Rothenfelser Denkschrift“,
1966 an der Sozialenquête der Bundesregierung beteiligt, im DV wichtiger Impulsgeber
insbesondere zur Familienversorgung, 1960–1975 Mitglied des DV-Hauptausschusses.
Reorganisation nach Weimarer
Vorbild
Polligkeit hatte seit 1943 im Sozio1946 wurde ein erster Fürsorgetag
graphischen Institut in Frankfurt a.M.
nach Frankfurt a.M. einberufen, auf
einen Zirkel von Fürsorgefachleuten
dem Vorstand und Hauptausschuss
um sich geschart, zu denen Hans
gewählt, die demokratische Satzung
Achinger, Kurt Blaum, Hans Schenk,
der Weimarer Republik erneut beRudolf Prestel und Hilde Eiserhardt
schlossen und Polligkeit zum Vereinsgehörten. Sie bildeten den persovorsitzenden und 1. Geschäftsführer
nellen Kern für den Wiederaufbau
sowie Hilde Eiserhardt zur 2. Geschäfts­
des DV. Allerdings war das Soziogra­
führerin berufen wurden. Der DV
phische Institut keine fortschrittknüpfte folglich sowohl personell als
liche, regimekritische Institution,
auch organisatorisch nahtlos an die
Geschäftsbericht 1947, vorgetragen von Hilde Eiserhardt
auf der Vorstandssitzung am 2.3.48 in Heidelberg.
wie von den Beteiligten rückblickend
Zeit vor 1933 an. Rasch wurde er
suggeriert wurde, sondern betrieb
wieder zu einem Sammelbecken von
Raumforschung im Sinne der nationalsozialistischen Siedlungsanerkannten Persönlichkeiten aus der öffentlichen Fürsorge sowie
und Aggressionspolitik. Da sowohl der Institutsleiter Ludwig
der freien Wohlfahrtspflege. Im Vorstand saßen u.a. der Sozial­
Neundörfer als auch Polligkeit nicht der NSDAP angehört hatten
demokrat Heinrich Treibert, der zeitweilig als Präsident des Deutund sie den amerikanischen Besatzungsbehörden den Eindruck
schen Landkreistages fungierte, der christdemokratische Flüchtlings­
unpolitischer wissenschaftlicher Institutsarbeit vermitteln konnten,
politiker Peter Paul Nahm, die angesehenen Repräsentanten der
erhielt die Einrichtung die Genehmigung zur Fortsetzung der Arbeit.
evangelischen und katholischen Wohlfahrtspflege, Otto Ohl und
Neundörfer stellte dem DV im Soziographischen Institut RäumlichAlbert Lenné, und die CDU-Politikerin Helene Weber, eine der vier
keiten für eine provisorische Geschäftsstelle zur Verfügung. Im
„Mütter“ des Grundgesetzes. Inhaltlich nahm sich der DV aller
Herbst 1945 wurde Polligkeit zum Stadtrat und Leiter des Frank­relevanten Fürsorgethemen der Nachkriegszeit an, insbesondere
furter Wohlfahrtsamtes ernannt. Mit dieser Stellung im Rücken
der Jugendverwahrlosung und der Bekämpfung der Geschlechtsbeantragte Polligkeit im Frühjahr 1946 bei der US-Militärverwaltung
krankheiten. Sein zentrales Anliegen, das er weitgehend verwirk­
erfolgreich die Wiederzulassung des DV für „Großhessen“.
lichen konnte, bildete allerdings die Wiederherstellung eines
­einheitlichen Fürsorgerechts auf der Basis der Weimarer Bestimmungen.
Wilhelm Polligkeit – die zentrale
Persönlichkeit des Wiederaufbaus
Polligkeit leistete in der Nachkriegszeit
überragende Aufbauarbeit für den DV und
war nahezu omnipräsent. Nachdem er wiederholt um Entlastung durch einen hauptamtlichen Geschäftsführer gebeten hatte,
betraute der Vorstand im November 1949
den sozialpolisch erfahrenen Kurt Blaum
mit dieser Schlüsselposition. Rasch erwuchs aus der neuen Gewichtsverteilung
in der DV-Leitung ein ernster Konflikt zwischen Polligkeit und Blaum, der in einer
Führungskrise im DV mündete. Auf dem
Fürsorgetag im Oktober 1950 drängte der
Vorstand Blaum, zum Jahresende aus der
Geschäftsführung auszuscheiden, und
Polligkeit räumte mit sofortiger Wirkung
das Amt des Vorstands. Rückblickend erwies sich so die Kontroverse als Glücksfall,
denn unter dem neuen Vereinsvorsitzenden
Hans Muthesius brach das „goldene Zeitalter“ des DV an.
Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an Wilhelm Polligkeit durch Hessens Innenminister Zinnkan am
30.4.1952. Rechts im Bild Hilde Eiserhardt.
Dienststelle des DV 1952–1954 in der Savignystr. 37 in Frankfurt/M.
Die „Ära Muthesius“
Die Verabschiedung des Grundgesetzes und die Gründung der Bundesrepublik Deutschland als
sozialer Rechtsstaat schufen neue Rahmenbedingungen für die öffentliche und private Fürsorge
im Gesamtsystem der sozialen Sicherung. Eine Phase wirtschaftlicher Prosperität setzte ein, die
die Voraussetzung für den Ausbau und die Modernisierung des Sozialstaates bot und damit auch
für die Wirksamkeit des Deutschen Vereins.
Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V.
9
Rudolf Pense
* Hanau 13.2.1908, † Wiesbaden 21.12.1986
1934 Dr. jur., 1937 NSDAP-Beitritt, seit 1935 Leiter des Sozialreferats des
Deutschen Handwerks in Berlin, dann Abteilungsleiter beim Deutschen
Genossenschaftsverband, 1941–1944 Dezernent für die Gesamtwirtschaft
bei der Zivilverwaltung für Litauen, gleichzeitig Leiter der dortigen Wirtschaftskammer, nach Kriegsende Flüchtlingsbetreuer im Kreis Peine,
1946 Leiter des Kreiswohnungsamtes, 1947 des Kreissozialamtes sowie
später auch des Soforthilfeamtes, seit Dezember 1949 stellvertretender
Oberkreisdirektor. 1951–1968 Geschäftsführer des DV, anschließend im
International Council on Social Welfare (ICSW) aktiv.
Hans Reschke
* Posen 22.3.1904, † Mannheim 17.10.1995
1927 Dr. jur., 1929 Regierungsassessor in der Kreisverwaltung Herford,
1933 NSDAP-Eintritt, 1934–1939 Landrat in Höxter, anschließend kommunal­
politisch in Recklinghausen und Minden tätig, 1937–1943 ehrenamtliches
Mitglied des NS-Sicherheitsdienstes, 1943 in die Parteikanzlei beordert,
1945–1947 interniert, 1947/48 Sonderbeauftragter beim Evangelischen
Hilfswerk, seit 1949 Geschäftsführer des Instituts zur Förderung öffentlicher
Aufgaben e.V. in Frankfurt a.M., 1956–1972 Oberbürgermeister von Mannheim.
1949–1980 Mitglied im DV-Hauptausschuss, 1962–1980 Vorstandsmitglied,
1964–1970 Vorsitzender des DV. In zahlreichen kommunalpolitischen Gremien
wie dem Deutschen Städtetag aktiv
Hans Muthesius als herausragender
Sozialpolitiker
Hans Muthesius
* Weimar 2.10.1885, † Frankfurt a.M. 1.1.1977
1909 Dr. jur., 1956 Honorarprofessor für Fürsorgerecht, 1960 Dr. h.c. 1914 Magistratsassessor in
Berlin-Schöneberg, dort seit 1917 besoldeter Stadtrat und seit 1921 Stadtrat sowie stellvertreten­der
Bürgermeister, stark in der sozialen Berufsausbildung engagiert, 1928 Verfasser des Standardwerks „Fürsorgerecht“. 1933 Beurlaubung kurz vor Auslaufen seiner Wahlperiode als Stadtrat,
1933–1935 Referent beim DV, 1935–1939 Gutachter im Rechnungshof des Deutschen Reiches,
1940–1945 Referatsleiter im Reichsinnenministerium, dort Mitwirkung an verbrecherischen
NS-Gesetzen, Mitglied von Nationalsozialistischer Volkswohlfahrt und NSDAP, seit Mai 1945
Fachreferent in der Gesundheitsverwaltung der Provinz Brandenburg, 1947/48 im DV beschäftigt,
1948–1953 Beigeordneter für Soziales beim Deutschen Städtetag. 1948–1977 DV-Vorstandsmitglied, 1950–1964 DV-Vorsitzender, 1955 Mitverfasser der „Rothenfelser Denkschrift“.
Fürsorgereform und
Bestimmung des
Existenz­minimums
Der gewaltige Aufschwung, den der DV in
den 1950er-Jahren nahm und der ihn in das
Durch Muthesius´ exzellente
Zentrum der Fürsorgegesetzgebung rückte,
Beziehungen in das damals
ist untrennbar mit dem Namen des Vereins­
für die Fürsorge zuständige
vorsitzenden Hans Muthesius verknüpft.
Bundesinnenministerium
Er erkannte vorausschauend die neuen
schaltete sich der DV früh­
Herausforderungen, die die moderne Indus­
zeitig in die kaum überschautriegesellschaft an die soziale Sicherung
baren Sozialreformdebatten
seiner Bürger stellte, und entwickelte teilder Adenauer-Zeit ein. Neben
weise visionäre Ideen. Im DV gelang es ihm,
der Novellierung des Reichsdie Lage zu stabilisieren, indem er mit
jugendwohlfahrtsgesetzes
Rudolf Pense einen verlässlichen Geschäfts­
leistete er einen wichtigen
Der Regierende Bürgermeister Brandt und Muthesius auf dem DFT 1959 in Berlin
führer einstellte, dem mit Ministerialrat a.D.
Beitrag zum Fürsorgeände­
Carl Ludwig Krug von Nidda ein erfahrener
rungs­gesetz vom 20. August
Fürsorgerechtsexperte zur Seite stand. Durch den Beitritt zum Inter­
1953. Das enorme Renommee des Vereinsvorsitzenden spiegelt
national Council on Social Welfare (ICSW) verankerte Muthesius
sich auch in dem Auftrag von Bundeskanzler Adenauer zur Ausarden DV in der Ökumene der sozialen Arbeit. Durch den Umzug der
beitung eines Konzepts einer umfassenden Sozialreform wider.
Geschäftsstelle in die Savignystraße 37 und später in die Beet­
Muthesius legte daraufhin zusammen mit Hans Achinger, Ludwig
hovenstraße 61 gelang es ihm, die räumlich beengte Situation zu
Neundörfer und dem Theologen Josef Höffner im Frühjahr 1955
entspannen. Mit der Einrichtung eines weit gefächerten Systems
die „Rothenfelser Denkschrift“ vor, die entsprechende, allerdings
aus Fachausschüssen und Arbeitskreisen baute er die Organisatispäter nicht verwirklichte Neuordnungspläne der Sozialleistungen
onsstruktur des DV entscheidend aus. Hinzu trat eine beträchtliche
enthielt. Auch übernahm der DV den Auftrag zur Ermittlung des
Erweiterung des Publikationswesens, u.a. durch die Gründung des
sozialen Existenzminimums. Der DV-Arbeitskreis „Aufbau der
Eigenverlags.
Richtsätze“ berechnete im Winter 1954/55 erstmals auf wissenschaftlicher Basis die staatlich garantierte Mindestversorgung von
Fürsorgeempfänger/innen. Obwohl der so ermittelte erste „Waren­
korb“ mehr als bescheiden ausfiel, wies er doch methodisch einen
gangbaren Weg zur Festlegung der Unterstützungssätze und bildete
bis Anfang der 1980er-Jahre einen zentralen Parameter des bundes­
deutschen Sozialstaates.
Bundessozialhilfegesetz und Jugendwohlfahrtsgesetz
Mitarbeiter/innen des DV in der Bibliothek der Geschäftstelle in der Beethovenstr. 61, Frankfurt/M.
Maßgeblich beteiligt war der DV auch an der Ausarbeitung des
Bundessozialhilfe- und des Jugendwohlfahrtsgesetzes. Auf dem
Deutschen Fürsorgetag 1957 wurden von Seiten des federführenden
Bundesinnenministeriums erstmals die Leitlinien des geplanten
Sozialhilfegesetzes umrissen und von den Expert/innen des DV
intensiv erörtert. Auch der Arbeitsausschuss für Fragen der Fürsor­
ge, der unter der Leitung von Muthesius beim Bundesarbeitsmini­
ste­rium gebildet worden war, setzte sich nahezu ausschließlich aus
DV-Mitgliedern zusammen. Das Bundessozialhilfegesetz (BSHG)
vom 30. Juni 1961 verwirklichte v.a. mit der Aufnahme der Menschen­
würde, eines einklagbaren Rechtsanspruchs auf Fürsorgeleistungen
sowie der „Hilfe in besonderen Lebenslagen“ eine richtungs­
weisen­de Synthese. Allerdings lebten restriktive Traditionen der
Armenfürsorge im neuen Sozialgesetz fort, primär in Gestalt der
Arbeitshausunterbringung bei „Arbeitsscheu“ (§ 26 BSHG).
Hinsichtlich der im Gesetzgebungsverfahren besonders heftig umkämpften Subsidiaritätsfrage war der DV, ebenso wie der Deutsche
Bundestag, zerstritten. 1967 bestätigte das Bundesverfassungsgericht die Rechtmäßigkeit der im BSHG vorgesehenen Vorrangstellung der freien Wohlfahrtspflege gegenüber der öffentlichen
Fürsorge. Gleichzeitig erklärte es aber die Bewahrungsregelung
des BSHG für verfassungswidrig.
Im Gefüge des
bundesdeutschen
Sozialstaates
Der Zeitraum zwischen den grundlegenden sozialpolitischen Reformgesetzen der Adenauer­zeit
und der deutsch-deutschen Vereinigung ist durch zwei unterschiedliche Phasen gekennzeichnet: Zunächst setzte sich der Ausbau der Sozialleistungen bis in die Mitte der 1970er-Jahre fort,
ehe die Zunahme der finanziellen Belastungen dazu führte, dass verstärkte Einsparbemühungen
unternommen wurden. Diese Rahmenbedingungen bestimmten auch die Handlungsspielräume
des Deutschen Vereins.
Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V.
10
Käthe Petersen
* Elmshorn 13.5.1903, † Hamburg 10.1.1981
1930 Dr. jur., anschließend in einer Anwaltskanzlei tätig, seit 1932 kontinuierlicher Aufstieg in der Hamburger Sozialbehörde, dort von 1956–1966
Leitende Regierungsdirektorin und Leiterin des Landesfürsorgeamtes.
­Mitglied von NS-Frauenschaft, Nationalsozialistischer Volkswohlfahrt,
­Nationalsozialistischem Rechtswahrerbund und NSDAP, erhebliche Ver­
strickung in die verbrecherische Fürsorgepolitik. 1957–1981 Mitglied des
DV-Hauptausschusses, 1959–1981 Mitglied des Vorstandes, 1965–1970
stellvertretende Vorsitzende, 1970–1978 Vorsitzende des DV.
Walter Schellhorn
* Stuttgart 15.6.1927
1945–1948 in einem französischen Lager interniert, anschließend Besuch
der höheren Verwaltungsschule in Stuttgart, 1953–1963 Referent für Sozialrecht beim Landkreistag Baden-Württemberg. Seit 1961 DV-Hauptausschussmitglied, 1963–1968 stellvertretender Geschäftsführer, 1969–1989 Geschäfts­
führer des DV, 1969–1989 geschäftsführendes DV-Vorstandsmitglied,
1973–1989 Direktor, anschließend DV-Ehrenmitglied, rund 25 Jahre maßgeb­
lich auf nahezu allen Fachgebieten der sozialen Arbeit und als Organisator
im DV aktiv, ausgewiesener Sozialhilferechtsexperte und Verfasser eines
renommierten BSHG-Kommentars.
Otto Fichtner
* Bremen 29.3.1929
Professor, 1956–1961 wissenschaftlicher Assistent in der SPD-Bundeszentrale, 1962–1965
Abteilungsleiter in der Bremer Behörde für Wohlfahrt und Jugend, seit 1965 Beigeordneter
für Soziales und Jugend der Stadt Bochum, 1969–1976 als Ministerialdirektor Leiter der
Abteilung Jugend und Sozialwesen im Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit, anschließend Beigeordneter für Soziales, Jugend und Gesundheit der Stadt Duisburg.
1965–1995 Mitglied im DV-Hauptausschuss, 1966–1994 im DV-Vorstand, 1976–1978 stellvertretender Vorsitzender, 1978–1989 Vorsitzender des DV, seit 1993 DV-Ehrenmitglied. 1989–
1991 Vorsitzender der Arbeiterwohlfahrt (AWO), 1990/91 kommissarischer Abteilungsleiter
im Brandenburgischen Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen, 1991–1993
Präsident des Brandenburgischen Landesamtes für Soziales und Versorgung in Cottbus.
Akademie und „Hans-Muthesius-Haus“
Fortentwicklung des Sozialhilferechts
Nachfolger von Hans Muthesius als Vereinsvorsitzender wurde
1964 der Mannheimer Oberbürgermeister Hans Reschke. Da er
sein Amt im DV nur nebenamtlich wahrnahm, wuchs der Einfluss
von Hans Achinger und Käthe Petersen, die seit 1965 als stellvertretende Vorsitzende fungierte. Im Mittelpunkt standen Bestrebungen, die soziale Berufsausbildung institutionell beim DV zu
verankern. Die Notwendigkeit dazu ergab sich aus dem Bundes­
sozialhilfe- und dem Jugendwohlfahrtsgesetz, deren praktische
Umsetzung eine Erhöhung der Zahl gut ausgebildeter Fachkräfte
voraussetzte. Schon unter Muthesius war ein Fortbildungswerk
eingerichtet und die Forderung erhoben worden: „Wir brauchen
eine Akademie!“ Aber erst am 7. März 1966 wurde die „Akademie
für Jugendarbeit und Sozialarbeit“ ins Leben gerufen, wenig später
ergänzt um ein weiteres Ausbildungswerk.
Unter dem Vorsitz von Reschke wurde auch
mit dem Bau des 13-stöckigen „Hans-Muthesius-Hauses“ begonnen, das 1973 alle
Einrichtungen des stark angewachsenen
Vereins unter einem Dach vereinte. Als
­Spiritus Rector des neuen Gebäudes zeichnete Walter Schellhorn verantwortlich, seit
1963 stellvertretender und seit 1968 erster
Geschäftsführer des Vereins.
Als erste Frau trat 1970 die langjährige Leiterin des Hamburger
Landessozialamtes, Regierungsdirektorin a.D. Dr. Käthe Petersen,
das Amt der Vereinsvorsitzenden an. Unter ihrer Leitung erreichte
der DV seinen institutionellen Zenit und die Zahl der Fachausschüsse stieg kurzzeitig auf ein Dutzend an. Während der 1960erund 1970er-Jahre beteiligte sich der DV vornehmlich an der Fortent­
wicklung des Sozialhilferechts. Neben Petersen zeigte sich v.a. der
Gutachtenreferent und stellvertretende Geschäftsführer Dr. Dieter
Giese besonders aktiv. Drei Novellen des BSHG, durch die 1965,
1969 und 1974 der Leistungskatalog erheblich erweitert und armen­
polizeiliche Relikte gestrichen wurden, begleitete der DV kritisch.
Darüber hinaus schaltete man sich in die Diskussionen um die
Schaffung des Sozialgesetzbuchs – Allgemeiner Teil – ein.
Kontinuität in den 1980er-Jahren
Seit Oktober 1978 lenkte mit Otto Fichtner
erstmals ein Sozialdemokrat die Geschicke
des DV. Angesichts der Diskussionen um
einen Umbau des Sozialstaats kann es
durchaus als Erfolg angesehen werden,
dass der DV in den 1980er-Jahren seinen
Stellenwert bewahren konnte. Das Finanzvolumen konnte sogar erhöht und die
­Anzahl der beschäftigten Mitarbeiter/innen bei rund 100 gehalten
werden. 1981 ging allerdings der Einfluss des DV auf die Bestimmung der Sozialhilfeleistungen weitgehend verloren, da der Auftrag zur Regelsatzermittlung an die Länder zurückgegeben wurde,
so dass nach langen Querelen schrittweise das so genannte „Statistik-Modell“ zur Ermittlung des Existenzminimums eingeführt
wurde.
Sitz des DV 1973–2004 Am Stockborn 1–3 in Frankfurt/M. (bis 1990 „Hans-Muthesius-Haus“)
Mitglieder 1986:
234Landkreise
101kreisfreie Städte
324kreisangehörige Städte
36Bundesbehörden, Länderverwaltungen u.a.
12überörtliche Träger der Sozial- und Jugendhilfe
633Organisationen, Verbände und Vereine
67Ausbildungsstätten
1.088Einzelpersonen, 7 Unternehmen, 11 Sonstige
Gesamt: 2.644
Vermittler im
deutsch-deutschen
Vereinigungsprozess
Der Fall der Berliner Mauer im November 1989 leitete den überaus dynamischen Vereinigungs­
prozess von Bundesrepublik Deutschland und Deutscher Demokratischer Republik ein. Quasi
über Nacht war eine Angleichung zweier grundverschiedener Gesellschafts- und Sozialsysteme
vorzunehmen. Mit der Volkskammerwahl vom 18. März 1990 wurden die Weichen auf den Beitritt
der DDR zur Bundesrepublik gestellt und das westdeutsche Sozialrecht auf die neuen Bundesländer und Ost-Berlin übertragen. Der Deutsche Verein leistete einen maßgeblichen Beitrag dazu,
dass dies gelang.
Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V.
11
Teresa Bock
* Viersen/Niederrhein 21.10.1927
Professor Dr., ab 1949 Ausbildung zur Wohlfahrtspflegerin, 1955–1957 Referentin für politische Bildung in Bendorf, 1960–1962 Dozentin an der Akademie
für Jugendfragen in Münster, 1962–1967 Direktorin der Höheren Fachschule
für Sozialarbeit in Düsseldorf, 1967–1970 Direktorin der Höheren Fachschule
für Sozialarbeit in Aachen, 1970–1977 Rektorin in der Katholischen Fachhochschule Nordrhein-Westfalen, 1991–1993 Gründungsdirektorin der Katholischen Fachhochschule in Berlin-Karlshorst, 1972–2002 Vizepräsidentin des
Deutschen Caritas-Verbandes (DCV). Mitglied des DV-Hauptausschusses
1971–1995, Vorstandsmitglied 1971–1994, stellvertretende DV-Vorsitzende
1978–1990, DV-Vorsitzende 1990–1994, seit 1995 Ehrenmitglied des DV.
Manfred Wienand
* Aschaffenburg 30.8.1947
1980 Dr. jur., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschafts-,
Arbeits- und Sozialversicherungsrecht der Universität Freiburg, anschließend
in der Sozial- und Gesundheitsverwaltung des Landes Rheinland-Pfalz tätig,
Lehrbeauftragter für Sozialrecht der Universität Gießen. Seit Anfang der
1980er-Jahre im DV Leiter der Abteilung „Fachreferate/Gutachtenerstattung“,
seit 1987 stellvertretender Geschäftsführer, seit 1989 Mitglied im DV-Hauptausschuss, 1989–2000 DV-Geschäftsführer, 1990–2004 Mitglied des DV-Vor­standes, 2000–2004 Mitglied des DV-Präsidiums. Seit 1999 Beigeordneter
für Jugend, Soziales und Familie, seit 2006 Leiter des Dezernats Recht und
Verfassung, Gesundheit beim Deutschen Städtetag.
Das Sozialhilferecht der DDR
Fachkräfteschulung in Ostdeutschland
Die schwierige Aufgabe, nahezu die gesamte Arbeit des DV innerhalb kürzester Zeit auf die Vereinigungsproblematik auszurichten,
fiel der neuen Vorsitzenden, Prof. Dr. Teresa Bock, und dem Geschäftsführer Dr. Manfred Wienand zu, der 1989 Walter Schellhorn
abgelöst hatte. In dieser Umbruchszeit richtete der Verein sein
Hauptaugenmerk auf die Förderung der sozialrechtlichen Adaption.
Zur Übertragung des BSHG auf die ostdeutschen Länder organisierte der DV Fachkonferenzen, an denen sich maßgebliche Akteure
aus West und Ost beteiligten. Ein wesentli­ches
Ergebnis bildete 1990 die Ergänzung des Entwurfs zum Sozialhilfegesetz der DDR, die die
Vorrangstellung der Freien Wohlfahrtspflege
auch im Beitrittsgebiet festlegte. Zum 1. Januar
1991 trat in Ostdeutschland das BSHG in Kraft.
Allerdings unterlag es dort Ausnahmeregelun­
gen, so genannten „Maßgaben“, die einige
Leistungen einschränkten. Der DV kritisierte
diese Benachteiligung ostdeutscher Sozialhilfe­
empfänger/innen, die erst 1996 außer Kraft
gesetzt wurden.
Erster gesamtdeutscher Fürsorgetag
1990 in Hannover
Neben der technischen Einführung des bundesdeutschen Sozialrechts in den neuen Bundesländern zeigte sich der DV auf dem Gebiet
der menschlichen Begegnungen überaus aktiv
und schuf zahlreiche Möglichkeiten zur innerdeutschen Kommunikation. Die Fachausschüsse des Vereins wurden für ostdeutsche
Kolleg/innen geöffnet und seit April 1990 wiederholt gemeinsame Veranstaltungen anberaumt. Den Höhepunkt des Ost-West-Dialogs
bildete der 72. Deutsche Fürsorgetag im September 1990 in Hannover. Etwa 1.000 der insgesamt 2.500 Besucher kamen aus der DDR,
sodass das Expertentreffen erstmals seit 1945
einen wirklich gesamtdeutschen Charakter
trug. Eine Satzungsänderung ermöglichte ostdeutschen Interessent/innen den Beitritt zum
DV. Allerdings erreichte die Zahl der Mitglieder
aus den neuen Bundesländern nicht das westdeutsche Niveau.
Manfred Scholle
* Berlin 1946
Dr. jur., zunächst in verschiedenen Verwaltungen des Berliner Senats tätig,
1981/82 Schul-, Kultur- und Sozialdezernent der Stadt Salzgitter, 1982–1991
Beigeordneter für Soziales, Jugend, Gesundheit und Sport der Stadt Dortmund, seit 1987 Vorsitzender des Sozialausschusses des Deutschen Städtetages und Mitglied des Sozialausschusses der evangelischen Kirche West­
falens, seit 1991 Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, seit
2000 Vorstandsvorsitzender der RWE Gas AG, seit 2004 Vorstandsvorsitzender der Gelsenwasser AG. Seit 1983 Mitglied im DV-Hauptausschuss, seit
1988 im DV-Vorstand, 1990–1994 stellvertretender Vorsitzender, 1994–1998
Vorsitzender, 2007 Ehrenmitglied des DV.
Mit der Einführung des bundesdeutschen Sozialrechts in der DDR
musste die Zahl der Fachkräfte erhöht und sie unter enormem
Zeitdruck mit den neuen Durchführungsbestimmungen vertraut
gemacht werden. Der DV übernahm auf diesem zentralen Gebiet
zur Herstellung der Sozialunion entscheidende Verantwortung.
Er stellte Arbeitsmappen zum Sozialhilferecht und zum Heimgesetz
zusammen und führte bereits im Juni 1990 eine Schulungsveranstal­
tung für 50 Fachkräfte aus allen Bezirken der DDR in Frankfurt a.M.
durch. Auf Bitte des Ministeriums für Gesundheit der DDR
­organisierte der DV außerdem in
rund 50 ostdeutschen Städten
Einführungsveranstaltungen, an
denen sich über 2.500 Mitarbeiter/innen aus den Sozialverwaltungen beteiligten. Damit legte
er den Grundstein für die Übertragung des bundesdeutschen
Sozialhilferechts auf die neuen
Länder und trug erheblich zum
Gelingen der deutschen Einheit
Regine Hildebrandt, Sozialministerin Brandenburg; Dr. Manfred Scholle, stellv. Vorsitzender
des DV; Prof. Dr. Teresa Bock, Vorsitzende des DV; Staatssekretär Dr. Werner Tegtmeier.
bei.
Neubeginn in Berlin
Nach der Vereinigung beider deutscher Staaten, die den ohnehin beträchtlichen Finanzbedarf
weiter ansteigen ließ, verstärkten sich die Diskussionen um die Finanzierbarkeit der Sozialleistungen und die Umgestaltung des Sozialstaates. Auch der Deutsche Verein geriet in
dieser Phase unter erheblichen Reformdruck. Mit der Verlegung der Geschäftsstelle nach
Berlin trug er den gewandelten Erfordernissen Rechnung und kehrte zu seinen historischen
Wurzeln zurück.
Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V.
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Konrad Deufel
* Konstanz 1947
1976 Dr. theol., 1979–1989 Caritas-Direktor in Freiburg i. Br., 1989–1994 Stadt­
rat und Dezernent für Jugend, Gesundheit und Soziales der Stadt Hannover,
1994– 2006 Oberstadtdirektor von Hildesheim, seit 2006 Geschäftsführer
der profund.gmbh. Seit 1991 Mitglied des DV-Haupt­ausschusses, seit 1994
Mitglied des DV-Vorstandes, 1998–2006 Vorsitzender, seit 2007 Ehrenmitglied des DV.
Michael Löher
* Hannover 26.8.1958
1989/90 Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Niedersächsischen CDULandtagsfraktion, 1991 als Regierungsrat Kabinettsreferatsleiter des Finanzministeriums von Sachsen-Anhalt, anschließend bis 1993 als Ministerialrat
Büroleiter des Ministerpräsidenten in der sachsen-anhaltinischen Staatskanzlei, 1993–1999 stellvertretender Abteilungsleiter der Abteilung Familie,
Kinder, Sport im Ministerium für Arbeit, Frauen, Gesundheit und Soziales
des Landes Sachsen-Anhalt. Seit 2000 Geschäftsführer (nach Satzungs­
änderung im März 2007: Vorstand) des DV.
Wilhelm Schmidt
* Barbecke/ Kreis Peine 13.5.1944
Beamter im gehobenen Dienst der Stadt Wolfenbüttel, zuletzt Leiter der Personalabteilung und Dozent an der Verwaltungsschule Braunschweig, SPD-Mitglied seit 1966,
seit 1972 in der Kommunalpolitik aktiv, 1978–1986 Mitglied im niedersächsischen
Landtag, 1987–2005 Mitglied des Deutschen Bundestages für den Wahlkreis Salzgitter-Wolfenbüttel, dort u.a. Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der SPDFraktion, seit 1994 Mitglied im Vorstand der Stiftung Deutsches Hilfswerk, seit 1990
stellvertretender Vor-sitzender, seit 2004 Vorsitzender der Arbeiterwohlfahrt, seit
2008 Bevollmächtigter des Vorstands der EVONIK AG, Essen. Seit 27.9.2006 Vorsitzender (nach Satzungsänderung im März 2007: Präsident) des DV.
Umstrukturierung und
Modernisierung
Im September 1994 löste der Direktor des
Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe,
Dr. Manfred Scholle, Teresa Bock im Vereinsvorsitz ab. Zu dieser Zeit trat stufenweise die Pflegeversicherung als fünfte
Säule der Sozialversicherung in Kraft, ­
für deren Verwirklichung der DV seit den
1970er-Jahren eingetreten war. Die sozialpolitische Arbeit des DV wurde jedoch im
November 1995 durch eine Bilanzprüfung
des Bundesrechnungshofes in den Hintergrund gedrängt, die ihn in eine schwere
Krise stürzte.
Mit den Folgewirkungen der Bundesrechnungshofprüfung hatte sich seit 1998
der neue Vereinsvorsitzende, der Hildesheimer Oberstadtdirektor Konrad Deufel,
zu beschäftigen, unterstützt von Michael
Löher, der im Februar 2000 die Geschäftsführung übernahm. Zu den Reformmaßnahmen gehörte die Umstrukturierung der
Geschäftsstelle und die Einführung von
acht Arbeitsfeldern (heute sechs plus eine
Stabsstelle). Zur Verbesserung der Effektivität wurde als flexibles Leitungsgremium
ein zwölfköpfiges Präsidium eingerichtet
und die Satzung den Veränderungen ange­
passt. Die lang anhaltenden Finanzierungs­
diskussionen konnten durch den Abschluss
einer neuen Finanzierungsvereinbarung
mit dem BMFSFJ endgültig beigelegt
­werden, die auf einem pauschalen Förderbetrag des Bundes sowie dem Prinzip der
Projektförderung basiert. Im April 2001
­erfolgte die Vereinigung mit dem Internationalen Sozialdienst (ISD), wodurch sich
das sozialpolitische Spektrum des DV
­erweiterte.
Festakt zum 125-jährigen Bestehen des DV am 8. Dezember 2005 in Berlin. V.l.n.r.: die Vorsitzende des Deutschen
Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Barbara Stolterfoth; Bundesfamilienministerin Dr. Ursula von der Leyen; der Vorsitzende
des DV, Dr. Konrad Deufel; Bundespräsident Horst Köhler; der Präsident des Deutschen Städte- und Gemeindebundes,
Roland Schäfer.
Umzug nach Berlin
Sitz des DV seit 2004 in der Michaelkirchstr. 17/18 in Berlin.
Während die Modernisierung des DV voranschritt, erwies sich das Vereinsgebäude
in Frankfurt a.M. zunehmend als Belastung.
Seine Bausubstanz war mittlerweile so
marode, dass sein Erhalt nicht mehr tragbar war. Der Vorstand beschloss daher,
den Vereinssitz nach Berlin zu verlegen.
Diese Entscheidung war von großer Tragweite für viele Mitarbeiter/innen und lang­
jährige Vereinsmitglieder. Doch der neue
Standort eröffnete der zukünftigen Arbeit
des DV neue Perspektiven. Man befindet
sich am Puls des sozialpolitischen Gesche­
hens und verfügt über kurze Wege zu den
maßgeblichen Akteuren und Bundesminis­
terien. Seit dem 27. September 2006 übt
Wilhelm Schmidt das Amt des Vereinsvorsitzenden (seit einer Satzungsänderung
2007: Präsident) aus.
Weiterhin wirft der DV – als einzigartiges
Forum für öffentliche und freie Träger der
sozialen Arbeit – seine Fachkonferenz in
die politische Waagschale, um die Modernisierung des deutschen Sozialstaats
­voranzutreiben.
© Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. 2008
Konzept und Redaktion: Dr. Sabine Schmitt
Recherche und Text: Dr. Matthias Willing
Gestaltung: Stefan Walter