komplette Ausstellung
Transcription
komplette Ausstellung
1880: Gründung des Deutschen Vereins Der Deutsche Verein entstand vor dem Hintergrund der gewaltigen sozialen Probleme, die die Industrielle Revolution seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland aufwarf. Die Politik von Reichskanzler Bismarck zielte darauf ab, die soziale Frage mit einer Mischung aus Repression und staatlichem Engagement zu lösen. In diesen Zeitraum, der durch das autoritäre „Sozialis tengesetz“ von 1878 und die fortschrittliche „Kaiserliche Botschaft“ von 1881 markiert wird, Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. Albert Doell * Gotha 2.9.1814, † Gotha 28.5.1892 Senator und Ratsmitglied der Stadt Gotha von 1854–1879, Leiter des Armen- und Krankenhauswesens in Gotha, lebte als Senator a.D. einige Jahre in Bremen. 1879 Verfasser der Denkschrift „Die Reform der Armenpflege“, in der er die Einrichtung eines „Centralvereins für Armenpflege“ anregte und damit die Gründung des DV initiierte. Wolfgang Straßmann * Lissa/Posen 1821, † Berlin 6.12.1885 Dr. med., 1849 Militärarzt in der schleswig-holsteini schen Armee, 1855 Arzt in Berlin, 1869 Gründer und Vorsitzender des Berliner Vereins gegen Verarmung und Bettelei, 1875–1885 Stadtverordnetenvorsteher von Berlin, Mitbegründer und von 1880–1885 Vorsitzender des DV, 1882–1885 Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses. Die Gründungsinitiative von Albert Doell Im Jahre 1879 verschickte der ehemalige Leiter der Armenverwaltung in Gotha und Senator a.D. Albert Doell eine Denkschrift an eine Reihe von bedeutenden Persönlichkeiten des öffentlichen und privaten Wohlfahrtswesens, in der er die Gründung eines „Centralvereins für deutsche Armenpflege“ anregte. Dieser sollte jährlich führenden Vertretern der Armen pflege eine Plattform bilden, um Erfahrungen auszutauschen und Lösungsansätze für die vordringlichen Probleme zu entwerfen. Sein Vorschlag, einen das ganze Reich umspannen den „Deutschen Verein“ ins Leben zu rufen, stieß in den Fachkreisen auf eine positive Resonanz. Wolfgang Straßmann, Berliner Stadtverordnetenvorsteher und Vorsitzender des Berliner Vereins gegen Verarmung, griff die Idee auf und lud zahlreiche Sachver ständige zu einer Gründungsveranstaltung am 26. und 27. November 1880 in die Reichshauptstadt ein. Dort wurden ein Präsidium mit Straßmann als Vorsitzendem durch Akklamation bestimmt, eine Reihe von armenpolitischen Fachfragen diskutiert und die Einsetzung einer Kommission beschlossen, die zum nächsten Kongress eine Satzung ausarbeiten sollte. Auf der am 11. und 12. November 1881 wiederum in Berlin stattfindenden Versammlung wurde die Satzung einstimmig angenommen und damit der „Deutsche Verein für Armenpflege und Wohlthätigkeit“ konstituiert. Organisation und Arbeitsweise An der Spitze des Vereins stand ein fünfköpfiger Vorstand, der die laufenden Geschäfte zu besorgen und die Kasse zu verwalten hatte. Gewählt wurde der Vorstand durch einen aus 30 Mitgliedern bestehenden Zentralausschuss. Mitglieder im DV konnten Kommunen, Kommunalverbände, private Wohlfahrtseinrichtungen sowie Einzel personen werden. Innerhalb dieses Verbundes dominierten die norddeutschen Städte, während die ländliche und private Armen pflege nur schwach repräsentiert war. Dass die politische Durchschlagskraft eines ehrenamtlich tätigen Gremiums begrenzt war, ist evident. Dennoch stellte die Gründung des DV einen wichtigen Schritt von der örtlichen Zersplitterung zur reichsweiten Vereinheitlichung der Armenpflege in Deutschland dar. Foto: Stadtarchiv Krefeld kein Bild vorhanden 1 Foto: Landesarchiv Berlin fällt die Geburtsstunde des Deutschen Vereins. Ludwig Friedrich Seyffarth * Aachen 18.6.1827, † Krefeld 26.1.1901 1869–1901 Vorsitzender der Krefelder Armenverwaltung, 1869 Mitglied des Norddeutschen Reichstages, 1873–1898 Mitglied des Preußischen Landtages. Seit 1881 Mitglied des DV-Zentralausschusses, 1886–1901 DV-Vorsitzender. Zersplitterung des Armenwesens im Deutschen Reich Die mangelnde soziale Absicherung der proletarischen Schichten spiegelte sich auch auf dem Gebiet der Fürsorge wider. Das Unterstützungswohnsitzgesetz von 1870 regelte die Rechte und Pflichten der Armenverbände. Die inhaltliche Ausgestaltung der Armenfürsorge blieb jedoch jedem einzelnen Armenverband vorbehalten, so dass in den Städten und Gemeinden ein buntscheckiges Bild der Armenpflege fortbestand. Auf Seiten der freien Armenpflege bemühten sich viele höchst unterschiedliche Vereine und kirchliche Wohltätigkeits organisationen, Pauperismus, Massen verelendung und Bettelwesen lokal zu bekämpfen. Dieses zersplitterte System von öffentlicher und privater Armenpflege war nicht in der Lage, die sozialen Probleme zu bewältigen. Das Bürgertum in den besonders stark betroffenen Städten und industriellen Ballungszentren, das sich durch Kostensteigerungen für das Armenwesen und die Zunahme von Armut, Bettelei und Kriminalität doppelt bedroht sah, drängte auf Maßnahmen zur Eindämmung der krisenhaften Lage. Zahlreiche Reformvorschläge zur Umgestaltung des Armenwesens wurden diskutiert. Mitglieder 1881: 93 Stadtgemeinden 4 Provinzial- und Landarmenverbände 11 Wohlfahrtsvereine 78 Privatpersonen „Honoratiorenverein“ im ausgehenden 19. Jahrhundert In den Anfangsjahren war der Deutsche Verein ein typischer Honoratiorenverein bürgerlichen Zuschnitts, in dem wirtschaftsliberale Ansichten dominierten. Als Zusammenschluss von Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. Wilhelm Merton * Frankfurt a.M. 14.5.1848, † Berlin 15.12.1916 Großkaufmann, Industrieller und Sozialreformer, 1881 Begründer der Metallgesellschaft in Frankfurt a.M., Urheber zahlreicher sozialer Einrichtungen, u.a. 1899 der „Centrale für private Fürsorge“, Mitbegründer der Frankfurter Universität. Foto: Stadtarchiv Leipzig 2 Foto: Prof. Florian Tennstedt, Kassel kommunaler und privater Armenpflege gab man sich überkonfessionell und überparteilich. Karl Victor Böhmert * Quesitz b.Leipzig 23.8.1829, † Dresden 12.2.1918 Seit 1866 Professor für Nationalökonomie und Statistik an der Universität Zürich und der Technischen Hochschule Dresden, 1875–1895 Direktor des Königlich Sächsischen Statistischen Büros, Geheimer Regierungsrat. Mitbegründer des DV und Mitglied im Zentralausschuss seit 1886. Leo Ludwig-Wolf * Werdau 2.12.1839, † 14.6.1935 Rechtsanwalt, 1883–1908 Stadtrat, Vorsitzender des Armendirektoriums und Generalvormund für Ziehkinder in Leipzig. 1885/86–1918 Mitglied des DVZentralausschusses und -Vorstands, dort Schrift führer und Schatzmeister, 1901–1911 Vorsitzender, anschließend Ehrenmitglied des DV. Initiativen gegen Bettelei Centrale für soziale Fürsorge, Stiftstr. 30 in Frankfurt/M., Sitz des DV 1919–1936 Bereits 1880 auf der Ersten Armenpflege-Konferenz bildete die Bekämpfung von Bettelei und Vagabundentum ein zentrales Thema. Zahlreiche Vorschläge wurden unterbreitet, die u.a. darauf abzielten, das unkontrollierte Almosengeben durch Bürger oder private Vereine zu unterbinden und einen Arbeitszwang zu statuieren. Die freie Vereinstätigkeit sollte der Polizeiarmenpflege unterstellt werden, um die Haus- und Straßenbettelei möglichst aus der Kommune „hinauszutreiben“. Darüber hinaus griff der DV die Unzufriedenheit vieler kommunaler Armenverwaltungen auf, die monierten, dass sie keine aus reichende Handhabe gegen die Verletzung der familiären Unter haltspflicht besaßen. Gab sich ein Unterhaltsverpflichteter der „Trunksucht“ hin oder legte er „unwirtschaftliches Verhalten“ oder „Arbeitsscheu“ an den Tag, musste die öffentliche Armenpflege für das Auskommen der Familienangehörigen sorgen. ⁄Der DV forderte deshalb die Wiedereinführung der Arbeitshausunterbringung. 1912 konnte man als Erfolg verbuchen, dass Preußen die Arbeitshausmaßregel unter ausdrücklicher Berufung auf den DV wieder einführte. Die jährlichen Fachtagungen Das „Elberfelder System“ der Armenpflege Im Mittelpunkt des Vereinslebens standen die Jahresversammlun gen, die zwei bis vier Tage andauerten, meist in mittleren oder Großstädten stattfanden und von einem vorbereitenden Ausschuss organisiert wurden. Dort wurden aktuelle Fragen der Armenpflege und Reformkonzepte erörtert sowie Resolutionen verabschiedet. Seit 1886 wurden die Berichte der Tagungen veröffentlicht, so dass sie in die Fachkreise und die Politik ausstrahlten und dem Experten votum gewissen Nachdruck verliehen. Weitere öffentliche Aufmerk samkeit konnte der DV durch die Beteiligung von Ministern oder Oberbürgermeistern an seinen Jahresversammlungen erzielen. Zu den herausragenden Persönlichkeiten der Gründerzeit gehörten der erste Vereinsvorsitzende Straßmann und sein Nachfolger, der Krefelder Landtagsabgeordnete Ludwig Friedrich Seyffardt. Später traten der Leipziger Stadtrat Leo Ludwig-Wolf, der Berliner Stadtrat Emil Münsterberg und der Colmarer Justizrat Heinrich Ruland an die Spitze des Vereins. Eine wesentliche Rolle in der Vereinsarbeit spielten statistische Erhebungen, die objektives Material über die Armenpflege zur Verfügung stellen sollten. Hervorzuheben ist das grundlegende Werk des DV-Gründungsmitglieds Karl Victor Böhmert „Das Armen wesen in 77 deutschen Städten und einigen Landarmenverbänden“ von 1886/1887. Ein zweiter Schwerpunkt der Vereinsarbeit lag auf der Organisation der Armenpflege. Der DV trat nachdrücklich für das „Elberfelder System“ ein, das den Einsatz von unbezahlten bürgerlichen Armenpflegern in ihren jeweiligen Stadtbezirken zur Entlastung der Kommunalbeamten vorsah. Das Elberfelder System verfolgte als Leitidee, die Prinzipien von Individualisierung, Dezentralisierung und Ehrenamtlichkeit konsequent umzusetzen. Eng damit verbunden war die Einbeziehung der privaten Stiftungen und Verbände, die die öffentliche Wohlfahrt ergänzen sollten. Der DV favorisierte deshalb die Zusammenfassung der Privatwohltätigkeit. Bedeutende Einrichtungen dieser Art, die mit dem DV in Verbindung standen, waren die 1899 von dem Industriellen Wilhelm Merton gegründete „Centrale für private Fürsorge“ in Frankfurt a.M. und die 1893 gebildete „Zentrale für private Fürsorge“ in Berlin. Impulsgeber neuzeit licher Armenpflege Mit den gestiegenen Anforderungen an die kommunale Sozialpolitik seit der Jahrhundertwende setzte eine verstärkte Professionalisierung und Bürokratisierung ein, die den Deutschen Verein vor neue Herausforderungen stellte. Mit Karl Flesch, dem „Vater des modernen Arbeitsrechts“, und dem langjährigen Schriftführer Emil Münsterberg verfügte er über Persönlichkeiten, die praktische Erfahrungen in der kommunalen Armenpflege mit wissenschaftlicher Reflexion zu verbinden wussten. Beide trugen maßgeblich dazu bei, dass sich der Deutsche Verein von einem behäbigen Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. Foto: Marlies Flesch-Thebesius 3 Foto: Jüdische Frauen im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg: Rowohlt, 1993 Honoratiorenverein zu einem reformorientierten Impulsgeber des Fürsorgewesens wandelte. Karl Flesch * Frankfurt a.M. 6.7.1853, † Frankf. a.M. 15.8.1915 Begründer des modernen Arbeitsrechts und Sozialpolitiker, entwickelte das sog. „Frankfurter System“ der Armenpflege. Seit 1884 Stadtrat und Leiter des Armenwesens in Frankfurt a.M. Seit 1886 Mitglied des DV-Zentralausschusses, seit 1908 Mitglied des Preußischen Landtages. Emil Münsterberg * Weimar 13.7.1855, † Berlin 25.1.1911 Dr. jur., 1889/90 Amtsrichter in Menden, anschließend Bürgermeister in Iserlohn, 1893–1895 in der Hamburger Armenpflege tätig, 1895 Leiter der Zentralstelle für Armenpflege und Wohltätigkeit in Berlin, dort 1898 Stadtrat und Vorsitzender der Armendirektion. Seit 1886 im DV-Zentralausschuss und 1892–1911 Vorstandsmitglied und Schriftführer, 13.–25.1.1911 Vorsitzender des DV. Dorothea Hirschfeld * Berlin 26.2.1877, † Berlin 12.6.1966 Pionierin der Sozialarbeit und Mitbegründerin des Deutschen Verbandes der Sozialbeamtinnen, 1904–1912 Sekretärin in der Zentralstelle für Armenpflege und Wohltätigkeit. 1912–1919 DV-Referentin und Leiterin der DV-Geschäftsstelle, 1919–1921 Mitglied im DV-Vorstand und bis 1933 im Hauptausschuss. 1919–1933 Ministerialrätin im Reichsarbeitsministerium, seit 1918 SPD-Mitglied, 1919 Mitbegründerin der Arbeiterwohlfahrt, 1942 Deportation in das KZ Theresien stadt, 1945–1948 Referentin in der Berliner Hauptverwaltung für Gesundheitswesen der sowjetischen Besatzungszone. Förderung der Sozialarbeit von Frauen Christian Jasper Klumker * Insel Juist 22.12.1868, † Hedemünden 19.7.1942 Dr. phil., seit 1897 im Institut für Gemeinwohl in Frankfurt a.M. tätig, 1899–1911 Geschäftsführer der Centrale für private Fürsorge in Frankfurt a.M., 1906 Gründer und Vorsitzender des Archivs Deutscher Berufsvormünder, Mitbegründer des Vereins „Kinderschutz“ und des ersten Jugendgerichts in Frankfurt a.M., seit 1914 außerordentlicher Professor für Armenpflege und soziale Fürsorge, schuf 1918 mit dem Werk „Fürsorgewesen“ eine wissenschaftliche Grundlage für die moderne Sozialarbeit. Seit 1920 ordentlicher Professor an der Universität Frankfurt a.M., Vorkämpfer der Jugendamtsbewegung und 1921/22 Sachverständiger in der Kommission zur Vorbereitung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes. 1902–1933 Mitglied des DV-Zentral- bzw. Hauptausschusses, 1918–1933 Mitglied im Vorstand des DV. Wandte sich 1933 offen gegen den Nationalsozialismus, wurde 1934 emeritiert. Von der Armenpflege zur sozialen Fürsorge Schon auf seiner konstituierenden Versammlung hatte der Verein die Einbeziehung von Frauen, die bislang auf den Bereich der Privatwohltätigkeit beschränkt gewesen waren, in die behördliche Sozialarbeit grundsätzlich bejaht. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts gelangten prominente Vertreterinnen, vornehmlich aus der Kinder- und Jugend pflege, in den Zentralausschuss des DV, so die Geschäftsführerin des Vereins für Säuglingsfürsorge im Regierungsbezirk Düsseldorf, Marie Baum, die Geschäftsführerin der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge, Frieda Duensing, die Vorsitzende des Katholischen Fürsorgevereins für Mädchen, Frauen und Kinder, Agnes Neuhaus, und die Sozialpolitikerin Helene Simon. Auch der Eintritt der berühmten Frauen rechtlerin und Gründerin der Sozialen Frauenschulen, Alice Salomon, in den Zentralausschuss im Jahr 1910 verdeut lichte die Aufgeschlossenheit des Vereins gegenüber der bürgerlichen Frauenbewegung und der sozialen Berufsarbeit von Frauen. Als 1912 aus der „Zentralstelle für Armen pflege und Wohltätigkeit“ in Berlin die erste Geschäftsstelle des DV hervorging, wurde mit ihrer Leitung Dorothea Hirschfeld betraut, die gleichzeitig als erste hauptamtliche Referentin in die Vereinsgeschichte einging. Mit dem Begriff der „sozialen Ausgestaltung der Fürsorge“ wies Karl Flesch 1901 der Weiterentwicklung der traditionellen Armenfürsorge zur sozialen Fürsorge den Weg. Der DV befasste sich nun mit allen Facetten der Wohlfahrtspflege von der Arbeitslosen- über die Wohnungs- bis zur Gesundheitsfürsorge. Breiten Raum nahm auch die Kinder- und Jugendfürsorge einschließlich der „Zwangserziehung“ ein. Mit Christian Jasper Klumker hatte der DV einen der führenden Experten auf diesem Gebiet in seinen Reihen. Hinsichtlich der Armenunterstützung befürwortete der Verein zwar weiterhin repressive Maßnahmen, bot aber auch ein Forum für fortschrittliche Ideen. So wurde bereits im Jahre 1905 vorgeschlagen, einen Rechtsanspruch auf Fürsorge gesetzlich zu fixieren, eine Forderung, die erst 1961 durch das Bundessozialhilfegesetz erfüllt wurde. Zudem sorgten Fachleute wie Rudolf Schwander dafür, dass das „Elberfelder System“ den gewachsenen Erfordernissen der Gegenwart angepasst Pestalozzi-Fröbel-Haus in Berlin-Schöneberg, und zum „Straßburger System“ weiterentwickelt Sitz der ersten Sozialen Frauenschule, 1908 gegründet von Alice Salomon wurde. Die „Schriftenreihe des Deutschen Vereins“, in der bis 1918 insgesamt 107 Titel erschienen, und die „Zeitschrift für das Armenwesen“, die der DV seit 1906 als Publikationsorgan nutzte, spiegeln die Bandbreite der behandelten Themen wider. Neue Herausforderungen im Ersten Weltkrieg Der Erste Weltkrieg leitete eine Phase der Umorientierung und Modernisierung des DV ein. Er beteiligte sich an der „Freien Vereinigung für Kriegswohlfahrt“ und anderen Zusammenschlüssen der großen Wohlfahrtsorganisationen. In den Vordergrund rückte verstärkt die Versorgung von Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen — Personengruppen, die den Rahmen der traditionellen Armenpflege sprengten und auch nach dem Ende des Krieges von Bedeutung blieben. Zudem war der DV auf dem Gebiet der Jugendwohlfahrt aktiv und setzte sich für das Jugendamt als Träger der öffentlichen Jugendfürsorge ein. Es zeichnete sich ab, dass der DV auf den Wandel der inhaltlichen Arbeit mit einer Erneuerung seiner Organisationsstruktur reagieren musste. Mitglieder 1917: 273 Stadtgemeinden 35 Provinzial- und Kreisverbände 18 staatliche Behörden 91 private Vereine zahlreiche Einzelpersönlichkeiten Wohlfahrtspolitische Großorganisation in der Weimarer Republik Mit der Ausrufung der Weimarer Republik 1918 trat der demokratische Sozialstaat an die Stelle des monarchistischen Obrigkeitsstaates. Erstmals erhielten Fürsorgeempfänger/innen, die im Kaiserreich von politischen Mitwirkungsmöglichkeiten ausgeschlossen waren, das aktive und passive Wahlrecht. Auch für den Deutschen Verein begann eine neue Phase seiner Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. Foto: Klaus Niermann, Hamburg 4 Foto: Archiv der sozialen Demokratie, Bonn, 1993 Entwicklung, die eng mit der Persönlichkeit von Wilhelm Polligkeit verbunden ist. Otto Lohse * Hamburg 26.8.1865, † Hamburg 1.6.1946 1907–1917 Direktor des öffentlichen Armenwesens in Hamburg, 1921 Hamburgischer Staatsrat. Seit 1906 Mitglied des DV-Hauptausschusses, 1912-1931 Mitglied des DV-Vorstands, 1.3.1921–20.3.1922 Vorsitzender, seit 1931 Ehrenmitglied des DV. Marie Juchacz * Landsberg/Warthe 15.3.1879, † Düsseldorf 28.1.1956 Seit 1908 SPD-Mitglied, seit 1917 im Parteivorstand, Mitglied in der Verfassungsgebenden Nationalversammlung und im Reichstag (1920–1933). 1919 Grün derin und bis 1933 Vorsitzende der Arbeiterwohlfahrt. 1921–1931 Mitglied im DV-Vorstand. 1933 Flucht in die USA, 1949 Rückkehr nach Deutschland, Ehrenvorsitzende der AWO. Wilhelm Polligkeit * Langenberg/Rheinland 14.5.1876, † Frankfurt a.M. 27.4.1960 Dr. jur. (1907), Dr. rer. pol. h.c. (1951), seit 1929 Honorarprofessor an der Universität Frankfurt a.M. Seit 1903 Privatsekretär von Wilhelm Merton und in verschiedenen Funktionen in der „Centrale für private Fürsorge“ und im „Institut für Gemeinwohl“ in Frankfurt a.M. tätig, 1915 Begründer der Freien Vereinigung für Kriegswohlfahrt. Seit 1911 im Zentralausschuss, seit 1918 im Vorstand des DV, 1920–1936 und 1946–1950 Geschäftsführer, 1922–1935 und 1946–1950 Vorsitzender des DV, 1946–1960 Mitglied im DV-Hauptausschuss. In der NS-Zeit u.a. für den Bayerischen Landesverband für Wanderdienst und das Soziographische Institut in Frankfurt a.M. aktiv, 1945/46 Leiter des Frankfurter Wohlfahrtsamtes. 1949 wesentlich an der Reaktivierung des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes beteiligt. Neuausrichtung des Deutschen Vereins Modernisierung der Vereinsarbeit Polligkeit hatte u.a. als Geschäftsführer der „Centrale für private Fürsorge“ in Frankfurt a.M. umfassende Kenntnisse auf nahezu allen Gebieten des Fürsorgewesens erworben. Im DV, für den er seit 1911 tätig war, avancierte er nicht nur 1920 zum Geschäftsführer als Nachfolger des Beigeordneten der Stadt Höchst a.M., Hermann Hog, sondern löste auch 1922 den Hamburger Staatsrat Otto Lohse als Vereinsvorsitzenden ab. Als herausragender Theoretiker und Praktiker der sozialen Arbeit trug Polligkeit entscheidend zur Modernisierung und Professionalisierung der Vereinsarbeit bei, so dass der DV in den Kreis der bedeutendsten Organisationen der Wohlfahrtspflege in Deutschland aufrückte. Er leitete im Jahre 1919 den Umzug des Vereins von Berlin nach Frankfurt in die Stiftstraße 30 ein. Dort befanden sich bereits die „Centrale für private Fürsorge“ und das von Christian Jasper Klumker geleitete Fürsorge seminar der Universität. Gleichzeitig erfolgte die Umbenennung in „Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge“. Damit dokumentierte man auch nach außen hin, dass der Verein sein Aufgabengebiet sehr viel weiter fasste als die traditionelle Armenpflege und das gesamte Spektrum der sozialen Fürsorge, einschließ lich der Versorgung von Kriegsopfern und Kriegshinterbliebenen, darin einschloss. Eine neue Satzung erweiterte den Vorstand auf 14, später auf 20 Personen, benannte den Zentralausschuss in Hauptausschuss um und legte die Zahl seiner Mitglieder auf 100 bis 150 fest. Die jährlichen Fachtagungen verloren ebenso wie die Mitgliederversammlung an Bedeutung. Stattdessen rief man Fachausschüsse ins Leben, die die Arbeit zu einzelnen Sachthemen effektivieren sollten. Die Frankfurter Geschäftsstelle wurde zur eigentlichen Macht zentrale des Vereins. Unter Polligkeits Führung leisteten etwa ein halbes Dutzend Fachreferent/innen die Zuarbeit für den Vorstand und die Fachausschüsse. 1922 richtete Polligkeit zu seiner Entlastung die Stelle eines 2. Geschäftsführers ein, die er mit der Juristin Hilde Eiserhardt besetzte. Als Kontinuitätsfigur von der Weimarer zur Bundesrepublik zählte Eiserhardt zu den wichtigsten Persönlich keiten des DV in diesem Zeitraum. Veränderungen gab es auch im Publikationswesen: Die alte Schriftenreihe wurde durch die „Schriften des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge“ und die Serie „Aufbau und Ausbau der Fürsorge“ ersetzt. An die Stelle der „Zeitschrift für das Armenwesen“ trat 1922 der „Nachrichtendienst“ (NDV), der mit Ausnahme des Jahres 1945 bis heute ununterbrochen erschienen ist. Ausbau politischer Einflussmöglichkeiten Da sich in der Weimarer Republik die Fürsorge aktivitäten von den vormals dominierenden städtischen Wohlfahrtsbehörden auf die Reichsebene verlagert hatten, versuchte Polligkeit durch Kommissionen, Denkschriften und Expertisen Einfluss auf die Sozialgesetzgebung zu nehmen. Auch hatten sich Spitzen verbände der freien Wohlfahrtspflege kon stituiert, was neue Einflussmöglichkeiten eröffnete. Sozialpolitisch hoch angesehene Frauen saßen sowohl im Vorstand des DV als auch als Abgeordnete im Reichstag, so die Zentrumspolitikerinnen Agnes Neuhaus und Helene Weber sowie die Sozialdemokratin Marie Juchacz. Mitglied des DV-Hauptausschusses war darüber hinaus die DDP-Politike rin Gertrud Bäumer. Der DV verfügte also über einen „kurzen Draht“ direkt ins Parlament, den er wiederholt nutzte. Politisch behielt er seine sachliche Linie und „Neutralität“ bei. Er stützte sich vornehmlich auf die Parteien der Weimarer Koalition und hielt sich von den extremen Gruppierungen linker und rechter Couleur fern. Mitglieder 1928: 73 Regierungsbehörden in Reich und Ländern 25 Provinzial- und Landesfürsorgeverbände 16 Landesversicherungsanstalten 416 Städte, 340 Landkreise 340 Vereine und Anstalten ca. 300 Einzelpersonen (gesamt: 1.510) Die erste gedruckte Ausgabe des NDV Gestalter des Weimarer Fürsorgerechts Durch die Umwandlung des Deutschen Vereins zu einem professionell geführten Interessen verband verstand es Polligkeit, nachhaltig Einfluss auf die Fürsorgegesetzgebung des Reiches zu nehmen. Grundlage dieses Erfolges war einerseits sein Geschick, divergierende Positionen zu ausgewogenen Synthesen zusammenzuführen, andererseits seine überlegene Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. 5 Foto: Sozialdienst katholischer Frauen, Dortmund fachliche Kompetenz. Agnes Neuhaus * Dortmund 24.3.1854, † Soest 20.11.1944 1899 Gründerin und Vorsitzende des Katholischen Fürsorgevereins für Mädchen, Frauen und Kinder, heute Sozialdienst katholischer Frauen, Mitglied im Verbandsausschuss des Deutschen Caritas-Verbandes, im Allgemeinen Deutschen Fürsorgeerziehungstag, in der Deutschen Zentrale für Jugend fürsorge und im Deutschen Verband für Einzelvormundschaft. 1919 Mitglied der Verfassungsgebenden Nationalversammlung und des Reichstages (1920–1930) für die Zentrums-Partei. Seit 1910 Mitglied im Zentralausschuss, 1918–1928 im Vorstand des DV, DV-Ehrenmitglied. Hilde Eiserhardt * Esch/Taunus 24.2.1888, † Frankfurt a.M. 6.4.1955 1918 Dr. jur., seit 1919 Referentin, von 1922–1936 und 1946–1950 Zweite Geschäftsführerin des DV. 1929 Verfasserin der Monografie „Ziele eines Bewahrungsgesetzes“. Mitglied im Deutschen Berufsverband der Sozial beamtinnen, in der NS-Zeit für den Bayerischen Landesverband für Wander dienst und das Soziographische Institut in Frankfurt a.M., 1945/46 für das Frankfurter Wohlfahrtsamt tätig. 1947–1950 Mitglied des DV-Vorstands, 1947–1955 des DV-Hauptausschusses. Alice Salomon * Berlin 19.4.1872, † New York 30.8.1948 1906 Dr. phil., 1932 Dr. med. h.c. Seit 1893 Mitglied und seit 1899 Vorsitzende der „Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit“, 1900 Mitglied und bis 1920 stellvertretende Vorsitzende des Bundes Deutscher Frauenvereine, 1908 Mitbegründerin der ersten überkonfessionellen Sozialen Frauenschule, 1912 Gründerin des Deutschen Verbandes der Jugendgruppen und Gruppen für Soziale Hilfsarbeit, 1917 Gründerin der Konferenz sozialer Frauenschulen in Deutschland, 1920 Vizepräsidentin des International Council of Women, 1925 Gründerin der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit, seit 1929 Vorsitzende des International Committee of Schools of Social Work, 1919–1933 Mitglied im Vorstand des DV. 1933 Verlust der öffentlichen Ämter, 1937 Ausweisung aus Deutschland, 1939 Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft und des Doktortitels, 1944 Annahme der US-amerikanischen Staatsbürgerschaft. Mitwirkung an der Fürsorgerechtsreform Die Notwendigkeit einer grundlegenden Reform des Unterstützungs wohnsitzgesetzes hatte sich schon im Ersten Weltkrieg gezeigt. Polligkeit wollte die traditionelle Armenpflege modernisieren und sie gleichzeitig mit der Unterstützung der bedürftigen Kriegopfer in einem einzigen Gesetz zusammenfassen. Als nach der Inflations krise im Jahr 1924 die „Reichsfürsorgepflichtverordnung“ und die „Reichsgrundsätze über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge“ verabschiedet wurden, konnte es der DV als Erfolg verbuchen, dass darin zahlreiche seiner Reformvorschläge eingeflossen waren. Dazu gehörten die Schaffung leistungsfähiger Fürsorgeträger, der Lastenausgleich der Verbände untereinander, die Verankerung des Prinzips der Individualisierung und die Erset zung des Unterstützungswohnsitzes durch den „gewöhnlichen Aufenthalt“. Nicht durchsetzen konnte sich Polligkeits Forderung nach Gleichstellung der Kriegsopfer mit den Empfängern der Armen fürsorge. Dennoch ist im Weimarer Fürsorgerecht seine Handschrift deutlich erkennbar, und nicht wenige der damals formulierten Bestimmungen finden sich noch heute im Sozialgesetzbuch (SGB XII) wieder. Zwangsbewahrung für „asoziale“ Personen Trotz seiner prinzipiell fortschrittlichen Ausrichtung fanden weiter hin repressive Elemente Eingang in die Programmatik des DV. Hervorzuheben ist das so genannte Bewahrungsgesetz, mit dem „asoziale“ Personen (z.B. Alkoholiker, Obdachlose, Prostituierte) gegen ihren Willen in geschlossenen Fürsorgeanstalten untergebracht werden sollten. Die Zentrumspolitikerin Agnes Neuhaus war die treibende Kraft des Bewahrungsgesetzes im Reichstag und im DV. In Hilde Eiserhardt fand sie eine engagierte Mitstreiterin, die 1929 ein Standardwerk zu der Materie vorlegte. Letztendlich kam das Bewahrungsgesetz in der Weimarer Republik aus finanziellen Gründen nicht zustande, aber auch rechtsstaatliche Bedenken standen ihm entgegen. Durch Anträge an die Reichsregierung konnte der DV erreichen, dass in das „Gesetz über die Arbeits vermittlung und Arbeitslosenversicherung“ vom 16. Juli 1927 Regelungen eingefügt wurden, die eine Verbindung zu dem ebenfalls diskutierten Wandererfürsorgegesetz herstellen sollten. In beiden flossen Aspekte der Arbeitsmarkt- und der Fürsorgepolitik zusammen. Der DV hielt neben Maßnahmen zur Unterstützung der Wanderer Sanktionsmöglichkeiten für unabdingbar, weswegen er den Ausbau strafrechtlicher Vorschriften über die Arbeitshauseinweisung sowie wiederum die Einführung des Bewahrungsgesetzes befürwortete. Der Vorstand des DV anlässlich der 50-Jahr-Feier am 26. November 1930 in der Berliner Krolloper. Obere Reihe: 1. von rechts: Leo Baeck, Oberrabbiner Berlin; 2. von links: Hermann Luppe, Oberbürgermeister von Nürnberg und 2. Vorsitzender des DV; 3. v. l.: Wilhelm Polligkeit, Vorsitzender und Geschäftsführer des DV. Untere Reihe: 1. v. l.: Marie Juchacz, Gründerin der Arbeiterwohlfahrt; 5. v. l.: Christian Jasper Klumker, Professor in Frankfurt a.M.; 6. v. l.: Johannes Steinweg, Direktor im Centralausschuss für die Innere Mission; Mitte: Hilde Eiserhardt, 2. Geschäftsführerin im DV; 6. v. r.: Hermann Heimerich, Stadtrat in Nürnberg; 5. v. r.: Prälat Benedict Kreutz, Präsident des Deutschen Caritasverbandes; 4. v. r.: Albert Lenné, Domcapitular, Diözesancaritasdirektor; 2. v. r.: Johannes Horion, Landeshauptmann der Rheinprovinz. Jugendwohlfahrtsrecht, Unehelichenrecht und soziale Berufsarbeit Das erste große Paragrafenwerk der Weimarer Republik, an dem der DV aktiv mitwirkte, war das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz vom 9. Juli 1922. Der wesentliche Beitrag des DV bestand in einer Denkschrift, den eine Expertenkommission unter der Leitung Polligkeits vorlegte und deren Vorschläge in das Gesetz einflossen. Ein weiteres Themengebiet, dem sich der DV über einen Zeitraum von rund zehn Jahren widmete, war die Reform des Rechtes der unehelichen Kinder und der Annahme an Kindesstatt. Zudem engagierte er sich weiter auf dem Gebiet der sozialen Berufsausbildung und hatte 1919 mit Alice Salomon die führende Expertin in seinen Vorstand berufen. Mit der Beteiligung an der ersten Lehrplankonferenz des Preußischen Ministeriums für Volkswohlfahrt 1924, der Veranstaltung des 39. Deutschen Fürsorgetages 1925 über die Berufslage der Fürsorgerinnen und nicht zuletzt der Durchführung der 2. Internationalen Konferenz für Sozialarbeit in Frankfurt a.M. 1932 gelang es dem DV in dieser Epoche, gleichsam als Dachverband der Berufskräfte der sozialen Arbeit in Deutschland in Erscheinung zu treten. Der Deutsche Verein im Nationalsozialismus Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten bedeutete das Ende eines demokratisch und pluralistisch organisierten Deutschen Vereins. Die einzigen Alternativen bestanden in der Auflösung des Vereins oder in seiner „Gleichschaltung“, also der Unterordnung unter die rassenhygienischautoritäre Sozialpolitik des Hitler-Regimes. Polligkeit ergriff die Initiative, um den Deutschen Verein Günther Roestel * Berlin 12.5.1908, † Kiel 1.7.1986 1931–1933 Referendar im Bezirkswohlfahrtsamt Berlin-Neukölln, 1933 Beitritt zur Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt und NSDAP, 1935/36 Sachbearbeiter für Wanderer-, Trinker- und Strafentlassenenfürsorge sowie Krankenhauswirtschaft im Hauptamt für Volkswohlfahrt der Parteileitung der NSDAP in Berlin. 1939 Dr. jur., 1936–1943 Geschäftsführer des DV. Ab 1939 zugleich Sozialreferent für Werksfürsorge der Marinewerft Kiel, ab Februar 1943 als Regierungsrat Abteilungsleiter des Marine-, Waffen- und Ausrüstungs betriebs Stettin. Wiederholt Konflikte mit verschiedenen NS-Institutionen und -Repräsentanten, u.a. mit dem DV-Vorsitzenden Hermann Althaus. Nach Kriegsende Jugendrichter am Amtsgericht Kiel, dort 1948 Amtsgerichtsrat, 1969–1973 Vizepräsident. Foto: DIJuf Heidelberg Foto: Prof. Florian Tennstedt, Kassel Hermann Althaus * Hoyel/Kreis Melle 10.1.1899, † Kassel 19.8.1966 Seit 1925 als Erzieher und Fürsorger tätig, seit 1932 Mitglied der NSDAP, seit 1939 der SS, Aufstieg bis zum SS-Oberführer, 1933 Leiter der Wohlfahrtsund Jugendpflegeabteilung der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, u.a. Vorsitzender des Reichsverbandes für Strafgefangenen-Fürsorge und des Deutschen Instituts für Jugendhilfe. 1936–1945 Vorsitzender des DV. 1945 Internierung, 1948 als „Minderbelasteter“ entlassen, 1950–1964 Geschäftsführer des hessischen Siechenhauses e.V. in Kassel. Heinrich Webler * Grünstadt/Rheinpfalz 2.5.1897, † Heidelberg 21.3.1981 Schüler von Christian J. Klumker, 1922 Dr. phil., 1923 Geschäftsführer des Archivs Deutscher Berufsvormünder, später Deutsches Institut für Jugendhilfe, ab 1933 Mitglied in NSDAP, SA, Bund Nationalsozialistischer Juristen und SS, Persönlicher Stab Heinrich Himmler, Akademie für Deutsches Recht. 1943–1945 Geschäftsführer des DV. Nach 1945 Wiederaufbau des Jugend hilfeinstituts als Deutsches Institut für Vormundschaftswesen (heute Deutsches Institut für Jugendhilfe und Familienrecht) in Hildesheim bzw. Heidelberg. Von einigen Vorstandsmitgliedern ließ sich Polligkeit am 24. März 1933 autorisieren, den Vorstand geschlossen zum Rücktritt aufzufordern und als alleiniger Repräsentant kommissarisch weiter zu amtieren. Anschließend bat er schriftlich bei den übrigen Vorstandsmitgliedern um Zustimmung zu diesem Vorgehen, wogegen nur der Sozialdemokrat Gottlob Binder erfolglos protestierte. Am 29. April 1933 setzte Polligkeit einen mit Leo Baeck nationalistischen und nationalsozialistischen * Lissa/Posen 23.5.1873, † London 2.11.1956 Seit 1897 Rabbiner, führender Repräsentant der jüdischen Wohlfahrtspflege, Vertretern besetzten „Überleitungsausschuss“ Mitbegründer der Jewish Agency for Palestine, 1922 Vorsitzender des All ein. Unter ihnen befand sich mit dem Müngemeinen Rabbinerverbandes in Deutschland, seit 1925 Vorsitzender der Zentralwohlfahrtsstelle in Deutschland, 1925–1937 Präsident der Großloge chener Oberbürgermeister Karl Fiehler ein prodes Unabhängigen Ordens B’nei B’rith. 1930–1933 Vorstandsmitglied des DV. 1933 bis zur Auflösung 1943 Präsident der Reichsvertretung der Juden minenter NSDAP-Aktivist der ersten Stunde. in Deutschland, 1943–1945 Internierung im KZ Theresienstadt, nach 1945 Übersiedlung nach London. Mit Hilfe des „Überleitungsausschusses“ setzte Polligkeit am 5. Mai 1933 die Auflösung des DV-Hauptausschusses und die kommissarische Fortführung der Vereinsgeschäfte durch sich selbst durch. Mit seinem autokratischen und satzungswidrigen Vorgehen erreichte Polligkeit, dass der DV innerhalb weniger Wochen auf NS-Linie gebracht wurde und Repräsentanten der sozialdemokratischen und jüdischen Wohlfahrtspflege aus den Vereinsorganen ausgeschlossen wurden, unter ihnen der Präsident der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, Oberrabbiner Dr. Leo Baeck, der seit 1930 dem Vorstand angehört hatte. Foto: Archiv der Sozialen Demokratie, Bonn „Gleichschaltung“ des Vereins Foto: Worte des Gedenkens für Leo Baeck, Heidelberg: Lambert Schneider, 1959 Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. 6 Foto: Universitätsarchiv Frankfurt/ M. auf die NS-Linie zu bringen und dadurch sein Fortbestehen zu sichern. Gottlob Binder * Holzgerlingen 14.8.1885, † Frankfurt a.M. 16.8.1961 Seit 1905 SPD-Mitglied, Präsident des Deutschen Verbandes für Wohnungswesen, Städtebau und Raumplanung, 1919–1933 hauptamtlicher Stadtrat und Wohlfahrtsdezernent von Bielefeld, in der Weimarer Republik in zahlreichen Vereinen und Verbänden aktiv, 1933 aus allen Ämtern entfernt und inhaftiert. 1921–1933 und 1946–1950 Mitglied des DV-Vorstandes, 1921–1933 und 1946–1961 Mitglied des DV-Hauptausschusses. Nach 1945 u.a. Hessischer Minister für Wiederaufbau und politische Befreiung und Präsident des Frankfurter Arbeitsamtes. Machtkämpfe um die Ausgestaltung des Deutschen Vereins Auch inhaltlich versuchte die kleine Schar um Polligkeit die Vereins arbeit an der NS-Ideologie auszurichten, indem man den „Führer“ glorifizierte, sich rassenhygienischer Argumentationsmuster bediente und ein hartes Vorgehen gegen „Asoziale“ und „Parasiten“ befürwortete. Als flankierende Maßnahme der Anpassung sollten der DV-Chef sowie die wenigen verbliebenen Referenten in die NSDAP eintreten. Während Polligkeits Parteieintritt durch den Aufnahmestopp am 1. Mai 1933 unterbunden wurde, scheiterte Eiserhardts NSDAP-Beitritt am Einspruch eines überzeugten Nationalsozialisten, der in der DV-Geschäftsstelle beschäftigt gewesen war. Er wies gegenüber den angerufenen Parteistellen darauf hin, dass sowohl Polligkeit als auch Eiserhardt in der Vergangenheit überzeugte Demokraten mit besten Beziehungen zu jüdischen Persönlichkeiten gewesen seien und sich jetzt aus rein opportunistischen Gründen bei der NS-Bewegung anzubiedern suchten. Polligkeit gab sich in den nächsten Monaten der Illusion hin, durch geschicktes Lavieren und juristische Kniffe die Eigenständigkeit des DV bewahren zu können. Artikel im NDV 1933–1940 Organisatorischer und intellektueller Tiefpunkt Am 14. August 1935 erhielt der DV eine neue Satzung, die auf dem „Führerprinzip“ basierte. Im Folgejahr wurde der Umzug des Vereins nach Berlin beschlossen, woraufhin Polligkeit und Eiserhardt aus der Geschäftsführung ausschieden. Von 1936 bis 1945 residierte der DV in der Reichshauptstadt. Ohne seine ihn tragenden Gremien war er auf den Rang einer wissenschaftlichen Forschungsstelle beschränkt. Das Amt des Vereinsvorsitzenden übernahm der Abteilungsleiter der Nationalsozialistischen Volkswohl fahrt, Hermann Althaus, den stellvertretenden Vorsitz Ralf Zeitler aus der Leitung des nationalsozialistisch aus gerichteten Deutschen Gemeindetages. Als Geschäftsführer fungierte zunächst der Polligkeit-Schüler Günther Roestel. Nach dessen Zerwürfnis mit Althaus trat 1943 Heinrich Webler seine Nachfolge an, ein SS-Obersturmbannführer, der als Jugendhilfe experte eng mit Klumker zusammengearbeitet hatte. Der „Nach richtendienst“ und eine Schriftenreihe wurden bis 1944 beziehungs weise 1945 fortgeführt. Aufarbeitung der NS-Geschichte Eine kritische Auseinandersetzung des Deutschen Vereins mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit fand bis in die 1980er-Jahre nicht statt. Mit dieser Unterlassung stand er nicht allein, denn das Phänomen, den Zeitraum von 1933 bis 1945 aus dem Bewusstsein der Gegen wart zu verdrängen und zu verharmlosen, gehört zu den Charakteristiken der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte. Auf diese Weise war es möglich, dass nationalsozialistisch belastete Fachkräfte zum Wiederaufbau beitrugen und ein Zusammenarbeiten von Tätern und Opfern stattfand. Verdrängung der NS-Geschichte in der Nachkriegszeit Die „Entnazifizierung“ behinderte beim DV nur in der unmittelbaren Nachkriegszeit die Anstellung fachlich geeigneter, aber politisch belasteter Mitarbeiter/innen. Ansonsten spielte die NS-Belastung, die auf die formale Mitgliedschaft in der NSDAP reduziert wurde, nur bei der Auswahl eines Geschäftsführers im Jahr 1949 eine nennenswerte Rolle, als Teile des DV-Vorstandes den favorisierten Kandidaten als politisch untragbar ablehnten. In den fünfziger Jahren verschwand das Thema dann gänzlich von der Tagesordnung und der DV wurde als politisch neutraler und wissenschaftlich renommierter Fachverband angesehen. Immerhin dokumentierte die Festschrift zum 75-jährigen Vereinsjubiläum 1955 einige Publikationen und Aktivitäten des Vereins während der NS-Zeit, hatte aber nichts mit einer kritischen Aufarbeitung der Epoche zu tun. Die Vereinszeitschrift bot dasselbe Bild. Nahezu alle im NDV erschienen Nachrufe waren dadurch geprägt, dass sie den Zeitraum von 1933 bis 1945 aussparten. Bis 1980 änderte sich an der Tabuisierung der braunen Vergangenheit nichts. Die 1980 zum 100-jährigen Vereinsjubiläum vorgelegte Festschrift ging nur auf wenigen Seiten auf das brisante Thema ein und stellte den langjährigen Vorsitzenden Polligkeit als Opfer der NS-Wohlfahrtspolitik dar. Obwohl ausführlich aus dem NDV der damaligen Zeit zitiert wurde, fanden die dort ebenfalls ersicht lichen Anbiederungsversuche Polligkeits an das Regime sowie die von ihm 1933 vollzogene „Gleichschaltung“ des Vereins keine Erwähnung. Gegen dieses geschönte Bild der Vergangenheit erhoben sich nun erstmals Proteste. Vor allem kritische Sozialpädagogen und Sozialwissenschaftler wiesen darauf hin, dass sowohl Polligkeit als auch sein Nach folger Muthesius durch ihre nationalsozialistische Vergangenheit belastet seien. Der DV wies jedoch die Vorwürfe ungeprüft zurück. 1985 wiederholte sich der Vorgang. Der DV feierte den 100. Geburtstag seines früheren Vorsitzenden Hans Muthesius mit einem prominent besuchten Festakt im Frankfurter Palmengarten und legte ein biografisches Werk vor, das die Verdienste des Jubilars in der sozialen Arbeit glorifizierte und in Bezug auf die NS-Vergangenheit wahrheitsentstellend war. Erneut waren heftige Angriffe auf den DV die Folgen. Erst drei Jahre später vergab der Vorstand einen Forschungsauftrag, der 1991 die Gewissheit brachte, dass die gegen Muthesius gerichteten Vorwürfe im Wesentlichen zutrafen und er an verbrecherischen NS-Erlassen beteiligt gewesen war. Daraufhin distanzierte sich der DV von seinem langjährigen Repräsentanten und beschloss die Umbenennung von Vereinshaus und Ehrenplakette, die bisher den Namen von Hans Muthesius trugen. Quelle: Frankfurter Rundschau, 19.9.1990 Quelle: Frankfurter Rundschau, 19.9.1990 Quelle: Die Zeit, 14.9.1990 Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. 7 Konflikte um die DV-Geschichte in den 1980er-Jahren Kritischer Umgang mit der „braunen“ Vereinsgeschichte Dass sich der DV aus seiner langjährigen Blockadehaltung gelöst hatte, zeigte u.a. 2003 der Abdruck eines biografischen Beitrages über die Geschäftsführerin Eiserhardt, in dem auch die Vereinsgeschichte im „Dritten Reich“ näher beleuchtet wurde. Einen weiteren Schritt zur Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit unternahm der DV mit der Erstellung einer kritisch angelegten Vereinsgeschichte, die anlässlich des 125-jährigen Vereinsjubiläums 2005 erschien. Sie ließ erkennen, dass zahlreiche Persönlichkeiten aus den Gremien des DV in die Machenschaften des NS-Regimes verstrickt waren. In erster Linie sind hier die Vereinsvor sitzenden Wilhelm Polligkeit, Hans Muthesius, Hans Reschke und Käthe Petersen und, mit gewissen Abstrichen, die Geschäftsführer Hilde Eiserhardt und Rudolf Pense zu nennen. Noch immer stehen zahlreiche Hindernisse wie eine schwierige Quellenlage, die Vernichtung umfangreicher Aktenbestände, langjährige Schutzfristen bei persönlichen Nachlässen und das Fehlen der notwendigen Finanzmittel einer weiteren Erforschung des fraglichen Zeitraums entgegen. Wiederaufbau nach 1945 Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges lag der Deutsche Verein in Trümmern, seine Berliner Geschäftsstelle war ausgebombt, die Bibliothek verloren, das Vereinsvermögen eingefroren und die Vereinsspitze durch NS-Funktionäre diskreditiert. In dieser hoffnungslos erscheinenden Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. 8 Foto: Magistrat der Stadt Hanau Situation ergriff Wilhelm Polligkeit die Initiative für einen Neubeginn. Hans Achinger * Elberfeld 5.10.1899, † Frankfurt a.M. 6.7.1981. 1924 Dr. rer. oec., anschließend in der Fürsorgeerziehung des Rheinlandes und als DV-Referent beschäftigt, 1925–1937 Geschäftsführer der Centrale für private Fürsorge in Frankfurt/Main, Schriftleiter der Zeitschrift der Gau wirtschaftskammer des Rhein-Main-Gebietes, 1938 Habilitation und Dozent für Sozialpolitik an der Frankfurter Universität. Nach 1945 Redakteur und Dozent, 1952 außerordentlicher Professor, 1957 Ordinarius für Sozialpolitik der Universität Frankfurt a.M. 1955 Mitverfasser der „Rothenfelser Denkschrift“. In zahlreichen sozialpolitischen Gremien und Verbänden aktiv, im DV 1949–1979 Mitglied des Hauptausschusses und 1951–1975 des Vorstandes, 1962–1974 stellvertretender Vereinsvorsitzender. Kurt Blaum * Straßburg 10.4.1884, † Bad Homburg 26.11.1970 1908 Straßburger Sozialreferent, 1910 Dr. rer. pol., seit 1912 Verwaltungs direktor des Straßburger Armenamtes, Urheber des sog. „Straßburger Systems“ der sozialen Fürsorge, nach Ausweisung aus dem Elsass 1919 im württembergischen Innenministerium tätig, Verfasser des Werkes „Jugendwohlfahrt“, 1921–1933 Oberbürgermeister von Hanau, 1933 aus politischen Gründen aus dem Amt geschieden, danach Gutachter und Schriftsteller, 1942–1944 Leiter des Motorenforschungswerkes Oberursel, nach Kriegsende kurzzeitig Oberbürgermeister von Hanau und Frankfurt a.M., 1916–1933 und 1946–1953 Mitglied des DV-Hauptausschusses, 1946–1951 des DV-Vorstandes, 1949/50 DV-Geschäftsführer, 1946–1951 stellvertretender Vereinsvorsitzender. Das „Soziographische Institut“ als Ausgangspunkt Ludwig Neundörfer * Mainz 13.3.1901, † Frankfurt a.M. 25.9.1975 Seit 1922 als Kulturwissenschaftler tätig, 1929 Dr. phil., 1927–1932 Leiter der Städtischen Volksschule in Offenbach, anschließend Hilfsreferent im Volksbildungsreferat des Hessischen Kulturministeriums, 1933–1939 Stadt- und Sozialplaner in Heidelberg mit soziografischen Untersuchungen betraut, seit 1940 für die Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung tätig, seit 1943 Direktor des „Instituts zur Erforschung des deutschen Volksaufbaus Frankfurt/Main“ (Soziographisches Institut). Nach Kriegsende Umorientierung der Institutsarbeit auf Wiederaufbauplanung und Flüchtlingsintegration, 1949 Professor für Soziologie in Jugen heim, 1961 Ordinarius in Frankfurt a.M. 1955 Mitverfasser der „Rothenfelser Denkschrift“, 1966 an der Sozialenquête der Bundesregierung beteiligt, im DV wichtiger Impulsgeber insbesondere zur Familienversorgung, 1960–1975 Mitglied des DV-Hauptausschusses. Reorganisation nach Weimarer Vorbild Polligkeit hatte seit 1943 im Sozio1946 wurde ein erster Fürsorgetag graphischen Institut in Frankfurt a.M. nach Frankfurt a.M. einberufen, auf einen Zirkel von Fürsorgefachleuten dem Vorstand und Hauptausschuss um sich geschart, zu denen Hans gewählt, die demokratische Satzung Achinger, Kurt Blaum, Hans Schenk, der Weimarer Republik erneut beRudolf Prestel und Hilde Eiserhardt schlossen und Polligkeit zum Vereinsgehörten. Sie bildeten den persovorsitzenden und 1. Geschäftsführer nellen Kern für den Wiederaufbau sowie Hilde Eiserhardt zur 2. Geschäfts des DV. Allerdings war das Soziogra führerin berufen wurden. Der DV phische Institut keine fortschrittknüpfte folglich sowohl personell als liche, regimekritische Institution, auch organisatorisch nahtlos an die Geschäftsbericht 1947, vorgetragen von Hilde Eiserhardt auf der Vorstandssitzung am 2.3.48 in Heidelberg. wie von den Beteiligten rückblickend Zeit vor 1933 an. Rasch wurde er suggeriert wurde, sondern betrieb wieder zu einem Sammelbecken von Raumforschung im Sinne der nationalsozialistischen Siedlungsanerkannten Persönlichkeiten aus der öffentlichen Fürsorge sowie und Aggressionspolitik. Da sowohl der Institutsleiter Ludwig der freien Wohlfahrtspflege. Im Vorstand saßen u.a. der Sozial Neundörfer als auch Polligkeit nicht der NSDAP angehört hatten demokrat Heinrich Treibert, der zeitweilig als Präsident des Deutund sie den amerikanischen Besatzungsbehörden den Eindruck schen Landkreistages fungierte, der christdemokratische Flüchtlings unpolitischer wissenschaftlicher Institutsarbeit vermitteln konnten, politiker Peter Paul Nahm, die angesehenen Repräsentanten der erhielt die Einrichtung die Genehmigung zur Fortsetzung der Arbeit. evangelischen und katholischen Wohlfahrtspflege, Otto Ohl und Neundörfer stellte dem DV im Soziographischen Institut RäumlichAlbert Lenné, und die CDU-Politikerin Helene Weber, eine der vier keiten für eine provisorische Geschäftsstelle zur Verfügung. Im „Mütter“ des Grundgesetzes. Inhaltlich nahm sich der DV aller Herbst 1945 wurde Polligkeit zum Stadtrat und Leiter des Frankrelevanten Fürsorgethemen der Nachkriegszeit an, insbesondere furter Wohlfahrtsamtes ernannt. Mit dieser Stellung im Rücken der Jugendverwahrlosung und der Bekämpfung der Geschlechtsbeantragte Polligkeit im Frühjahr 1946 bei der US-Militärverwaltung krankheiten. Sein zentrales Anliegen, das er weitgehend verwirk erfolgreich die Wiederzulassung des DV für „Großhessen“. lichen konnte, bildete allerdings die Wiederherstellung eines einheitlichen Fürsorgerechts auf der Basis der Weimarer Bestimmungen. Wilhelm Polligkeit – die zentrale Persönlichkeit des Wiederaufbaus Polligkeit leistete in der Nachkriegszeit überragende Aufbauarbeit für den DV und war nahezu omnipräsent. Nachdem er wiederholt um Entlastung durch einen hauptamtlichen Geschäftsführer gebeten hatte, betraute der Vorstand im November 1949 den sozialpolisch erfahrenen Kurt Blaum mit dieser Schlüsselposition. Rasch erwuchs aus der neuen Gewichtsverteilung in der DV-Leitung ein ernster Konflikt zwischen Polligkeit und Blaum, der in einer Führungskrise im DV mündete. Auf dem Fürsorgetag im Oktober 1950 drängte der Vorstand Blaum, zum Jahresende aus der Geschäftsführung auszuscheiden, und Polligkeit räumte mit sofortiger Wirkung das Amt des Vorstands. Rückblickend erwies sich so die Kontroverse als Glücksfall, denn unter dem neuen Vereinsvorsitzenden Hans Muthesius brach das „goldene Zeitalter“ des DV an. Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an Wilhelm Polligkeit durch Hessens Innenminister Zinnkan am 30.4.1952. Rechts im Bild Hilde Eiserhardt. Dienststelle des DV 1952–1954 in der Savignystr. 37 in Frankfurt/M. Die „Ära Muthesius“ Die Verabschiedung des Grundgesetzes und die Gründung der Bundesrepublik Deutschland als sozialer Rechtsstaat schufen neue Rahmenbedingungen für die öffentliche und private Fürsorge im Gesamtsystem der sozialen Sicherung. Eine Phase wirtschaftlicher Prosperität setzte ein, die die Voraussetzung für den Ausbau und die Modernisierung des Sozialstaates bot und damit auch für die Wirksamkeit des Deutschen Vereins. Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. 9 Rudolf Pense * Hanau 13.2.1908, † Wiesbaden 21.12.1986 1934 Dr. jur., 1937 NSDAP-Beitritt, seit 1935 Leiter des Sozialreferats des Deutschen Handwerks in Berlin, dann Abteilungsleiter beim Deutschen Genossenschaftsverband, 1941–1944 Dezernent für die Gesamtwirtschaft bei der Zivilverwaltung für Litauen, gleichzeitig Leiter der dortigen Wirtschaftskammer, nach Kriegsende Flüchtlingsbetreuer im Kreis Peine, 1946 Leiter des Kreiswohnungsamtes, 1947 des Kreissozialamtes sowie später auch des Soforthilfeamtes, seit Dezember 1949 stellvertretender Oberkreisdirektor. 1951–1968 Geschäftsführer des DV, anschließend im International Council on Social Welfare (ICSW) aktiv. Hans Reschke * Posen 22.3.1904, † Mannheim 17.10.1995 1927 Dr. jur., 1929 Regierungsassessor in der Kreisverwaltung Herford, 1933 NSDAP-Eintritt, 1934–1939 Landrat in Höxter, anschließend kommunal politisch in Recklinghausen und Minden tätig, 1937–1943 ehrenamtliches Mitglied des NS-Sicherheitsdienstes, 1943 in die Parteikanzlei beordert, 1945–1947 interniert, 1947/48 Sonderbeauftragter beim Evangelischen Hilfswerk, seit 1949 Geschäftsführer des Instituts zur Förderung öffentlicher Aufgaben e.V. in Frankfurt a.M., 1956–1972 Oberbürgermeister von Mannheim. 1949–1980 Mitglied im DV-Hauptausschuss, 1962–1980 Vorstandsmitglied, 1964–1970 Vorsitzender des DV. In zahlreichen kommunalpolitischen Gremien wie dem Deutschen Städtetag aktiv Hans Muthesius als herausragender Sozialpolitiker Hans Muthesius * Weimar 2.10.1885, † Frankfurt a.M. 1.1.1977 1909 Dr. jur., 1956 Honorarprofessor für Fürsorgerecht, 1960 Dr. h.c. 1914 Magistratsassessor in Berlin-Schöneberg, dort seit 1917 besoldeter Stadtrat und seit 1921 Stadtrat sowie stellvertretender Bürgermeister, stark in der sozialen Berufsausbildung engagiert, 1928 Verfasser des Standardwerks „Fürsorgerecht“. 1933 Beurlaubung kurz vor Auslaufen seiner Wahlperiode als Stadtrat, 1933–1935 Referent beim DV, 1935–1939 Gutachter im Rechnungshof des Deutschen Reiches, 1940–1945 Referatsleiter im Reichsinnenministerium, dort Mitwirkung an verbrecherischen NS-Gesetzen, Mitglied von Nationalsozialistischer Volkswohlfahrt und NSDAP, seit Mai 1945 Fachreferent in der Gesundheitsverwaltung der Provinz Brandenburg, 1947/48 im DV beschäftigt, 1948–1953 Beigeordneter für Soziales beim Deutschen Städtetag. 1948–1977 DV-Vorstandsmitglied, 1950–1964 DV-Vorsitzender, 1955 Mitverfasser der „Rothenfelser Denkschrift“. Fürsorgereform und Bestimmung des Existenzminimums Der gewaltige Aufschwung, den der DV in den 1950er-Jahren nahm und der ihn in das Durch Muthesius´ exzellente Zentrum der Fürsorgegesetzgebung rückte, Beziehungen in das damals ist untrennbar mit dem Namen des Vereins für die Fürsorge zuständige vorsitzenden Hans Muthesius verknüpft. Bundesinnenministerium Er erkannte vorausschauend die neuen schaltete sich der DV früh Herausforderungen, die die moderne Indus zeitig in die kaum überschautriegesellschaft an die soziale Sicherung baren Sozialreformdebatten seiner Bürger stellte, und entwickelte teilder Adenauer-Zeit ein. Neben weise visionäre Ideen. Im DV gelang es ihm, der Novellierung des Reichsdie Lage zu stabilisieren, indem er mit jugendwohlfahrtsgesetzes Rudolf Pense einen verlässlichen Geschäfts leistete er einen wichtigen Der Regierende Bürgermeister Brandt und Muthesius auf dem DFT 1959 in Berlin führer einstellte, dem mit Ministerialrat a.D. Beitrag zum Fürsorgeände Carl Ludwig Krug von Nidda ein erfahrener rungsgesetz vom 20. August Fürsorgerechtsexperte zur Seite stand. Durch den Beitritt zum Inter 1953. Das enorme Renommee des Vereinsvorsitzenden spiegelt national Council on Social Welfare (ICSW) verankerte Muthesius sich auch in dem Auftrag von Bundeskanzler Adenauer zur Ausarden DV in der Ökumene der sozialen Arbeit. Durch den Umzug der beitung eines Konzepts einer umfassenden Sozialreform wider. Geschäftsstelle in die Savignystraße 37 und später in die Beet Muthesius legte daraufhin zusammen mit Hans Achinger, Ludwig hovenstraße 61 gelang es ihm, die räumlich beengte Situation zu Neundörfer und dem Theologen Josef Höffner im Frühjahr 1955 entspannen. Mit der Einrichtung eines weit gefächerten Systems die „Rothenfelser Denkschrift“ vor, die entsprechende, allerdings aus Fachausschüssen und Arbeitskreisen baute er die Organisatispäter nicht verwirklichte Neuordnungspläne der Sozialleistungen onsstruktur des DV entscheidend aus. Hinzu trat eine beträchtliche enthielt. Auch übernahm der DV den Auftrag zur Ermittlung des Erweiterung des Publikationswesens, u.a. durch die Gründung des sozialen Existenzminimums. Der DV-Arbeitskreis „Aufbau der Eigenverlags. Richtsätze“ berechnete im Winter 1954/55 erstmals auf wissenschaftlicher Basis die staatlich garantierte Mindestversorgung von Fürsorgeempfänger/innen. Obwohl der so ermittelte erste „Waren korb“ mehr als bescheiden ausfiel, wies er doch methodisch einen gangbaren Weg zur Festlegung der Unterstützungssätze und bildete bis Anfang der 1980er-Jahre einen zentralen Parameter des bundes deutschen Sozialstaates. Bundessozialhilfegesetz und Jugendwohlfahrtsgesetz Mitarbeiter/innen des DV in der Bibliothek der Geschäftstelle in der Beethovenstr. 61, Frankfurt/M. Maßgeblich beteiligt war der DV auch an der Ausarbeitung des Bundessozialhilfe- und des Jugendwohlfahrtsgesetzes. Auf dem Deutschen Fürsorgetag 1957 wurden von Seiten des federführenden Bundesinnenministeriums erstmals die Leitlinien des geplanten Sozialhilfegesetzes umrissen und von den Expert/innen des DV intensiv erörtert. Auch der Arbeitsausschuss für Fragen der Fürsor ge, der unter der Leitung von Muthesius beim Bundesarbeitsmini sterium gebildet worden war, setzte sich nahezu ausschließlich aus DV-Mitgliedern zusammen. Das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) vom 30. Juni 1961 verwirklichte v.a. mit der Aufnahme der Menschen würde, eines einklagbaren Rechtsanspruchs auf Fürsorgeleistungen sowie der „Hilfe in besonderen Lebenslagen“ eine richtungs weisende Synthese. Allerdings lebten restriktive Traditionen der Armenfürsorge im neuen Sozialgesetz fort, primär in Gestalt der Arbeitshausunterbringung bei „Arbeitsscheu“ (§ 26 BSHG). Hinsichtlich der im Gesetzgebungsverfahren besonders heftig umkämpften Subsidiaritätsfrage war der DV, ebenso wie der Deutsche Bundestag, zerstritten. 1967 bestätigte das Bundesverfassungsgericht die Rechtmäßigkeit der im BSHG vorgesehenen Vorrangstellung der freien Wohlfahrtspflege gegenüber der öffentlichen Fürsorge. Gleichzeitig erklärte es aber die Bewahrungsregelung des BSHG für verfassungswidrig. Im Gefüge des bundesdeutschen Sozialstaates Der Zeitraum zwischen den grundlegenden sozialpolitischen Reformgesetzen der Adenauerzeit und der deutsch-deutschen Vereinigung ist durch zwei unterschiedliche Phasen gekennzeichnet: Zunächst setzte sich der Ausbau der Sozialleistungen bis in die Mitte der 1970er-Jahre fort, ehe die Zunahme der finanziellen Belastungen dazu führte, dass verstärkte Einsparbemühungen unternommen wurden. Diese Rahmenbedingungen bestimmten auch die Handlungsspielräume des Deutschen Vereins. Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. 10 Käthe Petersen * Elmshorn 13.5.1903, † Hamburg 10.1.1981 1930 Dr. jur., anschließend in einer Anwaltskanzlei tätig, seit 1932 kontinuierlicher Aufstieg in der Hamburger Sozialbehörde, dort von 1956–1966 Leitende Regierungsdirektorin und Leiterin des Landesfürsorgeamtes. Mitglied von NS-Frauenschaft, Nationalsozialistischer Volkswohlfahrt, Nationalsozialistischem Rechtswahrerbund und NSDAP, erhebliche Ver strickung in die verbrecherische Fürsorgepolitik. 1957–1981 Mitglied des DV-Hauptausschusses, 1959–1981 Mitglied des Vorstandes, 1965–1970 stellvertretende Vorsitzende, 1970–1978 Vorsitzende des DV. Walter Schellhorn * Stuttgart 15.6.1927 1945–1948 in einem französischen Lager interniert, anschließend Besuch der höheren Verwaltungsschule in Stuttgart, 1953–1963 Referent für Sozialrecht beim Landkreistag Baden-Württemberg. Seit 1961 DV-Hauptausschussmitglied, 1963–1968 stellvertretender Geschäftsführer, 1969–1989 Geschäfts führer des DV, 1969–1989 geschäftsführendes DV-Vorstandsmitglied, 1973–1989 Direktor, anschließend DV-Ehrenmitglied, rund 25 Jahre maßgeb lich auf nahezu allen Fachgebieten der sozialen Arbeit und als Organisator im DV aktiv, ausgewiesener Sozialhilferechtsexperte und Verfasser eines renommierten BSHG-Kommentars. Otto Fichtner * Bremen 29.3.1929 Professor, 1956–1961 wissenschaftlicher Assistent in der SPD-Bundeszentrale, 1962–1965 Abteilungsleiter in der Bremer Behörde für Wohlfahrt und Jugend, seit 1965 Beigeordneter für Soziales und Jugend der Stadt Bochum, 1969–1976 als Ministerialdirektor Leiter der Abteilung Jugend und Sozialwesen im Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit, anschließend Beigeordneter für Soziales, Jugend und Gesundheit der Stadt Duisburg. 1965–1995 Mitglied im DV-Hauptausschuss, 1966–1994 im DV-Vorstand, 1976–1978 stellvertretender Vorsitzender, 1978–1989 Vorsitzender des DV, seit 1993 DV-Ehrenmitglied. 1989– 1991 Vorsitzender der Arbeiterwohlfahrt (AWO), 1990/91 kommissarischer Abteilungsleiter im Brandenburgischen Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen, 1991–1993 Präsident des Brandenburgischen Landesamtes für Soziales und Versorgung in Cottbus. Akademie und „Hans-Muthesius-Haus“ Fortentwicklung des Sozialhilferechts Nachfolger von Hans Muthesius als Vereinsvorsitzender wurde 1964 der Mannheimer Oberbürgermeister Hans Reschke. Da er sein Amt im DV nur nebenamtlich wahrnahm, wuchs der Einfluss von Hans Achinger und Käthe Petersen, die seit 1965 als stellvertretende Vorsitzende fungierte. Im Mittelpunkt standen Bestrebungen, die soziale Berufsausbildung institutionell beim DV zu verankern. Die Notwendigkeit dazu ergab sich aus dem Bundes sozialhilfe- und dem Jugendwohlfahrtsgesetz, deren praktische Umsetzung eine Erhöhung der Zahl gut ausgebildeter Fachkräfte voraussetzte. Schon unter Muthesius war ein Fortbildungswerk eingerichtet und die Forderung erhoben worden: „Wir brauchen eine Akademie!“ Aber erst am 7. März 1966 wurde die „Akademie für Jugendarbeit und Sozialarbeit“ ins Leben gerufen, wenig später ergänzt um ein weiteres Ausbildungswerk. Unter dem Vorsitz von Reschke wurde auch mit dem Bau des 13-stöckigen „Hans-Muthesius-Hauses“ begonnen, das 1973 alle Einrichtungen des stark angewachsenen Vereins unter einem Dach vereinte. Als Spiritus Rector des neuen Gebäudes zeichnete Walter Schellhorn verantwortlich, seit 1963 stellvertretender und seit 1968 erster Geschäftsführer des Vereins. Als erste Frau trat 1970 die langjährige Leiterin des Hamburger Landessozialamtes, Regierungsdirektorin a.D. Dr. Käthe Petersen, das Amt der Vereinsvorsitzenden an. Unter ihrer Leitung erreichte der DV seinen institutionellen Zenit und die Zahl der Fachausschüsse stieg kurzzeitig auf ein Dutzend an. Während der 1960erund 1970er-Jahre beteiligte sich der DV vornehmlich an der Fortent wicklung des Sozialhilferechts. Neben Petersen zeigte sich v.a. der Gutachtenreferent und stellvertretende Geschäftsführer Dr. Dieter Giese besonders aktiv. Drei Novellen des BSHG, durch die 1965, 1969 und 1974 der Leistungskatalog erheblich erweitert und armen polizeiliche Relikte gestrichen wurden, begleitete der DV kritisch. Darüber hinaus schaltete man sich in die Diskussionen um die Schaffung des Sozialgesetzbuchs – Allgemeiner Teil – ein. Kontinuität in den 1980er-Jahren Seit Oktober 1978 lenkte mit Otto Fichtner erstmals ein Sozialdemokrat die Geschicke des DV. Angesichts der Diskussionen um einen Umbau des Sozialstaats kann es durchaus als Erfolg angesehen werden, dass der DV in den 1980er-Jahren seinen Stellenwert bewahren konnte. Das Finanzvolumen konnte sogar erhöht und die Anzahl der beschäftigten Mitarbeiter/innen bei rund 100 gehalten werden. 1981 ging allerdings der Einfluss des DV auf die Bestimmung der Sozialhilfeleistungen weitgehend verloren, da der Auftrag zur Regelsatzermittlung an die Länder zurückgegeben wurde, so dass nach langen Querelen schrittweise das so genannte „Statistik-Modell“ zur Ermittlung des Existenzminimums eingeführt wurde. Sitz des DV 1973–2004 Am Stockborn 1–3 in Frankfurt/M. (bis 1990 „Hans-Muthesius-Haus“) Mitglieder 1986: 234Landkreise 101kreisfreie Städte 324kreisangehörige Städte 36Bundesbehörden, Länderverwaltungen u.a. 12überörtliche Träger der Sozial- und Jugendhilfe 633Organisationen, Verbände und Vereine 67Ausbildungsstätten 1.088Einzelpersonen, 7 Unternehmen, 11 Sonstige Gesamt: 2.644 Vermittler im deutsch-deutschen Vereinigungsprozess Der Fall der Berliner Mauer im November 1989 leitete den überaus dynamischen Vereinigungs prozess von Bundesrepublik Deutschland und Deutscher Demokratischer Republik ein. Quasi über Nacht war eine Angleichung zweier grundverschiedener Gesellschafts- und Sozialsysteme vorzunehmen. Mit der Volkskammerwahl vom 18. März 1990 wurden die Weichen auf den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik gestellt und das westdeutsche Sozialrecht auf die neuen Bundesländer und Ost-Berlin übertragen. Der Deutsche Verein leistete einen maßgeblichen Beitrag dazu, dass dies gelang. Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. 11 Teresa Bock * Viersen/Niederrhein 21.10.1927 Professor Dr., ab 1949 Ausbildung zur Wohlfahrtspflegerin, 1955–1957 Referentin für politische Bildung in Bendorf, 1960–1962 Dozentin an der Akademie für Jugendfragen in Münster, 1962–1967 Direktorin der Höheren Fachschule für Sozialarbeit in Düsseldorf, 1967–1970 Direktorin der Höheren Fachschule für Sozialarbeit in Aachen, 1970–1977 Rektorin in der Katholischen Fachhochschule Nordrhein-Westfalen, 1991–1993 Gründungsdirektorin der Katholischen Fachhochschule in Berlin-Karlshorst, 1972–2002 Vizepräsidentin des Deutschen Caritas-Verbandes (DCV). Mitglied des DV-Hauptausschusses 1971–1995, Vorstandsmitglied 1971–1994, stellvertretende DV-Vorsitzende 1978–1990, DV-Vorsitzende 1990–1994, seit 1995 Ehrenmitglied des DV. Manfred Wienand * Aschaffenburg 30.8.1947 1980 Dr. jur., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialversicherungsrecht der Universität Freiburg, anschließend in der Sozial- und Gesundheitsverwaltung des Landes Rheinland-Pfalz tätig, Lehrbeauftragter für Sozialrecht der Universität Gießen. Seit Anfang der 1980er-Jahre im DV Leiter der Abteilung „Fachreferate/Gutachtenerstattung“, seit 1987 stellvertretender Geschäftsführer, seit 1989 Mitglied im DV-Hauptausschuss, 1989–2000 DV-Geschäftsführer, 1990–2004 Mitglied des DV-Vorstandes, 2000–2004 Mitglied des DV-Präsidiums. Seit 1999 Beigeordneter für Jugend, Soziales und Familie, seit 2006 Leiter des Dezernats Recht und Verfassung, Gesundheit beim Deutschen Städtetag. Das Sozialhilferecht der DDR Fachkräfteschulung in Ostdeutschland Die schwierige Aufgabe, nahezu die gesamte Arbeit des DV innerhalb kürzester Zeit auf die Vereinigungsproblematik auszurichten, fiel der neuen Vorsitzenden, Prof. Dr. Teresa Bock, und dem Geschäftsführer Dr. Manfred Wienand zu, der 1989 Walter Schellhorn abgelöst hatte. In dieser Umbruchszeit richtete der Verein sein Hauptaugenmerk auf die Förderung der sozialrechtlichen Adaption. Zur Übertragung des BSHG auf die ostdeutschen Länder organisierte der DV Fachkonferenzen, an denen sich maßgebliche Akteure aus West und Ost beteiligten. Ein wesentliches Ergebnis bildete 1990 die Ergänzung des Entwurfs zum Sozialhilfegesetz der DDR, die die Vorrangstellung der Freien Wohlfahrtspflege auch im Beitrittsgebiet festlegte. Zum 1. Januar 1991 trat in Ostdeutschland das BSHG in Kraft. Allerdings unterlag es dort Ausnahmeregelun gen, so genannten „Maßgaben“, die einige Leistungen einschränkten. Der DV kritisierte diese Benachteiligung ostdeutscher Sozialhilfe empfänger/innen, die erst 1996 außer Kraft gesetzt wurden. Erster gesamtdeutscher Fürsorgetag 1990 in Hannover Neben der technischen Einführung des bundesdeutschen Sozialrechts in den neuen Bundesländern zeigte sich der DV auf dem Gebiet der menschlichen Begegnungen überaus aktiv und schuf zahlreiche Möglichkeiten zur innerdeutschen Kommunikation. Die Fachausschüsse des Vereins wurden für ostdeutsche Kolleg/innen geöffnet und seit April 1990 wiederholt gemeinsame Veranstaltungen anberaumt. Den Höhepunkt des Ost-West-Dialogs bildete der 72. Deutsche Fürsorgetag im September 1990 in Hannover. Etwa 1.000 der insgesamt 2.500 Besucher kamen aus der DDR, sodass das Expertentreffen erstmals seit 1945 einen wirklich gesamtdeutschen Charakter trug. Eine Satzungsänderung ermöglichte ostdeutschen Interessent/innen den Beitritt zum DV. Allerdings erreichte die Zahl der Mitglieder aus den neuen Bundesländern nicht das westdeutsche Niveau. Manfred Scholle * Berlin 1946 Dr. jur., zunächst in verschiedenen Verwaltungen des Berliner Senats tätig, 1981/82 Schul-, Kultur- und Sozialdezernent der Stadt Salzgitter, 1982–1991 Beigeordneter für Soziales, Jugend, Gesundheit und Sport der Stadt Dortmund, seit 1987 Vorsitzender des Sozialausschusses des Deutschen Städtetages und Mitglied des Sozialausschusses der evangelischen Kirche West falens, seit 1991 Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, seit 2000 Vorstandsvorsitzender der RWE Gas AG, seit 2004 Vorstandsvorsitzender der Gelsenwasser AG. Seit 1983 Mitglied im DV-Hauptausschuss, seit 1988 im DV-Vorstand, 1990–1994 stellvertretender Vorsitzender, 1994–1998 Vorsitzender, 2007 Ehrenmitglied des DV. Mit der Einführung des bundesdeutschen Sozialrechts in der DDR musste die Zahl der Fachkräfte erhöht und sie unter enormem Zeitdruck mit den neuen Durchführungsbestimmungen vertraut gemacht werden. Der DV übernahm auf diesem zentralen Gebiet zur Herstellung der Sozialunion entscheidende Verantwortung. Er stellte Arbeitsmappen zum Sozialhilferecht und zum Heimgesetz zusammen und führte bereits im Juni 1990 eine Schulungsveranstal tung für 50 Fachkräfte aus allen Bezirken der DDR in Frankfurt a.M. durch. Auf Bitte des Ministeriums für Gesundheit der DDR organisierte der DV außerdem in rund 50 ostdeutschen Städten Einführungsveranstaltungen, an denen sich über 2.500 Mitarbeiter/innen aus den Sozialverwaltungen beteiligten. Damit legte er den Grundstein für die Übertragung des bundesdeutschen Sozialhilferechts auf die neuen Länder und trug erheblich zum Gelingen der deutschen Einheit Regine Hildebrandt, Sozialministerin Brandenburg; Dr. Manfred Scholle, stellv. Vorsitzender des DV; Prof. Dr. Teresa Bock, Vorsitzende des DV; Staatssekretär Dr. Werner Tegtmeier. bei. Neubeginn in Berlin Nach der Vereinigung beider deutscher Staaten, die den ohnehin beträchtlichen Finanzbedarf weiter ansteigen ließ, verstärkten sich die Diskussionen um die Finanzierbarkeit der Sozialleistungen und die Umgestaltung des Sozialstaates. Auch der Deutsche Verein geriet in dieser Phase unter erheblichen Reformdruck. Mit der Verlegung der Geschäftsstelle nach Berlin trug er den gewandelten Erfordernissen Rechnung und kehrte zu seinen historischen Wurzeln zurück. Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. 12 Konrad Deufel * Konstanz 1947 1976 Dr. theol., 1979–1989 Caritas-Direktor in Freiburg i. Br., 1989–1994 Stadt rat und Dezernent für Jugend, Gesundheit und Soziales der Stadt Hannover, 1994– 2006 Oberstadtdirektor von Hildesheim, seit 2006 Geschäftsführer der profund.gmbh. Seit 1991 Mitglied des DV-Hauptausschusses, seit 1994 Mitglied des DV-Vorstandes, 1998–2006 Vorsitzender, seit 2007 Ehrenmitglied des DV. Michael Löher * Hannover 26.8.1958 1989/90 Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Niedersächsischen CDULandtagsfraktion, 1991 als Regierungsrat Kabinettsreferatsleiter des Finanzministeriums von Sachsen-Anhalt, anschließend bis 1993 als Ministerialrat Büroleiter des Ministerpräsidenten in der sachsen-anhaltinischen Staatskanzlei, 1993–1999 stellvertretender Abteilungsleiter der Abteilung Familie, Kinder, Sport im Ministerium für Arbeit, Frauen, Gesundheit und Soziales des Landes Sachsen-Anhalt. Seit 2000 Geschäftsführer (nach Satzungs änderung im März 2007: Vorstand) des DV. Wilhelm Schmidt * Barbecke/ Kreis Peine 13.5.1944 Beamter im gehobenen Dienst der Stadt Wolfenbüttel, zuletzt Leiter der Personalabteilung und Dozent an der Verwaltungsschule Braunschweig, SPD-Mitglied seit 1966, seit 1972 in der Kommunalpolitik aktiv, 1978–1986 Mitglied im niedersächsischen Landtag, 1987–2005 Mitglied des Deutschen Bundestages für den Wahlkreis Salzgitter-Wolfenbüttel, dort u.a. Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der SPDFraktion, seit 1994 Mitglied im Vorstand der Stiftung Deutsches Hilfswerk, seit 1990 stellvertretender Vor-sitzender, seit 2004 Vorsitzender der Arbeiterwohlfahrt, seit 2008 Bevollmächtigter des Vorstands der EVONIK AG, Essen. Seit 27.9.2006 Vorsitzender (nach Satzungsänderung im März 2007: Präsident) des DV. Umstrukturierung und Modernisierung Im September 1994 löste der Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, Dr. Manfred Scholle, Teresa Bock im Vereinsvorsitz ab. Zu dieser Zeit trat stufenweise die Pflegeversicherung als fünfte Säule der Sozialversicherung in Kraft, für deren Verwirklichung der DV seit den 1970er-Jahren eingetreten war. Die sozialpolitische Arbeit des DV wurde jedoch im November 1995 durch eine Bilanzprüfung des Bundesrechnungshofes in den Hintergrund gedrängt, die ihn in eine schwere Krise stürzte. Mit den Folgewirkungen der Bundesrechnungshofprüfung hatte sich seit 1998 der neue Vereinsvorsitzende, der Hildesheimer Oberstadtdirektor Konrad Deufel, zu beschäftigen, unterstützt von Michael Löher, der im Februar 2000 die Geschäftsführung übernahm. Zu den Reformmaßnahmen gehörte die Umstrukturierung der Geschäftsstelle und die Einführung von acht Arbeitsfeldern (heute sechs plus eine Stabsstelle). Zur Verbesserung der Effektivität wurde als flexibles Leitungsgremium ein zwölfköpfiges Präsidium eingerichtet und die Satzung den Veränderungen ange passt. Die lang anhaltenden Finanzierungs diskussionen konnten durch den Abschluss einer neuen Finanzierungsvereinbarung mit dem BMFSFJ endgültig beigelegt werden, die auf einem pauschalen Förderbetrag des Bundes sowie dem Prinzip der Projektförderung basiert. Im April 2001 erfolgte die Vereinigung mit dem Internationalen Sozialdienst (ISD), wodurch sich das sozialpolitische Spektrum des DV erweiterte. Festakt zum 125-jährigen Bestehen des DV am 8. Dezember 2005 in Berlin. V.l.n.r.: die Vorsitzende des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Barbara Stolterfoth; Bundesfamilienministerin Dr. Ursula von der Leyen; der Vorsitzende des DV, Dr. Konrad Deufel; Bundespräsident Horst Köhler; der Präsident des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, Roland Schäfer. Umzug nach Berlin Sitz des DV seit 2004 in der Michaelkirchstr. 17/18 in Berlin. Während die Modernisierung des DV voranschritt, erwies sich das Vereinsgebäude in Frankfurt a.M. zunehmend als Belastung. Seine Bausubstanz war mittlerweile so marode, dass sein Erhalt nicht mehr tragbar war. Der Vorstand beschloss daher, den Vereinssitz nach Berlin zu verlegen. Diese Entscheidung war von großer Tragweite für viele Mitarbeiter/innen und lang jährige Vereinsmitglieder. Doch der neue Standort eröffnete der zukünftigen Arbeit des DV neue Perspektiven. Man befindet sich am Puls des sozialpolitischen Gesche hens und verfügt über kurze Wege zu den maßgeblichen Akteuren und Bundesminis terien. Seit dem 27. September 2006 übt Wilhelm Schmidt das Amt des Vereinsvorsitzenden (seit einer Satzungsänderung 2007: Präsident) aus. Weiterhin wirft der DV – als einzigartiges Forum für öffentliche und freie Träger der sozialen Arbeit – seine Fachkonferenz in die politische Waagschale, um die Modernisierung des deutschen Sozialstaats voranzutreiben. © Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. 2008 Konzept und Redaktion: Dr. Sabine Schmitt Recherche und Text: Dr. Matthias Willing Gestaltung: Stefan Walter