„Die nazistischen Sünden der Dornacher“?
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„Die nazistischen Sünden der Dornacher“?
Ansgar Martins (Frankfurt a.M.): „Die nazistischen Sünden der Dornacher“? Hans Büchenbacher, seine „Erinnerungen 1933-1949“ und die Vorstände der Anthroposophischen Gesellschaft(en) in der Nazizeit1 Manuskript zu einem Vortrag am 1. März 2014 Rudolf Steiner-Forschungstage, Basel Mit besonderem Dank an Jann Schweitzer, Nico Bobka und Hans-Jürgen Bracker 1 Mehr Material zu allen im Manuskript geschilderten Um- und Zuständen wird es geben in: Hans Büchenbacher: Erinnerungen 1933-1949. Zugleich eine Studie zur Geschichte der Anthroposophie im Nationalsozialismus, mit 5 Anhängen hg. v. Ansgar Martins, Info3-Verlag, Frankfurt a.M. 2014 (im Druck). Siehe dort auch für hier nicht näher nachgewiesene Informationen. Gliederung 1. Hans Büchenbachers „Erinnerungen“ 2. Marie Steiner-von Sivers, Guenther Wachsmuth und der „Judenstall“ am Goetheanum 3. Albert Steffen, Roman Boos und der „Menschheitsimpuls“ des „deutschen Geistes“ 4. Die Ablehnung des Nationalsozialismus durch die deutsche Anthroposophische Gesellschaft 1933 5. Hanns Raschers Zugriff 6. „Ich finde das ganz unbegreiflich“: Ita Wegmans und Elisabeth Vreedes Protest 7. „Versagen“? Büchenbachers Christologie und der Nationalsozialismus in der Anthroposophie Hans Büchenbachers (1887-1977) Leben war lang und nicht gerade ruhig.2 Ich würde gern heute über einen der mutmaßlich geistreichsten anthroposophischen Denker seiner Generation sprechen, der lange vor einem Herbert Witzenmann oder diversen heutigen Bestrebungen (etwa im Umfeld der Alanus-Hochschule) für eine streng methodisch basierte, philosophische Deutung Steiners eintrat. Ich könnte über einen flammenden Redner in Sachen „Dreigliederung des Sozialen Organismus“ sprechen, der seinen Glaubensgenossen kurz darauf (und immer wieder ab 1922) Sektiererei und Dogmatismus vorwarf. Ich könnte aber auch über einen unwilligen Jurastudenten sprechen, der viel lieber Dirigent geworden wäre und sich gegen die Jura-Wünsche seines Vaters Sigmund (1861-19323, selbst Jurist) erst der Philosophie, dann freistudentischem Anarchismus und schließlich aufs innigste Rudolf Steiner zuwandte. Sprechen werde ich über denselben, 1931 von Albert Steffen zum Vorstandsvorsitzenden der deutschen AG berufenen Büchenbacher, der 1934 zurücktrat – weil der erwähnte Vater Jude war. Tatsächlich konvertierte Sigmund Büchenbacher zum Christentum, wahrscheinlich zu seiner Hochzeit mit Katharina Haubrich (1863-19413), einer passionierten Katholikin, die auch den Kurs der religiösen Erziehung beider Kinder bestimmte. Aber trotzdem wurde Hans Büchenbacher freilich als „Halbjude“ angegriffen, nachdem 1933 die NSDAP an die Macht gewählt und bald darauf kein Verein mehr frei war von den Nöten der „Volksgemeinschaft“, fanatischem Antisemitismus, stolzen „Ariern“ und solchen, die es werden wollten. 1. Hans Büchenbachers „Erinnerungen“ Vermutlich kurz nach 1970 hat Büchenbacher, der nie sonderlich gern und selten viel geschrieben hat, die im Titel erwähnten „Erinnerungen“ zu Papier gebracht.4 Er schrieb über die Jahre 1933-1945, und dazu unter anderem, „dass ungefähr 2/3 der Mitglieder mehr oder weniger positiv zum Nationalsozialismus sich orientierten“. Diese Anschuldigungen hätten viele Anthroposophen in den 70ern freilich schwer getroffen. Nicht zuletzt, weil viele der persönlich Kritisierten noch lebten. Neben der diffusen Rede von 2/3 der Anthroposophen, die „mehr oder weniger“ positiv zum Nationalsozialismus gestanden hätten, nennt Büchenbacher überdies eine ganze Reihe von prominenten Steinerschülern, was die sendungsbewusste historische Selbstwahrnehmung der meisten Anthroposophen tief erschüttert hätte. Personen wie seinen Vorstandskollegen Hermann Poppelbaum, die Steiner-Stenographin Helene Finkh, die treue Steinerschülerin Johanna Mücke und vor allem Guenther Wachsmuth und Marie Steiner-von Sivers werden aus verschiedenen Gründen als „pronazistisch“ bezeichnet. Büchenbacher betont im Text aber auch, „dass ich nicht daran dachte, die nazistischen Sünden der Dornacher in der Gesellschaft oder in der Oeffentlichkeit bekanntzugeben.“ Sieben Jahre später ist er gestorben, ohne dass er den Text veröffentlicht hätte, dieser hat auch offenbar keine finale Form sondern bleibt weitestgehend anekdotisch. 2 Vgl. zum hier Aufgelisteten Hans Buser: Ansprache bei der Bestattungsfeier von Hans Büchenbacher, in: Büchenbacher: Erfahrung und Denken in den vier Schichten der Wirklichkeit, Basel 1978, S. 51ff.; Heinz Zimmermann: Hans Büchenbacher, in: Bodo von (Hg.): Anthroposophie im 20. Jahrhundert. Ein Kulturimpuls in biografischen Porträts, Dornach 2003, S. 116f.; Büchenbacher: Lebenslauf, in: ders.: Über Gegenstandsforderungen der Musik. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der hohen philosophischen Fakultät der Friedrich-Alexanders-Universität Erlangen, München 1911, S. 24; die Anmerkungen der Herausgeber in: Karl Korsch: Briefe 1908-1939, Gesamtausgabe, Bd. 8., hg. v. Michael Buckmiller u.a., Amsterdam 2001, S. 122, 182; Schmuel Hugo Bergman an Escha Bergman, 21. August 1953, in: Schmuel Hugo Bergman: Tagebücher und Briefe, Bd. 2, hg. v. Miriam Sambursky, Königstein 1985, S. 149. Zahlreiche Briefe und Dokumente sind im Archiv der Anthroposophischen Gesellschaft am Goetheanum, Dornach, erhalten. 3 Lebensdaten nach Sophie Fetthauer: Anna Büchenbacher, LexM, http://www.lexm.unihamburg.de/object/lexm_lexmperson_00001684 (Abruf am 21.12.2013). 4 Ein Teilabdruck findet sich in Info3 4/1999. Nichtsdestominder enthalten die „Erinnerungen“ – neben allerlei obskuren esoterischen Spekulationen über „okkulte Logen“ und dämonische Mächte auf der Hinterbühne des Weltgeschehens – interessante Hinweise und Beobachtungen, auch für die historische Forschung zur Anthroposophie. Büchenbachers merkwürdige Agenda, das Erinnerte zwar zu fixieren, aber geheim zu halten, ist aufgegangen. Erst zwei Jahrzehnte später wurde angesichts Steiner-begeisterter Alt- und Neonazis wie Werner Georg Haverbeck die Frage nach dem Verhalten von Anthroposophen in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gestellt.5 Seitdem ist viel Schund zum Thema erschienen, aber auch einige außerordentlich sorgfältige Studien – ich nenne nur die Forschungen von Arfst Wagner, Uwe Werner, Peter Selg, Karen Priestman, Ida Oberman und Peter Staudenmaier.6 Für die hier untersuchten Vorgänge bleibt allerdings die Studie von Werner die zentrale Referenz. In der bisherigen Debatte hat man sich aber vor allem um einzelne Praxisfelder gestritten: Zurecht, da um nur ein Beispiel zu nennen, die biodynamische Landwirtschaft unter Rudolf Hess, Richard Walter Darré (und vielen anderen hochrangigen Nazis) zur wohl erfolgreichsten „alternativen“ Anbaumethode des „Dritten Reichs“ aufstieg – und die Bemühungen einiger Nazis um eine erklärt biologisch-germanische Landwirtschaft in engster geistiger und räumlicher Nähe zur „Eroberung“ neuen „Lebensraums“ im Osten und zum Massenmord in den Konzentrationslagern standen.7 Dagegen sind fast alle der führenden Anthroposophen jener Jahre noch unerforscht, von einzelnen Zweigen ganz zu schweigen. Und vor allem ersteren widmen sich die „Erinnerungen“ Büchenbachers. 1934 trat dieser nämlich vom deutschen Vorstandsvorsitz zurück – laut „Erinnerungen“ auf den Druck von Guenther Wachsmuths Mitarbeiter Paul Eugen Schiller. 5 Vgl. Ansgar Martins: Rassismus und Geschichtsmetaphysik. Esoterischer Darwinismus und Freiheitsphilosophie bei Rudolf Steiner, Frankfurt a.M. 2012, S. 12f. 6 Vgl. Arfst Wagner: Anthroposophen und Nationalsozialismus. Probleme der Vergangenheit und der Gegenwart, in: Flensburger Hefte, 3/1991; Wagner: Dokumente und Briefe zur Geschichte der anthroposophischen Bewegung und Gesellschaft in der Zeit des Nationalsozialismus, 5 Bde., Rendsburg 1991ff.; Werner: Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus, München 1999; Werner: Rudolf Steiner zu Individuum und Rasse, Dornach 2011, S. 83-139; Peter Selg: Geistiger Widerstand und Überwindung. Ita Wegman 1933-1935, Dornach 2005; Karen Priestman: Illusion of Coexistence. The Waldorf Schools in the Third Reich, 1933-1941, Diss., Wilfried Lauer University 2009; Ida Oberman: The Waldorf Movement in Education from European cradle to American crucible, 1919-2008, Lewiston/Queenston 2008, S. 72-171; Peter Staudenmaier: Between Occultism and Fascism: Anthroposophy and the politics of Race and Nation in Germany and Italy, 1900-1945, Diss., Cornell University 2010; Staudenmaier: Anthroposophy in Fascist Italy, in: Versluis/Irwin/ Phillips (Hg.): Esotericism, Religion, and Politics, Lansing 2012, S. 83-106; Staudenmaier: Der deutsche Geist am Scheideweg. Anthroposophen in Auseinandersetzung mit völkischer Bewegung und Nationalsozialismus, in: Uwe Puschner/Clemens Vollnhals (Hg.): Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus. Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte, Göttingen 2012. 7 Vgl. zur Debatte vor allem die eben angeführten Publikationen von Wagner, Werner und Staudenmaier und darüber hinaus nur exemplarisch Janet Biehl/Peter Staudenmaier: Ecofascism Revisited. Lessons From The German Experience, Porsgrunn (Norway) 2011, S. 89-132; Christoph Kopke: Kompost und Konzentrationslager. Alwin Seifert und die „Plantage“ im KZ Dachau, in: Arnett Schulze/Thorsten Schäfer: Zur Re-Biologisierung der Gesellschaft. Menschenfeindliche Konstruktionen im Ökologischen und im Sozialen, Aschaffenburg 2012, S. 185-207; Anna Bramwell: Blood and Soil. Richard Walther Darré and Hitler’s “Green Party”, Bourne End 1985; Bramwell: Ecology in the 20th Century. A History, New Haven 1989, S. 195-208, dazu kritisch Piers Stephens: Blood, Not Soil: Anna Bramwell and the Myth of ‚Hitler’s Green Party’, in: Organization & Environment 14/ 2001, S. 173-87; Gesine Gerhard: Richard Walther Darré. Naturschützer oder „Rassenzüchter“?, in: Joachim Radkau/ Frank Uekötter (Hg.): Naturschutz und Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 2003, S. 257-271; Christian Jacobeit/ Wolfgang Kopke: Die biologisch-dynamische Wirtschaftsweise im KZ. Die Güter der Deutschen Versuchsanstalt für Ernährung und Verpflegung des SS von 1939 bis 1945, Berlin 1999. „Aber“, sagte ich zu Schiller, „der Dornacher Vorstand ist mein Chef, und wenn Sie jetzt den Austritt wünschen, so trete ich aus, aber die Verantwortung hat jetzt natürlich der Dornacher Vorstand.“ Schiller: „Das können Sie nicht sagen; Sie treten selbstverständlich ganz freiwillig aus.“ Ich: „Das ist natürlich eine Phrase, aber wenn Sie jetzt weiterfahren nach München ins Braune Haus, können Sie melden, dass ich ausgetreten bin.“ Den 1923/24 von Rudolf Steiner eingesetzten Vorstand der „Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft“, bestehend aus Albert Steffen, Marie Steiner-von Sivers und Guenther Wachsmuth8 beschuldigt Büchenbacher, dem Nationalsozialismus nicht nur anbiedernd, sondern sympathisierend gegenüberzustehen. Man merkt am Ton durchaus, wie tief Büchenbacher verletzt war9, vor allem auch, weil die Dornacher Führungsebene die Anthroposophische Gesellschaft allzu bereitwillig von jüdischen Mitgliedern ‚bereinigte‘.10 2. Marie Steiner-von Sivers, Guenther Wachsmuth und der „Judenstall“ am Goetheanum Das lässt sich an Büchenbacher selbst demonstrieren. Bereits Anfang März 1933 hatte Rudolf Steiners Witwe und Nachlassverwalterin Marie Steiner-von Sivers vertraulich der schwedischen Generalsekretärin Anna Gunnarsson Waager mitgeteilt, man müsse Büchenbacher, der als Jude der deutschen Anthroposophie schade, so bald wie möglich und am besten nach Schweden (dem Herkunftsland seiner Frau Lilian) umquartieren. „Ohne Opfer“, so Steiner-von Sivers, die in dem Brief kein kritisches Wort zum Nationalsozialismus verlor, „geht es ja nicht.“11 Nun war Hans über Lilian Büchenbacher persönlich mit Gunnarsson befreundet, demonstrativ emigrierte er (1936) nach Dornach, obwohl er nach dem Bericht der „Erinnerungen“ auch und gerade dort von Anthroposophen antisemitisch angefeindet worden sei. Monatelang hielt er sich bis 1939 jedes Jahr in Skandinavien und der Tschechoslowakei auf. Nach dem Verbot der Anthroposophischen Gesellschaft am 1. November 1935 schrieb der Dornacher Vorstand an Hitler, der mit „ew. Exzellenz“ angesprochen wurde, man habe „zu irgendwelchen freimaurerischen, jüdischen, pazifistischen Kreisen irgendwelche Beziehungen oder auch nur Berührungspunkte nicht gehabt.“12 Dies entsprach freilich der historischen Realität in keiner Weise, allerdings waren Wachsmuth und Steiner-von Sivers bemüht, das für die Gegenwart zu ändern. Letztere brach etwa den Kontakt zu Büchenbacher (und ihrem langjährigen Mitarbeiter Adolf Arenson) strikt ab.13 Wachsmuth insistierte auch wiederholt in Briefen, mit Juden habe die Anthroposophische Gesellschaft überhaupt nichts zu schaffen, gegenteilige Behauptungen seien 8 Elisabeth Vreede und Ita Wegman waren zu diesem Zeitpunkt faktisch bereits außen vor. Vgl. Helmut Zander: Anthroposophie und Nationalsozialismus. Zwei neuere Veröffentlichungen, in: Neue Zürcher Zeitung, 22. Juli 1999. 10 Die von Zander (Anthroposophie in Deutschland, Göttingen 2007, S. 375) und Staudenmaier (Between Occultism and Fascism, S. 182) aufgestellte Behauptung, es habe kaum jüdische Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft gegeben, kommt m.E. einer Verdrängung gleich. 11 Marie Steiner an Anna Gunnarsson, 4. März 1933, Rudolf Steiner Archiv, Dornach. 12 Brief des Vorstands der Anthroposophischen Gesellschaft (unterzeichnet von Steffen, Steiner-von Sivers und Wachsmuth) an Adolf Hitler, in: Wagner: Band 1, S. 42ff. 13 Als Marie Steiner-von Sivers 1943 das für die Anthroposophie turbulente Jahr 1923 schilderte, kam der eigentlich rastlos aktive Büchenbacher darin nur am Rande als „ein Vertreter der Jugendbewegung“ vor. Vgl. Marie Steiner-von Sivers: Ein Rückblick auf das Jahr 1923 und die ihm vorausgegangenen Ereignisse (1943), in: Steiner: Das Schicksalsjahr 1923, GA 259, S. 34. Erst Ende 1948 ist es wieder zu engerem Kontakt zwischen beiden gekommen – der selbstbewusste Büchenbacher war (wieso auch immer) der Meinung, er könne die inzwischen (durch Roman Boos) aufgekommenen Konflikte zwischen Steiner-von Sivers und Albert Steffen schlichten. 9 „absurd“.14 Als der ehemalige dänische Vorsitzende Johannes Hohlenberg den Nationalsozialismus in seiner Zeitschrift „Vidar“ wiederholt kritisierte, entzogen sie ihm die Unterstützung und die Erlaubnis, Vorträge Rudolf Steiners abzudrucken.15 Allerdings haben und hätten beide wohl niemals die volle Schärfe des nationalsozialistischen Erlösungsantisemitismus bejaht oder in diese Richtung agitiert. Steiner-von Sivers sollte etwa der Familie Arthur Spechts, dessen Hauslehrer Steiner Anfang der 1880er gewesen war, zur Flucht aus Deutschland helfen.16 Wachsmuth derweil wollte, so zitiert ihn jedenfalls Büchenbacher, „keinen Judenstall“ am Goetheanum haben. Er hatte am 6. Juni 1933 in einem Interview mit der dänischen Zeitung Ekstrabladet mitgeteilt, „dass wir mit Sympathie auf das schauen, was z.Zt. in Deutschland geschieht … die tapfere und mutige Weise wie die Führer des neuen Deutschlands sich der Probleme bemächtigen, kann, meiner Meinung nach, nur Bewunderung erzwingen. Es wird sicher etwas Gutes dadurch entstehen…“17 Nach Dornach zurückgekehrt, schrieb Wachsmuth im Juni 1933 im anthroposophischen „Nachrichtenblatt“: „Es ist gut, dass unter den Mitgliedern nicht jene Elemente überwiegen, die … den komplizierten Ereignissen der Gegenwart nur lehrhaft nörgelnd und jammernd gegenüberstehen können … Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und Ihr könnt sagen Ihr seid dabei gewesen. Es ist ermutigend, dass diejenigen, die ‚dabei‘ sein wollen, auch in unseren Reihen überwiegen.“18 Zu diesem Zeitpunkt war der nationalsozialistische Kampf gegen politische Gegner bereits weit fortgeschritten. Auch hatten alte Steinergegner wie Erich Ludendorff und Gregor SchwartzBostunitsch versucht, die Anthroposophie als undeutsch und jüdisch zu denunzieren. Marie Steinervon Sivers gab die Beleidigung als „jüdisch“ an die die Ludendorffs zurück und beschimpfte sie als „Anhänger des alten Jahwe-Prinzips“. 19 Sie sah in den „Schmähschriften“ „etwas unwiderruflich Beweisendes … für sein [Steiners] Höher-Stehen als andere Menschen.“ Sie vermutete hinter den rechten Angriffen auf Steiner Lügen, „die zuerst von der jüdischen Linkspresse“ in die Welt gesetzt und von dämonischen Mächten inspiriert worden seien.20 14 Vgl. für eine besonders scharfe Abgrenzung Guenther Wachsmuth an Hanns Rascher, 18. Juni 1934, Archiv am Goetheanum (A 01.001.013). 15 Vgl. Marie Steiner an Johannes Hohlenberg, 24. April 1933, Rudolf Steiner Archiv, Dornach; Marie Steiner an Johannes Hohlenberg, 29. April 1936, Rudolf Steiner Archiv, Dornach; vgl. Johannes Kiersch: Steiners individualisierte Esoterik einst und jetzt, Dornach 2012, S. 180; Werner: Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus, S. 37. 16 Arthur Specht an Marie Steiner-von Sivers, 29. Juli 1939, in: Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe, 112/113, Dornach 1994, S. 96; Marie Steiner an Herrn Spaini, 30. Januar 1940, ebd., S. 98. 17 D. Rank: Anthroposophen und Nazi Arm in Arm, Ekstrabladet, Kopenhagen, 6.6.1933, in: Arfst Wagner (Hg.): Dokumente und Briefe, Bd. 1, Rendsburg 1991, S. 40f. 18 18 Guenther Wachsmuth, in: Was in der Anthroposophischen Gesellschaft vorgeht, 26/1933, S. 102f. …“ In einem Brief an Alfred Reebstein präzisierte er: „Es ist doch auch für die Mitglieder wichtig und schön zu wissen, dass man uns von dieser [der nationalsozialistischen, AM] Seite so freundlich entgegengekommen ist, und es ist ja auch wesentlich, sich klarzumachen, dass wir früher von anderen offiziellen Seiten keinerlei Entgegenkommen und Interesse gefunden haben, während man uns heute dankenswerter Weise entgegenkommt.“, zit n. Werner: Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus, S. 37. 19 Marie Steiner-von Sivers: Der Kampf um Christus. Einleitende Worte, in: Rudolf Steiner, Der Christus-Impuls und die Entwickelung des Ich-Bewußtseins, Dornach 1933, S. VI. Das Vorwort fehlt in der heutigen Ausgabe. Im Hintergrund steht Steiners Annahme: „Und innerhalb dieser Kriegskatastrophe [1914-18] sind die Völker alle zurückgefallen in die Jahve-Religion. Nur sind so und so viele Jahves dagewesen. Jedes Volk hat einen Gott verehrt, der eigentlich ganz im Charakter des Jahve gehalten war." Steiner, Vortrag vom 13. März 1921, in: ders.: Die Verantwortung des Menschen für die Weltentwickelung, Dornach 1989, S. 269. 20 Marie Steiner an Dr. Friedrich Doldinger, 27. Juni 1933, Rudolf Steiner Archiv, Dornach. 3. Albert Steffen, Roman Boos und der „Menschheitsimpuls“ des „deutschen Geistes“ Albert Steffen, 1. Vorsitzender der „Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft“ in Dornach, erkannte dagegen, aus welcher Ecke die Verleumdungen tatsächlich kamen. Auf hunderten von Tagebuchseiten hat er mit Entsetzen Hitler und die nationalsozialistische Gewaltherrschaft kommentiert und als widermenschlich und antichristlich bezeichnet.21 Dabei prangerte er den Antisemitismus und die Euthanasie an – er heiratete in dieser Zeit die Witwe eines verstorbenen (jüdischen) Freundes, Stanislaus Stückgold, wodurch deren Tochter Felicitas – halb gelähmt und epileptisch – einen Schweizer Pass erhielt. Er selbst sah dies auch als Protest gegen Euthanasie und Antisemitismus. Anfangs hatte Steffen von einer „Gegenrevolution“ geschrieben, die bald wieder abflauen werde, noch 1933 deutete er den Aufstieg der Nazis als Sieg des Bösen mit gewalttätigen, ja apokalyptischen Aussichten: „Satan stärker als Michael? Der gefallene Archon stärker als der Erzengel, der treu blieb? Wenn Michael unterliegt, dann muss Christus selber gegen den Antichrist kämpfen.“ Er führte im selben Jahr sein Drama „Der Sturz des Antichrist“ – es geht tasächlich um einen satanischen Diktator – zum ersten Mal auf. Der Komponist Viktor Ullmann, einer der engsten Freunde Büchenbachers übrigens, hat das Stück vertont und später im Konzentrationslager Theresienstadt zur Oper „Der Kaiser von Atlantis“ fortgeschrieben.22 Zur Uraufführung des „Antichrist“ schrieb Steffen am 30. April in sein Tagebuch, der „Menschheitsimpuls“ des „deutschen Geistes“ sei damit am Goetheanum präsent, „während sich in Deutschland das Gegenteil zeigte. Es ist ein Sieg errungen. Aber unsere Leute haben ihn verschlafen.“ 1944 stimmte er Nietzsche zu, der „alle Antisemiten erschießen wollte“. Steffens Bedenken blieben jedoch auf den Tagebuchseiten. Er ließ nichts davon in die Stellungnahmen des Dornacher Vorstands gegenüber nationalsozialistischen Behörden einfließen, die immer den „arischen“ Steiner betonten, der im Geiste Goethes gegen Sozialismus und „undeutsche“ Theosophie aufgetreten sei und niemals etwas mit Juden zu tun gehabt habe. Dies zeigt m.E. auch, dass Steffens Ablehnung der Nazis nicht bedeutete, dass er von deutschnationalen und antijüdischen Positionen frei war – beides findet sich im Gegenteil auch in seinen Tagebüchern. Die Weltanschauungspolitik des Vorstands gegenüber dem Nationalsozialismus solltejedoch nicht der Hitler klar ablehnende Vorstandsvoritzende der „Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft“ bestimmen. Indessen hatte sich nämlich der Leiter der „Sozialwissenschaftlichen Arbeitsgruppe am Goetheanum“, Roman Boos, eingeschaltet.23 Der gehörte zu den wichtigsten Pionieren der Dreigliederungsbewegung und der Schweizer Anthroposophie, war zeitweiliger persönlicher Assistent Steiners, ein enthusiastischer Gegner Ita Wegmans und enger Vertrauter Marie Steiners. Schon bei seinem Lehrer Otto von Gierke hatte Boos eine völkische Entgegensetzung von 21 Vgl. Hinweise und Studien zum Lebenswerk von Albert Steffen, hg. v. d. Albert-Steffen-Stiftung, Dornach, 4/1988, 8-9/1990, 18-19/2003 – darin sind jedenfalls ausführliche Auszüge der Tagebücher veröffentlicht. Detaillierte Belege in der angekündigten Publikation, vgl. Fußnote 1. 22 Vgl. Jan Dontal: Stoffverwandtschaften in den Opern „Der Kaiser von Atlantis“ und „Der Sturz des Antichrist“, in: Hans-Günter Klein (Hg.): „…Es wird der Tod zum Dichter“. Die Referate des Kolloquiums zur Oper „Der Kaiser von Atlantis“ von Viktor Ullmann in Berlin am 4./5. November 1995, Hamburg 1997, S. 29-37. 23 Vgl zur Person Andreas Dollfus: Roman Boos, in: Bodo von Plato (Hg.): Anthroposophie im 20. Jahrhundert. Ein Kulturimpuls in biografi schen Porträts, Dornach 2003, S. 104f.; Dollfus: Wer war Roman Boos? Eine biographische Notiz, in: Roman Boos: Reichsgeist und Schweizer Geist, S. 58ff.; Erdmuth Johannes Grosse: Das Rätsel des Urvorstandes. Blicke auf die Konflikte nach Rudolf Steiners Tod. Eine karmisch-psychologische Betrachtung, Dornach 2007, S. 255-300. Diese Publikationen zeichnen sich aber insgesamt durch eine Vernachlässigung von Boos‘ Rolle in der Nazizeit aus. germanischer „Rechtlichkeit“ und abstrakt-dekadentem römischem Recht kennengelernt. 1927 hatte er mit Blick auf Mussolinis Italien „Toleranz dem Fascismus“ gefordert, der dem wahren Willen des italienischen Volkes entspreche.24 1933 erkannte er im Nationalsozialismus die „Neugeburt des deutschen Rechts“ wieder. Er schlug Marie Steiner-von Sivers ein Buchprojekt vor, in dem Texte Steiners zum Thema „Deutschtum“ publiziert würden – um endlich „das Lebenswerk Rudolf Steiners mit einem großen Ruck in den Brennpunkt des Zeitschicksals zu stellen.“ Er bot das Manuskript, das den Titel „Rudolf Steiner während des Weltkriegs“ bekam, dem deutschen Verlag Duncker & Humblot an. Guenther Wachsmuth, der das Projekt gemeinsam mit Boos, Steiner-von Sivers, Otto Lerchenfeld und Carlo Septimus Picht offiziell betreute (auch Steffen wurde einbezogen), wandte sich an den Felix Meiner-Verlag, allerdings erfolglos. 25 Steiners Werk war für Boos vor allem eines: deutsch. Es gehöre „gerade der unmittelbaren Gegenwart – der Gegenwart von 1933. Ein gewaltiger Ruck durchschüttert sie.“ Die Weltherrschaft des kalten „homo oeconomicus“ müsse weggefegt werden: „Aus Blut und Leben lehnt man sich gegen den ökonomischen ‚Geist‘ auf. In seiner liberalistisch-kapitalistischen und in seiner marxistischkommunistischen Gestalt schlägt man ihn nieder“, hieß es im Vorwort zu „Rudolf Steiner während des Weltkriegs“.26 Das Buch erschien im September. Boos‘ Einfluss auf den Vorstand war 1933 und 1934 (1935 zog er sich in einem manisch-depressiven Schub zurück) enorm, er hat etwa das gesamte Tagungsprogramm der Anthroposophischen Gesellschaft geprägt, die Veranstaltungen teils bis ins Detail konzipiert – was eine Reihe von Anthroposophen aber auch störte. Boos sah sich selbst, wie er zumindest dem Dornacher Vorstand gegenüber versicherte, keineswegs als Nazi, sondern wollte freien Dialog unter „aufrichtigen“ Deutschen fördern und führen.27 In dieser Mission war er 1933/34 unermüdlich auf Vortragsreisen durch die anthroposophischen Zweige ganz Deutschlands gereist, um ebendas zu verkünden und die Verleumdungen durch nationalsozialistische Anthroposophie- und Esoterikgegner zu bekämpfen. Ironischerweise lenkte er damit wohl auch die Aufmerksamkeit nationalsozialistischer Okkultismusgegner auf sich (beispielsweise Walter Buchs, Leiter des obersten Parteigerichts28) und trug so indirekt zum Verbot der Anthroposophischen Gesellschaft 1935 bei. Andererseits brachte er es auch zu positiver Resonanz durch den „Völkischen Beobachter“.29 4. Die Ablehnung des Nationalsozialismus durch die deutsche Anthroposophische Gesellschaft 1933 Büchenbacher hat davon nichts geschrieben und war zwar über das Buch-Projekt, nicht aber über die Details informiert. Er schreibt jedoch, als er im Herbst 1933 von einer Skandinavienreise zurückgekehrt sei, hätten ihn seine deutschen Vorstandskollegen informiert, „dass Dr. Wachsmuth und Frau Dr. Steiner ganz pronazistisch seien“, während Steffen „aus Protest“ in Paris weile. Nach Büchenbachers „Erinnerungen“ lehnte der Vorstand der deutschen Anthroposophischen Gesellschaft 24 Vgl. Roman Boos: Toleranz dem Fascismus, in: Ders. (Hg.): Phänomene und Symptome, 9/1927, S. 1 Roman Boos an Marie Steiner, 26. März 1933, Rudolf Steiner Archiv, Dornach. 26 Roman Boos: Rudolf Steiner während des Weltkriegs. Beiträge Rudolf Steiners zur Bewältigung der Aufgaben die durch den Krieg der Welt gestellt wurden, Dornach 1933, S. III f. 27 Roman Boos: Memorandum betreffend die geplante Veranstaltung in Berlin, Münchenstein, 8. Juli 1933, gesendet an den Vorstand der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft [Steffen, Wachsmuth, Steinervon Sivers], Archiv am Goetheanum (A 01.001.013). 28 Vgl. Walter Buch an den SS-Sicherheitsdienst München, 18. Januar 1934, zit. n. Werner: Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus, S. 52. 29 Vgl. Die Marneschlacht – ein Freimaurer-Verrat?, in: Völkischer Beobachter, 25. Januar 1934; Deutsche Rechtlichkeit. Ein Vortrag im Goethe-Saal, in: Völkischer Beobachter, 24. Januar 1934. 25 den Nationalsozialismus Anfang 1933 dezidiert ab, „aber diese Haltung änderte sich mit der Zeit mehr und mehr.“ Im Herbst 1933 reiste jedenfalls eine Delegation des deutschen Vorstands, bestehend aus Büchenbacher, Martin Münch und Moritz Bartsch nach Dornach, wo sie sich mit Wachsmuth und Steiner-von Sivers traf. Büchenbacher trug, so formuliert er es rückblickend, vor, „dass der deutsche Vorstand keine unanthroposophischen Kompromisse mit den Nazi machen, sondern, wie damals manche verantwortungsvollen Vereinigungen getan hatten, die Gesellschaft freiwillig schliessen würde. Dr. Wachsmuth explodierte: „Das ist ja reizend, Herr Dr. Büchenbacher. Dann werden wir also gnädigst hören im Vorstand hier, dass Herr Dr. Büchenbacher die Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland geschlossen hat.“ Büchenbachers zynisches Lächeln über die Begeisterung der Dornacher für Boos kommentierte Steiner-von Sivers nach dessen Zeugnis einmal mehr antisemitisch: „Das sind die Wogen des Blutes“. Weder Wachsmuth noch Steiner-von Sivers konnten am Nationalsozialismus, jedenfalls zu diesem Zeitpunkt, viel Verwerfliches finden. Boos hatte immerhin auch teilweise Tag für Tag an beide geschrieben, wie großartig Steiner zur sog. „deutschen Erneuerung“ passe, ja sie erst inkubiere. Die Delegation reiste ab und versuchte ihr Glück in einem Brief an den offenbar schon als nazikritisch bekannten Albert Steffen, der zum Zeitpunkt der Besprechung tatsächlich in Paris gewesen war, aber um den Nachlass seines verstorbenen (jüdischen) Freundes Stanislas Stückgold aufzulösen. Im Schreiben liest man: „Seitens des ‚NSDAP Kampfbund für deutsche Kultur‘ sind für alle Vereine rein schematische Gleichschaltungsbestimmungen ergangen. Obwohl bisher nur in drei kleineren Orten in diesem Sinne an unsere Zweige herangetreten worden ist, müssen wir uns darüber klar sein, dass nun eine grundsätzliche Regelung des Modus vivendi unserer Gesellschaft in Deutschland notwendig wird. Zwei Punkte, die hierbei in Frage kommen können, sind nach unserer Ansicht unannehmbar, weil dadurch die von Herrn Dr. Steiner gegebenen Prinzipien verletzt werden: 1. Dass jeder Zweig einen Nationalsozialisten als Vorsitzenden bekommen müsste, 2. Die Anwendung des Arier-Paragraphen auf die Mitgliedschaft.“ Beides sei abzulehnen, wahrscheinlich auch im Vertrauen auf ein Herzstück der Steinerschen „Dreigliederung“, deren Ontologie des „Sozialen Organismus“ die wesenhafte Trennung von Staat („Rechtsleben“) und „freiem Geistesleben“ vorsah. Doch hoffte der Vorstand (aus welchen Gründen auch immer), dass dies den Anthroposophen leichthin zugestanden werde: „Wir sind der Überzeugung, dass wir am besten weiter kommen werden, wenn die Anthroposophische Sache überall ganz rein und kompromisslos vertreten wird.“ Schlimmstenfalls, spekulierten die vier Autoren, werde ein nationalsozialistischer Vertreter die Arbeit der Anthroposophischen Gesellschaft überwachen: Das solle dann ein gewisser Hanns Rascher machen.30 Der deutsche Vorstand war offensichtlich außerordentlich optimistisch – er unterschätzte in fataler Weise, wie ernst den Nazis ihre Anliegen waren und wie total letztere sich durchsetzen würden. Ähnliches ließe sich von Wachsmuth sagen. Viel realistischer schätzte Roman Boos die Gefahren ein, der deshalb gezielt gegen nationalsozialistische Steinergegner arbeitete, auch in Zusammenarbeit mit dem gerade erwähnten Hanns Rascher. 30 Hans Büchenbacher, Martin Münch, Hermann Poppelbaum und Ernst Stegemann an Albert Steffen (Durchschlag, undatiert), Archiv am Goetheanum, Dornach (A 01.001.013). 5. Hanns Raschers Zugriff Der Münchener Rascher (1880-1952), Vater des Himmler-Günstlings und sadistischen Dachauer KZArztes Sigmund Rascher, war einer der bekannteren anthroposophischen Mediziner und seit 1917 Büchenbachers behandelnder Arzt. Er war Homöpath, Spiritist, Theosoph, schließlich Anthroposoph und stand in herzlichem Kontakt zu dem völkischen Esoteriker Rudolf Glauer, der sich selbst zum „Freiherrn von Sebottendorf“ geadelt hatte – was ich erwähne, weil über Rascher auch Büchenbacher Glauers krude Phantasieprodukte über vermeintliche okkulte Geheimgesellschaften kennengelernt hat, denen er noch 1970 vollen Glauben schenkte.31 1928 wurde Rascher auf die NSDAP aufmerksam, die er als „Erneuerungsbewegung mit Tolaritätsanspruch“ begrüßte. 1931 wurde er Parteimitglied, ab 1932 arbeitete er für den SD, sein Vorgesetzter war ein SSHauptsturmbannführer Hauschild.32 Rascher bekannte später, dass er Steiners „Geisteswissenschaft … eine tiefgehende Ablehnung des Marxismus und der liberalistischen Parteien verdanke“, während er „ein tiefes Verständnis für das Germanentum und insbesondere für die Mission Deutschlands bekam.“ Er sei daher so sehr Anthroposoph wie Nationalsozialist.33 „Er stellte sich vor, wie auch andere später noch zu erwähnende Mitglieder, dass der Nationalsozialismus ganz Wunderbares für Deutschland leisten würde, wenn er eben noch aus der Anthroposophie Einiges aufnehmen würde, und dass eine sehr gute Zusammenarbeit möglich wäre. Ich bezweifelte das“, schreibt Büchenbacher. Auch Hanns‘ Bruder Fritz Rascher gehörte als Mitglied des (20 Mitglieder umfassenden) AristotelesZweigs in Hamburg zu denen, die 1933 als erste eine von „Nicht-Ariern“ gereinigte, nazitreue Anthroposophische Gesellschaft forderten – erfolglos übrigens, auch hier hielt der deutsche Vorstand seine anfangs strikt naziskeptische Position durch.34 Nichtsdestominder wandten sich sowohl der deutsche als auch der Goetheanum-Vorstand nach Hitlers Wahlsieg umgehend Rascher zu, der über und in Zusammenarbeit mit seinem SS-Vorgesetzten Hauschild versuchte, der Anthroposophie im Nazistaat sicheren Halt zu verschaffen. Rascher stand, wohl nicht zufällig, in engstem Austausch mit Roman Boos und schließlich auch mit den Dornachern. Er war auch intensiv in die Vorarbeiten zu „Rudolf Steiner während des Weltkriegs“ involviert.35 Hauschild lud auf seine Veranlassung nicht nur Büchenbacher ein (mit einer ausführlichen retrospektiven Schilderung des Treffens beginnen die „Erinnerungen“), er besuchte als Zuständiger in der Münchener Zentrale der NSDAP auf Raschers Vermittlung den Dornacher Vorstand, der daraufhin – Steffen eingeschlossen – eine ausführliche Stellungnahme und deutschtümelnde Selbstapologie gegenüber dem Nationalsozialismus verfasste. 36 1934 starb 31 Freilich unterscheiden sich Sebottendorf und Büchenbacher in zentraler Hinsicht: Sebottendorf versuchte, die von ihm gegründete „Thulegesellschaft“ zur bedeutenden Vorinstitution des Nationalsozialismus zu erklären, Büchenbacher hielt beide dagegen für schwarzmagische, dem Bösen gewidmete Phänomene, vgl. zu diesen und ähnlichen Verschwörungstheorien kritisch Nicholas Goodrick-Clarke: Im Schatten der Schwarzen Sonne. Arische Kulte, Esoterischer Nationalsozialismus und die Politik der Abgrenzung, Wiesbaden 2009, S. 220271, weit früher als die historische Esoterikforschung hat übrigens der Anthroposoph Christoph Lindenberg Sebottendorfs Behauptungen vernichtend kritisiert, vgl Lindenberg: Die Technik des Bösen. Zur Vorgeschichte und Geschichte des Nationalsozialismus, Stuttgart 1987, S. 15-24. 32 Vgl. Werner: Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus, S. 32. 33 Hanns Rascher an den Beauftragten des Führers für die geistige und weltanschauliche Erziehung der NSDAP, 28. April 1935, Faksimile in: Arfst Wagner: Dokumente und Briefe zur Geschichte der anthroposophischen Bewegung und Gesellschaft in der Zeit des Nationalsozialismus, Bd. III, Rendsburg 1991, S. 103f. 34 Vgl. Werner: Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus, S. 29. 35 Vgl. etwa Roman Boos an Hanns Rascher, 5. Juli 1933, Rudolf Steiner Archiv, Dornach. 36 Vgl. den Abdruck bei Werner: Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus, S. 367ff. Hauschild nach einem Autounfall, was für den Erhalt der Anthroposophie mutmaßlich fatal war. Am vielleicht intensivsten (obwohl von näherer inhaltlicher Auseinandersetzung keine Rede sein kann) beschäftigte sich nun Reinhard Heydrich mit der Anthroposophischen Gesellschaft, der sie für ein großes, volksschädliches Übel, „orientalische Zersetzung“, jüdisch, pazifistisch und internationalistisch hielt und ihr Verbot vorantrieb und besiegelte.37 Gegen die Anthroposophiegegner in der Nazielite war Rascher machtlos. Unterdessen setzten sich die nationalsozialistischen Förderer einiger anthroposophischer Teilgebiete eben kaum für die „Anthroposophische Gesellschaft“, sondern in erster Linie für die Praxisfelder Medizin und Landwirtschaft, in geringerem Maße auch die Waldorfpädagogik ein. Selbst die Anthroposophen, die im Nationalsozialismus Karriere machten, wie Georg Halbe (Unternehmer des „Blut und Boden-Verlags“) und Hans Merkel („Führer beim Stab des Rasse- und Siedlungshauptamts“), arbeiteten unter der schützenden Hand von Hess und Darré vor allem als Protegées der biodynamischen Landwirtschaft. 38 Die Anthroposophische Gesellschaft selbst galt als „gegnerische Organisation“, sich für sie einzusetzen war durchaus riskant.39 Zu ihren dezidierten Gegnern gehörten Heydrich, Bormann, Goebbels oder Rosenberg. Hitler hatte die Anthroposophie bereits 1921 zu den „jüdischen Methoden zur Zerstörung der normalen Geistesverfassung der Völker“ gezählt.40 So wenig man die Kooperationen von Nationalsozialisten und Anthroposophen marginalisieren sollte, so wenig darf man die langjährige und agitatorische Feindschaft rechter Gruppen und Ideologen gegenüber Steiner übersehen.41 Bereits 1922 hatte just Büchenbacher einen deutschnationalen Anschlag auf Steiner in München verhindern können.42 Aber nicht alle Versuche zur Etablierung der Anthroposophie im Nationalsozialismus waren gänzlich erfolg- und resonanzlos. Rascher, um bei diesem zentralen Akteur zu bleiben, knüpfte etwa Kontakt zu Hitlers langjährigem Rechtsanwalt Hans Frank, der zu diesem Zeitpunkt eine zentrale Rolle für die „Gleichschaltung“ spielte und im Zweiten Weltkrieg als Generalgouverneur Polens schnell makabere Beinamen wie „Schlächter von Polen“ oder „Judenschlächter von Krakau“ erhielt.43 Auf Raschers Empfehlung versuchte Boos (als Schweizer im Namen der „gesamtdeutschen Schicksalsverbundenheit“) den Kontakt zu Frank. Er unterzeichnete „in ausgezeichneter Hochachtung und im Vertrauen auf die bestehende Freundschaft der vom deutschen Geist Berührten.“ Eine 37 Vgl. Schreiben der Preussischen Geheimen Staatspolizei (gez. Heydrich) – Auflösungsbescheid der Anthroposophischen Gesellschaft v. 1. November 1935, in: Wagner (Hg.): Dokumente und Briefe, Bd. I, S. 13. 38 Vgl. u.a. zu Georg Halbe, Hans Merkel, Carl Grund und Nicolaus Remer Staudenmaier: Der deutsche Geist am Scheideweg, S. 479; Biehl/Staudenmaier: Ecofascism revisited, S. 89-125. 39 Vgl. Zander: Anthroposophie in Deutschland, S. 250. 40 Adolf Hitler: Staatsmänner oder Nationalverbrecher? (15. März 1921), in: Ders.: Sämtliche Aufzeichnungen 1905-1924, München 1980, S. 350. 41 Vgl. für zahlreiche Belege die bedauerlicherweise hemmungslos tendenziöse Publikation von Lorenzo Ravagli: Unter Hammer und Hakenkreuz, Stuttgart 2004, die sich neben einer ganzen Reihe von Nachweisen rechter Anti-Steiner-Polemiken durch einige interessante Recherchen zu Guido von List auszeichnet. Die ebenso zahlreichen Schulterschlüsse und konstruktiven Auseinandersetzungen von Völkischen und Anthroposophen unterschlägt Ravagli mit nur einer einzigen Ausnahme – Karl Heise, dessen völkisch-rassenantisemitische Pamphlete er zum Gegenteil und für unbedenklich (v)erklärt. So dokumentiert und bestärkt Ravagli (wohl unfreiwillig) die ungebrochene Salonfähigkeit völkisch-anthroposophischer Synthesen bis ins 21. Jahrhundert. 42 Der deutschnationale Hintergrund der Saalschlacht am 15. Mai 1922 im Hotel „Vier Jahreszeiten“ nach einem Steiner-Vortrag, ist in der bisherigen Sekundärliteratur eher unterstellt als nachgewiesen worden, lässt sich aber durch die im Rudolf Steiner Archiv, Dornach, erhaltenen Quellen m.E. schlüssig belegen. 43 Vgl. zur Biographie Dieter Schenk: Hans Frank. Hitlers Kronjurist und Generalgouverneur, Frankfurt am Main 2006. Abschrift ging an Steffen und Wachsmuth.44 Steffen war schockiert, was wiederum Boos aufbrachte, der betonte, er handle stets altruistisch.45 Der von Frank gegründeten „Akademie für deutsches Recht“ widmete Boos sein 1934 erschienenes Buch „Neugeburt des deutschen Rechts“, das er ihm zukommen lies. Frank zeigte sich durchaus interessiert an Boos, an dem Buch, das einen „wichtigen und lesenswerten Inhalt“ habe46, und an der Anthroposophie. Er lies seine Kinder in der anthroposophischen Arztpraxis Wilhelm zur Lindens behandeln47 und intervenierte 1936, als eine Reihe von Anthroposophen, vor allem Alfred Heidenreich (Christengemeinschaft), Erhard Bartsch (Vorsitzender der biodynamischen Landwirte) und Elisabeth Klein (Waldorfpädagogin) versuchten, eine Wiederzulassung bzw. Neugründung der Anthroposophischen Gesellschaft zu erreichen. Frank vermittelte Kontakt zu dem Ministerialrat Lotar Eickhoff im Innenministerium, der (letzten Endes erfolglos) versuchte, die Zuständigkeit Heydrich und Himmler zu entziehen.48 Das Lob von Frank sandte Boos an Steffen weiter (mit dem Kommentar: „Jetzt habe ich endlich was ich suchte“ 49). Steffen hielt Boos für einen Schwätzer. „Der Mann redet nur. Aber er hört nie zu. Und so alle seine Leute. Alle schwadronieren nur drauf los. Eine organisierte Psychose.“50. Mit Rascher dagegen stand Steffen auf gutem Fuß.51 Ebenso wie der deutsche Vorstand. Büchenbacher hatte den mit ihm seit langem befreundeten Mediziner gleich 1933 kontaktiert. Als er ein Jahr später der Anweisung folgte, sich „freiwillig“ aus dem Vorstand zurückzuziehen, übernahm Hermann Poppelbaum das Amt des Vorsitzenden. Schon Mitte 1934 konnte Poppelbaum behaupten, die deutsche anthroposophische Führungsebene sei rein „arischer Abstammung“. Er beschwor die anthroposophischen „Beziehungen zum völkischen Gedankengut“ und wies auf Karl Heises verschwörungstheoretisches und antisemitisches Machwerk „Entente-Freimaurerei und der Weltkrieg“ hin, dessen Ideen, wie er betonte, angeblich von Steiner stammten (der hatte 1918 zumindest einen großen Teil der Druckkosten und ein Vorwort beigesteuert).52 Gegen diesen Kurs protestierte einmal mehr und einmal mehr erfolglos der ehemalige dänische Vorsitzende und Leiter der Zeitschrift „Vidar“, Johannes Hohlenberg. Er beschwerte sich bei Steffen über Poppelbaums Kurs, aber es kam keine Antwort.53 Mit der Neuregelung der Positionen 1934 stieg Rascher zum „dauernden Mitarbeiter“ und kooptierten Mitglied des deutschen Vorstands auf. 54 Alfred Reebstein, der das Sekretariat der Gesellschaft in Karlsruhe leitete, wandte sich mehrfach an ihn mit der Bitte um Unterstützung: „wir“ 44 Roman Boos an Reichsjustizkommissar Dr. Frank, 21. Juni 1933, Archiv am Goetheanum (A 01.001.013) Albert Steffen an Roman Boos, 22. Juli 1933, Archiv am Goetheanum (A 01.001.013), Roman Boos an Albert Steffen, 23. Juli 1933, Archiv am Goetheanum (A 01.001.013). 46 Hans Frank an Roman Boos, 15. Dezember 1933, Archiv am Goetheanum (A 01.001.013). 47 Vgl. Staudenmaier: Between Occultism and Fascism, S. 222f. 48 Vgl. Werner: Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus, S. 147, 185, 214ff. 49 Roman Boos an Albert Steffen, 23. Dezember 1933, Archiv am Goetheanum (A 01.001.013). 50 Albert Steffen, Tagebuchnotiz vom 26. Mai 1934, in: Albert Steffen-Stiftung (Hg.): Hinweise und Studien, 18/19, S. 100. 51 Albert Steffen an Hanns Rascher, 2. Mai 1933, Archiv am Goetheanum, Dornach (A 01.001.013). 52 Hermann Poppelbaum an Heinrich Himmler, 9. Juni 1934, zit. n. Staudenmaier: Between Occultism and Fascism, S. 194. 53 Vgl. Johannes Kiersch: Steiners individualistierte Esoterik einst und jetzt, S. 180. 54 An die Gruppen und Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft (Durchschlag, undatiert [Anfang 1934]), Archiv am Goetheanum, Dornach (Nachlass Büchenbacher). 45 seien „ganz auf Ihre Hilfe angewiesen.“55 Rascher gab teilweise bis in die Einzelheiten an, wie vorzugehen sei – er empfahl etwa im November 1933 die Verteilung von Boos‘ „Rudolf Steiner während des Weltkriegs“ und teilte Inhalte aus seinen Absprachen mit Edwin Froböse und Steinervon Sivers betreffend die ideenpolitische Präsentation der Eurythmie mit.56 Raschers Tonfall war keineswegs imperativisch, vielmehr erteilte er Ratschläge („es wäre gut…“), die bereitwillig übernommen wurden. „Ich werde nach Ihrem Rat handeln“, antwortete Reebstein. Eine führende Rolle spielte Rascher auch für die Koordination der anthroposophischen Medizin der Naziära. Auch ein Erhard Bartsch57 oder Friedrich Rittelmeyer58 suchten seine Hilfe, er versuchte sich bei Angriffen auf die Anthroposophische Gesellschaft immer wieder als Mediator einzuschalten. 6. „Ich finde das unbegreiflich“: Ita Wegmans und Elisabeth Vreedes Protest Neben Büchenbacher und Hohlenberg hat eine weitere Beobachterin aus der anthroposophischen Prominenz den Kollaborationskurs der Anthroposophischen Gesellschaft(en) mit dem Nationalsozialismus realisiert: Ita Wegman. „Die Goetheanumleitung wird sich doch immer mehr und mehr identisch erklären mit dem Nationalsozialismus … Der Dr. Rascher, der gute Beziehungen hat zu dieser Richtung, wird jetzt funktionieren als derjenige, der nun in Deutschland die Dinge zu tun hat … Da geht schon die Richtung der Machthaber in Deutschland und der Leitung hier in der gleichen Linie. Das sind schwerwiegende Dinge.“59 Ihr dagegen gesetztes Ziel: „eine internationale Organisation schaffen, um auch geistig gegen dieses Ungeistige der jetzigen nationalistischen Regierung … entgegenzutreten.“60 Sie hoffte, „dass von England aus, wo der Freiheitsgeist am stärksten ist, noch etwas entstehen kann, ein Sichwehren. Aber ich glaube, das kann nur geschehen, wenn wir Anthroposophen uns tüchtig dahintersetzen.“61 Ähnliche Vorstellungen sollte 1937 Steffen hegen. 62 „Das Traurige aber ist doch“, so Wegman, „dass viele Anthroposophen sich durch den Nationalismus verführen lassen und mitmachen … Ich finde das unbegreiflich. Man sieht daran, wie viele Menschen in eine Wolke hineingeraten.“63 Wegman und Elisabeth Vreede haben sich nicht nur um die Rettung von Juden aus Deutschland bemüht.64 Ita Wegmans Orientierung in Richtung der niederländischen und englischen Anthroposophen ist offensichtlich nicht ganz zuletzt als Abwendung vom nazi-affinen Kurs in Dornach und sukzessive auch des deutschen Vorstands zu sehen.65 Dass Roman Boos von Anfang an als entschiedener Gegner Wegmans aufgetreten ist, dürfte für ihren Streit mit Marie Steiner-von Sivers bei Boos‘ Machtstellung keine unwichtige Rolle bei alledem gespielt haben. Auch Elisabeth Vreede, die zu den pazifistischen Anthroposophen gehörte, hat Boos verachtet (und umgekehrt). Vreede schrieb 1935, der Grund ihres Schweigens zu Boos sei der gewesen, dass „es ja 55 Alfred Reebstein an Hanns Rascher, 25. November 1933, Archiv am Goetheanum, Dornach (A 01.001.013). Hanns Rascher an Alfred Reebstein, 22. November 1933, Archiv am Goetheanum, Dornach (A 01.001.013). 57 Erhard Bartsch (?), Bad Saarow, unterzeichnet: „Mit deutschem Gruß, Heil Hitler!“ an Hanns Rascher, 22. November 1933, Archiv am Goetheanum, Dornach (A 01.001.013); 58 Vgl. Werner: Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus, S. 144. 59 Ita Wegman an Fried Geuter und Michael Wilson, 14. Oktober 1933, zit. n. Selg: Geistiger Widerstand, S. 227. 60 Ita Wegman an Fried Geuter und Michael Wilson, 28. April 1933, zit. n. ebd., S. 26. 61 Ita Wegman an George Adams Kaufmann, 29. April 1922, zit. n. ebd., S. 27, vgl. Kaufmanns Antwort auf S. 210. 62 Tagebucheintrag vom 10. Dezember 1936, in: Hinweise und Studien, Heft 8-9, S. 36. 63 Ita Wegman an Karl Nunhöfer, 21. Juni 1933, zit. n. Selg: Geistiger Widerstand, S. 22. 64 Vgl. Renatus Ziegler: Elisabeth Vreede, in: Plato: Anthroposophie im 20. Jahrhundert, S. 880; Selg: Geistiger Widerstand, S. 26, S. 47; ders.: Elisabeth Vreede 1879-1943, Arlesheim 2009, S. 220. 65 Vgl. dazu aus anthroposophischer Perspektive Udi Levy: Ein Mikrokosmos des 20. Jahrhunderts, in: Das Goetheanum, 50/2005, S. 14; Robin Schmidt: Anthroposophie. Eine Übersicht zu ihrer Geschichte von 1900 bis 2000, in: Rahel Uhlenhoff (Hg.): Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart, Berlin 2011, S. 367. 56 eh nicht mehr darauf ankam, was man sagte.“66 Mir scheint, Vreede war – in ihrer von Dornach aus immunisierten Position – eine der wenigen Ausnahmen innerhalb der anthroposophischen Atmosphäre von „Mitteleuropäertum“, „deutschem Geist“ und seiner Weltmission67 – man könnte sonst fast von einem Konsens in der Anthroposophie vor 1945 sprechen. 7. „Versagen“? Büchenbachers Anthroposophie Christologie und der Nationalsozialismus in der Wegmans eben angeführte, passivische Formulierung, dass Anthroposophen „verführt“ worden seien vom Nationalsozialismus, unterschätzt, wie enthusiastisch und mit welch großem Einfluss Boos und Rascher auftraten. Marie Steiner-von Sivers, obwohl sie ein Exemplar von „Mein Kampf“ besaß, interessierte sich nicht nennenswert für den Nationalsozialismus, sondern beinahe ausschließlich für die Verteidigung Steiners. An Kontaktversuchen von Elisabeth Klein – der Nazi-Schulleiterin der von Hess persönlich unterstützten Waldorfschule Dresden – zeigte Marie Steiner-von Sivers beispielsweise (soweit sich das aus den erhaltenen Briefen rekonstruieren lässt), m.E. völliges Desinteresse. Sie hat sich, ebenso wie Wachsmuth, im Zweiten Weltkrieg durchaus und öffentlich von Nazideutschland distanziert.68 Boos und Rascher dagegen intendierten, praktizierten und etablierten, um eine Formulierung Emmanuel Fayes abzuwandeln69, nichts anderes als die willentliche Einführung des Nationalsozialismus in die Organisation und geistigen Grundlagen der Anthroposophie. Boos, der 1942 gerade zum Zankapfel zwischen Steiner-von Sivers, Wachsmuth und Steffen (die beiden letzteren wiesen ihn ab) geworden war, war noch 1943 wie elektrisiert. Er deutete die schwarz-weiß-rote Flagge Nazideutschlands spirituell. Hitler, „jener Maler, der dann seinen Beruf wechselte und zum Herrn über Krieg und Frieden Europas und der Welt wurde“, habe „höchst-persönlich und eigenhändig für seine junge Bewegung die Fahne“ entworfen, „die heute rings um unser Land herum in den Stürmen des Krieges weht…“.70 1945 distanzierte er sich und sah er im „Dritten Reich“ eines „der Etzel- und Hunnen-Gespenster, die aus der wilden Jagd über katalaunische Felder in lebendige Menschen fahren.“71 Dass Boos den Nationalsozialismus nicht Deutschland, sondern unter Anspielung auf das Nibelungenlied den „Hunnen“ zuschrieb, ist vor dem Hintergrund der anthroposophischen „Kulturepochen“- und Rassenlehre durchaus aufschlussreich. Mit Blick auf die deutsche und wohl auch Schweizer Geschichte insbesondere seit 1933 ist es selbstredend allerorten geradezu unvermeidlich, auf Nazis zu stoßen. Die Frage ist nicht, ob es unter Anthroposophen ebensolche gab, sondern vielmehr, wer das im Einzelnen war und wie sich die nationalsozialistische Ära in die Geschichte der Anthroposophie einfügt (Stichwort: Dornacher Konflikte) und umgekehrt. Kein Offizieller der Anthroposophischen Gesellschaft ist dagegen aufgetreten, obwohl es im internen Kreis durchaus Kritik gab, wie längst nicht nur Steffen, Vreede, Wegman und Büchenbacher demonstrieren. Germanophile und verschwörungstheoretische 66 Elisabeth Vreede: Zur Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft seit der Weihnachstagung 1923, Arlesheim 1935, S. 30. 67 Vgl. auch Adelyde Content: Aus Dornach. Die Eröffnung der französischen Woche, in: Was in der Anthroposophischen Gesellschaft vorgeht, 30/1929, S. 156. 68 Marie Steiner-von Sivers: Zu Fräulein J. Mückes 80. Geburtstag (Was in der Anthroposophischen Gesellschaft vorgeht, Oktober 1944), abgedruckt bei Hella Wiesberger: Marie-Steiner von Sivers. Ein Leben für die Anthroposophie. Eine biographische Dokumentation, Dornach 1988, S. 420. 69 Vgl. Emmanuel Faye: Heidegger. Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie, Berlin 2009, S. 13. 70 Roman Boos: Kunst, Krieg und Frieden, Elgg 1943, S. 62ff. 71 Boos: Reichsgeist und Schweizergeist. Eine Betrachtung zur Idee der Schweiz in Europa (1945), Schaffhausen 1992, S. 31f. Überzeugungen, die beinahe alle Beteiligten (m.E. mit Ausnahme von Vreede) lange vor 1933 und hierin Steiner folgend, teilten, taten das ihre. Dies zeigt einmal mehr, dass „niemand Nazi werden musste, um sich anzupassen und nicht seine gesellschaftliche Stellung, wohl aber die moralischen Überzeugungen, die einst mit ihr einhergingen, gleichsam über Nacht zu vergessen“, wie Hannah Arendt bemerkt hat.72 Büchenbacher konstatierte 1970 das „Versagen“ der Anthroposophie im „okkulten“ Sinne. Er zitierte Steiner mit den Worten: „Sie dürfen sich also nicht vorstellen, es müsste dasjenige, was zur Weihnachtstagung veranlagt wurde, wenn es durch die Nicht-Ausführung der Impulse verduftet, irgendwo anders auf der Erde erscheinen. Das ist nicht nötig. Es kann in ganz anderen Welten seinen weiteren Zufluchtsort suchen.“ 73 Büchenbacher meinte, genau dies sei bereits (oder werde zumindest auf absehbare Zeit) geschehen. Die spirituelle Mission der Anthroposophischen Gesellschaft sei bis auf weiteres gescheitert. Nur das „durchchristete“ Ich, heißt es in den „Erinnerungen“, könne die Tragweite dessen durchschauen. Hier steht Büchenbachers esoterische Philosophie im Hintergrund, von der man freilich halten kann, was man will, ohne die aber die Darstellungen seiner Memoiren unverständlich bleiben. Bereits 1935 hatte er geschrieben, dass der von Steiner geschilderte Christus-Impuls, den er als „Liebesimpuls“ verstand, „im Ich nicht wirksam ist.“74 Den ersten Schritt zur Verwirklichung müsse die Menschheit in einem spontanen Akt, der Verwirklichung der „Liebe“ am Anderen tun, was er als Umkehrung der Fichteschen Setzung von identischem Ich und nichtidentischem Nicht-Ich beschrieb. Dies implizierte für ihn zweierlei: die Umkehrung bedeutete 1. Liebe (auch im Sinne von Anerkennung) meines Gegenübers wie jedes menschlichen Gegenübers, die als geistiges Selbstopfer an die Welt (1946 sprach Büchenbacher vom „Menschenreich“) gelesen wurde, 2. und im selben Maße bedeutete das eine Haltung der Zärtlichkeit (auch im Sinne von Eingedenken) gegenüber dem epistemologischen Objekt im Subjekt.75 1946 ergänzte der Dreigliederer: „Kein Gott kann der Menschheit diese Aufgabe abnehmen … Die Lösung dieser Aufgabe ist die Lösung der sozialen Frage.“ Darin werde Christus manifest. Sonst gehe „dieses Zeitalter“ „mit Notwendigkeit dem Tode, dem Untergang und der Finsternis des Chaos entgegen.“ 76 Denn: „Gleiche Ursachen werden auch in Zukunft gleiche Wirkungen erzeugen.“77 Büchenbacher hielt das Scheitern der „Menschheitsgeschichte“ für den „Fehler“ der Anthroposophen, die sich spätestens für Steiners zu erwartende Reinkarnation am Ende des 20. Jahrhunderts in kosmischem Maßstab bessern müssten. Es steht außer Frage, dass dies eine historisch und gesellschaftlich außerordentlich unsinnige Behauptung ist. Sieht man allerdings nicht die Geschichte anthroposophisch, sondern das Geschichtliche in der Anthroposophie an, können und sollten seine „Erinnerungen 1933-1949“ 72 Hannah Arendt: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, hg. v. Jerome Kohn, München/Zürich 2006, S. 15f. 73 Rudolf Steiner: Die Konstitution der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Der Wiederaufbau des Goetheanum 1924-1925, GA 260a, Dornach 1987, S. 92. 74 Hans Büchenbacher: Der Christus-Impuls und das Ich. Eine erkenntnistheoretische Betrachtung, Breslau 1935, S. 14. 75 Überlegungen in diese Richtung finden sich in Andeutungen bei Steiner, ausgearbeitet aber in der vom Vereinigungsgedanken her entworfenen Religionsphilosophie des jungen Hegel und Fichtes „Anweisung zum seligen Leben“. 76 Hans Büchenbacher: Natur und Geist. Grundzüge einer christlichen Naturphilosophie, Bern 1946, S. 43f. 77 Ebd., S. 11. trotzdem ein Anstoß für eine genauere und kritischere Geschichtsschreibung der Anthroposophie in den Jahren 1933-1945 sein – die erst in Anfängen geleistet ist.78 78 Ich nenne nur Bereiche wie Heilpädagogik, Eurythmie, Architektur und Medizin, die Situation in allen anderen Ländern als Deutschland und Italien sind noch praktisch unerforscht, ganz zu schweigen von der Situation in einzelnen Zweigen oder einer mehr als auszugsweisen Analyse von Briefwechseln und Nachlässen anthroposophischer Persönlichkeiten.