Kreative Eingliederung

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Kreative Eingliederung
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Kreative
Eingliederung
Kreative Arbeit am Computer ist eine ideale Herausforderung für Menschen mit körperlicher Behinderung. In der Werkstätte «création handicap»
in Zürich gestalten rund 40 Leute Grusskarten, Geschenke und Webseiten.
S
ein Traum war Architekt. «Mit Grafik bin ich
bedrohlich nahe dabei», spricht Markus Wegmann mit etwas Schalk in der Stimme hinter seinem
Sauerstoffschlauch. Seine Krankheit «Duchenne»
wurde erst in der Schulzeit zum Thema, so konnte
er sogar die Sek ohne grössere Probleme abschliessen. Mit 17 kam die Weichenstellung. Heute
ist er der Dienstälteste in der Kreativwerkstätte. Seit
Kompletter Aufbau einer Website vom «Easy Rider» aus.
Selbstständig arbeiten nach Ausbildung von einer Fachperson.
Zehn individuell gestaltete Grusskarten pro Tag sind sein Ziel.
Im Grossraum mit 40 Mitarbeitenden herrscht eine gute Stimmung.
Weihnachtskarten sind ein Renner.
Freude am Job ist auch stützend für die Gesundheit.
1999 wirkt er als Designer für Webpages und Druckerzeug nisse. Aktuell arbeitet Markus Wegmann an
der neuen Website für den Dachverband für Soziale
Schulen. «Sieben öffentliche Seiten sowie einen internen Bereich, wo sich Mitglieder einloggen können», gilt es zu programmieren, erklärt Wegmann,
während er über eine Spezialvorrichtung an seinem
«Easy Rider»-Rollstuhl die Maus bedient. Der Designer liebt vor allem die Abwechslung bei dieser Arbeit. «Der Auftrag für den Verband erstreckte sich
von der Gestaltung des Logos über Briefschaften bis
zum Realisieren der Website. Mir gefällt es, einen
Auftrag von A bis Z durchziehen zu können.»
An rund 40 Arbeitsplätzen bietet die Werkstätte
«création handicap» im Mathilde-Escher-Heim in
Zürich Menschen mit Körperbehinderung ein kreatives und anforderungsreiches Betätigungsfeld. Zur
Verfügung steht eine angepasste Infrastruktur mit
Computerarbeitsplätzen und professionellen Grafik-Programmen aus dem Sortiment von Adobe wie
zum Beispiel InDesign, Illustrator oder Photoshop.
Hergestellt werden zu einem grossen Teil Papeterieprodukte wie Grusskarten, Glückwunschkarten,
Notizbücher oder Lesezeichen.
Diese können direkt in der
Werkstätte
oder im eigenen Onlineshop gekauft werden. Das Leitungsteam
ist auch bemüht, ständig
neue Aufträge für massgeschneiderte Drucksachen nach Kundenwunsch wie Briefschaften, Visitenkarten, Flyer, Einladungen sowie
personifizierte Geburtskarten oder Hochzeitsanzeigen zu akquirieren. Als eine Spezialität im Angebot
gilt, dass Karten auch bei grösseren Serien Stück für
Stück individuell gestaltet werden. Interessiert ist
die Werkstätte zudem an Dienstleistungen wie kleineren Versandaufträgen oder Datenbankeingaben.
Eine wachsende Bedeutung hat das Gestalten
und Realisieren von Webseiten sowie deren Unterhalt und Aktualisierung.
Geleitet wird die Werkstätte im MEH von Lukas
Fischer. Dieser ist diplomierter Sozialpädagoge,
Lerncoach und Erwachsenenbildner. Er ist auch zuständig für die Ausbildung der Betreuten sowie der
weiteren Mitarbeitenden.
«Gewisse Jobs kann man nicht gut beschreiben,
darum arbeitete ich lange ohne Stellenbeschrieb,
der mittlerweile existiert», meint Rebecca Oeschger.
Als Basis für ihre vielseitige Unterstützung als
Teamleiterin hat Oeschger eine grafische Ausbildung sowie eine Weiterbildung in sozialer Arbeit.
Yvonne Schümperli ist ebenfalls ausgebildete
Grafikerin und hat früher in einer Werbeagentur
gearbeitet. In der «création handicap» ist sie neben
ihrer sozialpädagogischen Arbeit als Teamleiterin
auch für die Kundenbetreuung und das Akquirieren
neuer Aufträge zuständig. Dafür setzt Schümperli
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Fotos: Andreas Panzeri
Im Mathilde-Escher-Heim in
Zürich können Jugendliche
und junge Erwachsene eine
von der Invalidenversicherung anerkannte berufliche
Grundausbildung
absolvieren. Die Dauer
beträgt in der Regel
zwei Jahre, je nach
Absprache mit der
zuständigen IV-Stelle.
Ziel der Ausbildung ist
die Vorbereitung auf
eine berufliche Tätigkeit
an einem Computerarbeitsplatz im ersten Arbeitsmarkt oder in einer
geschützten Werkstätte wie
der hauseigenen «création
handicap». Die Ausbildung orientiert sich am Aufgabenbereich
des Mediamatikers und reicht von digitaler Bildbearbeitung
und Mediengestaltung bis zu administrativen Arbeiten.
gerne auf ihre Erfahrungen aus dem Marketing. Für
sie ist aber klar: «Meine neue Aufgabe hier ist viel
dankbarer als früher in der Agentur.» Es herrsche in
der Werkstätte eine Stimmung mit viel Humor.
«Dieser hat unter anderem auch mit Kreativität zu
tun. Situationskomik bringt uns alle voran. Nicht
immer wird aber gelacht, manchmal geht einem der
Humor ab. Sei es, weil jemand länger im Spital ist
oder jung stirbt. Aber ich lerne viel – körperlich behindert oder nicht. Schicksalsschläge. Jeder Tag
wird angenommen – so wie er sich präsentiert.»
Auch Yvonne Luginbühl schätzt in ihrem Rollstuhl immer wieder die lebensbejahende Atmosphäre in der Werkstätte, die sie motiviert, um 8.30 Uhr
ihre Arbeit aufzunehmen. «Ich spüre den Teamgeist,
wenn die ganze Crew Karten stempelt. Wir alle wollen etwas leisten.»
Thomas Achermann war vormals Grafiker bei der
Redaktion des Tages-Anzeigers. Seit November
2010 in der Werkstätte. Nach einem schweren Unfall hatte er Mühe, wieder ins Berufsleben zu finden.
«Da war ich froh, dass ich im MEH Fuss fassen
konnte.» Im Moment ist er für die grafische Aufbereitung eines Blogs zuständig.
Yvonne Hinder hat eine spastische Paraplegie,
die sie beim Gehen und im Gleichgewicht behindert.
In der Werkstätte betreut sie das Telefon sowie
den kleinen Kiosk für den Direktverkauf.
Firdes Atmaca ist seit bald zwei Jahren auf
einen Elektrorollstuhl angewiesen. Seither ist das
Designen von eigenen Karten ihr Lieblingsjob, da sie
bei diesem Gestalten ihrer Fantasie freien Lauf lassen kann. Zudem stellt es sie moralisch auf, wenn
sie etwas Schönes geschaffen hat. «Da geht es mir
auch gesundheitlich besser.» Für das Finden neuer
Kartensujets surft Firdes immer wieder durchs Internet. So ist sie zum Beispiel auf die Idee für eine
Kartenserie mit schweizerischem Brauchtum gekommen. Die Arbeiten für solche Projekte werden
an regelmässigen Sitzungen an die Leute verteilt,
die sich für einen jeweiligen Job am besten eignen.
Die Kreativen in der geschützten Werkstätte arbeiten in Teilzeit oder Vollzeitanstellung, je nach
ihren körperlichen Möglichkeiten. Massgebend für
die Entlöhnung sind die Richtlinien des Sozialamts
des Kantons Zürich.
Die meisten der Mitarbeitenden wohnen in individuellen und möglichst selbstständigen Gruppen
im baulich direkt angeschlossenen Heim. Sie bekommen dort auch ihre nötige Betreuung. Die grafische Werkstätte ist aber auch offen für extern
organisierte Behinderte.
Die «création handicap» ist Teil des MathildeEscher-Heims. Dieses ist die schweizweit die einzige
Institution, die auf die Betreuung von Menschen
mit einer progressiv verlaufenden Muskelkrankheit
spezialisiert ist. Es werden aber auch Menschen mit
anderen Körperbehinderungen aufgenommen, die
eine ähnliche Pflege und Betreuung benötigen.
Andreas Panzeri
Mathilde Escher gründete 1864 an der Bahnhofstrasse in Zürich
das Sankt-Anna-Asyl für arme, körperbehinderte Mädchen.
1911 zügelte die Mathilde-Escher-Stiftung in eine Villa
im Balgristquartier, wo das MEH noch heute zu Hause ist. Nach
dem Zweiten Weltkrieg wurde die Organisation auch für
Knaben geöffnet und hat sich seither ständig weiterentwickelt.
Die Angebote können über den
eigenen Webshop auf der Site
www.creation-handicap.ch
bestellt werden. Jedes Produkt
ist ein Unikat und wird nur
einmal ausgedruckt. Zu kaufen
gibt es neben Grusskarten auch
aufklebbare Tattoos, Magnete
für den Kühlschrank oder
Geschenktüten mit echten
Samen, zum Beispiel für Kürbis
oder Basilikum.
Lukas Fischer ist im MEH verantwortlich
als Leiter Ausbildung & Werkstätte. Neben
weiteren Fachpersonen sind Yvonne
Schümperli (Mitte) und Rebecca Oeschger
die guten Seelen im Leitungsteam.