Kinderarbeit – Kinderrechte

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Kinderarbeit – Kinderrechte
Kinderarbeit – Kinderrechte
Beiträge zur Qualifizierung des Umgangs
mit Kinderarbeit in kinderrechtlicher Perspektive
Im Auftrag des Deutschen NRO-Forums Kinderarbeit
herausgegeben von Klaus Heidel
Deutsches NRO-Forum Kinderarbeit
Impressum
Herausgeber: Klaus Heidel, Werkstatt Ökonomie e.V., Heidelberg
(zugleich Koordination des Deutschen NRO-Forums Kinderarbeit)
Obere Seegasse 18, 69124 Heidelberg
Tel.: 06 221 – 433 36 13, Fax: 06 221 – 433 36 29
[email protected]
www.woek.de
Dieses Heft wird herausgegeben im Auftrag des Deutschen NRO-Forums Kinderarbeit,
das getragen wird von:
Aktion „Brot für die Welt“, ProNATs – Verein zur Unterstützung arbeitender Kinder und Jugendlicher, Kindernothilfe e.V., terre
des hommes Deutschland e.V., Werkstatt Ökonomie e.V.
Bildnachweis:
Titelblatt: Projekt Foyer Maurice Sixto mit minderjährigen Hausbediensteten, Haiti, Foto: Kin-dernothilfe; Seite 5: Straßenhändler in Kolumbien, Foto: Andreas Riester, terre des hommes; Seite 20: Projekt Foyer Maurice Sixto mit minderjährigen Hausbediensteten, Haiti, Foto: Kin-dernothilfe; Seite 37: Projekt Foyer Maurice Sixto mit minderjährigen Hausbediensteten, Hai-ti,
Foto: Kindernothilfe; die Nachweise zu den weiteren Fotos finden sich bei den jeweiligen Fotos.
Kozeption und Gestaltung: Hantke und Partner, Heidelberg
Heidelberg, Juni 2009
V.i.S.d.P.: Werkstatt Ökonomie e.V., Obere Seegasse 18, 69124 Heidelberg
Kinderarbeit – Kinderrechte
Inhalt
Zu diesem Heft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
Teil I: Kinderarbeit: Kein Ende in Sicht. Statistische Annäherungen
Weltweit gibt es noch immer 217 Millionen Kinderarbeiterinnen und –arbeiter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
Daten zu Ausmaß und Struktur von Kinderarbeit
Schulbesuch trotz Kinderarbeit, Kinderarbeit trotz Schulbesuch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
Statistische Anmerkungen gegen ein verbreitetes Vorurteil
Teil II: Der soziale und wirtschaftliche Kontext von Kinderarbeit
Kinderarbeit als Teil kultureller, sozialer und wirtschaftlicher Strukturen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
Eine kurze Problemanzeige
Kinderarbeit wegen Armut? Statistische Hinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
zum sozioökonomischen Kontext von Kinderarbeit
Teil des globalen Fließbandes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
Kinderarbeiter in der formellen Ökonomie
Die meisten Kinder arbeiten auf dem Land. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
Statistische Hinweise
Tatort Familie. Die „Arbeitgeber“ der Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
Informelle Ökonomie – bevorzugter Ort von Kinderarbeit.
Informalität als Normalität
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
Kinderarbeit auf dem Land. Das Beispiel Äthiopien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
Kinderarbeit und Bildung. Beispiele aus Lateinamerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
Teil III: Kinderarbeit - Kinderrechte
Auch arbeitende Kinder haben Rechte. Zur Notwendigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
einer differenzierenden kinderrechtlichen Perspektive
Nirgendwo arbeiten Kinder so lange wie in Bolivien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
Große Unterschiede bei der durchschnittlichen Wochenarbeitszeit
„Nicht über unsere Köpfe hinweg“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
Auch arbeitende Kinder haben ein Recht auf Beteiligung
Neue kinderrechtliche Instrumente – ein Beitrag zur Stärkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
auch der Rechte für arbeitende Kinder? (Zeit für ein Beschwerderecht
für Kinder auf UN-Ebene, II. Entschieden für die Rechte des Kindes?
Neue Initiativen der EU)
Der Kampf der Kinder für eigene Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
Kinderfreundliche Schulen und Werkstätten für arbeitende Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
Auch arbeitende Kinder haben ein Recht auf Bildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
Projektbeispiele aus Lateinamerika
Anhang: Materialhinweise und Anschriften
Seite 3
Kinderarbeit – Kinderrechte
Zu diesem Heft
Bald nach der 1989 erfolgten Verabschiedung des Übereinkommens über die Rechte des Kindes durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen – das unter anderem das Recht des Kindes auf Schutz vor wirtschaftlicher Ausbeutung enthält –, nahm die Intensität der weltweiten Auseinandersetzung mit Kinderarbeit deutlich zu. Im Mittelpunkt des öffentlichen
Interesses standen damals schlimmste Formen der Missachtung der Rechte des Kindes wie Schuldknechtschaft, kommerzieller sexueller Missbrauch von Kindern oder der Missbrauch von Kindern in bewaffneten Konflikten. Internationale Kampagnen
mobilisierten beträchtliche Unterstützung.
Auch in Deutschland entstanden Kampagnen wie die gegen Kinderarbeit in der Teppichindustrie. Getragen wurde sie unter anderem von drei Organisationen, die heute im Deutschen NRO-Forum Kinderarbeit zusammen arbeiten (Brot für die Welt, terre
des hommes und Werkstatt Ökonomie e.V.). In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre bildete sich zur Unterstützung des weltweiten Marsches gegen Kinderarbeit (1998) das Deutsche Bündnis für den Global March, in dem unter anderem Träger des
Deutschen NRO-Forums Kinderarbeit mitwirkten (Brot für die Welt, Kindernothilfe e.V. und Werkstatt Ökonomie e.V.).
Das gewachsene öffentliche Interesse griff die Internationale Arbeitsorganisation auf und nahm 1999 und damit zehn Jahre nach
der Verabschiedung der UN-Kinderrechtskonvention das Übereinkommen 182 über schlimmste Formen von Kinderarbeit an,
das den damaligen Schwerpunkten der Auseinandersetzung mit Kinderarbeit Rechnung trug.
Doch so notwendig auch der Kampf gegen die von der Internationalen Arbeitsorganisation als schlimmste Formen von Kinderarbeit bezeichneten Verletzungen der Rechte des Kindes ist – sind doch bis zu acht Millionen Kinder Opfer dieser Verbrechen –, so wenig darf darüber vergessen werden, dass diese Verbrechen keinesfalls den Regelfall von Kinderarbeit darstellen:
Die allermeisten Kinder arbeiten weltweit unter ganz anderen Bedingungen. Daher hat es sich das 2000 gegründete Deutsche
NRO-Forum Kinderarbeit zum Ziel gesetzt, für eine differenzierte Auseinandersetzung mit Kinderarbeit in kinderrechtlicher Perspektive zu werben. Nur so können nachhaltige Wege zur Durchsetzung der Rechte des Kindes in einem arbeitsweltlichen Umfeld gefunden werden.
Diesem Ziel dient auch die vorliegende Broschüre. Sie schildert nur an wenigen Stellen das Leid ausgebeuteter Kinder, die Träger des Deutschen NRO-Forums Kinderarbeit erinnern an dieses Leid an anderen Stellen (vgl. das Materialverzeichnis im Anhang dieser Broschüre). Vielmehr geht es dieser Broschüre um eine Qualifizierung der Auseinandersetzung mit Kinderarbeit,
die nicht selten von kurzschlüssigen Vereinfachungen geprägt ist. Deshalb entfaltet die Broschüre die Einsicht, dass es „die“ Kinderarbeit nicht gibt. Sie beleuchtet soziale und wirtschaftliche Zusammenhänge. Und sie skizziert neue Wege zur Verwirklichung
der Rechte des Kindes.
Hierbei werden die Trägerorganisationen des Deutschen NRO-Forums Kinderarbeit geleitet von einem kinderrechtlichen Ansatz,
der die Kinder als Träger von Rechten ernst nimmt. Einzelne Maßnahmen zur Durchsetzung dieser Rechte bewerten sie gelegentlich unterschiedlich. Dies wird auch in dieser Broschüre deutlich, die gerade durch die an einigen Stellen aufscheinende
Unterschiedlichkeit von Sichtweisen zur Diskussion einlädt. Betont sei daher, dass die Artikel von ihren Autorinnen und Autoren verantwortet werden und keine Meinungsäußerung des Deutschen NRO-Forums Kinderarbeit darstellen.
Die Broschüre wendet sich an Multiplikatorinnen und Multiplikatoren der schulischen und außerschulischen entwicklungspolitischen Bildungsarbeit, an Journalistinnen und Journalisten und an Politikerinnen und Politiker. Auf deren Rückmeldungen freuen
sich die Träger des Deutschen NRO-Forums Kinderarbeit.
Klaus Heidel, Werkstatt Ökonomie e.V.
Seite 4
Kinderarbeit – Kinderrechte
Teil I
Kinderarbeit: Kein Ende in Sicht
Statistische Annäherungen
Seite 5
Kinderarbeit – Kinderrechte
Weltweit gibt es noch immer 217 Millionen Kinderarbeiterinnen
und -arbeiter
Daten zu Ausmaß und Struktur von Kinderarbeit
Zwanzig Jahre nach Verabschiedung des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes und zehn Jahre
nach der Annahme des Übereinkommens 182 über schlimmste Formen der Kinderarbeit durch die Internationale Arbeitskonferenz1 wird der Alltag von weltweit 217 Millionen Kindern und Jugendlichen noch immer von Kinderarbeit geprägt. Zwar
sind im letzten Jahrzehnt eine Fülle von Projekten zur Überwindung von Kinderarbeit durchgeführt worden – und in einigen
Ländern wie zum Beispiel in Brasilien war die Anzahl der Kinderarbeiter deutlich rückläufig –, dennoch gibt es keine ausreichenden statistischen Belege für die Vermutung, das Ausmaß von Kinderarbeit habe in den letzten zehn Jahren weltweit abgenommen. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass Kinderarbeit auch in Zukunft zu den sozioökonomischen
Strukturen vieler Länder gehören wird. Nicht zuletzt die jüngsten globalen Krisen (von der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise
bis hin zur Nahrungsmittelkrise) werden vermutlich dazu führen, dass mehr Kinder arbeiten und dass sie dies unter noch
schlechteren Bedingungen tun müssen.
Zuverlässige Statistiken über die Gesamtzahl der weltweit arbeitenden Kinder gibt es nicht. Daher legt die statistische Abteilung
des Internationalen Arbeitsamtes von Zeit zu Zeit Schätzungen vor, die auf nationalen Haushaltsstichproben beruhen. Die
jüngste Schätzung stammt aus dem Jahr 2006, sie konnte sich auf Stichproben aus 31 Ländern stützen2. Danach arbeiteten
im Jahre 2004 weltweit 317 Millionen Kinder und Jugendliche im Alter von fünf bis 18 Jahren – allerdings rund 31 Prozent
von ihnen in Übereinstimmung mit den Bestimmungen des Übereinkommens 138 der Internationalen Arbeitsorganisation
(IAO), das die Zulassung von Kindern und Jugendlichen zu einer Beschäftigung regelt. Nicht im Einklang mit internationalen Arbeitsnormen stehen die wirtschaftlichen Aktivitäten von 217 Millionen Kindern und Jugendlichen, sie sind daher Kinderarbeiter3 im Sinne der IAO-Definitionen. Ein großer Teil derselben – nämlich 126 Millionen – muss „gefährliche“ Arbeiten im Sinne
der IAO-Übereinkommen 138 und 182 verrichten. Gänzlich unerträglich sind die Lebens- und Arbeitsbedingungen von (nach
älteren Schätzungen) rund 6,5 bis 8 Millionen Kindern und Jugendlichen, die versklavt sind, Zwangsarbeit leisten müssen, wie
Ware gehandelt werden oder als Kinderprostituierte missbraucht werden. Sie sind Opfer von Verbrechen, und für ihre erzwungenen Tätigkeiten ist der Begriff „Arbeit“ in der Regel nicht angemessen.
Angesichts der weiten Verbreitung von Kinderarbeit gibt es keinen Anlass für die Annahme, das Ende der Kinderarbeit sei „zum
Greifen nah“, wie ein Bericht des Internationalen Arbeitsamtes über Kinderarbeit aus dem Jahre 2006 hieß4. Der damalige Bericht unterstellte einen deutlichen Rückgang des Ausmaßes von Kinderarbeit im Zeitraum 2000 bis 2004, lieferte für diese
These aber keine statistische Grundlage5.
Fast jeder siebte Jugendliche verrichtet eine gefährliche Arbeit
Die Altersgruppen-Perspektive
Erwartungsgemäß nimmt die Arbeitsquote mit dem Alter der Kinder und Jugendlichen zu: Im Jahre 2004 arbeitete weltweit
jedes zehnte Kind im Alter von fünf bis neun Jahren, das waren fast 65 Millionen. Von den 10- bis 14-Jährigen6 gingen fast 21
Prozent (oder 126 Millionen) einer wirtschaftlichen Tätigkeit nach, und bei den Jugendlichen lag dieser Anteil bei rund 35 Prozent (127 Millionen Jugendliche, vgl. Tabelle 1).
Während jede wirtschaftliche Tätigkeit der Jüngsten nach den IAO-Standards als Kinderarbeit zu werten ist, gilt dies für die
Gruppe der 10- bis 14-Jährigen nicht. In dieser Altersgruppe gab es 2004 weltweit rund 101 Millionen Kinderarbeiter (und weitere 25 Millionen Kinder, deren wirtschaftliche Tätigkeit keine Kinderarbeit im Sinne des IAO-Übereinkommens 138 ist).
Eine gefährliche Arbeit verrichteten 6,2 Prozent aller 5- bis 14-Jährigen (das waren fast 75 Millionen Kinder) und 14,4 Prozent
der 15- bis 17-Jährigen (fast 52 Millionen Jugendliche). Letztere Zahl ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass sich Bemühungen
zur Verwirklichung der Rechte des Kindes auch auf eine qualitative Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Jugendlichen beziehen müssen.
1
Die jährlich tagende Internationale Arbeitskonferenz, der Verwaltungsrat und das Internationale Arbeitsamt mit Sitz in Genf sind die wichtigsten Organe der 1919 gegründeten Internationalen Arbeitsorganisation (IAO). Die IAO ist eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen.
2
Frank Hagemann, Yacouba Diallo, Alex Etienne, Farhad Mehran (2006): Global Child Labour Trends 2000 to 2004, Geneva, herausgegeben von: International Programme on the
Elimination of Child Labour (IPEC) und Statistical Information and Monitoring Programme on Child Labor (SIMPOC).
3
Aus Gründen der Lesbarkeit wird gelegentlich auf inklusive Sprache verzichtet, so meint „Kinderarbeiter“ Jungen und Mädchen.
4
Internationales Arbeitsamt Genf (2006): Bericht des Generaldirektors. Das Ende der Kinderarbeit – zum Greifen nah. Gesamtbericht im Rahmen der Folgemaßnahmen zur Erklärung
der IAO über grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit. Internationale Arbeitskonferenz, 95. Tagung 2006, Bericht I (B), Genf, S. 6.
5
Vgl. hierzu: Klaus Heidel (2006): Das Ende der Kinderarbeit: Zum Greifen nah? Kritische Anmerkungen zum Gesamtbericht der Internationalen Arbeitsorganisation über Kinderarbeit
vom Mai 2006. Im Auftrag des Deutschen NRO-Forums Kinderarbeit zusammengestellt, Heidelberg.
6
Auch wenn Zahlen bis zwölf ausgeschrieben werden, wird aus Gründen der Lesbarkeit in Angaben wie „10- bis 14-Jährige“ von dieser Regel abgewichen.
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Kinderarbeit – Kinderrechte
Wirtschaftliche Aktivitäten – Kinderarbeit – gefährliche Arbeit –
absolut schlimmste Formen von Kinderarbeit
Kurze Definitionen
Wirtschaftliche Aktivitäten sind nach international geltenden Definitionen alle bezahlten und unbezahlten Arbeiten im oder außerhalb des
Haushaltes der eigenen Familie, unabhängig davon, ob sie für den Markt oder für den häuslichen Verbrauch geleistet werden. Lediglich Hausarbeiten wie Wäsche waschen oder Kochen sind davon ausgenommen. Wirtschaftlich aktiv sind Kinder, wenn sie mindestens eine Stunde in der
Woche arbeiten. Rund 100 Millionen der (im Jahre 2004) wirtschaftlich aktiven Kinder und Jugendlichen gehen einer Tätigkeit in Übereinstimmung mit den Bestimmungen des IAO-Übereinkommens 138 nach, sie sind also keine Kinderarbeiter im Sinne dieses Übereinkommens.
Mit Kinderarbeit im Sinne der IAO-Standards werden wirtschaftliche Aktivitäten von Kindern und Jugendlichen bezeichnet, die nach den
Übereinkommen 138 und 182 der Internationalen Arbeitsorganisation nicht zulässig sind, weil Vorschriften über eine Beschäftigung von Kindern und Jugendlichen verletzt werden (Unterschreiten des Mindestalters für eine Beschäftigung, zu lange Arbeitszeiten, gefährliche Arbeitsbedingungen beziehungsweise gefährliche Arbeiten). Von den 217 Millionen Kinderarbeitern gehen 91,4 Millionen Tätigkeiten nach, deren
Bedingungen gegen das IAO-Übereinkommen 138 verstoßen, ohne dass die Arbeit gefährlich oder gar illegal wäre.
Gefährliche Arbeiten sind alle Tätigkeiten oder Beschäftigungen, „die sich ihrer Natur nach schädlich auf die Sicherheit, die körperliche oder
seelische Gesundheit und die sittliche Entwicklung des Kindes“ auswirken oder auswirken könnena). Da für die 15- bis 17-Jährigen nur gefährliche Arbeit unzulässig ist, ist Kinderarbeit in dieser Altersgruppe immer gefährliche Arbeit. Von gefährlicher Arbeit sind 126,4 Millionen Jungen und Mädchen betroffen.
Zu den „absolut schlimmsten Formen von Kinderarbeit“ („unconditional worst forms of child labour“) zählt die Internationale Arbeitsorganisation Kindersklaverei und –zwangsarbeit und die Tätigkeit von Kindersoldaten. Neuere Schätzungen über das Ausmaß dieser extremen Ausbeutung von Kindern gibt es nicht. Im Jahre 2002 bezifferte das Internationale Arbeitsamtb) die Zahl der Kinder und Jugendlichen in Sklaverei
und Zwangsarbeit mit 5,7 Millionen (davon 5,5 Millionen in Asien). Zur Prostitution oder zur Herstellung von Pornographie wären 1,8 Millionen Minderjährige gezwungen worden, fast eine halbe Million allein in den Industrieländern. Nicht näher bestimmte illegale Tätigkeiten hätten weltweit fast 600.000 Kinder und Jugendliche verrichten müssen. Die Zahl der Kindersoldaten habe vermutlich bei unter 300.000 gelegen,
und die der jährlichen Opfer von Kinderhandel bei 1,2 Millionen. Da diese „absolut schlimmsten Formen von Kinderarbeit“ nicht scharf voneinander zu trennen sind – so ist Kinderprostitution als Zwangsarbeit zu werten –, dürfen diese Zahlen nicht addiert werden. Auch sonst beruhen
diese Schätzungen auf so unsicherer Grundlage, dass sie das Internationale Arbeitsamt bisher nicht aktualisierte. Kinder, die Opfer der „absolut schlimmsten Formen von Kinderarbeit“ werden, sind Opfer von Verbrechenc), daher sollten ihre Tätigkeiten aus Gründen der begrifflichen
Klarheit nicht als „Arbeit“ bezeichnet werden.
a) Internationales Arbeitsamt Genf (2006), S. 6.
b) International Labour Office (2002): Report of the Director-General: A Future without Child Labour. Global Report under the Follow-up to the ILO-Declaration on
Fundamental Principles and Rights at Work. International Labour Conference, 90th Session 2002, Report I (B), Geneva, S. 18.
c) Einschränkend sei erwähnt, dass sich ein erheblicher Teil der Kindersoldaten freiwillig bewaffneten Einheiten anschließt, vgl. hierzu: Ah-Jung Lee (2009): Understanding and Addressing the Phenomenon of Child Soldiers’: The Gap between the Global Humanitarian Discourse and the Local Understandings and Experiences of Young People’s Military Recruitment, Oxford (http://www.rsc.ox.ac.uk/PDFs/RSCworkingpaper52.pdf).
Tabelle 1:
Weltweit sind 317 Millionen Kinder und Jugendliche wirtschaftlich aktiv
Arbeitende Kinder nach Altersgruppe und Arbeitstyp, Anzahl in Millionen und Anteil der wirtschaftlich Aktiven an allen Kindern der Altersgruppe in Prozent, 2004
wirtschaftlich Aktive
insgesamt
darunter Kinderarbeit im Sinne der
IAO-Standards
darunter
gefährliche Arbeit
absolut
(Millionen)
in Prozent aller
Kinder der
Altersgruppe
absolut
(Millionen)
in Prozent aller
Kinder der
Altersgruppe
absolut
(Millionen)
in Prozent aller
Kinder der
Altersgruppe
190,7
15,8%
165,8
13,7%
74,4
6,2%
5- bis 9-Jährige
64,6
10,7%
64,6
10,7%
10- bis 14-Jährige
126,1
20,8%
101,2
16,7%
15- bis 17-Jährige
126,7
35,2%
51,9
14,4%
51,9
14,4%
5- bis 14-Jährige
darunter
Quelle: Frank Hagemann, Yacouba Diallo, Alex Etienne, Farhad Mehran (2006); eigene Berechnungen
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Kinderarbeit – Kinderrechte
Internationale Arbeitsorganisation (IAO):
Erlaubte und verbotene Kinderarbeit
Das IAO-Übereinkommen 138 über das Mindestalter für die Zulassung zur Beschäftigung vom 26. Juni 1973 erlaubt unter bestimmten Bedingungen „leichte Arbeit“ für 12- bis 14-Jährige, wenn diese nicht einen geregelten Schulbesuch behindert. Das Mindestalter für die Zulassung
zu einer Vollzeitbeschäftigung soll bei 15 Jahren liegen, wobei Entwicklungsländer auch 14 Jahre als Mindestalter gesetzlich festsetzen können. Jugendliche im Alter von 15 bis 17 Jahren dürfen keine Arbeit verrichten, die für die „Gesundheit, Sicherheit oder Moral“ der Jugendlichen
„gefährlich“ sein könnte.
Das IAO-Übereinkommen 182 über das Verbot und unverzügliche Maßnahmen zur Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit vom
17. Juni 1999 definiert in Artikel 3 vier Gruppen „schlimmster Formen“ von Kinderarbeit, die unverzüglich zu beseitigen seien: (a) Sklaverei und
Zwangsarbeit einschließlich der Zwangsrekrutierung von Kindern für den Einsatz in bewaffneten Konflikten, (b) Kinderprostitution und Produktion von Kinderpornographie, (c) Einsatz von Kindern im Bereich des organisierten Verbrechens (etwa des Drogenhandels) und (d) Arbeit,
die „voraussichtlich schädlich“ ist für „die Gesundheit, die Sicherheit oder die Sittlichkeit“.
Mehr Jungen als Mädchen arbeiten – doch dies sagt nicht viel aus
Die Geschlechter-Perspektive
Folgen wir den Schätzungen des Internationalen Arbeitsamtes, waren 2004 rund 186 Millionen Jungen wirtschaftlich aktiv –
deutlich mehr als Mädchen (149 Millionen, vgl. Tabelle 2 auf Seite 9). Allerdings fiel das Geschlechterverhältnis für die drei Altersgruppen unterschiedlich aus: Bei den Jüngsten (fünf bis elf Jahre) arbeiteten mit 54,5 Millionen etwas mehr Mädchen als
Jungen (53,1 Millionen). Im Alterssegment der 12- bis 14-Jähren standen 38,4 Millionen wirtschaftlich aktiver Mädchen 44,7
Millionen arbeitende Jungen gegenüber. Am stärksten fiel der Unterschied zwischen Jungen und Mädchen bei den Jugendlichen aus: Hier überstieg die Zahl der arbeitenden Jungen (70,6 Millionen) die der Mädchen (56,1 Millionen) beträchtlich.
Doch diese globalen Beobachtungen lassen keine sozial- und entwicklungspolitischen Schlussfolgerungen zu:
– Mädchen müssen häufiger und länger als Jungen Hausarbeiten verrichten, diese wird aber von den hier zitierten Statistiken nicht berücksichtigt. Hinzu kommt, dass die Arbeit von Mädchen tendenziell verborgener als die von Jungen und daher
statistisch nur unzureichend erfasst ist.
– Hinter den globalen Zahlen verbergen sich beträchtliche regionale Unterschiede: Im Zeitraum 2004 bis 2006 lag in vielen
europäischen, asiatischen und lateinamerikanischen Ländern der Anteil der wirtschaftlich aktiven Jungen im Alter von fünf
bis 14 Jahren deutlich über dem entsprechenden Anteil der Mädchen – in Nicaragua zum Beispiel arbeiteten 13,2 Prozent
aller Jungen, aber nur 3,2 Prozent der Mädchen dieser Altersgruppe. In Afrika aber gab es mehrere Länder, in denen die
Kindarbeitsquote (der 5- bis 14-Jährigen) für Mädchen und Jungen fast gleich hoch oder gar für Mädchen höher als für Jungen war (vgl. Schaubild 1 auf Seite 10, das die Kinderarbeitsquoten aller Länder zusammenstellt, für die neuere Daten vorliegen).
Kinderarbeitsquote – ein unscharfer Begriff
Statistiken über die Anzahl oder über die relative Häufigkeit von wirtschaftlich aktiven Kindern, die nach Regionen, Wirtschaftsbereichen, Geschlecht oder Alter gegliedert sind, unterscheiden in der Regel nicht zwischen Kinderarbeit im Sinne der IAO-Standards und zulässiger Arbeit.
Wenn das Internationale Arbeitsamt zum Beispiel den Anteil der wirtschaftlich aktiven 5- bis 14-Jährigen für das südliche Afrika mit 26,4 Prozent angibt, so sind bei der Berechnung dieses Prozentsatzes auch jene Kinder mitgezählt worden, deren wirtschaftliche Aktivität keine Kinderarbeit im Sinne der IAO-Standards darstellt. Deren Zahl ist aber in der Regel beträchtlich, wie Tabelle 1 zu entnehmen ist. Ein Beispiel: Von
den weltweit 38,4 Millionen wirtschaftlich aktiven Mädchen im Alter von 12 bis 14 Jahren gingen 12,1 Millionen einer Tätigkeit nach, die nicht
als Kinderarbeit zu werten ist. Allerdings ist zu vermuten, dass solche zulässige Arbeit von Kindern vor allem in den Industrieländern anzutreffen ist – aber eben auch (wenngleich seltener) in Afrika, Asien und Lateinamerika. Daher ist es im engen Wortsinne nicht zulässig, den Anteil
wirtschaftlich aktiver Kinder als Kinderarbeitsquote zu bezeichnen. Dennoch soll dieser Begriff im Folgenden aus sprachlichen Gründen verwendet werden.
Hierbei wird gelegentlich (vor allem in den Schaubildern) zwischen drei Quoten unterschieden:
Kinderarbeitsquote I: Anteil aller wirtschaftlich aktiven 5- bis 14-Jährigen – sofern im Folgenden nicht ausdrücklich anders vermerkt, meint
der Begriff Kinderarbeitsquote auch ohne den Zusatz „I“ diese Quote
Kinderarbeitsquote II: Anteil der wirtschaftlich aktiven 5- bis 14-Jährigen, die ausschließlich arbeiten und daher nicht zur Schule gehen –
diese Quote deckt sich weitgehend mit dem Anteil wirtschaftlich aktiver Kinder, deren Arbeit als Kinderarbeit zu werten ist, und
Kinderarbeitsquote III: Anteil der wirtschaftlich aktiven 5- bis 14-Jährigen, die arbeiten und zugleich zur Schule gehen.
Seite 8
Kinderarbeit – Kinderrechte
–
–
Noch bemerkenswerter sind regionale Unterschiede, wenn wir nur
die Anteile jener arbeitenden Jungen und Mädchen miteinander vergleichen, die nicht zur Schule gehen konnten (Schaubild 2 auf Seite
10): In Lateinamerika und in der Karibik überstieg die Quote der
ausschließlich arbeitenden 5- bis 14-jährigen Jungen die der Mädchen deutlich, in Afrika südlich der Sahara aber gab es mehrere Länder, in denen ein deutlich größerer Prozentsatz der Mädchen als der
Jungen ohne Gelegenheit zum Schulbesuch arbeiten musste: So
gingen in Benin 30,7 Prozent der Mädchen arbeiten, ohne in eine
Schule besuchen zu können, bei den Jungen waren dies 22,2 Prozent. Auch im Tschad war der Unterschied mit 34 Prozent für Mädchen und 24,6 Prozent für Jungen erheblich. Diese Befunde deuten
darauf hin, dass Mädchen in Afrika südlich der Sahara weitaus stärKinderarbeit in Indien, Foto: Klaus Müller-Reimann, terre des hommes
ker benachteiligt sind als in anderen Teilen der Welt.
Wirtschaftliche Aktivitäten sind nach Art, Dauer und Folgen für Kinder und Jugendliche sehr unterschiedlich. In kinderrechtlicher Perspektive interessiert vor allem gefährliche Arbeit. Hier zeigen sich für ältere Kinder und Jugendliche starke geschlechtsspezifische Unterschiede (vgl. Tabelle 2): Weltweit verrichteten 20,7 Millionen der 12- bis 14-jährigen Jungen eine
Arbeit, die als gefährlich gilt – bei den gleichaltrigen Mädchen waren es 13,5 Millionen. Noch größer war der Unterschied
bei den Jugendlichen (15 bis 17 Jahre): hier standen 19,7 Millionen Mädchen, die einer gefährlichen Arbeit nachgehen
mussten, 32,3 Millionen Jungen gegenüber.
Damit arbeiteten rund 46 Prozent aller wirtschaftlich aktiven Jungen im Alter von zwölf bis 17 Jahren unter Bedingungen,
die ihre Gesundheit und Entwicklung bedrohten, bei den Mädchen betrug dieser Anteil 35 Prozent. Dieser Umstand verweist auf die Notwendigkeit, dass sich Bestrebungen zur Verwirklichung der Rechte des Kindes in jedem Falle auch um ältere Jungen kümmern müssen, die einer gefährlichen Arbeit nachgehen. Zugleich ist aber zu betonen, dass in keiner
Altersgruppe so viele Mädchen eine gefährliche Arbeit verrichten mussten wie in der Gruppe der 5- bis 11-Jährigen.
Tabelle 2:
Gefährliche Arbeit: mehr Jungen als Mädchen betroffen
Arbeitende Kinder nach Geschlecht, Altersgruppe und Arbeitstyp, 2004
Mädchen
Jungen
absolut
(Millionen)
in Prozent aller wirtschaftlich Aktiven der
Altersgruppe
absolut
(Millionen)
in Prozent aller wirtschaftlich Aktiven der
Altersgruppe
wirtschaftliche Aktive insgesamt
54,5
100,0%
53,1
100,0%
darunter Kinderarbeit
54,5
100,0%
53,1
100,0%
darunter gefährliche Arbeit
19,9
36,5%
20,3
38,3%
wirtschaftliche Aktive insgesamt
38,4
100,0%
44,7
100,0%
darunter Kinderarbeit
26,3
68,4%
31,8
71,2%
darunter gefährliche Arbeit
13,5
35,1%
20,7
46,3%
wirtschaftliche Aktive insgesamt
56,1
100,0%
70,6
100,0%
darunter Kinderarbeit
19,7
35,1%
32,3
45,7%
darunter gefährliche Arbeit
19,7
35,1%
32,3
45,7%
wirtschaftliche Aktive insgesamt
149,0
100,0%
168,4
100,0%
darunter Kinderarbeit
100,5
67,4%
117,2
69,6%
darunter gefährliche Arbeit
53,1
35,6%
73,3
43,5%
5- bis 11-Jährige
12- bis 14-Jährige
15- bis 17-Jährige
alle Altersgruppen
Quelle: Frank Hagemann, Yacouba Diallo, Alex Etienne, Farhad Mehran (2006); eigene Berechnungen
Seite 9
Kinderarbeit – Kinderrechte
Schaubild 1:
In vielen Ländern arbeitet ein größerer Anteil der Jungen als der Mädchen im Alter von fünf bis 14 Jahren
Anteil aller wirtschaftlich aktiven 5- bis 14-Jährigen in Prozent aller Kinder der Altersgruppe in Prozent, ungefähr 2005
Europäische und asiatische Länder
70
Kinderarbeitsquote I in Prozent
60
50
40
30
20
10
Jemen
Vietnam
Indien
Thailand
Irak
Mongolei
Gambia
Tadschikistan
Ghana
Syrien
Usbekistan
Jungen
Bangladesch
Kirgisistan
Kasachstan
Georgien
Montenegro
Weißrussland
Bosnien
Mazedonien
Serbien
0
Mädchen
Lateinamerikanische und karibische Länder
70
Kinderarbeitsquote I in Prozent
60
50
40
30
20
10
Jungen
Afrikanische Länder
Haiti
Bolivien
Guatemala
Argentinien
Ecuador
Jamaica
Costa Rica
Brasilien
Nicaragua
Honduras
Kolumbien
0
Mädchen
70
Kinderarbeitsquote I in Prozent
60
50
40
30
20
10
Jungen
Benin
Sierra Leone
Tschad
Guinea Bissau
Sambia
Äthiopien
Mali
Niger
Somalia
Elfenbeinküste
Togo
Malawi
Liberia
Uganda
Senegal
Rep. Kongo
Ägypten
0
Mädchen
Kinderarbeitsquote I: Anteil aller 5-14-Jährigen, die mindestens eine Wochenstunde wirtschaftlich aktiv sind, in Prozent aller 5-14-Jährigen, Daten für 2004
bis 2006
Länderauswahl: sämtliche Länder, für die vom Internationalen Arbeitsamt, von UNICEF und von der Weltbank neuere Haushaltsstichproben (ab 2004) mit
detaillierten Angaben über Kinderarbeit der 5- bis 14-Jährigen veröffentlicht wurden
Quellen: International Labour Office, UNICEF, World Bank: Understanding Children’s Work. UCW country statistics (www.ucw-project.org), Zusammenstellung
der Daten auf der Grundlage von Haushaltsstichproben
© Werkstatt Ökonomie e.V.
Seite 10
Kinderarbeit – Kinderrechte
Schaubild 2:
In mehreren afrikanischen Ländern arbeitet ein höherer Prozentsatz der Mädchen als der Jungen im Alter
von fünf bis 14 Jahren, ohne in die Schule zu gehen
Anteil der ausschließlich wirtschaftlich aktiven 5- bis 14-Jährigen in Prozent aller Kinder der Altersgruppe in Prozent, ungefähr 2005
Europäische und asiatische Länder
45
Kinderarbeitsquote II in Prozent
40
35
30
25
20
15
10
5
Lateinamerikanische und karibische Länder
Irak
Jemen
Indien
Syrien
Vietnam
Mongolei
Bangladesch
Tadschikistan
Thailand
Jungen
Kirgisistan
Usbekistan
Kasachstan
Montenegro
Georgien
Serbien
Mazedonien
Bosnien
Weißrussland
0
Mädchen
45
Kinderarbeitsquote III in Prozent
40
35
30
25
20
15
10
5
Jungen
Afrikanische Länder
Haiti
Guatemala
Bolivien
Ecuador
Costa Rica
Honduras
Nicaragua
Kolumbien
Brasilien
Jamaica
Argentinien
0
Mädchen
45
Kinderarbeitsquote II in Prozent
40
35
30
25
20
15
10
5
Jungen
Tschad
Niger
Äthiopien
Mali
Benin
Somalia
Cote d'Ivoire
Sierra Leone
Guinea Bissau
Liberia
Gambia
Senegal
Sambia
Togo
Ghana
Re. Kongo
Malawi
Uganda
Ägypten
0
Mädchen
Kinderarbeitsquote II: Anteil der 5-14-Jährigen, die mindestens eine Wochenstunde wirtschaftlich aktiv sind und nicht zur Schule gehen, in Prozent aller 514-Jährigen, Daten für 2004 bis 2006
Länderauswahl: sämtliche Länder, für die vom Internationalen Arbeitsamt, von UNICEF und von der Weltbank neuere Haushaltsstichproben (ab 2004) mit
detaillierten Angaben über Kinderarbeit der 5- bis 14-Jährigen veröffentlicht wurden
Quellen: International Labour Office, UNICEF, World Bank: Understanding Children’s Work. UCW country statistics (www.ucw-project.org), Zusammenstellung
der Daten auf der Grundlage von Haushaltsstichproben
© Werkstatt Ökonomie e.V.
Seite 11
Kinderarbeit – Kinderrechte
Am höchsten ist der Anteil arbeitender Kinder in Afrika
Die geographische Perspektive
Die meisten wirtschaftlich aktiven Kinder gab es in Asien (unter Einschluss des Pazifiks), dort arbeiteten 122 Millionen 5- bis
14-Jährige. In Afrika südlich der Sahara waren es 49 Millionen, in Lateinamerika und der Karibik fast sechs Millionen und in anderen Regionen etwa 13 Millionen (vgl. Schaubild 3).
Schaubild 3:
Kinderarbeit – ein asiatisches Problem?
Anzahl der wirtschaftlich aktiven 5- bis 14-Jährigen, absolute
Zahlen in Millionen, 2004
30%
122,3
120
26,4%
110
80
70
60
49,3
50
40
30
20
13,4
10
20%
18,8%
15%
10%
5,2%
5,1%
5%
5,7
0
Quelle: Frank Hagemann, Yacouba Diallo, Alex Etienne, Farhad Mehran (2006); eigene Berechnungen
andere Regionen
Lateinamerika und Karibik
andere Regionen
Afrika südlich der Sahara
Lateinamerika und Karibik
Asien und Pazifik
0%
Asien und Pazifik
Anzahl in Millionen
90
Anteil in Prozent der 5- bis 14-Jährigen der jeweiligen Region
25%
100
Afrika südlich der Sahara
130
Schaubild 4:
Kinderarbeit – ein afrikanisches Problem?
Anteil der wirtschaftlich aktiven 5- bis 14-Jährigen an allen
Kindern der Altersgruppe in Prozent, 2004
© Werkstatt Ökonomie e.V.
Der Anteil arbeitender Kinder aber war in Afrika südlich der Sahara am höchsten, dort waren 2004 rund 26 Prozent aller 5-bis
14-Jährigen wirtschaftlich aktiv, in Asien (einschließlich des Pazifiks) waren es fast 19 Prozent, in Lateinamerika aber nur fünf
Prozent (vgl. Schaubild 4). Allerdings sind die Kinderarbeitsquoten innerhalb der Regionen sehr unterschiedlich, wie Schaubild
1 zeigt: Für die erfassten asiatischen Länder reichen sie von fast vier Prozent (Jungen in Kasachstan) bis rund 18 Prozent (Vietnam), in Lateinamerika und in der Karibik lagen die Kinderarbeitsquoten für Jungen zwischen 5,4 (Kolumbien) und 32,5
Prozent (Haiti) und in Afrika zwischen 9,5 (Ägypten) und fast 64 Prozent (Benin).
Aufschlussreicher als die regionale Streuung der Quoten aller arbeitenden Kinder (Kinderarbeitsquote I) ist die Bandbreite der
Kinderarbeitsquote II (für Kinder, die arbeiten und nicht zur Schule gehen): Während sie in den im Schaubild 2 erfassten europäischen Ländern stets unter zwei Prozent lag und auch in Asien und in Lateinamerika fast nie über fünf Prozent stieg (Ausnahmen waren Bangladesch, Guatemala und Haiti), reichte sie in Afrika für Jungen von knapp zwei (Ägypten) bis zu über 41
Prozent (Äthiopien), wobei die Länderunterschiede besonders deutlich ausfielen.
Betrachten wir die absolute Zahl arbeitender Kinder, werden die weltweit vorherrschenden Formen von Kinderarbeit viel stärker von asiatischen und afrikanischen kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen geprägt als von
lateinamerikanischen. Fragen wir aber danach, welche Länder in besonderer Weise durch Kinderarbeit geprägt sind, müssen die
afrikanischen Länder in das Zentrum des Interesses rücken – und dies ist auch für jede entwicklungspolitische Auseinandersetzung mit Kinderarbeit in kinderrechtlicher Perspektive von Belang.
Seite 12
Kinderarbeit – Kinderrechte
Die meisten Kinder arbeiten in der Landwirtschaft
Die sektorale Perspektive
In der Landwirtschaft arbeiten 69 Prozent der 5- bis 14Jährigen, die wirtschaftlich aktiv sind, gefolgt von Dienstleistungen (22 Prozent) und dem Verarbeitenden
Gewerbe, in dem sich nur neun Prozent der arbeitenden
Kinder bis 14 Jahre finden. Kinderarbeit ist also vor allem
ein ländliches Problem. Hinzu kommen Kinder, die auf
dem Lande Dienstleistungen erbringen oder handwerkliche Tätigkeiten ausüben.
In der Exportproduktion sind weltweit weniger als fünf
Prozent der ökonomisch aktiven 5- bis 14-Jährigen beschäftigt. Der allergrößte Teil der Kinder im „Süden“ arbeitet also nicht deshalb, weil billige Produkte für den
„Norden“ hergestellt werden. Daher auch sollten sich Versuche, die Rechte des Kindes in der Arbeitswelt durchzusetzen, nicht auf die Exportproduktion konzentrieren.
Schaubild 5:
Kinder arbeiten vor allem in der Landwirtschaft.
Sektorale Verteilung der ökonomischen Aktivitäten der 5- bis
14-Jährigen in Prozent, 2004
Dienstleistungen
22%
Verarbeitendes
Gewerbe
9%
Landwirtschaft
69%
Quelle: Frank Hagemann, Yacouba Diallo, Alex Etienne, Farhad Mehran
(2006); eigene Berechnungen
Klaus Heidel, Werkstatt Ökonomie e.V.
© Werkstatt Ökonomie e.V.
Schulbesuch trotz Kinderarbeit, Kinderarbeit trotz Schulbesuch
Statistische Anmerkungen gegen ein verbreitetes Vorurteil
Häufig wird in der Öffentlichkeit, aber auch von Politikerinnen und Politikern und selbst von Nichtregierungsorganisationen die
Auffassung vertreten, Kinderarbeit und Schulbesuch seien unvereinbar. In einer solchen Perspektive wird Kinderarbeit zur Ursache dafür, dass Kinder nicht zur Schule gehen können. Umgekehrt erscheint die Erwartung plausibel, dass Kinderarbeit zurückgedrängt werden könnte, wenn mehr Kinder zur Schule gingen. Zu bedenken ist aber, dass ein großer Teil der arbeitenden
Kinder in die Schule geht (und ein beträchtlicher Prozentsatz der Schülerinnen und Schüler arbeitet).
Der Zusammenhang von Schulbesuch und Kinderarbeit ist komplex. Denn es ist nicht so, dass Länder mit einer ähnlichen
Schulbesuchsquote (Anteil aller Kinder im grundschulpflichtigen Alter, die eine Schule besuchen) auch ähnliche Kinderarbeitsquoten (Anteil aller wirtschaftlich aktiven Kinder im Alter von fünf bis 14 Jahren an allen Kindern der jeweiligen Altersgruppe)1 aufweisen. Schaubild 6 (Seite 15) zeigt dies für jene 45 Länder, für die neuere Angaben über das Ausmaß von
Kinderarbeit vorliegen.
Hinsichtlich der Jungen im grundschulpflichtigen Alter ergibt sich folgendes Bild:
– Im Vergleich der Länder, in denen mehr als 90 Prozent der Jungen eine Schule besuchen, schwankt die Kinderarbeitsquote
zwischen 3,5 Prozent (Syrien) und 14 Prozent (Montenegro).
– In Ländern mit einer Schulbesuchsquote von 75 bis 80 Prozent streut die Kinderarbeitsquote wesentlich weiter, nämlich
von etwa 2,5 Prozent bis fast 45 Prozent.
– In der Gruppe der Länder mit einer Schulbesuchsquote für Jungen von unter 75 Prozent scheint der statistische Zusammenhang von Kinderarbeits- und Schulbesuchsquote noch geringer ausgeprägt zu sein.
Afrika: Relativ schwacher statistischer Zusammenhang von Schulbesuch und Kinderarbeit
Diese letzte Gruppe der Länder mit niedrigen Schulbesuchsquoten wird – mit den Ausnahmen Haiti und Jemen – nur von afrikanischen Ländern südlich der Sahara gebildet2. Dort reichen die Schulbesuchsquote von 25 bis 85 Prozent und die Kinderarbeitsquote von rund 30 bis etwa 65 Prozent. Statistisch hängen beide Quote eher schwach zusammen: Im Schaubild 6
1
Zur Problematik des Begriffes Kinderarbeitsquote siehe oben, S. 8.
2
Lediglich ein afrikanisches Land (Ägypten) weist für Jungen bis 14 Jahre eine hohe Schulbesuchsquote (95 Prozent) und eine moderate Kinderarbeitsquote (9,5 Prozent) auf.
Seite 13
Kinderarbeit – Kinderrechte
finden sich zum Beispiel fünf Länder mit einer Kinderarbeitsquote für Jungen von rund 40 bis 45 Prozent. Doch trotz des ähnlich hohen Prozentsatzes arbeitender Jungen streut die Schulbesuchsquote zwischen 25 und 75 Prozent. So ist in Ghana der
Anteil der zur Schule gehenden Jungen fast dreimal so hoch wie in Somalia, die Kinderarbeitsquote ist aber in beiden Ländern
nahezu gleich.
Auch für Mädchen zeigt sich, dass in Afrika südlich der Sahara der statistische Zusammenhang zwischen Kinderarbeits- und
Schulbesuchsquote nicht sehr hoch ist: Länder mit einer Kinderarbeitsquote (Mädchen) von 40 bis 45 Prozent können eine
Schulbesuchsquote (Mädchen) von 20, aber auch von 75 Prozent aufweisen. Ein anderes Beispiel: Die Schulbesuchsquote
(Mädchen) im Senegal liegt mit 59 Prozent nur etwas unter der von Benin (62 Prozent), die Kinderarbeitsquote für Mädchen
liegt aber in beiden Ländern weit auseinander: im Senegal bei 26,7 und in Benin bei 67,8 Prozent.
Dieser Befund bestätigt sich, wenn wir zur Überprüfung des statistischen Zusammenhanges von Kinderarbeits- und Schulbesuchsquote einen Korrelationskoeffizienten (nach Pearson) zu Hilfe nehmen. Dieser Koeffizient sagt nichts aus über einen ursächlichen Zusammenhang3, wohl aber zeigt er, ob mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden kann,
dass einer hohen Ausprägung der einen Quote eine hohe Ausprägung der anderen Quote (bei positiver Korrelation) oder eine
niedere Ausprägung derselben (bei negativer Korrelation) entspricht4.
Dieser Korrelationskoeffizient beträgt für arbeitende Jungen bis 14 Jahre und im Vergleich aller untersuchten Länder -0,76, was
auf eine mittlere Korrelation hinweist: In der Tat ist es so, dass in globaler Perspektive die Länder mit sehr hoher Schulbesuchsquote eine vergleichsweise niedrige Kinderarbeitsquote aufweisen. Doch berechnen wir den Koeffizienten für die Gruppe
der afrikanischen Länder, ergibt sich der deutlich niedrigere Wert von -0,52. Für Mädchen ist der Zusammenhang noch schwächer: Im weltweiten Vergleich aller Länder liegt der Koeffizient bei -0,69 und für afrikanische Länder bei -0,41 – was für einen
allenfalls mäßigen Zusammenhang spricht.
Dieser Befund aber bedeutet, dass erstens die Kinderarbeitsquote in Ländern mit einer Schulbesuchsquote von unter 85 Prozent nur noch mäßig mit dem Anteil der Kinder, die zur Schule gehen, zusammen hängt. Offensichtlich sind weitere Faktoren
für das jeweilige Ausmaß von Kinderarbeit verantwortlich. Noch deutlicher zeigt sich die Notwendigkeit einer Relativierung bisheriger Deutungsmuster im Blick auf Mädchen in Ländern südlich der Sahara: Ob sie arbeiten oder nicht hängt nur sehr bedingt davon ab, ob sie zur Schule gehen oder nicht.
In Afrika arbeiten viele Schulkinder
Wenn wir den Zusammenhang von Kinderarbeit und Schulbesuch besser verstehen wollen, ist es jedoch nicht ausreichend, nur
die allgemeine Kinderarbeitsquote mit der Schulbesuchsquote in Beziehung zu setzen. Denn die allgemeine Kinderarbeitsquote setzt sich zusammen aus der Teilquote der ausschließlich wirtschaftlich aktiven Kinder und der Teilquote der Kinder, die
arbeiten und zur Schule gehen. Die erstgenannte Teilquote weist aber einen hohen negativen linearen Zusammenhang mit der
Schulbesuchsquote auf, da es ja um Schule statt Arbeit oder Arbeit statt Schule geht. Aus diesem Grunde ist es hilfreich, nach
dem statistischen Zusammenhang zwischen der Kinderarbeitsquote III (für Kinder, die arbeiten und zugleich zur Schule gehen)
und der Schulbesuchsquote zu fragen. Dies tut Schaubild 7.
Die Ergebnisse dieser Untersuchung sind überraschend. Zunächst zeigt sich wieder, dass in Ländern, in denen ein großer Teil
der Jungen und Mädchen (90 Prozent und mehr) zur Schule geht, nur ein kleiner Teil der Jungen (15 Prozent und weniger)
und ein noch kleinerer Teil der Mädchen (Zehn Prozent und weniger) arbeitet. In Afrika südlich der Sahara scheint es aber so
zu sein, dass mehrfach Länder mit einer höheren Schulbesuchsquote eine höhere Kinderarbeitsquote III als Länder mit einem
niedrigeren Anteil arbeitender Kinder (die auch zur Schule gehen) aufweisen. Diese Tendenz gilt für Mädchen stärker als für
Jungen. Wiederum bestätigt das statistische Modell der Korrelation diese Beobachtung: Der Korrelationskoeffizient für den statistischen Zusammenhang von Schulbesuchs- und Kinderarbeitsquote III für Jungen bis 14 Jahre, die arbeiten und zur Schule
gehen, liegt im weltweiten Vergleich der Länder bei -0,49 Prozent, im Blick auf die afrikanischen Länder aber bei +0,15 Prozent (was einer sehr schwachen, aber erstaunlicherweise positiven Korrelation entspricht). Für Mädchen ist dieser Befund sogar
noch etwas stärker ausgeprägt: Der Korrelationskoeffizient liegt im Vergleich aller Länder bei -0,32, im Vergleich der afrikanischen
Länder aber bei +0,36. Dieser Befund ist erstaunlich, deutet er doch die (allerdings schwache) Tendenz an, dass in afrikanischen Ländern, in denen ein größerer Prozentsatz der Mädchen zur Schule geht als in anderen, auch ein größerer Teil der Mädchen arbeitet.
3
Der Korrelationskoeffizient darf nicht kausal interpretiert werden, er erlaubt also in unserem Beispiel keine Aussagen wie: „Die Kinderarbeitsquote ist hoch, weil die Schulbesuchsquote niedrig ist“.
4
Nimmt der Korrelationskoeffizient den Wert 0 an, bedeutet dies, dass es keinen statistischen Zusammenhang gibt, ein Wert von 1 steht für eine vollständige positive und ein Wert
von -1 für eine vollständige negative lineare Korrelation.
Seite 14
Kinderarbeit – Kinderrechte
Schaubild 6:
Schulbesuch und Kinderarbeit I
Anteil aller wirtschaftlich aktiven 5- bis 14-Jährigen in Prozent der Altersgruppe und Schulbesuchsquote in Prozent aller
grundschulpflichtigen Kinder, 2000-2006
Jungen, 5 bis 14 Jahre
70
Kinderarbeitsquote I in Prozent
65
Tschad
Benin
Sierra Leone
60
55
50
Ghana
45
Somalia
40
Georgien
Niger
35
30
Bolivien
Haiti
25
Gambia
20
15
Jemen
10
5
0
0
5
10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100
Schulbesuchsquote in Prozent
afrikanische Länder
lateinamerikanische Länder
asiatische Länder
europäische Länder
Kinderarbeitsquote I in Prozent
Mädchen, 5 bis 14 Jahre
70
65
60
55
Benin
Sierra Leone
Tschad
50
45
40
35
30
25
20
15
10
5
0
Gambia
Georgien
Somalia
Niger
Haiti
Bolivien
Senegal
Jemen
0
5
10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100
Schulbesuchsquote in Prozent
afrikanische Länder
lateinamerikanische Länder
asiatische Länder
europäische Länder
Kinderarbeitsquote I: Anteil aller 5-14-Jährigen, die mindestens eine Wochenstunde wirtschaftlich aktiv sind, in Prozent aller 5-14-Jährigen, Daten für
2004 bis 2006
Schulbesuchsquote: Anteil der Kinder im grundschulpflichtigen Alter, die eine Schule besuchen, in Prozent aller schulpflichtigen Kinder, Daten für 2000 bis
2007
Länderauswahl: sämtliche Länder, für die vom Internationalen Arbeitsamt, von UNICEF und von der Weltbank neuere Haushaltsstichproben (ab 2004) mit
detaillierten Angaben über Kinderarbeit der 5- bis 14-Jährigen veröffentlicht wurden
Quellen: Kinderarbeitsquote: International Labour Office, UNICEF, World Bank: Understanding Children’s Work. UCW country statistics (www.ucw-project.org),
Zusammenstellung der Daten auf der Grundlage von Haushaltsstichproben; Schulbesuchsquote: UNICEF (2009): The State of the World’s Children 2009, S.
134-137
© Werkstatt Ökonomie e.V.
Seite 15
Kinderarbeit – Kinderrechte
Schaubild 7:
Schulbesuch und Kinderarbeit II
Anteil der wirtschaftlich aktiven 5- bis 14-Jährigen, die eine Schule besuchen, in Prozent der Altersgruppe und Schulbesuchsquote in Prozent aller grundschulpflichtigen Kinder, 2000-2006
Jungen, 5 bis 14 Jahre
45
Benin
Kinderarbeitsquote III in Prozent
40
Sierra Leone
35
Georgien
Tschad
30
Haiti
25
Bolivien
Somalia
20
Indien
15
Niger
10
Jemen
Senegal
5
0
0
5
10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100
Schulbesuchsquote in Prozent
afrikanische Länder
lateinamerikanische Länder
asiatische Länder
europäische Länder
Mädchen, 5 bis 14 Jahre
40
Kinderarbeitsquote III in Prozent
Benin
Sierra Leone
35
Georgien
30
25
Tschad
20
15
Haiti
Bolivien
Somalia
Senegal
10
Vietnam
Indien
Niger
Jemen
5
0
0
5
10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100
Schulbesuchsquote in Prozent
afrikanische Länder
lateinamerikanische Länder
asiatische Länder
europäische Länder
Kinderarbeitsquote III: Anteil der 5-14-Jährigen, die mindestens eine Wochenstunde wirtschaftlich aktiv sind und die zugleich eine Schule besuchen, in
Prozent aller 5-14-Jährigen, Daten für 2004 bis 2006
Schulbesuchsquote: Anteil der Kinder im grundschulpflichtigen Alter, die eine Schule besuchen, in Prozent aller schulpflichtigen Kinder, Daten für 2000 bis
2007
Länderauswahl: sämtliche Länder, für die vom Internationalen Arbeitsamt, von UNICEF und von der Weltbank neuere Haushaltsstichproben (ab 2004) mit
detaillierten Angaben über Kinderarbeit der 5- bis 14-Jährigen veröffentlicht wurden
Quellen: Kinderarbeitsquote: International Labour Office, UNICEF, World Bank: Understanding Children’s Work. UCW country statistics (www.ucw-project.org),
Zusammenstellung der Daten auf der Grundlage von Haushaltsstichproben; Schulbesuchsquote: UNICEF (2009): The State of the World’s Children 2009, S.
134-137
© Werkstatt Ökonomie e.V.
Seite 16
Kinderarbeit – Kinderrechte
Fassen wir die bisherigen Überlegungen zum Zusammenhang von Kinderarbeit und Schulbesuch zusammen, so können wir
feststellen:
1. Länder mit einer Schulbesuchsquote von über 90 Prozent haben eine wesentlich niedrigere Kinderarbeitsquote als Länder
mit einer Schulbesuchsquote von unter 90 Prozent.
2. Länder mit einer Schulbesuchsquote von unter 90 Prozent können sehr unterschiedliche Kinderarbeitsquoten aufweisen.
3. Der statistische Zusammenhang von Schulbesuchs- und Kinderarbeitsquote ist für Mädchen schwächer ausgeprägt als für
Jungen – ob also Mädchen zur Schule gehen oder nicht, hängt offensichtlich von mehreren Faktoren ab und keinesfalls nur
davon, ob sie arbeiten (auch wenn der Korrelationskoeffizient keine unmittelbaren Aussagen über ursächliche Zusammenhänge erlaubt, gilt natürlich, dass bei einem schwachen statistischen Zusammenhang keine große kausale Beziehung
zweier Variablen bestehen kann).
4. In Afrika südlich der Sahara arbeiten Kinder auch dann, wenn sie zur Schule gehen, und dies gilt in stärkerem Maße für Mädchen als für Jungen. Dies lässt vermuten, dass Kinderarbeit in vielen Fällen den Schulbesuch erst ermöglicht hat und dass
eine Verbesserung der Schulbesuchsquote (mehr Jungen und Mädchen können zur Schule gehen) nicht von sich aus zu
einem Rückgang des Ausmaßes von Kinderarbeit führen wird.
Allerdings ergeben die bisherigen Aussagen nur ein unvollständiges Bild, denn es müssten weitere Faktoren wie zum Beispiel
die Wochenarbeitszeit (hierzu siehe unten, Seite 40ff.) untersucht werden, was jedoch an dieser Stelle nicht erfolgen kann.
Der Regelfall: Schulbesuch und Arbeit
Immerhin legt Schaubild 8 nahe, dass die Verbindung von Kinderarbeit und Schulbesuch das vorherrschende Muster zu sein
scheint. Dieses Schaubild stellt die Anteile der Kinder, die ausschließlich arbeiten, die arbeiten und zur Schule gehen, die ausschließlich zur Schule gehen und die weder arbeiten noch zur Schule gehen für die 5- bis 14-Jährigen nach Lebensalter zusammen. In allen zwölf erfassten Ländern sind fast für alle Altersstufen die Anteile der Kinder, die arbeiten und zugleich zur
Schule gehen, deutlich größer als die Anteile der Kinder, die ausschließlich wirtschaftlich aktiv sind. In Georgien oder in Brasilien gibt es (nach den hier ausgewerteten Statistiken) fast keine 7- bis 14-Jährigen, die arbeiten, ohne in die Schule zu gehen.
Selbst im extrem armen Haiti stehen 4,8 Prozent der 14-Jährigen, die ausschließlich arbeiten, 36 Prozent gegenüber, die Schule
und Arbeit verbinden: Kinderarbeit und Schulbesuch schließen sich also keinesfalls so kategorisch aus, wie dies immer wieder
behauptet wird. Vielmehr legen auch diese Befunde die Vermutung nahe, dass Kinderarbeit in vielen Fällen Schulbesuch erst
ermöglicht.
Nur in wenigen, aber bezeichnenden Ausnahmen ist der Anteil arbeitender Kinder, die nicht zur Schule gehen, größer als der
Anteil derer, die Schule und Arbeit verbinden: Dies ist der Fall bei den 5- bis 7-Jährigen in Sambia, bei den 5- und 6-Jährigen
in Benin, bei den 5- bis 7-Jährigen in Guinea-Bissau, bei den 5-Jährigen in Haiti, bei den 5-Jährigen in Georgien und bei den
14-Jährigen in Bangladesch. In den drei afrikanischen Ländern, in Haiti und in Georgien sind die Jüngsten also vor Schuleintritt
wirtschaftlich aktiv, mit dem Anstieg des Lebensalters aber nimmt der Anteil derer ab, die ausschließlich arbeiten, die Schulbesuchsquote steigt. In Bangladesch (und im abgeschwächten Maße auch Indien) verlassen die Kinder mit 13 und 14 Jahren die
Schule und arbeiten.
Weiter zeigt Schaubild 8, wie unterschiedlich der Zusammenhang von Kinderarbeit und Schulbesuch von Land zu Land sein
kann. Verallgemeinernde Aussagen sind kaum möglich. Hierfür nur ein Beispiel: In Uganda ist die Quote der ausschließlich arbeitenden Kinder in allen Altersstufen deutlich kleiner als in Sambia oder in Benin, obgleich Uganda ärmer als die beiden anderen Länder ist (wenn wir das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf als Indikator nehmen) und obgleich in Uganda der Anteil der
Kinder und Jugendlichen an der Gesamtbevölkerung mit 56,2 Prozent den höchsten Wert aller zwölf untersuchten Länder aufweist. Auch sonst fallen bei Uganda im Vergleich zu den drei anderen afrikanischen Ländern Besonderheiten auf: In Sambia,
Benin und Guinea-Bissau steigt der Anteil aller wirtschaftlichen
Kinder mit dem Alter bis zum zehnten Lebensjahr und bleibt
dann nahezu konstant bleibt, in Uganda aber wächst die Kinderarbeitsquote I mit dem Lebensalter kontinuierlich (vier Prozent der 5-Jährigen, aber 58,2 Prozent der 14-Jährigen gingen
einer wirtschaftlichen Tätigkeit – mit und ohne Schulbesuch –
nach). Offensichtlich genießen jüngere Kinder in Uganda
einen größeren Schutzraum. Und während in Sambia und in
Guinea-Bissau die Quote der ausschließlich Arbeitenden mit
dem Alter fällt, steigt sie in Uganda (wenngleich sie sich auf
einem wesentlich niedrigeren Niveau bewegt). Damit scheint
Uganda ein Beispiel dafür zu sein, dass trotz Armut und
hohem Kinderanteil die Rechte des Kindes zumindest teilweise verwirklicht werden können (oder wenigstens nicht so
gravierend wie in anderen Ländern verletzt werden).
Klaus Heidel, Werkstatt Ökonomie e.V.
Projekt Reyes Irene Valenzuela, Bildungszentrum für arbeitende Mädchen
Foto: Michaela Dacken, Kindernothilfe
Seite 17
Kinderarbeit – Kinderrechte
80
41,7
70
44,9
39,7
41,4
40,4
45,0
38,9
60
31,1
50
40
18,2
30
14,1
25,6
40,6
33,5
42,6
46,5
41,8
42,2
7,0
20
10
19,8
19,2
21,0
16,6
10,5
10,0
8,2
8,3
9
10
Alter
11
12
11,2
13,0
13
14
0
5
6
7
8
100
90
50,2
49,4
28,7
30,2
31,7
12
13
14
60
22,4
50
43,3
50,6
50,3
33,5
40
13,1
17,5
30
7,2
20
10
23,4
25,5
27,0
26,3
5
6
7
8
22,8
26,1
22,5
0
9
10
Alter
11
30,7
60
26,6
21,9
50
16,6
12,0
19,1
24,2
31,1
35,8
36,1
39,2
36,5
37,8
6,7
20
25,9
28,5
25,8
10
22,0
18,0
17,2
14,6
14,9
16,1
16,8
0
5
6
7
8
9
10
Alter
11
12
13
14
100
90
80
70
55,6
58,5
60
54,5
53,6
54,8
60,1
61,7
59,7
50
60,7
40
57,3
30
31,6
20
14,6
20,4
27,3
32,5
34,7
36,0
24,6
11,7
10
4,1
4,3
4,5
5
6
7,1
7
6,6
8
4,6
6,2
9
10
Alter
5,6
11
5,6
12
6,3
13
4,8
14
80
45,7
54,4
70
Prozent der Altersgruppe
37,0
36,5
90
64,2
60
39,5
49,7
59,5
66,6
72,2
50
40
61,4
51,3
30
48,2
44,5
44,1
41,7
20
34,5
30,3
24,8
10
12,3
8,1
6,9
0
5
6
7
8
9
10
Alter
11
12
13
14
65,9
57,6
45,2
100
90
80
70
60
78,7
50
81,4
75,7
77,8
72,3
40
30
19,9
18,5
20
19,4
10
8,7
4,8
12,6
11,5
7,6
5
6
7
8
9
10
Alter
15,9
5,3
0
ausschließlich wirtschaftlich aktiv
wirtschaftlich aktiv und Schulbesuch
Seite 18
57,0
15,5
24,2
70
Prozent der Altersgruppe
35,4
33,3
Uganda (2005/2006)
BIP pro Kopf: 888; Bevölkerungsanteil unter 18: 56,2%
33,5
34,8
Guatemala (2004)
BIP pro Kopf: 4.311; Bevölkerungsanteil unter 18: 49,3%
Prozent der Altersgruppe
70
Prozent der Altersgruppe
Guinea-Bissau (2006)
BIP pro Kopf: 467; Bevölkerungsanteil unter 18: 54,2%
Haiti (2005/2006)
BIP pro Kopf: 1.109; Bevölkerungsanteil unter 18: 43,9%
80
0
51,5
15,4
16,8
100
90
30
16,0
21,2
80
100
40
18,1
21,5
Prozent der Altersgruppe
90
Prozent der Altersgruppe
Sambia (2005)
BIP pro Kopf: 1.273; Bevölkerungsanteil unter 18: 52,6%
100
Benin (2006)
BIP pro Kopf: 1.259; Bevölkerungsanteil unter 18: 50,4%
Schaubild 8:
Mehrheitlich gehen arbeitende Kinder in die Schule – und arbeiten Schülerinnen und Schüler
Aktivitäten der 5- bis 14-Jährigen nach Alter (Anmerkungen am Ende der Schaubildreihe)
11
12
13
14
ausschließlich Schulbesuch
weder Schulbesuch noch wirtschaftlich aktiv
Kinderarbeit – Kinderrechte
76,7
74,6
72,2
70,8
82,3
50
40
30
20
26,6
19,0
10
11,0
19,9
22,2
23,9
24,5
14,7
6,8
0
5
6
7
8
9
10
Alter
11
12
13
14
100
90
80
Prozent der Altersgruppe
70
72,3
60
69,6
67,8
65,4
64,7
61,5
64,0
74,3
66,6
50
40
30
32,0
20
10
16,7
25,9
30,0
31,0
33,4
34,4
36,8
33,1
23,9
4,9
6,7
0
5
6
7
8
9
10
Alter
11
12
13
14
100
90
80
70
60
79,8
50
74,6
76,9
68,0
63,9
61,0
74,6
70,2
40
30
50,3
20
13,7
12,8
13,4
10
10,6
5,0
6,7
11,7
8,7
6,7
9,8
12,2
0
5
6
7
8
9
10
Alter
11
12
13
14
70
Prozent der Altersgruppe
77,6
86,5
80
60
50
95,4
95,9
93,4
91,2
88,7
4,9
7,0
8,6
9
10
Alter
11
12
74,4
64,2
95,5
85,0
78,9
87,8
40
73,3
30
20
10
14,6
0
5
6
7
8
11,6
13
14
61,1
52,1
100
90
80
70
Prozent der Altersgruppe
60
90
60
83,2
50
81,3
76,0
79,3
40
67,0
30
20
40,3
10,4
10
12,1
5,3
7,7
5
6
7
8
12,5
10,9
9,8
11,4
12
13
69,7
65,9
12,6
16,8
10,1
4,1
5,2
9
10
Alter
11
0
14
100
95
90
85
80
75
70
Prozent der Altersgruppe
63,3
Bangladesch (2006)
BIP pro Kopf: 1.155; Bevölkerungsanteil unter 18: 40,6%
Prozent der Altersgruppe
70
Vietnam (2006)
BIP pro Kopf: 2.363; Bevölkerungsanteil unter 18: 34,6%
80
Brasilien (2004)
BIP pro Kopf: 8.949; Bevölkerungsanteil unter 18: 32,6%
100
90
Prozent der Altersgruppe
Indien (2005/2006)
BIP pro Kopf: 2.489; Bevölkerungsanteil unter 18: 38,2%
Georgien (2005)
BIP pro Kopf: 4.009; Bevölkerungsanteil unter 18: 22,9%
Bolivien (2005)
BIP pro Kopf: 3.989; Bevölkerungsanteil unter 18: 43,7%
100
54,9
65
60
81,5
55
89,8
50
45
95,1
77,8
89,8
94,1
89,9
40
35
30
25
32,8
20
24,8
15
24,3
10
15,9
5
8,7
18,6
8,5
0
5
6
7
8
9
10
Alter
11
12
5,0
7,1
13
14
Wirtschaftlich aktiv sind Kinder, die mindestens eine Stunde in der Woche einer produktiven Tätigkeit nachgehen, unabhängig davon, ob sie bezahlt wird oder
nicht oder ob sie innerhalb oder außerhalb der Familie ausgeübt wird (ohne Mithilfe bei Hausarbeiten wie Kochen oder Geschwister hüten).
BIP pro Kopf: Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Kaufkraftparitäten (US-Dollar, 2006).
Bevölkerungsanteil unter 18: Anteil der unter 18-Jährigen an der Gesamtbevölkerung in Prozent (2006)
Quellen: International Labour Office, UNICEF, World Bank: Understanding Children’s Work. UCW country statistics (www.ucw-project.org); Zusammenstellung der
Daten auf der Grundlage von Haushaltsstichproben, das Jahr der Stichprobe ist bei obigen Schaubildern in Klammern nach dem Ländernamen angegeben; Bevölkerungsanteil unter 18: wie Schaubild 11; BIP pro Kopf: United Nations Development Programme (2008): Human Development Indices: A statistical update
© Werkstatt Ökonomie e.V.
2008, http://hdr.undp.org/en/mediacentre/news/title,15493,en.html
Seite 19
Kinderarbeit – Kinderrechte
Teil II
Der soziale und wirtschaftliche Kontext
von Kinderarbeit
Seite 20
Kinderarbeit – Kinderrechte
Kinderarbeit als Teil kultureller, sozialer und
wirtschaftlicher Strukturen
Eine kurze Problemanzeige
Ausmaß und Formen von Kinderarbeit werden durch eine Reihe kultureller, sozialer und wirtschaftlicher Faktoren geprägt,
wobei das Wechselspiel von nationalen und globalen, lokalen und regionalen Entwicklungen und Strukturen entscheidend ist.
Nur in diesem Zusammenhang kann Kinderarbeit verstanden werden. Dies ist eine Voraussetzung dafür, dass nachhaltige
Wege zur Durchsetzung der Rechte des Kindes gefunden werden können.
Vielfältig sind die Einflüsse soziokultureller Faktoren, dafür nur wenige Beispiele: In Südasien ist der Einfluss des Kastenwesens
auf Kinderarbeit offenkundig, die verbreitete Schuldknechtschaft ist eng mit demselben verbunden. In Indien gehen Kinder aus
unberührbaren Kasten („scheduled castes“) und der Stammesbevölkerung („tribes“) eher zur Schule, wenn sie aus muslimischen
als aus hinduistischen Familien stammen. In Ghana liegt die Schulbesuchsquote für Kinder aus christlichen Familien über der für
Kinder aus Familien, die sich einer indigenen Religion verpflichtet wissen. In der Elfenbeinküste übersteigt die Einschulungsrate
christlicher Kinder die muslimischer Jungen und (vor allem) Mädchen. Besonders ausgeprägt sind soziokulturelle Einflüsse, wenn
diese Eingang in das Rechtssystem gefunden haben: Wo es in Asien ein niedriges gesetzliches Mindestalter für die Eheschließung
gibt, ist die Schulbesuchsquote für Mädchen geringer als in Ländern, die ein späteres Heiratsalter vorschreiben.
Weiter ist die Situation arbeitender Kinder deutlich von den Strukturen der sie umgebenden Arbeitswelt geprägt, deren Teil sie
sind. Auf vielfältige Weise hängen Kinderarbeit, Jugendarbeitslosigkeit und Arbeitslosigkeit der Eltern miteinander zusammen.
Verhindert Kinderarbeit eine ausreichende Ausbildung, haben Jugendliche und junge Erwachsene geringere Chancen auf dem
Arbeitsmarkt. Dessen Nachfrage wirkt sich auch sonst auf Kinderarbeit aus, allerdings widersprüchlich, wie eine Studie aus Brasilien zeigte: Als die Nachfrage nach Arbeitskräften stieg, nahm auf dem Lande der Anteil der 10- bis 15-jährigen Jungen aus
ärmsten Haushalten zu, der arbeiten musste (und die Arbeitszeiten wurden länger). Sie reagierten also auf Veränderungen des
Arbeitsmarktes wie Erwachsene und suchten neue Verdienstmöglichkeiten. Weniger arme Haushalte aber nutzten die verbesserte Situation auf dem Arbeitsmarkt, um das Haushaltseinkommen durch vermehrte Erwerbsarbeit der Erwachsenen aufzustocken – sie schickten auch ältere Kinder in die Schule. Der Schulbesuch jüngerer Kinder schließlich nahm grundsätzlich zu.
In Äthiopien nimmt die Beschäftigungsquote von Jugendlichen in den Städten – nicht auf dem Lande – mit dem Alter ab: Ein
größerer Teil der 10- bis 17-Jährigen als der älteren Jugendlichen ist wirtschaftlich aktiv. Offensichtlich verdrängen Kinder und
Jugendliche junge Erwachsene vom Arbeitsmarkt. Ein anderes Beispiel: Bei hoher Jugendarbeitslosigkeit sehen sich Jugendliche zur Übernahme gefährlicher Arbeiten gezwungen. Deutlich von Strukturen des Arbeitsmarktes geprägt ist auch die Entlohnung von arbeitenden Kindern: Sind extrem niedrige Löhne für Erwachsene die Regel (Fischfang in Ghana, Baugewerbe in
Uganda), erhalten Kinder in etwa den gleichen Lohn wie Erwachsene. Erzwingt der Arbeitsmarkt hohe Löhne für Erwachsene,
weichen Arbeitgeber auf Kinderarbeit aus, die sie schlecht bezahlen.
Widersprüchlich sind die Auswirkungen von Globalisierungsprozessen: Einerseits können sie unter bestimmten Umständen
Modernisierungsprozesse fördern, die zur Stärkung der Menschen- und Kinderrechte beitragen, so kann zum Beispiel das südasiatische Kastenwesen unter Druck geraten. Andererseits können wirtschaftliche Globalisierungsprozesse eine De-Formalisierung oder gar Auflösung traditioneller Sozialstrukturen mit der Folge des Wegbrechens ihrer Schutzfunktionen erzwingen. Dies
ist vor allem dann der Fall, wenn es zu globalisierungsbedingten Wirtschaftskrisen kommt. Ein besonders bekanntes Beispiel
hierfür sind die Auswirkungen der so genannten Asienkrise 1997/1998, in deren Gefolge es in ostasiatischen Staaten zu einem
Anstieg der Häufigkeit von Kinderarbeit und zu einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen für Kinder kam. In Venezuela
führte die Krise von 2002/2003 dazu, dass 10- bis 14-Jährige zusätzlich zu ihrem Schulbesuch arbeiten mussten, und das vor
allem als unbezahlte Arbeitskräfte in ihren Familien. Auch in weiteren Ländern nehmen der Anteil arbeitender Kinder und ihre
Arbeitszeiten infolge wirtschaftlicher Krisen vorübergehend zu, wobei es meist zur vermehrten unbezahlten Mithilfe in der eigenen Familie kommt.
Strittig sind die Folgen von Handelsliberalisierungen. Mehrere theoretische Arbeiten unterstellen einen Rückgang von Kinderarbeit. Jüngere Studien legen aber nahe, dass Handelsliberalisierungen zwar langfristig durchaus zu einem Anstieg von Wohlstand und zu einem Rückgang von Kinderarbeit führen könnten, kurz- und mittelfristig aber häufig zur Folge haben, dass mehr
Kinder arbeiten müssen, dass sie länger arbeiten und dass sie dies unter schlechteren Bedingungen als zuvor tun. Eine Studie
zu Vietnam schätzte, dass aufgrund von Handelsliberalisierungen Mädchen und Kinder ethnischer Minderheiten zur Arbeit gezwungen wurden. In Peru nahm aufgrund von Handelsliberalisierungen die Erwerbstätigkeit von Frauen zu – und Kinder mussten häufiger und länger Hausarbeiten und wirtschaftliche Tätigkeiten im Haushalt verrichten.
Auch die Arbeitsmigration beeinflusst Ausmaß und Form von Kinderarbeit. Eine Studie zur Situation in ländlichen Gegenden Mexikos stellte fest, dass in Haushalten mit mindestens einem erwachsenen Arbeitsmigranten ein geringerer Anteil der Jungen wirtschaftlich aktiv war als in Haushalten ohne Einkommen durch Arbeitsmigration, für Mädchen war es gerade umgekehrt. Allerdings
nahm in Haushalten, die ein Mitglied zur Arbeitsaufnahme in anderen Landesgegenden oder im Ausland verließ, die wöchentliche Arbeitszeit der Jungen deutlich zu.
Seite 21
Kinderarbeit – Kinderrechte
Nicht zuletzt bedingt das Vordringen geldwirtschaftlicher Strukturelemente eine neue Formalisierung im Sinne einer Ökonomisierung der Arbeit von Kindern, wobei mitunter traditierte Formen unter Verletzung der Rechte des Kindes genutzt werden. Beispiele hierfür sind der Anstieg der Kinderarbeit in der südasiatischen Teppichindustrie seit Ende der 1980er Jahre oder
Kinderarbeit bei der Produktion von Baumwollsaaten. Aus Brasilien wird berichtet, dass der Anstieg der Weltmarktpreise für Kaffee dazu führte, dass Kleinbauern alles zur Steigerung ihrer Kaffeeproduktion unternahmen. Vor allem Eltern mit niedriger Bildung setzten daher verstärkt auf die Mithilfe ihrer Kinder.
Alle diese Faktoren beeinflussen die soziale Lage ebenso wie dies die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Länder tut. Sie sind daher
mitverantwortlich für das Ausmaß von Armut. Diese wiederum steht in einem engen, aber komplexen Zusammenhang mit Kinderarbeit. Denn keinesfalls ist es so, dass Ausmaß und Form von Kinderarbeit allein durch Armut erklärt werden könnten. Dies
zeigt bereits der Umstand, dass einige arme Familien Kinder zur Schule schicken, andere aber dies nicht tun.
Klaus Heidel, Werkstatt Ökonomie e.V.
Kinderarbeit wegen Armut?
Statistische Hinweise zum sozioökonomischen Kontext von Kinderarbeit
Unbestreitbar gibt es einen Zusammenhang von Kinderarbeit und Armut. Doch Armut allein erklärt das Ausmaß von Kinderarbeit nicht. Vielmehr ist dieser Zusammenhang komplexer, als er auf den ersten Blick zu sein scheint.
In armen Ländern ist Kinderarbeit häufiger als in reichen, dies versteht sich von selbst. Schaubild 9 versucht einen genaueren
Blick. Es geht der Frage nach, in welchem statistischen Zusammenhang die Wirtschaftskraft eines Landes mit dem Anteil der
wirtschaftlich aktiven 5- bis 14-Jährigen steht. Dabei wird als Indikator für die Wirtschaftskraft das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro
Kopf in US-Dollar (umgerechnet mithilfe von Kaufkraftparitäten und für das Jahr 2006) verwendet. Fast alle Länder, in denen
dieses Maß für die wirtschaftliche Stärke über 4.000 US-Dollar liegt, haben eine Kinderarbeitsquote von unter 15 Prozent – die
einzige Ausnahme ist Guatemala. Andererseits gibt es aber auch Länder mit einem BIP pro Kopf von unter 4.000 US-Dollar, in
denen ebenfalls weniger als 15 Prozent der 5- bis 14-Jährigen wirtschaftlich aktiv sind. Weiter ist auffällig, dass nahezu alle Länder, in denen das BIP pro Kopf weniger als 2.000 US-Dollar beträgt, Kinderarbeitsquoten von über 30 Prozent aufweisen. Hierbei handelt es sich fast ausschließlich um Länder in Afrika südlich der Sahara (die einzige Ausnahme ist Haiti). Doch diese Länder
haben deutlich unterschiedliche Anteile arbeitender Kinder: In Uganda sind es etwas über 30 Prozent – in Benin aber, das nur
unwesentlich reicher als Uganda ist, müssen über 65 Prozent aller 5- bis 14-Jährigen arbeiten.
Damit bestätigt das Schaubild, dass sehr hohe Kinderarbeitsquoten nur in sehr armen Ländern vorkommen. Es zeigt aber auch,
dass diese Länder hinsichtlich des Anteiles der jeweils arbeitenden Kinder keine einheitliche Gruppe darstellen – die Höhe der
Kinderarbeitsquote ist also nicht allein durch Armut erklärbar.
Kinderarbeit und extreme Armut
Wie aber hängt die Häufigkeit von Kinderarbeit mit der von extremer Armut zusammen? Hierzu setzt Schaubild 10 den Anteil
der Bevölkerung, die mit weniger als 1,25 US-Dollar am Tag (wiederum in Kaufkraftparitäten und für 2006) auskommen muss,
und die Kinderarbeitsquote in Beziehung. Zwar ist die Schwelle „1,25 US-Dollar am Tag“ als Grenze zu extremer Armut mit Sicherheit viel zu niedrig angesetzt, da es aber an dieser Stelle nur darum geht, die Bevölkerungsanteile der Menschen, die unter
einem gleichem Maß extremer Armut leiden, zu vergleichen, muss diese Einschränkung nicht stören.
Wiederum zeigt sich ein deutlicher Zusammenhang von Armut und Kinderarbeit: In allen Ländern, in denen zehn und weniger Prozent der Menschen nicht einmal 1,25 US-Dollar am Tag zur Verfügung haben, sind 15 und weniger Prozent der Kinder wirtschaftlich aktiv. Doch im Schaubild finden sich auch drei asiatische Länder, in denen der Anteil extrem Armer bei 40 bis 50 Prozent liegt,
und die dennoch eine Kinderarbeitsquote von unter 15 Prozent haben – in Usbekistan liegt sie gar unter fünf Prozent.
Umgekehrt müssen in fast allen Ländern mit einer Kinderarbeitsquote von über 30 Prozent mehr als 30 Prozent der Menschen in extremster Armut leben (die einzige Ausnahme ist die Elfenbeinküste, dort beträgt der Anteil extremst Armer etwa 23
Prozent). Wiederum wird die Gruppe der Länder, in denen Armut am verbreitetsten ist, weitgehend von Ländern in Afrika südlich der Sahara gestellt. Und wiederum stellt sich die Situation in diesen Ländern höchst unterschiedlich dar: In Benin leben etwa
47 Prozent der Menschen in extremster Armut, und 65 Prozent der Kinder arbeiten. In Liberia aber ist Armut viel häufiger – dort
leiden fast 85 Prozent der Bevölkerung unter extremster Armut, aber wesentlich weniger Kinder als in Benin sind wirtschaftlich
aktiv – nämlich rund ein Drittel.
Seite 22
Kinderarbeit – Kinderrechte
Schaubild 9:
Nicht alle armen Länder haben eine sehr hohe Kinderarbeitsquote
70
65
60
55
50
45
40
35
30
25
20
15
10
5
0
Benin
Sierra Leone
Georgien
Bolivien
Uganda
Montenegro
13.000
12.000
11.000
10.000
9.000
8.000
7.000
6.000
5.000
4.000
3.000
2.000
1.000
Argentinien
0
Kinderarbeitsquote I
Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Kaufkraftparitäten (US-Dollar, 2006) und Kinderarbeitsquote (2004-2006)
Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in US-Dollar (Kaufkraftparitäten 2006)
afrikanische Länder
lateinamerikanische Länder
asiatische Länder
europäische Länder
Kinderarbeitsquote I: Anteil aller 5-14-Jährigen, die mindestens eine Wochenstunde wirtschaftlich aktiv sind, in Prozent aller 5-14Jährigen, Daten für 2004 bis 2006
Länderauswahl: sämtliche Länder, für die vom Internationalen Arbeitsamt, von UNICEF und von der Weltbank neuere Haushaltsstichproben
(ab 2004) mit detaillierten Angaben über Kinderarbeit der 5- bis 14-Jährigen veröffentlicht wurden
Quellen: Kinderarbeitsquote: International Labour Office, UNICEF, World Bank: Understanding Children’s Work. UCW country statistics
(www.ucw-project.org), Zusammenstellung der Daten auf der Grundlage von Haushaltsstichproben; Bruttoinlandsprodukt pro Kopf: United
Nations Development Programme (2008): Human Development Indices: A statistical update 2008 (http://hdr.undp.org/en/
statistics/data/hdi2008/)
© Werkstatt Ökonomie e.V.
Nimmt Kinderarbeit zu, wenn Haushalte extremer Armut entfliehen?
Breiten Raum nimmt in der sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion über das Verhältnis von Armut und Kinderarbeit das so genannte Wohlstandsparadox ein. Danach soll das Verhältnis zwischen der Ressourcenausstattung von Haushalten und dem Ausmaß von Kinderarbeit (Anzahl der Kinder, die arbeiten, und Arbeitszeit) einem umgehrten U folgen: Gelänge es Haushalten, ein wenig der extremen Armut zu
entfliehen, nehme Kinderarbeit zu. Erst ab einer bestimmten Wohlstandsschwelle sei sie wieder rückläufiga). Die wenigen einschlägigen empirischen Studien kommen aber zu widersprüchlichen Ergebnissen:
Für ländliche Regionen Ghanas (2003) und Pakistans (2003) wurde gezeigt, dass Kinder in Haushalten mit Landbesitz eher und länger arbeiten
würden als in Haushalten ohne Landbesitz. In ländlichen Regionen Vietnams (2004) gelte Vergleichbares für Haushalte, die zugleich Kleinunternehmen seien. Auch in Guatemala (1999) würde in ländlichen Haushalten mit Besitz ein größerer Teil der Kinder arbeiten als in besitzlosen
Haushalten – allerdings wäre der Anteil der Kinder, die in eine Schule gingen, zugleich größer als in Haushalten ohne Besitz: die Mithilfe der
Kinder habe also Schulbesuch erst ermöglicht – vor allem aufgrund direkter Schulkosten (wie Gebühren und Kosten für Bücher, Schuluniformen
und Transport).
Etwas anders scheint die Situation in Äthiopien zu sein. Erwerben dort ländliche Familien Land, schicken sie ihre Kinder eher in die Schule als
zur Arbeit im Hof und auf dem Felde. Doch wenn sie ihren Viehbestand vermehren, tendieren sie dazu, ihre Kinder zum Hüten der Herde einzusetzen und womöglich aus der Schule zu nehmen – denn sie können sich keine bezahlten Hirten leisten. Wird der Zugang zu Krediten erleichtert, kaufen Familien eher Vieh als Land, was die Situation der Kinder verschlechtert. Erst wenn die Familien ihre Lage deutlich verbessern
können, sehen sie sich in der Lage, alle Kinder zur Schule gehen zu lassen.
In anderen Ländern scheint es keinen Zusammenhang zwischen Landbesitz der Familie und Schulbesuch der Kinder zu geben. In Indien (2006)
fehle der Zusammenhang, weil die Erträge der landwirtschaftlichen Kleinproduktion sehr gering seien.
a) Vgl. hierzu: Sonia Bhalotra and Christopher Heady (2003): Child Farm Labor: The Wealth Paradox. Department of Economics, University of Bristol, Discussion Paper
No 03/553
Seite 23
Kinderarbeit – Kinderrechte
Schaubild 10:
Bei verbreiteter extremer Armut sehr hohe Kinderarbeitsquoten
Anteil der Bevölkerung, die mit weniger als einem US-Dollar am Tag auskommen muss (Kaufkraftparitäten, 2006) und Kinderarbeitsquote (2004 – 2006)
70
Benin
65
60
Kinderarbeitsquote I
55
50
45
Elfenbeinküste
40
Malawi
35
Georgien
30
25
Haiti
Liberia
Thailand
20
15
10
5
Usbekistan
0
0
5
10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75
Anteil der Bevölkerung mit weniger als 1,25 US-Dollar am Tag in Prozent
afrikanische Länder
lateinamerikanische Länder
asiatische Länder
80
85
90
europäische Länder
Kinderarbeitsquote I: Anteil der 5-14-Jährigen, die mindestens eine Wochenstunde wirtschaftlich aktiv sind, in Prozent aller 5-14Jährigen, Daten für 2004 bis 2006
Länderauswahl: sämtliche Länder, für die vom Internationalen Arbeitsamt, von UNICEF und von der Weltbank neuere Haushaltsstichproben
(ab 2004) mit detaillierten Angaben über Kinderarbeit der 5- bis 14-Jährigen veröffentlicht wurden
Quellen: Kinderarbeitsquote: International Labour Office, UNICEF, World Bank: Understanding Children’s Work. UCW country statistics
(www.ucw-project.org), Zusammenstellung der Daten auf der Grundlage von Haushaltsstichproben; Anteil der Bevölkerung, die mit weniger als 1,25 US-Dollar am Tag auskommen muss: United Nations Development Programme (2008): Human Development Indices: A statistical update 2008 (http://hdr.undp.org/en/statistics/data/hdi2008/)
© Werkstatt Ökonomie e.V.
Besonders aufschlussreich ist es, wenn wir die Streuung der Quoten vergleichen: Offensichtlich ist jenseits der Grenze „30 Prozent extrem Arme“ Kinderarbeit sehr weit verbreitet. Ob dann aber ein größerer oder kleinerer Teil der Bevölkerung extrem arm
ist – die Quote streut von 30 bis fast 85 Prozent –, hat keinen Einfluss mehr auf die Häufigkeit von Kinderarbeit, deren Quote
kann dann bei 30, aber auch bei 65 Prozent liegen.
Auch hinsichtlich der Verbreitung extremer Armut zeigt sich also, dass sehr hohe Kinderarbeitsquoten nicht allein durch Armut
erklärt werden können. Zumindest die Häufigkeit von Kinderarbeit – das zeigen die Schaubilder 9 und 10 – hängt offensichtlich von weiteren Faktoren ab.
Alterstruktur und Kinderarbeit
Erstaunlich gering ist auch der statistische Zusammenhang zwischen der Häufigkeit von Kinderarbeit und der Altersstruktur von
Gesellschaften. Zwar ist es nahe liegend, dass in Ländern, in denen 50 und mehr Prozent der Bevölkerung aus Kindern und Jugendlichen besteht, Kinderarbeit sehr verbreitet ist. Dies ergibt sich allein aus dem Umstand, dass in diesen Ländern weniger Erwachsene zur Finanzierung von Kindern zur Verfügung stehen, als dies in Gesellschaften der Fall ist, die sich durch eine niedrige
Kinderquote auszeichnen. Und da diese „jungen“ Gesellschaften zugleich arme Länder mit verbreiteter extremer Armut sind, fehlen ihnen natürlich die finanziellen Ressourcen für staatliche Transferleistungen. Daher ist Kinderarbeit wahrscheinlich.
Vor diesem Hintergrund überrascht, was Schaubild 11 zeigt, dass nämlich vergleichsweise „junge“ Gesellschaften deutlich unterschiedliche Kinderarbeitsquoten haben. Stellen Kinder und Jugendliche in einem Land weniger als ein Drittel der Gesamtbevölkerung, liegt die Kinderarbeitsquote in der Regel bei unter 15 Prozent. Doch in der Gruppe der Länder mit
Bevölkerungsanteilen von unter 18-Jährigen von 20 bis 40 Prozent schwankt die Kinderarbeitsquote zwischen drei und 17 Prozent. Betrachten wir jetzt die Gruppe der sehr „jungen“ Länder, in denen Kinder und Jugendliche 45 oder mehr Prozent der
Seite 24
Kinderarbeit – Kinderrechte
Schaubild 11:
Afrika: rund die Hälfte unter 18, sehr hohe Kinderarbeitsquoten
Anteil der Bevölkerung unter 18 Jahren in Prozent der Gesamtbevölkerung und Kinderarbeitsquote (2004 – 2006)
70
Benin
65
60
Kinderarbeitsquote I
55
50
45
40
35
Georgien
30
Haiti
Uganda
25
20
Vietnam
Indien
15
10
5
Serbien
Honduras
0
0
5
10
afrikanische Länder
15
20
25
30
35
40
45
Bevölkerungsanteil der unter 18-Jährigen in Prozent
lateinamerikanische Länder
asiatische Länder
50
55
60
europäische Länder
Kinderarbeitsquote I: Anteil der 5-14-Jährigen, die mindestens eine Wochenstunde wirtschaftlich aktiv sind, in Prozent aller 5-14Jährigen, Daten für 2004 bis 2006
Länderauswahl: sämtliche Länder, für die vom Internationalen Arbeitsamt, von UNICEF und von der Weltbank neuere Haushaltsstichproben
(ab 2004) mit detaillierten Angaben über Kinderarbeit der 5- bis 14-Jährigen veröffentlicht wurden
Quellen: Kinderarbeitsquote: International Labour Office, UNICEF, World Bank: Understanding Children’s Work. UCW country statistics
(www.ucw-project.org), Zusammenstellung der Daten auf der Grundlage von Haushaltsstichproben; Anteil der Bevölkerung unter 18 Jahren an der Gesamtbevölkerung: UNICEF (2009): The State of the World’s Children 2009, S. 138 – 141
© Werkstatt Ökonomie e.V.
Bevölkerung stellen, sehen wir eine gewaltige Bandbreite von Kinderarbeitsquoten: von fünf Prozent (Honduras) bis 65 Prozent
(Benin): Offensichtlich erklärt die Altersstruktur einer Gesellschaft
die Verbreitung von Kinderarbeit nur zu einem Teil.
Diese erstaunlichen Befunde müssten nun mithilfe einer Untersuchung der Zusammenhänge von Altersstruktur, Armut und Formen von Kinderarbeit vertieft werden, erst dann sind auch
politisch relevante Schlussfolgerungen möglich. So wäre zum Beispiel zu fragen, ob die Länge der Arbeitszeiten in einem Zusammenhang mit der Häufigkeit extremer Armut steht. Dies aber ist an
dieser Stelle nicht möglich. Dennoch verweisen die obigen Befunde eindrücklich auf die Notwendigkeit, die Auseinandersetzung
mit Kinderarbeit wesentlich differenzierter zu führen, als dies bisher in der Öffentlichkeit weithin der Fall ist.
Klaus Heidel, Werkstatt Ökonomie e.V.
Mosambik, Foto: Dr. Hans-Martin Große-Oetringhaus, terre des hommes
Seite 25
Kinderarbeit – Kinderrechte
Teil des globalen Fließbandes
Kinderarbeiter in der formellen Ökonomie
Sonntagvormittag im Slum Nandnagri in der indischen Hauptstadt Delhi: Durgha, zwölf Jahre alt, sitzt auf dem Boden des kleinen Zimmers, das ihr Zuhause ist. Sie stickt unfassbar schnell winzige Pailletten auf bereits maschinell bestickten Stoff. So
schnell und exakt kann nur jemand sticken, der lange Übung hat. Durgha hat mit neun Jahren angefangen. Zwei Meter pro Tag
muss sie schaffen, damit genug Geld hereinkommt. Zwei Meter pro Tag, das sind sechs bis sieben Stunden Arbeit für das Mädchen, der Lohn dafür beträgt 40 Rupien (etwa 70 Cent). Durgha geht zur Schule und stickt – für etwas anders bleibt keine Zeit.
Ihre Mutter arbeitet als Hausmädchen, der große Bruder arbeitet morgens vor der Schule auf dem Markt. Zusammen schaffen
sie es, die Miete und das Essen zu bezahlen. Einmal in der Woche liefert ein Mittelsmann neue Ware, kontrolliert die fertigen
Sachen und bezahlt. Er kontrolliert genau, der kleinste Fehler bedeutet weniger Geld. Undenkbar, dass die Ware nicht fertig ist
– dann gäbe es keinen neuen Auftrag. Der Mittelsmann bringt manchmal Stoffbahnen, daraus werden Saris gemacht. Manchmal T-Shirts oder Blusen, die exportiert werden. Einen Vertrag gibt es nicht, die Mutter ist die Ansprechpartnerin und stickt
abends und an ihrem freien Tag ebenfalls.
Durgha ist Teil der globalen Zulieferkette in der Textilindustrie. Sie weiß nicht, wohin die T-Shirts und Blusen exportiert werden
und wie viel anderswo damit verdient wird. Das Mädchen hat oft Kopfschmerzen. Manchmal schläft sie in der Schule ein. Ihre
Schulfreundinnen sticken ebenfalls. Die Eltern sind froh über diesen Verdienst und froh, dass die Töchter zu Hause arbeiten
können, da sind sie wenigstens sicher.
Kinder wie Durgha schuften für den Weltmarkt,
so wie hunderttausende Mädchen und Jungen:
Sie sticken oder nähen Pailletten auf T-Shirts, sie
ziehen mit ihren Eltern zur Erntezeit auf Baumwoll- oder Kaffeeplantagen, sie schuften in Steinbrüchen oder schürfen Erz. Heimarbeit und das
„Mithelfen“ um den Akkordlohn zu schaffen sind
in vielen Branchen an der Tagesordnung und
eine Folge von Hungerlöhnen für Erwachsene.
In manchen Branchen werden Kinder auch direkt und unabhängig von ihren Eltern beschäftigt, so zum Beispiel auf kommerziellen
Plantagen, in Steinbrüchen und Weiterverarbeitungsbetrieben und in Schleifereien für künstliche Edelsteine. Die Arbeit dieser Kinder ist
informell und illegal – und dennoch Teil der formellen Wirtschaft. Denn die Textilfabrik, die die
Aufträge erteilt, der Natursteinexporteur und die
Plantage sind angemeldet und haben Lizenzen,
sie liefern für heimische Märkte und für den
Kinderarbeit in der Baumwollindustrie, Indien, Foto: Theo Dom, terre des hommes
Weltmarkt. Die Arbeitgeber zahlen Steuern und
sind in Arbeitgeber- und Exportverbänden organisiert. Die Betriebe produzieren Qualität und sind fit für den Weltmarkt – und
die Preise sind unschlagbar günstig. Denn die Arbeitsbedingungen sind kaum reguliert: Sozialleistungen werden nicht gewährt,
es gibt keinen Urlaub und soviel Arbeitsstunden, wie nötig sind um Aufträge fertig zu stellen. Gesetze, wie etwa das Verbot der
Ausbeutung von Kindern, werden nicht beachtet. Arbeits- oder Gewerbeaufsicht existieren nicht oder sind überlastet oder korrupt. Gewerkschaften oder Arbeitsvertretungen werden massiv verhindert.
Durgha ist stolz darauf, dass ihre Familie es schafft: „Wir halten zusammen“, sagt sie „und mein Bruder und ich können sogar
zur Schule gehen.“ Aber wenn die Reispreise steigen? Oder wenn jemand krank wird? Oder der Mittelsmann nicht mehr kommt?
Dann müsste sie die Schule verlassen und ebenfalls als Dienstmädchen arbeiten. Wenn das nicht reicht, muss auch der Bruder die Schule abbrechen. Sie könnten in einen anderen Slum umziehen, in dem die Mieten noch niedriger sind.
Sozialpolitische Maßnahmen würden Durgha und ihre Familie entlasten: Die Schule ist zwar kostenlos, doch die Schuluniformen
nicht. Ein kostenloses Mittagessen in der Schule würde ebenfalls Geld sparen. Eine Krankenversicherung würde die Angst vor
Krankheit, Arztkosten und Arbeitsverlust verringern. Ein Mindestlohn für Hausmädchen würde mehr Verdienst für Durghas Mutter
bedeuten. Ferne Träume für die Menschen in Nandnagri. Durgha bleibt nur die Hoffnung, dass alles gut geht. Tag für Tag.
Barbara Küppers, terre des hommes
Seite 26
Kinderarbeit – Kinderrechte
Die meisten Kinder arbeiten auf dem Land
Statistische Hinweise
Die meisten Kinder arbeiten auf dem Land, und dort ist der Anteil arbeitender Kinder am größten. Dies gilt für fast alle Länder. Im Einzelnen zeigen sich jedoch beträchtliche Unterschiede.
Vielfältig sind die wirtschaftlichen Aktivitäten von Kindern auf dem Land. Sie arbeiten in der Landwirtschaft, auf dem Bau, in kleinen Bergwerken und Steinbrüchen, sie fahren Mini-Busse, verkaufen Erzeugnisse ihrer Familie auf dem Markt oder schuften
(vor allem, aber nicht nur Mädchen) in fremden Haushalten. Ein Teil ihrer Aktivitäten zielt auf den Markt, ein kleiner Teil wird
bezahlt, der größte Teil geschieht in der eigenen Familie – vom Sammeln des Brennholzes über das Hüten von Tieren bis hin
zu handwerklichen Arbeiten. Diese Kinderarbeit auf dem Land gehört vor allem in Afrika südlich der Sahara zum Alltag.
Auf dem Land arbeiten in den meisten afrikanischen Ländern, aber auch in Bangladesch, Indien, Thailand und Vietnam schon
deshalb die meisten Kinder, weil diese Länder einen eher geringen Verstädterungsgrad haben. In Äthiopien leben 84 Prozent
der Bevölkerung auf dem Land, in Uganda sind es 87 Prozent und in Indien 71 Prozent. Von den in Tabelle 3 erfassten Ländern in Afrika südlich der Sahara wird nur Liberia von den Städten geprägt, dort leben 60 Prozent der Bevölkerung Liberias. In
Lateinamerika ist der Verstädterungsgrad wesentlich höher und reicht für die in Tabelle 3 aufgeführten Länder von 40 Prozent
(Haiti) bis 85 Prozent (Brasilien).
Vor allem ist in Afrika südlich der Sahara der Anteil der wirtschaftlich aktiven 5- bis 14-Jährigen in vielen Ländern wesentlich höher
als in Städten, wie Tabelle 3 zu entnehmen ist. Am schärfsten ist das Stadt-Land-Gefälle in Äthiopien ausgeprägt. Dort gehen
3,1 Prozent der 5- bis 14-Jährigen in den Städten arbeiten, ohne eine Schule zu besuchen, auf dem Land aber sind es fast 41
Prozent. Umgekehrt ist der Anteil der Kinder, die in die Schule gehen, ohne arbeiten zu müssen, in den Städten deutlich höher
als auf dem Land. Für die Gruppe der Kinder, die arbeiten und in die Schule gehen, sind die Unterschiede zwischen Stadt und
Land in den meisten Ländern geringer.
In den afrikanischen Städten stellen die nicht arbeitenden Schülerinnen und Schüler die größte Gruppe der 5- bis 14-jährigen –
lediglich im Tschad und in Benin ist dies anders. Dort ist die Verbindung von Arbeit und Schule auch in den Städten der Regelfall.
Auf dem Land aber sind entweder die Anteile der ausschließlich arbeitenden Kinder oder derer, die Arbeit und Schule miteinander verbinden, deutlich größer als die der ausschließlich zur Schule gehenden – bis auf die Ausnahmen Senegal und Uganda.
Insgesamt werden also die ländlichen Regionen Afrikas ganz entschieden durch Kinderarbeit geprägt. Dies gilt für Lateinamerika
und Asien nicht in gleichem Maße: Auch dort sind die Anteile der ausschließlich arbeitenden Kinder auf dem Land größer als in
den Städten, obgleich sie nie die Größenordnung erreichen, die für Afrika typisch ist – in Lateinamerika reichen sie von 1,2 Prozent (Brasilien) bis 7,5 Prozent (Haiti). Fast immer sind die Kinderarbeitsquoten für die Kinder, die Arbeiten und zugleich in die
Schule gehen, auf dem Land höher – in Bolivien verbinden gar rund 41 Prozent der Kinder auf dem Land Schule und Arbeit.
Klaus Heidel, Werkstatt Ökonomie e.V.
Straßenverkäuferin, Dorf bei Bucaramanga, Kolumbien, Foto: Dr. Manfred Liebel, ProNats
Seite 27
Kinderarbeit – Kinderrechte
Tabelle 3:
In Afrika starkes Stadt-Land-Gefälle
Kinderarbeits- und Schulbesuchsquoten der 5- bis 14-Jährigen in Prozent (2004 – 2006)
Äthiopien
Tschad
Mali
Somalia
Niger
Benin
Guinea
Bissau
Stadt
Land
nur Arbeit
3,1
40,9
Arbeit u. Schule
8,2
14,6
Liberia
Sambia
Senegal
Uganda
Land
nur Arbeit
1,8
8,1
Arbeit u. Schule
4,7
12,6
89,8
75,3
nur Schule
60,0
9,2
nur Arbeit
10,3
33,7
nur Arbeit
5,3
5,9
Arbeit u. Schule
46,2
14,0
Arbeit u. Schule
5,1
9,7
nur Schule
22,7
28,4
nur Schule
72,2
67,2
nur Arbeit
12,7
33,0
nur Arbeit
3,0
5,1
Arbeit u. Schule
13,4
17,0
Arbeit u. Schule
7,6
10,1
nur Schule
42,3
12,1
nur Schule
75,9
66,0
7,3
32,0
nur Arbeit
0,8
2,5
Arbeit u. Schule
18,0
16,4
Arbeit u. Schule
7,5
18,1
nur Schule
52,3
20,0
nur Schule
89,8
75,3
nur Arbeit
13,2
31,8
0,4
0,6
Arbeit u. Schule
17,4
11,7
Arbeit u. Schule
11,4
12,8
nur Schule
42,1
13,1
nur Schule
85,8
83,1
nur Arbeit
18,4
30,5
2,1
7,5
Arbeit u. Schule
41,9
38,2
Arbeit u. Schule
14,8
28,5
nur Schule
27,5
14,1
nur Schule
75,5
48,1
nur Arbeit
7,4
26,9
nur Arbeit
3,9
6,2
Arbeit u. Schule
21,9
29,4
Arbeit u. Schule
7,5
14,2
nur Schule
54,9
17,7
nur Schule
78,9
63,7
9,8
26,8
nur Arbeit
0,9
5,8
Arbeit u. Schule
12,9
23,8
Arbeit u. Schule
3,2
14,5
nur Schule
51,3
23,2
nur Schule
91,8
70,1
5,5
26,3
nur Arbeit
1,2
4,0
Arbeit u. Schule
33,8
40,0
Arbeit u. Schule
2,8
8,7
nur Schule
52,4
20,2
nur Schule
87,7
71,0
9,0
21,1
nur Arbeit
0,4
3,6
Arbeit u. Schule
18,6
14,9
Arbeit u. Schule
5,4
40,6
nur Schule
37,4
15,1
nur Schule
91,7
53,3
nur Arbeit
2,2
19,4
nur Arbeit
1,2
3,6
Arbeit u. Schule
8,2
39,3
Arbeit u. Schule
1,9
3,3
nur Schule
67,6
19,0
nur Schule
89,1
77,3
nur Arbeit
10,6
19,4
nur Arbeit
0,5
3,3
Arbeit u. Schule
14,1
14,0
Arbeit u. Schule
1,3
5,8
nur Schule
49,1
25,1
1,5
2,8
Arbeit u. Schule
11,2
nur Schule
79,0
nur Arbeit
Elfenbeinküste nur Arbeit
Sierra Leone
Irak
Stadt
nur Arbeit
nur Arbeit
nur Arbeit
nur Schule
Bangladesch
Indien
Vietnam
Thailand
Haiti
Guatemala
Ecuador
Nicaragua
Bolivien
Honduras
Kolumbien
nur Arbeit
nur Arbeit
94,1
82,3
nur Arbeit
0,2
1,2
31,3
Arbeit u. Schule
2,8
15,3
52,6
nur Schule
92,1
74,8
nur Schule
Brasilien
Quelle: International Labour Office, UNICEF, World Bank: Understanding Children’s Work. UCW country statistics (www.ucw-project.org), Zusammenstellung der Daten auf der Grundlage von Haushaltsstichproben
© Werkstatt Ökonomie e.V.
Seite 28
Kinderarbeit – Kinderrechte
Tatort Familie
Die „Arbeitgeber“ der Kinder
Kinder arbeiten vor allem in ihren Familien. Sie helfen in der Landwirtschaft. Sie verkaufen Produkte, die im Haushalt ihrer Familien erzeugt wurden, auf dem Markt. Sie helfen im elterlichen Handwerksbetrieb mit – und sie tun dies ohne Bezahlung.
Im Gegensatz hierzu geht nur ein kleiner Teil der wirtschaftlich aktiven 5- bis 14-Jährigen einer Erwerbsarbeit außerhalb der
eigenen Familie nach – dann meist als bezahlte Arbeitskraft, mitunter auch auf eigene Rechnung.
In den meisten Ländern, für die neuere Daten vorliegen, arbeiten mehr als 50 Prozent aller wirtschaftlich aktiven Kinder im Alter
von fünf bis 14 Jahren ausschließlich in der eigenen Familie – in einigen Ländern sind es sogar 90 Prozent und mehr (so in Äthiopien, Sambia, Somalia, Uganda und Bolivien). Schaubild 12 stellt die entsprechenden Anteile zusammen. Von den dort erfassten
31 Ländern fallen nur Niger, der Senegal, Georgien und Indien aus dem Rahmen. Dort gibt es einen großen Teil der Kinder, die sowohl in ihren Familien als auch außerhalb arbeiten. Da es aber keine Daten darüber gibt, wie sich die Arbeit in und außerhalb der
Familie zeitlich aufteilt, ist diese Gruppe in Schaubild 12 nicht erfasst. Nicht zuletzt zeigt sich, dass die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen gering ausfallen. Lediglich im Senegal ist der Anteil der ausschließlich in der eigenen Familie arbeitenden Jungen deutlich höher als der der Mädchen, und in Venezuela ist es gerade umgekehrt. Dieser Befund überrascht, wird doch oft
behauptet, Mädchen arbeiteten vor allem zu Hause und Jungen außerhalb. Dem ist (in den meisten Ländern) nicht so.
Allerdings ist für eine kinderrechtliche Bewertung der Tatsache, dass der größte Teil der Kinder ausschließlich in der eigenen Familie arbeitet, von Belang, dass diese Arbeit in vielen Fällen genauso schädlich sein kann wie die Arbeit außerhalb der Familie.
Kinder, die Tiere hüten müssen, sind der Hitze und wilden Tieren ausgesetzt. In der Kleinlandwirtschaft der Familie lauern die
gleichen Gefahren wie sonst – vom Einsatz gefährlicher Chemikalien bis hin zur Verletzungsgefahr durch Maschinen. Nicht zuletzt können die Arbeitszeiten im Familienbetrieb extrem lang sein. Hierfür ist Äthiopien ein Beispiel, wie wir Tabelle 4 entnehmen können1. Sie dokumentiert den Beschäftigungsumfang für alle Kinder und Jugendlichen – da aber in Äthiopien rund 95
Prozent der Jungen und Mädchen ausschließlich in der eigenen Familie arbeiten, erlaubt sie Rückschlüsse auf die Arbeitsbelastung der Kinder und Jugendlichen als unbezahlte Arbeitskräfte in ihren Familien. Hierbei ist zu bedenken, dass die Mithilfe
bei Hausarbeiten nicht berücksichtigt ist. Dass diese beträchtlich sein kann, deutet Schaubild 13 auf Seite 32 an.
Insgesamt zeigt Tabelle 4, dass vor allem die jüngsten Kinder unter extremster Arbeitsbelastung leiden: 18,5 Prozent aller wirtschaftlich aktiven Jungen im Alter von fünf bis neun Jahren und 11,2 Prozent der Mädchen dieser Altersgruppe arbeiten mehr
als 57 Stunden in der Woche. Immerhin 40 bis
57 Wochenstunden schuften 28,9 Prozent der
Jungen und 23,6 Prozent der Mädchen – auch
Tabelle 4:
dies ist für Fünf- bis Neunjährige eine gänzlich
Äthiopien: Lange Arbeitszeiten in der Familie
untragbare Belastung, die jeden Schulbesuch
Beschäftigungsumfang nach Alter und Geschlecht, ohne Mithilfe bei Hausarbeiten,
ungefähr 2000
unmöglich macht. Werden die Kinder älter,
nimmt die Arbeitsbelastung ab: Von den arbeiAnteil der wirtschaftlich aktiven Kinder
tenden 15- bis 17-jährigen Jungen haben nur
an allen wirtschaftlich aktiven Kindern
mit einer Wochenarbeitszeit
noch 9,5 Prozent und von den gleichaltrigen
Mädchen 5,5 Prozent extrem lange Arbeitszeivon
von
von
bis 21
22 bis 39
40 bis 57
über 57
ten
(über 57 Wochenstunden) – 51,6 Prozent
Stunden
Stunden
Stunden
Stunden
der älteren Mädchen arbeitet gar „nur“ bis zu 21
5 bis 9 Jahre
Stunden in der Woche. Allerdings ist davon auszugehen, dass sie statt wirtschaftlicher AktivitäJungen
24,7%
27,9%
28,9%
18,5%
ten jetzt verantwortlich für Hausarbeiten sind –
Mädchen
36,6%
28,5%
23,6%
11,2%
vom Kochen bis zur Betreuung jüngerer Ge10 bis 14 Jahre
schwister. Angesichts dieser Befunde muss betont werden, dass die Mithilfe in der eigenen
Jungen
33,5%
30,0%
21,2%
15,2%
Familie durchaus den Tatbestand gefährlicher ArMädchen
45,8%
31,5%
15,3%
7,2%
beit im Sinne der IAO-Standards erfüllen kann.
15 bis 17 Jahre
Jungen
36,5%
34,7%
19,6%
9,5%
Mädchen
51,6%
29,2%
13,7%
5,5%
Quelle: Federal Democratic Republic of Ethiopia, Central Statistical Authority (2001): Ethiopia
Child Labour Survey Report 2001
1
Zwar beziehen sich die Angaben in Tabelle 4 ungefähr auf das Jahr 2000 und sind daher veraltet, es gibt
aber keine statistischen Hinweise dafür, dass sich die Arbeitsbelastung der Kinder und Jugendlichen in der
Zwischenzeit wesentlich verändert hätte (neuere vergleichbare Statistiken liegen nicht vor).
Bezahlte Kinderarbeit ist die
Ausnahme
Überraschend klein ist der Anteil der wirtschaftlich aktiven Kinder, die ausschließlich außerhalb
der Familie gegen Bezahlung arbeiten – in Afrika
liegt er immer unter zehn, häufig sogar unter
Seite 29
Kinderarbeit – Kinderrechte
Schaubild 12:
90
80
70
60
50
40
30
20
Uganda
Tschad
Togo
Somalia
Sierra Leone
70
60
50
40
30
20
Nicaragua
Venezuela
Tschad
Uganda
Kolumbien
Guatemala
Ecuador
Bolivien
Brasilien
Argentinien
Thailand
Indien
Bangladesh
0
Georgien
10
Mädchen
100
90
80
70
60
50
40
30
20
Mädchen
Togo
Somalia
Sierra Leone
Senegal
Sambia
Niger
Mali
Malawi
Liberia
Kongo
Guinea-Bissau
Ghana
Gambia
Ägypten
0
Elfenbeinküste
10
Jungen
Seite 30
Senegal
80
Äthopien
Anteil an allen wirtschaftlich aktiven 5- bis 14-Jährigen
in Prozent
… in Afrika
Niger
90
Jungen
II. Bezahlte Arbeit
Anteil der wirtschaftlich aktiven
5- bis 14-Jährigen, die ausschließlich außerhalb ihrer Familie einer bezahlten Arbeit
nachgehen, in Prozent aller
wirtschaftlich aktiven Kinder
Mädchen
100
Bosnien-Herz.
… in Europa, Asien und
Lateinamerika
Anteil an allen wirtschaftlich Aktiven 5- bis 14-Jährigen
in Prozent
Jungen
Sambia
Mali
Malawi
Liberia
Kongo
Ghana
Guinea-Bissau
Elfenbeinküste
0
Gambia
10
Ägypten
… in Afrika
100
Äthopien
I. Arbeitgeber Familie:
Anteil der wirtschaftlich aktiven
Kinder, die ausschließlich in
ihrer eigenen Familie arbeiten,
in Prozent aller wirtschaftlich
aktiven Kinder
Anteil an allen wirtschaftlich aktiven 5- bis 14-Jährigen
in Prozent
In vielen Ländern arbeiten Kinder vor allem in ihren Familien
Arbeitgeber der wirtschaftlich aktiven 5- bis 14-Jährigen (2004-2006)
100
90
80
70
60
50
40
30
20
Venezuela
Nicaragua
Kolumbien
Guatemala
Ecuador
Bolivien
Mädchen
100
90
80
70
60
50
40
30
20
Jungen
Venezuela
Nicaragua
Kolumbien
Guatemala
Ecuador
Bolivien
Brasilien
Argentinien
Uganda
0
Sambia
10
Äthopien
III. Kinder als „Selbständige“
Anteil der wirtschaftlich aktiven 5bis 14-Jährigen, die ausschließlich
als „Selbständige“ außerhalb ihrer
Familie arbeiten, in Prozent aller
wirtschaftlich aktiven Kinder
Anteil an allen wirtschaftlich aktiven 5- bis 14-Jährigen
in Prozent
Jungen
Brasilien
Argentinien
Thailand
Indien
Bangladesh
0
Georgien
10
Bosnien-Herz.
… in Europa, Asien und
Lateinamerika
Anteil an allen wirtschaftlich aktiven 5- bis 14-Jährigen
in Prozent
Kinderarbeit – Kinderrechte
Mädchen
Arbeit in der Familie: ausschließlich (unbezahlte) wirtschaftliche Aktivitäten, ohne Mithilfe bei Hausarbeiten
Quelle: International Labour Office, UNICEF, World Bank: Understanding Children’s Work. UCW country statistics (www.ucw-project.org), Zusammenstellung
der Daten auf der Grundlage von Haushaltsstichproben
© Werkstatt Ökonomie e.V.
fünf Prozent. In Lateinamerika und Asien gehen deutlich größere Anteile der arbeitenden Jungen und Mädchen ausschließlich
außerhalb ihrer Familien einer Erwerbsarbeit nach – in Kolumbien sind dies sogar 35 Prozent der Jungen, in den meisten der
in Schaubild 12 erfassten Länder aber unter 20 Prozent. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass Kinder, die sowohl einer
bezahlten Arbeit außerhalb ihrer Familie nachgehen als auch zu Hause arbeiten, nicht erfasst sind.
Auffällig ist, dass nur in zwei der 18 afrikanischen Länder, für die Schaubild 12 Daten zusammenstellt, ein deutlicher Unterschied
zwischen den Geschlechtern festzustellen ist: Nur in Ägypten und in Togo geht ein größerer Teil der Jungen als der Mädchen
ausschließlich einer Erwerbsarbeit nach. Gänzlich anders ist es in Lateinamerika: In Bolivien, Ecuador, Kolumbien und Venezuela
geht ein größerer Teil der Jungen als der Mädchen einer bezahlten Arbeit nach, in Brasilien aber sind es eher die Mädchen, die
außer Haus arbeiten.
Noch kleiner scheinen die Anteile der Kinder zu sein, die auf eigene Rechnung („self employed“) arbeiten2 – hierunter fällt zum
Beispiel die Gruppe der wirtschaftlich aktiven Straßenkinder. Ihre Tätigkeiten reichen vom Schuheputzen bis zum Verkauf von
Süßigkeiten. Sie werden oft porträtiert und prägen zu einem guten Teil das Bild von Kinderarbeit, das in der Öffentlichkeit
Deutschlands vorherrscht. Doch in Wirklichkeit scheint nur ein sehr kleiner Teil der arbeitenden Kinder ausschließlich auf eigene
Rechnung zu arbeiten (allerdings gibt es nur für wenige Länder entsprechende Daten, für Afrika fehlen sie weitgehend). Deutliche Ausnahmen sind Argentinien (dort arbeiten fast 40 Prozent der wirtschaftlich aktiven Jungen und über 25 Prozent der Mädchen „selbständig“) und Venezuela.
2 Für das im Englischen benutzte „self employment“ gibt es keine angemessene Übersetzung: „Selbstbeschäftigung“ wäre ebenso irreführend wie „Selbständige“.
Seite 31
Kinderarbeit – Kinderrechte
Schaubild 13:
Auch Jungen Helfen bei Hausarbeiten
5- bis 14-Jährige, die Hausarbeiten verrichten: Anteil an allen Kindern der Altersgruppe in Prozent (linke Y-Achse) und
Wochenarbeitszeit in Stunden (rechte Y-Achse)
35
60
30
50
25
40
20
30
15
20
10
10
5
0
0
45
80
40
70
35
60
30
50
25
40
20
30
15
20
10
10
5
0
0
Anteil
Alter
Somalia
Äthiopien
45
90
45
80
40
80
40
70
35
70
35
60
30
60
30
50
25
50
25
40
20
40
20
30
15
30
15
20
10
20
10
10
5
10
5
0
0
0
0
7
10
13
5
8
11
14
Alter
7
10
13
5
8
11
14
90
5
8
11
14
6
9
12
50
Anteil der 5- bis 14-Jährigen, die Hausarbeit verrichten, in Prozent
100
Wochenarbeitszeit in Stunden
50
5
8
11
14
6
9
12
100
Wochenarbeitszeit in Stunden
Somalia
Anteil der 5- bis 14-Jährigen, die Hausarbeit verrichten, in Prozent
Wochenarbeitszeit in Stunden
70
90
7
10
13
5
8
11
14
40
50
5
8
11
14
6
9
12
80
Anteil der 5- bis 14-Jährigen, die Hausarbeit verrichten, in Prozent
45
100
7
10
13
5
8
11
14
90
Wochenarbeitszeit in Stunden
Mali
50
5
8
11
14
6
9
12
Anteil der 5- bis 14-Jährigen, die Hausarbeit verrichten, in Prozent
Elfenbeinküste
100
Alter
Quelle: International Labour Office, UNICEF, World Bank: Understanding Children’s Work. UCW country statistics (www.ucw-project.org), Zusammenstellung der
Daten auf der Grundlage von Haushaltsstichproben
© Werkstatt Ökonomie e.V.
Anteil Jungen mit Hausarbeit
Page 3
Anteil Mädchen mit Hausarbeit
Seite 32
Wochenstunden Jungen
Wochenstunden Mädchen
Klaus Heidel, Werkstatt Ökonomie e.V
Kinderarbeit – Kinderrechte
Informelle Ökonomie – bevorzugter Ort von Kinderarbeit
Informalität als Normalität
Allgemein bekannt und oft genannt wird, dass Kinder weit überwiegend in der informellen Ökonomie arbeiten. Zu ihr zählen
der größte Teil der Haushalte, die in Landwirtschaft und Kleingewerbe wirtschaftlich aktiv sind, so wie der größte Teil der
Kleinst- und Kleinbetriebe, in denen Kinder arbeiten. Auch wenn Kinder in fremden Familien – etwa als Hausmädchen – arbeiten, ist dies ein Teil der informellen Ökonomie. Zu ihr gehören auch wirtschaftliche Tätigkeiten von Straßenkindern. Nur ein
kleiner Prozentsatz der arbeitenden Kinder findet sich in der formellen Ökonomie – dann aber in informeller Arbeit (wenn ihre
Tätigkeit nicht in Übereinstimmung mit IAO-Standards ist).
Dass Kinder vor allem in der informellen Ökonomie arbeiten, ist nicht erstaunlich. Denn die meisten Menschen in Afrika, Asien
und Lateinamerika arbeiten entweder in der informellen Ökonomie oder sind informell in der formellen Ökonomie beschäftigt. Ihre Zahl wird nach Schätzungen der OECD infolge der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2007 weltweit weiter ansteigen1, nachdem sie sich bereits seit den 1970er Jahren beständig ausgeweitet hatte. Heute ist die informelle Ökonomie in
den meisten Ländern des Südens die „normale“, weil vorherrschende Ökonomie: In Afrika südlich der Sahara sind zwischen
70 und 90 Prozent aller Arbeitsplätze außerhalb der Landwirtschaft informell (in informellen Unternehmen oder als informelle
Beschäftigung in formellen Unternehmen), in Süd- und Südostasien sind es knapp 70 Prozent und in Lateinamerika über 50
Prozent. Würde die Landwirtschaft einbezogen, wären diese Anteile noch größer (allerdings liegen keine verlässlichen Statistiken über das Ausmaß informeller Beschäftigung in der Landwirtschaft vor).
Besonders hoch ist der Anteil der Frauen, die informell beschäftigt sind: In Indien und Indonesien finden sich 90 Prozent aller
außerhalb der Landwirtschaft arbeitenden Frauen in der informellen Ökonomie, in Benin, in Mali und im Tschad sind es gar 95
Prozent.
Deshalb kann der volkswirtschaftliche Beitrag der informellen Ökonomie kaum überschätzt werden. In einigen afrikanischen Ländern südlich der Sahara werden bis zu 38 Prozent des Bruttoinlandsproduktes in der informellen Ökonomie erwirtschaftet, in
Indien waren es in den 1990er Jahren sogar 62 Prozent, in Mexiko immerhin noch 13 Prozent.
Hinzu kommt, dass informelle und formelle Ökonomie miteinander verzahnt sind und die Abgrenzung zwischen beiden nicht
einfach ist. Breit ist die Grauzone. So ragen logistische Ketten der formellen Ökonomie weit in die informelle Ökonomie hinein.
Ein altes Beispiel hierfür ist die Teppichindustrie Südasiens mit ihren Knüpfstühlen in Kleinstbetrieben, die oft Kinder beschäftigten – und die doch für große Handelshäuser in Europa und Nordamerika produzierte. In solche Wertschöpfungsketten werden auch Haushalte als Produktionseinheiten eingebunden, dies dürfte etwa für die Textil- und Bekleidungsindustrie gelten. Hier
aber finden sich auch informelle Beschäftigungsverhältnisse in formellen Unternehmen, die zum Beispiel Jugendliche beschäftigen. Dies belegt eine Studie aus dem Jahre 2009 über die Textilindustrie in der südindischen Industriestadt Tirupur.
Denn dort war Kinderarbeit keinesfalls in der textilen Heimindustrie zu finden, sondern in den formellen Fabriken selbst2, die
auf diese Weise zum Bindeglied zwischen formeller und informeller Ökonomie wurden.
Unterschiedliche Beschäftigungsverhältnisse
In der informellen Ökonomie finden sich unterschiedliche Beschäftigungsverhältnisse. Ein großer Teil der informell Arbeitenden
ist „selbständig“ („self employed“), in Pakistan und Bangladesch trifft dies für 70 Prozent der Beschäftigten zu. Hierbei liegen
die Anteile der Frauen in der Regel über denen der Männer. So sind in Mali rund 85 Prozent aller informell arbeitenden Frauen
ihre eigenen „Arbeitgeberinnen“. Sehr häufig ist auch unbezahlte Arbeit im eigenen Haushalt als Ort wirtschaftlicher Aktivität.
Je nach Beschäftigungsverhältnissen fällt die soziale Lage unterschiedlich aus, keinesfalls ist es so, dass alle informell Beschäftigten arm sind, wohl aber sind nahezu alle Arme in der informellen Ökonomie zu finden. Generell aber gilt, dass die informelle
Ökonomie durch eine dreifache Unsicherheit geprägt ist.
– Folgenreich ist die Rechtsunsicherheit: Informelle Unternehmen haben kaum Zugang zu formalen Rechtsmitteln, da sie
keine juristische Person sind. Werden sie Opfer unlauterer Geschäfte, können sie in der Regel keinen Rechtsweg beschreiten, um zum Beispiel formelle Unternehmen zu verklagen, von denen sie betrogen wurden. Kleinunternehmen in informellen Siedlungen müssen es hinnehmen, wenn diese Siedlungen geräumt und die Hütten – die oft zugleich als Wohnund Gewerbestätte dienen – zerstört werden, denn sie haben keine Eigentumstitel. Beschäftigte können die Einhaltung von
1
Vgl. hierzu: Johannes P. Jütting, Juan R. de Laiglesia (Ed.) (2009): Is Informal Normal? Towards more and better Jobs in Developing Countries. An OECD Development Centre Perspective, Paris.
2
Vgl. hierzu: Froukje Maria Gaasterland (2009): Being a Good Girl. The construction of childhood in Tiripur, India, Amsterdam.
Seite 33
Kinderarbeit – Kinderrechte
Arbeitsgesetzen nicht rechtlich erzwingen, wird ihnen zum Beispiel zu Unrecht gekündigt, fehlen ihnen juristische Möglichkeiten, um dagegen vorzugehen.
– In der informellen Ökonomie gibt es keine ökonomische Sicherheit. Unternehmen haben kaum Zugang zu formellen Krediten. Sie leben in der Regel „von der Hand in den Mund“.
– Auch soziale Sicherheit ist nicht vorhanden. Berufliche Karriereplanung ist nicht möglich. Systeme sozialer Sicherheit zum
Schutz vor Krankheit, Arbeitslosigkeit und Altersarmut fehlen.
Informelle Organisation der Gesellschaft
Angesichts der Normalität von Informalität ist es unzureichend, wenn informelle Ökonomie nur negativ durch ihre Abweichungen von der formellen Ökonomie definiert wird. Nach der Definition der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) ist eine Beschäftigung informell, wenn (a) die Beschäftigungsverhältnisse außerhalb des arbeitsrechtlichen Schutzrahmens liegen, (b) sie
nicht registriert und (c) nicht steuerlich erfasst ist. Informell sind Unternehmen ohne (a) Registrierung, (b) juristische Person,
(c) Rechtstitel, (d) steuerliche Erfassung und (e) Kontrolle durch die Gewerbeaufsicht3. Diese Definitionen sind zutreffend, sie
sind aber nicht ausreichend.
Denn sie nehmen nicht wahr, dass die informelle Ökonomie Teil eines informellen sozioökonomischen Settings ist, das alle Lebensbereiche umfasst – von informellen Siedlungen („Slums“) über informelle Bildungssysteme bis hin zu einem informellen
Gesundheitswesen. Diese umfassenden Strukturen alltäglicher Informalität haben eigene Regulierungsmechanismen gebildet
– vom informellen Stadtteilkomitee im Slum bis zu Streitschlichtungsmechanismen (etwa für informelle Taxifahrer in Südafrika).
Der Zugang zu Krediten wird informell geregelt, informell sind Ausbildungsstrukturen, kurz: Die informelle Ökonomie ist – und
das gilt in besonderer Weise für Afrika südlich der Sahara – Teil einer umfassenden informellen Organisation von Gesellschaft
jenseits formaler staatlicher Strukturen. Sind diese schwach, entsteht so ein „informeller“ Staat im formellen.
In dieser umfassenden Informalität wachsen Kinder auf. Sie tun dies in informellen Mehrheitsgesellschaften, die in vielen Ländern von jungen Menschen geprägt werden. So ist in vielen afrikanischen Ländern mehr als die Hälfte der Bevölkerung unter
18 Jahre alt. Diese Zusammenhänge müssen bedacht werden, wenn Wege gefunden werden sollen, um die Rechte des Kindes unter den Bedingungen der Informalität durchzusetzen.
Klaus Heidel, Werkstatt Ökonomie e.V.
Kinderarbeit auf dem Land
Das Beispiel Äthiopien
In nahezu allen Ländern Afrikas gehört Kinderarbeit zum sozialen Alltag. Nach dem Bericht des Internationalen Arbeitsamtes
von 2006 arbeiten in der Altersgruppe von fünf bis 14 Jahren von 165 Millionen Kindern 49 Millionen in Afrika südlich der
Sahara. Das sind 26 Prozent aller arbeitenden Kinder weltweit. Im südlichen Afrika arbeiten in der Altersgruppe der Fünf- bis
Neunjährigen nahezu 24 Prozent aller Kinder, in der Altersgruppe der Zehn- bis 14-Jährigen sogar 35 Prozent und sieben von
zehn Kindern in der Landwirtschaft.
Die Ursachen für Kinderarbeit stehen in engem Zusammenhang mit dem Zerfall traditioneller sozialer Strukturen, der einhergeht mit zunehmender Verarmung und dem Ausschluss von jedweder Schulbildung für den Großteil aller Kinder und Jugendlichen. Arbeitslosigkeit, ungerechte Landverteilung, Verschuldung und Preisverfall der Rohstoffe führen dazu, dass Familien auf
die Einkünfte aus Kinderarbeit angewiesen sind. Die Verflechtung dieser Faktoren und der damit verbundene Anstieg von ausbeuterischer Kinderarbeit lassen sich am Beispiel Äthiopiens besonders deutlich aufzeigen.
Äthiopien gehört mit seinen rund 80 Millionen Einwohnern zu den zehn ärmsten Ländern der Erde. Rund zwei Drittel der Bevölkerung lebt in absoluter Armut. Der Bevölkerungsanteil von Kindern liegt bei über 50 Prozent, d.h. mehr als die Hälfte der Äthiopier ist 18 Jahre alt und jünger. Nur knapp 20 Prozent der Gesamtbevölkerung leben in Städten. Ein Großteil des Landes ist zum
einen geprägt von wenig erschlossenen Tiefebenen und zum anderen von unwegsamen Hochgebirgslagen. Demnach besteht
die Mehrheit der Bevölkerung Äthiopiens aus Kindern und Jugendlichen, die auf dem Land in absoluter Armut leben. Obwohl es
auch nach äthiopischem Recht verboten ist Kinder unter 14 Jahren zu beschäftigen, arbeiten in der oben angesprochenen Altersgruppe der fünf- bis 14-jährigen Kinder in Äthiopien 37 Prozent aller Mädchen und sogar 47 Prozent aller Jungen. Kinderarbeit ist somit in Äthiopien der Regelfall, wobei mehr als 80 Prozent der arbeitenden Kinder in ländlichen Gebieten leben.
3
Vgl. hierzu: International Labour Office (2002): Decent work and the informal economy. International Labour Conference, 90th Session, 2002, sixth item on the agenda, Geneva.
Seite 34
Kinderarbeit – Kinderrechte
Durch die meist katastrophale Lebenssituation auf dem Land sind sie
gezwungen zum wirtschaftlichen Überleben beizutragen. Denn die wirtschaftliche Not lässt ihren Familien oft keine andere Wahl. Für eine
Schulausbildung bleibt in diesem Kontext zumeist kein Raum. Viele Familien sind zu arm, um ihre Kinder in die Schule zu schicken. Schulgeld,
„inoffizielle“ Gebühren, Uniform und Schulmaterial sind für die Eltern
unbezahlbar. Die Kinder müssen mitarbeiten und haben keine Zeit für
den Unterricht. Zudem erreicht das äthiopische Schulsystem in ländlichen Gebieten noch nicht einmal jedes zweite Kind. Es fehlen Schulen,
Ausstattung und Unterrichtsbücher. Lehrer sind ungenügend ausgebildet, viele Klassen zu voll. Zudem ist der Unterrichtsstoff oft lebensfremd.
Unter diesen Bedingungen halten viele Eltern Arbeit für sinnvoller als
die Schule und nehmen ihre Kinder wieder aus dem Unterricht.
Statt Schule müssen sie in der Regel Tätigkeiten verrichten, für die sie
keine besondere Qualifikation mitbringen müssen.
Im amharischen Nordwesten Äthiopiens zeigt sich diese Problematik in
einem besonderen Ausmaß. Die Bevölkerung in der West Gojjam Zone
(ca. 400 km nordwestlich von der Hauptstadt Addis Abeba) lebt
hauptsächlich von der Landwirtschaft. Erstaunlicherweise ist es eine
Zone, die im Vergleich zu anderen Regionen Äthiopiens eher
Überschüsse produziert. Die Produktivität sinkt jedoch Jahr für Jahr
infolge des massiven Bevölkerungswachstums, es ist daher die größte
Gefahr für die landwirtschaftliche Produktion. Denn es führt dazu, dass
das Land unter immer mehr Menschen aufgeteilt werden muss und der
Kinderarbeit in Äthiopien: in der eigenen Familie, auf dem Land
Foto: Kindernothilfe
Boden übernutzt wird. Über 53 Prozent der Menschen, die hier in der
Landwirtschaft arbeiten, sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren.
In den drei Woredas (Distrikten) Bure, Wonberima und Jabitenan gibt es allein 35.000 Kinderarbeiter (Child Kenja). Die
landwirtschaftliche Überproduktion schaftt eine große Nachfrage nach billigen Arbeitskräften. Trotz der landwirtschaftlichen
Erträge gibt es aber viele Familien, die an den wirtschaftlichen Gewinnen nicht teilhaben und daher nur eine Möglichkeit sehen
Geld zu verdienen: Indem sie ihre Kinder als Kinderarbeiter an wohlhabenere Farmer verkaufen. Diese Familien sind vor allem
von Frauen geführte Haushalte sowie kinderreiche Familien, die nur wenig Land besitzen und nicht alle Familienmitglieder
ernähren können. Das große Angebot an Kinderarbeit führt andererseits dazu, dass den Kindern und Jugendlichen trotz der
schweren Arbeit, die sie leisten müssen, sehr schlechte Löhne gezahlt werden. Die Löhne erhalten jedoch nur die wenigsten
Kinder persönlich ausgezahlt, meistens erhalten die Eltern den Lohn oder Mittelsmänner, die den Arbeitsvertrag angebahnt
haben.
Solche in der Regel einjährigen Arbeitsverträge werden üblicherweise an Markttagen zwischen dem Haushaltsvorstand der
Familie des Kindes und dem anstellenden Farmer in einem der lokalen Bierhäuser ausgehandelt. Sie treten üblicherweise nach
einer zweiwöchigen Probezeit in Kraft, in der sich die Kinder in der neuen Familie bewähren müssen. Der Preis wird variabel
gestaltet und entweder in Geld oder in einer vereinbarten Menge von Getreide festgelegt. Verpflichtet sich der Farmer das Kind
zur Schule zu schicken, so wird der zu zahlende Betrag entsprechend reduziert. Auch das Alter und die körperliche Belastbarkeit
bestimmen den Preis. Vier von zehn verkauften Kindern sind hier unter acht Jahre alt.
Die Kinderarbeiter erhalten meistens nichts anderes als Essen und eine erbarmungswürdige Behausung, wenn sie nicht
überhaupt im Freien oder bei den Tieren im Stall schlafen müssen. Jungen werden zumeist für alle in der Landwirtschaft
anfallenden Arbeiten sowie für das Viehhüten eingesetzt. Mädchen verüben vornehmlich Haushaltstätigkeiten und sind zuständig
für das Wasserholen und das Sammeln von Feuerholz. Die wöchentliche Arbeitszeit liegt zwischen 50 und 70 Stunden. Ein
möglicher Schulbesuch reduziert lediglich die Arbeitszeit bei den Jungen. Von Mädchen wird erwartet, dass sie alle im Haushalt
anfallenden Arbeiten vor oder nach Schule vollständig erledigen. Die Kinderarbeiter sind nicht in der Lage über Art und Ausmaß
ihrer Arbeitsbedingungen zu verhandeln. Manchmal werden sie auch unterjährig ohne Bezahlung einfach fortgejagt. Andere
flüchten auch von sich aus aus solchen Arbeitsverhältnissen. Sie landen zumeist in den größeren Städten und müssen sich als
Straßenkinder oder in der Prostitution verdingen.
So wie den Kindern in der äthiopischen West Gojjam Zone geht es vielen Kindern in ländlichen Gebieten Afrikas südlich der
Sahara. Trotz eindeutiger nationaler Gesetzgebungen werden grundlegende Rechte des Kindes, wie das Recht auf Gesundheit,
das Recht auf Erholung und das Recht auf Bildung, in besonderem Ausmaß verletzt. Diesen Rechtsverletzungen sind vor allem
die jüngeren Kinder wehrlos ausgesetzt.
Jörg Lichtenberg, Kindernothilfe
Seite 35
Kinderarbeit – Kinderrechte
Kinderarbeit und Bildung
Beispiele aus Lateinamerika
„Kinderarbeit verbieten: Schule ist der beste Arbeitsplatz.“ Diese These, Schule und Arbeit von Kindern schlössen sich gegenseitig
aus und allgemeine Schulpflicht sei das geeignete Instrument, um Kinderarbeit abzuschaffen, wird von vielen Seiten vertreten. Die
pauschale Bewertung von Arbeit als Problem und Schulbildung als ‚Allheilmittel’ sollten allerdings kritisch hinterfragt werden.
Bis zu den europäischen Sozialreformen des 19. Jahrhunderts wurde Arbeit als selbstverständliche Aktivität von Kindern angesehen und positiv bewertet. Erst dann erlangte die Schulbildung immer mehr Wichtigkeit, um gut ausgebildete Arbeitskräfte für
Industrie und Verwaltung zu bekommen. Es kam zu einer Trennung der Sphäre von Kindern und Erwachsenen sowie von Bildung und Arbeit, die in vielen anderen Kulturen so nicht zu finden ist.
Der Wirkungszusammenhang von Arbeit und Bildung lässt sich allerdings – anders als es die oben genannte These suggeriert
– nicht eindeutig festlegen. Vielmehr kommt es sowohl auf den kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Kontext als auch auf
die Bedingung der Arbeit sowie die Form und Qualität von Bildungsangeboten an.
Arbeit kann sich in verschiedener Weise negativ auf Bildung auswirken, da Kinder aus zeitlichen und örtlichen Gründen nicht
in der Lage sind, gleichzeitig zu arbeiten und zur Schule zu gehen. Auch kann Arbeit dazu führen, dass Kinder psychisch oder
physisch überfordert sind, so dass sie schlechte Leistungen in der Schule zeigen. Diese Argumentation führt häufig dazu, Kindern im Schulalter Arbeit zu verbieten, damit sie zur Schule gehen und dort bessere Leistungen erbringen können. Dabei wird
vernachlässigt, dass beispielsweise armen Kindern der Schulbesuch erst durch Arbeit ermöglicht wird, da Schulbesuch und
Schulmaterial finanziert werden müssen.
Auch wird nicht berücksichtigt, dass die Entscheidung von Kindern und Familien, die Schule nicht zu besuchen, möglicherweise
freiwillig getroffen wird, da sie an Relevanz und Qualität von Bildungseinrichtungen zweifeln. Berücksichtigt man beispielsweise
die Tatsache, dass 70 Prozent der so genannten Kinderarbeit im ländlichen Sektor stattfindet, aber Curricula staatlicher Bildungseinrichtungen oftmals nicht an die Lebensverhältnisse und Bedürfnisse der Menschen im ländlichen Raum angepasst sind,
wird deutlich, warum Eltern und Kinder die Bedeutung von Schule skeptisch beurteilen.
Denkt man über den Wirkungszusammenhang von Arbeit und Bildung nach, sollten auch die positiven Wirkungen bzw. der Bildungswert von Arbeit erwähnt werden. Legt man ein ganzheitliches Konzept von Bildung zugrunde, geht es um die Entwicklung der unterschiedlichen Fähigkeiten von Kindern in verschiedenen Lernumgebungen. Dazu kann Arbeit ebenso wie Schule
gehören. Positiv kann sich Arbeit insofern auswirken, als Schulthemen Praxisbezug erhalten und nachhaltiges Lernen ermöglicht oder weil dadurch der Übergang ins Arbeitsleben erleichtert wird.
Interessant ist insbesondere die Perspektive der arbeitenden Kinder selbst. In Lateinamerika, Afrika und Asien haben sich in den
letzten Jahrzehnten Organisationen arbeitender Kinder gebildet, die in erster Linie für ihre Würde als arbeitende Kinder und somit
für verbesserte Lebens- und Arbeitsbedingungen kämpfen. Dazu gehören auch bessere Möglichkeiten für arbeitende Kinder,
ihr Recht auf Grundbildung umzusetzen. Zu einer umfassenden Bildung gehört aber auch eine Bildung, die aus der Arbeit entspringt und sich mit Arbeit vereinbaren lässt. Dies verdeutlicht ein Auszug aus der Deklaration des VI. Treffens der arbeitenden
Kinder und Jugendlichen Lateinamerikas und der Karibik im Jahr 2001 in Paraguay: „Wir, als lateinamerikanische und karibische
Bewegung der NATs1, sind der Ansicht, dass es ein Recht zu arbeiten gibt, davon ausgehend, dass Arbeit den Menschen Würde
gibt, da sie eine praktische Form des Lernens, eine Quelle der Bildung und des Familieneinkommens ist.“
Studien zeigen, dass Kinder ihre Arbeit für eine wichtige Erfahrung und Vermittlung von relevantem Wissen halten, und dass die
beste Bildung aus einer Kombination von Schule und begrenzter Arbeit unter würdigen Bedingungen besteht. Dies stimmt mit Erkenntnissen über die Entwicklung von Kindern überein, die besagen, dass Kinder über vielfältige Begabungen und Lernfähigkeiten
verfügen und verschiedene Lernumgebungen und Erfahrungen benötigen, um die unterschiedlichen Fähigkeiten voll zu entfalten.
Die Überzeugung, Schule und Arbeit miteinander zu verbinden, hat in den vergangenen Jahren mehr und mehr Anhänger gefunden. Beide Bereiche können auf unterschiedliche Art mit einander kombiniert werden: Lernen kann mit Arbeit geschehen, wenn
Schule zeitlich und örtlich der Arbeit angepasst wird. Lernen kann durch Arbeit erfolgen, was z.B. bei einem Ausbildungssystem
oder berufspraktischen Kursen der Fall ist. Des Weiteren kann auch von Arbeit gelernt werden, wie beispielsweise im Rahmen von
Straßenbildungsprogrammen. Hier liegt der Schwerpunkt auf Bewusstsein bildenden Prozessen und der Förderung von Selbstvertrauen und Organisationsfähigkeiten, damit sich die Kinder in verschiedenen Arbeitssituationen behaupten können.
In vielen Ländern des Südens gibt es mittlerweile unterschiedlichste Arten von Alternativschulen, die meistens von Nichtregierungsorganisationen unterstützt werden. In diesen wird auf praxis- und subjektbezogene Art eine Kombination von Arbeit und
Schule gesucht. Selbstverständlich muss es langfristig das Ziel sein, dass die Staaten qualitativ hochwertige, relevante und angepasste Bildungsmöglichkeiten anbieten. Allerdings können solche Initiativen aus dem zivilgesellschaftlichen Bereich dazu dienen, Erfahrungen zu sammeln und Methoden sowie Curricula zu erproben.
Julia Burmann, Kindernothilfe
1
NATs: Niños, Niñas y Adolescentes Trabajadores (Arbeitende Kinder und Jugendliche).
Seite 36
Kinderarbeit – Kinderrechte
Teil III
Kinderarbeit - Kinderrechte
Seite 37
Kinderarbeit – Kinderrechte
Auch arbeitende Kinder haben Rechte
Zur Notwendigkeit einer differenzierenden kinderrechtlichen Perspektive
Im Mittelpunkt jeder Auseinandersetzung mit Kinderarbeit müssen die arbeitenden Kinder und Jugendlichen als Träger von
Rechten stehen. Erforderlich ist also eine subjektorientierte Sichtweise, die nicht bei der Frage stehen bleibt, ob und wie Kinderarbeit verboten oder abgeschafft werden könnte, sondern die Wege sucht, um die Rechte des Kindes in einem arbeitsweltlichen Umfeld durchzusetzen. Eine solche kinderrechtliche Perspektive müht sich um Differenzierungen und richtet sich
an dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes aus.
„Die“ Kinderarbeit gibt es nicht
Ursachen, Formen und Folgen von Kinderarbeit sind höchst unterschiedlich, „die“ Kinderarbeit gibt es nicht. Dies zeigt bereits
ein erster Blick auf die verschiedenen Ausprägungen von Kinderarbeit: So sind zum Beispiel die Lebens- und Arbeitsbedingungen
sehr junger indischer Kinder, die in Schuldknechtschaft arbeiten müssen – sei es in Kleinstbetrieben des verarbeitenden Gewerbes, sei es in der Landwirtschaft oder in privaten Haushalten –, völlig anders als die von älteren Kindern, die – zum Beispiel
in lateinamerikanischen Ländern – als Straßenhändlerinnen und -händler Geld verdienen, um sich einen Schulbesuch leisten
zu können.
Schon allein deshalb greift eine undifferenzierte Diskussion über ein Verbot beziehungsweise über die Abschaffung „der“ Kinderarbeit zu kurz.
– Wer Kinder sexuell ausbeutet, versklavt oder in bewaffneten Konflikten missbraucht, begeht ein Verbrechen und muss bestraft werden. Auch wenn die Zahl der Kinder, die Opfer solcher Verbrechen sind, unerträglich hoch ist, muss doch immer
wieder daran erinnert werden, dass solche kriminellen Verletzungen grundlegender Rechte des Kindes keinesfalls den Regelfall von Kinderarbeit darstellen1.
– Von den weltweit 165,9 Millionen 5- bis 14-Jährigen, deren wirtschaftliche Tätigkeiten Kinderarbeit im Sinne der Standards
der Internationalen Arbeitsorganisation sind, gehen 91,4 Millionen einer Arbeit nach, die nicht als gefährlich zu bezeichnen
ist. Im Blick auf diese Kinder muss geprüft werden, auf welche Weise ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen so verbessert
werden können, dass grundlegende Rechte nicht verletzt werden. Hierbei besteht unter bestimmten Umständen die Gefahr, dass strikte Verbote die Situation der Kinder verschlechtern könnten und sie verwundbarer gegenüber Verletzungen ihrer
Rechte würden.
– Zu bedenken ist weiter, dass viele Haushalte in armen Ländern zumindest mittelfristig auf die Arbeit von Kindern angewiesen sind, um überleben zu können. Dies gilt in besonderem Maße für die meisten Länder in Afrika südlich der Sahara, hier
sind 50 und mehr Prozent ihrer Bevölkerung Kinder und Jugendliche. Extreme Armut, unzureichende Bildungssysteme,
Vertreibungen und kriegerische Auseinandersetzungen führen dazu, dass Kinder arbeiten müssen. Maßnahmen zur Durchsetzung der Rechte des Kindes müssen daher an den Ursachen für Verletzungen dieser Rechte ansetzen und dürfen auch
deshalb nicht dabei stehen bleiben, Verbote auszusprechen.
– Eine differenzierende Sichtweise muss sich stets darum bemühen, die jeweils konkreten (und von Land zu Land, ja, selbst
innerhalb eines Landes unterschiedlichen) Lebens- und Arbeitsbedingungen von Kindern in den Zusammenhang wirtschaftlicher und sozialer Strukturen und Entwicklungen zu stellen und zum Beispiel Kinderarbeit als Teil einer arbeitsweltlichen Wirklichkeit zu begreifen. Hierzu gehört auch die Berücksichtigung soziokultureller Faktoren. So ist das in einer
(Teil-)Gesellschaft vorherrschende Bild von Kinderarbeit maßgeblich geprägt vom jeweiligen Arbeitsbegriff. Ein Beispiel: Körperliche Arbeit gilt in der indischen Kastengesellschaft als gesellschaftlich minderwertige Tätigkeit, die niedrigen Kasten zugewiesen wird. In einem solchen Kontext ist Kinderarbeit immer Ausfluss sozialer Ausgrenzung. In der Welt der
Andenbewohner aber wurde Arbeit – auch körperliche Arbeit – immer mit Stolz verbunden. Hier ist die Arbeit von Kindern
in einem traditionellen Sozialgefüge immer auch ein Mittel zur Individuation und Sozialisation von Kindern.
Die Notwendigkeit einer differenzierenden Sichtweise muss auch deshalb betont werden, weil es noch immer Stimmen gibt,
die pauschal die Abschaffung „der“ Kinderarbeit fordern. So erklärte der Rat der Europäischen Union am 26. Mai 2008 seine
Entschlossenheit, „den Kampf gegen jede Form von Kinderarbeit zu unterstützen“.
1
Vgl. hierzu die statischen Angaben auf den Seiten 6 bis 9.
Seite 38
Kinderarbeit – Kinderrechte
UN Kinderrechtskonvention: ein Kanon von Rechten
Die Auseinandersetzung mit den Lebens- und Arbeitsbedingungen von Kindern in kinderrechtlicher Perspektive findet ihre Orientierung in dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes. Dieses Übereinkommen enthält einen
Kanon von sich bedingenden Rechten, die daher in ihrem Zusammenhang gesehen werden müssen.
So schreibt Artikel 32 des Übereinkommens das Recht des Kindes fest, vor wirtschaftlicher Ausbeutung geschützt zu werden,
ohne jedoch diesen unbestimmten Rechtsbegriff zu entfalten. Würde daher nur dieser Artikel in der Auseinandersetzung mit
Kinderarbeit berücksichtigt, bliebe der Begriff „wirtschaftliche Ausbeutung“ unscharf. Doch da dieses Recht mit vielen weiteren
Rechten des Kindes zusammenhängt, helfen diese Rechte bei der Klärung der Frage, wann wirtschaftliche Ausbeutung von Kindern vorliegt. Ein Beispiel: Artikel 28 des Übereinkommens nennt das Recht auf Bildung. Verhindern die Arbeitsbedingungen
von Kindern den Zugang zu diesem Recht, sind sie nicht hinzunehmen.
Bedeutsam sind nicht zuletzt die Partizipationsrechte. Aus ihnen folgt, dass arbeitende Kinder und Jugendliche an der Entwicklung und Umsetzung von Maßnahmen zur Durchsetzung ihrer Rechte beteiligt werden müssen. Hierbei kommt den Organisationen arbeitender Kinder und Jugendlicher besondere Bedeutung zu.
Schutz vor wirtschaftlicher Ausbeutung und weitere Rechte:
Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes
Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989 schreibt in Artikel 32 den Schutz des Kindes
vor wirtschaftlicher Ausbeutung fest:
„Artikel 32
(1) Die Vertragsstaaten erkennen das Recht des Kindes an, vor wirtschaftlicher Ausbeutung geschützt und nicht zu einer Arbeit herangezogen
zu werden, die Gefahren mit sich bringt, die Erziehung des Kindes behindern oder die Gesundheit des Kindes oder seine körperliche, geistige,
seelische, sittliche oder soziale Entwicklung schädigen könnte.
(2) Die Vertragsstaaten treffen Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozial- und Bildungsmaßnahmen, um die Durchführung dieses Artikels sicherzustellen. Zu diesem Zweck und unter Berücksichtigung der einschlägigen Bestimmungen anderer internationaler Übereinkünfte werden die
Vertragsstaaten insbesondere
a) ein oder mehrere Mindestalter für die Zulassung zur Arbeit festlegen;
b) eine angemessene Regelung der Arbeitszeit und der Arbeitsbedingungen vorsehen;
c) angemessene Strafen oder andere Sanktionen zur wirksamen Durchsetzung dieses Artikels vorsehen.“
Doch nicht nur dieser Artikel muss beachtet werden, wenn es um die Verwirklichung der Rechte des Kindes auch für arbeitende Kinder geht. Vielmehr definiert das Übereinkommen eine ganze Reihe von Schutz-, Förder- und Partizipationsrechten, die in jedem Falle auch für arbeitende Kinder gelten und die sich wechselseitig bedingen.
– Zu den im Blick auf Kinderarbeit besonders wichtigen Schutzrechten gehören das Recht auf Schutz der Privatsphäre und Ehre (Artikel 16),
das Recht auf Schutz vor Gewaltanwendung, Misshandlung und Verwahrlosung (Artikel 19), das Recht auf Schutz vor sexuellem Missbrauch
(Artikel 34), das Recht auf Schutz vor sonstiger Ausbeutung (Artikel 36) und der Schutz bei bewaffneten Konflikten (Artikel 38).
– Die Förderrechte umfassen unter anderem das Recht „auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit“ (Artikel 24), das Recht auf soziale Sicherheit (Artikel 26), das Recht auf angemessene Lebensbedingungen (Artikel 27) und das Recht auf Bildung (Artikel 28).
– Wichtige Partizipationsrechte sind das Recht auf Berücksichtigung des Kindeswillens (Artikel 12), das Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit (Artikel 13) und das Recht auf Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit (Artikel 15).
Klaus Heidel, Werkstatt Ökonomie e.V.
Seite 39
Kinderarbeit – Kinderrechte
Nirgendwo arbeiten Kinder so lange wie in Bolivien
Große Unterschiede bei der durchschnittlichen Wochenarbeitszeit
Von entscheidender Bedeutung für eine kinderrechtliche Bewertung der Arbeitsbedingungen von Kindern ist die Arbeitszeit.
Müssen Kinder viele Stunden am Tag arbeiten, werden sehr wahrscheinlich viele ihrer Rechte – und nicht nur das Recht auf
Bildung – verletzt. Allerdings sind extrem lange Arbeitszeiten keinesfalls in allen Ländern mit verbreiteter Kinderarbeit die
Regel.
In einigen Ländern müssen schon sehr junge Kinder extrem lang arbeiten. So liegt die durchschnittliche Wochenarbeitszeit in
Äthiopien für achtjährige Jungen, die arbeiten, ohne in die Schule gehen zu können, bei rund 38 Stunden. Hinter diesem Durchschnittswert verbergen sich aber große Unterschiede: Rund ein Viertel der Jungen arbeitet bis zu 21 Stunden in der Woche,
fast ein Fünftel aber 57 Stunden und mehr. Solche extrem langen Arbeitszeiten sind ohne Zweifel eine schwere Verletzung der
Rechte des Kindes. In anderen Ländern – wie zum Beispiel Gambia und Liberia – liegt die durchschnittliche Arbeitszeit selbst
für ausschließlich wirtschaftlich aktive 14-Jährige bei rund zehn Wochenstunden.
Schaubild 14 stellt die Wochenarbeitszeiten für Jungen und Mädchen in 24 Ländern zusammen. Erfasst wurden alle Länder,
für die neuere plausible1 Angaben (nicht älter als aus dem Jahre 2004) vorliegen, und in denen mehr als fünf Prozent aller 5bis 14-Jährigen wirtschaftlich aktiv sind. Auch wenn diese Daten aufgrund methodischer Schwierigkeiten vorsichtig interpretiert
werden müssen, lassen sich doch einige – zum Teil überraschende - Beobachtungen zu:
– Die Arbeitszeit der ausschließlich wirtschaftlich aktiven 5- bis 14-Jährigen scheint in Lateinamerika länger als in vielen afrikanischen Ländern zu sein. Zwar liegt der Durchschnitt für ältere Jungen in Äthiopien und Somalia bei 40 und mehr Wochenstunden, doch in sechs afrikanischen Ländern beträgt er 20 und weniger Wochenstunden. In Bolivien, Guatemala,
Honduras und Nicaragua müssen aber zumindest die älteren Jungen deutlich länger als 40 Stunden in der Woche arbeiten (in Bolivien sogar über 50 – und das im Durchschnitt).
– Während die Arbeitszeit der 5- bis 14-Jährigen, die nicht zur Schule gehen, von Land zu Land sehr unterschiedlich ist, gilt
dies in weit geringerem Maße für Kinder, die Schule und Arbeit miteinander verbinden: Im ersten Falle reicht die Spanne
von über 50 Wochenstunden (Bolivien) bis zu fünf Wochenstunden (Liberia), im zweiten Falle von 30 (Somalia) bis zu fünf
(Liberia und Georgien). Daher fallen die Unterschiede zwischen den Arbeitszeiten der Kinder, die ausschließlich wirtschaftlich
aktiv sind, und der Kinder, die Schule und Arbeit verbinden, dort besonders groß aus, wo die erste Gruppe besonders lange
arbeiten muss. Vor allem in Afrika aber gibt es mehrere Länder, wo beide Gruppen (Arbeit mit und ohne Schulbesuch) ungefähr gleich lang arbeiten – ein Hinweis auf den komplexen Zusammenhang von Kinderarbeit und Schule.
– Offensichtlich haben wir es mit sehr unterschiedlichen Typen von Kinderarbeit zu tun: In Lateinamerika (aber auch in Bangladesch und Indien) arbeitet nur ein kleiner Teil der Kinder, ohne in die Schule gehen zu können – dafür aber arbeiten sie
besonders lang. In Afrika ist Kinderarbeit ohne Schulbesuch häufiger, die Kinder arbeiten aber in vielen Ländern kürzer.
– In den meisten der im Schaubild 14 erfassten Länder nimmt die Arbeitszeit mit dem Alter der Kinder zu. Zu den wenigen
Ausnahmen gehört wiederum Äthiopien, dort nimmt die Arbeitszeit für Mädchen mit dem Alter ab.
– Häufig gibt es keine großen Unterschiede zwischen den Arbeitszeiten der Jungen und der Mädchen. Am deutlichsten fallen sie im Irak und – wiederum – in Äthiopien aus.
Insgesamt gibt der Blick auf die durchschnittliche Wochenarbeitszeit von Kindern einen weiteren Hinweis auf die Notwendigkeit einer Differenzierung der Auseinandersetzung mit Kinderarbeit, denn Verallgemeinerungen sind kaum möglich. Hierbei ist
auffällig, dass ein eventueller Zusammenhang zwischen der Länge der Arbeitszeit, dem Bevölkerungsanteil extrem Armer und
dem Anteil der Bevölkerung unter 18 Jahren allenfalls schwach ausgeprägt ist. In Malawi müssen fast 74 Prozent der Bevölkerung in extremer Armut2 leben, die Kinder, die ausschließlich arbeiten, tun dies im Durchschnitt 15 Stunden in der Woche. In
Bolivien ist der Bevölkerungsanteil der extrem Armen mit rund 20 Prozent wesentlich niedriger, dennoch müssen dort die Kinder, die arbeiten, ohne in die Schule gehen zu können, im Durchschnitt mehr als 50 Wochenstunden arbeiten. Ähnlich Beispiele
für große Unterschiede lassen sich auch hinsichtlich der Altersstruktur finden: Wie lange Kinder arbeiten müssen, hängt offensichtlich von vielen Faktoren zusammen, zu denen auch landesspezifische gehören.
1
Für einige Länder gibt es nur Angaben, die nicht plausibel sind. So hätten in Thailand die durchschnittlichen Wochenarbeitszeiten für Zehnjährige zwölf, für Elfjährige 27, für Zwölfjährige
52 und für 13-Jährige 19 Stunden betragen (für Jungen, die ausschließlich wirtschaftlich aktiv sind). Solche extremen Unterschiede für benachbarte Altersgruppen deuten auf methodische Defizite hin (fehlende Repräsentativität der Stichprobe und Auswertungsfehler).
2
Der hier gewählte Indikator für extreme Armut: Anteil der Bevölkerung, der mit weniger als 1,25 US-Dollar am Tag (in Kaufkraftparitäten) auskommen muss, ist sehr problematisch, denn
er setzt die Schwelle zur extremen Armut zu niedrig an. Da es hier aber nur um den Ländervergleich der Ausstattung von Menschen mit finanziellen Ressourcen geht, ist dieser Indikator
ausreichend aussagekräftig.
Seite 40
Kinderarbeit – Kinderrechte
Schaubild 14:
Vor allem in Lateinamerika lange Arbeitszeiten
Durchschnittliche Wochenarbeitszeit der 5- bis 14-Jährigen in Stunden nach Alter und Geschlecht, wirtschaftliche Tätigkeit ohne und mit Schulbesuch, 2004 – 2006
Somalia
Sambia
Anteil extrem Arme:
Bevölkerung unter 18:
Anteil extrem Arme:
Bevölkerung unter 18:
45
45
40
40
40
Wochenarbeitszeit in Stunden
5
Alter (jeweils 6 bis 14 Jahre)
34,3%
47,0%
40
15
Alter (jeweils 5 bis 14 Jahre)
Jungen: nur Arbeit
Mädchen: nur Arbeit
Jungen: Schule und Arbeit
Mädchen: Schule und Arbeit
5
7
13
10
5
13
7
10
11
14
8
5
13
7
10
9
14
8
5
11
7
Alter (jeweils 5 bis 14 Jahre)
13
10
9
6
12
14
8
5
11
11
14
8
5
13
7
10
12
9
6
14
8
5
11
14
11
8
5
13
7
10
9
6
12
14
5
0
8
5
0
5
5
0
11
5
0
Alter (jeweils 5 bis 14 Jahre)
9
15
10
10
10
25
20
6
15
25
20
35
30
12
15
10
25
20
35
30
11
25
20
35
30
Wochenarbeitszeit in Stunden
45
40
Wochenarbeitszeit in Stunden
45
40
Wochenarbeitszeit in Stunden
45
40
35
53,8%
50
45
30
6
Anteil extrem Arme:
Bevölkerung unter 18:
50
50
12
Liberia
Anteil extrem Arme:
Bevölkerung unter 18:
14
73,9%
53,7%
11
Alter (jeweils 5 bis 14 Jahre)
Gambia
Anteil extrem Arme:
Bevölkerung unter 18:
14
5
8
12
7
11
14
6
10
13
Alter (jeweils 5 bis 14 Jahre)
Malawi
50
9
5
12
8
7
11
14
6
10
13
9
5
14
11
8
5
13
7
10
9
6
12
8
14
5
0
5
5
0
11
5
0
48,8%
54,2%
9
15
10
5
Anteil extrem Arme:
Bevölkerung unter 18:
6
25
20
0
Guinea-Bissau
8
15
10
Alter (jeweils 5 bis 14 Jahre)
14
25
20
35
30
8
15
10
10
35
30
5
15
25
20
14
40
25
11
40
20
8
40
Wochenarbeitszeit in Stunden
45
40
Wochenarbeitszeit in Stunden
45
Wochenarbeitszeit in Stunden
50
45
35
53,4%
49,2%
50
50
30
12
Anteil extrem Arme:
Bevölkerung unter 18:
45
35
11
38,7%
49,5%
50
30
8
Sierra Leone
Anteil extrem Arme:
Bevölkerung unter 18:
8
61,9%
52,8%
14
5
Alter (jeweils 5 bis 14 Jahre)
Togo
Anteil extrem Arme:
Bevölkerung unter 18:
11
8
14
5
8
14
5
11
13
7
10
9
6
12
14
8
5
30,0%
44,9%
15
Alter (jeweils 5 bis 14 Jahre)
Tschad
Anteil extrem Arme:
Bevölkerung unter 18:
25
20
0
Alter (jeweils 5 bis 14 Jahre)
Ghana
Wochenarbeitszeit in Stunden
11
14
8
5
11
7
13
10
9
6
12
8
11
5
0
14
5
0
5
5
0
35
30
10
5
15
10
11
15
10
Alter (jeweils 5 bis 14 Jahre)
Wochenarbeitszeit in Stunden
25
20
7
25
20
35
30
13
35
30
23,3%
48,1%
50
10
15
10
50
9
25
20
Anteil extrem Arme:
Bevölkerung unter 18:
45
12
35
30
64,3%
52,6%
50
6
40
Wochenarbeitszeit in Stunden
Wochenarbeitszeit in Stunden
45
8
50
50,5%
Elfenbeinküste
14
39,0%
50,7%
11
Anteil extrem Arme:
Bevölkerung unter 18:
Wochenarbeitszeit in Stunden
Äthiopien
Alter (jeweils 5 bis 14 Jahre)
Seite 41
Kinderarbeit – Kinderrechte
15,8%
43,6%
45
45
40
40
40
40
Jungen: nur Arbeit
Mädchen: nur Arbeit
Jungen: Schule und Arbeit
Mädchen: Schule und Arbeit
8
14
5
11
7
13
10
9
12
6
8
12
8
12
7
11
14
6
10
8
12
11
5
25
20
15
5
Alter (jeweils 6 bis 14 Jahre)
7
11
8
12
11
7
5
0
14
8
12
7
11
14
6
10
9
13
Alter (jeweils 5 bis 14 Jahre)
35
30
10
10
5
12
8
7
0
11
0
14
5
0
10
5
6
5
13
7
15
10
9
14
25
20
40
14
15
Wochenarbeitszeit in Stunden
25
20
35
30
10
5
45
40
6
15
35
30
4,5%
31,1%
50
10
25
20
Anteil extrem Arme:
Bevölkerung unter 18:
45
9
35
30
Argentinien
15,4%
35,1%
50
13
40
Alter (7 bis 14 Jahre)
Anteil extrem Arme:
Bevölkerung unter 18:
5
40
7,8%
32,6%
Wochenarbeitszeit in Stunden
45
Wochenarbeitszeit in Stunden
50
45
Alter (jeweils 5 bis 14 Jahre)
6
Alter
Kolumbien
Anteil extrem Arme:
Bevölkerung unter 18:
50
10
5
8
7
14
6
10
9
12
5
0
11
5
0
5
12
8
7
11
14
6
10
13
9
5
5
Brasilien
9,8%
37,9%
15
10
Alter (jeweils 5 bis 14 Jahre)
Ecuador
25
20
0
Alter (jeweils von 7 bis 14 Jahre)
Anteil extrem Arme:
Bevölkerung unter 18:
15
10
13
5
0
25
20
35
30
6
15
10
Wochenarbeitszeit in Stunden
25
20
35
30
9
15
10
35
30
22,2%
45,8%
50
13
25
20
Wochenarbeitszeit in Stunden
50
45
Wochenarbeitszeit in Stunden
50
35
8
Anteil extrem Arme:
Bevölkerung unter 18:
45
30
11
Honduras
Anteil extrem Arme:
Bevölkerung unter 18:
10
11,7%
49,3%
14
5
Nicaragua
Anteil extrem Arme:
Bevölkerung unter 18:
9
19,6%
43,7%
Alter (jeweils 5 bis 14 Jahre)
Alter (jeweils 5 bis 14 Jahre)
Guatemala
Anteil extrem Arme:
Bevölkerung unter 18:
5
0
Alter (jeweils 6 bis 14 Jahre)
Bolivien
15
10
0
14
8
5
11
7
13
10
9
6
12
8
11
14
5
8
14
5
11
13
7
10
9
6
12
8
5
14
5
0
5
5
0
11
10
Alter (jeweils 5 bis 14 Jahre)
Wochenarbeitszeit in Stunden
15
10
25
20
9
15
25
20
13
20
30
35
30
5
25
35
8
35
30
45
40
13
40
Wochenarbeitszeit in Stunden
40
13,4%
22,9%
50
12
15
10
45
Anteil extrem Arme:
Bevölkerung unter 18:
47,8%
7
20
50
45
14
25
50
6
35
30
Georgien
Anteil extrem Arme:
Bevölkerung unter 18:
10
40
Wochenarbeitszeit in Stunden
Wochenarbeitszeit in Stunden
45
41,6%
38,2%
9
50
Wochenarbeitszeit in Stunden
Irak
Anteil extrem Arme:
Bevölkerung unter 18:
Wochenarbeitszeit in Stunden
49,6%
40,6%
11
Indien
Anteil extrem Arme:
Bevölkerung unter 18:
13
Bangladesch
Alter (jeweils 5 bis 14 Jahre)
Anteil extrem Arme: Anteil der Bevölkerung, die mit weniger als 1,25 US-Dollar (Kaufkraftparitäten, 2000-2006) auskommen muss, in Prozent
Bevölkerung unter 18: Anteil der Bevölkerung unter 18 Jahren an der Gesamtbevölkerung in Prozent
Quellen: Wochenarbeitszeit: International Labour Office, UNICEF, World Bank: Understanding Children’s Work. UCW country statistics (www.ucw-project.org), Zusammenstellung der Daten auf der Grundlage von Haushaltsstichproben; Anteil der Bevölkerung, die mit weniger als 1,25 US-Dollar am Tag auskommen muss:
United Nations Development Programme (2008): Human Development Indices: A statistical update 2008 (http://hdr.undp.org/en/statistics/data/hdi2008/);
Anteil der Bevölkerung unter 18 Jahren an der Gesamtbevölkerung: UNICEF (2009): The State of the World’s Children 2009, S. 138 – 141
© Werkstatt Ökonomie e.V.
Seite 42
Kinderarbeit – Kinderrechte
„Nicht über unsere Köpfe hinweg“
Auch arbeitende Kinder haben ein Recht auf Beteiligung
„Wir wollen, dass die arbeitenden Kinder auf den großen Konferenzen gehört werden.
Wenn 20 Minister zu einer Konferenz kommen, dann sollen auch 20 Kinderarbeiter da sein. Wir wollen mit den Ministern diskutieren,
sie sollen nicht über unsere Köpfe hinweg über uns reden.“
Auszug aus der Abschlusserklärung des
„Ersten Internationalen Treffens von Delegierten
aus Organisationen arbeitender Kinder
aus Afrika, Asien und Lateinamerika“ in Kundapur/ Indien von Dezember 1996.
Bei dem ersten internationalen Treffen von Delegierten aus Organisationen arbeitender Kinder im Jahre 1996 wurde mit
Nachdruck die Verwirklichung von Partizipationsrechten gefordert. Diese Forderung spiegelt ein Selbstverständnis wieder, welches von vielen organisierten arbeitenden Kindern in den Ländern des Südens geteilt wird: Arbeitende Kinder leisten einen
wichtigen produktiven Beitrag für ihre Familien und Gesellschaften und fordern, bei der Erarbeitung von Strategien gegen ihre
und die Ausbeutung Anderer als kompetente Partner wahrgenommen und gehört zu werden. Sie fordern die Anerkennung
ihrer Organisationen und eine gleichberechtigte Vertretung in allen Gremien, in denen über Dinge entschieden wird, die sie
betreffen. Sie betonen, dass sie eine umfassende Beteiligung von Kindern nicht nur als Zweck verstehen, sondern darüber hinaus als Bedingung dafür, dass Kinder in effektiver Weise von ihren Kinderrechten Gebrauch machen können.
Bereits seit den 1970er Jahren erheben arbeitende Kinder die Forderung nach gleichberechtigter Beteiligung an politischen Prozessen und Entwicklung von Strategien zu Verbesserung ihrer Lebenssituation. Eine Forderung, die, so ungewöhnlich sie für uns
auch klingen mag, in einigen Ländern des Südens zumindest beispielhaft Anwendung fand.
So gelang es Organisationen arbeitender Kinder in Peru und Mali, Bildungsinstitutionen dazu zu bewegen, ihr Angebot an ihre
spezifischen Bedürfnisse anzupassen und so den Kindern einen Schulbesuch neben der Arbeit zu ermöglichen. Auf diese
Weise konnte das vermeintliche Spannungsverhältnis zwischen Bildung und Arbeit punktuell überwunden werden. Ein weiteres Beispiel für die erfolgreiche Intervention von arbeitenden Kindern stellt die neue Verfassung Boliviens dar. In einem früheren Entwurf der Verfassung war noch ein generelles Verbot von Kinderarbeit vorgesehen. Die nun beschlossene neue
Formulierung, die einen differenzierten Umgang mit Kinderarbeit verlangt, ist teilweise das Ergebnis von Protesten und Vorschlägen der „Bewegung arbeitender Kinder und Jugendlicher Boliviens“. Solche Beispiele zeigen, dass die Forderungen nach
mehr Partizipation in Ländern des Südens gelegentlich Anerkennung finden.
Anders stellt sich die Lage dar, wenn das Selbstverständnis von Kindern als kompetenten gesellschaftlichen Akteuren und die
Forderung nach ihrer gleichberechtigten Beteiligung auf westliche Vorstellungen von Kindheit treffen. Diese verstehen Kinder
hauptsächlich als schützenswerte und noch unmündige Personen. Zwar besteht in der einschlägigen wissenschaftlichen Forschung inzwischen Konsens darüber, dass Kinder sehr wohl gesellschaftliche Subjekte sind, die qualifizierte Entscheidungen treffen und ihre Umwelt zielgerichtet beeinflussen können. Doch insbesondere arbeitende Kinder sind in westlichen Vorstellungen
meist nur passive Opfer. Dass sie zu eigenen Ideen und Initiativen in der Lage sind, wird übersehen.
Dabei wird Partizipation von Kindern auch in westlichen Ländern befürwortet. Kaum eine Organisation oder Einrichtung, die mit
Kindern arbeitet oder für Kinderrechte eintritt, versäumt, deren Wichtigkeit zu betonen. Dabei spielen zwei Begründungszusammenhänge eine Rolle, die sich in ihren Zielen stark unterscheiden.
– Instrumentelle Begründungen beziehen sich auf einen bestimmten Nutzen, der durch die Partizipation von Kindern für Akteure oder Maßnahmen erzielt werden kann. Beispielsweise soll Partizipation in Projekten dazu dienen, das Wissen der
Zielgruppen zu mobilisieren, um die für die Kinder dringendsten Probleme zu identifizieren. Oder sie soll helfen, das Risiko
unvorhergesehener, negativer Konsequenzen von Interventionen zu verringern. So kommt eine vergleichende Studie unterschiedlicher Projekte zu dem Schluss, dass Projekte eine größere Chance haben, effizient und nachhaltig die Lebens- und
Arbeitsbedingungen arbeitender Kinder zu verbessern, wenn die Kinder sich aktiv beteiligen können. Doch steht die derart
eingesetzte Partizipation von Kindern auf „wackeligen Beinen“. Da sie einem Effizienzkalkül unterworfen ist, läuft sie Gefahr,
nur so lange Unterstützung zu finden, wie sie „nützlich“ ist.
– Davon zu unterscheiden sind jene Begründungen, die Partizipation als Bedingung der Entscheidungsbildung in demokratischen Gemeinwesen ansehen. So verstanden wird das Recht auf Partizipation unabhängig vom jeweiligen Nutzen zum
grundlegenden Bürgerrecht. Doch nur langsam setzt sich in der allgemeinen Wahrnehmung die Erkenntnis durch, dass solche demokratietheoretischen Überlegungen auch die Beteiligung von Kindern umfassen.
Dabei wurde mit dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes (Kinderrechtskonvention, KRK) auch
Kindern das Recht auf Partizipation prinzipiell zugesprochen. Die KRK ernst zu nehmen, bedeutet, Kinder als soziale Subjekte
zu denken und sie an allen sie betreffenden Entscheidungen zu beteiligen. Die in den Artikeln 12, 13, 15 und 17 dargelegten
Partizipationsrechte bilden eine der Grundsäulen der Kinderrechtskonvention. Sie begründen das Recht von Kindern, an der Erör-
Seite 43
Kinderarbeit – Kinderrechte
terung, Aushandlung und Entscheidung aller sie betreffenden Angelegenheiten mitzuwirken. Der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes wird in
seinen Interpretationsempfehlungen zur Kinderrechtskonvention noch
deutlicher: Demnach soll gewährleistet sein, dass Kinder auf verschiedenen Ebenen der Gesellschaft und nicht nur in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld mitwirken und dass ihre Vorschläge auch im formalen
politischen Prozess Berücksichtigung finden. Ausdrücklich wird nahe gelegt, Organisationen, die von Kindern geführt werden, hierbei als Partner
anzuerkennen und einzubeziehen.
Die Frage, ob arbeitenden Kindern ermöglicht werden soll, sich an Entscheidungsprozessen zu beteiligen, ist insofern eindeutig beantwortet: Es
ist ihr Recht. Kinder wollen ihre eigenen Ziele bestimmen und initiativ werden, und verlangen, dass ihnen hierzu die Möglichkeit gegeben wird. Partizipation in diesem Sinne ist nicht nur Mitwirkung und Beteiligung, sondern
aktives Handeln. Die Formen des Handelns, die Kinder wählen, sind vielfältig und stark von ihrem jeweiligen Lebenskontext und damit verbundenen Strukturen und Möglichkeiten abhängig. Sie lassen sich nur schwer in
vorgefertigte Konzepte fassen. Eine grundsätzliche Anerkennung ihrer
Handlungskompetenz durch die Erwachsenenwelt und die Erweiterung
ihres Handlungsspielraums wäre aber sicherlich bei der Freisetzung ihrer
Fähigkeiten hilfreich.
Jutta Hesselink und Iven Saadi, ProNats e.V.
Kinder-Kooperative in Lima, Peru
Foto: Dr. Manfred Liebel, ProNats
Neue kinderrechtliche Instrumente
Ein Beitrag zur Stärkung auch der Rechte für arbeitende Kinder?
Seit der Verabschiedung des Übereinkommens über die Rechte des Kindes durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 20. November 1989 ist der internationale und regionale Kinderrechtsschutz weiter entwickelt worden. Zwar stand
hierbei Kinderarbeit nicht im Mittelpunkt des Interesses, dennoch aber könnten die neuen Entwicklungen auch zur Stärkung
der Rechte für arbeitende Kinder beitragen. So fordert der Kinderrechtsausschuss der Vereinten Nationen in seinen Kommentaren zu den Staatenberichten über die Umsetzung der Kinderrechtskonvention seit einigen Jahren Maßnahmen zur Abschaffung der schlimmsten Formen von Kinderarbeit. Allerdings hat sich der Ausschuss seit 1993 – als „wirtschaftliche
Ausbeutung“ das Thema des jährlich von ihm durchgeführten „Allgemeinen Diskussionstages“ (Day of General Discussion)
war – nicht mehr systematisch mit Kinderarbeit beschäftigt.
Zur Weiterentwicklung des internationalen Kinderrechtsschutzes will auch eine Initiative zur Einführung eines Individualbeschwerdeverfahrens für Kinder und Jugendliche beitragen. Ein solches Verfahren könnte auch im Blick auf Kinderarbeit bedeutsam sein. Dies gilt in jedem Falle für die in Arbeit befindliche Kinderrechtsstrategie der Europäischen Union, die zu einem
regionalen Instrument des Kinderrechtsschutzes werden könnte. Noch nicht abzuschätzen ist, ob und in welchem Maße die
neuen Leitlinien der Europäischen Union zu Kinderrechten praktische Relevanz für die Situation arbeitender Kinder entfalten
könnten.
I. Zeit für ein Beschwerderecht für Kinder auf UN-Ebene
Ajitha (Name geändert), 12 Jahre, ist hungrig und müde. Zwölf Stunden hat sie heute gearbeitet. In je zwei Doppelreihen hocken mehrere hundert Kinder, nach Arbeitsgängen getrennt, auf dem nackten Steinboden. Hier, im Bundesstaat Tamil Nadu/Indien, werden Streichhölzer produziert. Die Hölzer werden in Chemikalien getaucht, so entstehen die Zündköpfe. Die ätzenden
Dämpfe ruinieren die Gesundheit der Kinder. Dazu das ewige Sitzen auf dem kalten Fußboden, das dauernde Verkrümmen des
Rückgrats. Unter den gesundheitlichen Folgen der Arbeit leiden die Kinder ihr ganzes Leben.
Indien hat das UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes (Kinderrechtskonvention, KRK) 1992 ratifiziert und sich damit
verpflichtet, Kinder vor Ausbeutung zu schützen. Ob die Verantwortlichen jemals zur Rechenschaft gezogen werden, ist fraglich.
Seite 44
Kinderarbeit – Kinderrechte
Weltweit werden unzählige gravierende Kinderrechtsverletzungen von staatlicher Seite nicht bestraft. Wie kann sich ein Kind wie
Ajitha gegen den eigenen Unrechtsstaat zur Wehr setzen? Bisher gar nicht, aber das soll sich ändern. Die Kindernothilfe fordert
die Einführung eines so genannten Individualbeschwerde-Rechts für Kinder. Gäbe es dieses Recht, könnte sich Ajitha an den
UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes in Genf wenden. Der Ausschuss würde eine umfassende Untersuchung durch eine
unabhängige Stelle empfehlen und Indien zur Wiedergutmachung auffordern. Obwohl diese Entscheidungen rechtlich nicht bindend sind, entfalten sie dank ihrer Veröffentlichung und der Autorität der Ausschüsse große Wirkung. Kein Staat möchte in der
Weltöffentlichkeit gern als Menschenrechtsverletzter dastehen!
193 Staaten haben die KRK ratifiziert – sie ist damit das am häufigsten ratifizierte Menschenrechtsabkommen der Welt. Bisher
gibt es aber nur eine Kontrollmöglichkeit bezüglich ihrer Einhaltung: Die Staaten müssen dem UN-Ausschuss für die Rechte des
Kindes einen Bericht vorlegen, inwieweit sie die Kinderrechte in ihrem Land umgesetzt haben. Da diese Berichte jedoch veröffentlicht werden, geben sie häufig ein geschöntes Bild ab.
Ein zusätzliches und schärferes Kontrollinstrument ist nötig – und dies gibt es bereits in allen zentralen Menschenrechtsübereinkommen, nur nicht bei der KRK, die auch dazu zählt. Die Individualbeschwerde ist solch ein Kontrollverfahren, um Menschenrechte durchzusetzen. Sie ermöglicht Einzelpersonen, ihr Recht auf UN-Ebene einzufordern, wenn alle nationalen
Rechtsmittel ausgeschöpft sind. Die Individualbeschwerde muss – als so genanntes Zusatzprotokoll – der UN-Kinderrechtskonvention beigefügt werden.
Mit einer Fachtagung im April 2001 und in Vorbereitung auf den Weltkindergipfel im Mai 2002 startete die Kindernothilfe deshalb eine Initiative zur Einführung einer solchen Beschwerde für Kinder und Jugendliche. In intensiven Gesprächen mit anderen Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs), Bundesministerien, Parteien und den Vereinten Nationen warben wir für unser
Anliegen.
Nach dem Weltkindergipfel gelang es uns, das Thema im „Nationalen Aktionsplan. Für ein kindergerechtes Deutschland 20052010“, einer Initiative der Bundesregierung, unterzubringen. In Fachgesprächen überzeugten wir Abgeordnete und brachten über
sie einen Antrag in den Bundestag ein. Unsere Lobbyarbeit trug auch dazu bei, den UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes
mit seinen 18 Experten aus aller Welt als Unterstützer zu gewinnen. Immer mehr NGOs schlossen sich der Initiative an, zum
Beispiel das Forum Menschenrechte und die National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland. Auch The CRADLE, unsere Partnerorganisation in Kenia, arbeitet intensiv an dem Thema. Weltweit sind es inzwischen über
500 Organisationen, die sich für die Individualbeschwerde stark machen.
Im Januar 2008 starteten Organisationen aus Kanada, Großbritannien, der Schweiz, Schweden, Norwegen und Deutschland eine
internationale Kampagne zur Individualbeschwerde. Die Kindernothilfe gehört zum Leitungsgremium. Unser erstes Ziel ist: Der
Menschenrechtsrat soll eine UN-Arbeitsgruppe einsetzen, die den Text für ein Zusatzprotokoll mit einem Beschwerdemechanismus zur KRK erarbeitet. Die Kindernothilfe hatte bereits 2002 einen Text dafür vorgeschlagen, der inzwischen weiterentwickelt wurde.
Jetzt müssen wir weitere Staaten von der Notwendigkeit einer Arbeitsgruppe überzeugen. Es haben bereits informelle Staatentreffen in Genf stattgefunden, und die Bereitschaft der Länder für eine solche Arbeitsgruppe nimmt zu. Allerdings ist die Bundesregierung noch nicht endgültig überzeugt, obschon sie der Meinung ist, dass „ein Individualbeschwerde-Verfahren die
Kontrollmechanismen einer Menschenrechtskonvention verbessert“. Die Gründe hierfür sind nicht nachvollziehbar, zumal
Deutschland sich sehr für ein Individualbeschwerde-Verfahren zum Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte eingesetzt hat, das am 10. Dezember 2008 einstimmig von der UN-Vollversammlung verabschiedet wurde.
Mehr Infos unter: http://www.kindernothilfe.de/Rubriken/Themen/Jahresthema+2009_+Kinderrechte+sind+Menschenrechtep-2487/Was+ist+die+Individualbeschwerde_-p-667.html
Barbara Dünnweller, Kindernothilfe
II. Entschieden für die Rechte des Kindes? Neue Initiativen der EU
II. I Auf halbem Wege stecken geblieben: Die EU-Kinderrechtsstrategie
Die Europäische Union hat sich viel vorgenommen: Im Juli 2006 erklärte die Europäische Kommission, „eine[…] umfassende[…] Strategie der EU zur Förderung und zum effektiven Schutz der Rechte von Kindern bei den internen und externen
Maßnahmen der Europäischen Union“ erarbeiten zu wollen1. Eine solche Strategie könnte nicht nur zu einem Meilenstein für
die Verwirklichung der Rechte des Kindes, sondern darüber hinaus zu einem Modell für die Durchsetzung von Menschenrechten werden. Voraussetzung hierfür ist, dass die Rechte des Kindes bei allen internen und externen Maßnahmen der EU im
Sinne eines „Child Mainstreaming“ beachtet und dass strukturierte Verfahren entwickelt werden, die eine Beteiligung von Kinderrechtsorganisationen und weiteren zivilgesellschaftlichen Akteuren mit einschlägiger Expertise und nicht zuletzt von betroffenen Kindern und Jugendlichen erlauben.
1
Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Mitteilung der Kommission im Hinblick auf eine EU-Kinderrechtsstrategie [KOM(2006) 367], 4. Juli 2006
Seite 45
Kinderarbeit – Kinderrechte
Doch die bisherigen Schritte zur Erarbeitung der EU-Kinderrechtsstrategie geben Anlass zur Besorgnis. Zwar sind in der Zwischenzeit eine Reihe von Dokumenten erarbeitet worden2, auch hat sich das Europäische Forum für die Rechte des Kindes –
das die Erarbeitung und Umsetzung der Kinderrechtsstrategie unter Mitwirkung der Zivilgesellschaft kritisch begleiten sollte –
dreimal getroffen. Doch die bisherigen Schritte werden dem Anspruch nicht gerecht, eine „umfassende Strategie der EU“ erarbeiten zu wollen.
– Die Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Erarbeitung der EU-Kinderrechtsstrategie ist bislang enttäuschend. Die angekündigte Beteiligung von Kindern und Jugendlichen ist bisher noch nicht realisiert worden.
– Bisher gibt es nur wenige und nur sehr kleine Schritte für ein „Child Mainstreaming“ in den Außenbeziehungen der EU. So
heißt es zwar in der Mitteilung vom 5. Februar 2008: „In den Bestimmungen über die Handelspolitik der EU wird anerkannt,
dass diese Politik mit dem Schutz und der Förderung der Kinderrechte im Einklang stehen muss. Im Rahmen der Handelspolitik ist die Förderung der Kinderrechte Teil der umfassenderen Agenda für nachhaltige Entwicklung. In bilateralen Abkommen wird das Thema Kinderrechte durch Arbeitsnormen abgedeckt.“ Doch die Kommission hat noch keine Schritte
unternommen, um diese wichtige Absichtserklärung so umzusetzen, dass die Rechte des Kindes gestärkt werden.
– So dürfen zum Beispiel Handelsabkommen keine Liberalisierungen, Deregulierungen und Privatisierungen zu erzwingen versuchen, die den Rechten des Kindes entgegenstehen und zum Beispiel den Zugang zu Bildung oder Gesundheitsversorgung verteuern oder erschweren.
– Anlass zur Besorgnis bietet auch die Tendenz der EU-Kommission, die Erarbeitung einer Kinderrechtsstrategie zu verzögern.
So war für den Zeitraum Februar bis April 2009 ein Konsultationsprozess in der EU unter der Beteilung nationaler Parlamente
und der Zivilgesellschaft vorgesehen gewesen, der der Erarbeitung eines politischen Grundsatzpapieres dienen sollte. Doch
zu diesem Konsultationsprozess ist es nicht gekommen, und alle weiteren Schritte wurden auf unbestimmte Zeit vertagt.
Die bisher vorgelegten Papiere der Europäischen Kommission gehen mehrfach auf Kinderarbeit ein, ohne sich jedoch um ein
differenziertes Bild von Kinderarbeit zu bemühen. Sie nennen als Ziel, „alle Formen von Kinderarbeit zu verhindern“. Sie fragen
nicht danach, auf welche Weise die Handelspolitik der EU Einfluss auf Ausmaß und Form von Kinderarbeit haben könnte. Sie
befürworten handelspolitische Maßnahmen. Zu ihnen könnten zum Beispiel Zollerleichterungen für die Einfuhr von Erzeugnissen, die unter Beachtung der Rechte des Kindes hergestellt wurden, gehören. Doch negative oder positive Anreize im Rahmen
des Allgemeinen Präferenzsystemes im Sinne einer Sozialklausel sind problematisch. Von ihnen würde nur ein kleiner Teil der
arbeitenden Kinder profitieren. Denn weltweit arbeiten in der exportorientierten Produktion (unter Einschluss der Landwirtschaft) weniger als fünf Prozent aller arbeitenden Kinder. Außerdem arbeiten in vielen Ländern ältere Kinder und Jugendliche
in Selbstverwaltungsprojekten, die Arbeit und Schulbesuch miteinander verbinden. So stellen Kinderkooperativen in Peru, Bolivien und Kolumbien zum Beispiel Postkarten oder T-Shirts her, die in alle Welt verkauft werden. Die Einfuhr solcher Erzeugnisse – etwa durch „Strafzölle“ – zu behindern, wäre mit Sicherheit kein Beitrag zur Förderung und zum Schutz der Rechte des
Kindes.
Vor diesem Hintergrund muss kritisch festgestellt werden, dass die Erarbeitung einer umfassenden EU-Kinderrechtsstrategie auf
halbem Wege stecken geblieben ist. Die EU ist in Gefahr, ihr eigenes Vorhaben aufzugeben. Da aber eine EU-Kinderrechtsstrategie in nicht unerheblicher Weise zur Stärkung der Rechte des Kindes beitragen könnte – auch im Blick auf Kinderarbeit –, sind
zivilgesellschaftliche Initiativen erforderlich, um das von seiner Idee her vorbildliche Ziel einer Kinderrechtsstrategie der Europäischen Union zu erreichen. Auch die Mitgliedsstaaten der EU sind aufgefordert, mehr als bisher zu tun, damit die Kinderrechtsstrategie Wirklichkeit wird.
Klaus Heidel, Werkstatt Ökonomie e.V.
II.II Eine neue Leitlinie der EU zu Kinderrechten
Am 10. Dezember 2007, am Tag der Menschenrechte, verabschiedete der Außenministerrat der Europäischen Union „Leitlinien
der EU für die Förderung und den Schutz der Rechte des Kindes“. Sie wurden während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft
unter Mitwirkung von Nichtregierungsorganisationen, darunter auch der Kindernothilfe, erarbeitet. Die neue Leitlinie soll die bereits vorhandenen fünf Leitlinien für Menschenrechte ergänzen: Todesstrafe, Menschenrechtsdialoge, Kinder und bewaffnete
2
Zusätzlich zur Mitteilung und den Arbeitspapieren vom 5. Februar 2008 sind zu nennen:
EU Guidelines for the Promotion and Protection of the Rights of the Child, verabschiedet vom Rat im Dezember 2007
Entschließung des Europäischen Parlaments vom 16. Januar 2008 im Hinblick auf eine EU-Kinderrechtsstrategie (2007/2093 (INI))
Council of the European Union: “Conclusions of the Council and the Representatives of the Governments of the Member States meeting within the Council on the promotion and protection of the rights of the child in the European Union’s external action - the development and humanitarian dimensions” vom 26. Mai 2008 (9739/08)
Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19. Februar 2009 zu dem Thema “Außenmaßnahmen der EU: Ein besonderer Platz für Kinder” (2008/2203(INI)
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Kinderarbeit – Kinderrechte
Konflikte, Menschenrechtsverteidiger. Anwendung finden diese Leitlinien bei den EU-Staaten und ihren Beziehungen zu Drittstaaten.
„Die EU bekräftigt damit ihre Entschlossenheit, der Förderung und dem Schutz aller Rechte des Kindes, d.h. Personen unter 18
Jahren, im Rahmen ihrer externen Menschenrechtspolitik vorrangige Beachtung zukommen zu lassen und dabei dem Wohl des
Kindes und seinem Recht auf Schutz vor Diskriminierung und auf Teilnahme an Entscheidungsprozessen Rechnung zu tragen…“3.
Ein menschenrechtsorientierter Ansatz soll bei der Verwirklichung der Ziele der Leitlinien den Rahmen bilden. Zu den Zielen zählen:
– den Rechten des Kindes soll auf der internationalen Agenda mehr Gewicht verliehen werden;
– die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention und ihrer beiden Fakultativprotokolle soll vorangetrieben werden;
– die Kinderrechte sollen im Rahmen der Politik und der Maßnahmen der EU durchgängig gefördert werden.
Praktische Instrumente zur Umsetzung sollen sein:
– Politischer Dialog, d.h. Berücksichtigung des Themas Kinderrechte bei den Treffen und Gesprächen mit Drittländern auf allen
Ebenen, unter anderem mit dem Ziel, die Beteiligung von Kindern an Entscheidungsprozessen zu fördern.
– Demarchen und gegebenenfalls öffentliche Erklärungen, z.B. bei aktuellen Entwicklungen mit dem Ziel, Drittstaaten daran
zu erinnern, dass sie effektive Maßnahmen ergreifen müssen, um die Rechte des Kindes umzusetzen.
– Bilaterale und multilaterale Zusammenarbeit, u.a. Aufstockung von Entwicklungs- und humanitären Hilfsprogrammen mit
Schwerpunkt auf Kinderrechten.
– Aufbau von Partnerschaften und Ausbau der Koordinierung mit internationalen Akteuren, u.a. auch mit der Zivilgesellschaft.
Als vorrangiges Thema der Leitlinien wurde „Jegliche Form von Gewalt gegen Kinder“ festgelegt. Die EU hat sich darauf verständigt, für die Anfangsphase der Umsetzung der Leitlinien ein Pilotprogramm zu starten, das auf höchstens zehn Länder4
konzentriert werden soll. Es sollen länderspezifische Strategien ausgearbeitet werden mit konkreten Vorschlägen zur Bekämpfung der Gewalt gegen Kinder. Bis April 2009 lagen erst Strategien zu sechs Ländern vor , u.a. zu Kenia und Marokko. Die restlichen sollten bis Ende April 2009 erstellt werden. Die tschechische Ratspräsidentschaft wollte sie dann allen EU-Partnern zur
Genehmigung vorlegen. Die schwedische Ratspräsidentschaft im 2. Halbjahr 2009 sollte die Umsetzung und das Monitoring
übernehmen.
Barbara Dünnweller, Kindernothilfe
Straßenhändlerin in Kolumbien, Foto: Christel Kovermann, terre des hommes
3
Rat der Europäischen Union: Leitlinien der EU für die Förderung und den Schutz der Rechte des Kindes, 16031/07, 3. Dezember 2007, Seite 3.
4
Pilotländer sind: Armenien, Brasilien, Jordanien, Barbados, Russland, Iran, Marokko, Kenia, Ghana
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Kinderarbeit – Kinderrechte
Der Kampf der Kinder für eigene Rechte
Ziele der Bewegungen arbeitender Kinder
Trotz Arbeit selbstbestimmt: Wie die Bewegungen arbeitender Kinder entstanden
Ein spezifisches Recht, das viele arbeitende Kinder für sich beanspruchen, ist das Recht zu arbeiten. Sie erhoffen sich damit
bessere Möglichkeiten, ihre Ausbeutung zu bekämpfen und eine Arbeit in Würde zu erlangen. Und mit ihren Organisationen
setzen sie dieses Recht vielfach bereits um, indem sie selbstverwaltete Werkstätten und Arbeitskooperativen gründen.
Eigenständige Bewegungen und Organisationen arbeitender Kinder entstanden seit Ende der 1970er Jahre in Lateinamerika
und seit Beginn der 1990er Jahre auch in Afrika und Asien. Sie entwickelten sich teilweise aus kleinen informellen Gruppen,
in denen sich Kinder gegenseitig zu helfen versuchen. Teilweise gingen sie auf die Initiative von Jugendlichen oder Erwachsenen zurück, die die Kinder ermutigten, ihre Rechte in die eigene Hand zu nehmen. Die in den Kinderorganisationen aktiven
Kinder sind in der Regel zwischen 12 und 16 Jahre alt und arbeiten überwiegend in der städtischen informellen Ökonomie.
Sie haben sich eigene Strukturen geschaffen, in denen die Kinder selbst alle Entscheidungen treffen und das letzte Wort haben.
Die Bewegungen der arbeitenden Kinder sind Handlungs- und Lernfelder zugleich. In ihnen finden und schaffen sich Kinder
einen sozialen Raum, indem sie sich in selbstgewählten altersspezifischen Kommunikationsformen ihrer Situation vergewissern,
Antworten auf ihre Probleme suchen und ihre Identität entwickeln. Die Kinder suchen in der Regel die Unterstützung Erwachsener und sind auf diese auch angewiesen. Soweit Erwachsene mitwirken, üben sie allerdings keine Leitungsfunktionen aus,
sondern agieren als Beratende der Kinder.
Oft wird den Organisationen der arbeitenden Kinder unterstellt, sie seien
das Ergebnis von Manipulationen Erwachsener und überdies nicht repräsentativ für die Masse der arbeitenden Kinder. Es ist unbestritten, dass
nicht alle arbeitenden Kinder die gleiche Chance haben, sich zu organisieren. Sie müssen ein Stück weit über ihre Zeit verfügen können und die
Möglichkeit haben, mit anderen Kindern in Kontakt zu kommen. Deshalb
ist es kein Zufall, dass die meisten Kindergruppen in einem städtischen
Umfeld entstehen und von Kindern getragen werden, deren Arbeit nicht
völlig fremdbestimmt ist. Kinder, die unter sklavenähnlichen Bedingungen
arbeiten oder weitestgehend sozial isoliert sind, sind in erheblich größerem Maße auf Unterstützung „von außen“ angewiesen. Ähnlich wie Gewerkschaften für erwachsene Arbeiterinnen und Arbeiter, sind auch die
Organisationen arbeitender Kinder bestrebt, alle arbeitenden Kinder anzusprechen und ihren Handlungsspielraum zu erweitern. So setzen sie
sich z.B. aktiv gegen Kinderhandel ein und sprechen Kinder an, die vom
Delegierte des dritten Welttreffens der arbeitenden Kinder auf der 1. Mai-Demonstration der Gewerkschaften, Berlin 2004, Foto: Dr. Manfred Liebel, ProNats
Land in die Stadt oder gar in andere Länder emigrieren oder verschleppt
werden. Mit den Bewegungen arbeitender Kinder entsteht in der Regel
eine Dynamik, von der sich auch besonders unterdrückte und ausgebeutete Kinder ermutigt sehen, sich zu wehren und auf ihren Rechten zu
bestehen. Eine besondere Bedeutung hierfür haben die Initiativen, die sich für eine „Arbeit in Würde“ einsetzen und den ausgebeuteten Kindern konkrete Alternativen sichtbar machen, indem sie Projekte solidarischer Ökonomie ins Leben rufen.
Initiativen für eine Solidarische Ökonomie
In diesen Projekten finden sich Kinder, die früher Müll gesammelt oder als fliegende Händler Kaugummis oder Getränke verkauft haben – oft bis spät in die Nacht. Sie mussten das tun, weil ihre Familien auf den Zuverdienst angewiesen waren. Zwar
waren sie durchaus stolz, zu ihrem Lebensunterhalt selbst beizutragen. Zugleich fühlten sie sich oft aber auch von ihren Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern ausgenutzt, litten unter den langen Arbeitszeiten und der Geringschätzung der Passantinnen
und Passanten. Immer wieder versuchten sie vergeblich, ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern.
Irgendwann kam einigen Kindern aus der peruanischen Kinderbewegung MANTHOC die Idee, wie sie ihre Lage ändern könnten. Seither gestalten und drucken sie in Eigenregie Erinnerungs- und Glückwunschkarten und verkaufen sie auf der Straße oder
bei Festen. Dank der guten Kontakte der Bewegung nach Europa hat die Karten-Kooperative inzwischen sogar Abnehmerinnen
und Abnehmer in Übersee. Etwa 80 Jungen und Mädchen in mehreren Orten Perus sind beteiligt, sie nennen sich Tarjeta-NATs
(arbeitende Kinder = NATs, die Karten = tarjetas herstellen). Sie nutzen die Internetanschlüsse der Bewegung, um untereinander
Kontakt zu halten und ihre Arbeit zu koordinieren. Mit den Einkünften unterstützen sie weiterhin ihre Familien, nutzen das Geld
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Kinderarbeit – Kinderrechte
aber auch für gemeinsame Ausflüge oder einen Notfallfonds, aus dem Mitglieder bei Krankheit oder nach einem Unfall unterstützt werden können.
Mittlerweile unterhält die peruanische Kinderbewegung, in der sich außer MANTHOC mehr als 15 Kinderorganisationen zusammengeschlossen haben, auch ein eigenes Mikrofinanzprogramm, das die Gründung von Kinder- und Jugendkooperativen
im ganzen Land ermöglichen soll. Daran sind auch Erwachsene als Beratende beteiligt; einige internationale Kinderrechtsorganisationen geben materielle Unterstützung. Entstanden ist so zum Beispiel eine Kinder- und Jugendkooperative, die in Lima günstige Gebrauchsmöbel für die Bewohnerinnen und Bewohner eines Stadtviertels herstellt. Andere produzieren Brot, Lederwaren
oder Kerzen. Auf regelmäßige Finanzspritzen dürfen die Kindergenossenschaften dabei nicht hoffen: Geld gibt es lediglich für
eine Anschubfinanzierung oder in Form von Kleinkrediten. Insofern müssen die Mädchen und Jungen gemeinsam dafür sorgen, dass es einen Markt für ihre Angebote gibt und die Qualität stimmt.
Auch in anderen Ländern Lateinamerikas existieren vergleichbare Projekte. So haben sich beispielsweise in Kolumbien ebenfalls mehrere Karten-Kooperativen gegründet und in Bogotá betreiben Kinder und Frauen gemeinsam einen Gemüselieferservice für Hotels. In Guatemala gibt es Schneidereien und Werkstätten für Kunsthandwerk, in denen jeweils bis zu 20 Kinder
nachmittags selbst entworfene Produkte für Tourist/innen herstellen; morgens besuchen sie eine Schule. Andere Kinder haben
Projekte entwickelt, die sie „Solidarischen Tourismus“ nennen; in Cusco und anderen Städten der Andenregion bieten sie Besucherinnen und Besuchern Führungen an Orte, die üblicherweise nicht gezeigt werden, und unterhalten selbstverwaltete Herbergen.
Kooperative „Niños Artesanos de Tópaga“ in Kolumbien
Die Kooperative befindet sich in einem Dorf, dessen Bewohnerinnen und Bewohner großenteils von der Arbeit in den umliegenden Kohleminen
leben. Sie entstand 1992 als ungewolltes Nebenprodukt einer Kampagne gegen Kinderarbeit in den Kohlebergwerken Kolumbiens, die von der
Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) angestoßen worden war. Mit Unterstützung zweier Bergarbeiter begannen einige Kinder, die zuvor
in den Bergwerken gearbeitet hatten, kunsthandwerkliche Produkte aus Kohle herzustellen. Heute arbeiten in der Kooperative 34 Kinder und
Jugendliche, 24 Jungen und zehn Mädchen. Der Jüngste ist elf Jahre alt. Die Arbeitszeit legt jedes Kind selbst fest, verpflichtet sich aber auch,
eine bestimmte Anzahl von Figuren oder Schmuckstücken herzustellen. Nach dem Schulunterricht, der bis 16 Uhr dauert, bleiben in der Regel
nicht viel mehr als zwei Stunden für die Arbeit in der Werkstatt übrig. Dies wird als ein Problem gesehen, da mehr produziert werden müsste, um
die Kooperative rentabel zu bewirtschaften.
Die Kinder und Jugendlichen entscheiden selbst, was produziert wird, was mit den Einnahmen geschieht oder wonach sich das Einkommen
richtet. Der Verwaltungsrat besteht aus vier Jugendlichen. Die Preise der Produkte werden nach der aufgewendeten Arbeitszeit berechnet. Nach
der gegenwärtig geltenden, von den Kindern selbst festgelegten Regelung steht die Hälfte der erzielten Einnahmen dem Kind zur Verfügung,
das das Produkt hergestellt hat. Die andere Hälfte dient dem Ankauf der Rohmaterialien, Werkzeuge, der Erhaltung des Gebäudes und der (bescheidenen) Honorierung der beiden erwachsenen Betreuer. Die Produkte werden bisher ausschließlich an Besucherinnen und Besucher der Kooperative verkauft, die den weiten und nicht leicht zu findenden Weg bis in das abgelegene Dorf zurückgelegt haben. Zwar beteiligt sich die
Kooperative gelegentlich an Messen, hat aber bisher keine Versuche unternommen, die Produkte an anderen Orten zu verkaufen, geschweige
denn in andere Länder zu exportieren. Die Jungen und Mädchen können so lange in der Kooperative Mitglied bleiben, wie sie wollen. Die meisten scheiden erst mal nach Ende der Schulzeit aus, einige bleiben oder kehren als Kunsthandwerker/innen zurück
Wie viele andere Formen solidarischer Ökonomie entstehen auch die Kinderkooperativen aus einer Notlage. Zugleich sind sie
Ausdruck des Wunsches, selbstbestimmt und ohne Ausbeutung zu arbeiten. Nicht nur die Hoffnung auf bessere Bezahlung treibt
die Kinder an. Die Arbeit in der Gemeinschaft verspricht auch mehr Spaß und Abwechslung.
Die Idee einer alternativen, sozial geprägten Wirtschaftsweise begleitet die Geschichte des Kapitalismus seit ihren Anfängen. In
Lateinamerika gibt es seit den 1960er Jahren eine besonders intensive Debatte über Formen kollektiver Selbsthilfe von Menschen, die keine Chance auf reguläre Arbeit und Einkommen haben. Sowohl Ideen der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung
als auch der Theologie der Befreiung und gemeinschaftsorientierte indigene Traditionen fließen hier ein. Auf diesem kulturellen Humus gedeihen auch die Kinderkooperativen.
Auch in Afrika und Asien lassen sich Beispiele für eine praktizierte solidarische Ökonomie von und mit Kindern finden. In Benin,
dem Senegal, in Nigeria und anderen afrikanischen Ländern sind im Rahmen der Kinderbewegungen zahlreiche Grass-RootGruppen dabei, Hühner zum Eierlegen zu halten, Schweine und Fische zu züchten oder Nutzpflanzen wie Bohnen, Mais und
Süßkartoffeln anzubauen, Seife, Waschmittel, Klebstoff und Pflanzenöl herzustellen oder Zelte, Teller, Töpfe und Essbesteck für
Hochzeiten und Begräbnisse zu verleihen. Das Einkommen aus diesen so genannten Income Generating Activities wird gemeinsam verwaltet und dient dem Lebensunterhalt und der Finanzierung neuer Projekte und Aktivitäten der Gruppe. In Indien
ist unter dem Dach der Kinderrechtsorganisation Butterflies eine Child Development Bank entstanden, die Lumpensammlerinnen und –sammlern und fliegenden Händlerinnen und Händlern eine selbstständige Existenz ermöglichen soll. Die Idee dieser von den Kindern in Eigenregie verwalteten Bank hat sich inzwischen auf sechs weitere Länder im asiatischen Raum
ausgebreitet.
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Kinderarbeit – Kinderrechte
Kinderkooperative „Espirales de Papel“ (Papierspiralen)
Stadtteil Patio Bonito in Bogotá
Sieben Mädchen, elf bis 17 Jahre alt, stellen Glückwunschkarten in Handarbeit her. Sie werden auf örtlichen Märkten verkauft und bis nach
Europa vertrieben. Sie teilen sich die Arbeit in Entwurf, Produktion, Buchhaltung, Vertrieb etc. untereinander auf nach Lust und Interesse. Sie
arbeiten wöchentlich 16 bis 20 Stunden nachmittags (vormittags besuchen sie eine öffentliche Schule). Die Begleiterin ist 18 Jahre alt. Die Bezahlung erfolgt nach Anzahl der produzierten Karten. Das verdiente Geld wird den Müttern weitergereicht und stellt einen wesentlichen Teil
des Familieneinkommens dar.
Das von uns interviewte Mädchen ist 13 Jahre alt und arbeitet seit zweieinhalb Jahren in der Kooperative; vorher hat sie auf dem Markt Gemüse,
Obst und anderes verkauft. Von der Kooperative hat sie im Haus der Stiftung „El Pequeño Trabajador“ (eine Art Kinder- und Jugendzentrum) erfahren. Die Kooperative wurde von der Stiftung gegründet, auf deren Konto auch die Einnahmen verwaltet werden. Die Kinder können jederzeit
darüber verfügen.
Die Kooperative arbeitet mit anderen Kinderkooperativen zusammen, die Altpapier recyceln und einfache Gebrauchsgegenstände wie Kalender,
Schachteln, Notizbücher oder Schulhefte herstellen.
In Italien gelangen die Karten über die alternative Vertriebsorganisation Equomercato in die Weltläden, in Deutschland sind sie über die Christliche Initiative Romero e.V. in Münster (www.ci-romero.de) erhältlich.
Der Kampf der arbeitenden Kinder für eigene Rechte
Die in den Bewegungen aktiven Kinder bestehen darauf, dass sie ebenso wie andere Kinder eigene Rechte haben. Die UNKinderrechtskonvention ist für sie ein wichtiger Orientierungspunkt. Insbesondere ist ihnen wichtig, dass sie die Möglichkeit
haben, an allen sie betreffenden Entscheidungen mitzuwirken und selbst zu bestimmen, was für sie wichtig ist. Teilweise sind
dazu übergegangen, für sich Rechte zu fordern und auf Rechten zu bestehen, die auf ihre Situation als arbeitende Kinder zugeschnitten und für sie besonders wichtig sind. Die afrikanische Bewegung hat einen eigenen Rechtekatalog formuliert („12
Rechte“), dessen Erfüllung sie Jahr für Jahr überprüft und anmahnt.
„12 Rechte“ der Afrikanischen Bewegung arbeitender Kinder und Jugendlicher
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Das Recht, einen Beruf zu erlernen
Das Recht, im Dorf zu bleiben
Das Recht, Arbeiten in vollkommener Sicherheit auszuführen
Das Recht auf Gleichheit und auf eine gerechte Justiz
Das Recht, sich zu erholen und zu spielen
Das Recht, angehört zu werden
Das Recht auf leichte und begrenzte Arbeit
Das Recht auf Respekt
Das Recht auf Krankheitsurlaub
Das Recht zur Gesundheitspflege
Das Recht, lesen und schreiben zu lernen
Das Recht, sich zu organisieren und seine Meinung zu äußern
Ein von den meisten Bewegungen gefordertes Recht ist das Recht zu arbeiten. Darunter wird nicht – wie oft irrtümlich angenommen wird – verstanden, dass irgendwelche Personen das Recht hätten, die Arbeit der Kinder in Anspruch zu nehmen, oder
dass den Kindern eine Arbeit garantiert werden müsse. Die Kinder verstehen vielmehr unter dem Recht zu arbeiten, dass sie
selbst frei entscheiden können, ob, wo, wie und wie lange sie arbeiten wollen. Es soll dazu beitragen, ihren Entscheidungsspielraum zu erweitern und ihre Stellung als handelnde Subjekte zu stärken. Die Forderung nach einem Recht zu arbeiten
speist sich aus dem Wunsch arbeitender Kinder nach sozialer Anerkennung ihrer Arbeit. Sie wird in erster Linie von Kindern erhoben, die selbst Erfahrungen mit Arbeit und Ausbeutung, aber eben auch mit unzulänglichen Maßnahmen gemacht haben,
die zu ihrem Schutz gedacht waren. Diese Kinder wünschen sich Lösungen, die ihre konkrete Lebenssituation und ihre Erfahrungen berücksichtigen, und sie wollen als Subjekte respektiert werden, die selbst ein sachverständiges Interesse an der Lösung ihrer Probleme haben.
Das Recht zu arbeiten ist nicht nur ein wirtschaftliches Recht, das die gleichberechtigte Teilhabe der Kinder an der Gesellschaft
fördert, sondern dient (auch) dem Schutz der arbeitenden Kinder vor Ausbeutung, entspricht also dem Sinngehalt von Art. 32
der Kinderrechtskonvention. Ihm liegt allerdings eine Vorstellung von Schutz zugrunde, die nicht – wie bisher üblich – auf Vermeidung oder Abschottung von gefährdenden Situationen („Schutz vor…“), sondern auf deren Bewältigung durch aktives Handeln der direkt Betroffenen („Schutz durch…“) beruht. Darin liegen Risiken. So ließe sich fragen, ob die Kinder immer in der
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Kinderarbeit – Kinderrechte
Lage sind, die in einer bestimmten Arbeit liegenden Gefährdungen zu beurteilen, ihr „bestes Interesse“ zu erkennen oder – z.B.
bei den Verlockungen des Geldverdienens – zwischen kurz- und langfristigen Interessen zu unterscheiden. Oder ob sie die nötige Handlungsmacht besitzen, um sich unzumutbaren Arbeitsbedingungen zu widersetzen und die nötigen Änderungen zu erreichen.
Aber es wäre kurzschlüssig anzunehmen, das Vermeidungskonzept von Schutz, das dem Bild einer Käseglocke entspricht, die
über die Kinder gestülpt wird, sei frei von Risiken. Es droht nicht nur die Abhängigkeit der Kinder auf Kosten ihrer Freiheits- und
Partizipationsrechte zu verfestigen und ihnen zu erschweren, die nötigen Kompetenzen für situationsangemessenes Handeln
zu entwickeln, sondern ist auch blind und unflexibel gegenüber den je besonderen Lebensbedingungen der Kinder und den
kulturspezifischen Positionierungen von Kindern in der jeweiligen Gesellschaft. Es schüttet gleichsam das Kind mit dem Bade
aus und macht es unmöglich, auszuloten, in welchen Zusammenhängen die Arbeit der Kinder verortet ist, was die Arbeit für
sie bedeutet und welche Rolle sie selbst in der konkreten Situation zu ihrem eigenen Schutz spielen können. Mehr noch, im
Sinne einer self-fulfilling prophecy trägt das Vermeidungskonzept selbst dazu bei, die Kinder überhaupt erst in den Zustand der
„Hilflosigkeit“ zu versetzen, der als Beleg für das „Schutzbedürfnis“ dient.
Wird dagegen Kindern das Recht zu arbeiten erst einmal eingeräumt, können sie sich mit der neuen Situation vertraut machen
und gegebenenfalls die Hilfe und Unterstützung in Anspruch nehmen, die sie brauchen, um sich vor Gefährdungen zu schützen oder Verbesserungen ihrer Situation zu erreichen. Das Recht zu arbeiten könnte zudem durch rechtliche Regelungen ergänzt werden, die die Rahmenbedingungen für die den Kindern zugänglichen Arbeiten festlegen, z.B. maximale Arbeitszeit,
paralleler Schulbesuch oder Schutz- und Mitwirkungsrechte am Arbeitsplatz. Außerdem könnten den arbeitswilligen Kindern Arbeitsgelegenheiten vermittelt werden, die gleichermaßen diesen Regelungen und den Wünschen der Kinder entsprechen. Dies
wäre auch im Rahmen öffentlicher Einrichtungen oder mit Blick auf neue Formen solidarischen und gemeinnützigen Wirtschaftens denkbar.
Durchsetzung weiterer Rechte
Eine besondere Relevanz erhält das Recht zu arbeiten dadurch, dass es zur Durchsetzung auch weiterer Kinderrechte beitragen kann. Der fundamentale Neubeginn, den die UN-Kinderrechtskonvention verspricht, indem sie den Kindern das Recht auf
eine menschenwürdige Gegenwart und eine selbstbestimmte soziale Identität zugesteht, bleibt ohne nennenswerte Folgen, solange die Kinder faktisch vom Wohlwollen der Erwachsenen abhängig bleiben. Erst wenn sie auf legale Weise wirtschaftlich tätig
sein und gegebenenfalls über eigenes Einkommen verfügen können, können die Kinder damit rechnen, die nötige Unabhängigkeit und das soziale Gewicht zu erlangen, um selbst ihre Rechte in der Gesellschaft durchzusetzen.
In den Stellungnahmen der Kinderbewegungen wird das Recht zu arbeiten nicht auf irgendeine Arbeit bezogen, sondern es wird
immer wieder betont, dass es sich um eine „Arbeit in Würde“, eine „leichte“ oder „nicht zu schwere Arbeit“, eine Arbeit, die den
„Fähigkeiten angemessen“ ist, handeln soll. Dies könnte auf den ersten Blick so verstanden werden, dass die Kinder für sich
nur ein eingeschränktes Recht auf „kinderspezifische“ Arbeit beanspruchen. Aus dem Zusammenhang geht jedoch hervor, dass
nicht das Lebensalter zum Kriterium der Angemessenheit gemacht wird, sondern die Wahrung der menschlichen Würde. Im
Verständnis der Kinderbewegungen zielt das Recht zu arbeiten darauf ab, eine „möglichst gute“ Arbeit zu erlangen und jeder
Art von Ausbeutung und Entwürdigung in der Arbeit aktiv zu begegnen. Es enthält somit einen „utopischen Überschuss“, der
über die in der kapitalistischen Gesellschaft dominierende Form der Lohnarbeit hinausweist. Überdies beanspruchen die Kinder, selbst entscheiden zu können, ob die zu erlangende Arbeit den von ihnen selbst bestimmten Kriterien entspricht.
Die von den Kindern vorgenommenen Spezifizierungen haben besonderes Gewicht in einer gesellschaftlichen Situation, in der
die Arbeitsverhältnisse weltweit „dereguliert“ und „flexibilisiert“ werden und immer mehr Menschen zugemutet wird, sich mit
einer „prekären Arbeit“ zu begnügen. Sie unterstreichen, dass die Kinder entgegen einem gängigen Vorurteil nicht bereit sind,
sich als billige Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt vereinnahmen zu lassen, und dass ihnen bewusst ist, mit Menschen anderen
Alters, die auf ihre Arbeitskraft angewiesen sind, in einem Boot zu sitzen. Umgekehrt bestehen sie aber auch darauf, nicht unter
bloßem Verweis auf ihr geringeres Lebensalter von einer gesellschaftlichen Praxis ausgeschlossen zu werden, die für „erwachsene“ Menschen als Ausweis eines menschenwürdigen Daseins gilt.
Nach dem Verständnis der Kinderbewegungen ist das von ihnen geforderte Recht zu arbeiten keinesfalls auf Lohnarbeit beschränkt, sondern bezieht sich auf alle für das menschliche Leben bedeutsamen Tätigkeiten. In ihm drückt sich letztlich das Verlangen aus, nicht auf eine begrenzte und vom Wohlwollen der Erwachsenen abhängige „Kindheit“ reduziert zu werden, sondern
in gleichberechtigter Weise am Kampf um eine bessere Welt für alle teilzuhaben.
Manfred Liebel und Ina Nnaji, ProNats e.V.
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Kinderarbeit – Kinderrechte
Kinderfreundliche Schulen und Werkstätten
für arbeitende Kinder
Bildung ist ein Grundrecht, das jedem Menschen zusteht. Bildung wird als ein entscheidender Schlüssel für weltweite Armutsminderung, nachhaltige Ressourcennutzung und Abbau von Diskriminierungen und individuellen Behinderungen gesehen. Im Alltag von Millionen Kindern kollidiert dieses Recht allerdings mit der Wirklichkeit. Sie werden gezwungen zu arbeiten,
weil sie die Schulden ihrer Eltern abzahlen müssen. Sie werden ausgebeutet, weil ihr Arbeitseinkommen für das Überleben
ihrer Familie unabdingbar ist. Sie arbeiten auf dem Feld oder im Haushalt, weil ihr kulturelles Umfeld dies als selbstverständlich
betrachtet. D.h. die Situationen, warum Kinder arbeiten müssen oder wollen und deshalb nicht zur Schule gehen, sind verschieden.
Entwicklungspolitischen Hilfs- und Kinderrechtsorganisationen versuchen auch für bislang von Bildung ausgeschlossene, arbeitende Kinder Bildungschancen zu eröffnen. Dabei ist die Mitwirkung der Gemeinschaft, in der sie leben, der Kinder selbst und
der Schule nötig. Gesucht werden Bildungsangebote, die schulische ebenso wie außerschulische Lernformen berücksichtigen.
Lokales Wissen und orale Tradition sollen dabei einen eigenen Stellenwert erhalten. Der Lehrplan muss die ganz unterschiedliche Lebenswirklichkeit arbeitender Kinder in der Stadt, in ländlichen oder indigenen Gemeinschaften berücksichtigen. Je nach
dem, ob sie auf der Straße oder auf dem Markt, in einer Werkstatt oder Fabrik, auf dem Feld oder im Haushalt tätig sind, werden – sofern die Arbeit nicht schädlich und ausbeuterisch ist - praktikable Lösungen gesucht. Arbeit darf den Schulbesuch nicht
behindern, und Schule darf Arbeit nicht per se verdammen. Das betrifft den Stundenplan ebenso wie die Unterrichtsinhalte.
Das Beispiel MANTHOC
In Peru gibt es die „Bewegung der arbeitenden Kinder“ MANTHOC. In ihr organisieren sich landesweit mehrere Tausend arbeitende Kinder, um für bessere Schulen, bessere Arbeitsbedingungen und bessere Lebensbedingungen in ihren Wohnvierteln
zu kämpfen. In der Schule von MANTHOC bekommen Kinder eine Chance, die in öffentlichen Schulen nicht zurecht kommen.
Diese „Schule für das arbeitende Kind“ in Lima ist ganz anders als die üblichen Schulen. Die Klassen sind nicht nach Altersstufen aufgeteilt, sondern nach Interessen und Fähigkeiten. Es gibt Kurse in Backen, Elektrizität, Holz- und Lederverarbeitung.
Die im Schnitt 8-13-jährigen Jungen und Mädchen erlernen z.B. den Umgang mit dem Material Leder (Werkkunde). Sie stellen Geldbörsen, Taschen, Brillen- und Schlüsseletuis her, aber sie erfahren auch, woraus Leder gemacht wird und wie z.B. das
Rind nach Südamerika kam (Geschichte). Außerdem lernen sie, welche anderen Rohstoffe für Kleidung es gibt (z.B. Baumwolle),
wo und wie diese in Peru angebaut wird (Erdkunde). Die hergestellten Gegenstände werden später verkauft. Dabei wollen die
Schüler natürlich nicht übers Ohr gehauen werden (Mathematik). Deshalb müssen sie nicht nur gut rechnen können, sondern
auch etwas von Buchhaltung verstehen. Geschichten, in denen Gegenstände aus Leder eine Rolle spielen, werden im Sprachund Schreibunterricht aufgegriffen. So wird die konkrete, praktische Arbeit zum Motor für alle Unterrichtsfächer.
Natürlich bringen die Kinder auch ihre Fragen und Alltagsprobleme mit in den Unterricht ein. Nach der Schule verkauft Carina
(12) Toilettenpapier auf dem nahegelegenen Markt. Als ihr eines Tages ein paar Rollen geklaut werden, steht der Lernstoff für
diesen Tag fest. Der Verlust wird ermittelt und alle helfen mit zu berechnen, wie viele Rollen sie verkaufen muss, um den Schaden wieder wettzumachen (Betriebswirtschaft). Ausführlich wird über das Thema stehlen gesprochen: Welche Ursachen stehlen haben kann und wie dies zu bewerten ist
(Sozialkunde). Alle Kinder bringen ihre Erfahrungen ein, denn bei einem solchen Thema
kann jeder mitreden. Anschließend werden die
Ergebnisse zu Papier gebracht. Den Lehrern
und Lehrerinnen der MANTHOC-Schule ist
wichtig, die Kinder bei ihren Alltagserfahrungen
abzuholen und ihr vielfältiges Wissen einzubeziehen. Von den Lehrern eingebracht werden
Themen wie Kinder- und Menschenrechte, politische Bildung und partizipative Lernmethoden. Nach 15 Jahren als Projekt hat die Schule
inzwischen ein eigenes Curriculum und der Abschluss in der „Schule für das arbeitende Kind“
wird staatlich anerkannt.
Die Schule wirkt aber auch weit in die Gemeinde hinein. In vielen Stadtteilen haben die
Kinder zusammen mit anderen Organisationen
und (manchmal sogar) den Bürgermeistern
Demonstration der Organisation arbeitender Kinder, Foto: terre des hommes
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Kinderarbeit – Kinderrechte
viele kleine, aber wichtige Verbesserungen erreicht: Es gibt Spiel- und Sportplätze, der Müll wird gesammelt und wiederverwertet,
Grünanlagen und teilweise sogar Jugendzentren wurden eingerichtet. Seit 2007 ist MANTHOC in Villa El Salvador und anderen Stadtteilen Limas als „Lobbyist“ der Kinder und Jugendlichen am lokalen Entwicklungsplan beteiligt. Die Kinder entscheiden mit darüber, wie das Gemeindebudget ausgegeben werden soll. Gibt es so etwas in Deutschland auch?
Die finanzielle Unabhängigkeit von MANTHOC wird über einen solidarischen Geschäftsbetrieb gewährleistet. Die in der Schule
und den eigenen Werkstätten hergestellten T-Shirts, Lederwaren, Holzspielzeug und Grußkarten werden über eigene Läden verkauft. Über das Netz des Fairen Handels werden die Artikel auch international vertrieben.
In den bei Touristen beliebten Städten Cajamarca und Ayacucho besitzt MANTHOC zwei einfache, insbesondere Rucksacktouristen ansprechende Hotels. Alternative Stadtführungen und Einblicke in das Leben der arbeitenden Kinder gehören zum Angebot für die Touristen. Die Arbeitszeiten in den Werkstätten, Läden und auch im Hotel sind so geregelt, dass die Kinder und
Jugendlichen weiterhin zur Schule gehen können. Auch bleibt ihnen genug Zeit zum spielen oder „abhängen“.
Die „Werkstattschule für arbeitende Kinder“ in Bogotá/Kolumbien hat einen ähnlichen Ansatz. Neben lesen, schreiben und rechnen geht es auch um die Kinderrechte und den Aufbau von Selbstvertrauen. „Stell dir vor, du steigst in ein Taxi“, sagt man den
Kindern, mit denen die Mitarbeiterinnen durch Spielen, Malen oder Angeboten schulischer Nachhilfe auf den Straßen und
Märkten von Bogotá in Kontakt kommen, „und der Fahrer fragt dich, wohin du willst. Du sagst ihm, das wüsstest du noch nicht
so genau. Gewiss wird er dich umgehend aussteigen lassen.“ Deshalb ist es eine der ersten Aufgaben der Neulinge, aufzuschreiben, wohin sie wollen, wie sie sich ihr zukünftiges Leben vorstellen. Die Werkstattschule verpflichtet sich im Gegenzug,
den Kindern bei der Verwirklichung ihrer Vorstellungen zu helfen und dabei immer ihre Rechte und Persönlichkeit zu respektieren. Das Recht, sich zu organisieren und seine Meinung ausdrücken zu können, steht ganz im Vordergrund.
Aber es gibt auch eine Küche für das leibliche Wohl, eine Nähwerkstatt für Mütter, einen Raum für psychologische Beratung für
Eltern und Kinder, Platz für Gruppentreffen, Filmvorführungen, Tanz und Musikgruppen. Wichtig sind auch die Kurse über die
Gleichberechtigung von Jungen und Mädchen, Ethik, friedliche Formen der Konfliktlösung oder das Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Im Chiquitaller, der Werkstatt für die Kleinen, wird vor allem gespielt, gebastelt und gemalt. Und gleich gegenüber
ist die „Schnelle Schule“, in der arbeitende Kinder mit einem speziellen Angebot versäumte Schuljahre aufholen, um anschließend wieder eine öffentliche Schule besuchen zu können.
Initiativen in Indien
Anders und doch auch ähnlich ist die Situation arbeitender Kinder in Indien.
In den randstädtischen Elendsvierteln von Delhi leben Millionen Menschen von der Hand in den Mund. Alle – Vater, Mutter,
Kinder – müssen zum Lebensunterhalt beitragen. Sie alle sind in der informellen Ökonomie („Schattenwirtschaft“) ohne soziale Absicherung beschäftigt. Frauen und Kinder produzieren im Stücklohn in Heimarbeit Kleidung für (Sub-) Unternehmer. Tausende Familien in den Elendsvierteln Ost-Delhis kommen aus dem Bundesstaat Bihar. In den marginalisierten Dörfern Bihars
werden weniger als 40 Prozent der 6- bis 14-Jährigen eingeschult. Von diesen verlassen 60 Prozent die Schule vorzeitig: Zum
einen, weil sie als Dalits diskriminiert werden und zum anderen, weil der Unterricht unregelmäßig und zu schlecht ist. Auf der
Suche nach Überlebenstätigkeiten ziehen viele mit ihren Eltern in Städte wie Delhi. Das Stücklohnsystem in der Heimarbeit spekuliert darauf, dass die Kinder den Müttern mithelfen, sonst sind kaum ausreichende Stückzahlen zu schaffen. Dadurch wird es
den Kindern unmöglich gemacht zur Schule zu gehen. Ohne Schulabschluss und qualifizierende Ausbildung finden sie auch
später keine Arbeitsalternativen.
Zwei langjährige terre des hommes – Projektpartner unterstützen die Kinder und ihre Familien mit Bildungs- und alternativen
Arbeitsprogrammen am Ausgangs- und Zielpunkt der Migration: Rural Education and Development (READ) in Bihar und Ankur
Society for Alternatives in Education in Delhi. 1.200 arbeitenden Kindern unter 14 Jahren wird ein Schulplatz besorgt und 255
Schulabgängern zwischen 12 und 18 Jahren eine zweijährige Ausbildung ermöglicht. Beide Partner wissen, dass dies nur gelingen wird, wenn der Vorteil von Bildung eingesehen wird und sich die Qualität des Unterrichts verbessert. Clubs und Bibliotheken geben arbeitenden Kindern Raum, über sich, ihre Probleme und Wünsche zu sprechen und sich zu organisieren. Ebenso
wichtig ist es, Lehrer, Eltern und die Gemeinde in das Projekt einzubeziehen. Aufklärung über die Rechte der Kinder, über neugierig machende und das Vorwissen der Kinder einbeziehende Unterrichtsmethoden (Geschichten erzählen, Puppentheater,
Theater) und eine insgesamt kinder-freundliche Schule sind nötig.
Ankur hat ein „Beyond Textbook“-Programm entwickelt, was zusätzlich zum Schulbuchwissen das Kultur- und Umweltwissen
der Kinder und ihrer Lebensgemeinschaften aufnimmt. Dazu haben sie eigene Materialien und Präsentationsformen erstellt.
Hierbei, ebenso wie bei der Reform der Curricula, Schulbücher und Lehrerausbildung, werden sie unterstützt von Bildungsinstituten und der Universität. Diese bringen sie in den Unterricht der öffentlichen Grundschulen ein. Ziel ist nicht die Etablierung
„alternativer Schulen“, sondern die Qualifizierung des Unterrichts an den staatlichen Schulen. Um dies zu erreichen ist die Mobilisierung der Eltern und Gemeinden nötig. Mit Demonstrationen, Kampagnen und Eingaben Richtung Politik und lokale Behörden wird Druck gemacht.
Ein sehr motivierendes Erlebnis sind die „Freizeiten“ am Jahresende, wenn ein Teil der Kinder und Jugendlichen die Möglichkeit erhält zwei Wochen lang außerhalb von Delhi, in einem Camp zu leben, zu spielen, zu singen und zu tanzen, Theater zu
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Kinderarbeit – Kinderrechte
spielen oder Sport zu treiben. Diese Freizeiten erweisen sich als extrem hilfreich für den Aufbau des aufgrund der jahrelangen
Diskriminierung verloren gegangenen Selbstwertgefühls der Kinder.
Zur Verminderung der Zahl der Schulabbrecher hat READ 28 Fördergruppen eingerichtet, die den arbeitenden Kindern helfen,
den Anschluss in ihrer Klasse zu halten beziehungsweise wieder zu finden und nicht abzugehen. Die hier unterrichtenden Projektlehrer unterstützen gleichzeitig die Lehrer der staatlichen Schule in deren Qualifizierung. Neben kinderfreundlicherem Unterricht betrifft dies die Aufnahme von Alltagsproblemen im Unterricht, wie z.B. Hygiene und sauberes Wasser. Diese Kooperation
ermöglicht es auch nachzuhalten, welche Kinder unregelmäßig zum Unterricht kommen und die Gründe hierfür zu klären. Für
einige Dutzend Jungen, die definitiv die Schule abgebrochen haben und saisonal außerhalb der Dörfer arbeiten, gibt es Ausbildungs- und Qualifizierungsangebote in bestehenden Berufsausbildungszentren der nächst größeren Ortschaften. Für diese
12- bis 18-jährigen Jungen ist es eine große Chance über die Qualifizierung Lebensunterhalt in der Nähe ihrer Familien zu finden und nicht in die Großstädte migrieren zu müssen.
Albert Recknagel, terre des hommes
Auch arbeitende Kinder haben ein Recht auf Bildung
Projektbeispiele aus Lateinamerika
Reyes Irene Valenzuela, Tegucigalpa, Honduras
Mädchen, die in fremden Haushalten arbeiten, erhalten in dieser Einrichtung eine mit Berufsausbildung verbundene Grundbildung, die es ihnen ermöglichen soll, in Zukunft eine andere Arbeit zu finden. Die Arbeit als Hausmädchen ist insofern als problematisch zu betrachten, als die Mädchen sehr isoliert arbeiten, kaum eine Chance haben, sich zu organisieren, und oftmals
körperlich, seelisch und sogar sexuell missbraucht werden.
Neben den schulischen und berufspraktischen Kursen, die am Wochenende stattfinden, werden die Mädchen bei Reyes Irene
Valenzuela auch psychologisch und medizinisch begleitet und können bei sportlichen und kreativen Aktivitäten ein neues
Selbstbewusstsein entwickeln. Sie erfahren, dass sie nicht alleine sind und können sich Hilfe oder rechtlichen Beistand holen,
wenn sie Probleme mit ihren Arbeitgebern haben. Denn die Zusammenarbeit mit den Arbeitgebern ist von größter Bedeutung,
um die Arbeitsbedingungen der Mädchen zu verbessern. Es geht bei diesem Projekt weniger um die Abschaffung der Kinderarbeit als um die Verwirklichung der Rechte der Mädchen.
Foyers Maurice Sixto, Port-au-Prince, Haiti
In Haiti gibt es ungefähr 300.000 Kinder, die von ihren völlig verarmten Familien auf dem Land zu fremden Familien in die Stadt
geschickt werden und dort als Restavèks (von rester avec: bleiben bei) arbeiten. Die Hoffnung, dort bessere Möglichkeiten für
einen Schulbesuch zu haben, erweist sich als trügerisch, denn in den Familien, die selbst im verarmten städtischen Milieu
leben, werden sie körperlich und seelisch ausgebeutet. Für diese Kinder gilt eine Vielzahl von Rechten nicht: so das Recht auf
Betreuung durch die Eltern und Schutz durch den Staat, das Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit, das
Schutzrecht der Privatsphäre, das Schutzrecht vor Gewaltanwendung, Misshandlung und Verwahrlosung, das Recht auf Bildung
oder das Recht auf soziale Sicherheit. Hier wird deutlich, dass nicht die Arbeit an sich, sondern die Arbeitsbedingungen zur Verletzung der Rechte führen.
Das Projekt begegnet diesem Problem mit einem Bildungsangebot für Restavèk-Kinder, das sich den Arbeitszeiten der Kinder
anpasst, und durch enge Zusammenarbeit mit den so genannten ‚Gastfamilien’, regelmäßigen Hausbesuchen, breiten Sensibilisierungsveranstaltungen und weiteren Aktivitäten. Die Kinder erfahren, dass sie Rechte haben und wie sie diese besser in
Anspruch nehmen können. Eingebettet ist das Projekt mittlerweile auch in breitere Anstrengungen, die die Verbesserung der
Lebenssituation der Menschen auf dem Land und deren Aufklärung über das Restavèk-System einbeziehen.
Langfristig ist es das Ziel, das Restavèk-System, so wie es heute besteht, abzuschaffen. Dies richtet sich aber weniger gegen die
Arbeit von Kindern als gegen die Verletzung der Kinderrechte in ausbeuterischen Verhältnissen. Bildung in einem umfassenden
Sinne kann hier als Ansatz verstanden werden, gerechtere Verhältnisse und Zukunftsperspektiven zu schaffen, wobei die Formel ‚Schule statt Arbeit’ zu kurz griffe.
Julia Burmann, Kindernothilfe
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Kinderarbeit – Kinderrechte
Anhang
Materialhinweise und Anschriften
Materialien der Kindernothilfe
Broschüre „Kinder haben Rechte. Die UN-Kinderrechtskonvention“ (kostenlos)
Broschüre „Kinder so stark wie Staaten“ (kostenlos)
Poster „Kinder haben Rechte“ (kostenlos)
Kinderrechte-Comic (kostenlos)
Unterrichtseinheit „Kinder haben Rechte“ (kostenlos)
Unterrichtseinheit „Ist das fair? Kinderarbeit im Haushalt“ (kostenlos)
Dritte-Welt-Information/Unterrichtsmaterial „Kinderrechte in Äthiopien“ (kostenlos)
Kinder, Kinder, Nr. 13: „Robinson bei den Teppichknüpfern“ (kostenlos)
Kinder, Kinder, Nr. 20: „Robinson und Tina im Berg des Teufels“ (Bolivien) (kostenlos)
Bestelladresse: Kindernothilfe e.V., Düsseldorfer Landstraße 180, 47249 Duisburg, Tel.: 0203 – 77 89 0,
E-Mail: [email protected], Angebote zum Herunterladen: www.kindernothilfe.de
Material von ProNats
ProNATs & CIR (Hrsg.): „Wir sind nicht das Problem, sondern Teil der Lösung.“ Arbeitende Kinder zwischen Ausbeutung und
Selbstbestimmung. ProNATs e.V. und Christliche Initiative Romero e.V., Berlin, Münster, 2008 (ab ca. 12 Jahre, 6.00 Euro)
Materialien von terre des hommes
Themeninformation „Kinderarbeit – Schule statt schuften“ (Bestellnummer: 401.1172.01, kostenlos)
Broschüre „Kinderarbeit – Was Verbraucher und Unternehmen tun können“ (Bestellnummer: 301.1299.00, kostenlos)
Plakatserie „Ausbeuterische Kinderarbeit“ (Elf Plakat, DIN A1, nur als Serie lieferbar, Bestellnummer: 601.9090.00,
Schutzgebühr: 10,00 Euro)
Unterrichtsbogen „Kinderarbeit“ (Bestellnummer: 101.2734.00, kostenlos
Unterrichtsbogen „Theaterszenen über Kinderarbeit“ (Bestellnummer: 101.2735.00, kostenlos)
Unterrichtsbogen „Das Papiertütenspiel“ (Bestellnummer: 101.2615.00, kostenlos)
Bestelladresse: terre des hommes, Hilfe für Kinder in Not, Referat Logistik, Ruppenkampstraße 11 a, 49084 Osnabrück,
Tel.: 05 41 – 71 01 104 oder 105, E-Mail: [email protected], Angebote zum Herunterladen: www.tdh.de
Fachbücher (Auswahl, nur Publikationen, die seit 2004 erschienen sind)
Kleeberg-Niepage, Andrea: Kinderarbeit, Entwicklungspolitik und Entwicklungspsychologie. Kinderarbeit als Herausforderung
für die universalisierte eurozentristische Konstruktion von Kindheit. Hamburg: Dr. Kovacs, 2007.
Kuschnereit, Julia: Kinderarbeit in Entwicklungsländern als internationale Herausforderung: Eine Evaluierung handelspolitischer und privatwirtschaftlicher Ansätze. Berlin: Logos, 2004.
Liebel, Manfred: Kinder im Abseits. Kindheit und Jugend in fremden Kulturen. Weinheim/München: Juventa, 2005.
Liebel, Manfred: Kinderrechte – aus Kindersicht. Wie Kinder weltweit zu ihrem Recht kommen. Berlin/Münster/Hamburg/London: LIT, 2009.
Liebel, Manfred (unter Mitarbeit von Beatrice Hungerland, Anja Liesecke, Claudia Lohrenscheit und Albert Recknagel):
Wozu Kinderrechte. Grundlagen und Perspektiven. Weinheim/München: Juventa, 2007.
Liebel, Manfred / Ina Nnaji / Anne Wihstutz (Hrsg.): Kinder. Arbeit. Menschenwürde. Internationale Beiträge zu den Rechten
arbeitender Kinder. Frankfurt a.M./London: IKO, 2008
Nnaji, Ina Adora: Ein Recht auf Arbeit für Kinder! Chance zu gesellschaftlicher Partizipation und Gleichberechtigung.
Marburg: Tectum, 2005.
Kontakte und weitere Informationen
Werkstatt Ökonomie e.V., Heidelberg, Klaus Heidel, [email protected], www.woek.de
Kindernothilfe e.V., Duisburg, Barbara Dünnweller, [email protected], www.kindernothilfe.de
ProNats, Berlin, [email protected], www.pronats.de
terre des hommes, Osnabrück, Barbara Küppers, [email protected], www.tdh.de
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