Das amerikanische Notfallwesen – „emergency medical
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Das amerikanische Notfallwesen – „emergency medical
Notfall & Rettungsmedizin 2002 · 5:XXX–XXX DOI 10.1007/s10049-002-0493-6 Redaktion P. Herrmann, Heidelberg B.Wolcke, Mainz Notfall aktuell: Notfallmedizinische Zentren J. Koppenberg1 · S. M. Briggs2 · S. K.Wedel3 · A. K. Conn4 1 Klinik für Anästhesiologie,Universität Regensburg 2 Department of Surgery,Massachusetts General Hospital,Harvard University,Boston,USA 3 Boston MedFlight,New England Life Flight Inc.,Bedford,USA 4 Department of Emergency Medicine,Massachusetts General Hospital,Harvard University, Boston,USA Das amerikanische Notfallwesen – „emergency medical service und emergency room“ Unser weltweit als vorbildlich geltendes Rettungswesen mit Implementierung eines präklinisch tätigen Notarztes befindet sich derzeit aus ökonomischen und politischen Gründen erneut auf dem Prüfstand. Einerseits nimmt die Zahl der Notfalleinsätze mit Notarztbegleitung kontinuierlich zu, andererseits nimmt die Zahl der tatsächlich indizierten Notarzteinsätze nach streng medizinischer Indikation (NACA IV–V) stetig ab.Weiterhin sind derzeit die Auswirkungen der DRG-Einführung auf die Notfallmedizin und die Interhospitaltransporte nur schwer vorhersehbar. Zu alldem wird auch der nahende Ärztemangel nicht spurlos am Notarztwesen vorübergehen. Diese Umstände veranlassen Verantwortliche für den Rettungsdienst über Alternativen bzw. Lösungen nachzudenken [1, 2, 3, 4, 5]. Häufig wird in diesem Zusammenhang das amerikanische Notfallwesen als alternatives Rettungswesen sehr polarisiert ins Spiel gebracht – entweder als eine echte Alternative oder als Schreckensvision. Leider ist jedoch festzustellen, dass die dabei verwendeten Begriffe sehr oft falsch oder in einem verzerrten Kontext verwendet werden. Viele Missverständnisse beruhen auf der Unkenntnis des amerikanischen Notfallsystems. Somit werden „Äpfel mit Birnen“ verglichen und notfallmedizinisches Studienmaterial bzgl. der beiden Systeme unreflektiert gegenübergestellt. Fakten und Fiktion werden dabei oft verwechselt oder vermischt. D ieser Artikel möchte das amerikanische Notfallsystem wertfrei und emotionslos vorstellen. Hierzu soll exemplarisch das Notfallwesen in Boston/Massachussetts präsentiert werden, welches im Rahmen des DIVI-Traveller-Stipendiums 2000 des Erstautors eingehend studiert werden konnte. Allgemeines Um das amerikanische Notfallsystem tatsächlich verstehen zu können, muss man zunächst akzeptieren, dass das amerikanische Wort „emergency medicine“ so gut wie nichts mit unserer Vorstellung von präklinischer Notfallmedizin, der „emergency room doctor“ überhaupt nichts mit unserem präklinisch tätigem Notarzt zu tun hat (Tabelle 1) und der deutsche Rettungsassistent nur sehr bedingt mit dem amerikanischen „paramedic“ verglichen werden kann. Auch der „emergency room“ hat strukturell nichts mit den uns bekannten Notaufnahmen bzw. Notfallambulanzen gemein. Die Begriffe „scoop and run“ (USA) vs. „stay and play“ (Deutschland) werden gerne zur plakativen Beschreibung der differenten Notfallsysteme herangezogen. Einige Artikel haben sich eingehend mit den Unterschieden befasst [6, 7, 8] und andere nach möglichen Vor- oder Nachteilen der Systeme gesucht [9, 10]. Ein endgültiges Urteil, ob und wenn, welches System dem anderen überlegen ist, kann bis heute nicht allgemein gültig gefällt werden. Es ist fraglich, ob es in Anbetracht der grundverschiedenen Ausgangssituationen überhaupt je gelingen wird, diese Frage endgültig beantworten zu können. Trotzdem lohnt es sich, sich mit dem amerikanischen Notfallsystem zu befassen, da es einige sehr interessante Komponenten enthält. Über diese sollte man bei uns eingehend nachdenken und u. U. adaptiert übernehmen, um unser System noch effizienter und/oder effektiver zu machen. Historie und Entwicklung des amerikanischen Notfallwesens Zum kompletten Verständnis des amerikanischen Notfallwesens im Gesamtkontext des Gesundheitssystems der Vereinigten Staaten ist es notwendig, kurz die historische Entwicklung zu beleuchten. Die Entwicklung des zivilen amerikanischen Notfallsystems ist eng mit der Entwicklung des militärischen Sanitätswesens verknüpft. Erste eingehende Erfahrungen mit einer organisierten Rettungsmedizin sammelte das Militär im Koreakrieg. Hier stand aufgrund der © Springer-Verlag 2002 J. Koppenberg Klinik für Anästhesiologie, KLinikum der Universität Regensburg, F.-J.-Strauss-Allee 11, 93042 Regensburg Notfall & Rettungsmedizin 7•2002 |1 Notfall aktuell: Notfallmedizinische Zentren Tabelle 1 Gegenüberstellung „Notarzt“ – „emergency room doctor“ Notarzt Emergency room doctor Fachgebiet Interdiszipilnär (Anästhesiesten, Internisten, Chirurgen u. a.) Eigenständiges Fachgebiet „ emergency medicine“ Ausbildung Fachkundenachweis oder Zusatzbezeichnung Facharzt Tätigkeitsort Präklinisch am Notfallort Klinisch im „emergency room“ Mitarbeiter Rettungsassistent „ER-Pflegepersonal“ Beschäftigung Meist nebenamtlich, tageweise Hauptamtlich, ganztags Notfallart Lebensbedrohliche oder potentiell lebensbedrohliche Notfälle (z. B. Polytrauma, Myokardinfarkt) Alle Notfälle (z. B. akute Zystitis, Bandscheibenvorfall, Polytrauma, Myokardinfarkt) Rettung der verletzten Soldaten unter Feindbeschuss die schnelle Rettung und der zügige Transport mittels Helikopter ohne jegliche Therapie in das Feldlazarett an erster Stelle [11]. Aufgrund der positiven Erfahrungen aus dem Koreakrieg wurde dieses Traumasystem im Vietnamkrieg weiter ausgebaut und professionalisiert. Das zivile Rettungswesen war zu diesem Zeitpunkt hingegen kaum organisiert oder einheitlich geregelt. Als man feststellen musste, dass aufgrund eines gut funktionierenden Traumasystems ein verletzter Soldat im Dschungel Vietnams bessere Überlebenschancen hatte als ein ziviles Verkehrsunfallopfer auf den Straßen der friedlichen Vereinigten Staaten, war es nur konsequent, das militärische Konzept auch auf das zivile Amerika zu übertragen. Das traumatisch orientierte „scoop-and-run-Konzept“ hat somit seine Wurzeln im militärischen Sanitätswesen [11]. Bis heute steht in den USA zur Verkürzung des therapiefreien Intervalls der zügige Transport des Patienten zur definitiven klinischen Versorgung an oberster Stelle. Dabei werden zum Transport nur die notwendigsten Maßnahmen durchgeführt. Alle präklinischen Maßnahmen müssen daher einerseits zeitsparend und andererseits relativ einfach durchführbar sein, da diese von speziell darin geschultem, paramedizinischem Personal (paramedics) durchgeführt werden. In Deutschland soll das therapiefreie Intervall durch die möglichst definitive Patientenversorgung vor Ort bzw. Einleitung der definitiven Therapie so 2| Notfall & Rettungsmedizin 7•2002 kurz wie möglich gehalten werden. Hierzu ist es allerdings unerlässlich, einen speziell qualifizierten Arzt (Notarzt) und die dafür nötige Ausrüstung in das Rettungssystem zu integrieren. Ein weiterer, historisch begründeter, jedoch fundamentaler Unterschied zwischen beiden System gründet in der Tatsache, dass sich in den USA die Notfallmedizin zu einer eigenständigen, klinisch-fachübergreifenden Fachrichtung etabliert hat (s. unten). Da sich die Systeme selbst innerhalb der USA von Staat zu Staat z. T. deutlich unterscheiden, soll in diesem Artikel exemplarisch auf das Notfallwesen in Boston/Massachusetts eingegangen werden. Boston/Massachussetts Massachusetts (Abb. 1) erstreckt sich im Nordosten Amerikas über 13.293 km2 und zählt 6,4 Mio. Einwohner. Die Gegend ist sehr flach, das Klima entspricht dem Mitteleuropas. Massachusetts gehört mit seinen z. T. weltweit bekannten Abb.1 䉴 Luftrettungsstützpunkte in Massachussets Kliniken (z. B. Massachusetts General Hospital oder New England Medical Center) zu einem der medizinisch best versorgten Bundesstaaten in den Vereinigten Staaten. Die Hauptstadt Boston liegt an der Atlantikküste und zählt 610.000 Einwohner, jedoch befinden sich tagsüber durchschnittlich 2 Mio. Menschen in der Stadt (Berufspendler, Touristen u. a.). Das bodengebundene Rettungswesen Allgemein Der bodengebundene Rettungsdienst in den Vereinigten Staaten ist nicht einheitlich gewachsen, sondern differiert zwischen den einzelnen Staaten und z. T. auch den einzelnen Regionen sehr stark. So kann der Rettungsdienst komplett eigenständig organisiert sein oder er ist der Feuerwehr bzw. der Polizei angegliedert. Die Rettungsleitstellen sind meist mit der Polizeinotrufzentrale gekoppelt und über eine einzige, für die gesamten Vereinigten Staaten einheitliche Notrufnummer (911) erreichbar. Polizei und Feuerwehr werden in medizinischen Notfällen regelmäßig als „first responder“ (Erste-Hilfe-Maßnahmen bis hin zur Frühdefibrillation) eingesetzt. Personal Bekanntermaßen verzichtet die präklinische Notfallmedizin in den Vereinigten Staaten meist gänzlich auf die Beteiligung eines Arztes im Sinne eines uns bekannten „Notarztes“. Stattdessen werden die Rettungsdienstfahrzeuge von sogenannten „paramedics“ besetzt. Die paramedizinische Ausbildung besteht in der Regel aus 3 Stufen. Beispielhaft seien hier die Ausbildungsrichtlinien in Abb.2 䉳 Bostoner ALS-Hafenpatrouille Massachusetts genannt (Quelle: Course information, Office of Emergency Medical Services, The Massachusetts Departement of Public Health, 2001): der „emergency medical technician basic“ (EMT-B) benötigt zwischen 110 und 150 h Ausbildung und ist dann befähigt, selbstständig alle Basismaßnahmen (basic life support) durchzuführen. Er ist berechtigt eine „BLS-Ambulanz“ (s. unten) zu besetzen. Durch Zusatzkurse (64 h) kann sich der EMT-B zum „emergency medical technician intermediate“ (EMT-I) weiterbilden. Er ist berechtigt, neben den Basismaßnahmen einen peripheren Venenzugang zu schaffen (keine Gabe von Medikamenten), zu intubieren (ohne Medikation) und mittels AED zu defibrillieren. Der „emergency medical technician paramedic“ (EMT-P) entspricht der Endstufe der paramedizinischen Ausbildung. Ein EMT-P hat weitere 12–14 Monate Ausbildung inklusive klinischer Rotation und ist nach erfolgreicher Prüfung z. B. befähigt, Zugänge zu legen, zu intubieren (mit Medikamenten) und definierte Medikamente zu applizieren. Alle Prüfungen müssen nach 2 Jahren erneut abgelegt werden (re-certification).Die medizinischen Handlungsmöglichkeiten der „paramedics“ sind in Formen von Algorithmen (standing orders) vorgegeben und dürfen nur in Ausnahmefällen und nach telefonischer Rücksprache mit einem zuständigem Arzt (medical control) verändert werden. Fahrzeuge Grundsätzlich werden 2 Arten von bodengebundenen Rettungsmitteln unterschieden: Die BLS-Ambulanzen (Basiclife-support-Ambulanz mit 2 EMT-B als Besatzung, Ausrüstung vergleichbar einem Notfallkrankenwagen Typ B ge- mäß DIN EN 1789) kommen bei normalen Krankentransport oder nicht lebensbedrohlichen Notfällen zum Einsatz. Zudem werden diese bei allen lebensbedrohlichen Notfällen konsequent als „first-responder“ eingesetzt. Die ALS-Ambulanzen (Advanced-lifesupport-Ambulanzen mit 2 EMT-Paramedics, Ausrüstung ähnlich Rettungswagen Typ C gemäß DIN EN 1789) sind neben der Basisausrüstung mit dem notwendigen Equipement für erweiterte lebensrettende Maßnahmen ausgerüstet (z. B. Intubation, einige definierte Medikamente, Defibrillation) und werden zu lebensbedrohlichen Notfällen beordert. In einigen ländliche Regionen hat sich ähnlich unserem „Rendez-vous-System“ mittels NEF ein ALSZubringer etabliert. Bodengebundener Rettungsdienst in Boston Das Notfallwesen (emergency medical service, EMS) in Boston ist ein Organ der Stadtverwaltung und dem städtischen Gesundheitswesen unterstellt (Public Health Commission of the City of Boston). Pro Jahr werden in Boston ca. 125.000 Rettungsdiensteinsätze abgewickelt, davon 20% im ALS-Bereich. Die Stadt ist rettungsdiensttechnisch in 17 Gebiete („districts“) eingeteilt, die je von einer BLS-Ambulanz betreut werden. Je 2–3 „districts“ sind zu einer Zone zusammengefasst, welche wiederum von je einer ALS-Ambulanz versorgt wird. Im Bostoner Hafen patroulliert rund um die Uhr ein Boot der Wasserschutzpolizei, welches mit einem EMT-P (inklusive ALS-Ausrüstung) besetzt ist (Abb. 2). Bei großen Veranstaltungen in der Stadt kommen zusätzliche „paramedics“ auf Mountainbikes zum Einsatz. Alle Polizeifahrzeuge sind mit einem „first aid kit“ (Erste-Hilfe-Ausrüstung), alle Feuerwehrfahrzeuge darüber hinaus mit einem AED (Halbautomaten) versehen. Diese Fahrzeuge werden bei medizinischen Notfällen konsequent als „first responder“ eingesetzt. In allen größeren Gebäuden (v. a. Hochhäusern) und am Flughafen sind AED vor Ort, die im Notfall von eingewiesenem Sicherheitspersonal angewandt werden können (Abb. 3). Auf diese Weise kann im Stadtgebiet eine mittlere Eintreffzeit beim Patienten (inklusive Telefonabfrage) von 5 min erreicht werden. Die Rettungsleitstelle ist mit der Leitstelle der Polizei gekoppelt und über die einheitliche Notrufnummer 911 erreichbar. Alle Rettungsdienstfahrzeuge sind mit GPS (global positioning system) ausgerüstet und können so von der Rettungsleitstelle optimal koordiniert werden (Fuhrparkmanagement). Weiterhin ist jedes Fahrzeug via Laptop drahtlos mit der Rettungsleitstelle verbunden (Abb. 4). Alle relevanten Einsatzdaten der Rettungsleitstelle werden simultan mit der Alarmierung zum jeweiligen Fahrzeuglaptop übertagen. Die Einsatzabwicklung wird von der Besatzung mittels fahrzeugeigenem Laptop dokumentiert und wiederum an die Rettungsleitstelle übermittelt. Alle Rechner verfügen zusätzlich über diverse medizinische Datenbanken (z. B. toxikologisches Register, Medikamentenregister). Abb.3 䉱 AED im Bostoner Flughafengebäude Notfall & Rettungsmedizin 7•2002 |3 Notfall aktuell: Notfallmedizinische Zentren Abb.4 䉳 Fahrzeugeigener Laptop mit direkter Kommunikation zur Rettungsleitstelle Luftrettung Allgemein Die Luftrettung in den Vereinigten Staaten ist in der Regel nicht staatlich organisiert, sodass keine Flächendeckung mit Rettungshubschraubern erreicht werden kann. Im Bundesstaat Massachusetts mit einer Fläche von 13.293 km2 stehen insgesamt 3 Rettungshubschrauber zur Verfügung (Abb. 1). Transportmittel Boston MedFlight ist eine nicht profitorientierte Stiftung und betreut 2 der insgesamt 3 Hubschrauberstationen in Massachusetts (Abb. 1). Gegründet wurde die Stiftung 1985 von 6 Bostoner Kliniken, die in erster Linie den Interhospitaltransfer optimieren wollten. Im Jahre 1992 wurde ein 2. Hubschrauber in Betrieb genommen, 1997 einer der ersten Intensivtransportwagen in den USA und seit 1999 verfügt Boston MedFlight über ein Ambulanzflugzeug des Typs Cheyenne (Piper). Diese 4 Transportmittel werden über eine eigene Leitstelle koordiniert, die nicht der originären Rettungsleitstelle (911-call) zugeordnet ist. Alle 4 Rettungsmittel sind identisch ausgerüstet und werden vom medizinischen Personal im Rotationssystem besetzt. Ein Helikopter ist IFR-tauglich und wird rund um die Uhr für Sekundär- als auch Primäreinsätze eingesetzt (Abb. 5). Finanziert wird Boston MedFlight durch erflogene Versicherungseinnahmen sowie eingeworbene Spendengelder. Das bestehende Defizit wird durch das Krankenhauskonsortium ausgeglichen. 4| Notfall & Rettungsmedizin 7•2002 Personal Ebenso wie das bodengebundene Rettungswesen verzichtet Boston MedFlight auf einen begleitenden Arzt. Die Besatzung besteht aus einem Piloten, einem „EMT-paramedic“ und einer „flightnurse“. Der „EMT-paramedic“ muss mindestens 5 Jahre Berufserfahrung im bodengebundenen Rettungsdienst sowie zahlreiche weitergehende medizinische Qualifikationen besitzen (ACLS, ATLS, PALS u. a.). Die „flightnurse“ ist eine Krankenschwester mit mindestens 5 Jahren Berufserfahrung in „Intensiv-“ und/oder Abb.5 䉴 Hubschrauberprimäreinsatz von Boston MedFlight bei Nacht Abb.6 䉴 Transportmittelübersicht Boston MedFlight im Jahr 2000 „Emergency-room-Medizin“. Alle neuen Mitarbeiter absolvieren ein 3-monatiges Einarbeitungsprogramm mit klinischen Rotationsstellen. Durch die Kombination eines präklinisch (paramedic) und eines klinisch ausgebildeten Besatzungmitglieds (flight nurse) soll einerseits die primäre Notfallrettung und andererseits der sekundäre Interhospitaltransport abgedeckt werden. Das paramedizinische Personal arbeitet hauptamtlich und wird von einem Arzt geleitet und kontrolliert (medical director). Dieser ist in letzter Konsequenz für alle Maßnahmen der medizinischen Besatzung verantwortlich und wird bei allen medizinischen Entscheidungen, welche über die vorgegebenen Algorithmen (standing orders) hinausgehen, telefonisch konsultiert (medical control). Der „medical director“ ist ebenso für die Aus- und Weiterbildung der paramedizinischen Besatzung verantwortlich. Das Personal muss je nach Ausbildungsstand jährlich zwischen 50–70 h an einem definierten klinischen Weiterbildungsprogramm teilnehmen (u. a. 8 h Erwachsenenanästhesie, 8 h Kinderanästhesie, 8 h pädiatrische Intensivmedizin und 4 h Herzkatheterlabor). Die dafür nötigen innerklinischen Fortbildungsstellen werden durch die Kran- Abb.7 䉳 Einsatzverteilung Boston MedFlight im Jahr 2000 gung in einem „emergency room“ übernommen und fällt somit in die Kategorie „postprimär“. Tatsächliche Intensivtransporte sind seltener, werden aber ebenso ohne ärztliche Begleitung durchgeführt. In speziellen Fällen wird das Team durch eine Kinderkrankenschwester (im Jahr 2000 insgesamt 250 pädiatrische und 60 neonatale Transporte, Abb. 11) oder einem Kardiotechniker (Ballonpumpentransporte) begleitet. Eine besondere Bedeutung hat die Luftrettung in der Region für die touristisch stark frequentierten Inseln (Abb. 1), die nur über geringe medizinische Ressourcen verfügen. Die mittlere Patiententransportzeit liegt bei ca. 30 min. „Emergency Departments“ und „Emergency Room“ Allgemein Abb.8 䉳 Einsatzverteilung Boston MedFlight im Jahr 2000 kenhäuser des Konsortiums gestellt. Einmal wöchentlich findet unter Leitung des „medical directors“ eine Nachbesprechung besonders interessanter oder optimierungswürdiger Einsätze statt. Einsatzstatistik Im Jahr 2000 wurden insgesamt 2305 Patienten transportiert, 70% davon mit dem Hubschrauber (Abb. 6, 7, 8). Nur 17% der Einsätze waren Primäreinsätze (Abb. 7). Bis auf wenige Ausnahmen sind diese traumatischer Art (v. a. Verkehrsunfälle, Abb. 8). Hier kommt die eingangs erwähnte „scoop-and-run-Philosophie“ voll zur Geltung: Hauptziel ist eine kurze Verweilzeit am Unfallort (möglichst <10 min) und ein schneller Transport ins Krankenhaus. Aufgrund der kurzen Verweilzeit wird der Hubschrauber während der Erstversorgung an der Unfallstelle nicht abgestellt und der Patient bei laufendem Rotor einge- laden („hot load“, Abb. 9). Die Maßnahmen vor Ort werden auf ein Minimum reduziert und z. T. gezielt während des Transports durchgeführt (z. B. geplante Intubation im Flug, Abb. 10). Der Anteil von Interhospitaltransporten scheint mit 83% relativ hoch (Abb. 7). Der Großteil dieser Patienten wird allerdings nach einer Erstversor- In den Vereinigten Staaten hat sich die klinische Notfallmedizin, seit der Gründung der „American College of Emergency Physicians“ 1968, zur eigenständigen medizinischen Fachrichtung etabliert und wurde 1979 als 23. offizielle Fachrichtung anerkannt (emergency medicine). Ein Notfallpatient wird zunächst im „emergency room“ aufgenommen und von einem Facharzt für Notfallmedizin (emergency room doctor, ER-doc) versorgt, der je nach Erkrankung oder Verletzung alleine oder konsiliarisch mit anderen Fachrichtungen (z. B. Innere oder Chirurgie) die Diagnostik und die Therapie betreibt. Der „ER-doc“ ist somit eine Art „Allgemeinarzt im Krankenhaus für Notfälle aller Art“ und ist für eine akute Zystitis oder akute Dermatose ebenso zuständig wie für einen Abb.9 䉴 „Hot load“ – der Patient wird bei laufenden Rotoren eingeladen Notfall & Rettungsmedizin 7•2002 |5 Notfall aktuell: Notfallmedizinische Zentren Abb.10 䉱 Geplante Intubation während des Hubschraubertransports (mit freundlicher Genehmigung Boston MedFlight) Kreislaufstillstand oder ein Polytrauma. Nach erfolgter Facharztprüfung muss sich der „ER-doc“ mindesten 50 h/Jahr weiterbilden, alle 2 Jahre einen Leistungsnachweis erbringen und alle 10 Jahre die Facharztprüfung erneut ablegen („re-certification“; Quelle: American Board of Emergency Medicine). Die „ER-doc-Facharztweiterbildungsprogramme“ dauern zwischen 3 und 4 Jahre. Davon müssen 50% im „emergency room“, 4 Monate in der Pädiatrie und 2 Monate auf einer Intensivstation absolviert werden. Das erklärte Ziel des amerikanischen Rettungswesens, die Patienten so schnell wie möglich einer klinischen Versorgung zuzuführen, überträgt dem „emergency departement“ mit dem „emergency room“ eine zentrale Rolle im amerikanischen Notfallwesen. Darüber hinaus hat der „ER“ in den letzten 2 Jahrzehnten für das gesamte amerikanische Gesundheitswesen eine zunehmend wichtigere Bedeutung bekommen. Aufgrund sich häufender Schlagzeilen über Behandlungsverweigerung einzelner Krankenhäuser gegenüber nicht versicherten Patienten, verabschiedete 1986 der amerikanische Kongress ein Gesetz mit dem Namen „Emergency Medical Treatment and Active Labor Act“ (EMTALA), welches den „emergency departements“ eine Behandlungspflicht aller Notfallpatienten auferlegte [12]. 6| Notfall & Rettungsmedizin 7•2002 Die in den USA ca. 4200 „ER“ übernehmen somit die Rolle der letzten Anlaufstelle im Gesundheitswesen, da weder ein Termin noch eine Versicherung, bei gesetzlich bestehender Behandlungspflicht, von Nöten ist. Für derzeit 44,3 Mio. (16,3%) medizinisch nicht versicherte amerikanische Staatsbürger ist dies die einzige und oft letzte Zugangsmöglichkeit zur geregelten medizinischen Versorgung [13]. Parallel dazu hat sich die Krankenhauslandschaft u. a. durch Einführung der DRG im letzten Jahrzehnt drastisch verändert: Die Anzahl der Krankenhäuser und der Krankenhausbetten wurde drastisch reduziert [staatenweit zwischen 1994–1999 um 8%, in Massachusetts zwischen 1988 und 1998 sogar um 29% (Quelle: American Hospital Association)], die Krankenhausaufenthalte drastisch verkürzt und die Bettenbelegung optimiert, sodass kaum noch freie Ressourcen für Notfälle vorhanden sind. Von 1994–1999 wurden neben Krankenhausbetten auch 370 „emergency departements“ geschlossen, der Großteil davon in ländlichen Gebieten (in den letzten 10 Jahren 11% weniger „ER“ in ländlichen Gebieten). Diese Konstellation führt zu einer Zunahme der „ER-Besuche“ [von 1992– 1999 14% Zuwachs (Quelle: Centers of Disease Control and Prevention)] und einer zunehmenden Überlastung der ER. Aufgrund fehlender Krankenhausbetten können „ER-Patienten“ z. T. nur verzögert stationär aufgenommen werden (z. T. bis 24 h Wartezeit) und blockieren wiederum dringend benötigte „ER-Betten“, was die Situation weiter zuspitzt. Zudem wird der ER aufgrund seiner diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten einem reguläre Besuch beim Hausarzt oft vorgezogen; u. U. Abb.11 䉴 Patientenaltersstruktur Boston MedFlight im Jahr 2000 Tabelle 2 Emergency-Severity-Index (ESI) Level Beschreibung I–II Instabile Vitalparameter I Intubiert, Atem- oder Kreislaufstillstand, bewusstlos, Polytrauma etc. Verwirrt/desorientiert oder lethargisch Starke Schmerzen Atemnot Instabile Vitalparameter Beginnende Lebens- oder Organbedrohung II III–V Stabile Vitalparameter III Mehrere Untersuchungen werden nötig Eine Untersuchung wird nötig Nur Anamnese und klinische Untersuchung nötig IV V kann es für die Patienten äußerst schwierig sein, bei ihrem niedergelassenen Versicherungsvertragsarzt innerhalb weniger Tage einen Termin zu bekommen. Da die Patienten im ER natürlich nach medizinischer Dringlichkeit behandelt werden, verlängert sich die Wartezeit für weniger dringliche Patienten zunehmend; 75% aller aufgenommenen Patienten stellen sich selbst im ER vor – nur 25% werden mit dem Rettungsdienst eingeliefert. Die EMTALA-Gesetzgebung erlaubt aber keine Abweisung von Notfallpatienten, die sich selbst im ER vorstellen. Dagegen können rettungsdienstlich behandelte Patienten abgelehnt werden, da sich diese bereits in medizinischer Obhut befinden und auch zu einem ande- Abb.12 䉱 Boston MedFlight im Landeanflug auf den Dachlandeplatz des „Massachussets General Hospital“ ren Krankenhaus transportiert werden können. So waren die aufnehmenden ER in Boston im Juli 2001 bei der Rettungsleitstelle doppelt so häufig „abgemeldet“ wie im Vergleichsmonat des Vorjahres. Dies führte in Einzelfällen bereits zu der absurden Situation, dass Notfallpatienten bevorzugt mit dem Taxi als mit dem originären Rettungsdienst ins Krankenhaus verbracht wurden. Die sich zuspitzende Situation ist mittlerweile nicht nur den medizinischen Fachkreisen bekannt [14, 15], sondern wird auch zunehmend in der Öffentlichkeit diskutiert („Crisis in the ER“, U.S. News, September 10, 2001), [16]. Abb.13 䉴 „Level 1“ – Aufnahme eines Polytraumas im „emergency room“ sen hohen Patientenumsatz möglichst effizient zu bewältigen, ist eine schnelle Diagnostik von eminenter Bedeutung. Dies führte zur Schaffung einer speziellen „rapid diagnosis unit“. Hier werden stabile Patienten betreut, die zur Diagnosestellung nur wenige einfache Testverfahren benötigen und der ESI-Stufe IV-V entsprechen (z. B. U-stix bei Verdacht auf akute Zystitis, Herzenzyme und 12-Kanak-EKG bei stabiler Angina pectoris). Das „emergency departement“ verfügt weiterhin über eine eigene, vom klinischen Betrieb unabhängige Röntgenabteilung inklusive CT. Nur 25% der behandelten Patienten müssen tatsächlich sta- tionär aufgenommen, 75% können nach einer mittleren Verweilzeit von 4–6 h wieder nach Hause entlassen werden. Schlussfolgerung Aufgrund der oben gemachten Ausführungen wird deutlich, dass ein direkter Vergleich einzelner Komponenten zwischen dem amerikanischen und unserem Notfallwesen nicht zulässig ist. Die Notfallsysteme sind so grundsätzlich verschieden, dass es sich verbietet, einzelne Komponenten isoliert und unreflektiert gegenüberzustellen, um daraus Konsequenzen zu ziehen. „Emergency Department“ im Massachussets General Hospital/Boston Das „Massachusetts General Hospital“ ist mit seinen 852 klinischen Betten das größte Lehrkrankenhaus der „Harvard Medical School“ in Boston (Abb. 12). Das „emergency departement“ verfügt als eigenständige klinische Abteilung über 44 Betten. Diese sind auf 5 Unterabteilungen verteilt. Die Zuteilung der Patienten zu einer dieser Unterabteilungen erfolgt nicht, wie in Deutschland üblich, fachorientiert, sondern rein nach der medizinischen Dringlichkeit des Notfalls und der dafür benötigten Ressourcen (Personal,Ausrüstung u. a.,Abb. 13). Dazu wird jeder Patient zunächst von einer besonders qualifizierten „triagenurse“ voruntersucht und mittels eines standardisierten Triagesystems (ESI, „emergency severity index“, Tabelle 2, Abb. 14) einer Untergruppe zugeteilt [17]. Pro Jahr werden ca. 74.000 Patienten (ca. 200/Tag) im ER betreut, darunter 6000–7000 Kinder (<14 Jahre). Um die- Abb.14 䉴 ESI (emergency severity index) Notfall & Rettungsmedizin 7•2002 |7 Notfall aktuell: Notfallmedizinische Zentren Allerdings ist es sicherlich zulässig und hilfreich, einzelne Komponenten eingehender zu betrachten und u. U. adaptiert in unser Notfallwesen zu integrieren. Positives Beispiel hierfür ist das „First-responder-Konzept“. Interessante Aspekte finden sich z. B. im Bereich der Ausrüstung (GPSFlottenmanagement, Fahrzeugkommunikation via Laptop inklusive medizinischer Datenbanken). Auch die sehr strukturierte und kontinuierliche Fortund Weiterbildung des ärztlichen sowie des nichtärztlichen Personals (u. a. Eingliederung in klinische Rotationsprogramme) mit regelmäßigen Re-Zertifizierungen im Sinne des Qualitätsmanagements erscheinen sehr überdenkenswert. Die weitreichende Erfahrung mit Arbeiten nach Algorithmen (im ärztlichen und im nichtärztlichen Bereich) könnte den hiesigen Bestrebungen nach mehr „Leitlinien“ sehr entgegenkommen. Und sicherlich kommen wir in der z. T. sehr emotional geführten Diskussion um die „Notkompetenz“ oder „Kompetenz“ des Rettungsdienstpersonals nicht umhin, Erfahrungen aus den Vereinigten Staaten aufzugreifen. Weiterhin sollten die Begriffe „scoop and run“ und „stay and play“ nicht stellvertretend für das amerikanische und deutsche Rettungswesen verwendet werden. Vielmehr sollten beide Konzepte vom erfahrenen Notarztteam, gemäß den Anforderungen des einzelnen Patienten angewandt oder u. U. modifiziert zur Anwendung kommen (z. B. „scoop and play“). Danksagung. Der Erstautor dankt der DIVI für die Verleihung des „DIVI-Traveller-Stipendiums 2000“, auf dessen Basis dieser Artikel entstanden ist. Literatur 1. Ahnefeld FW, Dick W, Knuth P, Schuster HP (1998) Grundsatzpapier Rettungsdienst. Notfall Rettungsmed 1: 68–74 2. Sefrin P, Koppenberg J (1998) Treffgenauigkeit des Notrufes. Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 33: 653–660 3. Sefrin P (1999) Veränderungen im Rettungsdienst und ihre Auswirkungen.Notarzt 14: 59–62 4. Dick W (2002) Brauchen wir noch einen Notarzt oder brauchen wir einen anderen Notarzt? Notfall Rettungsmed 5: 138–141 8| Notfall & Rettungsmedizin 7•2002 5. Ahnefeld FW (1998) Notfallmedizin und Rettungsdienst – Was wollten wir, was haben wir? Notarzt 14: 103–105 6. 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