A. Möller: Das andere New York 2016-2-053 Möller - H-Soz-Kult

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A. Möller: Das andere New York 2016-2-053 Möller - H-Soz-Kult
A. Möller: Das andere New York
Möller, Angelika: Das andere New York. Friedhöfe, Freiräume und Vergnügungen, 1790–1860.
Bielefeld: Transcript – Verlag für Kommunikation, Kultur und soziale Praxis 2015. ISBN:
978-3-8376-2980-4; 268 S.
Rezensiert von: Annette Karpp, John F. Kennedy Institut für Nordamerikastudien, Freie
Universität Berlin
Die heutige Metropole New York City ist ohne ihre „grüne Lunge“, den Central Park in
Manhattan, kaum vorstellbar. Bewohner und
Besucher Manhattans suchten aber nicht erst
im 21. Jahrhundert Natur und Erholung in
der Stadt. Naturverbundene, öffentliche Räume in Form von Friedhöfen und Parkanlagen
gewannen bereits im frühen 19. Jahrhundert
in Manhattan an Bedeutung. New York war
hier kein Einzelfall. Historische Studien weisen insbesondere ländlichen Friedhöfen, den
„rural cemeteries“, in amerikanischen Städten als Orte der Erholung und Vergnügungen
eine zentrale Rolle zu und vermerken, dass
diese den Bau späterer innerstädtischer Parkanlagen inspirierten.1 Mit Blick auf heutige
Großstädte unterstreicht die jüngere Stadtplanungsforschung zudem die Bedeutung von
ungenutzten, verlassenen und obsoleten Räumen, die von dem Architekten Ignasi de SolàMorales als „terrains vagues“ bezeichnet werden. Während Solà-Morales „terrains vagues“
als wertvolle Freiräume in der Stadt interpretiert, werden diese in der Forschung jedoch bisher vorrangig gegenwarts- und zukunftsorientiert als Räume der Geschichtsvergessenheit mit Potential zur Neubesetzung
im Rahmen von Modernisierungsprozessen
wahrgenommen.2
Hier setzt Angelika Möller mit ihrer kulturgeschichtlichen Monografie „Das andere
New York“ an, die sich den Freiräumen
Manhattans während der „Antebellum Era“
(1790–1860) mit dem Ziel widmet, „Trends
der Stadtentwicklung und Praktiken im
Stadtraum abseits der gängigen Fortschrittsund Modernitätsnarrative“ (S. 32) aufzuzeigen. Die Autorin untersucht, wie „terrains
vagues“ als fluide Zwischenräume von den
Stadtbewohnern „geplant, gebaut, bewohnt,
gefeiert, geplündert und transformiert“ (S. 12)
wurden und inwiefern Praktiken der Freizeit-
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gestaltung unter freiem Himmel zur urbanen
Entwicklung Manhattans beigetragen haben
(S. 13f.). Auf der Basis einer breiten Quellenauswahl, die unter anderem private Briefe,
Tagebücher, historische Karten und Reiseführer, literarische Werke, Zeitungen und Gesetzestexte umfasst, arbeitet Angelika Möller geschickt heraus, wie insbesondere (designierte) Friedhöfe sich zu den bedeutendsten Freiräumen der Stadt entwickelten und hierbei
sowohl „Ikonen der Transformation“ im Sinne Thomas Benders (S. 119) als auch Symbole
von Resignation und Stillstand werden konnten.
Die aus einer Dissertation hervorgegangene
Studie ist in drei Kapitel gegliedert. In einer
historischen Hinführung erfährt die Leserschaft zunächst, welche Raum-, Wirtschafts-,
Hygiene- und Klassendiskurse im New York
City der „Antebellum Era“ geführt wurden.
Die darauffolgenden beiden Kapitel sind weniger chronologisch angeordnet, sondern orientieren sich vor allem an der sozialen Stellung der Stadtbewohner. In Kapitel 2 wird
dementsprechend untersucht, wie Freiräume
von der wohlhabenden Mittel- und Oberschicht genutzt wurden, während abschließend in Kapitel 3 kulturelle Praktiken der arbeitenden Bevölkerung und in den Armenvierteln im Vordergrund stehen. Hier lassen
sich jedoch keine strikten Grenzen setzen,
denn in zahlreichen Freiräumen kam es zu
1 So
zum Beispiel Thomas Bender, The ‚Rural’ Cemetery Movement: Urban Travail and the Appeal of Nature, in: New England Quarterly 47 (1974), S. 196–211;
Stanley French, The Cemetery as a Cultural Institution:
the Establishment of Mount Auburn and the ‚Rural Cemetery’ Movement, in: American Quarterly 26 (1974),
S. 37–59; David Schuyler, The New Urban Landscape:
the Redefinition of City Form in Nineteenth-Century
America, Baltimore 1986. Aaron Sachs betont zudem
die Inspirationskraft der rural cemeteries für die heutige Landschaftsgestaltung, siehe Aaron Sachs, Arcadian America: The Death and Life of an Environmental
Tradition, Yale 2013.
2 Zum Konzept des „terrain vague“ siehe: Ignasi de SolàMorales Rubió, Terrain Vague, in: Cynthia C. Davidson
(Hrsg.), Anyplace, Cambridge 1995, S. 118–123. In der
modernen Stadtplanungsforschung findet das Konzept
des „terrain vague“ beispielsweise Anwendung bei:
Patrick Barron / Manuela Mariani (Hrsg.), Terrain Vague: Interstices at the Edge of the Pale, New York 2013;
Nate Millington, From Urban Scar to ‚Park in the Sky’:
Terrain Vague, Urban Design, and the Remaking of
New York City’s High Line Park, in: Environment and
Planning A (11) 47 (September 2015), S. 2324–2338.
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Interaktionen aller Gesellschaftsschichten, zu
Integrations-, Abgrenzungs- und Exklusionsmechanismen, welche Angelika Möller anschaulich aufzeigt.
In der historischen Hinführung werden
die geographischen Gegebenheiten New York
Citys und die Geschichte der Stadtplanung
Manhattans skizziert. Insbesondere in den
1830er-Jahren machte sich das rasante urbane Wachstum aufgrund der höheren Bevölkerungsdichte durch Zuwanderung und Immigration bemerkbar und ließ die Forderung
nach mehr innerstädtischen Freiräumen und
Natur immer lauter werden. Verschmutzungen und Trinkwasserknappheit führten zu
Krankheiten wie Gelbfieber und Cholera. Im
Zuge der hohen Sterberaten unterlief die New
Yorker Friedhofskultur des 19. Jahrhunderts
Veränderungen. Während es schwieriger war,
die privat finanzierten Kirchhöfe der Mittelund Oberschicht zu verlagern oder zu schließen, wurden Armenfriedhöfe – die mit als
Verursacher der Krankheiten gesehen wurden
– häufig auf moorige, vor der Stadt liegende
Areale ausgelagert und bei Bedarf stillgelegt.
So konnten die Armenfriedhöfe als außergewöhnlicher, nur partiell bestimmter urbaner
Zwischenraum ein „Ort der Lebenden“ werden (S. 72), an denen Angehörige verschiedener Schichten miteinander in Kontakt traten. Die gehobeneren „rural cemeteries“ der
Mittel- und Oberschicht wurden bereits in
den 1830er-Jahren von dieser als Freizeiträume genutzt.
Die freizeitliche Nutzung von Friedhöfen
ist für Angelika Möller ein Beleg für fehlende Parkanlagen in Manhattan. In Kapitel 2
führt die Autorin aus, wie diese Abwesenheit
der Natur und die verschlechterte Luftzirkulation ab den 1830er-Jahren verstärkt von
den Stadtbewohnern diskutiert und die Forderung nach naturbezogenen Erholungsorten
laut wurde (S. 75ff.; 86). Zwei neue Parkanlagen sollten hier Abhilfe schaffen: Brooklyns Parkfriedhof Green-Wood Cemetery und
Manhattans Central Park. Noch bevor der
1837 gegründete Green-Wood Cemetery von
der zahlfähigen Mittel- und Oberschicht als
Friedhof angeeignet wurde, entwickelte sich
der Park für diese jedoch zu einem populären Freizeitort (S. 93). Prunkvolle Grabstätten wurden zum Teil über New York hin-
aus berühmt und von der Friedhofsführung
zu Werbezwecken genutzt, um mit günstigeren Friedhöfen und dem Ende der 1850erJahre neu gebauten Central Park in Manhattan zu konkurrieren. Obwohl letzterer als
neue, öffentliche Parkanlage für alle offen sein
sollte, gingen im Central Park vorrangig die
Mittel- und Oberschichten ihren Vergnügungen nach, während die Unterschicht eher arbeitend vertreten war. Angelika Möller hebt
hier hervor, dass der Central Park weder in
seiner Genese noch in seiner Nutzung im 19.
Jahrhundert ein demokratischer Ort war. Vielmehr führte er zur Übernahme der durch den
Parkbau aufgewerteten Ländereien durch die
Elite und zur Verdrängung ärmerer Bewohner
(S. 116ff.).
Das dritte und ausführlichste Kapitel widmet sich vier designierten Armenfriedhöfen
Manhattans, die sich zu Orten entwickelten,
in denen die Stadtbewohner eine Vielzahl
an Freizeitaktivitäten ausübten. Angela Möller kontrastiert hier die Geschichte(n) dieser
sogenannten „potter’s fields“ und zeigt auf,
dass die südlicher, nahe den dicht besiedelten Arbeitervierteln gelegenen Friedhöfe Washington Square Park und City Hall Park
mehr Freiräume boten, in denen soziale Integration oder Verdrängung stattfinden konnten. So zog beispielsweise das American Museum von John Scudder in ein ehemaliges Armenhaus in der Nähe des City Hall Parks ein
und bot neben Ausstellungen, Vorträgen und
günstigen Eintrittspreisen zeitweise kostenfreie Konzerte, an denen sich alle Schichten
erfreuen konnten. Der nördlich gelegene Madison Square Park lockte hingegen mit seinem
1853 erbauten Hippodrom, in dem Pferderennen für die Elite, aber auch von den Unterschichten ausgetragene Laufwettkämpfe abgehalten wurden. Zudem entstand hier im
Verborgenen eine der bekanntesten amerikanischen Sportarten, die sich vor allem die Elite zu eigen machte: Baseball. Anhand der Geschichte des Reservoir Squares (heute Bryant
Park), der zu einem Ort technischer und architektonischer Erneuerungen und Experimente wie des Wasserreservoirs oder des Crystal
Palaces wurde, veranschaulicht Angela Möller die Verquickung von städtischen Modernisierungsprozessen und kulturellen Praktiken
der Stadtbewohner.
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A. Möller: Das andere New York
2016-2-053
Nicht überraschend ist das Ergebnis von
Angelika Möllers Untersuchung, dass die
wohlhabenderen Schichten im Rahmen der
Urbanisierung zunehmend Armenviertel verdrängten und deren frühere Freiräume aneigneten, um- oder überbauten. Der Mehrwert von „Das andere New York“ für die
aktuelle Forschung liegt in der Analyse der
Möglichkeiten, die die „terrains vagues“ –
hier insbesondere Armenfriedhöfe – den Unterschichten in Manhattan boten. Es entstanden Orte, innerhalb derer gelegentlich Interaktionen zwischen allen Schichten stattfinden konnten. Angelika Möller gelingt es überzeugend darzustellen, wie diese Praktiken
der Unterschichten nicht nur das zeitgenössische Stadtbild, sondern auch die Stadtentwicklung New York Citys beeinflussten. Ihre Studie bietet somit ergänzende Perspektiven zu gängigen Forschungsdiskursen, die
vorrangig den besitzenden und wohlhabenden Schichten Handlungsmacht in der Städteplanung und -gestaltung Manhattans zugestehen.3 Insgesamt liefert sie so mit ihrer Monografie einen wertvollen Beitrag zur Erforschung der Stadtgeschichte New York Citys in
der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In diesem Zusammenhang wäre es erfreulich, wenn
„Das andere New York“ ins Englische übersetzt und somit auch der anglophonen Leserschaft zugänglich gemacht werden würde.
HistLit 2016-2-053 / Annette Karpp über Möller, Angelika: Das andere New York. Friedhöfe,
Freiräume und Vergnügungen, 1790–1860. Bielefeld 2015, in: H-Soz-Kult 22.04.2016.
3 Hier
lassen sich beispielhaft anführen: Matthew Gandy, Concrete and Clay: Reworking Nature in New York
City, Cambridge 2002; David M. Scobey, Empire City:
The Making and Meaning of the New York City Landscape, Philadelphia 2002.
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