Treu und Glauben im englischen Vertragsrecht
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Treu und Glauben im englischen Vertragsrecht
592 RIW Heft 9/2013 Landbrecht, Treu und Glauben im englischen Vertragsrecht quenz zu fragen, ob man an einem Anleiherecht als verkapptem Sanierungsrecht festhalten sollte. Die Frage ist nicht rhetorisch gemeint. „Die Idee des Rechts ist ewiges Werden, das Gewordene aber muss dem Neuen weichen“115. Wenn das Insolvenzrecht konsequent weiterentwickelt wird, lsst sich das SchVG zu einem rein technischen nderungsverfahren (ohne Freigabeverfahren, mit begrenzter Majorisierungsmacht) zurckbilden, so wie es in Art. 1181 OR vorgesehen ist. Das wre fr einfache nderungen von Bedingungen durchaus gengend116. Auf die Lage in der Schweiz bertragen bedeutete dies, dass nicht eine Reform des Anleiherechts nach deutschem Vorbild, sondern eine Reform im Rahmen der Konkursrechtsreform zu erwgen ist, welche das anleiherechtliche Genehmigungsverfahren nach Art. 1176 f. OR entbehrlich macht117. Dieser einfache Vorschlag wird hiermit zur Diskussion gestellt. Professor Dr. Tim Florstedt Ab dem 1. 9. 2013 Lehrstuhlinhaber fr Brgerliches Recht, Unternehmensrecht, Handels- und Wirtschaftsrecht sowie Bankrecht an der EBS, Universitt fr Wirtschaft und Recht in Wiesbaden. Zuvor Wissenschaftlicher Assistent und Habilitand bei Herrn Prof. Dr. Dres. h.c. Theodor Baums, Frankfurt a. M. sellschafterin der Pfleiderer AG; s. hierzu K. Schmidt ZIP 2012, 2085; Decher/Voland, ZIP 2013, 103. 115 Jhering, Kampf ums Recht, 8. Aufl. 2003, S. 10. 116 Eilige nderungsverfahren außerhalb von Sanierungslagen, in denen Berufsklger oder Hedgefonds Rechte missbruchlich verwenden knnten, sind in Wahrheit eher selten. Vielfach sind die in den Anleihebedingungen festgeschriebenen Reaktionsmglichkeiten ohne Mehrheitsentscheid hier ausreichend. 117 Das wird derzeit nicht erwogen; s. nur die Botschaft vom 8. 9. 2010 zur nderung des Bundesgesetzes ber Schuldbeitreibung und Konkurs (Sanierungsrecht), BBl. 2010, 6455. Dr. Johannes Landbrecht, LL.B. (London), Rechtsanwalt, Genf Treu und Glauben im englischen Vertragsrecht Wie Fußball die Welt des englischen Rechts verndert Wer htte gedacht, dass Sir Alex Ferguson noch einmal die Welt verndern wrde – nicht die Fußballwelt (denn nicht um Pokale und Trophen geht es hier), sondern die weite Welt des englischen Vertragsrechts? Zwar war Sir Alex an dem Verfahren, das Gegenstand der folgenden Beitrags ist, nicht beteiligt, aber wre er in den 27 Jahren bei Man United nicht so erfolgreich gewesen, wrden sich in Asien wohl weniger Fans fr diesen Club interessieren, htte die Manchester United Merchandising Ltd eventuell keinen Lizenzvertrag mit der International Trade Corporation Ltd (ITC) abgeschlossen, ITC wiederum keinen Vertriebsvertrag mit der Yam Seng Pte Ltd (Singapur), und es wre nicht zu dem Streit gekommen, den Justice Leggatt am Londoner High Court zum Anlass nahm, die Rolle von Treu und Glauben im englischen Vertragsrecht grundlegend zu berdenken. I. Kein allgemeiner Grundsatz von Treu und Glauben im englischen Vertragsrecht Man liest recht hufig, das englische Recht kenne „keinen allgemeinen Grundsatz von Treu und Glauben“.1 Die Beobachtung ist nicht unzutreffend, allerdings hat auch das englische Recht seit langem einzelne Ausprgungen des Treuund-Glauben-Prinzips entwickelt. Der Grundsatz an sich ist keineswegs unbekannt. Der zitierten Aussage sind daher drei caveats hinzuzufgen: Das englische Privatrecht kennt (1.) keinen bergreifenden Grundsatz, wonach (2.) die Erfllung eines Vertrages im Bereich (3.) der commercial contracts stets nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (good faith) zu erfolgen htte. 1. Tatbestandsmerkmal „allgemeiner Grundsatz“ Zunchst zum Fehlen eines allgemeinen Grundsatzes: Bingham LJ fhrte in Interfoto aus,2 das englische Recht habe sich keinem allgemeinen Grundsatz (overriding principle) von „fair and open dealing“ verschrieben. Er betonte aber auch, das englische Recht habe jeweils Einzellsungen (piecemeal solutions) entwickelt, um unfairem Verhalten entgegenzutreten.3 Zwar betonen nicht zuletzt englische Juristen mit einem gewissen Stolz ob der dadurch angeblich erzielten Rechtssicherheit, das englische Recht kenne keinen Grundsatz von Treu und Glauben. Den englischen Gesprchspartnern ist dabei selten bewusst, dass sie mit einer solchen Aussage vornehmlich schockieren und das Vorurteil vom ultraliberalen englischen Recht perpetuieren, weil fr den deutschen Beobachter Treu und Glauben einen die gesamte Rechtsordnung durchziehenden Grundsatz darstellt, auf den zu verzichten undenkbar erscheint. Eine pure laissez-faire-Haltung ist dem englischen Recht jedoch fremd. Manche Kommentatoren vermissen einen allgemeinen Grundsatz deshalb auch nicht.4 1 Jack, Die Umsetzung der Verbrauchsgterkaufrichtlinie in englisches Recht, IHR 2004, 54, 57; ebenso Sobich, AGB-Kontrolle in Großbritannien, RIW 2000, 675, 677; differenzierend Triebel, Anglo-amerikanischer Einfluss auf Unternehmenskaufvertrge in Deutschland, RIW 1998, 1, 5. 2 Auf diese Entscheidung wird in diesem Zusammenhang gerne verwiesen; vgl. etwa Andrews, Contract Law, 2011, Rn. 21.04; Jack, IHR 2004, 54, 57, Fn. 35. 3 Interfoto Picture Library Ltd v Stiletto Visual Programmes Ltd [1989] QB 433 (CA) 439. 4 Vgl. ausfhrlich Andrews (Fn. 2) Rn. 13.22, 21.05 m. w. N. Landbrecht, Treu und Glauben im englischen Vertragsrecht Heft 9/2013 2. Tatbestandsmerkmal „Vertragserfllung“ Des Weiteren gilt Treu und Glauben nicht als bergreifender Grundsatz im Bereich der Vertragserfllung und damit auch nicht im Bereich der Vertragsauslegung.5 In anderen Bereichen ist das Rechtsprinzip Treu und Glauben dagegen auch in England bekannt und wird hufig verwendet,6 wenn auch selten ausdrcklich so bezeichnet und wenn die Ergebnisse auch im Detail vom deutschen Recht abweichen mgen. Hier sei nur auf das allgemeine Strukturprinzip des englischen Fallrechts hingewiesen, welches eine Rechtsentwicklung unmittelbar durch die Gerichte ermglicht, wohingegen der deutsche Richter zunchst ein Einfallstor fr solche Rechtsfortbildung in der – als abschließend gedachten – Kodifikation suchen muss(te), und gegebenenfalls bei § 242 BGB (Treu und Glauben) fndig wurde.7 Zur Illustration ein Beispiel: Beispiel: Das englische common law hat keinen Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter8 entwickelt. Trotzdem fanden die englischen Richter eine Lsung fr Fallgestaltungen, in denen die deutschen Gerichte eine solche Schutzwirkung postulierten, ohne auf Treu und Glauben9 zurckgreifen zu mssen. In White v Jones10 errterte Lord Goff of Chieveley, ob die deutschen Rechtsfiguren des Vertrags mit Schutzwirkung zugunsten Dritter und der Drittschadensliquidation ins englische Recht bernommen werden sollten. Er folgte entsprechenden Vorschlgen in der (englischen) Literatur aber nicht, weil sie den fundamentalen Grundstzen der consideration und der privity of contract widersprchen. Trotzdem bejahte die Mehrheit des House of Lords, einschließlich Lord Goff, eine Haftung gegenber dem Dritten. Zur Begrndung wurde eine duty of care im Rahmen des tort of negligence entwickelt. Das englische Recht stellte also die methodischen Mittel bereit, um zu einer – auch aus deutscher Sicht im Hinblick auf Treu und Glauben – angemessenen Lsung zu gelangen.11 3. Tatbestandsmerkmal „commercial contracts“ Schließlich kann man nur bei commercial contracts, also (in deutscher Lesart) bei den regulren Vertrgen des brgerlichen Rechts und den Handelsvertrgen, davon sprechen, das englische Recht kenne keinen allgemeinen Grundsatz von Treu und Glauben. Fr Verbrauchervertrge gilt der Grundsatz dagegen allgemein.12 II. Yam Seng Pte Ltd (Singapur) v International Trade Corporation Ltd13 In der neuen Entscheidung Yam Seng v ITC berlegt Justice Leggatt in grundstzlicher Weise, ob das englische Recht nicht auch bei commercial contracts eine allgemeine Pflicht zur Vertragserfllung nach Treu und Glauben anerkennen sollte. In der Literatur wird dies seit langem diskutiert, die englischen Gerichte hatten sich mit dieser Frage bisher aber nicht im Detail beschftigt.14 Dem Streit lag das „Manchester United Distribution Agreement“ (im Folgenden „Vertriebsvertrag“) zugrunde. Die Beklagte (ITC) bertrug darin der Klgerin (Yam Seng) das ausschließliche Vertriebsrecht fr bestimmte Parfms und Krperpflegemittel mit dem Markennamen „Manchester United“ in einem festgelegten Vertriebsgebiet im Mittleren Osten, in Asien, Afrika und Australasien.15 Die Vertriebsrechte waren vor allem auf den zollfreien Verkauf (duty free sales) beschrnkt, erfassten aber auch domestic sales in Hongkong, Macau und zwei Provinzen in der Volksrepublik China. RIW 593 Wegen schwerwiegender Vertragsverletzungen (repudiatory breaches) erklrte Yam Seng den Vertrag mit ITC vorzeitig fr beendet. 1. Sachverhalt a) Parteien und Beweisaufnahme In formaler Hinsicht waren Vertrags- und Verfahrensparteien zwei Gesellschaften, eine englische, die andere in Singapur registriert. Nach Justice Leggatt handelte es sich aber eigentlich um ein Geschft zwischen zwei natrlichen Personen, Sunil Tuli (Yam Seng) und Roy Presswell (ITC), welche dieses Geschft fr ihre Gesellschaften abgewickelt hatten.16 Justice Leggatt fasst einleitend auch seine Eindrcke von der Beweisaufnahme zusammen.17 Tuli und Presswell waren die einzigen Zeugen. Der Richter zeigt fr deren Gemtslage Verstndnis, hlt die Behauptungen von Presswell aber fr insgesamt unglaubwrdig.18 Tuli dagegen sei ein gemßigter und einsichtiger Zeuge gewesen, der bei seiner Anhrung bereit war, vernnftige Zugestndnisse zu machen. b) Vertragsverhandlungen In der Verhandlungsphase verhielt sich Presswell bereits in vielerlei Hinsicht unehrlich. Ihm fehlten zum Beispiel bei Abschluss des Vertriebsvertrags noch die Lizenzen fr die zu vertreibenden Produkte – er hatte also keine gesicherte Grundlage fr den Vertriebsvertrag;19 er tuschte ber die Verfgbarkeit der Produktpalette;20 und er vernachlssigte, entgegen anders lautender Aussagen, die Registrierung der Produkte in China.21 Zwar spielen diese Feststellungen des Gerichts fr den Ausgang des Verfahrens nicht unmittelbar eine Rolle. Justice Leggatt bringt aber einmal mehr zum Ausdruck, was er von der Vertrauenswrdigkeit und Zuverlssigkeit Presswells hlt. 5 Lundmark, Common law-Vereinbarungen, RIW 2001, 187, 190. 6 Vgl. Beispiele bei Triebel/Hafner, Der ehrbare Kaufmann und Treu und Glauben, in: Graf/Stober, Der Ehrbare Kaufmann und Compliance, 2010, S. 45 ff., 50 ff. Die Autoren sehen den Grundsatz von Treu und Glauben im englischen Recht allerdings nur „vereinzelt und unsystematisch“ ausgeprgt, insofern pessimistischer als nach hier vertretener Ansicht. 7 Rthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 6. Aufl. 2012, Rn. 836 f. sprechen bei den unbestimmten Rechtsbegriffen und Generalklauseln, wie § 242 BGB, von „gewollten Gesetzeslcken“. In deren Bereich be die Justiz eine „normsetzende Funktion“ aus. Englische Richter tun dies direkt ber das Fallrecht. 8 Vgl. jetzt aber den Contracts (Rights of Third Parties) Act 1999. 9 Die Rspr. sttzt die Rechtsfigur des Vertrags mit Schutzwirkung zugunsten Dritter auf ergnzende Vertragsauslegung (§ 157 BGB). Die h. L. nimmt an, es handle sich um richterliche Rechtsfortbildung (§ 242); vgl. Palandt/Grneberg, BGB, 72. Aufl. 2013, § 328 Rn. 14. Beide Vorschriften verweisen auf „Treu und Glauben“. 10 White v Jones [1995] 2 AC 207 (HL) 263C-264A, 266B-E. 11 Ob der Contracts (Rights of Third Parties) Act 1999 zu einer anderen Beurteilung fhren wrde, ist unklar; vgl. Andrews (Fn. 2), Rn. 7.42. 12 Vgl. schon Sobich, Verfahrensrechtliche Kontrolle „unfairer“ AGB in Großbritannien, RIW 1998, 684, Fn. 3; ders., RIW 2000, 675, 677. 13 [2013] EWHC 111 (QB), 1. 2. 2013, im Folgenden: Yam Seng v ITC. 14 Yam Seng v ITC, Rn. 120. 15 Yam Seng v ITC, Rn. 1. 16 Yam Seng v ITC, Rn. 5–7. 17 Yam Seng v ITC, Rn. 8–12. 18 Yam Seng v ITC, Rn. 16: „Mr Presswell’s attitude, both in his dealings with Mr Tuli and in giving evidence, was characterised by a striking ability to treat wishful thinking as fact.“ Rdnr. 17: „The fact that Mr Presswell was able to convince himself that this somehow made true the statement in his email to Mr Tuli is symptomatic of the attitude I have described.“ 19 Yam Seng v ITC, Rn. 15–20, 27–28. 20 Yam Seng v ITC, Rn. 24. 21 Yam Seng v ITC, Rn. 22–23. 594 RIW Heft 9/2013 Landbrecht, Treu und Glauben im englischen Vertragsrecht c) Abschluss und Durchfhrung des Vertrags Der eigentliche Vertragsschluss erfolgte am 12. 5. 2009.22 Entscheidend fr die weitere Diskussion ist die Feststellung, das Dokument sei sehr knapp und von den Parteien selbst, also ohne Rechtsbeistand, verfasst worden.23 Yam Seng gab in der Folge verschiedene Bestellungen auf. Wegen erheblicher (von ITC verursachter) Versptungen litt allerdings Yam Sengs Glaubwrdigkeit bei ihren eigenen Kunden erheblich.24 Die Beziehung der Vertragsparteien verschlechterte sich zunehmend, was – so das von Justice Leggatt gezeichnete Stimmungsbild – ausschließlich an ITC lag. d) Beendigung des Vertrags Am 28. 2. 2011 erklrte Tuli schließlich die Beendigung des Vertrags und reichte Klage ein.25 Zur Rechtfertigung der Vertragsbeendigung berief sich Yam Seng auf vier Vertragsverletzungen:26 (1) verzgerte Lieferungen; (2) ein Nicht-Zur-Verfgung-Stellen von Produkten zum vorgesehenen Zeitpunkt bzw. berhaupt; (3) ein Unterbieten der mit Yam Seng vereinbarten Duty-Free-Verkaufspreise im nationalen Markt Singapur; (4) falsche Informationen, auf die Yam Seng nach Kenntnis von ITC bei der Vermarktung der Produkte vertrauen wrde (worunter die falschen Angaben zum Produktportfolio und zur fehlenden Registrierung in China fielen). Die rechtliche Prfung der Wirksamkeit der Vertragsbeendigung erfolgt in vier Schritten:27 (1) Welche Vertragspflichten bestanden? (2) Wurden diese verletzt? (3) War diese Verletzung so schwerwiegend, dass sie eine Vertragsbeendigung rechtfertigte? (4) Oder hat die verletzte Partei in Kenntnis der Vertragsverletzungen am Vertrag festgehalten und ihn dadurch eventuell besttigt (affirmed)? Den ersten28 und vierten29 Beschwerdepunkt sieht das Gericht nicht als so gravierend an, um eine Vertragsbeendigung zu rechtfertigen. Im Hinblick auf den zweiten (teilweise30) und den dritten Punkt gibt es Yam Seng Recht. 2. Schwerwiegende Vertragsverletzung (1): Erfllungsverweigerung Presswell hatte Tuli aufgefordert, bestimmte Vertriebsrechte „zurckzugeben“ (Teilaspekt von Beschwerdepunkt 2), ja ihm sogar schlicht mitgeteilt, Yam Seng „habe“ diese Vertriebsrechte nicht mehr.31 Nach Justice Leggatt stand Presswell eine solche Aussage nicht zu. Er habe damit klar zum Ausdruck gebracht, dass er den Vertrag nicht (mehr) erfllen wolle,32 dass ihn Yam Seng insbesondere nicht davon abhalten knne, einen anderen Vertriebspartner fr das betreffende Territorium zu verpflichten. Presswells Ansage sei provokativ gewesen, und ihr htte eine vllig haltlose Begrndung zugrunde gelegen. Tuli konnte vernnftigerweise nicht darauf vertrauen, ITC wrde den Vertrag erfllen.33 Yam Seng konnte – gesttzt auf die Erfllungsverweigerung der ITC – den Vertriebsvertrag beenden. 3. Schwerwiegende Vertragsverletzung (2): Verstoß gegen Treu und Glauben a) Preispolitik in Singapur Auch die Vorgnge um die Preisunterbietung in Singapur (Beschwerdepunkt 3) berechtigten Yam Seng im Ergebnis zur Beendigung des Vertrages. Zunchst zum Sachverhalt, dessen Details hier wichtig sind: Die Parteien stimmten darin berein, dass in ihrem Geschftszweig eine allgemeine Erwartung dahingehend besteht, dass die nationalen Wiederverkaufspreise hher liegen als die entsprechenden Duty-Free-Preise an Flughfen und an Bord von Flugzeugen. Fr Singapur hatte Yam Seng nur den Vertrieb im Duty-Free-Bereich bernommen. Nationaler Vertriebspartner der ITC in Singapur war Kay Ess.34 Es stellte sich heraus, dass ITC ber die Preise von Kay Ess getuscht hatte. Dies soll am Beispiel von Eau de Toilette (100 ml) erlutert werden: Yam Seng vereinbarte mit ihren Abnehmern (dem Flughafenbetreiber in Singapur und diversen Fluggesellschaften) einen Duty-Free-Verkaufspreis von S$ 62. Tuli hatte Presswell nach dem nationalen Wiederverkaufspreis in Singapur gefragt, weil es fr Yam Seng und ihre Abnehmer wichtig war, dass dieser Preis ber dem Duty-Free-Preis lag, andernfalls der Duty-Free-Verkauf wirtschaftlich keinen Sinn ergeben wrde. Presswell hatte Tuli informiert, er habe Kay Ess mitgeteilt, der nationale Wiederverkaufspreis msse bei S$ 65 liegen. Presswell hatte zu diesem Zeitpunkt mit Kay Ess noch nicht einmal gesprochen, holte dies aber drei Tage spter nach. Kay Ess hatte geantwortet, das Produkt sei bereits fr S$ 59 im Handel und Kay Ess knne so kurzfristig keine Preiserhhung durchsetzen. Davon war Tuli nicht unterrichtet worden. Presswell hatte ihn in dem Glauben gelassen, ITC habe fr einen nationalen Wiederverkaufspreis von S$ 65 gesorgt.35 Die Angelegenheit wurde virulent, als Yam Seng tatschlich mit dem Duty-Free-Verkauf in und aus Singapur begann. Auf erneute Nachfrage zwecks Rckversicherung bei Presswell gab dieser nun an, der Wiederverkaufspreis im nationalen Markt liege bei S$ 59. Tuli erinnerte ihn, dass er S$ 65 versprochen hatte. Presswell beteuerte, er habe „heute“ Kay Ess informiert, der Wiederverkaufspreis msse sofort auf S$ 65 erhht werden. Kay Ess erklrte sich tatschlich bereit, diese Preiserhhung an die Kaufhuser durchzugeben, allerdings wrde die Umsetzung etwa ein bis zwei Monate dauern. Auch dies teilte Presswell Herrn Tuli nicht mit, d. h. er ließ ihn wiederum in dem Glauben, fr einen nationalen Verkaufspreis von mindestens S$ 65 sei gesorgt.36 22 Yam Seng v ITC, Rn. 25. 23 Yam Seng v ITC, Rn. 26: „The Distribution Agreement is a short document, which was evidently prepared by the parties themselves without the assistance of lawyers.“ 24 Yam Seng v ITC, Rn. 93. 25 Yam Seng v ITC, Rn. 81–82. 26 Yam Seng v ITC, Rn. 83. 27 Yam Seng v ITC, Rn. 84. 28 Yam Seng v ITC, Rn. 94: Yam Seng hatte den Vertrag „besttigt“, weil die Versptungen hingenommen worden waren. 29 Yam Seng v ITC, Rn. 156: Es gebe keine objektive Haftung fr Informationen. Eine Falschinformation msse dishonestly erfolgt sein, was wohl Absichtlichkeit und Wissentlichkeit umfasst. Dies knne bei ITC nicht angenommen werden. 30 Speziell die Pflicht, die vom Vertriebsvertrag erfassten Produkte zur Verfgung zu stellen, hatte ITC in nicht weniger als vier Fllen verletzt; Yam Seng v ITC, Rn. 100. Allerdings seien diese Pflichtverletzungen nicht so schwerwiegend gewesen, dass sie eine Vertragsbeendigung rechtfertigen wrden; Yam Seng v ITC, Rn. 107. 31 Yam Seng v ITC, Rn. 77. 32 Yam Seng v ITC, Rn. 113. 33 Yam Seng v ITC, Rn. 114. 34 Yam Seng v ITC, Rn. 60. 35 Yam Seng v ITC, Rn. 61–63. 36 Yam Seng v ITC, Rn. 64–69. Landbrecht, Treu und Glauben im englischen Vertragsrecht Heft 9/2013 Wenige Wochen spter reiste Tuli nach Singapur und sah dort, dass das Produkt tatschlich fr S$ 53.10 angeboten wurde, also noch deutlich unter den S$ 59, die Presswell angeblich auf S$ 65 hatte erhhen lassen.37 Im selben Zeitraum schickte ITCs Handelsvertreter in Singapur eine E-Mail an Presswell, in der er mitteilte, dass die Geschfte in Singapur der von ITC vorgegebenen Preisstrategie folgen wrden.38 Tuli erhielt diese E-Mail in Kopie und zog den Schluss, ITC htte die Preispolitik in Singapur, also den nationalen Wiederverkauf unter den versprochenen S$ 65, bewusst selbst gesteuert. Fr Tuli entstand damit der Eindruck, Presswell habe ihn schlicht belogen, als er ihm mitteilte, der nationale Wiederverkaufspreis wrde auf S$ 65 erhht.39 Aufgrund dieser Ereignisse bejaht Justice Leggatt eine schwerwiegende Vertragsverletzung, die Yam Seng zur Beendigung des Vertriebsvertrags berechtigte. Zum Verstndnis seiner rechtlichen Argumentation sind hier kurz die Grundstze ergnzender Vertragsauslegung im englischen Recht zu rekapitulieren. b) Exkurs: ergnzende Vertragsauslegung im englischen Recht40 Die Vertragsauslegung im englischen Recht ist ein objektiver Vorgang. Der subjektive Wille der Parteien spielt keine Rolle, jedenfalls sofern er nicht geußert wurde.41 Der Wortlaut des Vertragstextes, als objektives Merkmal, ist daher von entscheidender Bedeutung. Allerdings wird er nicht isoliert betrachtet, sondern im jeweiligen Zusammenhang (contextualism) aus der Sicht eines Dritten, der das fr diese objektive Auslegung relevante42 Hintergrundwissen (matrix of fact) hat. Die englischen Gerichte achten dabei auf den wirtschaftlichen Zusammenhang einer vertraglichen Regelung (commercial realism). Unzulssig ist bei der eigentlichen Auslegung allerdings die Bezugnahme auf die vorvertraglichen Verhandlungen und das nachvertragliche Verhalten der Parteien.43 Ergibt diese Auslegung kein (zufriedenstellendes) Ergebnis oder spiegelt sie nicht wider, was die Parteien tatschlich vereinbart haben, knnen die englischen Gerichte auf dreierlei Weise helfen: (1) Reconstructive Interpretation:44 Ist offensichtlich, dass die Vertragsurkunde einen Fehler enthlt, und ist weiter aus dieser Urkunde oder aus sonstigen zulssigen Beweismitteln ersichtlich, welche Regelung die Parteien tatschlich treffen wollten, kann das Gericht unmittelbar diese von den Parteien gewollte Lsung als Auslegungsergebnis feststellen.45 (2) Implication of terms: Fehlt eine Regelung gnzlich, nehmen die Gerichte eine Vertragsergnzung vor. Unterschieden wird nach implication in law und implication in fact.46 (a) Die implication in law ist letztlich Einbeziehung dispositiven „Gesetzesrechts“ in den Vertrag.47 Typisches Beispiel ist der Sale of Goods Act 1979. Bei dispositivem Recht kann es sich allerdings (anders als etwa im deutschen Recht) um gesetzliche Vorschriften (statutes) ebenso handeln wie um verbindliche Gerichtsentscheidungen (binding precedent). Die Gerichte ergnzen hierbei die Vertrge eines bestimmten Typus (etwa Miet- oder Arbeitsvertrge) um Bestimmungen, die nach Ansicht der Gerichte reasonable sind.48 (b) Bei der implication in fact49 fragt das Gericht demgegenber nach dem hypothetischen Parteiwillen, also danach, welche Regelung sie getroffen htten, wenn ihnen die Lcke bewusst gewesen wre. Die Anforderungen an die Zu- RIW 595 lssigkeit solcher ergnzenden Vertragsauslegung sind sehr hoch. Die vorgeschlagene Ergnzung muss inhaltlich offensichtlich sein (officious bystander test) und fr das Funktionieren des Vertrages notwendig (necessity test).50 Es gengt nicht, dass der Vertrag mit der Ergnzung besser funktionieren wrde oder eine solche aus Sicht des Gerichts vernnftig oder fair wre. Es geht hier nmlich nicht um Standardvertrge wie bei der implication in law, sondern um den Interessenausgleich der Parteien im jeweiligen speziellen Fall (bargain of the parties). Auf eine abstrakte Bewertung „typischer“ Interessen kann daher nicht zurckgegriffen werden. (3) Rectification: Schließlich knnen englische Gerichte die Vertragsurkunde berichtigen, wenn sich herausstellt, dass die Parteien eine bestimmte Vereinbarung getroffen hatten oder treffen wollten, sich diese Vereinbarung aber nicht korrekt in der Vertragsurkunde wiederfindet.51 Es handelt sich hier um ein separates remedy, das gesondert beantragt werden muss, was in der Praxis jedoch regelmßig geschieht. Entscheidend bei all diesen Vorgngen ist, und dies kann nicht deutlich genug betont werden, dass die englischen Gerichte keine Mglichkeit sehen, die eigentliche Vertragsarchitektur, den bargain der Parteien, zu verndern, sofern dieser irgendwelche individuellen Besonderheiten aufweist und es sich nicht lediglich um einen Standardvertrag eines bestimmten Typs handelt. Was aus rckblickender Sicht mglicherweise sinnvoll oder gerecht gewesen wre, spielt keine Rolle. Die vertragliche Risikoverteilung wird strikt bewahrt, weil die Gerichte vermuten, dass die Parteien bei der Abfassung von Vertragsurkunden Sorgfalt haben walten lassen.52 Die Verteilung des Risikos kann gerade auch dadurch erfolgt sein, dass eine Regelung im Vertrag fehlt: dann trgt diejenige Partei das Risiko, bei der es sich verwirklicht. Die englischen Gerichte vermuten, dies sei im Zweifel so gewollt. Vor diesem Hintergrund mssen die Ausfhrungen von Justice Leggatt in Yam Seng gelesen werden. 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 Yam Seng v ITC, Rn. 71–72. Yam Seng v ITC, Rn. 73. Yam Seng v ITC, Rn. 73. Kurze Zusammenfassung auf Deutsch bei Triebel/Vogenauer, Englisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 3. Aufl. 2012, Kap. III, Rn. 41 ff. Zum Vorrang des subjektiven Willens, wenn er von der anderen Partei verstanden wurde, vgl. McLauchlan, Objectivity in Contract, (2005) 24 UQLJ, 479, 494. Hintergrundwissen kann alles sein, was vernnftige Beobachter als relevant erachten; BCCI v Ali [2002] 1 AC 251 (HL) 269E (Lord Hoffmann). Vgl. aktuelle Zusammenfassung bei Andrews, On Civil Processes, 2013, Rn. 9.01. Der leading case zur Vertragsauslegung ist Investors Compensation Scheme Ltd v West Bromwich Building Society [1998] 1 WLR 896 (HL). Begriff bei Andrews (Fn. 43), Rn. 9.07. Chartbrook Homes Ltd v Persimmon Homes Ltd [2009] 1 AC 1101 (HL) 1101G. S. aktuell Socie´te´ Ge´ne´rale v Geys [2012] UKSC 63, Para. 55 (Lady Hale). Manchmal wird daneben noch die implication to reflect custom or trade usage erwhnt; vgl. Andrews (Fn. 43), Rn. 13.16 ff. Equitable Life Assurance v Hyman [2002] 1 AC 408 (HL) 458H (Lord Steyn): „Such standardised implied terms operate as general default rules.“ Steyn, Honest Men, 1997 (113) LQR 433, 442. Leitentscheidung: AG Belize v Belize Telecom Ltd [2009] 1 WLR 1988 (PC). AG Belize v Belize Telecom Ltd [2009] 1 WLR 1988 (PC) 1994B-C (Lord Hoffmann). Details des Tests sind neuerdings umstritten. Im Ergebnis drften aber die traditionellen Kriterien weiter Anwendung finden vgl. Andrews (Fn. 2), Rn. 13.15. Leitentscheidung: Chartbrook Homes Ltd v Persimmon Homes Ltd [2009] 1 AC 1101 (HL); ausfhrlich dazu Hodge, Rectification, 2010, Rn. 3–27 ff. Chartbrook Homes Ltd v Persimmon Homes Ltd [2009] 1 AC 1101 (HL) 1112E (Lord Hoffmann). 596 RIW Heft 9/2013 Landbrecht, Treu und Glauben im englischen Vertragsrecht c) Keine allgemeine Treuepflicht (implication in law) Die meisten Kommentatoren seien der Ansicht, so Justice Leggatt, das englische Vertragsrecht kenne kein allgemeines Prinzip von Treu und Glauben:53 (1) Das englische Recht bevorzuge eine schrittweise Entwicklung zur Lsung konkreter Probleme, nicht die Durchsetzung allgemeiner, bergreifender Prinzipien. (2) Das englische Recht sei von einer individualistischen Vorstellung geprgt, wonach jeder seine eigenen Interessen verfolgen darf, sofern er keinen Vertragsbruch begeht. (3) Die Anerkennung eines allgemeinen Grundsatzes von Treu und Glauben wrde zu großer Rechtsunsicherheit fhren.54 Sollte das englische Recht ein solch allgemeines Prinzip tatschlich nicht anerkennen, wrde es allerdings weltweit (und historisch) gegen den Strom schwimmen, so Justice Leggatt weiter. Die meisten kontinentalen civil-law-Jurisdiktionen wrden dieses Prinzip anerkennen, zurckgehend auf das rmische Recht, ebenso das schottische Recht.55 ber die europischen Richtlinien habe es auch im englischen Recht, beispielsweise in den Unfair Terms in Consumer Contracts Regulations 1999, Eingang gefunden.56 Justice Leggatt weist weiter nach, dass das Prinzip von Treu und Glauben auch in vielen Rechtsordnungen des common law allgemein anerkannt ist, so in New York und im amerikanischen Uniform Commercial Code, in Kanada und Australien. In Neuseeland habe das Prinzip zumindest prominente Frsprecher.57 Selbst im englischen Recht wrde der Grundsatz von Treu und Glauben zur ergnzenden Auslegung in bestimmten typischen Vertragskonstellationen herangezogen mittels implication in law, etwa bei Arbeits- und Partnerschaftsvertrgen oder sonstigen Vereinbarungen mit fiduziarischen Pflichten. Letztlich stellt Justice Leggatt die Tradition im englischen Recht aber nicht in Frage. Von diesen Sonderfllen abgesehen, knne im englischen Recht auch weiterhin keine generelle Pflicht zu einem Verhalten nach Treu und Glauben in jeden Vertrag hineingelesen werden.58 d) Spezielle Treuepflichten aufgrund ergnzender Vertragsauslegung (implication in fact) Im Einzelfall knne sich ein Verbot von treuwidrigem Verhalten jedoch aufgrund einer implication in fact ergeben, also aus ergnzender Vertragsauslegung gemß dem hypothetischen Parteiwillen. Das fr die Auslegung relevante Hintergrundwissen (matrix of fact) knne auch gemeinsame Wertvorstellungen der Parteien und allgemein gltige Verhaltensnormen beinhalten, welche die Parteien beim Vertragsabschluss „mitgedacht“ haben. Einige Verhaltensnormen mgen in der Gesellschaft generell anerkannt sein, manche nur in einer Branche, wieder andere nur im Rahmen einer konkreten Vertragsbeziehung.59 Diese Standards bezeichnet Justice Leggatt als Grundstze von Treu und Glauben. Er arbeitet vor allem zwei Aspekte heraus: (1) Eine generelle Erwartung der Parteien sei die Vertragstreue (fidelity to the parties’ bargain). Weil ein Vertrag nicht smtliche Eventualitten bercksichtigen knne, sei er jeweils so auszulegen, dass die Vertragszwecke und die dem Vertrag zugrunde liegenden Wertvorstellungen gefrdert werden.60 (2) Eine andere Verhaltensnorm, deren Beachtung allgemein erwartet und in der Rechtsprechung bereits anerkannt werde, sei die Ehrlichkeit (expectation of honesty). Die Pflicht zur Ehrlichkeit sei im Wirtschaftsleben so offensichtlich, dass ihre Erwhnung im Vertrag dem objektiven Betrachter berflssig erscheine (officious bystander test). Ihre Beachtung sei andererseits unerlsslich fr das Funktionieren der Vertragsbeziehung (necessity test).61 Justice Leggatt sttzt seine Auslegung des Vertrages also nicht auf ein allgemeines Rechtsgefhl, sondern argumentiert mit den traditionellen und strikten Kriterien der implication in fact. Justice Leggatt macht dabei deutlich, dass die Auslegung nach Treu und Glauben entscheidend vom Zusammenhang abhnge.62 Dies betreffe etwa die Anforderungen an die Ehrlichkeit. Es sei allgemein nicht zulssig, den Vertragspartner bewusst zu tuschen. Die Pflicht zur Ehrlichkeit knne im Einzelfall aber auch weiter reichen und es etwa verbieten, auf eine konkrete Nachfrage nur ausweichend zu antworten.63 Dauerschuldverhltnisse erforderten im Allgemeinen ein grßeres Maß an Offenheit als einfache Austauschvertrge.64 Nachfolgend wird nher untersucht, wie Justice Leggatt den Sachverhalt in Yam Seng unter die beiden genannten speziellen Treuepflichten subsumiert. e) Spezielle Treuepflicht (a): Vertragstreue Justice Leggatt kommt zu dem Ergebnis, dass ITC eine Pflicht traf, in keinem nationalen Markt einen Wiederverkaufspreis unterhalb des im Vertriebsvertrag mit Yam Seng festgelegten Preises zu genehmigen. Zwar she er unter normalen Umstnden keine Grundlage fr eine solche implication, drei besondere Umstnde des Falles sprchen aber dafr:65 (1) Der Vertriebsvertrag zwischen Yam Seng und ITC lege die Vertragsbeziehung nur in Grundzgen fest („the Agreement is a skeletal document“). (2) Der Vertrag definiere ausdrcklich den Duty-Free-Wiederverkaufspreis. Yam Seng hatte also keinen Spielraum, zu einem niedrigeren Preis anzubieten. Es wre in der Tat ußerst erstaunlich, drfte ITC einen nationalen Verkaufspreis unterhalb dieser Schwelle autorisieren und dem Vertriebsvertrag damit seine wirtschaftliche Berechtigung entziehen. (3) Entscheidend sei in diesem Zusammenhang außerdem die Branchenerwartung, dass nationale Wiederverkaufspreise stets ber den Duty-Free-Wiederverkaufspreisen lgen. ITC habe das Verbot der Genehmigung einer Preisunterbietung im konkreten Fall aber nicht verletzt. Die Begrndung zeigt, dass es Justice Leggatt tatschlich sehr sorgfltig vermeidet, in die Vertragsbeziehung der Parteien einzugreifen. Er verhilft nur dem vereinbarten bargain zur Geltung. Der im Vertriebsvertrag festgelegte Duty-Free-Wiederverkaufspreis lag bei US$ 42, etwas weniger als S$ 59. Der von ITC mit Kay Ess vereinbarte Wiederverkaufspreis fr den 53 Yam Seng v ITC, Rn. 121 ff. Das Gericht verweist auf die Entscheidungen Interfoto Picture Library Ltd v Stiletto Visual Programmes Ltd [1989] QB 433 (CA) und Walford v Miles [1992] 2 AC 128 (HL) zur Haftung in der Verhandlungsphase. 54 Ebenso Andrews (Fn. 2) Rn. 1.27, 13.22–25, 21.03–18. 55 Yam Seng v ITC, Rn. 130. 56 Yam Seng v ITC, Rn. 124. 57 Yam Seng v ITC, Rn. 125–129. 58 Yam Seng v ITC, Rn. 131. 59 Yam Seng v ITC, Rn. 134. 60 Yam Seng v ITC, Rn. 139. 61 Yam Seng v ITC, Rn. 135–137. 62 Yam Seng v ITC, Rn. 154. Zustimmend jetzt Mid Essex Hospital Services NHS Trust v Compass Group UK and Ireland Ltd [2013] EWCA Civ 200, Para. 150 (Beatson LJ). 63 Yam Seng v ITC, Rn. 141. 64 Yam Seng v ITC, Rn. 142. 65 Yam Seng v ITC, Rn. 160–164. Landbrecht, Treu und Glauben im englischen Vertragsrecht Heft 9/2013 nationalen Markt Singapur lag bei S$ 59. Damit hatte ITC keinen Wiederverkaufspreis in Singapur genehmigt, der unter dem im Vertrag mit Yam Seng definierten Duty-FreeWiederverkaufspreis lag, wenn der nationale Wiederverkaufspreis auch nur knapp darber lag. Ob die so entstehende Preisspanne zwischen normalem und Duty-Free-Verkauf fr Yam Seng wirtschaftlich noch ausreichend war, interessiert Justice Leggatt nicht. Yam Seng hatte dem Duty-FreeWiederverkaufspreis im Vertrag zugestimmt. Htte Yam Seng darber hinaus einen bestimmten Abstand zum Preis im nationalen Markt sichergestellt haben wollen, htte sie dies zustzlich vereinbaren mssen.66 Die spezielle Treuepflicht der fidelity to the parties’ bargain hatte ITC also nicht verletzt. f) Spezielle Treuepflicht (b): Ehrlichkeit Allerdings hatte ITC die implied duty of honesty verletzt. Yam Seng mag keinen Anspruch gehabt haben, dass der nationale Wiederverkaufspreis auf S$ 65 angehoben wurde, allerdings hatte ITC versprochen, eben dafr zu sorgen. Nachdem klar war, dass der Vertriebspartner fr den nationalen Markt in Singapur nicht unmittelbar ttig werden konnte, htte Presswell Tuli darber informieren mssen, denn es war offensichtlich, dass Tuli auf die entsprechende Erhhung vertrauen wrde.67 Presswells Verhalten war unehrlich. Weil die Geschftsbeziehung im Wesentlichen zwischen zwei Personen bestand, die jeweiligen Gesellschaften fr die Vertragswirklichkeit nur eine untergeordnete Rolle spielten, war das persnliche Vertrauensverhltnis zwischen Tuli und Presswell umso wichtiger. Presswell hatte das Vertrauen des Tuli nachhaltig erschttert und damit eine grundlegende Vertragsverletzung begangen (repudiatory breach), welche Tuli zur Vertragsbeendigung berechtigte.68 III. Rechtsvergleichende Notiz Wird die Entscheidung in Yam Seng nun auch dem englischen Recht ein von Treu und Glauben beherrschtes Vertragsrecht bescheren wie das BGB in seiner richterrechtlichen Ausprgung? Ein kurzer Blick auf die Prinzipien der Vertragsauslegung nach deutschem Recht soll die auch weiterhin bestehenden Grenzen des Treu-und-Glaubens-Prinzips im englischen Privatrecht verdeutlichen. Die zentrale Vorschrift zur Vertragsauslegung im deutschen Recht ist § 157 BGB, wonach Vertrge „so auszulegen [sind], wie Treu und Glauben mit Rcksicht auf die Verkehrssitte es erfordern“. Ergnzt wird die Vorschrift von § 133 BGB.69 Daneben findet § 242 BGB Anwendung, die allgemeine und wohl weltweit berhmte Generalklausel des deutschen Rechts: „Der Schuldner ist verpflichtet, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rcksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.“ Auch wenn eine genaue Abgrenzung dieser Normen weder mglich noch ntig ist,70 haben beide Vorschriften im Vertragsrecht ihre eigenstndige Bedeutung. Nach der Rechtsprechung betrifft § 157 BGB das rechtliche Wollen, § 242 BGB das rechtliche Sollen.71 Bei § 157 BGB gilt ein subjektiver Maßstab (tatschlicher Parteiwille), ergnzt um objektive Elemente,72 das „objektive Verstndnis eines vernnftigen Beobachters“73 (hypothetischer Parteiwille). Bei § 242 BGB findet demgegenber ein rein objektiver Maßstab ohne RIW 597 Bercksichtigung des Parteiwillens Anwendung.74 Die Anwendung von § 242 BGB geht ber die Vertragsergnzung anhand des mutmaßlichen Parteiwillens hinaus. Sie ist ein zustzlicher Schritt nach der eigentlichen Auslegung, weil bei Letzterer Grenzen bestehen.75 Oder anders formuliert: „erst wenn der Parteiwille feststeht, ist zu prfen, wie § 242 BGB auf das Rechtsverhltnis einwirkt.“76 Justice Leggatt bestimmt zwar den mutmaßlichen Parteiwillen – und damit das rechtliche Wollen – ebenfalls nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (implication in fact). Den genannten zweiten Schritt vollzieht er aber nicht. Bezglich des rechtlichen Sollens – im englischen Recht nur durch eine implication in law in die Vertragsbeziehung einzufhren77 – geht Justice Leggatt nmlich davon aus, das englische Recht erkenne eine solche allgemeine Pflicht fr alle commercial contracts (noch) nicht an.78 §§ 157, 133 BGB wie Yam Seng betreffen das rechtliche Wollen, nicht das Sollen. Eine ergnzende Auslegung der Vertrge anhand der Prinzipien von good faith und fair dealing beinhaltet nach Yam Seng gerade nicht, dass die Gerichte eine bergeordnete Sicht von Fairness durchsetzen.79 Die Vertragsbeziehung, der bargain, ist der von den Parteien gesetzte Referenzrahmen, ber den ein Richter bei der Auslegung nicht hinausgehen darf.80 In Yam Seng war daher entscheidend, dass der bargain wegen der nur skizzenhaften Ausfhrung des Vertragstextes in der schriftlichen Urkunde gerade nicht abschließend fixiert war.81 Eine großzgige Vertragsanpassung im Stile des § 242 BGB82 kennt das englische Recht nach wie vor nicht. Treu und Glauben ist im Bereich der commercial contracts außerhalb typischer Standardvertrge weiterhin kein allgemeines und den Einzelfall – also den Rahmen des (mutmaßlichen) Willens der Parteien – bersteigendes Prinzip, an dem die 66 Randnotiz: Singapurisches Kartellrecht drfte nicht entgegenstehen, weil Vertikalvereinbarungen, also Vereinbarungen unterschiedlicher Marktstufen, sehr liberal gehandhabt werden. § 8(1) Sch. 3 zum singapurischen Competition Act (Ch. 50B) schließt Vertikalvereinbarungen grundstzlich vom Anwendungsbereich des Gesetzes aus, vorbehaltlich des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung (s. 47 Competition Act) und abweichender Anordnungen des Ministers. Dies betrifft gemß Art. 8(2) generell „conditions under which the parties may purchase, sell or resell certain goods or services“, sodass im Ausgangspunkt die Festlegung von Hchst- wie Mindestverkaufspreisen (genannt „Resale Price Maintenance“) der Abnehmer zulssig ist. Nach Art. 4 a) der europischen Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung (VO [EU] Nr. 330/2010) ist eine Festlegung von Mindestverkaufspreisen von Abnehmern dagegen verboten. 67 Yam Seng v ITC, Rn. 169–170. 68 Yam Seng v ITC, Rn. 171. 69 Vgl. nur Flume, AT des Brgerlichen Rechts, Band 2, 1992, § 16.3, S. 308. 70 Flume (Fn. 69) § 16.3, S. 308 f.; eine a. A. nimmt eine strikte Abgrenzung vor; vgl. z. B. Ehricke, Zur Bedeutung der Privatautonomie bei der ergnzenden Vertragsauslegung, RabelsZ 60 (1996), 661, 671 f. 71 BGHZ 16, 4, 8. 72 Palandt/Ellenberger, BGB, 72. Aufl. 2013, § 157 Rn. 7. 73 Larenz/Wolf, AT des Brgerlichen Rechts, 9. Aufl. 2004, § 33 Rn. 8. 74 Palandt/Grneberg, BGB, 72. Aufl. 2013, § 242 Rn. 17. 75 Vgl. Palandt/Ellenberger (Fn. 72), § 157 Rn. 8 ff. 76 Palandt/Grneberg (Fn. 74), § 242 Rn. 17. 77 Vgl. Andrews (Fn. 2), Rdnr. 13.08: „minimal rules for the operation of standard legal relationships“. 78 Yam Seng v ITC, Rn. 131. 79 Yam Seng v ITC, Rn. 150: „… the duty does not involve the court in imposing its view of what is substantively fair on the parties.“ 80 Dies auch die Grenze im deutschen Recht; vgl. Flume (Fn. 69), § 16.4, S. 326 ff. 81 Yam Seng v ITC, Rn. 161. 82 Vgl. Stlting, Vertragsergnzung und implied terms, 2009, S. 106: Mit dem objektiven Maßstab von Treu und Glauben lasse sich letztlich „jede Ergnzung rechtfertigen“. 598 RIW Heft 9/2013 Syrbe/Slobodenjuk, Fusionskontrolle in Russland – ein berblick Vertragserfllung zu messen wre. Mit anderen Worten: Treu und Glauben spielt eine Rolle im Rahmen ergnzender Vertragsauslegung bzw. dabei, was man als ergnzende Anwendung dispositiver Rechtsvorschriften bezeichnen knnte.83 Treu und Glauben ist aber keine sozusagen zwingende Gesetzesvorschrift allgemein fr Fragen der Vertragserfllung und -auslegung. kennung eines allgemeinen Grundsatzes von Treu und Glauben im englischen Recht bestehen zwar Befrchtungen, sie knne die Rechtssicherheit mehr beeintrchtigen als inhaltliche Vorteile bringen.86 Yam Seng erkennt aber einen solchen allgemeinen Grundsatz gerade nicht an. Jeder kann außerhalb des eigentlichen bargain weiterhin tun und lassen, was ihm beliebt. Unabhngig von der Errterung als ergnzende Vertragsauslegung oder Rechtsfortbildung, unabhngig von der Einordnung unter § 157 BGB oder § 242 BGB, unabhngig von den weitgehend bereinstimmenden Prinzipien der Vertragsauslegung drfte der wesentliche Unterschied zwischen deutschem und englischem Recht weiterhin in einer anderen Grundeinstellung liegen. Im deutschen Recht geht die offenbar h. M. davon aus, im Zweifel bestehe eine Vertragslcke, welche durch Ergnzung (gegebenenfalls anhand von Treu und Glauben) geschlossen werden knne. Eine Lcke werde nur verneint, wenn sich die Parteien bewusst gegen eine Regelung entschieden haben.84 Im englischen Recht wird eine Vertragslcke dagegen nur vorsichtig angenommen, wie sich bei der Argumentation von Justice Leggatt in Yam Seng erneut gezeigt hat. Im Zweifel ist der Vertrag als vollstndig anzusehen. (3) Pionierleistung: Yam Seng ist offenbar die erste englische Gerichtsentscheidung, die sich ausfhrlich mit der Frage befasst, ob ein allgemeiner Grundsatz von Treu und Glauben anerkannt werden sollte.87 IV. Ausblick Yam Seng hat Bedeutung in mindestens dreierlei Hinsicht: (1) Verbesserte Außendarstellung: Die von den Parteien mutmaßlich vereinbarten Treuepflichten werden jetzt ausdrcklich als solche bezeichnet. Dies drfte der besseren Außendarstellung des englischen Rechts dienen. Die Literatur hatte bereits angemerkt, einige Richter seien rhetorisch zu weit gegangen mit ihren Aussagen, Vertragsparteien knnten ohne jegliche Rcksicht auf Prinzipien des fair dealing agieren, weil dies nicht der modernen Doktrin des englischen Vertragsrechts entspreche.85 (2) Verbesserte Rechtsanwendung im Inneren: Justice Leggatt hat in Erinnerung gerufen, dass auch das common law keine dishonesty oder Untreue gegenber dem vertraglichen bargain toleriert. Im Hinblick auf eine Aner- Incidentally, die Produktlinie der Manchester United-Parfms und Krperpflegemittel verschwand mangels Anklang mittlerweile schon wieder vom Markt.88 Die Entscheidung von Justice Leggatt wird dagegen nicht so schnell in Vergessenheit geraten.89 Dr. Johannes Landbrecht Studium der Rechtswissenschaften in Konstanz, Genf (Dr. iur.), London (LL.B.) und Fribourg (Schweiz). Seit 2008 in Deutschland als Rechtsanwalt zugelassen. 2008 bis 2012 ttig bei Jones Day in Frankfurt a. M. und Paris, daneben von 2008 bis 2011 in Teilzeit Wissenschaftlicher Assistent an der Universitt Genf. Seit Mai 2012 ttig in der Kanzlei LALIVE in Genf mit Ttigkeitsschwerpunkt in der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit und Streitbeilegung. Seit 2013 Mitglied des Lincoln’s Inn in London. 83 Die genaue dogmatische Einordnung der ergnzenden Vertragsauslegung habe keine praktische Bedeutung, so Flume (Fn. 69), § 16.4, S. 322. 84 Stlting (Fn. 82), S. 39. 85 Vgl. Andrews (Fn. 2), Rdnr. 13.23. 86 Andrews (Fn. 2), Rdnr. 21.16, 21.18. 87 Yam Seng v ITC, Rn. 120; Justice Leggatt verweist aber auf umfangreiche Untersuchungen in der englischen Literatur. 88 Yam Seng v ITC, Rn. 183. 89 Ausfhrlich zitiert bereits in TSG Building Services Plc v South Anglia Housing Ltd [2013] EWHC 1151 (TCC), Para. 45 f. Bereits kurz nach Verffentlichung dieser Entscheidung hatte das British Institute of International and Comparative Law eine Veranstaltung zu „The role of good faith in English contract law after Yam Seng“ angekndigt, die am 20. 3. 2013 stattfand. Torsten Syrbe, LL.M., Rechtsanwalt, Moskau, und Dr. Dimitri Slobodenjuk, LL.M., Rechtsanwalt, Dsseldorf Fusionskontrolle in Russland – ein berblick Russlands Fusionskontrollregime unterscheidet sich mittlerweile nicht grundlegend von denjenigen in der EU und in den USA. In der jngeren Vergangenheit traten mehrere Gesetzesnovellen in Kraft, die zu einer weiteren Angleichung an westliche Standards gefhrt haben. Im Mrz 2013 verabschiedete die russische Staatsduma in erster Lesung Gesetzesnderungen, durch die das nachtrgliche Anzeigeverfahren abgeschafft wird, was zu einer lngst berflligen Befreiung kleinerer und wettbewerbsrechtlich unbePowered by TCPDF (www.tcpdf.org) deutender Transaktionen von den Fusionskontrollregelungen fhren wird. Bereits im Januar 2012 trat das sog. dritte Kartellrechtspaket in Kraft, durch welches vielfltige gesetzliche nderungen, einschließlich des Bereichs der Fusionskontrolle, umgesetzt wurden. Dies gilt insbesondere fr sog. „foreign-to-foreign“-Transaktionen, die seither seltener in den Anwendungsbereich der russischen Fusionskontrolle fallen. Die Verfasser des folgenden Beitrags nehmen diese jngsten Neuerungen und gegen-